Heilige Szenen

Die interdisziplinäre Studie untersucht das Wechselspiel von Theater, bildender Kunst und Religion. ‚Das Heilige‘ wird hierbei als ästhetische Wirkungskategorie verstanden. Anhand des Bild- und Quellenmaterials zu Theaterinszenierungen des frühen 20. Jahrhunderts werden künstlerische Strategien zur Hervorbringung heiliger Szenen analysiert. Welche Mechanismen entwickelten unter anderen Max Reinhardt, Bruno Taut und Gustav Wunderwald, um Imaginationsräume und Erfahrungsmomente von Heiligkeit zu eröffnen? Auf kulturhistorischer Ebene wird das mehrdeutige Phänomen des Heiligen in den Austauschprozessen der Moderne verortet. Die Studie führt kunsthistorische, theater- und kulturwissenschaftliche Methoden zusammen.


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SZENE & HORIZONT

BAND 3

Sandra Bornemann-Quecke

Heilige Szenen Räume und Strategien des Sakralen im Theater der Moderne

Szene & Horizont Theaterwissenschaftliche Studien Herausgegeben von Peter W. Marx

Band 3

Sandra Bornemann-Quecke

Heilige Szenen Räume und Strategien des Sakralen im Theater der Moderne

Mit zahlreichen Abbildungen

J. B. Metzler Verlag

Die Autorin

Sandra Bornemann-Quecke studierte Kunstgeschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und der Universität Bern. Inauguraldissertation der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern zur Erlangung der Doktorwürde, vorgelegt von Sandra Bornemann-Quecke (Deutschland). Von der Philosophisch-historischen Fakultät auf Antrag von Prof. em. Dr. Christine Göttler (Erstgutachterin) und Prof. Dr. Peter W. Marx (Zweitgutachter) angenommen. Bern, den 14. Oktober 2016 Der Dekan: Prof. Dr. Stefan Rebenich

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-476-04661-1 ISBN 978-3-476-04662-8 (eBook) Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. J. B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature www.metzlerverlag.de [email protected] Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart (Foto: © Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert) Satz: Dörlemann Satz, Lemförde J. B. Metzler, Stuttgart © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018

Meinen Eltern Gertrud und Jürgen Bornemann

Inhalt Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX 1 Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Das Heilige als ästhetisches Erfahrungsmoment – Gegenstand und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Das ›Heilige‹ und das ›Sakrale‹ – theoretische Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Ästhetische Schwellenerfahrung – theatrale Gemeinschaft – festliches Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Monumente, Szenen und Topografien des Heiligen vor und um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Annäherung an die Imagination des Heiligen: Materialkorpus und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 12 18 24 46

2 Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2.1 Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2.1.1 ›It is Olympic!‹ – zur Entstehung der Inszenierung . . . . . . . . . . . . . . 55 2.1.2 Raum-Inszenierung: Eine Kathedrale in Olympia . . . . . . . . . . . . . . . 63 2.1.3 ›Ein Fiebertraum!‹ – zur Imagination des Mittelalters in den Kostümen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2.1.4 ›Kirchenstimmung‹ und Sinnesrausch – Das Mirakel im Spiegel der Kritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 2.2 Vom ›Theaterwunder‹ zum ›Heiligenkino‹: Europäische Mirakel-Gastspiele und die Neuinszenierung in New York 1924 . . . . . . . 136 2.3 Zwischenfazit: Gottesdienst ›spielen‹, Theater zelebrieren! . . . . . . . . . . . . 165 3 Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 3.1 Vom gotischen Dom zum Kristallhaus: Architekturprogramme der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 3.2 Der Weltbaumeister – eine szenische Vision einer kristallinen Gotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

VIII       Inhalt

3.3 Bruno Tauts gläserne Kathedrale für Die Jungfrau von Orleans (1921) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 3.3.1 Die Bühne als ›Heiligenschein‹ – eine szenografische Kristall­vision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 3.3.2 Theater der ›Mystik und Magie‹: Zur Rezeption der Berliner Inszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 3.4 Zwischenfazit: Eine Kathedrale der Zukunft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 4 Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914 . . . . . . . . . . . . . . 253 4.1 Vom heiligen Wald zur sakralen Landschaft der Uraufführung des Parsifal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 4.2 Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen . . . . . . . 278 4.2.1 Wald-Vision: Gustav Wunderwalds Raumkonzept zu ­Wagners Parsifal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 4.2.2 Joseph Urbans Traumlandschaft für den Parsifal der Metropolitan Opera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 4.2.3 Wald-Lichtung: Hans Wildermanns Farbenräume der Breslauer Inszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 4.3 Zwischenfazit: Der heilige Wald – ein Ort der ­Erlösung? . . . . . . . . . . . . . . 352 5 Schlusswort: Szenen des Heiligen – Mehrdeutigkeit und Ambivalenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437

Dank Die vorliegende Studie wurde im Oktober 2016 von der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern als Dissertation angenommen und ist in einer leicht überarbeiteten Fassung hier abgedruckt. Mein Dank gilt allen, die das Projekt in den unterschiedlichen Phasen seiner Entstehung begleitet und ermöglicht haben. Meine Erstgutachterin Prof. em. Dr. Christine Göttler hat meine Dissertation mit großer Begeisterung betreut. Für die zahllosen Hinweise und aufmerksamen Ratschläge sei ihr ganz besonders herzlich gedankt. Ein besonderer Dank gilt ebenso meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Peter W. Marx für die bereichernden Gespräche und gemeinsamen Projekte, die mich neue Wege des Forschens haben einschlagen lassen. Die Studie ist das Ergebnis eines langjährigen interdisziplinären Austauschs an den Universitäten in Bern und Köln. Den Mitgliedern des SNF-Sinergia-Projekts »The Interior: Art, Space, and Performance (Early Modern to Postmodern)« und des Walter Benjamin Kollegs der Universität Bern danke ich herzlich für produktive Diskussionen und neue Perspektiven. Die Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln war und ist für mich ein Ort der Inspiration. Dem gesamten Team sei für die Unterstützung meiner Forschung ganz herzlich gedankt, darunter besonders Dr. Hedwig Müller, Dr. Gerald Köhler und Christina Vollmert. Für anregende Gespräche und entscheidende Hinweise danke ich ebenso Prof. Dr. Anna Minta, Prof. Dr. Arnold Aronson, Dr. Edda Fuhrich-Leisler, Prof. Dr.  Eva Kernbauer, Prof. Dr. Gabriele Rippl, Dr. Martin Anton Müller, Prof. Dr.  Marvin Carlson, Prof. Dr. Tracy C. Davis und Prof. Dr. Ursula Frohne. Den unzähligen Verbindungslinien, die dieses Projekt aufgetan hat, konnte ich in verschiedenen Archiven und Sammlungen nachspüren. Für die kompetente und tatkräftige Unterstützung meiner Recherchen danke ich den folgenden Institutionen und Personen: Dr. Chelsea Weathers, Cristina Meisner und Rick Watson – Harry Ransom Center, The University of Texas at Austin; Jean L. Green – Max Reinhardt Archives & Library, Binghamton University; John Pennino  – Metropolitan Opera Archives; Jennifer B. Lee  – Rare Book & Manuscript Library, Columbia University; Daniela Franke, Dr. Christiane Mühlegger-Henhapel, Dr. Rudi Risatti – Theatermuseum Wien; Dr. Julia Danielczyk – Wienbibliothek im Rathaus. Meine Archivaufenthalte wurden durch ein Stipendium für Angehende Forschende des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) ermöglicht, auch hierfür bin ich dankbar. Allen Bildgebern sei für das großzügige Bereitstellen des Abbildungsmaterials gedankt. Mit ihren wertvollen Anregungen, kritischen Fragen, ihrem freundschaftlichen Rat und der nötigen Ablenkung zur rechten Zeit haben mich begleitet: Dr. Alexandra Portmann, Dr. Ann-Christine Simke, Anne Katharina Wagner, Esther Klein, Dr. Helen Boeßenecker, Julia Oel, Dr. Katharina Görgen, Sabine Päsler und Dr. des. Steffen Zierholz. Ihnen sage ich herzlich Danke.

X       Dank

Dr. des. Stefanie Wyssenbach hat mir mit ihren aufschlussreichen Anmerkungen und ihrem frischen Blick geholfen, meine Gedanken zu fokussieren und dem Manuskript den letzten Schliff zu geben. Zu jedem Zeitpunkt hat mich Sascha Förster unterstützt und motiviert, die vielen Spuren zusammenzuführen und dabei so manches Mal Licht ins Dunkel zu bringen. Unser Gedankenaustausch über Fächergrenzen hinaus hat meine Argumentation geschärft. Für die ausdauernde Lektüre danke ich beiden ganz herzlich. Von ganzem Herzen danke ich meinen Eltern und meiner Schwester für ihren Zuspruch und ihre immerwährende Unterstützung auf meinem Weg. Schließlich danke ich dir Jan – für deine Geduld und den Freiraum, meine Gedanken zu entfalten, für dein genaues Auge bei den letzten Korrekturen und für den Rückhalt, den du mir gibst. Die Dankbarkeit, die ich hierfür empfinde, lässt sich nur schwer in Worte fassen. Sandra Bornemann-Quecke im Juni 2018

1 Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen der Moderne 1.1 Das Heilige als ästhetisches Erfahrungsmoment – Gegenstand und Fragestellung Im Jahr 2012 ließ das Wallraf-Richartz-Museum für die Ausstellung 1912 – Mission Moderne die Kapelle der Kölner Sonderbundausstellung rekonstruieren: Im Anschluss an die Präsentation französischer, skandinavischer und spanischer Künstler der Klassischen Moderne in den hellen Ausstellungsräumen gelangte ich in einen schmalen Saal, dessen Wände schwarz gestrichen waren.1 Die Umrisslinien einer apsidialen Raumform traten deutlich hervor. Dieser außergewöhnliche Ort offenbarte zahlreiche künstlerische und spirituelle Verbindungslinien zwischen der Moderne und der mittelalterlichen Kunst. Ein Gewölbe sowie die Blendarkaden griffen als Reminiszenz auf die gotische Bauweise deren charakteristische Spitzbogenform auf. Auf diese Weise war das gewöhnliche Kabinett in einen Sakralraum transformiert, der sich im Jahr 1912 inmitten des Parcours der Internationalen Kunstausstellung des Sonderbundes in der Ausstellungshalle am Aachener Tor befunden hatte. Damals waren die Wände und die Decke mit Jutebahnen verkleidet, welche die Künstler Erich Heckel (1883–1970) und Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) mit Ornamenten und einem Marienbildnis gestaltet hatten. Das herausragende Ausstattungselement waren jedoch die monumentalen Buntglasfenster Johan Thorn Prikkers (1868–1932), die Szenen aus dem Leben Christi zeigten (Abb. 1).2 Hundert Jahre später wahrten die Bildunterschriften, didaktischen Tafeln und Vitrinen zwar den Museumskontext, trotzdem veränderte sich mit dem Betreten dieser 1

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1912 – Mission Moderne. Die Jahrhundertschau des Sonderbundes, Ausstellung des WallrafRichartz-Museums & Fondation Corboud, Köln, 31.8.–30.12.2012. Ich besuchte die Ausstellung am 19.09.2012. Für einen Situationsplan siehe die erste Innenseite des historischen Ausstellungskataloges Ausst.-Kat. Köln 1912, o. S. Siehe weiterführend Ausst.-Kat. Köln 2012a. Bei Zitaten historischer Quellen wird die originale Schreibweise beibehalten. Einer einfacheren Lesbarkeit halber wird für die männliche und die weibliche Form die männliche Schreibweise verwendet. Stets sind jedoch beide mitgedacht. Wenngleich sie der Darstellungstradition mittelalterlicher Glasmalerei folgten, wurden die Fenster aufgrund ihrer außergewöhnlichen Formensprache damals überaus kontrovers diskutiert. Da sie im Fokus anhaltender Diskussionen zum modernen Kirchenbau standen, wurden die Fenster erst 1919 in der Dreikönigenkirche in Neuss eingesetzt. Vgl. hierzu Heiser 2012; Wierschowski 2010; Simmons 2004, S. 258–265; Giebeler 1996, S. 76–73 u. Kraus 1984b.

2       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

Abb. 1: Johan Thorn Prikker, Ecce Homo, Drei­königen­kirche, Neuss, 1912.

Ausstellungsarchitektur meine Perspektive auf die Exponate und meine Wahrnehmung des Raums. Obwohl es sich um Rekonstruktionen handelte, setzten dahinter platzierte Scheinwerfer die Glasfenster atmosphärisch in Szene (Abb. 2). Das vage Halbdunkel des Raums war, wie ein gotischer Kirchenraum, in ein farbenprächtiges Leuchten getaucht. Im Originalzustand muss diese Wirkung eine zusätzliche Steigerung erfahren haben: Das unwirkliche Glühen der Fenster, wie es Besucher der Sonderbundausstellung beschrieben, ließ nicht nur das monumentale Marienbildnis, sondern auch die gesamte Raumstruktur wie entmaterialisiert erscheinen.3 Mithilfe dieser theatralen Inszenierungsstrategie verschmolzen Architektur, Glasmalerei, Textilkunst sowie Skulptur und Kunsthandwerk zu einer wirkungsvollen Einheit. So betrachtete ich die Kunstwerke nicht länger aus der Distanz nach Kategorien des Wissens oder des Gefallens. Vielmehr blendete die ganzheitliche Wirkung des Raums den Museumskontext für einen Augenblick aus. Ich tauchte in die erhabene Atmosphäre der Kapelle ein und ließ die einzelnen Exponate als sakrales Gesamtensemble auf mich wirken. Diese Studie rückt das Wechselspiel von Theater, bildender Kunst und Religion im frühen 20. Jahrhundert, das in der Kapelle der Sonderbundausstellung deutlich erfahrbar wurde, in den Mittelpunkt der Betrachtung. Den Ausgangspunkt bildet die These, dass gerade in der Moderne die Sehnsucht nach ›dem Heiligen‹ zu einem zen-

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Vgl. Creutz 1913. Siehe in diesem Zusammenhang auch Kapitel 2.1.2. Zu Johan Thorn Prikkers Namen finden sich unterschiedliche Schreibweisen.

1.1  Das Heilige als ästhetisches Erfahrungsmoment       3

Abb. 2: Rekonstruktion der Sonderbundkapelle anlässlich der Ausstellung 1912 – Mission Moderne im Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln, 2012.

tralen Phänomen des künstlerischen Aufbruchs wurde.4 Diese Annahme überrascht zunächst, waren das späte 19. und das frühe 20. Jahrhundert doch von einer fortschreitenden Industrialisierung und Rationalisierung der Gesellschaft geprägt, welche die Säkularisierung aller Lebensbereiche vorantrieb. In dem raschen Fortschritt sah der Soziologe Max Weber (1864–1920) eine neue rationale Geisteshaltung aufkeimen, die den Glauben an »geheimnisvolle[] unberechenbare[] Mächte« verdränge und deshalb »die Entzauberung der Welt« bedeute.5 Schon mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert hatten konfessionell-kirchliche und religiöse Ordnungssysteme eine gesellschaftliche Umwertung erfahren. Dies hatte unter anderem zur Folge, dass die Kirche nicht länger der wichtigste Auftraggeber für Architekten und Künstler war. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und dem damit verbundenen Zerfall der Weltordnung kulminierte der Säkularisierungsprozess in einer intellektuellen Krise, die der Philosoph Georg Lukács (1885–1971) in seiner 1916 veröffentlichten Theorie des Romans als »transzendentale Obdachlosigkeit«6 bezeichnete. Die europäischen Metropolen waren Schauplätze dynamischer politischer, wirtschaftlicher, technologischer und kultureller Entwicklungen sowie einschneidender gesellschaftlicher Umwälzungen. So schreibt Robert Musil (1880–1942) in seinem 1921 begonnenen Gesellschaftsroman Der Mann ohne Eigenschaften über den rational denkenden Pro4

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Diese Arbeit vereint das engere kunsthistorische Verständnis von der Klassischen Moderne mit dem theaterhistorischen Moderne-Begriff, der mit dem Schaffen Richard Wagners in Bayreuth einsetzt, und beleuchtet den Zeitrahmen von 1880 bis 1930. Für die Zeit ab 1905 wird in beiden Disziplinen häufig der Avantgarde-Begriff synonym verwendet. Für die kunsthistorische Rahmung des Moderne-Begriffs siehe u. a. Gay 2007 u. Bucola 1994. Für die theaterwissenschaftliche Perspektive siehe Kotte 2013 u. Fischer-Lichte 1993. Für eine Differenzierung von ›Avantgarde‹ und ›Moderne‹ siehe Beyme 2005, S. 31–34. Weber 1994, S. 9. Siehe weiterführend Taylor 2009; McLeod/Ustorf 2003 u. McLeod 2000. Lukács 1994, S. 6. Siehe ausführlich Mares/Schott 2014; Ulbricht 1998 u. Drehsen/Sparn 1996.

4       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

tagonisten Ulrich, der sich am Vorabend des Ersten Weltkrieges durch die anonyme Großstadt Wien bewegt: »Gut und bös, oben und unten sind für ihn [...] Glieder einer Funktion, Werte, die vom Zusammenhang abhängen. [...] [W]eil unsere Kenntnisse sich mit jedem Tag ändern können, glaubt er an keine Bindung.«7 Diese von Musil skizzierte Weltauffassung, die die Austauschbarkeit religiöser Sinnstiftung verdeutlicht, führt dazu, dass Soziologen und Geschichtswissenschaftler heute von einer »Gebrochenheit des religiösen Gefühls in der Moderne« sprechen.8 Doch zur selben Zeit, und darin wird die innere Zerrissenheit der modernen Gesellschaft deutlich, entwickelte sich ein ausgeprägtes Interesse an christlichen Glaubensinhalten, neureligiösen Gruppierungen und mystischen Lehren.9 Das latente Sehnsuchtsgefühl nach einer sinnstiftenden Ordnung an der Wende zum 20. Jahrhundert sollte jedoch keineswegs als eine ›naive‹ Religiosität gedeutet werden. Als Reaktion auf die Entzauberung der Welt forderten autonome ästhetische und philosophische Strömungen für sich eine religiöse Bedeutung ein, indem sie »die Religion [...] zu absorbieren und zu ersetzen« suchten.10 Mit dem programmatischen Ausruf, »[r]iechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen. Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getötet«,11 führte Friedrich Nietzsche (1844–1900) den Zustand des säkularisierten Zeitalters anschaulich vor Augen.12 Als Konsequenz daraus beschrieb er 1874 in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben erstmals seine Vision einer neuen Gesellschaft, in der die Kunst als eine Art Ersatzreligion fungieren sollte. Das Potenzial zur Überwindung alter Traditionen, der Reform der Kultur und der Befreiung von den gesellschaftlichen Zwängen seiner Zeit sah Nietzsche in der jungen Künstlergeneration gegeben: Schenkt mir erst Leben, dann will ich euch auch eine Cultur daraus schaffen! [...] Wer wird ihnen dieses Leben schenken? Kein Gott und kein Mensch: nur ihre eigene Jugend: entfesselt diese und ihr werdet mit ihr das Leben befreit haben.13

Motiviert durch die intensive Rezeption der gesellschaftskritischen Schriften Nietzsches verbreitete sich im frühen 20. Jahrhundert ein neues religiös-ästhetisches Bewusstsein in nahezu allen Kunstformen des deutschsprachigen Kulturraums. 7 8 9

Musil 1981, S. 153 f. Siehe weiterführend Reinhardt 2003 u. Rauch 1999. Vietta/Porombka 2009b, S. 9 (Hervorh. S. V. u. S. P.). Thomas Nipperdey hat die mehrdimensionale Ausrichtung der Religion als »vagierende Religiosität« bezeichnet. Nipperdey 1988a, S. 143. Vgl. auch Nipperdey 1988b. Siehe weiterführend Ulbricht 2014; Braungart/Fuchs 1998 u. Ulbricht 1998. Für eine zeitgenössische Beurteilung von Religion vgl. Kalthoff 1905. Zur den Religionen und dem Mystizismus verschiedener Kulturen siehe Buber 1909. Siehe hierzu weiterführend Sorg/Würffel 1999. 10 Vietta/Porombka 2009b, S. 7 (Hervorh. S. V. u. S. P.). Vgl. auch Stephenson 2004, S. 59–61. 11 Nietzsche KSA 1999, Bd. 3, S. 481. 12 Nietzsches Philosophie ist geprägt durch eine Kritik am Christentum. Vgl. Ulbricht 2014, S. 239–241; Canal/Neumann 2013b, S. 7 u. S. 9 u. Stephenson 2004, S. 59. Siehe weiterführend u. a. Düsing 2013. 13 Nietzsche KSA 1999, Bd. 1, S. 329 (Hervorh. F. N.). Siehe hierzu weiterführend Fischer 2013; Müller-Funk 2004; Krech 1999, S. 21–24 u. Krause 1984.

1.1  Das Heilige als ästhetisches Erfahrungsmoment       5

Wurde dieses bereits in der Kapelle der Sonderbundausstellung und Robert Musils Gesellschaftsroman auf eindrückliche Weise deutlich, so entwickelte sich in der Kunst und Literatur der Zeit eine eindringliche Suchbewegung nach der göttlichen Macht, die mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu einem Ventil einer ganzen Generation wurde. Die Tendenz zur Re-Sakralisierung äußerte sich in den bildenden Künsten auf vielen Ebenen.14 In der Druckgrafik, Malerei und Skulptur begegnet man einer ungewöhnlichen Fülle von christlichen Bildthemen und mit Heilssymbolik aufgeladener Werke. Dabei drückt sich in der Hinwendung zu Christus- und Heiligenbildnissen die allgemein präsente Überzeugung von der Erlösungsfunktion aus, die der Kunst im Prozess der Erneuerung der Kultur zugesprochen wurde.15 Diese könne jedoch nur vollzogen werden, erklärt Gustav Friedrich Hartlaub (1884– 1963) in seiner 1919 veröffentlichten Monografie Kunst und Religion, wenn tradierte Motive in eine moderne Formensprache übersetzt würden. Dieses Vokabular bilde das »Fundament einer Gesinnung, welches die neuen Symbole schaffen soll, die uns heute noch gänzlich fehlen und durch welche das Christentum erst seine neue Daseinsform gewinnen wird«.16 Während sich gestalterische Innovationen in der profanen Architektur längst durchzusetzen begannen, wurde diese Forderung zum Streitpunkt einer im Zuge der Liturgischen Reformbewegung von Kirchenvertretern und Künstlern geführten Debatte um die Gestaltung des modernen Sakralraums.17 Auf den ersten Blick scheint die Trennlinie zwischen dem Heiligen und dem Theater unüberwindbar. Während das Heilige sich, wie kaum ein anderes Phänomen, durch seine jahrhundertealte religiös-moralische Bedeutung auszeichnet, ist das Theater ein flüchtiger Ort des ephemeren Kunstgenusses. Im Rahmen dieser Studie wird das Heilige jedoch nicht als religiöse Bedeutungszuweisung, sondern als Wirkungskategorie verstanden, die in einem dynamischen Aushandlungsprozess zwischen Religion und Ästhetik hervorgebracht wird. Wie Dietmar Kamper und Christoph Wulf herausgestellt haben, verbindet sich in der Moderne »[das Heilige] mit Phänomenen, die dem Anschein nach nichts mit ihm zu tun haben. Durch Überlagerungen und Transformationen entstehen Hierogamien, Verbindungen mit Heiligem, von denen Verzauberung ausgeht«.18 Da im Theater, jenem profanen Ort des Vergnügens, das Sakrale und das Theatrale schon immer ein spannungsgeladenes Wechselverhältnis eingegangen sind, muss gerade dem Theater ein wesentlicher Beitrag zum Weiterle14 Vgl. hierzu auch Eichhorn/Lorenzen 2016. Für einen Überblick über die Tendenzen in den bildenden Künsten vgl. Ausst.-Kat. Berlin 1980. Zur Wiederbelebung des Heiligen in der Literatur siehe weiterführend u. a. Antoni/Weyel 2013; Wacker 2013 u. Schneider/Schumann 2000. 15 Vgl. etwa die Kreuzigungsdarstellungen von Emil Nolde oder Franz M. Jansen. Siehe hierzu Bonnet 2012, S. 375–402; Broens 2009; Oellers 2009; Mannes 2009 u. Ulmer 1992. 16 Hartlaub 1919, S. 103. Siehe hierzu weiterführend Cepl-Kaufmann/Grande 2012, S. 15–24. 17 In dieser Debatte wurde die gotische Kathedrale zum Bezugs- und Reibungspunkt diametral entgegengesetzter Architektur- und Liturgieauffassungen. Für eine zeitgenössische Perspektive vgl. Acken 1922. Siehe weiterführend Neuheuser 2012; Pehnt 2009; Brülls 2003 u. Giebeler 1996. Zu den Liturgiereformen siehe weiterführend Klöckener/Kranemann 2002. 18 Kamper/Wulf 1987b, S. 12. Vgl. auch Canal/Neumann 2013b, S. 8 u. Minta 2013, S. 8.

6       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

Abb. 3: Henry van de Velde, Bühnenbildentwurf zu Das Kloster, Köln, 1914.

Abb. 4: Szenenfotografie zu Das Kloster, Köln, 1914.

1.1  Das Heilige als ästhetisches Erfahrungsmoment       7

ben des Heiligen attestiert werden.19 Durch die exakte Nachahmung von Architekturstilen vergangener Epochen fasste die Mehrheit der Bühnenbildner Sakralräume bis weit über das 19. Jahrhundert hinaus realistisch auf. Demgegenüber ist im frühen 20. Jahrhundert eine gesteigerte sakrale Aufladung der Szene zu beobachten. So schuf Henry van de Velde (1863–1957) in der Inszenierung von Émile Verhaerens (1855–1916) Das Kloster im Jahr 1914 am Kölner Werkbundtheater einen Symbolraum. Mittels reduzierter Architektur, gezielter Bühnenbeleuchtung und starker Farbkontraste transformierte er die Bühne in ein abstraktes Triptychon, das als visuelle Metapher auf die göttliche Rechtsprechung verweisen sollte (Abb. 3 u. 4).20 Es fällt auf, dass in dieser Zeit in den Bühnenbildern zu Stücken mit religiösem Inhalt die Formensprache der mittelalterlichen Sakralkunst verstärkt aufgegriffen wurde. Dabei zielten Bühnenbildner jedoch nicht auf die perfekte Illusion einer sakralen Architektur, vielmehr bot das Spiel mit historischen Stilen ein anregendes Spannungsfeld für experimentelle Szenografiekonzepte. In Rückbesinnung auf die Tradition des Mittelalters und des Barocks etablierte sich sogar das Kirchenraumspiel als ein wesentlicher Bestandteil der Theaterpraxis. So gab Max Reinhardt (1873– 1943) im Jahr 1920 Hugo von Hofmannsthals (1874–1929) Jedermann auf dem Salzburger Domplatz (Abb. 5). Als Auftakt der Festspiele zwei Jahre später wurde die Kollegienkirche selbst zum Aufführungsort und Spielraum seiner Inszenierung von Das Salzburger Große Welttheater (Abb. 6).21 In einer engen und wirkungsvollen Verflechtung der darstellenden und bildenden Künste wurden neuartige Raumtypen konzipiert, die ein bis dato ungewöhnliches Perzeptions- und Rezeptionsverhalten der Zuschauer aktivierten.22 Im Theater wurde das Heilige aus dem religiös-liturgischen Kontext herausgelöst und im Sinne von Richard Wagners (1813–1883) Auffassung des Gesamtkunstwerks in ein ästhetisches Erfahrungsmoment überführt. Mit der vorliegenden Studie werden erstmals die Konstruktion, Inszenierung und Rezeption des Sakralen im Theater der Moderne in das Zentrum einer kunst- und theaterwissenschaftlichen Analyse gerückt. Um das Heilige als ein zentrales ästhetisches und kulturelles Phänomen der Moderne angemessen zu untersuchen, werden nachfolgend unterschiedliche Ausprägungen von Sakralisierung im Theater des frühen 20. Jahrhunderts betrachtet. Im Fokus der Untersuchung steht eine Aus19 Für eine historische Perspektivierung des Wechselverhältnisses von Sakralraum und Aufführungsraum vgl. Gharavi 2011 u. Wiles 2003, S. 23–62. Ein besonderer Fokus der theaterwissenschaftlichen Forschung liegt auf der Wechselwirkung von Theater und geistlichem Spiel. Siehe hierzu Coors 2015; Primavesi 2010a; Risi 2010 u. Kasten/Fischer-Lichte 2009. Die Durchdringung von Religion und Theater in der Gegenwart beleuchten die Beiträge in Hentschel/Hoffmann 2004. 20 Henry van de Veldes architektonische Entwürfe für das Werkbundtheater haben eine eingehende Untersuchung durch Kunsthistoriker und Theaterwissenschaftler erfahren. Vgl. Kuenzli 2012; Brinitzer 2006, S. 83–88 u. Teuber 1984. Eine systematische Analyse seiner szenografischen Arbeiten steht bislang noch aus. Vgl. hierzu Bornemann-Quecke 2018 und Köhler 2009, S. 96 f. 21 Siehe umfassend Schuler 2007. Vgl. auch Coors 2015, S. 246–259 u. Przytulski 2004. 22 In dieser Studie wird bewusst zwischen der Perzeption als eine rein körperlich-sinnliche Wahrnehmung und Rezeption im Sinne einer semantisierenden Wahrnehmung von Kunstwerken unterschieden.

8       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

Abb. 5: Szenenfotografie zu Jedermann, Salzburg, 1920.

Abb. 6: Wilhelm Willinger, Szenenfotografie zu Das Salzburger Große Welttheater, Salzburg, 1922.

1.1  Das Heilige als ästhetisches Erfahrungsmoment       9

wahl innovativer szenografischer Konzepte, die das Verhältnis von Theater und Sakralität immer wieder neu verhandelten: 1. Max Reinhardts Masseninszenierungen der Pantomime Das Mirakel der Jahre 1911 und 1924, 2. Bruno Tauts (1880–1938) Raumkonzept für eine Inszenierung von Friedrich Schillers (1759–1805) Die Jungfrau von Orleans von 1921 sowie 3. die Sakralisierung des Waldbildes zu Richard Wagners Parsifal in den Neuinszenierungen nach 1914 durch die Bühnenbildner Gustav Wunderwald (1882–1945), Joseph Urban (1872–1933) und Hans Wildermann (1884–1954).23 Dabei geht diese Studie der übergreifenden Fragestellung nach, inwiefern bildkünstlerische Gestaltungselemente, theatrale Strategien sowie Architektur und bühnentechnische Neuerungen im Theater eingesetzt wurden, um sakrale Räume zu konstruieren und ›heilige‹ Szenen hervorzubringen. Ein zentraler Aspekt der Untersuchung bildet in diesem Zusammenhang die Frage nach der Neudefinition des Verhältnisses von Bühnen- und Zuschauerraum. Die Theaterreformer des frühen 20. Jahrhunderts lehnten die bereits im 17. Jahrhundert entwickelte Guckkastenbühne entschieden ab und konzipierten statt Bühnenbilder Bühnenräume, die eine multiperspektivische Wahrnehmung ermöglichten.24 Die Inszenierung des Heiligen muss dabei als eine entscheidende Bezugsfolie für die Hervorbringung eines neuen Perzeptions- und Rezeptionsmodus verstanden werden, der auf eine Einheit von Akteuren und Zuschauern abzielte.25 So wird die Analyse der ausgewählten Inszenierungen aufzeigen, welche Mechanismen im Zusammenspiel von Akteuren, Szenografie, Kostümen und Technik Anwendung fanden, um Erfahrungsräume für Transzendenz zu eröffnen und so den Zuschauer aktiv an der Aufführung teilnehmen zu lassen. Zwar belegt das reiche visuelle und schriftliche Material in den europäischen und amerikanischen Archiven eine intensive künstlerische Auseinandersetzung mit der Hervorbringung heiliger Szenen im Theater der Moderne, doch hat dieses weitverbreitete künstlerische Interesse in der theater-, kunst- und kulturwissenschaftlichen Forschung bislang keine hinreichende Beachtung gefunden. Einzelne Studien aus der Theaterwissenschaft widmen sich dem Spannungsfeld von Kirche,

23 Eine Verortung der zentralen Untersuchungsbeispiele in ihrem theater- und kulturhistorischen Kontext erfolgte in Bornemann 2013a u. Bornemann 2012. Für erste Überlegungen zu der theoretischen Rahmung vgl. Bornemann-Quecke 2018. Die bereits bestehenden Forschungsergebnisse wurden für die vorliegende Studie vollständig überarbeitet. 24 Zu dieser Verschiebung vgl. ausführlich Fischer-Lichte 2012a, S. 20 f. u. Fischer-Lichte 1991, S. 13–36. Den wichtigsten theatertheoretischen Programmschriften des frühen 20. Jahrhunderts wird in den Fallstudien Rechnung getragen. 25 Als eine der zentralen liturgischen Reformen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Kunstdebatte der christlichen Kirchen beschäftigte, muss die von Papst Pius X. geforderte participatio actuosa an Gottesdienstfeiern angesehen werden. Ausgehend von dieser Forderung aus dem Jahr 1903, die sich an die Gläubigen richtete, wurden neue Konzepte zur Gestaltung des modernen Sakralraums entwickelt. Vgl. ausführlich Stock 2006; Pehnt 1998, S. 269–278 u. Giebeler 1996, besonders S. 51 f. u. S. 56. Zu den Reformen innerhalb der katholischen Kirche siehe u. a. Gerhards 2006 u. Nipperdey 1988b, S. 595–596. Zu den Impulsen Otto Bartnings für Neubauten der evangelischen Kirche siehe u. a. Akademie der Künste 2017, S. 20 f. u. S. 36–40.

10       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

Religion und Theater im frühen 20. Jahrhundert.26 Darunter ist die 2007 veröffentlichte Dissertation Der Altar als Bühne. Die Kollegienkirche als Aufführungsort der Salzburger Festspiele von Constanze Schuler besonders hervorzuheben. Darin untersucht die Theaterwissenschaftlerin das Wechselverhältnis zwischen Theater, Sakralraum und Rezeption anhand unterschiedlicher Inszenierungen, die seit 1922 in der barocken Kollegienkirche aufgeführt wurden. In das Zentrum ihrer Analyse rücken die Strategien der Konstruktion und Semantisierung von sakralen Räumen, die im Zusammenspiel von Aufführungsort und szenischem Raum wirksam werden.27 Die Beobachtungen zu den ästhetischen Strategien der sakralen Raumkonzeption, die Peter W. Marx und Gerhard Przytulski im Rahmen ihrer Studien zu Max Reinhardts Mirakel-Inszenierung aufgestellt haben, dienen als Anstoß für eine Untersuchung des umfangreichen visuellen Materialbestandes aus kunsthistorischer Perspektive.28 Die anderen hier genauer zu untersuchenden Beispiele fanden bislang lediglich im Rahmen von historischen Überblickswerken und Künstlermonografien Erwähnung.29 Diese Arbeit unterscheidet sich insofern von den bereits geleisteten Forschungsarbeiten, als dass sie sich nicht auf bestimmte Aufführungsorte, eine Inszenierung oder einzelne Theatermacher konzentriert, sondern verschiedene Fallbeispiele untersucht, um das Phänomen des Heiligen in einem umfangreichen kulturellen Austauschprozess zu verorten. Der einleitend skizzierte kunsthistorische Forschungsdiskurs zur Wiederentdeckung des Sakralen in der Moderne hat die zeitgleichen Tendenzen im Theater nur am Rande berücksichtigt. Eine Ausnahme bildet die Monografie Our Distance from God des amerikanischen Kunsthistorikers James D. Herbert, der unter anderem auch das Spannungsverhältnis von Sakralität und Theater beleuchtet.30 Darüber hinaus zeugen einige Ausstellungen von der Aktualität der Neubewertung des Sakralen in der Moderne, die neben der kunsthistorischen auch die theaterwissenschaftliche Perspektive würdigen.31 In den interdisziplinären Sammelbänden, die in den letzten Jahren in den Kulturwissenschaften erschienen sind, finden sich themenspezifische Untersuchungen zu einzelnen Inszenierungsbeispielen.32 Allerdings gibt es darunter 26 Für eine Studie aus der Literaturwissenschaft, die die Funktion von Dramentexten im Festdiskurs zentral setzt vgl. Haller 2002. Für eine Perspektive der französischsprachigen Forschung siehe Slawinska 1999 u. Slawinska 1985. 27 Vgl. Schuler 2007. 28 Siehe auch Marx 2006a, 126–139 u. Przytulski 2004, S. 63–86. Przytulski referiert vornehmlich die schriftlich überlieferten Quellen und den Stand der Forschung, statt die Inszenierung in einer tiefergehenden Analyse zu beleuchten. So werden die erhaltenen Bühnenbildentwürfe beispielsweise nicht berücksichtigt. 29 Die Literaturangaben zu Ausstellungen, Forschungsbeiträgen und Werkverzeichnissen sind den einzelnen Kapiteln in dem nachfolgenden Analyseteil zu entnehmen. 30 Herbert 2008, hier besonders S. 51–76 zu Richard Wagners Der Ring des Nibelungen. 31 Diese Forschungsbeiträge kennzeichnet meist eine motivische Ausrichtung. Vgl. etwa Ausst.-Kat. Köln 2014; Köhler 2009, S. 88–113 u. Ausst.-Kat. Paris 2008. 32 Vgl. etwa Braungart 2009 u. Primavesi 2001. Publikationen, die das Theater vollständig ausklammern, sind etwa Canal/Neumann 2013a u. Böhm/Livings 2011. Zum religious turn und den Publikationen, die im Zusammenhang mit der Neudefinition der Konzepte des Heiligen, des Festes, der Gemeinschaft und des Rituals herausgegeben wurden, siehe die Kapitel 1.2 u. 1.3.

1.1  Das Heilige als ästhetisches Erfahrungsmoment       11

einige Publikationen, die den Stellenwert des Theaters für die Wiederbelebung des Sakralen in der Moderne vollständig ausklammern. In der kunst-, kultur- und theaterwissenschaftlichen Forschung wird das neuerliche Interesse an der christlichen Religion und der Sakralkunst vergangener Epochen häufig mit den gesellschaftlichen und politischen Erschütterungen der Moderne in Verbindung gebracht. Die vorherrschende Erklärung, die Künstler besannen sich in den Wirren der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wieder auf die Religion als eine Art Zufluchtsort, ist zwar nicht gänzlich falsch, greift jedoch aufgrund der Komplexität des Phänomens viel zu kurz.33 Vielmehr muss die Wiederbelebung des Sakralen als ein Referenzpunkt für die Entwicklung eines neuen Kunst-, Kultur- und Weltverständnisses gesehen werden. So lassen sich anhand der sakralen Aufladung von Theater entscheidende Tendenzen der künstlerischen Reformbewegungen ablesen. Der in dieser Studie gewählte thematische Zugang ermöglicht neue Erkenntnisse über die Legitimation des Theaters als eigenständige Kunstform und das neue Selbstverständnis einer performativ geprägten Kultur. Auch lässt sich das Autonomiebestreben der Avantgardekünstler gegenüber der Kunst im Kaiserreich aufzeigen. In der Synthese der bildenden und darstellenden Künste der Moderne wird eine Fortführung von Wagners Ideal des Gesamtkunstwerks deutlich, die auf die Vereinigung von Kunst und Leben und somit auf idealisierte Gesellschaftsentwürfe und -vorstellungen abzielte.

33 Für eine solche Deutung siehe beispielsweise Hiß 2005, S. 194; Stephenson 2004, S. 59–61 u. Krech 1999, S. 23. Die Beiträge in dem Ausstellungskatalog Christus an Rhein und Ruhr nutzen dieses Erklärungsmuster als Ausgangspunkt ihrer Argumentation, übertragen es jedoch auf die komplexen Verflechtungen der Kulturlandschaft an Rhein und Ruhr. Siehe weiterführend Ausst.-Kat. Bonn 2009a.

12       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

1.2 Das ›Heilige‹ und das ›Sakrale‹ – theoretische Begriffsbestimmungen Obschon die Bezeichnungen ›Heiligkeit‹ und ›Sakralität‹ beide auf das lateinische Wort sacer beziehungsweise sacrum zurückgehen, was ›einer Gottheit geweiht‹ bedeutet, dürfen sie nicht gleichgesetzt werden.34 Während das Heilige vermittelt durch das Sanctus ein wesentliches Element des christlichen Ordinariums ist, hat das Sakrale keinen »Ursprung [...] im kirchlichen Begriffsspektrum«.35 So tritt Letzteres nicht nur als theologische und soziologische, sondern auch als ästhetische Beschreibungs- und Deutungskategorie in Erscheinung. Mit dem Bewusstsein um die definitorische Problematik soll an dieser Stelle eine genauere Differenzierung vorgenommen werden, die zentrale theologische und kulturwissenschaftliche Ansätze zur Konzeption des Heiligen berücksichtigt. Im 20. Jahrhundert, auf einem scheinbaren Höhepunkt der Säkularisierung, ist zugleich ein verstärktes Interesse an der Theoretisierung des Heiligen zu beobachten.36 Seit dem 19. Jahrhundert wird das Heilige im Gegensatz zum Profanen definiert. Das Absolute, das Erhabene, das Mysteriöse und das Ungewöhnliche werden häufig als Unterscheidungskriterien aufgeführt.37 In seiner 1917 veröffentlichten Schrift Das Heilige stellte der evangelische Theologe, Religionsphilosoph und -wissenschaftler Rudolf Otto (1869–1937) die ambivalente Begriffskonstruktion des Heiligen heraus.38 In Abgrenzung zum Alltäglichen bestimmt Otto ›das Heilige‹ als das »ganz Andere«39. Dies sei eine emotionale, rational nicht erklärbare Kategorie. Als Annäherung führt er den Begriff des Numinosen ein, welches er als eine ambivalente Gefühlsregung eines mysterium tremendum und mysterium fascinans auffasst. Damit beschreibt er eine überwältigende Macht, die den Menschen in Ergriffenheit, Schrecken und zugleich in Entzückung und Überschwang versetzen kann.40 Um das Heilige ansatzweise fassbar werden zu lassen, bedürfe es sogenannter ›Schematisierungen‹. Dies können sakrale Handlungen, Orte, Objekte oder Räume sein, an beziehungsweise in denen sich Heiligkeit manifestiert und wodurch diese als Spur für den Menschen erfahrbar und nachvollzieh34 35 36 37

Vgl. Rohrmann 2013, S. 60. Siehe hierzu auch Paus 1995 u. Kippenberg 1989. Rohrmann 2013, S. 60. Vgl. auch Canal/Neumann 2013b, S. 7 f. Zu den zentralen religionsphilosophischen Ansätzen des frühen 20. Jahrhunderts vgl. auch Grätzel/Kreiner 1999, S. 78–96 u. Krech 1999, S. 42–47. Schon in Begriffsannäherungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts überlagerten sich Qualitäten des Heiligen mit denen des Sublimen. Diese Vorstellung diskutiert auch Rudolf Otto. Vgl. Otto 1920, S. 52 f. Zu der ästhetischen Kategorie des Erhabenen vgl. die Ausführungen zur Sakralisierung von Naturschauplätzen in Kapitel 4.1. 38 In Ottos grundlegender Monografie manifestiert sich zugleich eine neue Denkrichtung der Religionsphilosophie und der vergleichenden Religionswissenschaft. Vgl. Weber 2000. Zu Otto siehe weiterführend Lauster 2014; Leggewie 2012 u. Kunin 2003, S. 62–70. Weitere Theorien zur religiösen Erfahrung formulierten im frühen 20. Jahrhundert etwa William James und Wilhelm Windelband. Siehe hierzu Thies 2009. 39 Otto 1920, S. 29. 40 Vgl. ausführlich Otto 1920, besonders S. 28–51. Das Numinose ist auf das lateinische Wort numen für ›übernatürliches Wesen‹ zurückzuführen. Vgl. Leggewie 2012, S. 126.

1.2  Das ›Heilige‹ und das ›Sakrale‹ – theoretische Begriffsbestimmungen       13

bar wird.41 Nach Otto vereine insbesondere die gotische Kathedrale mit dem Halbdunkel, der Leere, dem Schweigen und der Stille die wesentlichen Ausdrucksformen des Numinosen.42 Ottos phänomenologischer Ansatz, das Heilige als Wirkungskategorie und Religion als subjektives Erleben zu begreifen, wurde von zeitgenössischen Theologen und nachfolgenden Forschergenerationen kontrovers diskutiert. Dennoch ist jene affekt- und wahrnehmungsbezogene Annäherung an den Begriff von Heiligkeit für die Analyse der Inszenierungsbeispiele des frühen 20. Jahrhunderts äußerst ertragreich.43 Bezeichnenderweise hatte sich Mitte des 19. Jahrhunderts in der ästhetischen Theorie mit dem Diskurs der Einfühlung eine vergleichbare Denkrichtung etabliert, die von der Aktivierung emotionaler und körperlicher Reaktionen des Betrachters durch das Kunstwerk ausging.44 Zwar grenzt Otto ästhetische Phänomene von der Erfahrung des Heiligen ab, dennoch räumt er ein, dass die ästhetische Erfahrung »dies Gefühl des ›Ganz anderen‹ [...] okkasionell« freisetzen kann.45 In einem solchen Moment vermag die ästhetische Erfahrung durchaus als eine Erfahrung von Transzendenz wahrgenommen zu werden, denn »Kunst [...] erspürt ein anderes Reales, das ›über-mächtig‹ ist«.46 Einige der Umschreibungsversuche des Heiligen griff der rumänische Religionsphilosoph Mircea Eliade (1907–1986) in seiner Hierophanieforschung auf. In der 1958 veröffentlichten Schrift Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen beschreibt Eliade den heiligen und den profanen Bereich in einem dualistischen Verhältnis als »zwei Weisen des In-der-Welt-Seins«.47 Als Orientierung unterteilt der religiöse Mensch sein Umfeld in profane und heilige Räume, die das Zentrum seiner Welt bilden: »Um in der Welt leben zu können, muß man sie gründen – und keine Welt entsteht im ›Chaos‹ der Homogenität und Relativität des profanen Raums. Die Entdeckung eines festen Punktes [...], des ›Zentrums‹ kommt einer Weltschöpfung gleich.«48 Der Übergang vom Profanen zum Sakralen geschieht also durch einen bewussten Handlungsvollzug, den Eliade mit dem Schöpfungsakt vergleicht. Sein Erklärungsversuch ist keinesfalls der erste, der den Fokus auf die räumliche Dimension 41 Vgl. Otto 1920, S. 56–60. Siehe hierzu auch Saviello 2013, S. 43; Böhm 2009, S. 15 u. Kamper/Wulf 1987b, S. 18. 42 Vgl. Otto1920, S. 80–87. 43 Vgl. hierzu Boer/Göttler 2013, S. 1 f.; Minta 2013, S. 8; Leggewie 2012, S. 127 f. u. Colpe 1987. 44 Zu ihren Vertretern zählte unter anderen Wilhelm Worringer, auf den Otto unmittelbar Bezug nahm. Vgl. Otto 1920, S. 83. Siehe Worringer 1912. Siehe hierzu ausführlich Kapitel 3.1. Zum ästhetischen Konzept der Einfühlung siehe weiterführend Curtis/Koch 2009; Müller-Tamm 2005 u. Simmons 2004, S. 266 f. u. S. 273–277. Im Theater kennzeichnete der Begriff der Einfühlung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts den Identifikationsvorgang des Zuschauers mit der Figur. Für eine kritische Differenzierung des Konzepts der Einfühlung im Theater siehe Schouten 2007, S. 194 f. u. Fischer-Lichte 2001, S. 359. 45 Otto 1920, S. 30 f. Siehe weiterführend Leggewie 2012, S. 128. Saviello führt als Beispiel die Transzendenzerfahrung an, von der Abt Suger im Moment des Betretens der gotischen Kathedrale von Saint-Denis berichtet. Vgl. Saviello 2013, S. 43 f. Siehe auch Kapitel 2.1.2. 46 Kamper/Wulf 1987b, S. 9. 47 Eliade 1998, S. 17. 48 Eliade 1998, S. 24 (Hervorh. M. E.). Siehe auch Minta 2013, S. 7 u. Schuler 2007, S. 95–98.

14       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

von Heiligkeit lenkt. Schon 1912 definierte der Soziologe Émile Durkheim (1858– 1917) diese Trennung als elementaren Prozess einer religiösen Denk- und Lebensweise.49 Auch Ernst Cassirer (1874–1945) schloss das Heilige in seine erstmals 1925 veröffentlichten Überlegungen zum mythischen Denken ein. Darin bezeichnet er den Prozess der ›Heiligung‹ als räumliche Sonderung: »Jeder mythisch / bedeutsame Inhalt [...] bildet gleichsam einen eigenen Ring des Daseins [...], das sich abscheidet, und das in dieser Abscheidung erst zu einer eigenen, individuell-religiösen Gestalt gelangt.«50 Dass das Heilige das Zentrum der Welt des religiösen Menschen bildet, setzt sowohl für Cassirer als auch für Eliade eine aktive Konstruktionsleistung voraus. Jenes dualistische Abhängigkeitsverhältnis ist von besonderem Interesse, wenn Sakralisierungsprozesse in Theaterinszenierungen untersucht werden. Fragen nach der terminologischen Differenzierung des Heiligen und des Sakralen sind wieder zu einem zentralen Gegenstand einer interdisziplinär geführten Forschungsdebatte der kulturwissenschaftlichen Disziplinen geworden. Den Ausgangspunkt für dieses neuerliche Interesse markiert der von Dietmar Kamper und Christoph Wulf herausgegebene Sammelband Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, in dem eine Gegenthese zu Webers Annahme der Entzauberung der Welt im modernen Zeitalter aufgestellt wird: »Das Heilige ist nicht vergangen, sondern es ist als Verschobenes, Verborgenes, Verdrängtes und Vergessenes durchaus aktuell.«51 Gegenwärtige Untersuchungen in den Kultur-, Kunst-, Politik- und Sozialwissenschaften legen den Fokus auf »Phänomene der Durchdringung und Überlagerung« des Heiligen und des Profanen.52 Ihnen ist gemeinsam, dass sie sich von streng theologisch-dogmatischen beziehungsweise theologisch-moralischen Auffassungen des Heiligen lösen und dieses als ein dynamisches Konzept begreifen. Für eine Untersuchung von ästhetischen Aushandlungs-, Gestaltungs- und Transformationsprozessen von Heiligkeit im Theater der Moderne ist dieses offene Verständnis überaus ertragreich. Diese Studie knüpft deshalb auch an die terminologische Differenzierung der Anglistin Nadine Christina Böhm in der Publikation Sakrales Sehen. Strategien der Sakralisierung im Kino der Jahrtausendwende an. Böhm situiert das Sakrale in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Heiligen und definiert es deshalb als ein Trägermedium, welches das Heilige repräsentieren beziehungs-

49 Durkheim verstand Religion unabhängig von einer Konfessionszugehörigkeit als Basis für die Identität einer Gemeinschaft. Siehe Durkheim 2007, S. 62. Mit Durkheims Schrift etabliert sich die Religionssoziologie als eigenständige Disziplin, die gesellschaftliche Umwälzungsprozesse in Abhängigkeit von religiösen Fragen untersucht. Vgl. auch Ulbricht 2014, S. 235 u. S. 243. Siehe weiterführend Lynch 2012, hier besonders S. 18–25 u. Kunin 2003, S. 16–23. 50 Cassirer 1958, S. 128. Siehe hierzu auch Schuler 2007, S. 97. 51 Kamper/Wulf 1987b, S. 1. 52 Minta 2013, S. 7. Für aktuelle Forschungsperspektiven siehe Balke 2015; Canal/Neumann 2013a; Gómez/Van Herck 2012; Böhm/Livings 2011; Werntgen 2011; Tönnesmann 2010; Böhm 2009; Nehring/Valentin 2008; Hamm/Herbers 2007 u. Treml/Weidner 2007. Das IP Concepts of Holiness: Re-thinking the Religious in Theatre, Cultural Performance and Media (2013–2015) der Universität Mainz untersuchte das Wechselverhältnis von Performanz, Theater und Religion aus einer transkulturellen und transnationalen Perspektive.

1.2  Das ›Heilige‹ und das ›Sakrale‹ – theoretische Begriffsbestimmungen       15

weise Erfahrungen von Heiligkeit auslösen kann.53 Neben Rudolf Ottos Definition der ›Schematisierungen‹ stützt sich Böhm auf die Ausführungen des Religionsphilosophen Paul Tillich (1886–1965), der das Heilige als ein Schwellenphänomen umschrieben hat, das lediglich als Spur erfahrbar, wenn auch nicht vollständig greifbar wird: Das Heilige kann außer durch heilige Gegenstände nicht in Erscheinung treten. Aber heilige Gegenstände sind nicht an sich heilig. Sie sind heilig nur dadurch, daß sie sich negieren, indem sie auf das Göttliche hinweisen, dessen Medium sie sind.54

Böhm definiert den Prozess der Sakralisierung als eine dynamische Kulturtechnik, die die vorherige Aneignung und religiöse Überhöhung von Gegenständen, Handlungen, Orten und Räumen durch die Rezipienten voraussetzt. In der Hervorbringung sakraler Räume kommt dieser Kulturtechnik somit eine maßgebende Funktion zu. Schon Eliade hatte die Praktiken der Sakralisierung als »Orientierungstechniken«55 bezeichnet. Sakrale Räume sind folglich kein stabiles Konstrukt, sie konstituieren sich erst durch performatives Handeln.56 Nicht jeder religiöse Raum ist automatisch ein heiliger Raum. So werden Kirchen und Tempel heutzutage nicht nur für liturgische Feiern, sondern auch als Aufführungs-, Ausstellungs-, Versammlungs- oder Veranstaltungsorte genutzt. Erst durch die kollektive Wahrnehmung, Deutung und Anerkennung einer göttlichen Macht durch eine Gruppe von Menschen erfahren Räume ihre sakrale Aufladung und Auratisierung. Im christlichen Kontext geht dieser Zuschreibung die Zeremonie der Weihe voraus. Eine wesentliche Eigenschaft sakraler Räume ist, dass sie zu rituellen Handlungen auffordern und Transzendenz dadurch erst erfahrbar machen. Jene Aufladung ereignet sich folglich

53 Vgl. Böhm 2009. Für eine ähnliche medientheoretische Differenzierung siehe auch Balke 2015, 6 f. 54 Tillich 1984, S. 252. Siehe weiterführend Kohl 2003. Zum performativen und transformativen Potenzial sogenannter ›heiliger Dinge‹ vgl. auch Fischer-Lichte 2012a, S. 162–164. 55 Eliade 1998, S. 29. Vgl. hierzu auch Minta 2013, S. 7 u. Böhm 2009, S. 99–106. Zur Berücksichtigung medialer Kommunikationspraktiken und -techniken vgl. Balke 2015, S. 6 f. Zu der Bedingung, dass Medien des Heiligen nicht getrennt von habituellen Praktiken untersucht werden dürfen, siehe grundlegend Belting 1990 u. Wolf 1990. 56 In seiner Schrift Kunst des Handelns erläutert Michel de Certeau die Hervorbringung von Raum durch Handlung. Vgl. Certeau 1988, S. 218. Diese Dissertation wurde im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderten Sinergia-Projekts The Interior: Art, Space, and Performance (Early Modern to Postmodern) entwickelt, in dem aktuelle raumwissenschaftliche Perspektiven diskutiert wurden. Siehe weiterführend Göttler/ Schneemann 2018. Für eine Untersuchung sakraler Räume vor dem Hintergrund des spatial turn mit Bezug auf Michel Foucault siehe Burkard 2014 u. Mohn 2007. Zum Begriff des Performativen siehe ausführlich Fischer-Lichte 2012a und Fischer-Lichte 2004a. Unter Berücksichtigung architektur-, kultur- und raumwissenschaftlicher Diskurse erörtert das von Anna Minta geleitete SNF-Projekt Heilige Räume in der Moderne. Transformationen und architektonische Manifestationen ebenfalls die These von der Hervorbringung sakraler Räume als Kulturtechnik und performativen Prozess.

16       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

erst durch den Handlungsvollzug konkreter religiöser Praktiken, weshalb sich sakrale Räume auch jenseits liturgischer Orte konstituieren können.57 Im Anschluss an Jan Assmann sollen die sakralen Räume, die das Theater hervorbringt, als ›heilige Szenen‹ begriffen werden: Es »geht [...] um das Heilige, das sich ereignet. Das ist etwas anderes als das Heilige, das als Eigenschaft bestimmten Orten, Zeiten oder Personen zugeschrieben wird. Bei der heiligen Szene fallen Ort, Zeit und Person in eins zusammen«.58 Im performativen Handlungsvollzug von Akteuren und Zuschauern vermag das Theater temporäre Erfahrungen von Außeralltäglichkeit und Transzendenz freizusetzen, in denen sich die Wirklichkeit mit dem Imaginären überschneidet. Die Szenografie, die Darstellung der Akteure, die sinnliche und körperliche Wahrnehmung sowie die Imagination der Zuschauer treten dabei in ein Wechselspiel.59 Demnach muss Sakralität, wie die Architektur- und Kunsthistorikerin Anna Minta herausgestellt hat, »als Stimmungswert von Räumen [...], die in ihrer sinnlichen Wirkung über den reinen Materialwert und das ästhetische Potenzial hinausgehen«, aufgefasst werden.60 Somit werden im Folgenden Räume des modernen Theaters in den Blick genommen, in denen eine Atmosphäre hervorgebracht wurde, welche die Zuschauer mit sakralen Räumen in Verbindung brachten. Der Philosoph Gernot Böhme definiert Atmosphären als »Sphären der Anwesenheit von etwas, ihre Wirklichkeit im Raume. [...] [Sie werden als – S. B. Q.] etwas [gedacht], das von den Dingen, von Menschen oder deren Konstellationen ausgeht und geschaffen wird.«61 Dabei ist entscheidend, dass Atmosphären »in leiblicher Anwesenheit durch Menschen gespürt werden«.62 Weil er somit Phänomene kennzeichnet, die über die rein sinnliche Erschließung hinausreichen und zwischen Subjekt und Objekt in Erscheinung treten, erweist sich der Atmosphäre-Begriff als besonders ertragreich, um das Zusammenspiel aller konstituierenden Elemente einer Aufführung zu untersuchen. Dabei gilt es aufzuschlüsseln, welche Sakralisierungsstrategien eingesetzt wurden, um eine sakrale Atmosphäre hervorzubringen und Erfahrungsmomente von Heiligkeit zu inszenieren. Inwieweit dienten reale Sakralräume, ihre Architektur, Raumwirkung und Symbolfunktion als Vorbild? Welche Funktion muss der Topografie des Aufführungsortes in diesem Prozess zugesprochen werden? 57 Vgl. Rau 2008 u. Schwerhoff 2008. Siehe hierzu auch Balke 2015, S. 7; Minta 2013; Rohrmann 2013, S. 61–64; Wiles 2013, S. 23–62; Cooman 2012; Tönnesmann 2010; Schuler 2007, S. 95–104; Böhme 2006, S. 139–150; Jäggi 2007; Kamper/Wulf 1987b, S. 18–21 u. Lippe 1987. Zum Begriff der Aura siehe grundlegend Benjamin 1980. Zur Analogie des Heiligen und der Aura vgl. Scherrer/Hocquengheim 1987. Zur Auratisierung von Räumen der Moderne siehe die Beiträge in kritische berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften 44.2 (2016). 58 Assmann 2011, S. 16 (Hervorh. J. A.). 59 Die Auffassung von Theater als »Erlebnis, bei dem der Bühnenraum in einen andersgearteten Raum verwandelt wird«, geht auf den Theaterwissenschaftler Max Herrmann zurück. Herrmann 1931, S. 153. Vgl. hierzu ausführlich Fischer-Lichte 2012a, S. 58–60 u. FischerLichte 2005a, S. 24–26. Für eine Differenzierung des Begriffs der Imagination siehe Kapitel 1.5. 60 Minta 2013, S. 8. Siehe hierzu auch Jäggi 2007, S. 86 u. Böhme 2006, S. 139–150. 61 Böhme 1995b, S. 33. 62 Böhme 1995b, S. 33 f. Vgl. auch Schouten 2007, S. 20–22; 25; 29 und 181 f.

1.2  Das ›Heilige‹ und das ›Sakrale‹ – theoretische Begriffsbestimmungen       17

Neben eindeutig religiös konnotierten Symbolen wird in den Fallstudien ein besonderes Augenmerk auf die akustischen Qualitäten, Farben, Formen, Materialien, Lichtsituationen und Dimensionen von Räumen als Träger von Atmosphäre gelegt.63 In einer frühen Materialsondierung konnte beispielsweise beobachtet werden, dass in sämtlichen Theaterinszenierungen des frühen 20. Jahrhunderts, die das Phänomen des Heiligen verhandelten, die szenische Beleuchtung als Medium einer transzendentalen Erfahrung eingesetzt wurde. Wenn in den folgenden Untersuchungskapiteln über die Strategien der Beleuchtung nachgedacht wird, geht es dabei zwar auch, jedoch nicht ausschließlich um technische Fragen. Anknüpfend an Gernot Böhme richtet sich vielmehr die Aufmerksamkeit auf die ästhetische Qualität von Beleuchtung: Mit Beleuchtung meine ich [...] so etwas wie Schein, der auf eine Szene fällt und sie in gewisser Weise tönt oder, besser gesagt stimmt. [...] Es sind die Farben, das Licht, es ist die Verteilung des Lichts, die Intensität, die Konzentration oder umgekehrt die Diffusität des Lichts, die einem Raum, einer Szene eine gewisse Atmosphäre verleihen.64

Durch das Erzeugen einer sakral anmutenden Atmosphäre verdichtete sich die Szene in diesen Aufführungen zu einem Symbolraum, in dem das Licht nicht nur zum signifikanten Bedeutungsträger von Heiligkeit, sondern auch zum Generator einer spezifischen Erfahrungsqualität wurde. Gleichzeitig impliziert die Bezeichnung ›heilige Szene‹ eine bewusste Mehrdeutigkeit. Neben der Engführung auf das Theater und dessen Inszenierungsstrategien, öffnete sich der Begriff in einem weiten Verständnis übergeordneten kulturellen Diskursen und Phänomenen.65

63 Vgl. hierzu auch Böhme 2006, S. 149. 64 Böhme 2001a, S. 461 f. (Hervorh. G. B.). Siehe hierzu auch Böhme 2006, S. 143–145. 65 Siehe hierzu weiterführend Kapitel 1.5.

18       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

1.3 Ästhetische Schwellenerfahrung – theatrale Gemeinschaft – festliches Spiel In den Theorien zur Annäherung an den Begriff des Heiligen wird die Schwelle als eine entscheidende Metapher verwendet, die den Übergang von der weltlichen zur transzendentalen Sphäre markiert. Die Begriffe ›Grenze‹ und ›Schwelle‹ werden häufig synonym verwendet. In dieser Studie wird mit ›Grenze‹ eine klare Trennung bezeichnet, während die ›Schwelle‹ als Zwischenraum und -zustand aufgefasst wird, der die Möglichkeit der Überschreitung bietet.66 Bezeichnenderweise gingen mit dem theoretischen Interesse an der Kategorie des Heiligen um 1900 eine Reihe anthropologischer Forschungen zu Übergangsritualen verschiedener Kulturkreise einher.67 Im Jahr 1909 erschien die grundlegende Studie Les rites de passage des Ethnologen Arnold van Gennep (1873–1957) zu Ritualen, die Individuen vollziehen müssen, um in eine bestehende Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Seine Bezeichnung ›Passage‹ impliziert dabei die Überschreitung einer Schwelle.68 Anknüpfend an die Beobachtungen van Genneps bezeichnet der Ethnologe Victor Turner (1920–1983) den Zustand, in dem sich der Mensch zwischen zwei Sphären befindet, als liminale Phase des »betwixt and between«69. Nach Turner ist diese Phase von Mehrdeutigkeit geprägt. Der Passierende »durchschreitet einen kulturellen Bereich, der wenig oder keine Merkmale des vergangenen oder künftigen Zustands aufweist«.70 Neben gesellschaftlichen Übergangssituationen definiert van Gennep »die magisch-religiöse Trennung zwischen dem Profanen und dem Sakralen« als eine Schwellenphase.71 Um einen Übergang in die Sphäre des Anderen zu vollziehen, bedarf es ritueller Handlungen, die einen unmittelbaren Kontakt herstellen. Im christlichen Kontext markieren die Sakramente wie die Taufe den symbolischen wie realen Übergang, mit dem nicht nur eine Veränderung der aktuellen Lebenssituation, sondern auch des persönlichen Verhaltens des Empfangenden einhergehen soll. Dem Gläubigen wird eine Erfahrung von Heiligkeit zuteil, wenn er die Transformationsprozesse der Sakramente durchläuft. In diesem Übergangsritual fungiert der Sakralraum als Schwelle zwischen der alltäglichen Lebenswelt und einer transzendenten Erfahrung. Das Heilige wird folglich in einem ereignishaften Prozess hervorgebracht, wie es Florian Rötzer herausstellt:

66 Für eine synonyme Verwendung der beiden Begriffe vgl. etwa Rohrmann 2013, S. 65. Siehe hierzu auch die Begriffsdifferenzierung in Fischer-Lichte 2012a, S. 119 f. u. Saeverin 2003. Zum Transformationsmoment in den Inszenierungen von Wagners Parsifal vgl. die Kapitel 4.1 u. 4.2.3. 67 Vgl. Canal/Neumann 2013b, S. 8; Fischer-Lichte 2012a, S. 15–18 u. Fischer-Lichte 2004b, S. 281 u. S. 283–285. 68 Vgl. Gennep 1986. Siehe auch Fischer-Lichte 2012a, S. 16 f. u. Fischer-Lichte 2001, S. 347 f. 69 Turner 1967, S. 95. Die Bezeichnung ›Liminalität‹ geht auf das lateinische Wort limen für ›Schwelle‹ zurück. Vgl. auch Fischer-Lichte 2012a, S. 46 f. 70 Turner 2000, S. 94 f. 71 Gennep 1986, S. 181. Die Metapher der Schwelle nutzt beispielsweise Eliade, um den Übergang von dem profanen in den heiligen Raum zu beschreiben. Vgl. Eliade 1998, S. 26.

1.3  Ästhetische Schwellenerfahrung – theatrale Gemeinschaft – festliches Spiel       19 Dort, wo Heiliges sich manifestiert, findet oft ein Fest, immer jedoch eine Inszenierung statt. Eine Art Schauspiel, ein Theater, das, wie die katholische Messe etwas vor- und aufführt. [...] Es handelt sich um keine Repräsentation [...], sondern alles findet in einer auratischen Distanz statt, durch die das Andere zum Wirklichen, die Illusion, zur Erscheinung kommt.72

In Rückbezug auf die Ritualtheorien van Genneps und Turners hat die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte die »ästhetische Schwellenerfahrung« als »einen Modus der Erfahrung, der zu einer Transformation desjenigen führen kann, der die Erfahrung durchlebt«, umrissen.73 Im Unterschied zu einem gesellschaftlichen Übergangsritual müssen ästhetische Schwellenerfahrungen als intensive, jedoch vorübergehende und den sozialen Status nicht verändernde Erfahrungen verstanden werden. Das Zusammenwirken der Spielraumgestaltung und der energetischen Bewegung der Körper der Akteure vermag eine Atmosphäre zu evozieren, welche die Partizipierenden einer Aufführung in einen Zustand der Liminalität versetzen kann. Dabei treffen unterschiedliche Wahrnehmungsmodi aufeinander, die unmittelbar starke affektive und physische Reaktionen auslösen können.74 In diesem Transformationsprozess kann ein sakral aufgeladener Raum als Schwelle fungieren, mit deren imaginären Übertreten die alltägliche Lebenswelt ausgeblendet wird. Für die ausgewählten Fallstudien ergibt sich daher die Frage nach den ästhetischen und theatralen Strategien, die zum Einsatz kamen, um körperliche Reaktionen zu aktivieren, welche eine Erfahrung von Transzendenz überhaupt erst ermöglichten. Erika Fischer-Lichte hat dem frühen 20. Jahrhundert ein neues, performativ geprägtes Kultur- und Theaterverständnis attestiert. Diese Wende führt sie sowohl auf die neuesten Erkenntnisse in der Ritualforschung als auch auf die Entwicklung der Theaterwissenschaft als eigenständige Disziplin zurück. Der Theaterwissenschaftler Max Herrmann (1865–1942) prägte den Begriff der Aufführung, indem er das seit dem 18. Jahrhundert proklamierte Primat des Textes hinter sich ließ und Theater als ›soziales Spiel‹ verstand. Darüber hinaus veränderte die Körperkultur der Jugend- und Lebensreformbewegung, die neue Formen der Ernährung, Hygiene und Kleidung propagierte, das Bewusstsein für den eigenen Leib.75 Ein wichtiger Bezugspunkt für 72 Rötzer 1987, S. 368 f. 73 Fischer-Lichte 2001, S. 347. Fischer-Lichtes Definition der Schwellenerfahrung stützt sich auf einen weit gefassten Ritual-Begriff, der nicht nur gesellschaftliche Übergangsrituale, sondern auch grundsätzliche Veränderungen, die auf die Wirklichkeitswahrnehmung des Menschen zielen, einschließt. Vgl. hierzu auch Fischer-Lichte 2012a, S. 17 u. S. 48 u. Rao/ Köpping 2000, S. 10. Zur Problematik der Unterscheidung von Theater und Ritual siehe Fischer-Lichte 2004b, S. 279–292. 74 Unter dem Oberbegriff der leiblichen Erfahrung fasst Fischer-Lichte physiologische, energetische, affektive und motorische Regungen. Vgl. hierzu Fischer-Lichte 2004a, S. 129–160 u. Fischer-Lichte 2001, S. 347–363, hier besonders S. 352 f. Während Turner über die Begriffe ›liminal‹ und ›liminuid‹ eine Unterscheidung zwischen Ritual und Theater vornimmt, argumentiert Fischer-Lichte, dass Theater in bestimmten Konstellationen einen Transformationsprozess initiieren kann. Vgl. hierzu Fischer-Lichte 2004a, S. 305–314. 75 Vgl. Fischer-Lichte 2012a, S. 15–26; Fischer-Lichte 2005a, S. 30–45; Fischer-Lichte 2004b, S. 280–288 u. Fischer-Lichte 1993, S. 270 u. S. 274 f. Siehe hierzu auch Baxmann 2000. Zur

20       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

diese sich wechselseitig durchdringenden Tendenzen war Friedrich Nietzsches 1872 veröffentlichte Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Mit dem programmatischen Ausruf, die »Wiedergeburt des Dionysus« sei »das Ende der Individuation«, erklärte Nietzsche die griechische Antike als Ideal für die Erneuerung der Kultur des 19. Jahrhunderts.76 Den Ursprung des griechischen Theaters leitete er aus den antiken Dionysien, also einem Moment des Rituellen, ab. Damit legte er erstmals den Fokus auf die unmittelbare Erfahrungsqualität von Theater. In der Tragödie gäbe es »im Grunde keinen Gegensatz von Publicum und Chor [...]: denn alles ist nur ein grosser erhabener Chor von tanzenden und singenden Satyrn«.77 Das dionysische Prinzip bezeichnet folglich jenen durch körperliche Bewegung hervorgerufenen Zustand des Rausches, der Ekstase und Selbst-Entgrenzung, der die einzelnen Individuen zu einer Gemeinschaft verschmelzen lässt.78 Auf eine starke körperliche Erfahrung zielten ganz in diesem Sinne auch zahlreiche theatrale und kulturelle Aufführungen des frühen 20. Jahrhunderts. In der Analyse der gesteigerten sakralen Aufladung von Theater ist die Denkfigur des Festes und die damit verbundene Wirkung von besonderer Relevanz. Feste sind außeralltägliche Ereignisse, die zu besonderen Anlässen gefeiert werden. Zwar zeichnen sie sich durch eine regelmäßige Wiederholung aus, durchbrechen jedoch gleichzeitig die Routine des Alltags.79 Da sich die Teilnehmer eines Festes in einer sogenannten ›Zwischenzeit‹ befinden, können Schwellenerfahrungen ausgelöst werden. Insbesondere religiöse und kirchliche Feiern können Erfahrungsmomente des ›ganz Anderen‹ freisetzen, die eine Transformation der Beteiligten bewirken.80 Im Rahmen seiner Untersuchung der Arbeiterfeste der kommunistischen und sozialdemokratischen Bewegung während der Weimarer Republik hat Matthias Warstat das Konzept der ›theatralen Gemeinschaft‹ entwickelt. Damit stellt er das spezifische gemeinschaftsbildende Potenzial von Festen heraus: Im Fest werden Modelle von Gemeinschaften inszeniert, dargestellt und wahrnehmbar gemacht, wobei vorhandene Milieuzusammenhänge sowohl genutzt als auch gestärkt

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neuen Körperkultur siehe weiterführend Wedemeyer-Kolwe 2004. Zur Lebensreformbewegung siehe umfassend Ausst.-Kat. Darmstadt 2001. Zum neuen Naturbewusstsein siehe Kapitel 4.3. Nietzsche KSA 1999, Bd. 1, S. 73. Vgl. hierzu auch Fischer-Lichte 2004b, S. 286 u. FischerLichte 2001, S. 359 u. S. 361. Nietzsche KSA 1999, Bd. 1, S. 59. Zu Nietzsches Fest-Begriff siehe ausführlich u. a. Drewes 2010, 187–194. Diese Vorstellung widersprach nicht nur der zeitgenössischen Antikenrezeption, sondern auch dem bildungsbürgerlichen Verständnis von Theater, das Schiller als moralische Anstalt charakterisiert hatte und der Vermittlung literarischer Texte dienen sollte. Vgl. Fischer-Lichte 2005a, S. 18 f. u. S. 236. Vgl. Fischer-Lichte 2005a, S. 17 u. Baxmann 2000, besonders S. 25–34. Zu den Großen Dionysien und deren Rezeption im 19. Jahrhundert siehe weiterführend Gödde 2010, besonders S. 108–112. Für eine ausführliche Begriffsdefinition vgl. auch Fischer-Lichte 2012a, S. 114; FischerLichte 2012b, S. 13 f.; Risi/Warstat 2010b, S. 13 f.; Fischer-Lichte/Warstat 2009, S. 12 u. Warstat 2005a, S. 101 f. Vgl. hierzu auch Fischer-Lichte 2012a, S. 14; Primavesi 2010a, S. 120; Risi 2010, S. 120 u. Fischer-Lichte/Warstat 2009 S. 10 u. S. 15.

1.3  Ästhetische Schwellenerfahrung – theatrale Gemeinschaft – festliches Spiel       21 werden können. Erst durch solche theatralen Formen der Selbstvergewisserung können aus einander nahestehenden Menschen tatsächlich Gemeinschaften werden.81

Was Warstat für die Arbeiterfeste als Bestandteil der politischen Kultur aufgezeigt hat, steht beispielhaft für eine allgemein zu beobachtende Wiederbelebung von Festen in den Wirren und der Unsicherheit der Vor- und Zwischenkriegsjahre. Sie dienen der Stärkung des kulturellen, politischen wie sozialen Ordnungs- und Wertesystems. Das Zugehörigkeitsgefühl zu Gemeinschaften wird durch Aufführungspraktiken, Rituale und Symbole intensiviert. Es handelt sich dabei um wiederkehrende Darstellungsmuster, durch die eine gemeinsame Geschichte vergegenwärtigt und weitergegeben wird.82 Nach Benedict Anderson müssen Gemeinschaften deshalb als »imagined communities«83 verstanden werden. Durch den Prozess der Imagination, Inszenierung und Wiederholung bestimmter Muster im Rahmen eines Festes wird nicht nur eine affektive und emotionale Bindung hergestellt, sondern auch die Identität einer Gemeinschaft konstituiert. In Krisensituationen tragen Feste daher auch zu der Wiederherstellung einer nationalen Einheit bei. Im frühen 20. Jahrhundert äußerte sich dieses kollektive Bedürfnis in einer engen Durchdringung von Kultur, Politik und Religion.84 Ein kurzer Blick auf den weiteren Verlauf der Geschichte genügt, um festzustellen, dass aus dieser spannungsgeladenen Konstellation auch ideologische, bisweilen rassistische Instrumentalisierungen der Konzepte ›Fest‹, ›Gemeinschaft‹ und ›Heiligkeit‹ resultierten. Weil der Begriff der Gemeinschaft dennoch der zeitgenössischen Rhetorik am nächsten liegt, wird er nachfolgend anderen Bezeichnungen wie etwa der communitas oder dem Kollektiv vorgezogen. Mit dem Bewusstsein um die problematische Aufladung der genannten Konzepte wird jenen manipulativen Umwertungstendenzen mit kritischen Seitenblicken immer wieder Rechnung getragen.85 Mit dem Begriff der Gemeinschaft hat auch Erika Fischer-Lichte in ihrer Monografie Theatre, Sacrifice, Ritual unterschiedliche Typen von Masseninszenierungen untersucht. Dabei handelt es sich um Formen ästhetischer Gemeinschaftsbildung zwischen Akteuren und Zuschauern beziehungsweise unter den Zuschauern, die allerdings lediglich in der Momenthaftigkeit der Aufführung entstehen und verbleiben: 81 Warstat 2005b, S. 25. 82 Siehe hierzu auch Förster 2014, S. 30; Elfert 2009, S. 73; Schuler 2007, S. 91 f.; Warstat 2005b, S. 394 f.; Stephenson 2004, S. 59 u. Baxmann 2000, besonders S. 7–13. 83 Anderson 1988. Siehe hierzu auch Fischer-Lichte 2012a, S. 155; Fischer-Lichte 2012b, S. 13 u. S. 15 u. Fischer-Lichte/Warstat 2009, S. 13. 84 Zur politischen und soziologischen Dimension des Heiligen siehe besonders Agamben 2002 u. Caillois 1988. Vgl. hierzu auch Canal/Neumann 2013b, S. 8 u. weiterführend Geble 1987. Zu der Neudefinition von Gemeinschaftsmodellen in dieser Umbruchsphase unter besonderer Berücksichtigung der soziologischen Schriften Gemeinschaft und Gesellschaft von Ferdinand Tönnies (1887), Wirtschaft und Gesellschaft von Max Weber (1921/22) sowie Grenzen der Gemeinschaft von Helmuth Plessner (1924) siehe Ulbricht 2014, S. 235 u. 242 f. u. Steinberg/Müller 2014b, S. 9–13. Vgl. hierzu auch Berghoff 2009, S. 21–35 u. Baxmann 2000, S. 35–40 u. S. 84–97. 85 Vgl. auch Steinberg/Müller 2014b, S. 9; Minta 2013, S. 7; Warstat 2005b, S. 387–390 u. Brandl-Risi 2010, S. 203. Siehe weiterführend Puschner/Vollnhals 2012. Siehe hierzu auch die Kapitel 3.4, 4.3 u. 5.

22       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen A theatrical community [...] is a community which is not based on common beliefs and shared ideologies – not even on shared meanings; it can do without them. [...] The performance does not force them into a common confession; instead, it allows for shared experiences.86

In ihrer Untersuchung zu Max Reinhardts Masseninszenierungen der antiken Tragödien König Oedipus (1910) und Orestie (1911) hat Fischer-Lichte spezifische ästhetische Strategien des ›Theaters als festliches Spiel‹ aufgezeigt, die sie mit dem Ausdruck »performative means«87 impliziert. Diese Ästhetik eröffnete Erfahrungsmomente und -räume, durch die sich die an der Aufführung Beteiligten als theatrale Gemeinschaft wahrnahmen. Dieses Vorhaben weiterdenkend »sprach Reinhardt [...] jeder einzelnen Theateraufführung die Möglichkeit zu, aus sich heraus zum Fest zu werden, da es die ›eigentliche Bestimmung‹ des Theaters sei, sich als ›festliches Spiel‹ zu verwirklichen«.88 Daher gilt es die Ästhetik des festlichen Spiels und das Konzept der theatralen Gemeinschaft nicht nur im Rahmen der ersten Fallstudie zu Reinhardts Mirakel zu diskutieren. Vielmehr sollen die Inszenierungsstrategien, die auf eine stetige Wechselwirkung zwischen Schauspielern und Publikum abzielten, in allen drei Fallstudien überprüft werden. Als zentrale Kategorien aller Analysen dienen die Schaffung neuartiger szenischer Räume, die Hervorbringung einer feierlichen Atmosphäre und die energiegeladene Bewegung menschlicher Körper.89 Welche Darstellungsmuster, ästhetischen Strategien, Rituale und Symbole kamen zum Einsatz, um eine außeralltägliche Aufführungssituation und einen feierlichen Rahmen herzustellen? Auf welche Weise wurden Affekte angeregt, die einen Rezeptionsmodus der Andacht, Ergriffenheit und Feierlichkeit auslösten? Inwieweit konnte dadurch eine Bindung zwischen Akteuren und Zuschauern beziehungsweise zwischen den Zuschauern untereinander hergestellt werden? An der Schnittstelle des Festes war es bezeichnenderweise der als antimodernistisch aufgefasste Katholizismus mit seiner traditionsreichen und visuell ausdrucksstarken Liturgie, welche auf die Theatermacher, Künstler und Kulturschaffenden des frühen 20. Jahrhunderts eine besondere Faszination ausübte.90 Der Theaterwissenschaftler Patrick Primavesi hat einen zentralen Unterschied zwischen der kirchlichen und der theatralen Gemeinschaftsbildung herausgestellt: »Im Vergleich zur religiösen Teilhabe, die als Bekräfti86 Fischer-Lichte 2005a, S. 58. In dieser Publikation verwendet Fischer-Lichte den Begriff der ästhetischen und der theatralen Gemeinschaft synonym. Siehe auch die im Wortlaut ähnliche Definition auf S. 8. Die Flüchtigkeit und die Notwendigkeit der wiederholten Hervorbringung im Rahmen der außeralltäglichen Aufführungssituation eines Festes erklärt auch Warstat als Eigenschaften theatraler Gemeinschaften. Vgl. Warstat 2005b, S. 398. 87 Fischer-Lichte 2005a, S. 58. 88 Fischer-Lichte 2012b, S. 11. Zur Ästhetik des festlichen Spiels vgl. auch Fischer-Lichte 2005a, S. 46–68; Fischer-Lichte 2005b, S. 14 u. Fischer-Lichte 2004b, S. 288–292. Zu Max Reinhardts Festspielkonzeption siehe umfassend Kapitel 2. 89 Vgl. hierzu auch Fischer-Lichte 2005a, S. 50 u. Warstat 2005b, S. 391 f. 90 Zur Faszination, die die katholische Kirche auf die zeitgenössische Literatur ausübte, vgl. auch Kiesel 2004, S. 66. Zur Bedeutung des Katholizismus für die Populärkultur der Weimarer Republik siehe Dalton 2005. Zum Stellenwert des Katholizismus in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg siehe umfassend Ruster 1997. Vgl. hierzu auch Nipperdey 1988b, S. 592–596.

1.3  Ästhetische Schwellenerfahrung – theatrale Gemeinschaft – festliches Spiel       23

gung einer Gemeinschaft, ihres Glaubens und ihrer Werte dient, schafft Theater eher eine Distanz zum Vorgeführten, auch wo es sich um Einfühlung und Identifikation bemüht.«91 Unter welchen Umständen ließ sich im Theater dennoch eine so starke Transformation aller Teilnehmenden bewirken, die Assoziationen an eine Kirchengemeinde hervorrief? In jeder der nachfolgenden Fallstudien gilt es zu diskutieren, ob eine Hervorbringung von Gemeinschaft intendiert war, tatsächlich gelang oder ob die Vorstellung von Gemeinschaft mit ästhetischen Strategien reflektiert wurde.

91 Primavesi 2010a, S. 115. Dem Konzept Theatralität als kulturerzeugendes Prinzip folgend betrachtet Clemens Risi Gottesdienstfeiern als cultural performances. Anhand der Kriterien Aufführung, Inszenierung, Korporalität und Wahrnehmung untersucht er das Wechselverhältnis von Kirche und Theater, so etwa die massenmedial in Szene gesetzten Auftritte des Papstes. Vgl. Risi 2010, S. 120 f. Diesen Ansatz verfolgt auch Ursula Roth in ihrer Studie über die theatralen Praktiken und Strategien von modernen Gottesdiensten. Vgl. Roth 2006. Siehe hierzu auch Coors 2015 u. Wiles 2013, S. 23–62.

24       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

1.4 Monumente, Szenen und Topografien des Heiligen vor und um 1900 Im Diskurs um die Legitimierung und Stabilisierung einer nationalen Identität tritt das Heilige bereits im späten 19. Jahrhundert in Verbindung mit den Kategorien Fest, Kultur und Staat in Erscheinung.92 An jener Schnittstelle gewinnt der von Richard Wagner in seiner 1850 veröffentlichten Schrift Das Kunstwerk der Zukunft geprägte Begriff des Gesamtkunstwerks eine zentrale Bedeutung: Das große Gesamtkunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesamtzwecks aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur – dieses große Gesamtkunstwerk erkennt [...] [der Geist – S. B. Q.] [...] als das nothwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft.93

Dieser Definition folgend verorten aktuelle Forschungsbeiträge das Gesamtkunstwerk als ein zentrales kulturhistorisches wie theoretisches Konzept in der weiten Zeitspanne von der französischen Revolution bis in die Gegenwart. Es wird dabei nicht ausschließlich als eine ästhetische Vision begriffen, sondern auch als ein vieldeutiges Phänomen, um auf das wechselseitige Bestreben einer soziokulturellen und politischen Erneuerung aufmerksam zu machen.94 Nachfolgend sollen mit der Vollendung des Kölner Doms im Jahr 1880, Richard Wagners Uraufführung des Parsifal in Bayreuth 1882 sowie der feierlichen Eröffnung der ersten Ausstellung der Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe in Darmstadt im Mai 1901 drei historische Fluchtlinien aus diesem Spannungsfeld skizziert werden. Diese Beispiele eint eine dezidierte sakrale Aufladung des Ästhetischen als Heiligtum und Kultstätte, die in einer säkularisierten Gesellschaft auf umfassende Veränderungen abzielte. Welche Strategien der Sakralisierung fanden schon damals Anwendung, um eine gänzlich neue Auffassung von Kunst, Kultur, Nation und Theater der Öffentlichkeit näherzubringen? Der Kölner Dom – die Vollendung als Nationalheiligtum im Jahr 1880

Am 13. Februar 1869 sprach der Architekt Richard Lucae (1829–1877) in einem Vortrag über die spezifische Wirkung von Räumen, »welche die Idee eines [...] heiligen [...] Zweckes verkörpern«.95 Sein Erleben des Kölner Doms beschrieb er als einen 92 Siehe hierzu auch die Beiträge in Jakubowski-Tiessen 2004. 93 Wagner 1850, S. 32. Siehe hierzu weiterführend Bermbach 2004a. Seit der Romantik war die Idee des Gesamtkunstwerks in den unterschiedlichsten Ausprägungen in der ästhetischen Theorie vorhanden. Seither wird die Bezeichnung in der Forschung auf verschiedenste künstlerische Phänomene übertragen. Vgl. Ausst.-Kat. Zürich 1983. 94 Siehe weiterführend Imhoof/Menninger 2016; Finger/Follett 2011; Roberts 2011; Smith 2007; Finger 2006 u. Fornoff 2004. 95 Lucae 1869, Sp. 298. Zur Rezeption der gotischen Kathedrale im 19. und frühen 20. Jahrhundert vgl. auch die Kapitel 2.1.2, 3.1 u. 4.1.

1.4  Monumente, Szenen und Topografien des Heiligen vor und um 1900       25

emotional ergreifenden und körperlich wahrnehmbaren Vorgang. Diese Wirkung wurde durch die gewaltigen Maßstabsverhältnisse sowie die charakteristische Lichtsitutation der gotischen Bauweise evoziert: Unser Auge, wenn es zu den Gewölben des Hauptschiffes hinaufsieht, begreift nicht, welche unsichtbare Kraft sie in ihrer schwindelnden Höhe zusammenhält. [...] Wir wandeln durch ein wundervolles Labyrinth von Pfeilern, zwischen denen uns überall das Licht wie durch Edelsteinteppiche entgegenglüht, bis die flimmernde Pracht der farbigen Fenster und der malerische Reiz des hundertfach getheilten Raumes am Hochaltare sich fast bis zum Ueberschwenglichen [sic!] steigert.96

Zum Zeitpunkt von Lucaes Besuch war die Kathedrale am Rhein keineswegs vollendet, der Südturm war immer noch ein Torso (Abb. 7). Zwar erfolgte die Grundsteinlegung des Kölner Doms bereits im Jahr 1248, doch war der Bau nach mehreren Jahrhunderten im Jahr 1560 zunächst eingestellt worden. Am 4. September 1842 veranlasste König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen (1795–1861) durch den symbolischen Akt einer weiteren Grundsteinlegung die Vollendung. Einen wesentlichen Beitrag lieferte der Kunsthistoriker und -sammler Sulpiz Boisserée (1783–1854), der zwischen 1821 und 1831 ein umfangreiches Mappenwerk veröffentlichte, in dem Kupferstiche das Bauwerk in seiner Vollendung vorwegnahmen (Abb. 8).97 Im Zuge dieser Bemühungen etabliert sich nicht nur die Denkmalpflege als eigenständige Wissenschaftsdisziplin, vielmehr wurde der Dom als Nationaldenkmal kategorisiert.98 In seiner Monografie From Monuments to Traces, in der Rudy Koshar die Erinnerungslandschaft Deutschlands beleuchtet, sieht er diese Kategorisierung als zentrale Erinnerungsstrategie: »The idea of the national monument [...] became a linchpin of a large framing strategy to enhance national loyalties in an uncertain and still youthful state.«99 Schon vor dem Deutsch-Französischen Krieg und der Gründung des Deutschen Reiches 1871 kam es zu einer nationalpatriotischen Wiederbelebung des gotischen Baustils durch die Deutschen und die Franzosen. In einem über Jahrzehnte anhaltenden kulturpolitischen Streit mit Frankreich wurde die Gotik als Sinnbild der nationalen Identität des deutschen Volkes in Anspruch genommen.100 Daraufhin wurde der Kölner Dom als gotisches Bauwerk der Superlative 96 Lucae 1869, Sp. 301. 97 Vgl. Boisserée 1842. Siehe hierzu weiterführend Ausst.-Kat. Köln 2010 u. allgemein Niehr 1999. 98 Siehe hierzu weiterführend Jefferies 2003, S. 57–61 u. Lang 1996. 99 Koshar 2000, S. 11. In den 1980er Jahren schrieb Pierre Nora unter dem Titel Les lieux de mémoire eine Kulturgeschichte des Gedächtnisses Frankreichs. Darin versammelte er Orte im weitesten Sinne, die einprägsame Bilder in der Erinnerung der französischen Nation wachriefen. Vgl. Nora 2005a; Nora 2005b u. Nora 1990b. Mit dem Begriff ›Erinnerungslandschaft‹ zielt Koshar auf eine Erweiterung des Konzepts der lieux de mémoire, das aufgrund der Heterogenität und Pluralität der ausgewählten Phänomene im kulturwissenschaftlichen Diskurs kritisch reflektiert wurde. Vgl. Koshar 2000, S. 9. 100 Goethes 1773 veröffentlichte Schrift Von deutscher Baukunst gilt als früheste Manifestation dieser nationalen Vereinnahmung. Dieser Aspekt wird in den Kapiteln 3.1 u. 3.3.1 erneut aufgegriffen, in denen die kunsthistorische Debatte um den Terminus ›gotisch‹ zu Beginn des 20. Jahrhunderts diskutiert wird. Da auf eine differenzierte Erörterung der Neugotik

26       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

Abb. 7: Carl Meyer nach Ernst Friedrich Zwirner, Der Dom zu Cöln im Frühjahre 1851, 1851.

fertiggestellt, das mit dem fünfschiffigen Grundriss, der viergeschossigen Westfassade und der alles beherrschenden Doppelturmfront als wichtigste Errungenschaft der späten Bauphase die französischen Vorgängerbauten um ein Vielfaches übertraf.101 Am 15. und 16. Oktober 1880 wurde die Vollendung des Kölner Doms in Anwesenheit von Kaiser Wilhelm I. (1797–1888) mit einem monumentalen Festakt gefeiert. Es handelte sich dabei um eine besondere Form der theatralen Inszenierung, die einen Großteil der Bewohner der Stadt Köln an den Feierlichkeiten teilhaben ließ. Architektur, feierliche Klänge und Illuminationen formierten sich zu einem eindrucksvollen Gesamtbild. Am Abend wurden die gotische Kathedrale und die umliegenden Straßenzüge mithilfe der elektrischen Beleuchtung in Szene gesetzt:

als Ausdruck des nationalen Selbstbewusstseins, des Ursprungs des Kulturstreits und eine ausführliche Darlegung der Parallelerscheinung in Frankreich an dieser Stelle verzichtet werden muss, sei auf die einschlägige Forschungsliteratur verwiesen. Siehe weiterführend Ausst.-Kat. Köln 2014; Niehr 2004, S. 209–218; Koshar 2000, S. 21 u. S. 52–59; Dann 1983 u. Nipperdey 1983. 101 Zur Vollendung im 19. Jahrhundert siehe u. a. Hardering 2014 u. Lenman 1997, S. 16 f. In der Folgezeit lässt sich in Deutschland eine programmatische Rückbesinnung auf mittelalterliche Baustile beobachten. Vgl. u. a. Fraquelli 2008. In England setzte das Gothic Revival bereits im 18. Jahrhundert ein. Zur Wiederbelebung der Gotik in England und Frankreich vgl. Kapitel 2.1.2.

1.4  Monumente, Szenen und Topografien des Heiligen vor und um 1900       27

Abb. 8: Christian Friedrich Traugott Duttenhofer nach Maximilian Heinrich Fuchs, Der Kölner Dom. Aufriss der Südseite in antizipierter Vollendung, 1821.

Der erhebende Augenblick, da unter Glockengeläut, Kanonendonner und dem brausenden Jubel einer zahllosen Volksmenge [...] der Schlusstein [sic!] herab gelassen wurde – der prachtvolle [...] Festzug – das wogende Leben und Treiben des Volks in den geschmückten Straßen der alten heiligen Stadt – die glänzende Illumination derselben mit der elektrischen Beleuchtung des Doms: dies alles wird demjenigen, der so glücklich war, es zu sehen und mit zu erleben, unvergesslich bleiben.102

Diese Beschreibung in der Deutschen Bauzeitung vermittelt eine ästhetisch-technische Überhöhung Kölns als ›heilige Stadt‹, die durch das Prinzip der affektiven und sinnlichen Überwältigung eine starke Wirkungskraft auf die Bewohner und Besucher ausüben sollte. So erfuhren die Emotionen der Menschenmenge eine besondere Beachtung in zeitgenössischen Berichterstattungen. Das zentrale Element der Inszenierung war der prachtvolle Festzug. In historischen Kostümen wurden Szenen der Kölner Stadtgeschichte seit der Grundsteinlegung des Doms 1248 nachgestellt (Abb. 9).103 Mit den ›lebenden Bildern‹ wurde auf eine theatrale Strategie zurückgegriffen, durch die die Geschichte Kölns als wichtiges Zentrum der katholischen Kirche und die Verwurzelung der Stadt im Mittelalter im Moment des Festes aktiviert werden konnte.104 In Anlehnung an die Herrschereinzüge der römischen 102 F. 1880, S. 471. 103 Vgl. Hartmann 1980. Zu den Kostümen dieser feierlichen Prozession als Vorbild für Max Reinhardts Mirakel-Inszenierung siehe Kapitel 2.1.3. 104 Hierin wird das Konzept der imagined communities des Politikwissenschaftlers Benedict Anderson reflektiert. Vgl. hierzu Kapitel 1.3. Matthias Warstat hat die Funktion ›lebender Bilder‹ in den Arbeiterfesten der Weimarer Republik untersucht. Vgl. Warstat 2005b,

28       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

Abb. 9: Adolph Wallraf, Historischer Festzug zur Vollendung des Kölner Doms: Gruppe der I. Periode der Grundsteinlegung, 1880.

Abb. 10: Tony Avenarius, Historischer Festzug veranstaltet bei der Feier der Vollendung des Kölner Domes am 16. October 1880: Vollendung des Domes, 1880.

Kaiser und frühneuzeitlichen Monarchen nutzte der protestantische Kaiser Wilhelm  I. den Kölner Dom und den Festzug als Symbol, um seinen hegemonialen Machtanspruch zu legitimieren und nationale Geschlossenheit zu demonstrieren. So setzte den Schlusspunkt dieser Parade eine überdimensionale Figur der Germania, die ein Modell der Kathedrale mit einem Siegerkranz krönte (Abb. 10).105 Bezeichnenderweise wurde der Kaiser lediglich von Weihbischof Johann Anton Friedrich Baudri (1804–1893) am Portal des Doms empfangen. Erzbischof Paulus Ludolf S. 308–313. Zur Kategorie der lebenden Bilder im Zusammenhang mit der Mirakel-Inszenierung siehe Kapitel 2.1.3. Zur Symbolfunktion des Kölner Doms für die Identität der katholischen Kirche vgl. Lill 1983, S. 96–108. 105 Vgl. Cremer 1980. Die politische Selbstinszenierung über die Aneignung von Symbolen und Ritualen erfuhr durch Wilhelm II. wenige Jahre später eine Potenzierung. Siehe hierzu Marx 2008, S. 352 f. Siehe in diesem Zusammenhang auch Kapitel 4.2.1.

1.4  Monumente, Szenen und Topografien des Heiligen vor und um 1900       29

Abb. 11: Ernst Ludwig Kirchner, Rheinbrücke in Köln, 1914.

Melchers (1813–1895) weilte als Folge des ›Kulturkampfes‹ zwischen dem preußischen Staat und der katholischen Kirche zu diesem Zeitpunkt im Exil in der Provinz Limburg. In Anwesenheit des Kaisers wurde demnach keine heilige Messe gefeiert, sondern lediglich ein Te Deum gesungen. Somit wurde das sogenannte ›Domfest‹ auch zu einer Bühne der Ambivalenz, auf der sich das Selbstverständnis von rheinischem Katholizismus und preußischem Nationalprotestantismus gleichermaßen artikulieren sollte.106 Jene Ambivalenz von Religion und Politik sowie von Mittelalter und Moderne reflektierte Ernst Ludwig Kirchner in seinem Gemälde Rheinbrücke in Köln aus dem Jahr 1914, in dem er zwei zentrale Monumente des nationalen Gedächtnisses vereinte (Abb. 11). In einer starken perspektivischen Verzerrung zeigt es die Hohenzollernbrücke im Vordergrund, während die Spitzen des Kölner Doms im Hintergrund abstrakt emporragen. Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) hatte 1894 den Kölner Hauptbahnhof vergrößern und die Eisenbahnbrücke in den Jahren 1907 bis 1911 errichten lassen, um die zentrale Verkehrsachse zwischen Berlin und der Industrieregion um Köln zu stärken. Diese Zugverbindung untermauerte jedoch nicht nur die wirtschaftliche Kraft des preußischen Reiches, sondern brachte auch zahlreiche katholische Pilger zum Wallfahrtsort Köln.107

106 Vgl. hierzu auch Koshar 2000, S. 55; Lenman 1997, S. 17 f. u. Haupts 1983. Zur Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche, die unter der Bezeichnung ›Kulturkampf‹ in die Geschichte einging und in Köln eine besondere Ausprägung erfuhr, siehe u. a. Ausst.-Kat. Köln 2015. Der Begriff ›Nationalprotestantismus‹ meint die Verschränkung von einer evangelischen und einer national-deutschen Geisteshaltung. Vgl. Nipperdey 1988b, S. 598–600. Siehe hierzu weiterführend Gailus 2005; Haupt/Langewiesche 2001 u. Blaschke/Kuhlemann 1996. 107 Vgl. Simmons 2004, S. 250–255 u. Koshar 2000, S. 53. Noch heute wird die Brücke von Reiterdenkmälern der Hohenzollern flankiert. Zur Geschichte der Hohenzollernbrücke siehe weiterführend Hammer 1997. Seit die Gebeine der Heiligen Drei Könige im Jahr 1164 nach Köln kamen, gilt die Stadt als zentrale katholische Pilgerstätte. Zu den medialen und thea-

30       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

Schon während der Vollendung des Doms wurde in Köln das erzbischöfliche Diözesanmuseum gegründet, das die kulturelle Basis für den christlichen Staat manifestieren sollte. 1910 wurde die umfangreiche Sammlung christlicher Sakralkunst des Kölner Theologen Alexander Schnütgen (1843–1918) im Kunstgewerbemuseum eröffnet. In den Jahren um den Ersten Weltkrieg wurde die Stadt Köln zu einem zentralen Austragungsort der kontrovers geführten wissenschaftlichen Debatte um die alte und neue Kirchenkunst. In der Zeitschrift Organ für christliche Kunst distanzierten sich insbesondere Vertreter der katholischen Kirche von den modernen Tendenzen in den Künsten. Anknüpfend an die liturgische Reformbewegung plädierten hingegen zahlreiche Intellektuelle, Künstler und Theologen in der Zeitschrift für christliche Kunst für eine Modernisierung der sakralen Kunst.108 Beispielhaft wurde das Rheinland also zu einem Ort, an dem das Aufbrechen alter katholischer Traditionen überdeutlich vor Augen geführt, gleichzeitig aber auch die kollektive Erinnerung des kulturellen und künstlerischen Erbes fortwährend aktiviert wurde. Die Uraufführung von Richard Wagners Parsifal in Bayreuth 1882

Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigte Richard Wagner die Konzeption eines Festspielzyklus. Er setzte sich dabei gezielt mit Strategien der Sakralisierung auseinander, um »dem veräußerlichsten Operntheater seiner Zeit eine Würde und Aussagekraft wiederzugeben«.109 Die Realisierung dieser Idee in Bayreuth im Jahr 1876 war für ihn gleichbedeutend mit einer bewussten räumlichen Abkehr von der realen Lebenswelt. Folglich zog er die Abgeschiedenheit der fränkischen Kleinstadt mit ihren rund 20.000 Einwohnern dem florierenden Theaterbetrieb der Großstädte Berlin und München vor: [I]ch kann mir unter meiner Zuhörerschaft nur eine Versammlung von Freunden denken, die zu dem Zwecke des Bekanntwerdens mit meinem Werk eigens irgendwo zusammenkommen, am Liebsten in irgend einer schönen Einöde, fern von dem Qualm und dem Industriepestgeruch unserer städtischen Civilisation.110

Wagners Bestreben, sich von der konsumorientierten Unterhaltungsindustrie der Metropolen zu distanzieren, basierte auf dem Willen, ein Festspiel ins Leben zu rufen, das ausschließlich seinem eigenen Werk gewidmet war. Bayreuth sollte der Ort tralen Strategien der Selbstinszenierung Wilhelms II. im Sinne eines ›Spektakels der Macht‹ vgl. u. a. Marx 2008, S. 350–366. 108 Zu der zentralen Funktion des Rheinlandes in diesem Diskurs siehe ausführlich Cepl-Kaufmann/Grande 2012, S. 15–60; Cepl-Kaufmann/Grande 2009, S. 199–226; Giebeler 1996; Simmons 2004, S. 260–262 u. Kraus 1984a. Zur innerkatholischen Modernisierungsdebatte im frühen 20. Jahrhundert und zum Reformkatholizismus vgl. auch Nipperdey 1988b, S. 594–596. 109 Bauer 1982, S. 256. Vgl. hierzu auch Primavesi 2010b, S. 31 f. 110 Brief von Richard Wagner an Franz Liszt, 30.01.1852, in: Wagner/Liszt 1887, S. 161 (Hervorh. S. B. Q.). Die Volkszählung von 1875 hat 19.200 Einwohner in Bayreuth ergeben, 1891 führt das Baedeker-Reisehandbuch 24.364 Einwohner auf. Vgl. Baedeker 1891, S. 76. Zur Diskussion von Lokalität und Provinzialismus siehe Weber 2010, S. 192 f. u. Fischer-Lichte 1993, S. 196 u. S. 208.

1.4  Monumente, Szenen und Topografien des Heiligen vor und um 1900       31

Abb. 12: Otto Brückwald, Richard-Wagner-Festspielhaus, Bayreuth, Blick aus dem Zuschauerraum auf die Bühne mit dem Bühnenbild des Grals­tempels, um 1911.

der Erneuerung der deutschen Kultur nach den Umwälzungen durch die Revolutionsjahre von 1848 und 1849 werden.111 In den Großen Dionysien der griechischen Antike, die ihm als Modell für seine eigene Festspielkonzeption dienten, sah Wagner die »Erfahrung einer politischen und religiösen Gemeinschaft« zum Ausdruck gebracht.112 Zu diesem Zweck ließ der Komponist den Architekten Otto Brückwald (1841–1917) ein Festspielhaus bauen, das bereits in der Schlichtheit seiner Architektur einen optischen Gegensatz zu dem zwischen 1844 und 1848 im Stil des Rokokos erbauten Markgräflichen Opernhaus im Stadtzentrum darstellte. Im Innenraum verband sich die Guckkastenbühne mit amphitheatralischen Rängen, die der griechischen Theaterarchitektur entlehnt waren. Kein Dekor, keine Annehmlichkeiten sollten die Zuschauer von der Aufführung auf der Bühne ablenken (Abb. 12).113 Durch die Uraufführung des Parsifal am 26. Juli 1882 erfuhr das Bayreuther Festspielhaus eine gesteigerte sakrale Aufladung. In seiner 2011 erschienen Publikation The Total Work of Art in European Modernism charakterisiert der Literaturwissenschaftler David Roberts die Inszenierung als »the return to the stage of religious cult«.114 Mit der Kategorie des Bühnenweihfestspiels wurde der Parsifal gegenüber ›gewöhnlichen‹ Opern- und Theaterinszenierungen herausgehoben, wodurch eine besondere Erwartungshaltung des Publikums vorgeprägt wurde. Sie zielte darauf, im flüchtigen Augenblick der Aufführung ein außeralltägliches und festliches Ereignis hervorzubringen. Die Uraufführung des Musikdramas, das in drei Aufzüge unterteilt ist und knapp viereinhalb Stunden dauert, war die letzte, der Wagner vor 111 Vgl. Wagner 1873, S. 16. Siehe hierzu auch Koss 2010, S. 40. Siehe weiterführend Elfert 2009, S. 59 f. u. S. 63; Smith 2007, S. 24 u. Fischer-Lichte 1993, S. 208. 112 Fischer-Lichte 2012b, S. 9. Vgl. auch Primavesi 2010b, S. 32–36. In der Rückbesinnung auf die Antike finden sich Parallelen zu Friedrich Nietzsches Schriften. Nietzsche, der zu Beginn ein erklärter Verehrer Wagners war, wurde später zu einem seiner schärfsten Kritiker. Im Rahmen dieser Arbeit kann jedoch keine differenzierte Erörterung dieser beiden Positionen geleistet werden. Vgl. hierzu u. a. Drewes 2010, S. 177–194 u. Sogner/Birx 2008. 113 Vgl. ausführlich Wagner 1873. Wagner hatte ursprünglich an eine temporäre Festspielstätte gedacht. Siehe hierzu u. a. auch Koss 2011, S. 168–172 u. S. 177–185; Koss 2010, S. 43 f. u. Primavesi 2010b, S. 34 f. 114 Roberts 2011, S. 101.

32       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

Abb. 13: Atelier Brückner nach einem Entwurf von Paul von Joukowsky, Bühnenbildmodell zu Parsifal, Bayreuth, 1882.

seinem Tod beiwohnte.115 Gemeinsam mit dem russischen Maler Paul von Joukowsky (1845–1912) entwickelte Wagner spezifische Strategien zur Inszenierung des Heiligen. Für die Schlüsselszenen der Enthüllung und Anbetung des Grals im ersten sowie die Erneuerung des Gralsmysteriums im dritten Aufzug musste ein überaus feierlicher Rahmen geschaffen werden. Mit dem Gralstempel entstand ein Raumtypus, der dezidiert für die Hervorbringung einer sakralen Atmosphäre und eines religiösen Erfahrungsmoments bestimmt war (Abb. 13). Das im Anschluss an die Entwürfe Joukowskys gefertigte Bühnenbildmodell des Coburger Theaterateliers Brückner zeigt den Tempel als einen mehrstöckigen, auf Säulen ruhenden, oktogonalen Kuppelraum, der umgeben ist von weiteren Umgängen. Aus dem kreisrunden Grundriss im Zentrum erhoben sich während der Aufführung Sitzbänke und Tische, welche ein dreistufiges, altarähnliches Podest umschlossen, auf dem der Gralskelch ruhte. Als Vorbild diente mit dem Dom von Siena eines der »edelsten Denkmäler der christlichen Baukunst« (Abb. 14).116 Dabei war für Wagner entscheidend, dass ein 115 Siehe Wagner 1907a. Im Begriff des Musikdramas verbinden sich Oper und Schauspiel zu der für Wagner charakteristischen Theaterform. Vgl. Fischer-Lichte 2012b, S. 10 u. Elfert 2009, S. 56–58. 116 Wagner 1907b, S. 304.

1.4  Monumente, Szenen und Topografien des Heiligen vor und um 1900       33

Abb. 14: Giovanni di Cecco und Giovanni Pisano, Santa Maria Assunta, Siena, Vierung, 1215–1263.

ähnlich monumentaler Raumeindruck, wie der der überkuppelten Vierungsanlage, erzeugt werden konnte. Diese Wirkung ließ die historisch-authentische Gestaltung architektonischer Details in den Hintergrund treten.117 Neben den gigantischen Raumdimensionen des Gralstempels vermittelt das Bühnenbildmodell ebenfalls einen Eindruck von der feierlichen Inszenierung des Grals. In dem Moment der Enthüllung glühten purpurne Leuchtkörper im Kelch und ein gleißender Lichtstrahl fiel aus der Höhe auf den Gral (Abb. 15). Die vollständige Dunkelheit des übrigen Theatersaals fokussierte nicht nur die Aufmerksamkeit auf das Bühnengeschehen, sondern erwies sich in diesen Szenen auch als ästhetischer Verstärker der Imagination des Zuschauers: »Zwischen ihm und dem zu erschauenden Bilde befindet sich nichts deutlich Wahrnehmbares, sondern nur eine [...] Entfernung, welche das durch sie ihm entrückte Bild in der Unnahbarkeit der Traumerscheinung zeigt.«118 Eine besondere Wirkung entfaltete das atmosphärische Wechselspiel von Licht und Dunkelheit in den Szenen im Gralstempel. Oswald Georg Bauer bezeichnet diese Form der Lichtinszenierung als »Visualisierung 117 Vgl. Bornemann 2012, S. 65 u. S. 70; Mösch 2010, S. 236 u. Bauer 1982, S. 262. So wurde auf die für Siena charakteristische schwarz-weiße Marmor-Inkrustation verzichtet. Zudem weisen der oktogonale Grundriss und die farbenprächtigen Mosaikdekorationen auf andere christlich-antike und byzantinische Sakralbauten. Siehe hierzu auch Kern 2010, S. 143; Carnegy 2006, S. 109 u. S. 111–112 u. Bauer 1995, S. 106 u. S. 109. Siehe weiterführend Schneller 1997, S. 205–223. 118 Wagner 1873, S. 23. Da sich die Gasbeleuchtung des Festspielhauses nicht abschwächen, sondern nur vollständig ausschalten ließ, konnte Wagner die Beleuchtung lediglich in ausgewählten Szenen als autonomes Gestaltungselement einsetzen. Zur Lichtsituation in Bayreuth vgl. u. a Abulafia 2015, S. 15 f.; Baugh 2014, S. 104 u. Mösch 2009, S. 99–105. Siehe weiterführend Binder 1999 u. Schivelbusch 1983.

34       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

Abb. 15: Richard Wagner’s Parsifal. Scenische Bilder nach den für die Bayreuther Aufführung gefertigten Decorations- und Costümskizzen, Lichtdruck Nr. 9, Leipzig, 1882/83.

spiritueller Erleuchtung«,119 die aus der gezielten Übernahme christlicher Symbolik und liturgischer Formen resultierte. Das Licht ergoss sich in einer solchen Intensität, dass es unweigerlich Assoziationen mit dem göttlichen Himmelslicht wachrief und den Gral in eine überirdische Sphäre entrückte. Gleichzeitig muss es bis in den Zuschauerraum hineingestreut haben, um so das Publikum unmittelbarer am Geschehen teilhaben zu lassen. Auf diese Weise knüpfte die Lichterfahrung in der Gralstempelszene an die Idee eines transzendentalen Erfahrungsmoments während eines religiösen Rituals an. In der Uraufführung des Parsifal konkretisierte Wagner seine ästhetische Vision des Gesamtkunstwerks. Die Forderung nach der Einheit aller Einzelkünste unter dem Primat der Musik war verbunden mit einer Neuauffassung des Zuschauers, der die Geschehnisse auf der Bühne nicht nur reflektieren, sondern auch selbst zu einem »notwendigen Mitschöpfer des Kunstwerks« werden sollte.120 Im Parsifal übte das Zusammenspiel von Musik, Szenografie, Lichtregie und Theaterarchitektur sowohl eine multisensorische als auch eine tiefe emotionale Wirkung auf das Publikum aus.121 Gleichzeitig betonte die reduzierte Gestaltung des Zuschauerraums eine unüberwindbare Distanz zu den außeralltäglichen Vorgängen auf der Bühne. In dieser Position sollten die Zuschauer in einen Zustand der ehrfürchtigen Andacht 119 Bauer 1995, S. 104–106. Siehe hierzu auch Bornemann 2012, S. 70 u. Kienzle 2008a, S. 21. 120 Wagner 1907c, S. 186. Vgl. u. a. Schouten 2007, S. 180 u. Fischer-Lichte 1991, S. 14. 121 Zu Wagners Vision eines Gesamtkunstwerks unter dem Primat der Musik vgl. Wagner 1850, Kap. 5 u. Bauer 1995, S. 105. Zum Parsifal als Umsetzung dieser Idee siehe Steinhoff 2016 u. Schneller 1997.

1.4  Monumente, Szenen und Topografien des Heiligen vor und um 1900       35

und ›Sammlung‹ versetzen werden. Wagner bat daher nachdrücklich darum, auf spontane Reaktionen der Anteilnahme, wie Applaus, zu verzichten.122 Während Wagner an der Komposition des Parsifal arbeitete, veröffentlichte er die programmatische Schrift Religion und Kunst. Darin kritisiert er die Dogmatik der christlichen Kirchen, weil diese den Kern der Glaubensauffassung stark verfremde. In seinem christuszentrierten Verständnis begreift er Religion als Ausdruck des liebenden Mitleidens, welches er zu einem Schlüsselmotiv seiner Interpretation des Parsifal macht.123 Der Kunst weist er die zentrale Funktion in der Erlösung der Gesellschaft von den dogmatischen Zwängen zu, weil sie religiöse Symbole jedweder Konfession »ihrem sinnbildlichen Werthe nach erfaßt, um durch die ideale Darstellung derselben die in ihnen verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu lassen«.124 Damit verbunden ist die Forderung nach einer spirituellen Erneuerung des Musikdramas in Rückbezug auf die religiösen Wurzeln des Theaters, die er in den geistlichen Spielen des Mittelalters vorfand. Somit übte das Christentum eine ambivalente Faszination auf Wagner aus, die sich auch darin äußerte, dass er während der Konzeption des Parsifal mehrfach den Austausch mit einem katholischen Geistlichen über das Zeremoniell der Messe suchte. In der Inszenierung des Bühnenweihfestspiels erlebten christliche Riten und Zeichen, wie etwa die Karfreitagsmetaphorik, die Trinitätssymbolik oder das Sakrament der Taufe, eine mehrdimensionale Nachahmung.125 Einen Schlüsselmoment der Handlung markierte die Abendmahlsfeier der Gralsritter im Tempel, durch die der Kelch als Medium des heiligen Grals zu der zentralen Devotionalie des Parsifal-Kultes werden konnte. Erst Ende des 12. Jahrhunderts erfolgte, neben weiteren bestehenden Interpretationen, eine Gleichsetzung mit dem Abendmahlskelch des Joseph von Arimathia (nicht ermittelbar), wie sie etwa in der Estoire dou Graal des französischen Dichters Robert de Boron (nicht ermittelbar) geschildert wird. Wagner knüpfte mit seinem Bühnenweihfestspiel Parsifal an diese Interpretation an und wählte als Ausdrucksform für den Gral einen Kelch. Mit diesem Symbol der christlichen Liturgie stellte er für das Publikum einen eindeutigen Bezugsrahmen her.126 Außerdem orientierte er sich gezielt an der feierlichen Wirkung 122 Vgl. hierzu auch Primavesi 2010b, S. 34; Elfert 2009, S. 62 u. Dahlhaus 1989, S. 594. Zum Widerspruch von Andacht und Applaus siehe weiterführend Brandl-Risi 2010. Zu Wagners Fest- und Gemeinschaftskonzept siehe auch Merkel 2012, S. 127–164. Marcus Merkel stützt sich insbesondere auf die theoretischen Schriften Wagners und verzichtet beispielsweise auf eine Analyse des Parsifal. 123 Siehe Wagner 1907d. Vgl. hierzu ausführlich Rohls 2009 u. Bermbach 2004b. In der Deutung des Parsifal hat die Forschung auf Wagners breitgefächerte Religionsauffassung verwiesen. Vgl. u. a. Kienzle 2008a, S. 17–20 u. S. 24 u. Bauer 1982, S. 259. Zu Wagners Theologieauffassung siehe weiterführend Kienzle 2005. 124 Wagner 1907d, S. 211. Zu Wagners Position im Diskurs um die Kunstreligion als ein ästhetisches Surrogat im Zeitalter der Säkularisierung vgl. u. a. Lampart 2012; Rohls 2009, S. 79–82; Bermbach 1999 u. Hartwich 1999. 125 Vgl. hierzu u. a. Risi 2010, S. 126 f.; Kienzle 2008a, S. 20–22; Bauer 1995, S. 104–106 u. Bauer 1982, S. 256. Dass Wagner Anregungen bei beiden christlichen Konfessionen suchte, veranschaulichen Mösch 2009, S. 34 u. Mertens 2008. 126 Vgl. Kienzle 2008a, S. 17; Mertens 2008, S. 91 u. Bauer 1995, S. 97. Zu der Kontroverse, die der Parsifal unter Vertretern der evangelischen und katholischen Kirche auslöste, siehe auch Steinhoff 2012, S. 378 f. u. S. 383–385 u. Mösch 2009, S. 360–374.

36       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

christlicher Zeremonien, um das Erleben von Heiligkeit als Moment der Kunst zu inszenieren. Darüber hinaus bildete der Kelch einen Kulminationspunkt der Wagner-Verehrung in Bayreuth. Allein in der rein funktionalen, fast schon asketischen Gestaltung des Zuschauerraums äußerte sich für den Theaterwissenschaftler Marvin Carlson ein Bezug zu den mittelalterlichen Wallfahrtskirchen: [T]he opera house [...] replaced the cathedral during the nineteenth century as the central spiritual icon [...]. The true predecessors of the Bayreuth Festspielhaus were thus [...] the great pilgrimage churches of the Middle Ages, supported [...] by a public that considered the spiritual rewards gained there worth the labor and expense of a lengthy journey.127

Mit der Anlehnung an die mittelalterlichen Wallfahrtsorte sollte die von Wagner angestoßene und von seinen Anhängern getragene Sakralisierung des Aufführungsortes Bayreuth ein spezifisches ästhetisches, performatives und spirituelles Erleben hervorrufen. Bereits abseits der eigentlichen Aufführung war eine aktive Partizipation des Publikums als exklusive Teilnehmer eines festlichen Ereignisses intendiert.128 Die ›Pilgerfahrt‹ zu Wagners ›geweihtem Tempel‹ und die Teilnahme an den Aufführungen seiner Musikdramen bedeuteten ein kurzfristiges Heraustreten aus dem eigenen Alltag verbunden mit einem kollektiven Gefühl emotionaler Ergriffenheit und Überwältigung, wie der Musikwissenschaftler Arthur Seidl (1863–1928) in seiner Aufsatzsammlung Neue Wagneriana von 1914 berichtet: »[W]ie sind [...] [die Scharen – S. B. Q.] von dort nicht zurück gekommen mit einem gewaltigen inneren Erlebnis ohne Gleichen, sprachlos vor Erstaunen ob der Wunderdingen, die sich da mit einem Mal ungeahnt geoffenbart [sic!], als ein neuer Himmel und eine neue Erde sich ihnen erschlossen.«129 Die meisten Besucher erreichten Bayreuth mit dem Zug, denn seit den 1870er Jahren war die Kleinstadt durch eine regelmäßige Bahnanbindung mit den größeren Städten München und Nürnberg verbunden. Wie eine historische Fotografie veranschaulicht, ermöglichte die Lage des Bahnhofs, der das Zentrum einer direkten Sichtachse zwischen dem Festspielhaus und der Villa Wahnfried bildete, den Reisenden, nicht nur den Aufführungsort zu Fuß zu erreichen, sondern auch die touristische Sehenswürdigkeit des Wohnhauses der Familie Wagner nahe des Hofgartens zu besichtigen (Abb. 16).130 127 Carlson 1989, S. 88. Vgl. hierzu auch Smith 2007, S. 26. 128 Die zeitintensive Anreise war mit einem nicht zu verachtenden Kostenaufwand verbunden, weshalb der Festspielbesuch als exklusiver Kunstgenuss den gut situierten Bevölkerungsschichten vorbehalten war. Zur Preisentwicklung, Publikumszusammensetzung sowie Gründung der Richard-Wagner-Vereine als Organisation für Festspielreisende siehe u. a. Förster 2014, S. 27; Merkel 2012, S. 162–164; Koss 2010, S. 19 f.; Primavesi 2010b, S. 32 f. u. Weber 2010, S. 192. 129 Seidl 1914, S. 140, zit. n. Bermbach 2013, S. 225 f. Vgl. hierzu auch Fischer-Lichte 1993, S. 215. 130 Mit dem Expresszug war Bayreuth von München aus in sechseinhalb Stunden zu erreichen. Vgl. Baedeker 1891, S. 76 sowie die Straßenkarte Bayreuths n. S. 79. Der Komponist und Musikwissenschaftler Albert Lavignac veröffentlichte 1897 ein Handbuch für französische

1.4  Monumente, Szenen und Topografien des Heiligen vor und um 1900       37

Abb. 16: Otto Brückwald, Richard-Wagner-Festspielhaus vom Bahnhof Bayreuth gesehen, 1875.

Abb. 17: Anzeige der Firma Heuberger, 1912.

Jeden Wallfahrtsort kennzeichnet ein geweihtes Objekt der Anbetung. Der Kelch als Zeichen der Leiden Christi und der Gegenwart Gottes wurde durch die Wagnerianer im Sinne einer sakralen Überhöhung Richard Wagners als Erneuerer der deutschen Kultur umgewertet. Im Jahr 1913 wetteiferten Firmen mit ihren Werbeanzeigen gar um den Verkauf des Originalkelches (Abb. 17). Neben dieser Nachbildung konnten Wagner-Anhänger unter anderem auch Gralsglocken, Ritterbecher

Festspielbesucher. Vgl. Lavignac 1897. Siehe hierzu auch Schwartz 2003. Juliet Koss’ detaillierte Beschreibung der Zugreise nach Bayreuth basiert zudem auf Reiseberichten Georg Bernard Shaws und Mark Twains. Darüber hinaus verweist sie auf das 1889 auf Deutsch, Englisch und Französisch veröffentlichte Bayreuther Album, das den Besuchern zahlreiche Hilfestellungen zum Fortkommen in der Stadt bot. Vgl. hierzu Koss 2010, S. 45–48.

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und Brotkörbe als Souvenirs für die private Anbetung des heiligen Grals erwerben.131 Der Kauf dieser Kultgegenstände sollte die Weihe der Festspielstätte in die alltägliche Lebenswelt überführen und in der Re-Inszenierung der Gralsenthüllung im eigenen Heim nacherlebbar werden lassen. In der ›musikalischen‹ Pilgerreise nach Bayreuth und dem Souvenirerwerb verbindet sich nicht nur die jahrhundertealte Frömmigkeitspraxis religiöser Gläubiger mit dem profanen Massentourismus. Jene enge Durchdringung lässt sich auch an den modernen Wallfahrtsorten, wie Lourdes und La Salette, beobachten, die im späten 19. Jahrhundert entstanden.132 Im frühen 20. Jahrhundert erreichte die Inszenierung Bayreuths als Pilgerstätte des WagnerKultes durch den Eventcharakter der organisierten Festspielreisen folglich eine konsumorientierte Dimension, obwohl ein solch kommerzielles Spektakel Wagners ursprünglicher Festspielidee eher widersprach.133 Theater als Fest des Lebens und der Kunst auf der Mathildenhöhe in Darmstadt

Der Maler und Architekt Peter Behrens (1868–1940) war von 1899 bis 1903 Mitglied der von Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein (1868–1937) gegründeten Darmstädter Künstlerkolonie, die die Stadt zu einem wichtigen Zentrum der modernen deutschen Kunstbewegung erheben sollte.134 In Darmstadt sollten acht Modellhäuser als Gesamtkunstwerke aus Architektur, Kunsthandwerk, Malerei und Skulptur eine zukunftsweisende Form künstlerischer Produktivität und gemeinschaftlichen Wohnens präsentieren. Die Künstlerhäuser bildeten den Kern der ersten Ausstellung Ein Dokument deutscher Kunst, die am 15. Mai 1901 feierlich eröffnet wurde.135 In Anwesenheit des Großherzogs und dessen Gefolges inszenierte Peter Behrens das Eröffnungsfestspiel Das Zeichen, zu dem Georg Fuchs (1868–1949) den Text verfasst und Willem de Haan die Musik (1849–1930) komponiert hatte. Die Kulisse für das imposante Festspiel, das unter freiem Himmel stattfand, bildete die monumentale Südfassade des von dem Wiener Architekten Joseph Maria Olbrich (1867–1908) entworfenen Atelierhauses.136 Unterhalb der beiden Kolossalfiguren Ludwig Habichs 131 Siehe hierzu auch Bauer 1995, S. 100. 132 Vgl. hierzu ausführlich Emery 2012, S. 172 u. Smith 2007, S. 26. Emery belegt ihre Schlussfolgerung mit der zeitgenössischen Definition des Wortes pèlerinage, das sowohl ›reisen‹ als auch ›pilgern‹ bedeuten kann. Siehe Larousse 1866–1888, Sp. 518–520. Zur Wiederbelebung religiöser Praktiken des Mittelalters im 19. Jahrhundert am Beispiel der französischen Wallfahrtsorte siehe weiterführend Emery/Morrowitz 2004, S. 143–169 sowie die Diskussion der massenmedialen Inszenierung in Verbindung mit der Mirakel-Inszenierung in Kapitel 2.1.3. 133 Vgl. hierzu u. a. auch Koss 2010, S. 40 u. S. 44. 134 Siehe hierzu ausführlich Anderson 2000, besonders S. 45–68; Anderson 1990, S. 103–134; Boehe 1977 u. Boehe 1968. 135 Abgesehen von dem Haus Behrens entwarf Joseph Maria Olbrich als leitender Architekt die sieben weiteren Künstler- und Wohnhäuser auf der Mathildenhöhe. Siehe weiterführend Ausst.-Kat. Darmstadt 2010a. 136 Vgl. Quecke 2010, S. 190. Das Atelierhaus wurde nach dem Begründer der Künstlerkolonie Großherzog Ernst Ludwig benannt. Eine detaillierte Beschreibung des Eröffnungsfestspiels sowie Dokumente zur zeitgenössischen Rezeption finden sich auch in Boehe 1968, S. 141– 145.

1.4  Monumente, Szenen und Topografien des Heiligen vor und um 1900       39

Abb. 18: Festspiel Das Zeichen vor dem Ernst Ludwig-Haus anlässlich der Eröffnung der Ausstellung der Künstlerkolonie Darmstadt, 1901.

(1872–1949) versammelten sich eine Frau und ein Mann auf der Freitreppe, die zwei Chöre anführten. Aus dem Inneren des Hauses war eine ernste Orchestermusik zu vernehmen, durch die eine feierliche Stimmung hervorgerufen werden sollte: »[I]n gemessenen Rhythmen intonierte der Chor seine Klage, dass es den Menschen unserer Zeit nicht vergönnt sei, ihr Leben in Fülle und Schönheit auszuleben.«137 Die historische Fotografie zeigt den symbolgewaltigen Höhepunkt der Aufführung (Abb. 18) – den würdevollen Auftritt des Verkünders: Näher und tiefer herab wandelt er, bis er nahe vor dem Herrn des Festes, dem Fürsten auf der untersten Terrasse steht. Um ihn her war nun alles eine Gemeinde, die unten standen, waren eins mit denen, die da oben soeben die heiligsten Wünsche Aller in Gesängen hatten ertönen lassen.138

Vor den Augen der versammelten Gemeinde enthüllt er mit einem großen Kristall das geheimnisumwobene Zeichen, das anschließend in einer langen Prozession, der sich auch der Großherzog und die anderen Festteilnehmer anschließen, in das Ernst Ludwig-Haus getragen wird. In dieser Prozession wurde die physische und emo137 Unbekannt 1901a, S. 60. 138 Unbekannt 1901a, S. 60 (Hervorh. Unb.). Siehe auch Behrens/Fuchs 1901. Diese Dokumente dienen als Grundlage für die Erforschung des Eröffnungsfestspiels, da im Zuge des Zweiten Weltkrieges zahlreiche Dokumente verloren gingen. Zur problematischen Quellenlage vgl. Boehe 1968, S. 6 u. S. 8.

40       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

tionale Trennung zwischen den Schauspielern und den Zuschauern aufgehoben und alle Anwesenden wurden zu Akteuren des festlichen Spiels. Mit dem Festspiel wurde absichtlich eine Theaterform religiösen Ursprungs gewählt, um der neuen Lebenskultur und der Arbeit der Künstlerkolonie eine höhere Bedeutung zuzuweisen. So erfuhr das Eröffnungsfestspiel in der Begleitschrift, die der Verleger Alexander Koch (1860–1939) herausgegeben hatte, eine gezielte sprachliche Sakralisierung. Die Beschreibung weist zahlreiche Bezüge zu einem religiös-liturgischen Kontext auf, wie etwa die versammelte Festgemeinde, die am Ende der Aufführung in einer feierlichen Prozession in das als ›heiliger‹ Tempel bezeichnete Ernst Ludwig-Haus eintritt. Das Gebäude bildete nicht nur das Zentrum des Areals auf der Mathildenhöhe, sondern sollte zukünftig als Atelierhaus auch der gemeinschaftlichen künstlerischen Produktion dienen und beherbergte überdies einen Festsaal im Hauptgeschoss. Schon im Vorfeld der Eröffnung erfuhr dieser repräsentative Ort eine sakrale Aufladung durch seinen Erbauer: »Oben am höchsten Streif soll das Haus der Arbeit sich erheben; dort gilt, gleichsam in einem Tempel, die Arbeit als heiliger Gottesdienst.«139 Auch war die Analogie zwischen dem biblischen Propheten und der Figur des Verkünders einer neuen Kunst und eines neuen Lebens bewusst gewählt.140 Der Titel des Festspiels – Das Zeichen – war an das letzte Kapitel von Nietzsches Also sprach Zarathustra angelehnt. Bezeichnenderweise wird bei Nietzsche ein »Edelstein, bestrahlt von den Tugenden einer Welt, welche noch nicht da ist«, zum Symbol der Erneuerung.141 An diese Aufforderung anknüpfend, sahen Behrens und Fuchs im Kristall die Veredelung des alltäglichen Lebens durch die Kunst reflektiert. In Kochs Begleitschrift wird die Funktion des Kristalls als ›Sinnbild neuen Lebens‹ und der Verwandlung aller Lebensbereiche in Kunst erläutert: »Und wie der Kohlen-Staub, ergriffen von der Gewalt der Elemente, sich in den leuchtenden, reinen, klargeformten Krystall des Demants wandelt, so wird uns das rohe, ungestaltete Leben zur Schönheit.«142 Das Eröffnungsfestspiel auf der Mathildenhöhe muss somit als Ausdruck der neuen Kulturauffassung der Darmstädter Künstlerkolonie gesehen werden: Die Künstler um Behrens verfolgten die allumfassende künstlerische Gestaltung des Lebens als höchstes Anliegen der Kultur. Wie historische Fotografien seines Wohnhauses dokumentieren, wurde die abstrakt-geometrische Kristallornamentik zu Behrens’ zentralem Ausdrucksmittel dieser Schaffensperiode. So flankierten die Schiebetür zwischen dem Speisezimmer und dem repräsentativen Musikzimmer zwei Glasmosaike mit stilisierten weiblichen Figuren, die je einen Kristall in den Händen hielten (Abb. 19).143 Die Kristallträ139 Olbrich 1900, S. 368 f. 140 Zu der Metapher und dem Motiv des Propheten siehe weiterführend Ausst.-Kat. Frankfurt a. Main 2015; Wacker 2013 u. Müller-Funk 2004. 141 Nietzsche KSA 1999, Bd. 4, S. 85. Diese Symbolfunktion unterstreichend, findet sich auch auf dem von Peter Behrens gestalteten Frontispiz des Textbuches und seinem Metalleinband für eine Prachtausgabe des Zarathustra ein Kristall integriert, der Strahlenbündel in seine Umgebung aussendet. Vgl. Fischer 2013, S. 95–98; Schreiber 2003, S. 25; Prütting 1993, S. 81 u. Krause 1984, S. 82–88. 142 Unbekannt 1901a, S. 60. 143 Vgl. Grosskopf 2011, S. 14–16 u. Anderson 1990, S. 111–114 u. S. 116. Für zeitgenössische Beschreibungen des Hauses siehe Breysig 1901/02 u. Scheffler 1902. Siehe weiterführend

1.4  Monumente, Szenen und Topografien des Heiligen vor und um 1900       41

Abb. 19: Peter Behrens, Haus Behrens, Darmstadt, Musikzimmer, 1901.

gerinnen fungieren als Bindeglied zwischen Kunst und Leben: In einem Raum, der im Besonderen für den kontemplativen Genuss von Musik angedacht war, gehen die bildenden Künste eine solch harmonische Synthese ein und lassen das Leben zum Gesamtkunstwerk werden. In Verbindung mit der Kristallornamentik erzeugten nicht nur dunkle Farbtöne, sondern auch das Betreten des Raums über zwei Stufen eine feierliche Atmosphäre: »Das Herabsteigen gibt uns das psychische Gefühl des Bereitseins zu Etwas, das Heraufsteigen das des Erhebens zu Etwas.«144 Als Ausdruck einer höheren Lebensqualität versinnbildlicht das Musikzimmer im Haus Behrens demnach die Veredelung beziehungsweise die »sakrale Akzentuierung«145 des alltäglichen Wohnraums. Mit zwei stilisierten Kristallträgerinnen hatte Behrens eine ähnliche Bildsprache für die Illustration seiner Schrift Feste des Lebens und der Kunst. Eine Betrachtung des Theaters als höchsten Kultursymbols gewählt, die ein Jahr vor der Eröffnungsausstellung veröffentlicht wurde (Abb. 20). Die darin artikulierten Reformvorstellungen machen sie gleichfalls zu einer Programmschrift der Darmstädter Künstlerkolonie. Behrens sah im Theater, in dem die bildenden und darstellenden Künste eine harmonische Synthese eingehen konnten, die gegenseitige Durchdringung von Leben und Kunst besonders verwirklicht: »Wir wollen erhoben werden durch die Kunst, durch Holz 2013, S. 67–76. Tillmann Buddensieg hat in seiner Untersuchung des Hauses Behrens zahlreiche Querverbindungen zu Nietzsches Ästhetik aufgezeigt. Vgl. Buddensieg 2012 u. Buddensieg 1980, S. 37–47. Für eine kritische Lektüre dieser Interpretation siehe Deicher 1999, besonders S. 114–121. Siehe hierzu auch Fischer 2013, S. 99; Maciuika 2005, S. 39 f. u. Kat. Darmstadt 1990, S. 19 f. u. S. 25. 144 Behrens 1901, S. 8. 145 Prange 1994, S. 76. Zur Ästhetisierung der Lebenswelt vgl. auch Fischer-Lichte 1993, S. 270 f. Im Vergleich zu der abstrakt-floralen Ornamentik des Wiener Architekten Joseph Maria Olbrich hat Anna Grosskopf die Instrumentalisierung des Kristalls in der Debatte um den ›Neuen Stil‹ diskutiert. Siehe Grosskopf 2011, S. 20 f. Erweitert um die neuerliche Inanspruchnahme des gotischen Stils sollte die Diskussion um die ›Stilreinheit‹, die die nationalistisch argumentierenden Vertreter in der kristallinen Formensprache sahen, bis in die 1920er Jahre andauern. Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 3.1.

42       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

Abb. 20: Peter Behrens, Feste des Lebens und der Kunst. Eine Betrachtung des Theaters als höchsten Kultursymbols, Leipzig, 1900.

die der Dichtung wie der Darstellung, über die rohe Natur hinaus!«146 Das Theater als festliches Spiel bot mit Aufführungen zeremoniellen Charakters und dem reinen Kristall als Symbol der Überwindung des ›rohen‹ Naturzustands eine Plattform für die Proklamation einer neuen Kultur. Im Ritual des Festes ereignete sich »das Emporheben [...] des Alltags zu einem der idealen Schönheit geweihten Leben der Feierstunde«.147 In seinem Begleittext zu Richard Dehmels (1863–1920) festlichem Spiel Die Lebensmesse führte Behrens den Ursprung des Stücks auf den religiösen Kult zurück und postulierte Theater – in diesem Verständnis fallen der Aufführungsrahmen und die sich dort ereignende Szene zusammen – als »Stätte für die heiligste Kunst«.148 Um dieser idealen Kunstform einen angemessenen Ort zu bieten, wollte der Architekt in Darmstadt ein Festspielhaus nach dem Vorbild eines griechischen Tempels bauen. So schwebte ihm ein überkuppelter Zentralbau mit einer Reliefbühne und dem Zuschauerraum eines Amphitheaters vor (Abb. 21).149 Behrens’ Festspielhaus fand eine visuelle Fixierung in einer Vignette, die unter anderem Georg Fuchs’ 146 Behrens 1900a, S. 16. Siehe hierzu auch Schur 1910. 147 Hofmann 1902, S. 642. Vgl. auch Fischer 2013, S. 180; Grosskopf 2011, S. 15 u. Anderson 1990, S. 115. Juliet Koss zieht mehrfach in Erwägung, dass Behrens selbst die Rolle des Verkünders übernommen hätte. Durch diese Zuordnung wäre die symbolische Überhöhung des Festspiels noch gesteigert. Vgl. Koss 2010, S. 104 u. S. 112 f. Es findet sich jedoch der Hinweis auf den Kammersänger Riechmann in der Gestalt des Verkünders. Vgl. Pehnt 1998, S. 32 u. Behrens/Fuchs 1901, Titelblatt. 148 Behrens 1900b, S. 28 u. S. 40. Siehe ähnlich Behrens 1900a, S. 11. Vgl. hierzu auch Anderson 1990, S. 124; Boehe 1968, S. 34 u. Scheffler 1902, S. 30 f. u. S. 36 f. Richard Dehmel war einer der engsten Freunde Paul Scheerbarts, weshalb Behrens’ Kristallfaszination auf einen Austausch mit dem Schriftsteller zurückgehen könnte. Vgl. Haag Bletter 1981, S. 32; Haag Bletter 1975, S. 84 sowie Kapitel 3. 149 Vgl. Behrens 1900a, S. 17–20. Der Grundriss wurde erstmals abgedruckt in Behrens 1900b, S. 30. Zur Reform des Ausstattungswesens siehe auch Behrens 1900c. Vgl. hierzu auch Koneffke 1999, S. 24–28 u. Anderson 1990, S. 118–123.

1.4  Monumente, Szenen und Topografien des Heiligen vor und um 1900       43

Abb. 21 und 22: Peter Behrens, Grundriss und Entwurf eines Festspielhauses, 1900.

programmatischer Schrift Die Schaubühne der Zukunft aus dem Jahr 1905 vorangestellt wurde (Abb. 22).150 Beide sahen in diesem Entwurf ein neues Rezeptionsverhalten des Publikums angelegt. Den Moment, in dem der ergriffene Zuschauer zum Mitgestalter des Festes wird, beschreibt Behrens als transzendentale Erfahrung: »Durch unsre Begeisterung sind wir Mitkünstler geworden, wir sind nicht abwartende Zuschauer mehr, wir sind von der Schwelle an Teilnehmer an einer Offenbarung des Lebens.«151 Während Behrens Kunst und Leben, Fest und Alltag in einem wechselseitigen Verhältnis sieht, erachtet Fuchs das Fest in seinen Schriften als eine »Lebenssteigerung«, die nur in der Gemeinschaft aller Teilnehmer an der 150 Wie eine Frühform des Corporate Designs findet sich die Vignette des nicht realisierten Festspielhauses oberhalb des Textes zu Das Zeichen in Koch/Fuchs 1901, S. 63, darüber hinaus in Fuchs 1905 u. Behrens 1900c, S. 401. Vgl. auch Koss 2010, S. 104–107 u. Koneffke 1999, S. 26 f. 151 Behrens 1900a, S. 17. Siehe auch Drewes 2010, S. 203 u. Fischer-Lichte 1993, S. 273–277.

44       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

Aufführung als »berauschende Erhebung« erfahrbar wird.152 In Anlehnung an Nietzsches Beschreibung des ekstatischen Tanzes der Satyrn imaginiert Fuchs also einen außeralltäglichen Rausch, der insbesondere durch die rhythmische Bewegung der menschlichen Körper hervorgerufen wird und so die Teilnehmer eines Festes in eine Gemeinschaft transformiert. Diese beiden Auffassungen von einer theatralen Gemeinschaft münden schließlich in der gemeinsamen Idee eines Feierdramas der Nation. Georg Fuchs bezeichnet den Zeitgeist des deutschen Volkes als eine »Sehnsucht nach einem nationalen Bühnenfeste«, das alle Gesellschaftsschichten ansprechen soll.153 Auf der Mathildenhöhe verwirklichten Peter Behrens und seine Künstlerkolonie-Kollegen einen besonderen Ort für die feierliche Inszenierung von Leben und Kunst. Durch seine exponierte topografische Lage und seine hochgradig symbolische Inszenierung erfuhr das gesamte Ausstellungsgelände eine spezifische Form der Sakralisierung: »Alles von demselben Geiste beherrscht, die Strassen und die Gärten und die Paläste und die Hütten [...] Ausdrücke derselben Empfindung, in der Mitte aber, wie ein Tempel im heiligen Haine, ein Haus der Arbeit.«154 Neben der symbolisch ausgestalteten Architektur und dem an liturgische Zeremonien gemahnenden Festspiel wurde die weitläufige Parkanlage selbst zu einem »große[n] geschmückte[n] Festsaal«.155 Mit Illuminationen und Feuerwerk konnte diese feierliche Atmosphäre gesteigert werden: »Wer in den Bann des feurig-roten Licht-Meeres geriet, dem wallten die Sinne.«156 Allein die rein topografische Sakralisierung des Aufführungsortes weist eindeutige Bezüge zu Richard Wagners Festspielhaus in Bayreuth auf. Mehr noch strebte Behrens danach, in der harmonischen Synthese aller Kunstformen ein Gesamtkunstwerk zu errichten, um »den Kult des schönen Lebens« zu feiern.157 Darin äußert sich ebenfalls eine unmittelbare Verbindung zu Wagners religiös konnotierter ›Weihe‹ des Festspielortes mit dem Bühnenweihfestspiel Parsifal. Als Symbol einer ästhetisierten und somit veredelten Lebensweise verweist der Kristall gleichzeitig auch auf einen Rückzug der Künstlerkolonie aus der als allzu alltäglich empfundenen Welt. In Anlehnung an die Ritter, die den heiligen Gral als glühenden Kelch im Tempel feierlich enthüllen, offenbart die Verkünderfigur des Festspiels den Kristall als mystisches Symbol der Erneuerung.158 So wie die Pilger nach Köln und Bayreuth strömten, zog 152 Fuchs 1909, S. 35. Vgl. auch Merkel 2012, S. 172–182 u. Fischer-Lichte 1993, S. 273 f. 153 Fuchs 1900, S. 211. Vgl. hierzu auch Boehe 1968, S. 145. Zu Fuchs Reformplänen für das Theater siehe Fuchs 1909; Fuchs 1905 u. Fuchs 1900. Vgl. auch Koneffke 1999, S. 28–39. Für eine Übersicht über die gemeinsamen Reformansätze von Behrens und Fuchs siehe auch Prütting 1993, S. 75–80. 154 So zitiert Hermann Bahr Olbrich nach der Eröffnung der Ausstellung. Bahr 1900, S. 33. Vgl. auch Behrens 1900a, S. 13. 155 Quecke 2010, S. 196. 156 Unbekannt 1901b, S. 235. 157 Behrens 1900b, S. 28. Vgl. auch Behrens 1900a, S. 13. Zu Behrens’ Wagner-Rezeption siehe auch Breuer 1909, S. 342. 158 Dass in Wolfram von Eschenbachs Parzival, der um 1210 erschienenen literarischen Vorlage für Wagners Opernadaption, der Gral als Kristall sichtbar wurde, unterstreicht die Annahme, Behrens habe sich mit dem mittelalterlichen Gralskult auseinandergesetzt. Vgl. Prange 1994, S. 69–71. Anna Grosskopf hat auf den Parzival-Mythos hingewiesen und Behrens’ stilistische Anlehnung an Wagner beobachtet, letztere jedoch nicht weiter ausgeführt.

1.4  Monumente, Szenen und Topografien des Heiligen vor und um 1900       45

es die neue Elite zu der herausgehobenen Feststätte auf der Mathildenhöhe, um dort die Erneuerung der Kultur zu feiern.159 Betrachtet man die heiligen Szenen, die vor und um 1900 in Erscheinung traten, so wird bereits die Komplexität der Ästhetik des festlichen Spiels deutlich. Die feierliche Eröffnung des Kölner Doms diente insbesondere der Stärkung einer nationalen höfischen Identität. Zwar waren die festlichen Zeremonien an katholische Rituale angelehnt, wurden jedoch zugunsten der Machtinszenierung Kaiser Wilhelms  I. abgeändert. Wagner hatte die Uraufführung des Parsifal als Bühnenweihfestspiel so konzipiert, dass die Sakralisierung und die Transformation der Besucher in eine Festspielgemeinde wesentliche Bestandteile der Inszenierung waren. Während das Musikdrama in seiner Form unmittelbar als festliches Spiel angelegt war und die Hervorbringung einer ästhetischen Gemeinschaft zum Ziel hatte, weiteten Peter Behrens und Georg Fuchs dieses Modell auf eine übergreifende Idealvorstellung von Gesellschaft aus. Trotz offenkundig unterschiedlicher Denkrichtungen, Kunstund Weltauffassungen lässt sich für die Jahrhundertwende also grundsätzlich eine enge Wechselwirkung von Theater und Fest konstatieren. Die im Rahmen dieser Studie vorgestellten Positionen des frühen 20. Jahrhunderts verbindet mit Wagner und Nietzsche die Überzeugung, das[s] Theater [...] gerade als Fest, durch seine zeremoniellen und rituellen Momente, eine Form von Gemeinschaft konstituieren [könne], die trotz ihres bloß vorübergehenden und flüchtigen Charakters auf längere Sicht eine kulturelle Identität schaffen oder zumindest vorbereiten werde.160

Indem die Schlüsselkonzepte ›Fest‹ und ›Gemeinschaft‹ mit dem Bild- und Quellenmaterial zu den jeweiligen Inszenierungen zusammengedacht werden, lassen sich neue Erkenntnisse darüber gewinnen, wie überlieferte Darstellungs- und Deutungsmuster des Sakralen in der Moderne neu verhandelt wurden und Heiligkeit dadurch eine künstlerische wie kulturelle Neubewertung erfuhr.

Vgl. Grosskopf 2011, S. 22. Siehe auch Prütting 1993, S. 82 u. S. 85. Für eine ausführliche Diskussion der Kristall- und Lichtmetaphorik in den mittelalterlichen Gralslegenden siehe Haag Bletter 1981, S. 25 f. Zur Sakralisierung der Landschaft in Wagners Parsifal siehe Kapitel 4. In dieser Arbeit bezieht sich ›Parzival‹ auf die höfische Versdichtung und ›Parsifal‹ auf Wagners Bühnenweihfestspiel. 159 Die homogene Zusammensetzung der Ausstellungsbesucher als Adressaten der kulturellen Erneuerung ging insbesondere auf Nietzsches Theaterästhetik zurück, während Wagner eine sofortige Reform auf nationaler Ebene anstrebte. Vgl. Koss 2010, S. 104, S. 111 u. S. 115 u. Maciuika 2005, S. 37. Siehe hierzu auch Förster 2014, S. 38; Haag Bletter 1981, S. 31 sowie Kapitel 4.1. 160 Primavesi 2010b, S. 19.

46       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

1.5 Annäherung an die Imagination des Heiligen: Materialkorpus und Methode Auf der Grundlage eines vielschichtigen Materialbestandes wurden drei thematische Fallstudien bestimmt. Diese Auswahl der Theaterinszenierungen richtet sich nach einem erkennbaren konzeptuellen Fokus auf die sakrale Aufladung des Spielraums. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen Aufführungen, die entweder das Ergebnis der Zusammenarbeit von bildenden Künstlern und zeitgenössischen Theatermachern waren oder in denen Theaterschaffende zeitgenössische wie historische Strategien der Sakralisierung aus der bildenden Kunst rezipierten. Darüber hinaus verhandeln sämtliche Inszenierungen die theatrale Gemeinschaft als ein neuartiges Perzeptions- und Rezeptionsverhalten des Publikums. Gleichzeitig soll mit diesen exemplarischen Untersuchungen auf den transkontinentalen kulturellen Transfer aufmerksam gemacht werden. So werden mit Theaterprojekten deutschsprachiger Bühnenbildner, Künstler und Regisseure in den Großstädten Berlin, Breslau, London, New York und Wien bewusst mehrere Bühnenzentren der westlichen Theaterwelt in den Blick genommen. Hier wird eine kulturelle Trennlinie gezogen, die durch eine bewusste Setzung entsteht, denn eine Schnittmenge der ausgewählten Beispiele ist die Auseinandersetzung mit zeremoniellen Praktiken der christlichen Konfessionen. Mit der Ausweitung des Untersuchungsfeldes auf verschiedene Nationen soll verdeutlicht werden, welche große Variation sakraler Konzepte für den szenischen Raum vorzufinden waren, wie verschiedene kunst- und kulturhistorische Impulse interpretiert und auch außerhalb Europas aufgenommen wurden. Außerdem unterstreicht der Ansatz, den dynamischen Austausch zwischen den Bühnenzentren in den Blick zu nehmen, dass das Heilige im Theater einem ständigen Aushandlungsprozess unterliegt. Zeitliche Brüche in der Struktur der Arbeit sind bewusst gewählt, denn es ist nicht das Ziel, durch eine chronologische Geschichtsschreibung eine historisch stringente Entwicklung nachzuzeichnen. Vielmehr erfolgt durch eine Gliederung nach spezifischen Sakralisierungsmomenten die Annäherung an die Komplexität und Mehrdeutigkeit des Heiligen in der Kunst und Kultur der Moderne. Im Zentrum der ersten Fallstudie stehen Max Reinhardts Inszenierungen der Pantomime Das Mirakel in London im Jahr 1911 und in New York 1924. Im Oszillieren zwischen einer mimetischen Repräsentation und einer theatralen Überhöhung des Heiligen müssen diese Inszenierungen als Bindeglied zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert begriffen werden. So wird die Analyse die gigantische Transformation des Bühnenraums in eine gotische Scheinkathedrale aufzeigen. In Reinhardts Vorstellung von einem Theater als festlichem Spiel überlagerten sich die Institutionen Theater und Kirche. Dabei ist die heilige Szene für Reinhardt insbesondere auch aus formalen Gründen von Interesse. Sie dient ihm als Projektionsfläche, um Vorbilder aus der mittelalterlichen Kunst, modernste Bühnentechnik und die Aneignung von Zeremonien katholischer Festgottesdienste zu einem visuellen Spektakel zu verschränken. Der Architekt Bruno Taut verhandelte auf mehreren Ebenen das Phänomen der kristallinen Gotik, so etwa in seinem Glashaus für die Kölner Werkbundausstel-

1.5  Annäherung an die Imagination des Heiligen: Materialkorpus und Methode       47

lung von 1914 und dem Mappenwerk Der Weltbaumeister. Im Zentrum des zweiten Analysekapitels steht die Auflösung des Räumlichen durch Glas, Licht und Farbe in den verschiedenen künstlerischen Gattungen. Im Rahmen der Inszenierung von Die Jungfrau von Orleans am Deutschen Theater Berlin im Jahr 1921 erfolgte die Erweiterung jener Abstraktionstendenzen ins Metaphorische im Sinne einer Entmaterialisierung des Heiligen. Auf einer kulturhistorischen Ebene soll die Analyse Aufschluss darüber geben, inwieweit Taut den Sakralraum als Kunstsymbol seiner utopischen Auffassung von der Gesellschaft als Gesamtkunstwerk verstand. In der dritten Fallstudie rückt mit dem Waldbild aus Richard Wagners Bühnenweihfestspiel Parsifal der Prozess der sakralen Aufladung eines Naturschauplatzes in den Fokus der Diskussion. Wie im Rahmen dieser Einleitung aufgezeigt, muss die Uraufführung von Wagners Parsifal in Bayreuth 1882 als Schlüsselmoment der sakralen Aufladung darstellender Kunst verstanden werden. Dadurch, dass der Parsifal jahrzehntelang ausschließlich in Bayreuth aufgeführt werden durfte, war die Inszenierung des uralten Gralsmythos durch Wagners Bearbeitung zunächst fixiert. Von umso größerem Interesse ist daher die Frage, auf welche Weise das Musikdrama mit der Bühnenfreigabe 1914 ästhetisch neu besetzt wurde. In den neuen szenografischen Konzepten von Gustav Wunderwald, Joseph Urban und Hans Wildermann erfuhr die Verwandlung des Waldes in den Gralstempel eine gesteigerte sakrale Aufladung. Um das Material angemessen zu untersuchen, ist ein interdisziplinärer Ansatz notwendig. Die Arbeit zeichnet sich durch eine kulturgeschichtliche Ausrichtung aus, in der die kunsthistorische Werkanalyse mit der theaterhistoriografischen Inszenierungsanalyse verbunden wird. Auf diese Weise wird die Untersuchung der konkreten Aufführungssituationen sowie der konstitutiven Gestaltungselemente Aufschluss über die jeweilige Raumauffassung geben. Bislang wurde das Bild- und Quellenmaterial zu den ausgewählten Inszenierungen von der Forschung nur partiell ausgewertet. So liefert diese Dissertation insofern neue Impulse für die Theaterwissenschaft, als dass der reiche Materialbestand erstmals unter einer thematischen Fragestellung aufgearbeitet wird. Der künstlerische Austausch von bildenden Künstlern und Theatermachern brachte nicht nur neuartige Inszenierungskonzepte hervor, sondern etablierte vielmehr die Bühnenkunst als eine eigenständige Kunstform. Im Zuge dieser Entwicklung wurden innovative Szenenentwürfe als Spiegel der modernen Raumkunst in großen Ausstellungen der Öffentlichkeit präsentiert.161 Demnach verdeutlicht die Dissertation auch, dass Theaterinszenierungen einen würdigen Gegenstand der kunsthistorischen Forschung bilden sollten. Eine überzeugende Erarbeitung der Forschungsfragen und der kulturhistorischen Verortung der Fallstudien bedarf folglich der Anwendung verschiedener kunst-, theater-, architektur-, kultur- und medienwissenschaftlicher Ansätze. In einem ersten Schritt erfolgt eine werkorientierte Formal- und Stilanalyse des existierenden visuellen Untersuchungsmaterials, wobei der Bühnenaufbau und das 161 Vgl. Grosse 1984, S. 288, der u. a. die Theaterkunst-Ausstellungen in Mannheim 1913 und in Zürich 1914 sowie die Werkbundausstellung in Köln 1914 aufführt. Für eine ausführliche Diskussion der Bühnenkunst als Raumkunst siehe Herrmann 1931.

48       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

Dekorationskonzept als zwei sich durchdringende Bereiche erachtet werden. Die Bühnenbildentwürfe dienen als wichtigste Primärquellen, da von ihnen die Analyse der szenischen Raumkonzepte ausgeht. Sie vermitteln einen Eindruck von der Raumdisposition, Lichtsituation und Atmosphäre der jeweiligen Szene. In den Blick genommen werden dabei auch neueste bühnentechnische Entwicklungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, um aufzuzeigen, wie diese die künstlerische Neukonzeption des szenischen Raums begünstigten. In Verbindung mit technischen Plänen, Skizzen, Vorstudien, Bühnenbildmodellen und Fotografien dokumentieren die Entwürfe den schöpferischen Entwicklungsprozess des Bühnenbildners in Zusammenarbeit mit dem Regisseur und den Schauspielern und lassen die Realisierung des ästhetischen Gesamtkonzepts bis zu der Premiere nachvollziehen. Ein vielschichtiger Autografenbestand unterstützt einerseits die Erschließung des Produktionsprozesses und der ästhetischen Konzeption einer Inszenierung. Probenmanuskripte, Kommentare zu der Bühnengestaltung in Regiebüchern sowie Tagebucheinträge dienen der Annäherung an die szenografischen Konzepte und ihrer Verortung im theater- sowie im kulturhistorischen Kontext. Gleichzeitig geben Briefe, Kostenaufstellungen, Besetzungs- und Materiallisten Aufschluss über den Entstehungsprozess der Inszenierung, ihre Planungsphase und die Zusammenarbeit der beteiligten Personen. Ein umfassendes Archiv an Rezeptionsdokumenten ermöglicht andererseits die Annäherung an das Rezeptionsverhalten des zeitgenössischen Publikums. Hierzu zählen Theaterkritiken, die unmittelbar im Anschluss an den Besuch der Aufführung verfasst wurden, Leserbriefe sowie nachträgliche Aufführungsbesprechungen in Magazinen und Zeitschriften. Anhand der Rezeptionsdokumente lassen sich nicht nur die Reaktionen einzelner Theaterkritiker auf die Inszenierungen ablesen. Vielmehr geben sie auch Aufschluss über das Zusammenwirken von Schauspiel und Szene sowie die Mechanismen der Wahrnehmung, Imagination und Raumkonstruktion, die seitens des Publikums angewendet wurden. Selbstverständlich spiegeln Theaterkritiken nur die subjektive Meinung einzelner aus einem entsprechend vorgebildeten Fachpublikum und es ist aus heutiger Sicht schwierig, Aussagen über das grundsätzliche Rezeptionsverhalten des Publikums vergangener Theateraufführungen zu treffen. Folglich ist eine kritische Analyse im Hinblick auf die Fragestellung notwendig, die auch die kulturellen, politischen und sozialen Umstände der Veröffentlichung einer Rezension berücksichtigt.162 Obschon sich eindeutige Aussagen zum allgemeinen Rezeptionsverhalten niemals treffen lassen, birgt eine Zusammenschau der subjektiven Quellen ein wesentliches Potenzial für die Beurteilung der Wirkungsästhetik heiliger Szenen.163 So lassen sich anhand der Dokumente wiederkehrende Reaktionen, Übereinstimmungen, Differenzen sowie Wiedererkennungswerte ablesen, die es ermöglichen, sich der Frage nach der Raumkonstruktion und Rezeption anzunähern. Außerdem ist es weniger das Ziel dieser Studie, den individuellen Rezeptionsprozess einzelner Zuschauer zu beschreiben, als vielmehr Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie künstlerische und 162 Vgl. Schuler 2007, S. 153. Zur wissenschaftlichen Problematik im Umgang mit Theaterkritiken und anderen schriftlichen Rezeptionsdokumenten siehe umfassend Lazardzig/ Tkaczyk 2012, S. 157–166. 163 Vgl. Schuler 2007, S. 152 f.

1.5  Annäherung an die Imagination des Heiligen: Materialkorpus und Methode       49

mediale Strategien eingesetzt wurden, um Erfahrungsmomente von Heiligkeit hervorzubringen. Anknüpfend an die britische Theaterwissenschaftlerin Jacky Bratton werden Programm- und Souvenirhefte als eigenständige ›Theatertexte‹ aufgefasst und analysiert. In ihrer Publikation New Readings in Theatre History erarbeitet sie am Beispiel von Theaterzetteln des 19. Jahrhunderts das Konzept der Intertheatralität, das den Fokus auf spezifische Materialeigenschaften und mediale Vermittlungsstrategien lenkt: »[A]n intertheatrical reading goes beyond the written. It seeks to articulate the mesh of connections between all kinds of theatre texts, and between texts and their users.«164 Zu Beginn einer Aufführung erworben, lieferten die Programmhefte wertvolle Informationen zu der Handlung der Aufführung und konnten von den Zuschauern jederzeit konsultiert werden.165 So stehen sie in einer dynamischen Wechselbeziehung zu den anderen Elementen der Inszenierung. Bratton geht von der Annahme aus, dass sie die Wahrnehmung der Inszenierung entscheidend vorbestimmen: »[T]he programme puts the reader in the frame of mind to understand how we should respond to the performance.«166 In der nachfolgenden Analyse werden Programm- und Souvenirhefte also dahingehend befragt, inwieweit die Handlungsbeschreibungen und Illustrationen den Rezeptionsprozess des Publikums in eine bestimmte Richtung steuern konnten. Wie konnte über dezidierte Gestaltungsund Kommunikationsstrategien eine spezifische Erwartungshaltung formuliert, durch visuelles Material bestimmte Bilder in der Vorstellungskraft der Zuschauer angeregt oder ein sinnlich-affektiver Wahrnehmungsmodus vorgebildet werden? Methodisch gesehen ergeben sich aus dem Material einige Fragen, die sich an der Schnittstelle zwischen der Produktions- und Rezeptionsebene bewegen. Um sich der Gestaltung, Wahrnehmung, Imagination und Zuschreibung von heiligen Szenen im Theater durch die Bühnenbildner und Zuschauer annähern zu können, sind Perspektiven der kunstwissenschaftlichen Rezeptionsästhetik und der Bildwissenschaften hilfreich. Die Rezeptionsästhetik geht von der Beobachtung aus, dass die Betrachterfunktion bereits im Kunstwerk angelegt ist und nach dem impliziten Betrachteranteil im Werk fragt.167 Im Rahmen dieser Arbeit soll die rezeptionsästhetische Werkanalyse auf die Untersuchung von Theaterproduktionen übertragen und das Bildmaterial anhand folgender Gesichtspunkte befragt werden: Welche Signale sendet eine Inszenierung über die Darstellungsmodi, die Raumdisposition und die Handlung an sein Publikum und wie wird eine Kommunikation mit den Zuschauern hergestellt, um sie aktiv an der Konstruktion der Aufführung zu beteiligen? Inwieweit sind die Strategien der Sakralisierung bereits in den Bühnenbildentwürfen angelegt? Eine Reihe von bildwissenschaftlichen und kunsthistorischen Studien hat die Analyse auf die Kunstbetrachtung und die Beziehung zwischen Kunstwerk und Betrachter ausgeweitet. So wurde der Begriff des Bildakts für Bildwerke etabliert, die 164 165 166 167

Bratton 2003, S. 37. Zum Programmheft vgl. auch Balme 2010. Bratton 2003, S. 59. Siehe weiterführend Kemp 2008; Zschocke 2006, S. 23–46 u. Kemp 1985.

50       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

über kompositorische Strategien eine Kommunikation mit dem Betrachter herbeiführen.168 Da man, so Hans Belting, »im Tausch der Blicke [...] kein Betrachter« sein könne, »weil man Mitspieler ist«,169 sind Bilder nicht nur Darstellungsmedien, sondern auch Handlungsträger. Sie können eine unvorhersehbare Wirkung auf den Betrachter ausüben, ihn in einen Zustand der Liminalität versetzen und so eine Transformation bewirken. Für diese Studie sind insbesondere jene sakralen Bauund Kunstwerke relevant, die aufgrund ihrer transformativen Kraft eine spezifische Wirkmacht erlangen. Über gestaltungstechnische Spezifika, ihre räumliche Verortung sowie die Einbettung in religiöse Zeremonien und Frömmigkeitspraktiken können emotionale wie körperliche Reaktionen der Andacht, der Ekstase und der Erleuchtung freigesetzt werden.170 Diese Arbeit geht von der Bedingung aus, dass heilige Szenen erst im Zusammenspiel von Darstellung, Szenografie und Publikum hervorgebracht werden. Daran schließt sich unmittelbar die Frage nach der Imagination des Heiligen auf der Produktions- und Rezeptionsebene an. Die Bühnenbildner, Künstler und Theatermacher des frühen 20. Jahrhunderts erachteten die Imagination als ein entscheidendes Vermögen der Zuschauer zur Wahrnehmung von Sakralisierungsprozessen.171 Der Begriff der Imagination hat seinen etymologischen Ursprung in dem lateinischen Wort imago für ›das Bild‹. Demzufolge »versteht man [u]nter dem Imaginären [...] etwas bloß Bildhaftes im Sinne eines nur in der Vorstellung Vorhandenen«.172 Es handelt sich also um mentale Bilder, die in der Vorstellungskraft des Menschen entstehen und dessen Wahrnehmung von der Welt beeinflussen.173 Im performativen Prozess der Imagination verschränken sich zwei Arten der Bilderproduktion: Einerseits wird sie gespeist durch das Vorstellungsvermögen des einzelnen Subjekts, das geprägt ist von seinen individuellen Assoziationen, Erfahrungen und Erinnerungen. Andererseits grenzt Aleida Assmann diesen oftmals spontanen Erinnerungsprozess von dem kulturellen Bildgedächtnis ab, das einer langen kollektiven Tradierung unterliegt.174 Die Frage, wie Bilder in der Imagination der Bühnenbildner und Zuschauer entste168 Siehe hierzu weiterführend Bredekamp 2013. Im Rückgriff auf bildwissenschaftliche und kunsthistorische Studien hat Erika Fischer-Lichte ihre Ästhetik des Performativen auf die Betrachtung von Kunstwerken ausgeweitet. Vgl. Fischer-Lichte 2012a, S. 147–159. 169 Belting 2005a, S. 51. 170 Fischer-Lichte führt an dieser Stelle Altartafeln, Andachtsbilder, Ikonen und Stigmatadarstellungen als Beispiele auf. Vgl. Fischer-Lichte 2012a, S. 151–153. Siehe hierzu auch Belting 2005b und Belting 1990. 171 In ihrer Untersuchung zum Tanz bezeichnet Inge Baxmann die ›Entdeckung‹ des Imaginären durch die Psychoanalyse als eine Grundbedingung für die Wirksamkeit gemeinschaftsbildender Strategien. Dies lässt sich für die Anwendung von Sakralisierungsstrategien im Theater ebenfalls konstatieren. Vgl. Baxmann 2000, S. 10. 172 Tyradellis 2000, S. 218. Zur Differenzierung der Begriffe ›Einbildung‹ und ›Imagination‹ in der ästhetischen Theorie seit dem 18. Jahrhundert siehe weiterführend Schulte-Sasse 2001. 173 Zum Verhältnis von inneren und äußeren Bildern sowie zum Körper als ›Trägermedium‹ mentaler Bilder siehe ausführlich Schulz 2005, besonders S. 126–149 u. Belting 2001, S. 11– 55. 174 Vgl. Assmann 2002, S. 209 f. Hans Belting unterscheidet zwischen einem kollektiven Imaginären, das sich aus dem »gemeinsamen Bildgrund und Bilderfundus« einer Kultur speist, und der Imagination als individuelle Handlung. Belting 2001, S. 74.

1.5  Annäherung an die Imagination des Heiligen: Materialkorpus und Methode       51

hen, muss also auf kulturell tradierte Vorstellungs- und Deutungsmuster ausgeweitet werden. Für den Vorgang der Imagination im Sinne einer kulturstiftenden Funktion hat Peter W. Marx das Konzept der scena entwickelt. Der Begriff impliziert zunächst einen »abgezirkelten Ort [...], in dem Platz und Raum für die Imaginationen ist« und an dem diese durch die Inszenierung sinnlich wahrnehmbar werden.175 Gleichzeitig ist dem scena-Begriff eine Mehrdeutigkeit inhärent, so Marx: »[E]r [verweist] auf das Moment der Rahmung und kulturell-sozialen Einbindung gleichermaßen [...]. Darüber hinaus verweist [...] [er] auf den [symbolisch verdichteten] Vorgang der Darstellung selbst.«176 Überträgt man Marx’ topografische Dimension auf die heilige Szene, so umreißt diese einen Ort, an dem sich die Imagination des Heiligen nicht nur ereignet und erfahrbar wird, sondern auch kulturell ausgehandelt wird. Demnach erfordert eine angemessene Analyse die Berücksichtigung der wechselseitigen Durchdringung von räumlicher Konstellation, theatraler Praxis und ortspezifischer kultureller Rahmung. Ausgehend von der Annahme, dass die heiligen Szenen erst mit religiöser und ästhetischer Bedeutung aufgeladen werden, deren Verständnis ein bestimmtes kulturelles Wissen voraussetzt, muss das Bildgedächtnis als ein wesentlicher Mechanismus der Konstruktion berücksichtigt werden.177 Um herauszufinden, welche Vorstellung von Heiligkeit im frühen 20. Jahrhundert existierte, soll anhand von theoretischen Schriften aus der Zeit den kunst- und kulturhistorischen Vorbildern nachgespürt werden. Der Mediensoziologe Andreas Schelske definiert das Bildgedächtnis über die Funktion, »Vergangenes dadurch [zu] vergegenwärtigen, daß wir etwas diesem Vergangenen Ähnliches in der Gegenwart wiederholen und wiedererkennen können.«178 Das Bewahren von kulturellen Bildern ist demnach abhängig von dem dynamischen Prozess der Aneignung, Kommunikation, Interpretation und Zirkulation. Die kollektive Imagination muss dabei als zentrale Kulturtechnik aufgefasst werden, weil sie durch die Vermittlung von Werten und Wissen einen wesentlichen Anteil an der Konstruktion einer kulturellen Identität hat. Über die Weitergabe von spezifischen Mustern, Schemata und Zeichen, die an bildhafte Vorstellungen geknüpft sind, wird eine generationsübergreifende Kontinuität hergestellt, auch wenn diese im Sinne ihrer jeweiligen Zeit aktualisiert werden.179 In diesem Zusammenhang schreibt Aleida Assmann dem Film und der Fotografie ein besonderes Potenzial zur Erweiterung des kulturellen Bildgedächtnisses zu. In »kreative[n] Formen des Rück175 Marx 2012, S. 15. 176 Marx 2012, S. 14. Die Theoretisierung des scena-Konzepts hat Marx auch im Rahmen des Vortrages »Making a scene! Considerations on the concept of scena« fortgeführt (Vortrag am »Making a Scene«-Workshop des CRASSH, University of Cambridge, 12.01.2015). Siehe in diesem Zusammenhang auch das Dissertationsprojekt »Zeitgeist und die Szenen der Imagination« von Sascha Förster, das im Rahmen des Sinergia-Teilprojekts The Stage as Scena Mundi: Narration, Performance and Imagination an der Universität zu Köln entsteht. 177 Vgl. Schuler 2007, S. 93. 178 Schelske 1998, S. 59 (Hervorh. A. S.). Ausgehend von Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas zeigt Schelske die Mnemotechnik der abendländischen Kultur auf. Vgl. hierzu auch Assmann 2002, S. 210 f. 179 Vgl. Marx 2012, S. 11 u. S. 14–17; Marx 2008, S. 30–33; Belting 2001, S. 58; Koshar 2000, S. 7–9 u. Schelske 1998, S. 60 u. S. 67. Zu der Abhängigkeit des kulturellen Gedächtnisses von der Gesellschaft siehe auch Halbwachs 1985, S. 55 u. S. 68.

52       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

bezugs, des Zitats und des Recyclings« setze sich der Aneignungsprozess tradierter Bilder fort.180 In einer Kultur der Ablenkung und der Überflutung durch visuelle Reize sei es insbesondere der Film, der »durch seine Rahmung [...] die Sichtbarkeit von Bildern [steigere] und [...] sie als Gegenstände des kulturellen Gedächtnisses [profiliere]«.181 Doch gerade seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist es auch das Theater, dem es gelingt, die Konzentration des Publikums auf die Inszenierung kulturell tradierter Bilder zu bündeln.182 Welchen Stellenwert nahmen in der Inszenierung des Heiligen im Theater die Reaktivierung des kulturellen Bildgedächtnisses und die Verknüpfungen zu Bau- und Kunstwerken vergangener Epochen ein? Während Schelske von zweidimensionalen Trägermedien als Voraussetzung für die Kommunikation kultureller Bilder ausgeht,183 wird in den nachfolgenden Analysen der Begriff des Bildgedächtnisses auch im Zusammenhang mit kulturellen Praktiken verwendet, die sich visuell in die Erinnerung eingeschrieben haben. In welcher Form wurden mediale Faktoren, Wirkungsmodi und Rituale aus dem liturgischen Kontext integriert, um den Rezeptionsprozess zu steuern und ein Kollektiverlebnis auszulösen? Im Rahmen dieser Arbeit werden deshalb die Ansätze der Bildwissenschaften und der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung um neue Konzepte der theaterwissenschaftlichen Forschung erweitert.184 Marvin Carlsons Überlegungen zum Vorgang des haunting, Tracy C. Davis’ dynamisches Verständnis des Repertoire-Begriffs sowie Diana Taylors Konzept des scenario fokussieren den Blick auf das Theater als Projektionsfläche kultureller Erinnerungspraktiken und werden daher als Analyseinstrumente verwendet.185 Dieser Studie liegt ein dynamischer Kultur-Begriff zugrunde, der die unterschiedlichsten Zirkulationsprozesse des frühen 20. Jahrhunderts berücksichtigt.186 Anknüpfend an den kulturwissenschaftlichen Ansatz des New Historicism werden die Primärquellen daher auf einer dritten Ebene in einem Netz weitreichender historischer und kultureller Referenzpunkte verwoben, um die Inszenierungen in einer dynamischen Wechselbeziehung mit ihrer jeweiligen Kultur und Zeit zu verorten.187 In diesem Zusammenhang ist die Frage nach der Wechselwirkung von Theater, Architektur, bildender Kunst und Kunsttheorie von einem besonderen Interesse. Die Anbindung an die zeitgenössische ästhetische Theorie soll veranschaulichen, dass das Theater Debatten aus der Kunst-, Architektur- und Religionswissenschaft aufgriff und daraus neuartige Konzepte für den szenischen Raum entwickelte. Bezeichnenderweise manifestiert sich ein neuer religiös aufgeladener Sprachgestus in den Artikeln, Rezensionen und Theoriebeiträgen, die in jener Zeit in den zeitgenössischen 180 Assmann 2002, S. 218. 181 Assmann 2002, S. 219. 182 Diese Aneignungsstrategien hat die theaterwissenschaftliche Forschung ebenfalls untersucht. Zur Funktion des Zitats vgl. Marx 2005. Zur Idee des Recyclings vgl. Carlson 2001. Siehe hierzu auch die Anwendung dieses Begriffs in Kapitel 2.1.3. 183 Vgl. Schelske 1998, S. 63. 184 Siehe u. a. Erll 2011; Assmann 2010; Assmann 2008 u. Assmann 1988. 185 Vgl. Davis 2009, Taylor 2003 u. Carlson 2001. 186 Zum methodischen Konzept der Cultural Mobility vgl. Greenblatt 2010. 187 Siehe weiterführend Gallagher/Greenblatt 2000.

1.5  Annäherung an die Imagination des Heiligen: Materialkorpus und Methode       53

Zeitschriften wie etwa Deutsche Kunst und Dekoration, Die Kunst, Der Kunstwart, Scientific American oder Theatre Arts Magazine erschienen und die die Auseinandersetzung des Theaters und der bildenden Künste mit dem Sakralen reflektierten. Darüber hinaus dürfen die Sakralisierungsstrategien in den Inszenierungen nicht losgelöst von Wahrnehmungsmodi technischer Errungenschaften und neuer Medien sowie Praktiken der populären Unterhaltungs- und der Alltagskultur betrachtet werden.188 Im Unterschied zu einer ›klassischen‹ Kunstgeschichtsschreibung heben die Bildwissenschaften und die Visual Culture Studies die Grenzen zwischen der Hoch- und Populärkultur nahezu gänzlich auf und setzen gerade die Durchdringung von Bildern der ›schönen‹ Kunst und der visuellen Kultur des Alltags zentral.189 In seinen Publikationen Techniques of the Observer und Suspension of Perception versteht Jonathan Crary das Verhältnis von Wahrnehmung und Modernisierung als ein wechselseitiges, das einen neuen Betrachtertypus hervorbringt. Vor dem Hintergrund der Entfaltung einer modernen, visuell geprägten Kultur und einem sich wandelnden Wahrnehmungsverhalten wird zu zeigen sein, dass die Theaterinszenierungen gleichfalls den Zusammenhang von Modernisierung und ästhetischer Wahrnehmung reflektierten. So wird etwa ein zentraler Fluchtpunkt mehrerer der nachfolgenden Analysen die Durchdringung von modernem Pilgertum und Massentourismus sein.190 Um das Spannungsfeld zwischen Religion und Theater beziehungsweise zwischen Moderne und Mittelalter auszuloten, richtet die vorliegende Arbeit also den Blick auf den Dialog von Theater, Architektur, Malerei, Kunsthandwerk und Technik sowie von Kunst im Allgemeinen, ästhetischer Theorie und Naturwissenschaft. Dieses dialogische Spannungsverhältnis ist angelehnt an die methodische Herangehensweise, die der amerikanische Kunsthistoriker Alexander Nagel in seinem 2012 veröffentlichten Buch Medieval Modernism. Art out of Time verfolgt. Es geht Nagel nicht darum, eine chronologisch stringente Traditionslinie abzuleiten, sondern Berührungspunkte im Hinblick auf künstlerische Fragestellungen aufzuzeigen. Dadurch können wiederkehrende Muster und Strategien beleuchtet werden, die die Kunst des Mittelalters überdauerten und im frühen 20. Jahrhundert für neue ästhetische Zielsetzungen angeeignet wurden.191 Auf diese Weise rücken die Aneignung von Raumstrukturen, der Lichtästhetik, sinnlich-affektive Qualitäten von Bau- und Kunstwerken sowie Frömmigkeitspraktiken in den Blickpunkt der Untersuchung. Mit der hier vorgestellten methodischen Ausrichtung verfolgt diese Studie zusammenfassend folgende Untersuchungsziele: 1. Der zentrale Beitrag des Theaters in der Neubewertung des Heiligen in der Moderne soll herausgestellt werden. Im Zuge dieser Entwicklung rückte die Institution Kirche in den Fokus der Theatermacher, wie der jüdische Regisseur Max Reinhardt im Jahr 1924 hervorhob: »Die Kirche, insbe-

188 Vgl. hierzu Becker/Littmann 2011; Kennedy 2009; Schwartz/Przyblyski 2004 u. Mirzoeff 1998. 189 Zu diesem Ansatz siehe Mitchell 2003; Mirzoeff 1998; Mitchell 1995 u. Mitchell 1994. 190 Siehe Crary 1999 u. Crary 1992. Vgl. auch Leonhardt 2007; Schwartz 1998 u. Booth 1981. 191 Vgl. Nagel 2012, S. 10. Zu diesem Ansatz vgl. auch Nagel/Wood 2010 u. Nagel 2004.

54       1  Einleitung: Das Heilige als künstlerisches und kulturelles Phänomen

sondere die katholische Kirche, ist die wahre Wiege unseres modernen Theaters.«192 Welche Strategien Reinhardt mit dieser Aussage genau implizierte, gilt es in den Fallstudien im Einzelnen zu erörtern und in dem breiten kulturhistorischen Kontext zu verorten. 2. Entscheidend und daher ausführlich zu erläutern ist überdies, dass der Sakralraum für viele Künstler deshalb von großem Interesse war, weil sie ihn als Kunstsymbol für ein ästhetisches beziehungsweise ›soziales‹ Gesamtkunstwerk verstanden und darin ihr neues Kunst- und Weltverständnis repräsentiert sahen. 3. Mit dem Verhältnis von Religion, vergangenen Epochen und den Künsten wurde im Theater eine populäre zeitgenössische Kulturauffassung reflektiert, die auch in der Malerei, Architektur und Innendekoration zahlreiche Ausprägungen erfuhr. Indem das Gesamtkunstwerk als eine Schnittstelle zwischen den Künsten, der Religion und der Gesellschaft aufgefasst wird, kann nicht nur auf die produktive Wechselbeziehung von Theater, Architektur und Kunsttheorie aufmerksam gemacht, sondern können auch allgemeinere Aussagen über die spezifische Kulturauffassung des frühen 20. Jahrhunderts abgeleitet werden. 4. Übergreifend soll das Spannungsverhältnis von Modernität und Heiligkeit, von Avantgarde und Tradition als ein mehrdimensionales, vieldeutiges und oftmals ambivalentes beleuchtet werden.

192 Reinhardt, Max, »Über das lebendige Theater« [1924], in: Reinhardt 1989, S. 459.

2 Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel 2.1 Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911 2.1.1 ›It is Olympic!‹ – zur Entstehung der Inszenierung It is Olympic! [...] It is indeed, a giant among London’s Palaces of Pleasures, a venue of amusement whose very atmosphere is bigness [...]. It is to stand now, a Colossus among the theatres of the Earth; to be the amphitheatre of the most ambitious dramatic scheme ever attempted, much less attained. It is to give Professor Max Reinhardt [...] his biggest opportunity.193

Das Jahr 1911 markierte einen entscheidenden Meilenstein in Max Reinhardts internationaler Karriere. Nachdem er in Berlin die finanzielle und künstlerische Leitung des Deutschen Theaters sowie der daran angegliederten Kammerspiele übernommen hatte, verstärkte er mit zahlreichen Gastspielen in anderen deutschen Städten sowie in den angrenzenden Nachbarländern seine Tourneetätigkeit. Um seine Bekanntheit auf dem gesamten Kontinent auszubauen, schloss er Kontakte nach London. Von Januar bis März und im Oktober 1911 präsentierte er Friedrich Freksas (1882–1955) Pantomime Sumurûn und eroberte in kürzester Zeit das Londoner Publikum.194 Dieses erfolgreiche Gastspiel hatte den Londoner Impresario Charles B. Cochran (1872–1951) auf Reinhardt aufmerksam gemacht. Mit großer Begeisterung hatte er die Arena-Inszenierung von König Oedipus im Berliner Zirkus Schumann verfolgt und plante, mit einer Produktion ähnlichen Formats einen großen Publikumserfolg zu feiern. Als Theatermanager und Showproduzent bewegte sich Cochran mit seinen Projekten stets an der Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur: Gleichermaßen leitete er diverse Theater in der Stadt, produzierte Musicals sowie Kabaretts und förderte Rodeo Shows und Jahrmärkte. Unter anderem hatte er in der Londoner Olympia Hall mit zwei Unterhaltungsshows hohe Besucherzahlen erlangt, sodass deren geschäftsführender Direktor F. H. Payne (nicht ermittelbar) eine weitere Zusammenarbeit anregte.195 Die Olympia Hall war im Jahr 1885 unter der Leitung des schottischen Architekten Henry Edward Coe (1826–1885) im Auftrag der National Agricultural Hall Company gebaut worden. Er errichtete eine weitläufige Zentralhalle aus Stahl, Eisen 193 Vollmoeller 1911, S. 3 f. 194 Vgl. Marx 2006a, S. 126 u. Stefanek 1973, S. 91. 195 Vgl. Cochran 1926, S. 162–165 u. Shewring 1987, S. 4.

56       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel

Abb. 23: Henry Edward Coe, Olympia Hall, London, Nordansicht, 1886–1895.

und Zink, die von einem gewaltigen gläsernen Tonnengewölbe umspannt wurde, sodass der rechteckige Grundriss 138 Meter in der Länge und 76 Meter in der Breite maß (Abb. 23). Im Zuge der fortschreitenden Urbanisierung müssen solche Ausstellungskomplexe, wie Tony Bennett in seiner umfassenden Studie The Birth of the Museum aufgezeigt hat, als eine zentrale Bauaufgabe der europäischen Metropolen aufgefasst werden, denn dort etablierte sich die moderne Wissens-, Konsum- und Unterhaltungskultur. Coes funktionale Architektur sollte große Besucherströme aufnehmen und genügend Fläche bieten, um neue Konsumgüter zu präsentieren. Neben dieser Zweckmäßigkeit erfolgte eine bewusste Inszenierung des Ausstellungsgeländes als öffentlicher Kulturraum: Die repräsentativ gestaltete Außenfassade sowie die prachtvollen Gärten, die zum Flanieren und Verweilen einluden, machten das Gelände im Stadtteil West Kensington zu einem touristischen Anziehungspunkt. Die Ausstellungshalle selbst wurde zum Schauplatz des ökonomischen, technologischen und kulturellen Fortschritts, an dem die Schaulust der Großstadtbevölkerung mit neuartigen Seheindrücken befriedigt wurde: Nach ihrer Eröffnung im Dezember 1886 wurde die Olympia Hall für kommerzielle Zwecke wie etwa Automobilsalons und Gewerbeausstellungen, aber auch für diverse Unterhaltungsspektakel wie Paraden, Zirkusvorstellungen und Western Shows genutzt.196 In den Jahren 1891 bis 1893 gastierten dort die Kiralfy Brothers mit jeweils spektakulären Shows, die Elemente aus Tanztheater, Musical und Themenpark kombinierten. Für das Spektakel Venice, the Bride of the Sea errichtete Imre Kiralfy (1845–1919) mit Brücken, Gondeln und einem künstlich angelegten Kanal eine Miniaturnachbildung der Lagunenstadt. Zwei Jahre später ließ sein Bruder Bolossy Kiralfy (1848–1932) die Kulisse für Constantinople or the Revels of the East so umbauen, dass das authentische Ambiente der Stadt am Bosporus suggeriert werden konnte.197

196 Zur Olympia Hall vgl. Geppert 2009, S. 102–105 u. Walmisley 1888, S. 71–76. Zur Ausstellungshalle als kulturelle Gestaltungsaufgabe vgl. Bennett 1995, S. 59–88. Siehe hierzu auch Marx 2006a, S. 98 f. 197 Zu der Inszenierung von Imre Kiralfy in der Olympia Hall vgl. Volz 2018, S. 85–101.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       57

Die Multifunktionshalle hatte also schon lange vor der Bespielung durch Reinhardts Ensemble ein großes Transformationspotenzial bewiesen, das sich Cochran für eine Großrauminszenierung zu Nutze machen wollte: »Ever since [...] I had seen one of Kiralfy’s big spectacles at Olympia, I had the ambition to do something on heroic lines at Olympia.«198 Er war überzeugt, in Reinhardt mit seinem Interesse für spektakuläre Raumexperimente, Masseninszenierungen und technische Innovationen jene ambitionierte Persönlichkeit gefunden zu haben, mit der sich ein solch monumental angelegtes Projekt realisieren ließ. Den weiteren Verlauf der Vertragsverhandlungen bis zur Unterzeichnung in München im Juni 1911 objektiv zu schildern, ist nahezu unmöglich, da darüber Uneinigkeit herrscht: Cochran beanspruchte die Idee, eine Pantomime im Stil eines mittelalterlichen Mysterienspiels aufzuführen, für sich.199 Reinhardts Biografen schrieben dem Regisseur die Eingebung zu, die aus der Mode gekommene dramatische Form in einem noch nie da gewesenen Ausmaß inszenieren zu wollen.200 Auf den ersten Blick scheint die Entscheidung der Verantwortlichen, in der Olympia Hall ein Stück mit religiösen Inhalten aufzuführen, verwunderlich. Doch genau jener profane Ort des Vergnügens und des Kommerzes bot Reinhardt die idealen Voraussetzungen, um im Mirakel zentrale Anliegen seiner Theaterästhetik zu vereinen. Der deutsche Schriftsteller und Dichter Karl Gustav Vollmoeller (1878–1948) wurde mit der literarischen Textvorlage zu Das Mirakel beauftragt. Gegliedert in zwei Akte, die in einem Kloster am Rhein spielen und die ein weltliches Zwischenspiel rahmen, schildert das Stück Szenen aus dem Leben der jungen Nonne Megildis. Diese wird vor der großen Prozession zur Maiandacht zur Sakristanin ernannt, welche die Madonnenstatue in der Klosterkirche bewachen soll. Während des Festgottesdienstes heilt das Bildnis auf wundersame Weise einen Kranken von seinem Leiden. Als sich Megildis am Ende des ersten Akts in einen stattlichen Ritter verliebt und das Kloster verlässt, ereignet sich der eigentliche Höhepunkt der Handlung: die Verlebendigung der wundertätigen Madonnenstatue. Zum Leben erwacht, nimmt die Madonna die Rolle der abwesenden Megildis an. Im weltlichen Zwischenspiel ist die abtrünnige Nonne den Abenteuern, Verführungen und Gefahren der außer­klöster­lichen Welt ausgesetzt. Im Ringen um die schöne Frau sterben nach und nach deren Verehrer. Als sie der Hexerei bezichtigt wird, entkommt sie nur knapp dem Todesurteil. Im letzten Akt kehrt die reumütige Sünderin in das Kloster zurück und fleht vor dem Marienbildnis kniend um Erlösung.201 Vollmoellers Skript orientierte sich an ver198 Cochran 1926, S. 165. 199 Cochran 1926, S. 165: »I left the Circus Schumann fired with the idea that Reinhardt must produce a spectacle for me at Olympia. But what? [...] I saw Olympia as a cathedral. I pictured a great rose window at one end, great columns, mysterious lighting, a rare setting, for a medieval mystery play.« 200 Zu Reinhardts Perspektive siehe u. a. Carter 1914, S. 228 f.: »He came and saw Olympia, and at once his production became realisable. [...] The scene he had in mind was that of the huge nave of a Gothic cathedral as being most suitable for preserving the religious mood created by the interpretation.« 201 Vgl. Vollmoeller 1912, S. 14. Einzelne Szenen, die für die Argumentation von Bedeutung sind, werden im Analyseteil ausgeführt. Eine detaillierte Schilderung der Handlung ist dem

58       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel

schiedenen religionsgeschichtlichen, theater- und kulturhistorischen Referenzpunkten: Eine entscheidende Quelle war eine alte nordische Legende, in der einer Küsterin namens Beatrice eine Marienerscheinung widerfährt und die unter anderem im Dialogus miraculorum des Mönchs Caesarius von Heisterbach (um 1180–1240) überliefert ist.202 Jene Legende hatte auch Maurice Maeterlinck (1862–1949) in seinem Stück Sœur Béatrice aufgegriffen, welches Reinhardt in der deutschen Fassung am Neuen Theater Berlin 1904 uraufführte.203 Da Das Mirakel von Anfang an für die räumlichen Gegebenheiten der Olympia Hall konzipiert wurde und sich an ein multilinguales Publikum richtete, entschied sich Reinhardt bewusst für die Form der Pantomime. Mit dieser Theaterform knüpfte der Regisseur an eine beliebte lokale Aufführungstradition an. Während das deutsche Wort ›Pantomime‹ theatrale Darstellungen bezeichnet, deren Inhalte vorwiegend über nicht-sprachliche Kommunikationsformen vermittelt werden, wird im Englischen der Begriff pantomime für märchenhafte, jährlich aufgeführte und dadurch in der Populärkultur fest verankerte Weihnachtsspiele mit Kostümen und Gesang gebraucht.204 Reinhardt ließ sich von den Mirakel- und Mysterienspielen des Mittelalters inspirieren, die Szenen aus dem Leben von Sünderheiligen und die Muttergottes als Vermittlerin der göttlichen Gnade präsentierten. Solche Massenveranstaltungen auf zentralen Plätzen und Straßen umfassten in der Regel Prozessionen, pantomimische Sequenzen sowie Podeste, auf denen lebende Bilder platziert wurden, durch die das Wundergeschehen für die große Zuschauermenge sichtbar gemacht wurde.205 Hartmut Vollmer betont eine ähnliche ästhetische Funktion der Pantomime in Reinhardts Inszenierung. Ohne Ablenkung durch das gesprochene Wort sollten wirkungsvolle szenische Bilder das Nacherleben der Wundertaten eröffnen: [D]as Wunder [ist] [...] das zentrale Motiv der Handlung: ein irrationales Ereignis, das sich als spirituelles Erlebnis darstellt, für das es keine erklärenden Worte gibt. [...] Wäh-

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Programmheft zu entnehmen. Exemplare befinden sich in der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln, dem Theatermuseum Wien und der Theatre Collection des Victoria & Albert Museums. Zu Karl Gustav Vollmoellers Namen finden sich unterschiedliche Schreibweisen. In einigen Interviews stellte sich Vollmoeller als ursprünglichen Ideengeber für die Inszenierung des modernen Mirakelspiels dar. Vgl. The New York Times 1914a. Für die nachgewiesene mittelalterliche Quelle siehe Heisterbach 1851, S. 42 f. Für eine Forschungsarbeit zur Quellenlage aus dem frühen 20. Jahrhundert siehe Watenphul 1904. Auch »Die Jungfrau und die Nonne« in Gottfried Kellers Novellenzyklus Sieben Legenden (1872) und John Davidson The Ballad of a Nun (1905) stützen sich auf diese Legende. Vgl. Becker 2011, S. 333 f. u. Vollmer 2011, S. 384. Vgl. Esslin 1977, S. 11. In seinen Ausführungen zum Mirakel verwendet Przytulski zwar einen erweiterten Pantomime-Begriff für Aufführungen mit überwiegend pantomimischen Passagen, verzichtet jedoch auf einen Hinweis auf die englische Darstellungstradition. Vgl. Przytulski 2004, S. 155–163. Siehe in diesem Zusammenhang auch Silhouette 2017a, S. 208. Siehe weiterführend Mayer 1983, S. 624 f. Zur Gattung der Mirakel- und Mysterienspiele vgl. auch Przytulski 2004, S. 31–34 u. S. 72. Siehe hierzu weiterführend Davidson 1994.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       59 rend verbale Darstellungen kognitive Prozesse aktivieren, [...] vermag das Wunderbild den erlebenden Betrachter ganz unmittelbar seelisch/emotional zu berühren.206

Von großer Bedeutung war daher auch die Orchesterbegleitung von Engelbert Humperdinck (1854–1921). Der Leiter der Berliner Musikhochschule hatte sich mit der Opernbearbeitung des Hänsel und Gretel-Stoffs einen Namen gemacht. Humperdinck schrieb die musikalische Begleitung und wählte Kirchenmusik, Chorgesänge sowie Volks- und Weihnachtslieder für die einzelnen Szenen aus.207 Max Reinhardt reiste Mitte Dezember selbst nach London, um die letzten Proben zu leiten. Basierend auf Vollmoellers Stückgrundlage, die neben einer detaillierten Beschreibung der Handlung auch Texte von Gebeten und Liedern umfasste, legte der Regisseur im Vorfeld der Inszenierung ein Regiebuch an.208 Als »eine vollkommene optische und akustische Vision« enthält es Ergänzungen zum Handlungsablauf, Anmerkungen zur Rollenbesetzung und Darstellungsweise sowie Informationen zur Geräuschkulisse.209 Von besonderer Anschaulichkeit sind grobe Skizzen zu zentralen Szenen, die Reinhardts Vorstellung von der Raumdisposition sowie der Platzierung von Akteuren und Requisiten vermitteln. Wie Rudolf Kommer (1886–1943) anlässlich der New Yorker Neuinszenierung von 1924 rekapitulierte, erforderte die Gattung der Pantomime eine gezielte Abstimmung der theatralen und visuellen Gestaltungselemente sowie der Disposition von Bühne und Zuschauerraum: »Space, music and acting [...] must become a indivisible unit, a living organism with its own laws and necessities.«210 Mit der Londoner Inszenierung verließ Max Reinhardt erneut das gewöhnliche Theatergebäude. Bereits in Berlin hatte der Regisseur nach neuen räumlichen Dimensionen gesucht. Neben der Drehbühne des Deutschen Theaters bespielte er mit den Kammerspielen ein intimes Theater. Seit längerem hatte ihn die Idee eines Arenatheaters fasziniert: [E]igentlich müßte man noch eine dritte Bühne haben, [...], eine ganz große Bühne für eine große Kunst monumentaler Wirkungen, ein Festspielhaus, vom Alltag losgelöst, ein Haus des Lichts und der Weihe, [...], in Form des Amphitheaters, ohne Vorhang, ohne Kulissen, vielleicht sogar ohne Dekorationen, und in der Mitte [...] den Schauspieler, mitten im Publikum, und das Publikum [...] selbst ein Teil der Handlung.211

206 Vollmer 2011, S. 389 (Hervorh. H. V.). Vgl. Przytulski 2004, S. 161–163 u. Carter 1914, S. 225. 207 Vgl. Bier 1983, S. 21. Zur Funktion der Musik siehe weiterführend Ségol 2017, S. 90–101. 208 Vgl. Regiebuch zur Londoner Aufführung 1911. Gez. von Reinhardt: Berlin, 1. Dezember 1911, Max Reinhardt Archives & Library, Binghamton University Libraries’ Special Collections and University Archives, Binghamton University. Das Regiebuch umfasst rund 70 Blätter, das Schreibmaschinenmanuskript ist um eine Reihe handschriftlicher Passagen erweitert. 209 Reinhardt, Max, »Das Regiebuch, o. D.«, in: Reinhardt 1974, S. 257. 210 Kommer, Rudolf, »The Genesis of the Miracle«, in: Sayler, Oliver M., Souvenirheft zu Das Mirakel, Century Theatre, New York 1924, o. S., Harry Ransom Center, The University of Texas at Austin, Courtesy of the Edith Lutyens and Norman Bel Geddes Foundation. 211 Kahane 1928, S. 120 (Hervorh. A. K.). Kahane zitiert hier ein Gespräch mit Max Reinhardt in Wien im Spätsommer 1902. Siehe hierzu auch die Ausführungen zu Wagners Festspiel-

60       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel

Erstmals konnte er diesen Plan während der von Georg Fuchs veranstalteten Volksfestspiele in München umsetzen: 1910 inszenierte Reinhardt in der Musikfesthalle auf der Theresienwiese mit König Oedipus seine erste Masseninszenierung. Er ließ die Halle in eine Arena umbauen, in der Hunderte von Akteuren nicht bloß auf der Bühne, sondern auch im Zuschauerraum agierten.212 In Anlehnung an die religiösen Spiele des Mittelalters verband Reinhardt im Mirakel die Ästhetik der Pantomime mit seinem Ideal des ›Theaters der Zehntausend‹, für das sich die Olympia Hall als ein angemessener Produktionsort erwies: »Die ungeheure Arena eignet sich trefflich zur Gruppierung und Bewegung großer Massen, deren natürlicher Ausdruck, so weit der Zuschauer aus einiger Entfernung in Betracht kommt, das Pantomimische ist.«213 Die Theaterwissenschaftlerin Margaret Shewring hat die Vielzahl von Spielformen betont, die in der Konzeption der Mirakel-Inszenierung vereint wurden: Reinhardt »eagerly combined them, with little regard for their origins, into an overwhelming and all-embracing experience. In The Miracle can be found elements of religious celebration, civic pageantry, circus, and fairy-tale.«214 So sah die Handlung festliche Zeremonien, Prozessionen und andere Massenszenen vor, die sich ausschließlich in einem Spielraum mit den Dimensionen der Olympia Hall entfalten konnten. Das weitläufige Gebäude der Olympia Hall bot ein Fassungsvermögen für rund 1.800 Akteure, ein Orchester bestehend aus 200 Musikern, einen 500 Sänger umfassenden Chor und Platz für bis zu 30.000 Zuschauer pro Vorstellung – Rekordzahlen, die alle bisher bekannten Statistiken zu einer Theateraufführung übertrafen.215 Auch ermöglichten die zurückhaltende Architektur und die flexible Raumstruktur der Ausstellungshalle die schnelle Verwandlung der Szene in die unterschiedlichen Schauplätze. Peter W. Marx hat außerdem darauf hingewiesen, dass Reinhardt die Inszenierung des Ausstellungsgeländes als einen öffentlichen Begegnungsort der urbanen Masse für seine eigene Theaterästhetik genutzt hätte: Der Regisseur »[suchte] den etablierten Rahmen dieser Ausstellungspraxis, um sein[] [...] Festtheater zu verorten.«216 Diese Theaterform bot Reinhardt die Gelegenheit, die Frage nach der Zuschauerpartizipation auf einer neuen Ebene zu verhandeln, da sich Schauspieler und Publikum in die Position der »Teilnehmer eines Festes und Mitspieler in einem Spiel«217 hineinversetzt sehen sollten. Anhand der reichen visuellen und schriftlichen Zeugnisse soll nachfolgend die Inszenierung des Mirakel als festliches Spiel untersucht werden. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Hervorbringung neuer

haus in Bayreuth in den Kapiteln 1.4 u. 4.1 sowie zum Festspiel der Darmstädter Künstlerkolonie in Kapitel 1.4. 212 Vgl. u. a. Marx 2006a, S. 83–84 u. S. 108–115; Fischer-Lichte 2005a, S. 46–68 u. FischerLichte 2004b, S. 288–292. Zur Festspiel-Idee von Georg Fuchs und Peter Behrens siehe Kapitel 1.4. 213 Reinhardt, Max, »Etwas über meine Methode. Ein Interview, 1911«, in: Reinhardt 1974, S. 259. In diesem Interview verdoppelte Reinhardt die Bezeichnung des Theaters der Fünftausend. 214 Shewring 1987, S. 5. Siehe hierzu auch Silhouette 2017a, S. 221 f. 215 Vgl. Marx 2006a, S. 127 u. Eyles 1912, S. 4. 216 Marx 2006a, S. 99. 217 Fischer-Lichte 2005b, S. 13.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       61

szenischer Räume, das Erzeugen einer sakralen Atmosphäre sowie die Aktivierung der Zuschauer gelegt.218 Als Instrument zur Annäherung an die Imagination des Heiligen vor diesem internationalen metropolitanen Hintergrund dient Diana Taylors Konzept des scenario. In ihrem 2003 erschienen Buch The Archive and the Repertoire. Performing Cultural Memory in the Americas schlägt Taylor eine Alternative zur geläufigen historiografischen Forschungspraxis vor: Neben der Aufarbeitung von schriftlichen, visuellen oder durch Aufzeichnungen überlieferten Zeugnissen des Archivs sollten nicht-reproduzierbare, verkörperte Erinnerungspraktiken des Repertoires, wie etwa Gesten, Bewegungen, Rituale und Töne, gleichwertig bedacht werden.219 In der Fokussierung auf ästhetische und kulturelle Phänomene ohne Bevorzugung einer bestimmten Gattung, sondern unter Anwendung des Begriffs scenario als »meaning-making paradigm[] that structure[s] social environments, behaviors, and potential outcomes«220 sieht sie eine Chance, wechselseitig auf das Material des Archivs und des Repertoires zurückgreifen zu können. Taylor definiert scenario als ein vorgegebenes Konstrukt, welches die Handlung teilhabender Personen voraussetzt, jedoch nicht die chronologisch kohärente Struktur eines Skripts aufweist: »a paradigmatic setup that relies on supposedly live participants, structured around a schematic plot with intended (though adaptable) end«.221 Für die Wiedererkennbarkeit ist eine Verankerung in der kulturellen Bildwelt unerlässlich: »[S]cenarios exist as culturally specific imaginaries – sets of possibilities [...] – activated with more or less theatricality.«222 Im Gegensatz zur geläufigen Definition des deutschen Begriffs ›Szenario‹, der eine zukünftige Abfolge hypothetischer Ereignisse meint,223 ist ein scenario – im Sinne Taylors  – schon immer dagewesen und zeichnet sich durch Dauerhaftigkeit aus. Indem es nacherlebt oder re-inszeniert wird, besteht nicht nur die Möglichkeit der Wiederholung und Reaktivierung bestimmter Strukturen, sondern in erster Linie auch eine Variation und Veränderung dieser: The scenario makes visible, yet again, what is already there: the ghosts, the images, the stereotypes. [...] [T]he scenario predates the script and allows for many possible

218 Gerhard Przytulski hat in seiner Dissertation religiöse Elemente der Mirakel-Inszenierung untersucht. Obwohl er dem Spielraum eine entscheidende Funktion zuweist, begnügt er sich mit einer Analyse anhand von Auszügen aus dem Regiebuch, dem Programmheft und Autografen Reinhardts. Bei seiner Deutung verzichtet er weitgehend auf eine Einbettung der Inszenierung in ihrem kulturellen Umfeld. Vgl. Przytulski 2004. Zur Ästhetik eines Theaters als festlichem Spiel siehe auch Kapitel 1.3. 219 Vgl. Taylor 2003, S. 16. 220 Taylor 2003, S. 28. 221 Taylor 2003, S. 13. 222 Taylor 2003, S. 13. 223 Der ursprünglichen lateinischen Bedeutung des Wortes scaenarium folgend definiert das DWB den Begriff szenar/szenarium als: »übersicht über den inhalt der szenen eines theaterstückes, auch der szenische entwurf eines solchen«. Grimm 1942, Sp. 1445. Die Kleinschreibung ist aus dem Original übernommen. Um sich im Folgenden von der aktuellen Definition im Duden abzusetzen, wird die englische Schreibweise scenario für die Bezeichnung des Konzepts verwendet.

62       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel ›endings‹. [...] It also haunts our present, a form of hauntology that resuscitates and reactivates old dramas. We’ve seen it all before. The framework allows for occlusions; by positioning our perspective, it promotes certain views while helping to disappear others.224

Aus mehreren Gründen scheint die Betrachtung von Das Mirakel unter dem Konzept des scenario überzeugend: In ihrer originären Form stützt sich die Pantomime zwar auf Handlungsanweisungen, ihre Struktur birgt jedoch ein großes Potenzial zu einer variablen Umsetzung. Auch zeichnet sie eine starke verkörperlichte Praxis individueller Akteure aus, die sie zu einer besonders ephemeren Form des Theaters macht.225 Für ihre Imagination des Heiligen griffen Vollmoeller und Reinhardt das komplexe scenario der Wundererscheinung auf, das seit Jahrhunderten aufgeführt, über die Augenzeugenschaft und mündliche Erzähltradition (repertoire) überliefert und in schriftlichen wie bildkünstlerischen Zeugnissen (archive) dokumentiert wird. Der plot – im Sinne einer rahmenden Struktur – der Wundererscheinung wird durch konkrete, wiederkehrende Elemente (formulaic structures) konstituiert: der Prozess der Erscheinung beziehungsweise Verlebendigung einer Heiligenfigur, die Wundertat oder das Staunen als Reaktion des Einzelnen oder der Menge. Aufgrund der Veränderbarkeit in seiner jeweiligen Überlieferungsform bleibt das Ende des scenario dennoch offen und flexibel.226 Die Anwendung des Begriffs erweist sich auch deshalb als besonders ertragreich, weil in dieser Inszenierung zum einen ein besonderer Fokus auf visuelle Strategien, zum anderen auf kulturelle Praktiken, wie liturgische Zeremonien und kultische Rituale, gelegt wurde. Außerdem sieht Taylor in dem Wechselverhältnis zum physikalischen Ort eine wesentliche Bedingung für die Reaktivierung eines scenario. Damit tritt nicht nur die Szene als materieller Spielraum, sondern im Besonderen als symbolisch aufgeladener Vorstellungsraum in das Zentrum der Analyse.227 Für Reinhardts Inszenierung von Das Mirakel stellt sich also die Frage, inwieweit einzelne tradierte Muster des scenario der Wundererscheinung in der spezifischen Raumdisposition, im Bühnenbild und den Kostümen von Ernst Stern (1876–1954), der Atmosphäre sowie in der Spielweise der Schauspieler angelegt waren. Jede Wiederaufnahme eines scenario bedeutet neue Akteure, neue Rezipienten, andere Wahrnehmungen und durchaus auch Missverständnisse: »[A] scenario is not necessarily, or even primarily, mimetic. Although the paradigm allows for a continuity of cultural myths and assumptions, it usually works through reactivation rather than duplication.«228 Inwiefern lässt Das Mirakel eine Variation beziehungsweise Neuentdeckung der bekannten Muster für das konkrete ästhetische Anliegen der Produktion erkennen?

224 Taylor 2003, S. 28. 225 Die verkörperlichte Praxis ist Teil des Repertoires und geht in ihrer ursprünglichen Form verloren, sofern eine Pantomime heute nicht unter denselben Produktionsbedingungen wie damals aufgeführt wird. Vgl. Taylor 2003, S. 16. 226 Vgl. Taylor 2003, S. 31. Zu den verschiedenen Formen der Überlieferung von Wundererscheinungen siehe auch Signori 2007, S. 40–50. 227 Vgl. Taylor 2003, S. 29. 228 Taylor 2003, S. 32.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       63

Für die Aktivierung eines konkreten scenario ist das Wechselverhältnis von Akteuren und Rezipienten unverzichtbar: Wie wirkt das Spiel der Darsteller auf die Zuschauer? Wie positionieren sich die Zuschauer zu dem sich ereignenden scenario? Auf welche Weise verhandeln alle anwesenden Agierenden die gesellschaftliche Ordnung?229 In der Annäherung an das Rezeptionsverhalten des zeitgenössischen Publikums erweist sich das Konzept als ein produktiver Zugang: Der Regisseur und sein Bühnenbildner griffen auf ein konkretes kulturelles Wissen zurück, welches den Rezeptionsvorgang auf eine bestimmte Weise mitprägte. In diesem Zusammenhang stellt sich zunächst die Frage nach der Wiedererkennbarkeit von Bildzitaten und kollektiven Verhaltensmustern, in denen sich Spuren des scenario finden. Eine Rückschau im Programmheft zu einer späteren Mirakel-Inszenierung im Wiener Zirkus Renz untermauert die Motivation, die Premiere in Englands Hauptstadt und nicht in Berlin zu feiern: Es ist [...] kein Zufall, daß die ersten Aufführungen des ›Mirakel‹ in einer internationalen Sphäre, in London, stattfanden. Hier wurde in größtem Stil zum erstenmal [sic!] der Versuch gemacht, [...] eine bis dahin noch nicht dagewesene Form zu schaffen, die Publikum und Darsteller, Zuschauerraum und Bühne zu einer großen Einheit zusammenwachsen ließ.230

Für eine solch experimentelle Produktion war also die Offenheit des kosmopolitischen Londoner Publikums gefordert. Die Tatsache, dass sich das Publikum nicht aus einer homogenen Zuschauergruppe zusammensetzte, wirft eine Reihe kulturell wie gesellschaftlich relevanter Aspekte auf, anhand derer die erhaltenen Rezeptionsdokumente kritisch diskutiert werden sollen: Was haben die Zuschauer mit unterschiedlichem religiösen, nationalen und kulturellen Hintergrund gesehen? Kamen Strukturen des jeweiligen scenario zum Einsatz, die das Publikum nicht zuordnen konnte? Dabei ist es keineswegs das Ziel, das Rezeptionsverhalten individueller Zuschauer zu rekonstruieren, sondern die einzelnen ästhetischen und theatralen Strukturen aufzuzeigen, durch die eine spezifische Rezeptionshaltung evoziert werden sollte.

2.1.2 Raum-Inszenierung: Eine Kathedrale in Olympia Die Architektur der Gotik als Architektur der Imagination

Karl Gustav Vollmoellers Skript gibt eine eindeutige Beschreibung des zentralen Handlungsortes der Pantomime vor: Der erste und der zweite Akt spielen in einem »hohen gotischen Münster eines großen Nonnenklosters am Rhein«.231 So beauftragte Max Reinhardt seinen Bühnenbildner Ernst Stern, der seit 1906 als künstlerischer Leiter am Deutschen Theater Berlin engagiert war, mit der Aufsicht über die Umbaumaßnahmen in der Olympia Hall. Mit einem immensen technischen 229 Vgl. Taylor 2003, S. 29–30 u. S. 32. 230 Programmheft zu Das Mirakel, Zirkus Renz, Wien, 1927, S. 8, Wien, Theatermuseum, Programmarchiv, PA_RaraG174. 231 Vollmoeller 1912, S. 5.

64       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel

und finanziellen Aufwand musste die Bühnenarchitektur innerhalb von nur vier Wochen errichtet werden. Stern zeichnete eine Vielzahl von Entwürfen, die dem im Kirchenbau geschulten Architekten Hermann Dernburg (1868–1935) als Vorlage für ein Modell des Innenraums dienten (Abb. 24). In seinem Regiebuch beschreibt Reinhardt die räumliche Disposition wie folgt: Der von den Zuschauerreihen eingeschlossene halblange Raum (Arena) stellt das Mittelschiff der Kirche dar. Die eine Schmalseite ist dekorativ als Portalwand des Münsters ausgebildet [...]. Die gegenüberliegende Schmalseite der Arena markiert den vergitterten Abschluß gegen Chor und Hochaltar.232

Vergleichbar mit einer Arena wurde also die gesamte Grundfläche der Ausstellungshalle als Spielraum genutzt. Das Publikum saß in dreistufig ansteigenden Sitzreihen, die die Seitenwände und die Ostwand der Halle hufeisenförmig umliefen. So wurde die Arkadenzone des gotischen Wandsystems zugunsten der Zuschauerränge ersetzt, eine weitere erhöhte Tribüne unterhalb des Lichtgadens war jedoch einer Empore nachempfunden.233 In dieser Zone und somit im unmittelbaren Kontakt zum Publikum war auch das Orchester angesiedelt (Abb. 25). Dadurch ergaben sich Zuschauerbereiche amphitheatralischen Ausmaßes, die die Raumaufteilung eines gigantischen Kirchenschiffs suggerierten. In der Olympia Hall schufen Reinhardt und seine Mitarbeiter ein neuartiges Raumverhältnis, welches so in einem traditionellen Theatergebäude nicht umsetzbar gewesen wäre: »[D]ie konventionelle Trennung von Bühne und Zuschauerraum war aufgehoben, sodass die Zuschauer innerhalb der Bühnendekoration saßen. Der gesamte Raum wurde zum szenischen Raum.«234 Um die Wirkung der Scheinkathedrale zu steigern, wurden die Sitzreihen mit aufwändigem Holzschnitzwerk wie Chorgestühl gestaltet. Da sie jedoch für die Aufnahme tausender Zuschauer bestimmt waren, erinnerten sie eher an Kirchenbänke. Streng genommen wurden diese erst nach der Reformation eingeführt, als sich die Liturgie durch die Predigt verlängerte, während die Gemeinde im Mittelalter grundsätzlich stand. In der Inszenierung wurde also die Wiedergabe eines authentischen mittelalterlichen Mobiliars überlagert von den alltäglichen Eindrücken eines Kirchenbesuchs im frühen 20. Jahrhundert, bei dem die Gemeinde in der Tat auf Bänken Platz nahm.235 Auf den Gängen und in den Reihen trafen die Schauspieler, Musiker und Zuschauer unmittelbar aufeinander, wodurch eine nach Reinhardts Vorstellung ideale Kontaktzone hergestellt wurde: 232 Regiebuch zur Londoner Aufführung 1911. Gez. von Reinhardt: Berlin, 1. Dezember 1911, Max Reinhardt Archives & Library, Binghamton University Libraries’ Special Collections and University Archives, Binghamton University. Dieser Auszug ist abgedruckt in Hoffmann 1966, S. 129. 233 Vgl. Becker 2011, S. 351 u. Shewring 1987, S. 6. 234 Marx 2006a, S. 130. Vgl. hierzu auch Braulich 1966, S. 130 f. In ihrer Beschreibung des Raum- und Inszenierungskonzepts stützt sich Marielle Silhouette auf die bestehende Forschungsliteratur, fördert jedoch keine neuen Erkenntnisse zutage. Vgl. Silhouette 2017a, S. 222–228. 235 Vgl. auch die Bemerkung zu der New Yorker Inszenierung in Essin 2006, S. 137, Fn. 49. Zum Kirchenmobiliar siehe weiterführend Signori 2005, S. 74–95.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       65

Abb. 24: Hermann Dernburg, Modell zu Das Mirakel, London, 1911.

Der Zuschauer darf nicht den Eindruck haben, daß er bloß ein unbeteiligter Außenstehender sei, sondern man muß ihm die Suggestion aufoktroyieren, daß er in innigem Zusammenhang mit dem, was auf der Bühne vorgeht, steht, und daß auch er seinen Teil an der Entwicklung der Vorgänge hat. [...] Auch muß der Zuschauerraum oder wenigstens ein Teil von ihm in Übereinstimmung mit der Bühne dekoriert werden.236

Im Gegensatz zu Aufführungen auf der Guckkastenbühne, die den Blick der Zuschauer im abgedunkelten Auditorium frontal auf die Bühne bannen und allein die Vorstellungskraft anregen wollten, ermöglichte die Disposition des Spielraums für die Mirakel-Inszenierung eine Vielzahl unterschiedlichster Blickpunkte. Die Zuschauer waren dadurch fortwährend zur Bewegung aufgefordert, wodurch sich ihre Perspektive auf das Geschehen stetig wandelte: »Spectating literally became a physical activity, not only restricted to the eyes – and the ears – but involving the whole body.«237 Die distanzschaffende Theaterarchitektur war folglich aufgegeben zugunsten eines gemeindeähnlichen Raumerlebnisses – eines Theaters als Fest, an dem auch die Zuschauer aktiv teilhaben sollten. Wie schon der Zeitgenosse Ernst Schur (1876–1912) in einer Ausgabe des Kunstgewerbeblatt von 1910 herausstellte, suchte Reinhardt, dies wird in der Scheinkathedrale der Mirakel-Inszenierung überdeutlich, im Moment der wirklichkeitsnahen Illusion ein außeralltägliches Kunsterlebnis hervorzurufen.238

236 Reinhardt, Max »Über das ideale Theater, 1928«, in: Reinhardt 1974, S. 343. 237 Fischer-Lichte 2005a, S. 61. Vgl. hierzu auch Fischer-Lichte 2005b, S. 13. 238 Schur stellt diesen Ansatz Peter Behrens gegenüber, der in Darmstadt auf eine Ästhetisierung der Lebenswelt zielte, um diese als Ideal einer neuen Kultur mit Ernst und Pathos zu feiern. Vgl. Schur 1910, S. 42. Siehe hierzu auch Silhouette 2012, S. 325 f.; Schuler 2007, S. 72–75; Fischer-Lichte 2005a, S. 46 f.; Haller 2001, S. 155 f. u. Fischer-Lichte 1993, S. 272–279. Merkel diskutiert die theatralen Gemeinschaftskonzepte von Peter Behrens, Georg Fuchs und Max Reinhardt. Seine Ausführungen stützen sich maßgeblich auf die schriftlichen Quellen und die bestehende Forschungsliteratur. Realisierte Inszenierungskonzepte dieser Protagonisten werden nicht hinzugezogen. Siehe Merkel 2014, S. 165–190.

66       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel

Abb. 25: Schematische Zeichnung zu Das Mirakel, London, 1911.

In der Publikation Bühnenbildner bei Max Reinhardt veröffentlichte Ernst Stern Auszüge aus seinem Tagebuch, anhand derer sich nachvollziehen lässt, wie die schlichte Eisenarchitektur mit kräftigen Steinsäulen, aus Gips geformten Spitzbögen, Statuen und feingliedrigem Maßwerk verkleidet wurde: Die Spitzbogen schießen empor, umrankt von überreichem Maßwerk. Aus diesem sprießen unwahrscheinlich verschnörkelte Auswüchse, Kreuzblumen, die sich blähen und winden, ausgezackte, spiralig gewundene Blätterbündel, Früchte, die bei näherer Betrachtung zu fratzenhaft verzerrten Gesichtern werden!239

Sterns bildgewaltige Beschreibung verweist auf die spielerische, bisweilen auch verfremdende Aneignung gotischer Bauformen des 19. Jahrhunderts: Die neugotische Formensprache reichte von gotisierenden Tendenzen dekorativer Natur in der Frühphase über exakte Imitationen von Bauelementen wie Spitzbögen und Maßwerk bis hin zu willkürlichen Mischstilen des Historismus, die Elemente einzelner oder sogar unterschiedlicher Epochen kombinierten.240 Diese spielerischen Ausprägungen er239 Stern 1955, S. 59. 240 Siehe weiterführend Baur 1981.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       67

Abb. 26: Auguste Leisnier nach Georg Moller, Der Kölner Dom. Antizipierte Innenansicht des vollendeten Langhauses nach Westen, 1828.

zielten eine starke optische Wirkung, die Sterns ästhetischem Anliegen sehr entgegenkam. Außerdem kennzeichnet die Neugotik eine Überlagerung von gotisierenden Formen und modernster Bautechnik, wie etwa der Verarbeitung von Gusseisen. Das spannungsgeladene Wechselverhältnis muss auf Stern eine große Faszination ausgeübt haben, da er für sein Bühnenbild eine mittelalterlich anmutende Szenerie mit aktuellsten bühnentechnischen Neuerungen kombinierte. Dass die riesige Nachbildung des gotischen Kirchenschiffs in der Olympia Hall ihre Wirkung nicht verfehlte, zeigen Eindrücke des Wiener Schriftstellers und Journalisten Geza Silberer (1876–1938). Er brachte die Gestaltung des Spielraums mit der Architektur und Atmosphäre des Kölner Doms in Verbindung: Am Neujahrsabend stand ich durch Zufall unter dem hohen gothischen Dom einer Kathedrale am Rhein. Die grauen Pfeiler stiegen kalt und schmal nach steiler Höhe; Weihrauch lag in der Luft und von weit her, [...] glitzerte und funkelte es von vielen Lichtern. [...] Derselbe Nebelzauber umfing mich dann am folgenden Abend, als ich in London die große Olympiahalle betrat. Es war dunkel [...] dunkler als im Kölner Dom, feierlicher als in der steinernen Kathedrale am Rhein.241

In den Entwürfen für die Bühnenarchitektur hatte Stern nicht nur direkten Bezug auf den Kölner Dom genommen, sondern sich auch mit den gigantischen Dimensionen des Bauwerks gemessen. Dadurch, dass die Kathedrale erst dreißig Jahre vor der Premiere der Inszenierung vollendet und zu einem bedeutenden Nationaldenkmal erklärt worden war, konnte das kulturelle Gedächtnis der zahlreich anwesenden deutschsprachigen Kritiker mit dieser Referenz ganz besonders angesprochen wer241 Sil-Vara 1912 [Pseudonym für Gustav A. »Geza« Silberer – S. B. Q.]. Rudolf Kommer greift das Vorbild ebenfalls auf. Vgl. Kommer 1912.

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Abb. 27: Kathedrale von Gloucester, Kreuzgang, um 1357–1412.

den (Abb. 26).242 In England hatte die Gotik ebenfalls prachtvolle Sakralbauten wie die Kathedralen in Winchester, Canterbury, Durham, Salisbury und York hervorgebracht. Mit dem Gothic Revival ging ab Mitte des 18. Jahrhunderts eine Rückbesinnung auf den Katholizismus einher. Der enorme Anstieg der Bevölkerung in den Großstädten führte außerdem zu zahlreichen Kirchenneubauten und Sanierungen. Im Rahmen dieser gesellschaftlichen Entwicklungen entstanden die sogenannten Commissioner’s Churches in Anlehnung an den spätgotischen Perpendicular Style der Kathedrale von Gloucester (Abb. 27).243 Die britischen Zuschauer im Publikum hatten folglich neben dem prominenten Kölner Dom, der von 1880 bis 1884 immerhin das höchste Gebäude der Welt war, zudem auch zahlreiche heimische Zeugnisse der gotischen und neugotischen Bauphase vor Augen. Sterns Bühnenbildentwurf zur Eröffnungsszene unterstreicht die gewaltigen räumlichen Ausmaße der Inszenierung (Abb. 28): Ein endloser Strom von Pilgern drängt durch das Westportal in das Innere der Kathedrale. Das Marienbildnis befindet sich auf einem erhöhten Podest und markiert die Mitte des Raums. In einem Kreis haben sich die betenden Gläubigen um die Statue versammelt, um der Muttergottes ihre Ehrerbietung zu erweisen. Sie ersetzt damit den Altar als zentralen Blickpunkt und Ort der Anbetung. Ein besonderes Augenmerk hat der Bühnenbildner auf die gewaltige Architektur des Kirchenportals gelegt, die das Geschehen im Hintergrund überragt. Das geöffnete Tor gibt den Blick auf den Schauplatz des westlichen Zwischenspiels, eine rheinische Wald- und Hügellandschaft, frei. Die schwere Eisentür scheidet nicht nur optisch zwei Handlungsorte, vielmehr ist sie symbolisch aufgeladen: Im ersten Akt trennt das Kirchentor die junge Megildis von den singenden 242 Vgl. hierzu Günther 2012, S. 137–150; Fraquelli 2008, S. 167 u. Kapitel 1.4. Max Hasak veröffentlichte im Jahr 1911 eine reich illustrierte Monografie zum Kölner Dom. Vgl. Hasak 1911. 243 Siehe weiterführend Lewis 2002. Zur Wiederbelebung des Mittelalters in England siehe ausführlich Alexander 2007. Zum programmatischen Kirchenneubau siehe Port 2006. In Kapitel 2.1.4 werden die Rezeptionsdokumente zur Inszenierung im Kontext der Religionsdebatte in England beleuchtet.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       69

Abb. 28: Ernst Stern, Bühnenbildentwurf zu Das Mirakel, London, 1911.

Kindern und der lockenden Musik eines mysteriösen Spielmanns. Unter dem Tor stehend verliebt sich der Ritter in die Nonne und sein Pochen an die verschlossene Tür verrät sein Werben. Als Megildis in Erwägung zieht, aus dem Schutz des Klosters auszubrechen, ist es ihr zunächst unmöglich, das Tor zu öffnen. Begleitet von dramatischen Licht- und Klangeffekten öffnet sich nach einem weiteren Versuch das Tor zur Welt und die hügelige Rheinlandschaft kommt deutlich zum Vorschein.244 Eine aufwändige Verwandlungsmaschinerie, die der leitende Techniker Rudolf Dworsky (1882–1927) installieren ließ, unterstützte jene Markierung der profanen Sphäre: Das Podest des Marienbildnisses konnte in einem Hohlraum im Untergeschoss versenkt werden, während die Landschaft mithilfe eines Bühnenwagens in die Arena hineingefahren werden konnte (Abb. 29). Auf diese Weise entstand ein neuer Spielraum im bereits vorhandenen.245 Das wuchtige Portal markierte folglich eine Grenze zwischen der sakralen Sphäre der Kathedrale und der fremden Außenwelt, einen Übergangsort für die Nonne, an dem sie schicksalshafte Entscheidungen treffen musste.

244 Vgl. Vollmoeller 1912, S. 8. 245 Zu den technischen Details der Verwandlungsmechanismen siehe Huesmann 1983, S. 25. Da das Bildmaterial zur Londoner Inszenierung eine ausführliche Untersuchung des Zwischenspiels nicht zulässt, soll dieser Aspekt hier nur angerissen werden. Zu dessen ästhetischer Funktion im Rahmen der New Yorker Inszenierung siehe Kapitel 2.2.

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Das Licht als Medium des Heiligen

Um die sakrale Atmosphäre während der Szenen im Inneren der Kathedrale zu verstärken, setzte Reinhardt eine gezielte Lichtregie ein. Zu diesem Zweck wurde die Olympia Hall mit einer modernen Beleuchtungsmaschinerie ausgestattet: Speziell angefertigte Lichtbögen, Scheinwerfer und Linsen dienten nicht nur der Beleuchtung des Spielraums, sondern wurden ebenfalls im Zuschauerraum platziert. Wie die schematische Illustration des Briten G. F. Morrell (nicht ermittelbar) veranschaulicht, bot Sterns Gipsarchitektur eine aufwändige Verkleidung für größere Apparaturen (Abb. 29): So blieben etwa drei riesige Beleuchtungsbrücken bestehend aus jeweils vierzig Verfolgern im Deckengewölbe des Mittelschiffs für die Zuschauer unsichtbar. Sie dienten der akzentuierten Ausleuchtung einzelner Schauspieler oder Gegenstände.246 Außerdem führt Huntly Carter (1861/62–1942) in seinem Buch The Theatre of Max Reinhardt (1914) durchdachte und technisch innovative Lichtprojektionen auf: In The Miracle it was noticeable that Herr Stern obtained his colour effects chiefly from lighting. He works by a system according to which rays of light are thrown upon neutral or coloured surfaces. The effects are got by a single ray of white or coloured light, and by two or more coloured rays mixing.247

Mithilfe dieser komplexen Beleuchtungstechnik konnte eine Vielzahl von Effekten erzeugt werden. Sie signalisierte die Tageszeiten oder unterschied Szenen im Inneren der Kathedrale von den profanen Handlungsorten des weltlichen Zwischenspiels. Durch das Abdunkeln der Architekturaufbauten sowie das Akzentuieren bestimmter Requisiten schien die Kathedrale zu verschwinden und in kürzester Zeit in die Szenen der Außenwelt transformiert. Der Theaterkritiker John Palmer (1885–1944) betont den großen Anteil von Reinhardts kalkulierter Lichtregie, um die Raumwahrnehmung der Zuschauer zu leiten und die Vorstellungskraft anzuregen: »Professor Reinhardt knows that, so long as the cathedral walls do not physically intrude themselves, they will not be seen.«248 Gleichzeitig unterstrich die Bühnenbeleuchtung mittels unterschiedlicher Farbwerte bestimmte Stimmungen. Während der Ereignisse des Zwischenspiels wurde die Beleuchtung genutzt, um die Wirren der weltlichen Abenteuer der Nonne zu reflektieren. Der in London ansässige deutsche Fotograf Emil Otto Hoppé (1878–1972), der für offizielle Presseaufnahmen der Inszenierung engagiert war, erkannte die szenische Funktion dieser Lichtwechsel: Reinhardt frequently used the process of suggestion and in The Miracle he did so in a masterly way, alternately using gloom or brilliance, now penciling-in [sic!] bare shafts of light, now dimming, or flooding, the whole set with radiance, thereby stimulating

246 Die Beleuchtungstechnik ist von einigen Autoren detailliert aufgeschlüsselt worden, ebenso wurden Probleme aufgezeigt, die sich aus dem enormen Raumvolumen ergaben. Für eine statistische Erfassung der Lichttechnik siehe Huesmann 1983, S. 25. Zu den zahlreichen Varianten der Lichtinszenierung vgl. Marx 2006a, S. 131; Stefanek 1973, S. 102 u. Carter 1914, S. 231 u. S. 237. 247 Carter 1914, S. 237. 248 Palmer 1912, S. 10. Reinhardts Spiel mit der Imagination des Publikums wird in Kapitel 2.1.4 ausführlich diskutiert.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       71

Abb. 29: G. F. Morrell, Schematische Zeichnung zu Das Mirakel, London, 1911.

the imagination of the spectators and creating a crescendo of emotions, all to the one purpose: to underline significant dramatic situations.249

Auch wenn Zeitzeugen und die Forschung durchaus auf Reinhardts Strategie, über die Lichtregie die Imagination der Zuschauer anzuregen, verweisen, ist deren Wirkungskraft in den Schlüsselszenen der Mirakel-Inszenierung bislang nicht ausführlich untersucht worden. Dieses Desiderat ist umso überraschender, als dass das visuelle Material sowie die zahlreichen Autografen eine aufschlussreiche Analyse erlauben.250 In seiner Funktion, die sakrale von der profanen Sphäre zu unterscheiden, wird das Licht fortwährend als wesentliches Element der Konstitution sakraler Räume, Orte und Landschaften definiert. Nach Gernot Böhme ist »Licht eine transzendentale Erscheinung [...], d. h. eine Erscheinung, die Anderes erscheinen lässt, aber auch selbst erscheint«.251 Es intensiviert die Sinneswahrnehmung und fördert die geistige und emotionale Bereitschaft zur Erfahrung von Heiligkeit. Vor dem eigentlichen Be249 Hoppé 1963, S. 352, zit. n. Shewring 1987, S. 7. Auch wenn Shewring an dieser Stelle einige wichtige Quellen im Zusammenhang mit Reinhardts Bühnenästhetik aufführt, versäumt sie eine Befragung des Materialbestandes, die zu neuen Erkenntnissen geführt hätte. 250 In ihrem überblicksartigen Beitrag zu Reinhardts Innovationen im Bereich der Bühnenbeleuchtung hat Cristina Grazioli die Strategien der Lichtregie, die in der Mirakel-Inszenierung zum Einsatz kamen, angerissen. Vgl. Grazioli 2017, S. 52–54. In der englischsprachigen Forschung erschienen zwei Monografien, die explizit die technischen Neuerungen und ästhetischen Funktionen der szenischen Beleuchtung untersuchen. Vgl. Abulafia 2015 u. Palmer 2013. Im deutschsprachigen Raum singulär ist die Publikation von Carl Friedrich Baumann, die die historische Entwicklung der Lichttechnik im Theater nachzeichnet. Vgl. Baumann 1988. 251 Böhme 2001, S. 456. Zum Licht als Metapher der Erkenntnis und als Medium von Transzendenz siehe den grundlegenden Aufsatz von Blumenberg 2001. Zu Blumenberg siehe auch die Ausführungen zur Waldlichtung in Wagners Parsifal in den Kapiteln 4.2.3 u. 4.3.

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ginn der Aufführung wurde der Spielraum in der Olympia Hall nahezu vollständig abgedunkelt, sodass die Zuschauer in einem Dämmerlicht eintraten. Das gedämpfte Licht ließ die Schlusssteine des Deckengewölbes verschwimmen und in weite Ferne rücken, wodurch die Raumhöhe noch größer erschienen sein muss.252 Reinhardt orientierte sich damit an der Lichtsituation gotischer Kathedralen, die Rudolf Otto 1917 in seiner Schrift Das Heilige als ein Ausdrucksmittel des Numinosen klassifizierte: »Das Halbdunkel, dämmernd in hohen Hallen, unter den Zweigen eines hohen Baumganges, seltsam belebt und bewegt noch durch ein mysteriöses Spiel der halben Lichter, hat noch immer zum Gemüte gesprochen.«253 In seinem Aufsatz »Über das lebendige Theater« zeigte sich Max Reinhardt von der sinnlichen Erfahrbarkeit der mittelalterlichen Kathedralen tief beeindruckt: »[Die] mystische[] Dämmerung [d]er Kathedralen [...] verzaubert unsere Augen [...] mit dem Leuchten ihrer farbigen Fenster, mit dem Glanz Tausender [sic!] Kerzen, die ihr Licht in goldenen Gegenständen und Gefäßen spiegeln.«254 Einen wesentlichen Beitrag zur Aufarbeitung der Lichtästhetik des Mittelalters seit dem späten 19. Jahrhundert leistete Julius von Schlosser (1866–1938) mit der Veröffentlichung seines Quellenbuches zur Kunstgeschichte des abendländischen Mittelalters. Unter den abgedruckten Texten in Originalfassung findet sich auch der Bericht Abt Sugers (1081–1151) über die Chorweihe der Kathedrale von Saint-Denis im Jahr 1144.255 Ausführlich umschreibt Suger darin, wie das Tageslicht durch die Glasfenster in den Chor fällt und so den Altar sowie den gesamten Kircheninnenraum hell erleuchtet (Abb. 30). In Anlehnung an die Beschreibung des Himmlischen Jerusalems in der Offenbarung des Johannes sahen die Baumeister und Gelehrten des Mittelalters das Sonnenlicht als ein Medium des Göttlichen und als Manifestation Christi.256 Als wesentliches Konstruktionsprinzip der gotischen Architektur oblag den farbigen Fenstern die zentrale Funktion, den natürlichen Lichteinfall zu intensivieren und ihm eine mystische Wirkung zu verleihen.257 Außerdem erkannte

252 Vgl. Palmer 1912, S. 9. 253 Otto 1920, S. 84. Zur ›heiligen‹ Dämmerung vgl. auch Böhme 2006, S. 143–145. In einem kurzen Absatz reißt Przytulski die atmosphärische Wirkung der Dämmerung zu Beginn der Inszenierung an und sieht ebenfalls eine Verbindung zu Rudolf Ottos Klassifizierung des Halbdunkels, ohne diesen Gedanken jedoch im Hinblick auf seine übergeordnete Frage nach den religiösen Elementen im Theater Max Reinhardts weiterzuführen. Seine Schlussfolgerung, »dass die Zuschauer des Mirakelspiels beim Betreten des Theaterraumes die gleichen positiven Gefühle empfinden mussten wie beim Besuch eines realen Gotteshauses«, erscheint allzu pauschalisiert und ohne Berücksichtigung des umfangreichen Quellenmaterials. Przytulski 2004, S. 144. 254 Reinhardt, Max, »Über das lebendige Theater« [1924], in: Reinhardt 1989, S. 458. Unter dem Titel »On the Living Theatre« erschien die Schrift erstmals im Souvenirheft der New Yorker Inszenierung von 1924. Siehe Kapitel 2.2. 255 Siehe Schlosser 1896, S. 287. 256 Offb 21,23: »Und die Stadt bedarf keiner Sonne noch des Mondes, dass sie ihr scheinen; denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm.« 257 Vgl. hierzu auch Böhme 2006, S. 143 f. Für eine ausführliche Diskussion zum Stellenwert der Schriften Sugers im Kontext der mittelalterlichen Lichtmetaphysik siehe Binding 2003, S. 129–171. Siehe weiterführend Blumenberg 2001, S. 154–159 u. S. 164–168; Schöne 1994, S. 55–81; Hedwig 1991 u. Sedlmayr 1979, besonders S. 32–41.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       73

Abb. 30: Abteikirche, Saint-Denis, Chor und nördliches Querhaus, 1231–1245, Rekonstruktion der Kirchenfenster um 1848.

Abb. 31: Kathedrale Notre-Dame, Paris, Fensterrose des Südquerhauses, um 1270, Rekonstruktion der Kirchenfenster um 1840.

man bereits im Mittelalter das Potenzial des Lichts zur sinnlichen Affizierung und geistigen Verinnerlichung des göttlichen Heilsversprechens, sodass das unmittelbare Erleben dieser Lichtwirkung durch die Gläubigen als ein wesentliches Element der christlichen Liturgie aufgefasst wurde.258 Max Reinhardt orientierte sich nicht nur an dem »zarte[n] mysteriöse[n] Licht« der gotischen Kathedralen,259 sondern wollte vielmehr die sakrale Atmosphäre mit seiner Inszenierung steigern. Für das Westportal ließ Ernst Stern ein überdimensional großes Radfenster aus Glas und Gips bauen. Das prachtvolle Fenster soll um ein Dreifaches größer gewesen sein als die Radfenster der Kathedrale Notre-Dame in Paris, deren Durchmesser über zwölf Meter beträgt (Abb. 31).260 Bezeichnenderweise war das prominente Pariser Vorbild, das jeder Besucher beim Betreten des Platzes vor dem beeindruckenden Westportal als erstes erblickte, nicht mehr in seinem Originalzustand erhalten. Spätestens im 16. Jahrhundert verlor die Glasmalerei europaweit an Bedeutung, da Sakralbauten fortan vornehmlich mit Blankverglasungen ausgestattet wurden, so etwa Notre-Dame in Paris im Jahr 1741. Ein Großteil der Buntverglasung der Kathedralen der Île-de-France war überdies während der französischen Revolution zerstört worden. Erst im Zuge der Rückbesinnung auf das Mittelalter durch die Romantik und das Gothic Revival gewann die Buntverglasung

258 Zur Bedeutung der Lichtwirkung für die Liturgie vgl. Binding 2003, S. 135–137. 259 Brandes 1911. Der Bericht des Korrespondenten wurde zwei Tage zuvor in London verfasst. 260 Vgl. Prossnitz 1986a, S. 75. Angeblich stammt dieser Vergleich von Hugo von Hofmannsthal. Vgl. Shewring 1987, S. 22, Fn. 26. Eine englische Berichterstattung im Vorfeld der Inszenierung bezieht sich wiederum auf den Fensterschmuck des Kölner Doms, erwähnt jedoch auch, dass Stern sich von den prominentesten europäischen Kathedralen habe inspirieren lassen. Vgl. auch The Times 1911a.

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in England, Frankreich und Deutschland wieder an Beachtung.261 Zum Zeitpunkt der Mirakel-Inszenierung war der Zustand der Westrose der Kathedrale Notre-­ Dame in Paris das Ergebnis der umfassenden Restaurierungsmaßnahmen, die unter der Leitung des Architekten und Denkmalpflegers Eugène Emmanuel Viollet-leDuc (1814–1879) in den 1840er Jahren veranlasst wurden.262 Zeitgenössische Glasmalereiwerkstätten eigneten sich die historischen Techniken und das Wissen über stilistische Variationen in einem solchen Maß an, dass sie idealtypische Abbilder gotischer Fenster produzieren konnten. In der Vorstellung vom Originalzustand vermischten sich die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen der Glasfenster mit dem in der Gesellschaft vorherrschenden Mittelalterbild sowie dem durch den urbanen und technologischen Wandel geprägten Zeitgeist.263 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Abbildungsmaterial zu den gotischen Kathedralen dank Émile Mâles (1862–1954) Publikation L’ Art religieux du XIIIe siècle en France einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.264 Anhand der Rekonstruktionszeichnungen aus Viollet-le-Ducs Dictionnaire generierte der französische Mittelalterforscher sein Wissen über Notre-Dame in Paris: »Mâle explained the rose as he believed it to have been, not as it was, and his decision allows us an insight into the influence of 19thcentury reconstructions on the 20th-century scholar.«265 Für das Raumkonzept der Mirakel-Inszenierung muss die Praxis des Historismus, anstelle stilgerechter Rekonstruktionen perfekte Instandsetzungen nach zeitgenössischen Idealvorstellungen zu schaffen, als ein entscheidendes Konstruktionsprinzip verstanden werden. Die Scheinkathedrale der Inszenierung war das Produkt der Imagination einer längst vergangenen Epoche, bei der Reinhardt »größten Wert auf die archäologische Genauigkeit gelegt« hatte.266 Im frühen 20. Jahrhundert erfuhren die Glasmalerei und deren spezifische Ästhetik eine andere Form der Rezeption, die für Reinhardt ebenfalls von größtem Interesse gewesen sein muss. Nun brachte das Wissen um die spezifische Qualität des Lichts, 261 Zu den Restaurierungspraktiken seit Mitte des 18. Jahrhunderts vgl. Schumacher 1998, S. 111–113 u. Raguin 1990. Zur Wiederbelebung der Gotik im 19. Jahrhundert siehe auch die Kapitel 1.4, 3.1 u. 4.1. 262 Die Ergebnisse seiner Arbeit und zahlreiche Konstruktionszeichnungen, darunter auch Glasmalereien, sind veröffentlicht in Viollet-le-Duc 1854–1868. Zum Ausbau der Kathedrale Notre-Dame siehe Guilhermy/Viollet-le-Duc 1856. Zu den Restaurierungskampagnen in Frankreich siehe auch Raguin 1990, S. 312–318. 263 Vgl. Murray 1998, S. 247 f. Dieses Vorgehen hatte zur Folge, dass Baumaßnahmen des 14. Jahrhunderts vollständig entfernt wurden. Aus heutiger Sicht warnen Architekturhistoriker und Denkmalpfleger vor dem Rückbau der Zugaben Viollet-le-Ducs. Anlässlich seines 200. Geburtstages fand zwischen dem 20. November 2014 und dem 9. März 2015 in der Cité de l’Architecture et du Patrimoine in Paris die Ausstellung Viollet-le-Duc. Les visions d’un Architecte statt, die auf diese Kontroverse aufmerksam gemacht hat. 264 Zur Westrose von Notre-Dame in Paris siehe Mâle 1911, S. 131–159. 265 Raguin 1990, S. 317. Vgl. Boudon 1983. 266 Reinhardt, Max, »Etwas über meine Methode. Ein Interview, 1911«, in: Reinhardt 1974, S. 259. Klaus Niehr hat bezeichnenderweise auf die Kathedrale von Clusy hingewiesen, die Viollet-le-Duc 1877 als idealtypischen, jedoch vollkommen fiktiven Sakralbau entworfen hatte. Vgl. Niehr 2004, S. 173. Zum Begriff der Imaginationsarchitektur siehe weiterführend Bressani 2014. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Kapitel 2.1.3.

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in besonderem Maße auf den Körper des Menschen einzuwirken, innovative Lösungen für den Sakralraum hervor, die das Verhältnis von Licht, Farbe und Raum auf einer neuen Ebene aushandelten. Die große wissenschaftliche Resonanz schlug sich in Beiträgen der zwischen 1912 und 1915 herausgegebenen Zeitschrift für alte und neue Glasmalerei nieder, die sowohl die Glaskunst vergangener Epochen als auch des 20. Jahrhunderts untersuchten.267 In der Einleitung zu dieser Studie wurde bereits die farbenprächtige Lichtwirkung der monumentalen Buntglasfenster beschrieben, die Johan Thorn Prikker für die Dreikönigenkirche in Neuss entworfen und deren Entwürfe er auf der Sonderbundausstellung 1912 präsentiert hatte (Abb. 32).268 Die Entwürfe wurden von der großen Berliner Glasmalerei und -mosaikwerkstatt Gottfried Heinersdorffs (1883–1941) ausgeführt: Das Ziel Heinersdorffs ist, [...] die grossen Wirkungen der alten Fenster unserer gotischen Dome wieder zu erreichen. Das heisst, er will das Glasmosaik mit seinen noch nicht wieder erreichten mysteriösen, malerisch-architektonischen, ornamental-psychologischen Wirkungen. Und eben diese geheimnisvoll jubelnde Farbigkeit des Glasmosaiks [...] ist der Eigenart und der Sehnsucht Thorn Prikkers wie eine Erfüllung entgegengekommen.269

Heinersdorff empfahl den Künstlern seiner Zeit, die auf der Suche nach einem eigenen Stil waren, nach Chartres zu reisen. Wie in kaum einer anderen Kathedrale zeugten die dunkelfarbigen Gasfenster dort von der ursprünglichen Lichtsituation des frühen 13. Jahrhunderts: [N]un strahlen einem magisch aus der geheimnisvollen Dämmerung von allen Seiten tiefleuchtende, bunteste Teppiche glühend entgegen. [...] Es ist ein ungeheurer Triumph des farbigen Glases, ein einziger, unerhört grosser Hymnus des in bunten Scheiben gefangenen Lichtes. [...] Das Ganze [...] klingt zusammen zu einer unendlichen, himmlischen Harmonie.270

In einem direkten Vergleich mit den Errungenschaften der Gotik fanden Thorn Prikkers Neusser Fenster eine große Beachtung. So beurteilt der Kunsthistoriker August Hoff (1892–1971) die Neusser Fenster als singuläre Erscheinung moderner Sakralkunst, welche die Lichtstimmungen aus Chartres, Bourges oder Poitiers in der Gegenwart fortführen:

267 Verband deutscher Glasmalereien 1912–1915. Siehe hierzu weiterführend Schulz 1987. Der Schriftsteller Paul Scheerbart setzte sich in seinen Werken mit dem Verhältnis von Glas und Licht auseinander und bezog sich dabei wiederholt auf die mittelalterliche Kathedralarchitektur, so etwa in Kapitel 23 seines 1912 veröffentlichten Romans Das große Licht. Vgl. ausführlich hierzu Kapitel 3. 268 Vgl. u. a. Wierschowski 2010, S. 146–167 u. Kapitel 1.1. 269 Scheffler 1913, S. 328. 270 Heinersdorff 1912, S. 590 f. 1914 veröffentlichte er ein umfangreiches Kompendium, in dem er die Geschichte der Glasmalerei bis in das Mittelalter zurückverfolgte. Siehe Heinersdorff 1914. Vgl. auch Jantzen 2000, S. 16 f.

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Abb. 32: Johan Thorn Prikker, Auferstehung Christi, Dreikönigenkirche, Neuss, 1912.

Eine gewaltige Symphonie von schweren farbigen Akkorden braust durch diesen Gottesraum. Tiefes Kobaltblau ist der tragende Ton, der sich durch alle Fenster hindurchzieht und eine warme glühende Farbigkeit des ganzen Werkes bedingt. Der Blau-RotAkkord der Gotik lebt frei und eigen wieder auf.271

Aufgrund dieser kraftvollen Intensivierung der Sinneswahrnehmung, die ein Hauptanliegen zeitgenössischer Künstler darstellte, bildeten die Buntglasfenster ein entscheidendes Element in Reinhardts Rauminszenierung. Hinter den Fenstern waren Scheinwerfer angebracht, sodass die charakteristische Lichtsituation eines Kircheninnenraums suggeriert werden konnte. Als er das spätere Gastspiel der Mirakel-Inszenierung in der Wiener Rotunde im Jahr 1912 plante, forderte der Regisseur das Bewusstsein seiner Mitarbeiter dafür, »welche Rolle das Licht gerade in unserer Aufführung und gerade in solchen Räumen spielt«.272 In seinem Brief an Berthold Held (1868–1931) listet er eine Reihe unabdingbarer Bestandteile der umfangreichen Beleuchtungsmaschinerie auf und gibt Anweisungen zu deren Verwendung. Dabei betont er wiederholt die ungeheure Wirkung der in London erprobten Technik. Die Bühnenbildner und Techniker durften beispielsweise den Einfluss der künstlichen Lichtquellen auf die Farbe nicht außer Acht lassen, weshalb eine Feinabstimmung

271 Hoff 1925, S. 17. Vgl. auch Fischer 1913, S. 298. 272 Brief von Max Reinhardt an Berthold Held, Jersey, 21.08.1912, Max Reinhardt Archives & Library, Binghamton University Libraries’ Special Collections and University Archives, Binghamton University, R 5983 (O). Siehe auch Reinhardt 1989, S. 181. Zur Inszenierung in der Wiener Rotunde vgl. Kapitel 2.2.

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von Scheinwerfern und Oberflächenbeschaffenheiten notwendig war.273 Um die authentische Wirkung zu verstärken, wurden zahlreiche Kerzen als weitere Lichtquellen im Spiel- und Zuschauerraum verteilt. In einer skizzenhaften Farbstiftzeichnung Ernst Sterns sind nicht nur die rot und gelb leuchtenden Glasfenster angedeutet, überdies wird auch die Inszenierung der Wundertaten des Marienbildnisses durch eine dramatische Beleuchtung veranschaulicht (Abb. 33). Ein Auszug aus Reinhardts Regiebuch vermittelt einen Eindruck von der Disposition der Szene: In der Mitte des Raumes ein großes quadratisches Podest, zu dem eine Stufe emporführt. Darauf die lebensgroße Figur der Mutter Gottes. Über dem Bilde wölbt sich vom Boden aufsteigend eine schmiedeeiserne, bogenförmige Guirlande [sic!], an der Lampen und Weihkerzen brennen.274

Dargestellt ist eine Pilgerprozession von Priestern und Laien, die einen Gelähmten auf einer Bahre hineintragen. Während der übrige Kirchenraum im Dunkeln liegt, fällt rechts aus der Höhe ein gleißender Lichtkegel auf die Statue im Bildzentrum. Bei ihrem Anblick ist der Kranke plötzlich von seinem Leiden geheilt. Auch wenn die Disposition der Halle zu einer starken Verschränkung von Aktions- und Zuschauerraum tendiert, wird durch den Einsatz von grellem Schlaglicht die Madonnenfigur von ihrer Umgebung isoliert. Mit dem Lichtkegel akzentuiert Stern ausschließlich die Position der Statue, welche durch die Intensität des Scheinwerfers wie entmaterialisiert erscheint. Auf diese Weise zieht der Bühnenbildner eine klare Grenze zwischen sakraler und profaner Sphäre. Zusätzlich betont wird diese Grenze durch ein vergoldetes Gitter, das, wie Reinhardt später Berthold Held erklärte, »die Illusion der Statue wesentlich erhöht«.275 Dennoch wird die Pilgergruppe in der unmittelbaren Nähe des Bildnisses ebenfalls zart erhellt. Es scheint, als ob die Madonna selbst in der Lage ist, das überirdische Licht auf ihre Umgebung zu reflektieren. Einen ähnlichen Eindruck schildert auch der Kritiker Geza Silberer und führt diese Wirkung auf die Ausstrahlung der Schauspielerin Maria Carmi-Vollmoeller (1880–1957) zurück: »Magisches Leuchten entströmt dem feinen geneigten Profil; die unirdische Ruhe und Majestät geben den Schein der Heiligkeit. Diese Madonna ist das Mirakel.«276 Verstärkt wurde dieses Leuchten mit Sicherheit durch die lichtreflektierenden Materialien des Kostüms, welches im nachfolgenden Kapitel noch detailliert zu 273 Reinhardts Dramaturg Heinz Herald berichtet, dass die Stoffe der Kostüme stets auf die Lichtwirkung der künstlichen Scheinwerfer geprüft wurden. Vgl. Herald 1918, S. 30. Zu den Kostümen siehe ausführlich Kapitel 2.1.3. 274 Regiebuch zur Londoner Aufführung 1911. Gez. von Reinhardt: Berlin, 1. Dezember 1911, Max Reinhardt Archives & Library, Binghamton University Libraries’ Special Collections and University Archives, Binghamton University. Dieser Auszug ist abgedruckt in Hoffmann 1966, S. 129. 275 Brief von Max Reinhardt an Berthold Held, Jersey, 21.08.1912, Max Reinhardt Archives & Library, Binghamton University Libraries’ Special Collections and University Archives, Binghamton University, R 5983 (O). Siehe auch Reinhardt 1989, S. 185. 276 Sil-Vara 1912.

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Abb. 33: Ernst Stern, Bühnenbildentwurf zu Das Mirakel, London, 1911.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       79

untersuchen sein wird. Darüber hinaus wurde seit dem Mittelalter dem Kerzenlicht eine besondere Bedeutung für die Inszenierung von Heiligenbildnissen beigemessen. Heute noch erhaltene Beleuchtungsordnungen der Kirchen dokumentieren die Lichtregie für Festgottesdienste im Kirchenjahr. Im 12. Jahrhundert hielt der Mönch Adam of Eynsham (1155–1233) zur Illumination von Andachtsbildern auf Marienaltären fest: Bilder der heiligen Maria [...] waren [...] gebührend mit Gold und Silber geschmückt [...]. Es war eine Gepflogenheit in der Kirche, dass an besonderen Festtagen das Jahr hindurch Tag und Nacht eine einzelne Lampe vor jedem Bild brannte [...] und die ganze Kirche leuchtete in ihrem strahlenden Licht.277

Der Kunsthistoriker Michael Grandmontagne bezeichnet dieses Phänomen als eine zentrale visuelle Strategie der Kirche, um den vermeintlichen Verlebendigungsprozess von Skulpturen zu suggerieren: Das Kerzenlicht erzeuge auf lichtbrechenden Oberflächen, wie Gold und Edelsteinen, einen irisierenden Glanz, der dem Betrachter einen Eindruck von Bewegung, Lebhaftigkeit und Unmittelbarkeit vermitteln könne. Die Lichtreflexe sprechen die Sinneswahrnehmung auf besondere Weise an, sodass sich die Gläubigen zu einer gesteigerten Frömmigkeitsbekundung aufgefordert fühlen.278 Sowohl diese Form der Skulptureninszenierung als auch der symbolgeladene Einsatz des Scheinwerferlichts in der Mirakel-Inszenierung gehen auf eine spezifische Lichtmetaphorik des Mittelalters zurück. Zahlreiche Maler, Buchillustratoren, Theologen und Gelehrte fassten den Lichtstrahl, der durch Fensterglas auf die Jungfrau Maria trifft, als Metapher für das Mysterium der Empfängnis der Gottesmutter beziehungsweise der Verkündigung der Geburt Christi auf.279 Da sich die Stückvorlage des Mirakel an Quellen aus dem Mittelalter wie etwa Caesarius von Heisterbach orientierte, liegt die Vermutung nahe, dass Stern, während er den Szenenentwurf anlegte, ebenfalls Bildwerke aus dem Mittelalter vor Augen hatte. Die Schlüsselszene der Inszenierung, in der die Statue zum Leben erwacht, wurde von einer Lichtregie begleitet, die mit der Szene der Heilung des Gelähmten vergleichbar gewesen sein muss: Die Marienstatue ist allein. Ein Lichtstrahl umzittert die zarte Gestalt. Plötzlich erhebt sich Maria, und mit göttlicher Liebe und tiefem Mitleid um die Gefallene breitet sie die Hände gegen das Tor. In Liebe zur Sünderin steigt Maria in erschütternd pathetischen Bewegungen vom Thron. Sie legt ihre Krone und ihren Mantel ab und wirft den Schleier der Nonne um, deren Gestalt sie annimmt.280

277 Adam of Eynsham 2002, S. 140, übers. v. Hamburger 2009, S. 126. 278 Vgl. Grandmontagne 2009, S. 143–147 u. Böhme 2001, S. 460. Siehe auch Kapitel 1.2. 279 Eine anschauliche Darstellung findet sich etwa in den um 1415 entstandenen Les très riches heures du Duc de Berry der Gebrüder Limburg (folio 26r). Vgl. hierzu auch Binding 2003, S. 156. Siehe auch die entsprechenden Verse im Loblied des Alexander Neckam aus dem späten 12. oder frühen 13. Jahrhundert übers. v. Breeze 1999, S. 26. 280 Brandes 1911.

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Der Historiker Tobias Becker hat in diesem Zusammenhang auf einen weiteren historischen Bezugspunkt aufmerksam gemacht, der dem Londoner Publikum 1911 noch sehr präsent gewesen sein muss: Die Szenen der Verlebendigung und Wunderheilung weisen ebenfalls eine Verbindung zu dem Visionsbericht der Bernadette Soubirous (1844–1879) aus dem Jahr 1858 auf. Oberhalb der Grotte Massabielle, in der Nähe des Ortes Lourdes, soll ihr in einer kleinen Nische mehrfach die Muttergottes erschienen sein. Die Illumination des Marienbildnisses in Reinhardts Inszenierung könnten die Zuschauer also auch mit der leuchtenden Marienerscheinung in Lourdes in Verbindung gebracht haben.281 Die Skulptur aus weißem Marmor und die mystische Beleuchtung der Grotte mittels Kerzenschein waren nicht nur auf Fotografien, Stichen und Ansichtskarten festgehalten (Abb. 34), sondern auch anschaulich in Émile Zolas (1840–1902) Roman Lourdes, welcher 1894 veröffentlicht wurde, beschrieben: Unter den Efeuranken [...] öffnete sich die Grotte und glänzte in der ewigen Glut ihrer Kerzen. [...] Die Statue der Jungfrau war nur noch ein weißer Flecken, der sich in der zitternden, von den kleinen gelben Flammen erhitzten Luft zu bewegen schien. [...] Alle Augen richteten sich auf einen und denselben Punkt, jeder Mund, alle Hände und alle Leiber wurden dem bleichen Flammenglanz der Kerzen, dem weißen, beweglichen Fleck entgegengetragen, den die Marmorstatue der Jungfrau bildete.282

Noch heute ist eine Lichterprozession zu Ehren der Muttergottes der feierliche Abschluss eines Wallfahrtstages. Nach dem Rosenkranzgebet in der Grotte versammeln sich die Pilger mit Kerzen, um sich gemeinsam, das Ave Maria singend, zurück in die Stadt zu begeben. Da die ersten nächtlichen Prozessionen bis in das Jahr 1872 zurückreichen, integrierte Zola diesen Höhepunkt des Wallfahrtstages ebenfalls in seinen Roman.283 Frühe Kurzfilme der Brüder Lumière hielten zentrale Ereignisse einer Wallfahrt nach Lourdes dokumentarisch fest, sodass bereits ab 1895 Bewegtbilder der eindrücklichen Prozessionen in den Unterhaltungsstätten der französischen Großstädte vorgeführt werden konnten.284 Zur selben Zeit wurden unterschiedlichste Reiseführer gedruckt, die den Pilgern zentrale Sehenswürdigkeiten nahebringen und als Anleitung für die Besichtigung des Areals dienen sollten. Darunter befanden sich auch Bücher, die sich auf Beschreibungen religiöser Zeremonien, im Besonderen der Lichterprozession, spezialisiert hatten. Diesen lässt sich entnehmen, dass das traditionelle Anzünden der Kerzen und neueste Pyrotechnik zu einem sinnesberauschenden Ereignis verschmolzen.285 Mit der Referenz auf die Begebenheiten in 281 Vgl. Becker 2011, S. 339 f. u. S. 355. Zur Vision der Bernadette Soubirous vgl. Dondelinger 2008 u. Harris 1999, S. 55–82. Zur Bestimmung der Begriffe ›Erscheinung‹ und ›Vision‹ siehe Turner/Turner 1995, S. 173. 282 Zola 1930, S. 349 f. Bereits in den 1890er Jahren wurde in der Nähe des Wallfahrtsortes ein Elektrizitätswerk gebaut, um das Heiligtum während des großen Pilgerandrangs in den Sommermonaten rund um die Uhr beleuchten zu können. Vgl. Kaufman 2005, S. 30. 283 Vgl. Zola 1930, S. 265. 284 Vgl. Kaufman 2005, S. 57–60. Siehe Lourdes, transport de malades, I, F 1897, R: La Société Lumière. 285 Vgl. Kaufman 2005, S. 30.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       81

Abb. 34: Grotte de Massabielle, Lourdes, undatiert.

Lourdes wird eine spezifische Form der Religiosität des 19. Jahrhunderts zitiert, die von großer Bedeutung für die Ästhetik der Inszenierung ist. Wie im nachfolgenden Kapitel noch näher auszuführen ist, sind Prozessionen und Wunderheilungen ein zentrales Beispiel für die Raumbildung durch große Menschenansammlungen, denn über den zeremoniellen Ritus und die dazugehörigen sakralen Objekte vermögen sie, sakrale Räume – auch außerhalb von Kirchengebäuden – zu konstituieren. In Reinhardts Rauminszenierung verschmolz die gotisch anmutende Imaginationsarchitektur mit der realen Erfahrung eines Kirchenraums im Alltag der Produzenten und Rezipienten des frühen 20. Jahrhunderts. Neben dem unmittelbaren Bezug zur realen Lebenswelt sieht Erika Fischer-Lichte die Wirkmacht von Reinhardts Großrauminszenierungen vor allem in der Tatsache, dass er »das Spiel in Räume verlegte, die [...] den [...] Festcharakter des Theaters betonten«.286 In der Konstitution einer Kirche als Ort von religiösen Festen erwies sich die Lichtregie als zentrales szenografisches Gestaltungselement.287 Mithilfe einer fein abgestimmten Beleuchtung wurden die Handlungen auf der Bühne nicht nur in ein stimmungsvolles Licht getaucht, sondern vielmehr in die Sphäre des Heiligen erhoben. Indem absichtlich künstlerische Strategien des Mittelalters, wie etwa die Illumination von Madonnenstatuen, und des 19. Jahrhunderts, wie etwa die Lichterprozessionen in Lourdes, hinzugezogen wurden, wurde »an das kulturelle Wissen um die Bedeutung von Liturgie und sakralem Raum [appelliert]«.288 Als Zeichen des Heiligen wurde die szenische Beleuchtung zum Träger einer feierlichen und der Wirklichkeit entrückten Atmosphäre, die den sakralen »Raum [...] als einen beweglichen Zwischenraum« markierte.289 Aufgrund seiner hohen sinnlichen Qualität besaß das Licht ein so starkes performatives Potenzial, dass es »unmittelbar auf die Körper der Zuschauer einwirkte 286 Fischer-Lichte 1991, S. 23. 287 Hans Blumenberg hat erläutert, wie das Theater im Zeitalter der Industrialisierung die Lichtregie als zentrales Element der Konstruktion von Räumlichkeit und der zielgerichteten Steuerung der Wahrnehmung etabliert hat. Vgl. Blumenberg 2001, S. 170 f. Siehe hierzu auch Kapitel 4.2. 288 Schuler 2007, S. 144. 289 Fischer-Lichte 2008, S. 235. Anknüpfend an Böhmes Abhandlungen erläutert FischerLichte in diesem Beitrag die zentrale Funktion der Beleuchtung für das Erzeugen von Atmosphäre im Theater. Für eine ausführliche Analyse Atmosphäre generierender Ge-

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und sie in seinen Bann zu ziehen vermochte«.290 Weitere mediale Faktoren, die die Sinne anregten und dem Publikum aus Gottesdienstfeiern bekannt waren, verstärkten die Imagination eines Kircheninnenraums und die vollkommene sakrale Aufladung des Spielraums. Sie sind nicht durch Bildmaterial zu belegen und dennoch anhand von Reinhardts Regiebuch und Aufführungsbesprechungen als wesentliche Elemente in der Hervorbringung der heiligen Szene auszuweisen: »A specially-built organ had to be installed, electrically controlled, with a pure cathedral tone, while a magnificent set of cathedral bells gave the necessary atmosphere of solemnity.«291 Andere akustische Reize, wie lateinische Gesänge und eingängige Gebete, sowie Vorrichtungen, aus denen Weihrauch entströmte, wurden ebenfalls eingesetzt, um ein multisensorisches Raumerlebnis zu befördern. Auf diese Weise wurde die feierliche und kontemplative Atmosphäre eines realen Sakralraums auf eine Theateraufführung übertragen, welche die Zuschauer die Olympia Hall vergessen ließ.292 Fasst man die Inszenierung mit dem Konzept von Diana Taylor, kann man Das Mirakel als eine Aufführung ansehen, die aus verschiedenen wiedererkennbaren Mustern und Spuren des religiösen scenario der Wundererscheinung zusammengesetzt war, durch deren Aktivierung im Publikum Erfahrungsmomente von Außeralltäglichkeit hervorgerufen werden konnten.293 Auf der Produktionsebene orientierten sich Reinhardt und Stern an der gotischen Kathedrale und einer sakral aufgeladenen Lichtästhetik, die insbesondere kunsthistorisch oder theologisch vorgebildete Zuschauer einordnen konnten. Habituelle, kulturelle und sinnliche Praktiken, die geknüpft waren an Erfahrungen aus dem alltäglichen Leben, wie die Teilnahme an Gottesdienstfeiern und Prozessionen, dienten als wirkungsvolles Referenzsystem für das gesamte Publikum. Im Zusammenspiel mit diesen medialen Strategien markierte die Bühnenbeleuchtung eine Grenzüberschreitung in die Sphäre der Transzendenz und evozierte einen Übergangsraum, der das Potenzial für eine Schwellenerfahrung bot.294

staltungselemente in Reinhardts Inszenierungen siehe auch Fischer-Lichte 2005a, S. 52–56. Zum Begriff der Atmosphäre vgl. Böhme 1995a u. Kapitel 1.2. 290 Fischer-Lichte 2008, S. 236. Siehe hierzu auch Böhme 2001, S. 462. 291 H. V. M 1912, S. 110. Reinhardt betont in seinem Brief an Berthold Held die zwingende Notwendigkeit akustischer Elemente, wie etwa die Orgel und die Glocken, sowie anderer medialer Faktoren für die Gesamtwirkung der riesigen Aufführungsräume in London und Wien. Vgl. Brief von Max Reinhardt an Berthold Held, Jersey, 21.08.1912, Max Reinhardt Archives & Library, Binghamton University Libraries’ Special Collections and University Archives, Binghamton University, R 5983 (O). Siehe auch Reinhardt 1989, S. 180 f. 292 Vgl. hierzu auch Schouten 2007, S. 188 f.; Schuler 2007, S. 133 u. Fischer-Lichte 1993, S. 277 f. Die Autorinnen beziehen sich auf Inszenierungen, die an Originalschauplätzen stattgefunden haben, wie Das Salzburger Große Welttheater in der Kollegienkirche in Salzburg. Auch wenn sie nicht in einem realen Kirchengebäude aufgeführt wurde, folgt die Mirakel-Inszenierung demselben Prinzip der Vorprägung des Rezipienten durch eine einerseits authentische, andererseits über eine durch multisensorische Reize intensivierte Raumwahrnehmung. 293 Vgl. Taylor 2003, S. 28 u. S. 31. 294 Zur Bestimmung der Metapher der Schwelle und der Funktion des Sakralraums als Schwellenraum siehe Kapitel 1.3. Vgl. u. a. Fischer-Lichte 2001, S. 347–366.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       83

2.1.3 ›Ein Fiebertraum!‹ – zur Imagination des Mittelalters in den Kostümen Neben der gotischen Imaginationsarchitektur und der Lichtregie soll auch die Funktion der Akteure als zentrales Gestaltungselement des sakralen Raums in der Mirakel-Inszenierung näher untersucht werden. In der Pantomime fungierten die Schauspieler als ›sprechende Bilder‹, die lediglich über ihre Gestik und Mimik den Fortgang der Geschichte vermitteln konnten und die dadurch marionettenhaft anmuteten. Peter W. Marx bezeichnet die Darsteller als »visuelle Zeichen«295 und erläutert die Notwendigkeit eines an diese Situation angepassten Schauspielstils: Die ›Marionettenhaftigkeit‹ der Darsteller gründet zum einen in den Dimensionen des Raumes, der eine sehr körperliche Spielweise und eine bisweilen übertriebene Gestik erforderte. Zum anderen ist die Verschiebung des Darstellungsstils ein Hinweis darauf, dass die Inszenierung in ihrer Dramaturgie nicht mehr an der Idee eines Handlungsverlaufs orientiert war, sondern vielmehr als eine Abfolge von Bildern organisiert war.296

Nicht nur die Spielweise der Schauspieler wurde auf die räumlichen Dimensionen der Olympia Hall ausgerichtet, auch die Kostüme erhielten eine zentrale Funktion in Reinhardts ästhetischem Gesamtkonzept. Ernst Stern entwarf sämtliche Kostüme und Requisiten; das Berliner Theateratelier Hugo Baruch & Co. wurde mit der Ausführung der über 2.000 Kostüme beauftragt.297 Im Bestand der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln befinden sich drei von Stern signierte, kolorierte Federzeichnungen auf Karton zu acht verschiedenen Figuren. Dabei handelt es sich um die einzigen heute noch erhaltenen Originalfigurinen zur Londoner Inszenierung.298 Mit ihrer Analyse wird ein wichtiger Beitrag zur Schließung einer offenkundigen Forschungslücke der Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum geleistet. Abgesehen von enzyklopädischen Werken zur Kostümgeschichte oder Monografien zu einzelnen Kostümbildnern mangelt es bislang an systematischen Beiträgen zur Theorie, Funktion und Bedeutung des Kostüms im Rahmen einer Theateraufführung. In ihrer 1983 veröffentlichten Studie Semiotik des Theaters hat Erika Fischer-Lichte dem Kostüm eine schauspielerbezogene Eigenschaft zugewiesen und es als ein theatrales Zeichen definiert, durch das der Zuschauer die Identität einer Figur konstruiert.299 Für den anglophonen Raum hat die Theaterwissenschaftlerin Aoife Monks einen Grundstein zur systematischen Erforschung und Theoreti295 Marx 2006a, S. 133. Vgl. hierzu auch Braulich 1966, S. 125. 296 Marx 2006a, S. 134. 297 Vgl. Cochran 1926, S. 166–168. Cochran berichtet überdies von einer finanziellen Beteiligung der Gebrüder Baruch. 298 Auf den drei Entwürfen sind folgende Figuren dargestellt: Raubgraf und Ritter, Hofdame, Kurtisane und Bäuerin sowie Spielmann, Richter und Nonne. Vgl. Stern 1955, S. 57–69. 1912 druckte das Pall Mall Magazine neben diesen Entwürfen drei weitere Figurinen zu den Höflingen, dem Klerus und den Nonnen ab. Aufgrund der übereinstimmenden Linienführung ist anzunehmen, dass es sich hierbei auch um Federzeichnungen von Ernst Stern handelt. Siehe Eyles 1912. 299 Vgl. Fischer-Lichte 1983 S. 94 f. u. S. 121–127.

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sierung des Kostüms geliefert, der über Fischer-Lichtes kategorisierenden Ansatz weit hinausgeht. In ihrer Studie The Actor in Costume (2010) wirft sie eine Reihe von Forschungsfragen zum Verhältnis von Kostüm und Körper, Kostüm und Identität sowie zu Kostüm und Wahrnehmung auf: »It is about ›costuming‹ rather than ›costume‹: not about dress, but rather about its uses, perception and effects in the relations between the actor, the costume and the audience.«300 Maßgeblich an diesem Ansatz ist, dass Monks die Schauspieler, ihre Körper, ihre Spielweise und ihre Funktion als Kostümträger in einer wechselseitigen Durchdringung betrachtet. Entgegen der in der Theaterwissenschaft weiterhin geläufigeren Auffassung vom Kostüm als »Identitätsdokument«301 wird im Folgenden für eine Neubewertung des Kostüms als raumbildender Mechanismus argumentiert.302 Im Anschluss an die Kulturwissenschaftlerin und Kostümbildnerin Berit Mohr interessiert im Besonderen die Funktion als ästhetisches Ordnungsprinzip: »[D]ie äußere Gestaltung des Körpers [...] gibt der Figur einen Rahmen und übermittelt Informationen an den Zuschauer: Sie bestätigt oder unterläuft dessen Erwartungshaltung, verortet den Körper in Raum und Zeit und ist maßgeblich am entstehenden Bild beteiligt.«303 Am Beispiel der Mirakel-Inszenierung lässt sich die spezifische Doppeldeutigkeit von Kostümen im Sinne der Hervorbringung eines Bild- beziehungsweise Spielraums aufzeigen. Daher beleuchtet die nachfolgende Analyse die Kostüme aus zwei unterschiedlichen, sich jedoch wechselseitig durchdringenden Perspektiven. So gilt es aufzuzeigen, dass die Schauspieler erst durch die Gestaltung der Kostüme sowie ihre Positionierung und Bewegung im Raum zu Bedeutungsträgern wurden und so maßgeblich ein Bild des Mittelalters entstehen ließen. Das Publikum sollte nicht nur passiv in die visuell spektakuläre Bildwelt des Mittelalters eintauchen, vielmehr regten die Kostüme dazu an, das Gesehene mithilfe der eigenen Vorstellungskraft zu vervollständigen. Demnach bildeten die Kostüme also eine Projektionsfläche für die Imagination, in die nicht nur individuelle Assoziationen eingeschrieben waren, sondern die zum »Archiv [...] für kollektive Erfahrungen« wurde.304 Stern, der früh im Kunsthistorischen Museum in Wien Alte Meister wie etwa Albrecht Dürer (1471–1528) kopiert hatte,305 orientierte sich an konkreten Vorbildern aus den bildenden Künsten, um das kulturelle, insbesondere das visuelle Gedächtnis der Zuschauer anzuregen:

300 Monks 2010, S. 3 u. weiterführend 1–11. Zum Forschungsdesiderat vgl. auch Mohr 2012. 301 Sich auf Erving Goffman stützend liefert Erika Fischer-Lichte eine Reihe von Beispielen der Identitätszuweisung im Theater. Siehe Fischer-Lichte 1983, S. 94 f. u. S. 121–127. 302 Im Vergleich zur Theaterwissenschaft bietet die aktuelle kunsthistorische Forschung zahlreiche Perspektiven auf das produktive Wechselverhältnis von Kleidung, Kostüm bzw. Mode und Kunst. Aufgrund der Fülle an Beiträgen wird an dieser Stelle auf die Erwähnung einzelner Publikationen verzichtet. Nachfolgend seien jedoch für die Analyse der MirakelKostüme relevante Beiträge zitiert. 303 Mohr 2012, S. 221. 304 Mohr 2012, S. 229. Anknüpfend an den Kunsthistoriker Hans Belting verweist Mohr in diesem Zusammenhang auf die Eigenschaft des Körpers als ›Trägermedium‹ mentaler Bilder. Vgl. Mohr 2012, S. 225 u. weiterführend, Belting 2001, S. 13 u. S. 21. 305 Vgl. Rorrison 1986, S. 218.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       85 Plötzlich steht vor mir ein Bischof im vollen Glanz seines steifen Ornats. – Michael Pacher hat ihn 1457 gemalt. [...] Der gepanzerte Ritter, der mir entgegenreitet, verdankt seine Entstehung einer St.-Georg-Statuette des alten Meisters Hans Multscher. [...] Und dann skizziere ich die Frauen mit den wehenden farbigen Schleiern an ihren hohen Henins [sic!] (Spitzhauben). Der Schnitt, das Material ihrer langen Schleppkleider zwingt sie zu Haltungen, die Meister Froissart in seinen Miniaturen verewigt hat.306

Diese anschauliche Beschreibung ermöglicht dem Leser, die farbenprächtige Szenerie in der Olympia Hall bildhaft zu imaginieren. Ausgehend hiervon sollen zunächst anhand einzelner Kostümfigurinen die kunsthistorischen Referenzpunkte aufgezeigt werden, um den Entwurfsprozess von der Bildfindung bis zur Fertigung der Kostüme nachzuspüren. Im Anschluss an Jacky Brattons Konzept der intertheatricality, das die verschiedenen Materialien des Theaters und deren spezifische Medialitäten in das Zentrum der Untersuchung rückt, werden neben den Kostümentwürfen auch Theaterfotografien, Illustrationen aus Magazinen sowie Kritiken hinzugezogen. Dieses Vorgehen ermöglicht es, die Vielschichtigkeit von Produktions- und Rezeptionsprozessen zu beleuchten.307 Dadurch werden zum einen Erkenntnisse über die kulturelle Vorbildung von Produzenten und Rezipienten generiert. Zum anderen erfolgt eine überzeugende Annäherung an das Bild von der mittelalterlichen Welt, welches der Regisseur, der Kostümbildner und das heterogene Londoner Publikum in die Bühnenräume hineinprojizierten. Auf diese Weise kann der Frage nach der Verankerung einzelner Figuren des Mittelalters im kulturellen Wissen jener Zeit nachgegangen werden. Dabei müssen die Kostüme als ein entscheidendes Trägermedium des Bildgedächtnisses begriffen werden. Welche Künstlerpersönlichkeiten wurden besonders häufig rezipiert und in der Mittelalterforschung besprochen? Auch wird die Frage aufgeworfen, inwieweit die Kostüme dazu beitrugen, den Rezeptionsprozess des Publikums in eine bestimmte Richtung zu steuern und ob ein spezifisches kulturelles Wissen für die Erschließung der Zusammenhänge notwendig war. Auf einer zweiten Ebene werden die Kostüme als ein zentrales Element der Spielraumgestaltung betrachtet, die einen wesentlichen Beitrag zu der spektakulären Raumwirkung leisteten. Die nachfolgende Analyse zielt daher nicht auf eine reine Beschreibung der Figurinen, sondern soll Aufschluss über ihre Wirkung und ihre Funktion als Teil des szenischen Gesamtkonzepts geben. Auf diese Weise werden die Kostüme ebenso wie das Bühnenbild, die Beleuchtung oder die Akustik als zentrale Elemente der Szenografie begriffen. Welchen Anteil hatten die Kostüme an der Wirkungsästhetik der opulenten Massenszenen? Inwieweit dienten habituelle Praktiken der Reaktivierung des Wunder-scenario und der Hervorbringung einer ästhetischen Gemeinschaft?

306 Stern 1955, S. 68. Stern zitiert hier aus seinem Tagebucheintrag vom 26.12.1911. 307 Vgl. Bratton 2003, S. 37 f. Siehe hierzu auch Kapitel 1.5.

86       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel

Die Kostüme als Projektionsfläche der Imagination des Mittelalters

Der Kostümentwurf »Raubgraf, Ritter«308 zeigt auf der rechten Bildhälfte den Ritter, der sich am Ende des ersten Akts in die Nonne Megildis verliebt (Abb. 35). Ein filigran gearbeiteter, gotischer Plattenpanzer bedeckt vom Hals abwärts den gesamten Körper der Figur.309 Rote und goldene Applikationen heben sich von dem grau glänzenden Stahl ab. Die Hände sind von Stahlhandschuhen geschützt. In der rechten Hand trägt der Ritter eine rote Lanze, in seiner linken ruht ein Zweihandschwert. Besonders auffällig sind die roten Eisenschuhe, die in ihrer spitz zulaufenden Form an die im Mittelalter modischen Schnabelschuhe erinnern. Die Ähnlichkeit der Gestalt des Ritters mit der Skulptur des Heiligen Georg des Ulmer Meisters Hans Multscher (1400–1467) verweist auf Sterns ausgeprägtes Studium der Vorlage (Abb. 36). Die mit 156 Zentimetern nahezu lebensgroße Schnitzfigur aus Lindenholz befand sich Anfang des 20. Jahrhunderts in der Spitalkirche in Sterzing. Der Heilige Georg kam als vollplastisch gearbeitete Altarfigur auf der linken Seite des figurenreichen Mittelschreins zur Aufstellung.310 Die schlanke Gestalt des jugendlichen Ritters verliert sich unter einer wuchtigen Stahlrüstung, die ihm eine steife Körperhaltung aufzwingt. Im Kontrast zu dieser Strenge stehen die weichen Gesichtszüge, die Multscher als ein Charakteristikum der Sterzinger Figuren ausbildete. In der kunsthistorischen Forschung des frühen 20. Jahrhunderts gab diese Form der Darstellung Anlass für Diskussionen um die Wirklichkeitsnähe der Skulpturen. Franz Stadler (1877–1959) sah in der feingliedrigen Modellierung der Gesichter gewisse Anzeichen einer Belebung: »Die geschnitzten Gesichtsflächen sind bis in die Einzelheiten hinein bewegt und in Bewegung belebt.«311 Helmuth Bossert (1889–1961) attestierte Multscher einen Stilwandel. Der Künstler hätte sich von dem schonungslosen Realismus seiner frühen Schaffensphase entfernt und tendierte mit den Sterzigner Figuren zu einer idealisierenden Schönheitsauffassung: Die Gesichter bestehen aus rundlichen Ovalen, sind jedoch im Einzelnen wenig durchgeformt. Die Falten, die von den Nasen- zu den Mundwinkeln laufen, bilden fast die einzige Modulation. [...] Ein träumerisches-weltabgewandtes Sinnen liegt auf den Gesichtern.312

In der differenzierten Oberflächenbehandlung und Detailpracht der zeitgenössischen Rüstung erreicht die Schnitzkunst Multschers allerdings eine starke Wirkung, die Stern zu seiner Figurine inspiriert haben muss. Für seinen Entwurf kopierte er neben sämtlichen Teilen der Rüstung – wie etwa Schnallen und Schienen – sowie 308 Sofern Bezeichnungen nicht direkt in Entwürfe integriert wurden, handelt es sich bei den meisten Titeln um nachträgliche Ergänzungen, die dennoch die Zuordnung zu einzelnen Figuren erleichtern. Die hier gewählte Benennung folgt der Betitelung durch den Urheber in Stern 1955, S. 57–69. 309 Zu Form, Gebrauch und Geschichte dieser Rüstung vgl. u. a. Ausst.-Kat. Berlin 1992. 310 Multscher arbeitete zwischen 1456 und 1459 am Sterzinger Altar in der Pfarrkirche zu Unserer Lieben Frau im Moos. Seit 1779 ist der ursprüngliche Zusammenhang jedoch nicht mehr erhalten. Siehe hierzu weiterführend Söding 1991, S. 11. 311 Stadler 1907, S. 131. 312 Bossert 1914, S. 72.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       87

Abb. 35: Ernst Stern, Kostümentwurf zu Das Mirakel, London, 1911.

der Lanze auch die Haltung und Frisur des Heiligen. Wie die Szenenfotografie des Schauspielers Douglas Payne (1875–1965) veranschaulicht, wurde nicht nur die Stahlrüstung detailgetreu umgesetzt, sondern Multschers Skulptur im Rahmen der Aufführung auch zum Leben erweckt (Abb. 37): So scheint Stern die starre Pose des Heiligen Georg für die Ästhetik der Pantomime adaptiert zu haben. Zu sehen ist der Schauspieler in einer marionettenhaft übersteigerten Gebärde, die dem wortlosen Spiel in dem gigantischen Aufführungsraum geschuldet war. Durch die schwere Ritterrüstung wurde die Beweglichkeit des Schauspielers in solchem Maß eingeschränkt, dass seine Gesten und Bewegungen hölzern und schwerfällig wirkten. Bereits während der Proben trug der Schauspieler die Rüstung, um möglichst authentische Bewegungsabläufe auszuführen. Stern bemühte sich außerdem um eine originalgetreue Rekonstruktion historischer Waffen und orientierte sich dabei an Albrecht Dürers Studien: »Ich [...] ließ Armbrüste, Hellebarden, Spieße und Zwiehandschwerter [sic!] für die Landsknechte herstellen, es wurden plumpe Geschütze nach Dürerschen Stichen gebaut.«313 Das Kostüm des Bischofs geht auf zwei Hauptwerke des Tiroler Meisters Michael Pacher (um 1435–1498) zurück, aus denen Stern verschiedene Elemente kombinierte.314 Zwar ist die Kostümfigurine heute nicht mehr erhalten, eine Reproduktion der Federzeichnung ist jedoch in einer Ausgabe des Pall Mall Magazine abgebildet (Abb. 38). Dieser Entwurf lässt die bodenlange weiße Albe als Untergewand erkennen, welche im Mittelalter aus Leinen gefertigt und mit Seidenstickereien ge313 Stern 1955, S. 60. Zu Dürers Waffendarstellungen, siehe Müller 2002. 314 Stern bezieht sich auf ein Gemälde aus dem Jahr 1457, das er jedoch nicht genau benennt. Vgl. Stern 1955, S. 68. Bereits die Forschungsliteratur aus der Zeit um 1900 verortet die frühen Werke Pachers erst in den 1460er Jahren. Vgl. hierzu Röttinger 1901, S. 451.

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Abb. 36: Hans Multscher, Heiliger Georg, Sterzing, 1456–1459.

Abb. 37: Emil Otto Hoppé, Rollenporträt, Douglas Payne als »Ritter« in Das Mirakel, London, 1911.

schmückt wurde.315 Darüber trägt der Bischof eine Stola, die mit Kreuzornamenten bestickt ist und deren Enden trapezförmig auslaufen. Ein wesentliches Merkmal des repräsentativen Messgewands bei feierlichen Prozessionen ist das mit Ornamenten reich bestickte Pluviale, das über der Dalmatik getragen und von einer edlen Schließe zusammengehalten wird. Ab 1471 schuf Pacher den Altar für die Pfarrkirche Sankt Wolfgang im Salzkammergut.316 Dieser zeigt auf der Außenseite des rechten Predellenflügels Halbfigurenbildnisse der Bischöfe Augustinus von Hippo (354–430) und Ambrosius von Mailand (339–397) (Abb. 39). Die Kirchenlehrer tragen einen 315 Für eine Beschreibung des klerikalen Ornats im Mittelalter siehe u. a. Miller 2014 u. Geppert 2013. 316 Der aus Schnitzreliefs, vollplastischen Statuen und Tafelmalereien kombinierte Flügelaltar ist das einzige Werk Pachers, das in einem kaum veränderten Originalzustand am ursprünglichen Standort erhalten ist. Vgl. Koller 1998, S. 79–97.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       89

Abb. 38: Ernst Stern (vmtl.), Kostümentwurf zu Das Mirakel, London, 1911.

perlen- und edelsteinbesetzten Bischofsornat sowie die Mitra und aufwändig gearbeitete Bischofsstäbe als religiöse Insignien. Die Goldschmiedearbeiten zieren in der Krümme biblische Szenen und florales Rankenwerk, Heiligenfiguren schmücken zusätzlich den Stab. Wie eine Fotografie der Prozessionsszene zeigt, stattete Stern den Bischof der Mirakel-Inszenierung mit einem ähnlich prunkvollen Krummstab aus und übernahm einzelne Schmuckdetails der Mitra, wie etwa das aufgestickte Kreuz (Abb. 40). Für eine differenziertere Zuordnung der Gewänder muss eine weitere Darstellung der beiden Bischöfe von Pacher herangezogen werden. Auf dem Kirchenväteraltar (um 1480–1483) für die Augustinerchorherrenstiftskirche Neustift bei Brixen sind die Bischöfe Augustinus und Ambrosius nahezu ganzfigurig dargestellt, was ein ausgiebiges Studium der Kleidung erlaubt (Abb. 41).317 So weist Sterns Messgewand in der ornamentalen Gestaltung eine gewisse Ähnlichkeit zur Kleidung des Heiligen Ambrosius auf dem rechten Altarflügel auf: Die Pluviale aus grünem Damast schmückt mit geschwungenem Blatt- und Rankenwerk die typische Formensprache der Gotik. Den Chormantel umläuft eine reich ornamentierte Bordüre in Rot- und Goldtönen und er wird von einer goldenen Brustschließe zusammengehalten.318 Die schwarz-weiße Fotografie der Mirakel-Aufführung lässt lediglich Vermutungen über die Kostbarkeit und Farbigkeit des Bischofornats zu, welche im Hinblick auf die Pracht der Gewänder in Pachers Gemälden aber durchaus anzunehmen ist: Folgt man Sterns Aussagen über die aufwändige Produktion der auf eine enorme Wirkkraft angelegten Kostüme, so liegt nahe, dass er die Leuchtkraft und die Feinabstimmung des Kolorits von Pacher übernahm. Die monumentale Größe der Figuren auf dem insgesamt 216 × 382 Zentimeter großen Werk spricht ebenfalls für den Vorbildcharakter. Durch die starke perspektivische Verjüngung ihrer unmittel317 Zum Bildprogramm des Kirchenväteraltars vgl. u. a. Madersbacher 2010. 318 In der Monografie von Hans Semper könnte Stern eine anschauliche Beschreibung der Gewänder der vier Kirchenlehrer gefunden haben, die ihm auch ausführliche Hinweise zu den verwendeten Stoffen lieferte. Vgl. Semper 1911, S. 45 f.

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Abb. 39: Michael Pacher, Altar von Sankt Wolfgang, rechte Außenseite der Predella: Die heiligen Kirchenväter Augustinus und Ambrosius, 1471–1481.

baren Umgebung erzeugt Pacher eine enorme räumliche Präsenz und starke Plastizität. Die gemalten Figuren scheinen nicht nur durch ihre überwältigende Größe wie lebendige Menschen erfahrbar zu werden, sondern auch durch die plastische Modellierung individueller Gesichtszüge: Die verschiedene Gemütsstimmung der vier Personen kommt außer in ihren Bewegungen, die so voll stärksten Lebens und doch maßvoll sind, in ihren Gesichtszügen zur Geltung. [...] [A]lle scheinen unmittelbar der Wirklichkeit entnommen [...]. Könnten diese vier Männer statt ihrer feierlichen Gewänder solche des profanen Alltagslebens anlegen, so würden wir meinen, ihnen allen im Leben bereits begegnet zu sein.319

Durch das Zusammenspiel von Farbgebung, Lichtwirkung und Perspektive sahen Pacher-Forscher des frühen 20. Jahrhunderts die gelungene »Illusion ihrer körperlichen Wirklichkeit« hergestellt.320 Nicht ohne Grund scheint Stern mit dem Anschein von Lebendigkeit, der den gemalten Figuren schon von der zeitgenössischen Forschung zugeschrieben wurde, zu spielen: In einem modernen Mirakelspiel, dass sich im Kern um die Verlebendigung eines Marienbildnisses dreht, erwachen Skulpturen und Gemälde zum Leben.

319 Doering 1913, S. 83. Siehe hierzu auch Semper 1911, S. 48. 320 Röttinger 1901, S. 451.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       91

Abb. 40: Wilhelm Willinger, Szenenfotografie zu Das Mirakel (Detail), Berlin, 1911–1914.

Wie war es möglich, mithilfe eines Kostüms die wundersame Erscheinung der Muttergottes zu fassen, deren Präsenz über das Körperliche alleine nicht festzumachen ist? Auf welche Weise konnte das Materielle des Kostüms auf etwas Immaterielles verweisen? Obwohl keine Kostümentwürfe vorliegen, lässt sich die Gestaltung des Marienbildnisses auf der Grundlage zahlreicher Fotografien beschreiben. Auch würdigten einige Theaterkritiker die schauspielerische Darstellung durch die Italienerin Maria Carmi und widmeten einige Zeilen der Beschreibung ihres Kostüms. Eine Reihe von Szenenfotografien dokumentieren, wie sie während des ersten und letzten Akts, jeglicher Dynamik entbunden, als Statue in einer anbetungswürdigen Pose ruht (Abb. 42). Die Madonna thront auf einem erhöhten Podest, um auch von entfernteren Plätzen als zentraler Bezugspunkt der Handlung sichtbar zu sein. Ihr Kopf ist leicht geneigt und der Blick auf die von sich gestreckten Arme gesenkt. Sie trägt ein schlichtes, einfarbiges Kleid; das Haar wird von einem Schleier und der Hals von einer Leinenbinde bedeckt, sodass ausschließlich das Gesicht zu sehen ist. Ein überlanger, schwerer Mantel fällt in einem üppigen Faltenwurf über ihre Schultern, unter dem die Körperformen kaum zu erkennen sind. Ihren Kopf schmückt eine

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Abb. 41: Michael Pacher, Kirchenväteraltar, Rückseiten der Flügel: Die vier Kirchenväter, 1480–1483.

auffällige Krone, die die Gottesmutter als Himmelskönigin auszeichnet. Stern ließ das Kleid, welches die Madonna unter dem Mantel trug, bewusst schlicht anfertigen, um den späteren Rollentausch mit der Nonne Megildis rasch auszuführen. Mit dem Ablegen der Marienkrone sowie des prunkvollen Mantels und dem Anlegen des bescheidenen Habits der Nonne vollzog die Madonna den Übergang von der himmlischen in die irdische Sphäre. Anlässlich des Mirakel-Gastspiels in der Wiener Rotunde 1912 schuf der Fotograf Ferdinand Schmutzer (1870–1928) eine Serie von Rollenporträts von Carmi im Kostüm der Madonna, anhand derer sich die detaillierte Gestaltung der Gewänder erschließen lässt (Abb. 43).321 Die goldene Zackenkrone ist aus Lilienornamenten zusammengesetzt und wird von einem funkelnden Edelstein- und Perlenbesatz geschmückt. In der opulenten Fertigung des Mantels drückt sich Reinhardts und Sterns Vorliebe für prunkvolle Materialien und aufwändige Handarbeit aus: Der feste Stoff ist durchgängig mit floralen Ornamenten aus Goldfäden bestickt. Auf dem Mantel liegt eine breite Stola auf, die Heiligenfiguren in Nischen ziert und die vor der Brust

321 Zwar wurde Heinrich Lefler für die Wiener Kostüme beauftragt, doch ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der Mantel aus London wiederverwendet wurde. Der Vergleich der Rollenfotografien lässt keinerlei Unterschiede erkennen, auch fehlt in dem Figurinenkonvolut des Theatermuseums Wien ein entsprechender Entwurf. In seinem Brief an Berthold Held äußert Reinhardt sich mit Unmut darüber, dass Ernst Stern nicht als Ausstattungsleiter engagiert werden konnte, und insistiert mit Nachdruck: »In allen diesen Dingen lasse ich nicht mit mir handeln! [...] Steifer, überaus prächtiger [...] Mantel für Madonna [...]«. Brief von Max Reinhardt an Berthold Held, Jersey, 21.08.1912, Max Reinhardt Archives & Library, Binghamton University Libraries’ Special Collections and University Archives, Binghamton University, R 5983 (O). Siehe auch Reinhardt 1989, S. 187. Zu Leflers Kostümen siehe Planer 1912/13, S. 359 f. Zum Wiener Gastspiel vgl. auch Kapitel 2.2. Zu Heinrich Leflers Namen finden sich unterschiedliche Schreibweisen.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       93

Abb. 42: Wilhelm Willinger, Szenenfotografie zu Karl Gustav Vollmoellers Das Mirakel, Berlin, 1911–1914.

von einer kostbaren Schließe gehalten wird. Der Kritiker Geza Silberer berichtet von der überwältigenden Pracht des Marienbildnisses: Von einem zarten goldenen Gitter umzäunt, sitzt die Madonna auf einem hohen goldenen Thron. Auf dem Kopfe ragt ihr eine lange goldene Zackenkrone. Das edle Antlitz ist dem Kinde zugeneigt, das die geöffneten Arme auf dem Schoß festhalten. [...] Ein goldener Mantel, strotzend, sprühend in seinem Sonnenglanze, fällt von den Schultern, sie allumhüllend, in schrägen steifen Linien nach unten. Der breite Bruststreif ist dunkelblau, tiefsatt-Palma Vecchio-blau.322

In der Wortwahl Varas wird deutlich, dass jene überirdische Erscheinung erst durch das Medium Licht hervorgebracht werden konnte: Unter dem Strahl der Scheinwerfer vermochte sich die ganze Pracht der schmückenden Gewänder zu entfalten. Die Stoffe des Mantels sowie die Edelsteine und -metalle der Krone reflektierten das Licht zurück in den Spielraum und erzeugten dadurch eine erhabene Atmosphäre. Mit dieser Inszenierung rekurrierte Stern auch auf eine spezifische Ästhetik mittelalterlicher Skulpturen: Bei der Fertigung von Madonnenstatuen wurden ähnliche Materialien verarbeitet, damit das Tageslicht in den gesamten Kirchenraum reflektiert wurde. Aufgrund der Kostbarkeit und Leuchtintensität wurde der Farbe und

322 Sil-Vara 1912 (Hervorh. S. B. Q.). Mit der Farbigkeit des Brustbandes verweist der Kritiker auf ein Detail, das sich anhand der überlieferten Quellen nicht nachvollziehen lässt. Der oberitalienische Maler Jacopo Palma il Vecchio schuf sogenannte Sacre conversazioni in lichtdurchtränkten Farben.

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Abb. 43: Ferdinand Schmutzer, Rollenporträt, Maria CarmiVollmoeller als »Madonna« in Das Mirakel, Wien, um 1912.

dem Edelmetall Gold die übernatürliche Kraft zugeschrieben, »die Emanation des Göttlichen als [...] Glanz sichtbar zu machen«.323 Ein eindeutiges Vorbild für das Kostüm der Madonna nennt Stern in seinen Tagebuchaufzeichnungen nicht. Da er sich für die Figuren des Ritters und des Bischofs an Bildwerken Multschers und Pachers orientierte, ist anzunehmen, dass er ebenfalls Marienbildnisse aus diesem geografischen Raum studierte. So rekurrieren die ikonische Haltung und die nach vorne gestreckten Arme auf Darstellungen der thronenden Muttergottes mit dem Kind. Zwischen 1495 und 1498 schuf Michael Pacher einen Flügelaltar für die Franziskanerkirche in Salzburg, der im Zentrum Maria mit dem Christuskind auf dem Arm zeigt (Abb. 44). Die Muttergottes ist in ein prachtvolles goldenes Kleid gehüllt, das ihren Schoß faltenreich umspielt. Ein schwerer Mantel mit einem dunkelblauen Innenfutter umfängt ihre Schultern. Die Mimik der Statue der Mirakel-Inszenierung weist eine besondere Ähnlichkeit zu dem in sich gekehrten Gesichtsausdruck auf, durch den die Pacher-Madonna die Passion Christi vorauszuahnen scheint. Der hochgotische Altar war zu Beginn des 20. Jahrhunderts lediglich als Fragment erhalten. Das Christuskind, das auf dem Schoß von Pachers Madonna sitzt, ist eine Hinzugabe aus dem 19. Jahrhundert. Die prachtvolle Gloriole, die die Figurengruppe umfängt, wurde um 1710 von Johann Bernhard Fi323 Grandmontagne 2009, S. 143. Siehe hierzu auch Krämer 2002.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       95

Abb. 44: Michael Pacher, Fragment der Madonna, vor 1498, Johann Bernhard Fischer von Erlach, Gloriole, um 1710, Johann Piger, Jesuskind, um 1890, Salzburg, Franziskanerkirche, Hochaltar.

scher von Erlach (1656–1723) geschaffen. Die Strahlen des göttlichen Lichts scheinen nahtlos in das goldene Kleid der Madonna überzugehen. Das Zusammenspiel von mittelalterlicher Schnitzkunst und barocker Lichtinszenierung könnte auf Ernst Stern einen besonderen Reiz ausgeübt haben.324 Die Licht- und Materialästhetik lässt außerdem eine Bezugnahme auf den monumentalen vollplastischen Mittelschrein des Altars, den Michael Pacher in Sankt Wolfgang schuf, vermuten (Abb. 45). Die narrative Szene, in der Christus seine Mutter als Himmelskönigin segnet, bot Stern die Gelegenheit, in einer Kirche die Lichtwirkung auf den vergoldeten Schreinfiguren zu beobachten. So schreibt der Zeitgenosse Oscar Doering (1858–1936): »Goldschimmernd strahlt uns in herrlichen, bewegten Linien, in wunderbarem Spiele von Lichtern, halben und ganzen Schatten [...] die köstliche Schnitzerei entgegen.«325 Die Wechselwirkung von der gotischen Kirchenarchitektur mit der Farbgebung und Lichtinszenierung des Altars führe die heilige Szene »wie in einer Vision vor Augen«.326 Diese beschreibt er als eine der Wirklichkeit entrückte Atmosphäre, die Stern für die Inszenierung der Verlebendigung des Marienbildnisses besonders inspiriert haben könnte: »Alles ist Körper, ist Wirklichkeit, und doch ihr entrückt durch die mystische Wirkung des Schauplatzes, der Farben, des schimmernden Goldes.«327 Die Häupter der beiden Figuren schmücken edle Kronen mit einer feingliedrigen Blattornamentik. In ihrer Größe und Pracht weist Sterns markante Krone Übereinstimmungen zu den Figuren Pachers auf. Die zwar etwas grob stilisierte, dennoch gotisierende Lilienornamentik sowie der Edelsteinbesatz sind typisch für spätgotische Darstellungen von Maria als 324 325 326 327

Siehe hierzu weiterführend Fuhrmann 2000 u. Koller 1999. Doering 1913, S. 39. Doering 1913, S. 41. Doering 1913, S. 41.

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Abb. 45: Michael Pacher, Altar von Sankt Wolfgang, Mittelschrein: Christus krönt Maria, 1471–1481.

Himmelskönigin. Spuren des Ausstanzens deuten jedoch auf eine maschinelle Fertigung im Vorfeld der Inszenierung, wodurch sie auch wesentlich leichter gewesen sein muss als eine Originalkrone aus dem 15. Jahrhundert.328 Überdies hüllt Pacher Christus und Maria in lange, goldgefasste Mäntel. Dass der prächtige Umhang der Mirakel-Madonna mit Heiligenbildnissen geschmückt ist, entspricht allerdings nicht der tradierten Marienikonografie. Hierbei handelt es sich um das Pluviale, ein Messgewand der katholischen Kirche, das seit dem Mittelalter von Klerikern zu Andachten, Vespern oder Prozessionen getragen wird.329 Stern nutzte den steifen Mantel, um den Bildnischarakter zu verstärken und die Madonna als zentralen Blickpunkt in der Arena hervorzuheben.

328 Walter Rothes bezeichnet den Altar in Sankt Wolfgang als ein Hauptwerk unter den Marienkrönungen. Vgl. Rothes 1909, S. 91 f. u. S. 212. 329 Vgl. Mayo 1984, S. 147 u. S. 162. Messgewänder sind grundsätzlich Objekte einer longue durée, weshalb sich die Frage nach der Beziehbarkeit klerikaler Ornate aufdrängt. Jedoch gibt es keine Belege, ob Stern ein solch kostbares Kleidungsstück für die Inszenierung in einer Paramentenwerkstatt anfertigen ließ oder ob er das Messgewand aus einem Fundus bezog. Für die stilistische Verortung des Mantels wäre ein Blick auf byzantinische Mosaike der thronenden Gottesmutter lohnenswert. Zwar mutet dieses Vorbild für den Handlungsort der mittelalterlichen Kathedrale zunächst exotisch an, doch Sterns Zeitgenossen, wie der Kostümbildner Léon Bakst und der Modedesigner Paul Poiret, zeigten sich von byzantinischer und orientalischer Kleidung inspiriert. Da dieser Vorbildcharakter nicht durch zeitgenössische Dokumente belegt ist, sei diese Verbindungslinie nur kurz skizziert. Vgl. u. a. Davis 2010, S. 107–152.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       97

Abb. 46: Sandro Botticelli, Maria mit dem Kind und singenden Engeln, um 1477.

Überraschenderweise assoziierten einige Theaterkritiker die Erscheinung der Madonna mit den Mariendarstellungen des Renaissancemalers Sandro Botticelli (1445– 1510). Obwohl die Gestaltung des Kostüms keine nennenswerten Übereinstimmungen mit den Werken Botticellis vorweist und es kaum Sterns Absicht gewesen sein dürfte, in einem hochgotisch gestalteten Aufführungsraum, Assoziationen an italienische Madonnen der Frührenaissance zu wecken, sah der Berliner Theaterkritiker Otto Brandes (nicht ermittelbar) in Maria Carmis Präsentation der Madonna ein Marienbildnis des Florentiner Meisters verlebendigt: Die Gattin des Dichters, Frau Vollmöller, [...] war allein schon durch ihre körperliche Anmut für die Rolle der Maria geschaffen. Wie ein ins Leben getretenes Bild Botticellis erschien sie mir. Nie verließ sie die Anmut. [...] [I]m Minenspiel [sic!] und in ihren zarten Bewegungen drückte sie das Gefühl der allumfassenden überirdischen Liebe [...] in vollkommenster Weise aus.330

Offensichtlich bezog sich jene Referenz weniger auf die äußere Gestalt der Schauspielerin als auf Carmis würdevolle Darstellung des Bildnisses, dem während der Inszenierung, wie dem Anhang des Programmheftes zu entnehmen ist, mit dem lobpreisenden Ave-Maria gehuldigt wurde. Im frühen 20. Jahrhundert waren Charakteristika wie Anmut, Grazie, Güte und Liebreiz bereits geläufige Beschreibungskategorien der Madonnen Botticellis.331 Walter Rothes (1873–1933) bezeichnet sie als die »gefühlvollsten, den Beschauer vielleicht am meisten ergreifenden Madonnen des Quattrocento«.332 Das Tondo Maria mit dem Kind und singenden Engeln aus der Zeit um 1478 zeigt die anmutig thronende Madonna mit dem Kind auf dem Schoß umgeben von acht Engeln (Abb. 46). Die majestätisch strenge Haltung strahlt Eleganz und Würde aus.333 Mit Bezug auf Carmis Herkunft erinnerte sich Stern selbst an die Schauspielerin als ein Sinnbild italienischer Schönheit: »Jene, Frau Carmi,

330 331 332 333

Brandes 1911. Vgl. u. a. Bode 1922, S. 135–149 u. S. 214 u. Ullmann 1893, S. 120–128. Rothes 1909, S. 33. Vgl. die Beschreibung des Gemäldes in Bode 1922, S. 138.

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kam aus Florenz, also aus dem Lande der schönen Madonnen.«334 Er nannte zwar kein konkretes Gemälde Botticellis, doch das oben beschriebene Raczynski-Tondo war seit 1904 als Dauerleihgabe im Kaiser-Friedrich-Museum in Berlin ausgestellt, sodass Stern das Werk vermutlich kannte. Auch ein britischer Journalist der Zeitschrift The Academy and Literature sah eine Verbindung zu Botticelli: Miss Maria Carmi, who took the part of the Madonna, has achieved in this rôle a great success. Her beautiful face represented Botticelli’s conception of the Virgin, and we only wish all these images of the Madonna were half as beautiful. Something of the infinite shone in her face, and that all-knowing smile of hers conveyed not a little of our conception of the Divine Mother.335

Der Eindruck des englischen Journalisten verdeutlicht einen Aspekt, der im nachfolgenden Kapitel zur Rezeption der Inszenierung durch das Londoner Publikum vertieft werden soll: Obwohl sich die Inszenierung auf die Ikonografie einer katholisch geprägten Marienverehrung stützte, die die Glaubensauffassung der anglikanischen Low Church nicht stützte beziehungsweise der Protestanten sogar ablehnte, übte diese spezifische Bildsprache und die überzeugende Präsentation der Schauspielerin trotzdem eine große Faszination auf die englischen Zuschauer aus.336 Einer Berichterstattung des Berliner Tageblatts zufolge soll Reinhardt zunächst in Erwägung gezogen haben, die Statue durch eine Skulptur repräsentieren und lediglich die kurzen Auftritte der lebendigen Madonna von Carmi spielen zu lassen. Doch die Möglichkeit der haptischen Erfahrung, das spannungsgeladene Wechselspiel von Illusion und Wirklichkeit, von Kunstobjekt und leiblich-lebendigem Körper müssen ihn zu seiner Entscheidung für die Schauspielerin bewegt haben.337 Es ist anzunehmen, dass Maria Carmi nur deshalb ihre Rolle so überzeugend spielen konnte, weil sie zuvor die Gestik, Mimik und Haltung der Madonna anhand von Kunstwerken studiert hatte. Wie ein ›lebendes Bild‹ verharrte sie für einen längeren 334 Stern 1955, S. 61. Dieses Zitat spielt vermutlich auf die Schönheit italienischer Frauen an (ital. ›bella donna‹). Dass in dieser Aussage die Bezeichnung ›Schöne Madonnen‹ mitschwingt, scheint zufällig. Ein Vergleich mit der Haltung, der Gewandung und dem Haar des Madonnentypus, der um 1400 in Nordeuropa weitverbreitet war, hat keine Parallelen aufgezeigt. Auch etablierte sich der Terminus erst in den 1920er Jahren als eine feste Beschreibungskategorie der kunsthistorischen Forschung. Vgl. Pinder 1923. 335 The Academy and Literature 1912, S. 121 (zweite Hervorh. S. B. Q.). Przytulski führt eine Aufführungsbesprechung des deutschen Journalisten Karl Breul auf, der sich ebenfalls an ein Gemälde Botticellis in der Londoner National Gallery erinnert fühlt. Siehe Przytulski 2004, S. 72. Wie Fotografien im Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin dokumentieren, fand das Raczynski-Tondo Aufstellung im Raum 38 der Gemäldegalerie und Skulpturensammlung im Kaiser-Friedrich-Museum. 336 Da grundsätzlich Christus im Zentrum der anglikanischen Glaubenslehre steht, gab es seit der Reformation unter den anglikanischen Gruppierungen stets Debatten über die Marienverehrung. Siehe hierzu auch Kapitel 2.1.3 u. weiterführend Greenacre 2013. 337 Für die ›lebenden Bilder‹ spricht Philine Helas von einem spezifischen Kontaktraum von Akteuren und Zuschauern: Er unterscheide sich von demjenigen der Gemälde und Skulpturen darin, »dass die Darsteller denselben Erfahrungsraum, die gleiche Potentialität haptischer Erfahrung mit den Zuschauern teilen«. Helas 2013, S. 92. Siehe weiterführend Helas 1999.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       99

Zeitraum in einer bewegungslosen und anbetungswürdigen Pose. An anderer Stelle wurde bereits auf die lange Tradition des Nachstellens von Bildwerken bis zu den Prozessionen und Mysterienspielen des Mittelalters verwiesen. Als gesellschaftlich anerkanntes Spiel erlebte die theatrale Kunstform im 19. Jahrhundert einen weiteren Höhepunkt.338 Die starre Haltung der Statue widersprach allerdings gänzlich dem neuen Ideal der Reformbewegung, welche die Befreiung des weiblichen Körpers von dem starren Korsett propagierte, und muss deshalb für Maria Carmi eine große Herausforderung gewesen sein.339 Aoife Monks, die die Schauspielergarderobe als einen transitorischen Ort auffasst, bezeichnet das Anlegen des Kostüms als »inward activity [...] suggesting that changes to the exterior of the body have interior effects«.340 Mit dem damit verbundenen Eintritt in die Welt des Stücks finde eine Veränderung des inneren Wesens statt. So erinnert sich ein Journalist, Maria Carmi »komme jedesmal, wenn sie ihre Rolle zu spielen habe und Humperdincks Musik höre, in eine Art Ekstase, die während der ganzen Vorstellung andauere. Und das halte sie aufrecht, obwohl die Rolle übermenschliche Kräfte von ihr fordere«.341 In der Gegenwart des Publikums ereignete sich die Verlebendigung der Statue als eine weitere Aufführung. Dabei wurde die Grenzüberschreitung zwischen dem Repräsentationsstatus des Bildnisses und der eigentlichen Präsenz der Madonna gewissermaßen doppelt inszeniert. Durch Mimik, Pose und Stillstand erstarrte Maria Carmi zu einem lebenden Bild, das von den Zuschauern als bewegungslos wahrgenommen wurde. Unter einem gleißenden Lichtstrahl, welcher zuvor den auratischen Raum der Heiligenstatue markiert hatte, wurden bald Affektregungen, dann Bewegungen des Bildnisses wahrnehmbar. Erst durch die körperlichen Reaktionen der Schauspielerin wurde die statisch fixierte Skulptur überwunden und eine lebendige Frau trat in Erscheinung.342 Es scheint nur folgerichtig, dass Ernst Stern auf verschiedene Skulpturen und Gemälde des 15. Jahrhunderts Bezug nahm, um zentrale Figuren der mittelalterlichen Welt zum Leben zu erwecken und den Verlebendigungsprozess des Marienbildnisses 338 Birgit Jooss differenziert zwischen ›lebendem Bild‹/tableau vivant als Nachstellen eines zweidimensionalen Kunstwerks durch eine Personengruppe und ›lebender Plastik‹ als Nachstellen einer Skulptur durch einzelne Personen sowie ›Attitüde‹ als statuenhaftes Posieren mit Bewegungswechseln. Vgl. Jooss 1999, besonders S. 19–24 u. S. 103–115. An dieser Stelle wird die offenere Bezeichnung ›lebendes Bild‹ bevorzugt. Vgl. hierzu auch Bredekamp 2013, S. 103–112 u. Helas 2013, S. 70 u. S. 74. 339 Dieser neuen Körperkultur entsprachen vielmehr energetische Bewegungen. Vgl. FischerLichte 2005a, S. 62. Siehe weiterführend Welsch 2001, S. 427–435. 340 Monks 2010, S. 17. 341 Berliner Tageblatt 1912. 342 In der venezianischen Barockoper wurde der ambivalente Status zwischen Leblosigkeit und Lebendigkeit auf eine ähnliche Weise ausgehandelt: Angeregt durch die Klänge der Musik erwachten im ballo delle statue antike Skulpturen, verkörpert durch Balletttänzer, zum Leben. Vgl. Heller 2011. Auch wenn nicht geklärt werden kann, inwieweit Reinhardt oder Stern die ›tanzenden Skulpturen‹ des 17. Jahrhunderts kannten, so ist es dennoch bemerkenswert, dass mit der Verkörperung der Statue durch eine Schauspielerin ein sowohl in der kunst- als auch theatergeschichtlichen Tradition tief verwurzeltes Phänomen in Szene gesetzt wurde. Siehe hierzu auch Brandstetter 1997 u. Gross 1992.

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wirkungsvoll in Szene zu setzen. Gezielt wählte er Vorlagen, die durch Farbgebung, Lichtführung und Oberflächenbehandlung eine starke körperliche Präsenz erlangten. Der Lobtopos der Lebendigkeit lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen und fand Anwendung, um die Wirkung von Gemälden und Statuen zu rühmen. Die Kategorie ›lebend‹ impliziert ›leblose‹ Artefakte, die mithilfe künstlerischer Strategien wie verlebendigt erscheinen und durch starke haptische Anreize eine besondere Wirkmacht auf den Betrachter ausüben.343 Die kunstwissenschaftlichen Beiträge zu den bislang untersuchten Vorbildern, die zeitnah zu der Mirakel-Inszenierung erschienen, wurden deshalb dahingehend befragt, inwieweit das Phänomen der Verlebendigung in der damaligen Mittelalterforschung Beachtung fand. Es fällt auf, dass sich in den Monografien zu Multscher und Pacher vermehrt Passagen finden, die Ausprägungen von Individualisierung, Naturbeobachtung oder Wirklichkeitsnähe diskutieren. Im Zentrum von Max Dvořáks (1874–1921) Abhandlung »Idealismus und Naturalismus in der gotischen Skulptur und Malerei« (1919) steht die Erkenntnis, dass die künstlerischen Errungenschaften der Gotik von einem konstanten und spannungsreichen Oszillieren zwischen Idealisierung und Naturwiedergabe geprägt sind. In der Künstlerpersönlichkeit Jan van Eyck (um 1390–1441) manifestiere sich ein Höhepunkt der Naturdarstellung als »ein Stück Wirklichkeit«.344 Hans Semper (1845–1920) sieht in den Charakterköpfen der Kirchenväter auf Pachers Altar in Sankt Wolfgang einen unmittelbaren Bezug zu dem naturalistischen Darstellungsstil des flämischen Malers: »Diese gelblichen, mit grünlichen Halbschatten, lichtbraunen Schatten und weißlichen Lichtern vollendet durchmodellierten Köpfe gemahnen uns direkt an van Eycksche Porträtbilder.«345 Auch wenn hier der Begriff ›Lebendigkeit‹ nicht unmittelbar fällt, erinnert die Beschreibung an den antiken Lobtopos, der in der frühen Neuzeit aktualisiert und seitdem durch die Kunsttheorie weitergetragen wurde. Die Interpretationsansätze Dvořáks und Sempers sind sicherlich auch auf die Methode der Kunstgeschichtsschreibung des frühen 20. Jahrhunderts zurückzuführen, die ein besonderes Augenmerk auf die Einfühlung und den inneren Ausdruck legte.346 In der jüngeren kunsthistorischen Mittelalterforschung werden als wundertätig verehrte Kultbilder häufig auch unter der Kategorie ›Bildmagie‹ gefasst. In diesen Bildwerken wird die Lebendigkeit, unabhängig davon, ob die Bildwerke selbst lebensnah gestaltet sind, durch göttliche Beseelung erreicht.347 Dass die ästhetische 343 In der kunsthistorischen Forschung hat der definitorisch komplex zu fassende Topos der Lebendigkeit in den letzten Jahren eine besondere Beachtung erfahren. Vgl. u. a. Eck 2014; Wenderholm 2013, S. 58–61 sowie die Publikationen von Fehrenbach: u. a. Fehrenbach 2005a u. Fehrenbach 2003a. 344 Dvořák 1919, S. 235. 345 Semper 1911, S. 48. Zu der ausgesprochen wirklichkeitsnahen Bearbeitung der Gesichter vgl. Stiassny 1919, S. 151–155 u. Doering 1913, S. 61. Zu der Frage nach der Lebendigkeit im Rahmen des Paragone zwischen Malerei und Skulptur siehe Preimesberger 1991. 346 Siehe hierzu die Kapitel 1.2 u. 3.1. 347 Zur Kategorie der Bildmagie siehe Wolf 2003 u. weiterführend Wolf 1990. Zur Kultpraxis beseelter Bilder vgl. Bynum 2011, S. 105–112; Hamburger 2009, S. 121 u. S. 136 f. u. Fehrenbach 2003b, S. 152. Zu ›sprechenden‹ Christus- und Marienikonen siehe auch Belting 1990, S. 292–330. Tripps erweitert die Debatte um den Begriff ›handelnde Bildwerke‹, die im Rahmen der Liturgie durch mechanische Einwirkung aktiviert wurden. Vgl. Tripps 2000.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       101

und die religiös konnotierte Kategorie eng miteinander verbunden sein können, verdeutlicht mit Ovids (43 v. Chr.–um 17 n. Chr.) Pygmalion ein Ursprungsmythos. Die Erzählung handelt von der Liebe des Bildhauers Pygmalion zu einer Frauenstatue, die er selbst geschaffen hat. Durch die Einwirkung der Göttin Venus verwandelt sich die Skulptur schließlich in eine lebendige Frau.348 In diesem Spannungsfeld zwischen der Gestaltung einer lebensnahen Statue und der göttlichen Einwirkung muss auch die Verlebendigung der Mirakel-Madonna betrachtet werden. Seit dem 18. Jahrhundert diente das Pygmalion-Motiv als Denkfigur, um eine neue Form der Kunstbetrachtung zu umschreiben: »Ebenso verzückt und inbrünstig, wie der Bildhauer Pygmalion vor seiner eigenen Statue gekniet habe, sollte der moderne Betrachter den Werken der Kunst begegnen.«349 Sobald ein scheinbar lebendiges Bildwerk den Blick seines Betrachters erwidert, entsteht ein ko-präsentisches Interaktionsmoment: »Mit diesem Vorgang versetzt sich der Betrachter in einen Zustand der Liminalität [...][,] in dem das durch seinen Blick belebte Bild seine transformative Kraft entfaltet.«350 Ein besonderes Transformationspotenzial obliegt Bildwerken aus einem religiösen Kontext. So sollte auch der Prozess der Animation des wundertätigen Marienbildnisses die Zuschauer der Mirakel-Inszenierung auf besondere Weise affizieren und in einen Schwellenzustand versetzen. Einige Forschende haben Sterns Kostümentwürfe in einer Tradition mit dem Meininger Hoftheater gesehen. Als Regisseur und Bühnenbildner war Georg II., Herzog von Sachsen-Meiningen (1826–1914), bekannt für das Streben nach einer vollständigen Illusion der historischen Wirklichkeit. Inspiriert von der zeitgenössischen Historienmalerei entwarf er detailgetreue Bühnenbilder und Kostüme und legte dabei ein besonderes Augenmerk auf realistische Größenverhältnisse. Zwar bezeugen die beiden Figurinen des Ritters und des Bischofs ein sorgfältiges Quellenstudium, betrachtet man jedoch die Gesamtheit der Kostüme der Mirakel-Inszenierung, so wird ein eklektisches Vorgehen deutlich: Während Stern sich um ein exaktes Abbild einer spätgotischen Kathedrale bemühte, eröffnet zum Beispiel das Kostüm der Madonna eine ganze Reihe von Bezügen zu Kunstwerken des langen 15. Jahrhunderts.351 Auch der Fokus auf die süddeutsche, österreichische und Tiroler Kunst der Spätgotik scheint zunächst verwunderlich, zumal Stern selbst ein klares Stilprogramm vorgab: »Der gotische Stil des 15. Jahrhunderts, den man ›Flamboyant‹ (flammend) nennt, bot mir die besten Möglichkeiten, starke Bildwirkungen zu erzielen. [...] Und ebenso wild phantastisch wie die Architektur der Epoche war ihre Kleidung. Ein Fiebertraum!«352 Hätten Reinhardt und sein Ausstattungschef eine genaue Wiedergabe 348 Ovid, Metamorphosen Buch 10, V. 247–297. 349 Assmann 2002, S. 216. Vgl. hierzu ausführlich Bätschmann 1997. Siehe weiterführend Stoichita 2011 u. Blühm 1988. Überdies war das Pygmalion-Motiv zentral in Shakespeares Das Wintermärchen, das Reinhardt 1906 am Deutschen Theater inszeniert hatte. Siehe u. a. Assmann 1997, S. 73–87 u. Reichert 1997. 350 Fischer-Lichte 2012a, S. 150 f. 351 Zu Reinhardts Eklektizismus vgl. Marx 2006b, S. 129 u. S. 134; Shewring 1987, S. 8 u. Stefanek 1973, S. 97. Zu der Verbindung zwischen der Theaterästhetik Max Reinhardts und der der Meininger siehe Grund 2002, S. 58–64 u. S. 93–95. 352 Stern 1955, S. 59.

102       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel

des ›Flammenstils‹ intendiert, so hätte Stern streng genommen Vorbilder wählen müssen, die in der Zeitspanne zwischen 1370 und 1500 vorwiegend in Frankreich entstanden waren. Dass sich Sterns Dekorationskonzept jedoch nicht ausschließlich einer geografischen und zeitlichen Stilrichtung unterwerfen ließ, bedarf einer differenzierteren Erörterung. In der Produktionsästhetik, die der Mirakel-Inszenierung zugrunde lag, überlagerten sich unterschiedliche zeitliche Ebenen, verschiedene visuelle Referenzpunkte, kulturelle Ereignisse sowie symbolische Codes. Max Reinhardt und Ernst Stern verwoben in einem kontinuierlichen Prozess der Aneignung und Transformation Vorbilder aus der Skulptur und Malerei, die ihrer eigenen Imagination der mittelalterlichen Welt entsprachen. Wie die vorangegangene Analyse bereits gezeigt hat, erfolgte die Auswahl einzelner Vorlagen nach spezifischen ästhetischen und künstlerischkompositorischen Qualitäten, wie etwa die starke Wirkungskraft, die Wirklichkeitsnähe oder die Lichtreflexe. Darüber hinaus hing die konkrete Auswahl der Vorbilder eng mit Sterns persönlicher Ausbildung zusammen: Die süddeutsche Kunst des Mittelalters muss ein zentraler Lehrinhalt seines Studiums an der Kunstakademie in München gewesen sein. So ist davon auszugehen, dass Stern den Kirchenväteraltar, dessen Fragmente seit 1812 in der Alten Pinakothek in München und zu diesem Zeitpunkt auch in der Gemäldegalerie zu Augsburg aufbewahrt wurden, im Original studiert hatte. Auch wurden ab 1900 eine Reihe von bebilderten Monografien zur Bildschnitzkunst und Tafelmalerei des Mittelalters publiziert, die ein umfangreiches Material für das Studium von Details lieferten und die über die Berliner Bibliotheken für Stern beziehbar gewesen sein müssen.353 Wenige Jahre vor der Premiere der Mirakel-Inszenierung erschien zudem Joseph Brauns (1857–1947) umfassende Abhandlung über die Geschichte und den Gebrauch liturgischer Gewänder. In vielen Großstädten präsentierten die neu gegründeten Kunstgewerbemuseen eine Fülle von Realien, wie liturgische Gewänder, Kopfbedeckungen und Rüstungen.354 Auch ist ein großes Interesse an der Aufarbeitung der Kleidungs- und Kostümgeschichte zu verzeichnen: Zwischen 1907 und 1925 veröffentlichte der Kunsthistoriker Max von Boehn (1860–1932) eine in acht Bänden angelegte Kulturgeschichte der Mode, die mit zahlreichen Illustrationen ein grundlegendes Nachschlagewerk für Kostümbildner dargestellt haben muss.355 In seiner Monografie Das Bühnenkostüm in Altertum, Mittelalter und Neuzeit stellte er nicht nur einzelne Kunstwerke als unverzichtbares Material für die Erforschung des Bühnenkostüms des 14. bis 16. Jahrhunderts heraus, sondern betonte auch die Wechselwirkung zwischen Theater und bildender Kunst:

353 Siehe die mit 143 Aufnahmen und 96 Lichtbildtafeln reich illustrierte Publikation von Wolff 1909. Darauf folgten in kürzester Zeit Mannowsky 1910 u. Semper 1911. 354 Vgl. Braun 1907. Siehe auch Braun 1912. Auch muss berücksichtigt werden, dass die zeitgenössische Mode mit Zitaten auf die Kleidung des Mittelalters rekurrierte. Vgl. Bertschik 2005, S. 91–98. Da eine Analyse der Kostüme hinsichtlich einer Korrespondenz mit dem zeitgleichen Kleidungsstil jedoch zu weit führen würde, sei dies hier nur am Rande erwähnt. 355 Vgl. Boehn 1907–1925.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       103 Memling, van Eyck, Rogier van der Weyden, Heemskerk, van Orley, Mabuse, Petrus Christus, der sogenannte Meister von Flémalle u. a. haben in den Bildern aus der Heiligen Geschichte [...] nichts anderes vor Augen gestellt, als was sie eben auf der Bühne gesehen hatten.356

Indem er die Lektüre schriftlicher Quellen um Vergleichsabbildungen aus der europäischen Kunstgeschichte ergänzte, näherte sich von Boehn auf dieselbe Weise der mittelalterlichen Kleidung an, wie Ernst Stern dies für seine Figurinen tat.357 Die aufwändigen Kostüme regten überdies die Rezeption des heterogenen Publikums in der Metropole London an. Eine entscheidende ästhetische Strategie der Aneignung vergangener Epochen war dabei das Zusammensetzen der Figurentypen, welches nach Peter W. Marx einem programmatischen Eklektizismus folgte: »In contrast to other representatives of the avant-garde Reinhardt did not work out a new system or a strictly new order of theatrical means, rather the hallmark of his style was a profound eclecticism.«358 In seiner Publikation The Haunted Stage. Theatre as a Memory Machine nutzt Marvin Carlson die Metapher des Recyclings, um das Heraufbeschwören von Bildern längst vergangener Inszenierungen im Moment der Produktion und Rezeption einer Aufführung zu veranschaulichen. Die Reaktivierung der Erinnerung an bekannte Schauspieler, die unterschiedliche Rollen verkörpern, oder ein wiederkehrendes Figurenrepertoire stellen jedoch nur einen Teil dieses Recyclingprozesses dar: »Any physical element [...], a setting, a cos­tume, property, or item of scenery, can be and many have been used in more than one production and thus may carry with them certain memories of their previous usage even in a quite different play.«359 Auch Aoife Monks hat über die Frage nachgedacht, inwieweit die Erinnerung an vorangegangene Inszenierungen ein Kostümbild beziehungsweise dessen Wahrnehmung und Interpretation durch das Publikum mitprägen. Im Anschluss an Marvin Carlson kommt Monks zu dem Schluss, dass die Geister anderer Figuren die Rezeption späterer Inszenierungen beeinflussen. Im Vergleich zu Carlson weitet sie ihren Blick über das Theater hinaus auf den Bilderspeicher einer Kultur aus: »The audience’s previous experiences of theatre will enable them to recognise and interpret clothing that they may have never seen beyond stage or screen performance.«360 Mithilfe ihres kulturellen Wissens können die Zuschauer visuelle Codes entschlüsseln und darüber bestimmte Figurentypen wiedererkennen. Sicherlich intensivierten Anleihen der Werke deutscher, österreichischer und Tiroler Künstler wie Pacher und Multscher das Gesamtbild der Szenerie und müssen insbesondere aus Deutschland stammende, kunsthistorisch vorgebildete Kenner 356 Boehn 1918, S. 142 f. 357 Für die Konzeption einer Inszenierung studierte Reinhardt eine »große Menge von Zeugnissen [...]: Sie mögen in die Geschichte, Kulturgeschichte, Kunstgeschichte, in die Kostüm- oder Architekturkunde gehören. In besonderen Fällen [...] Religions- oder Rechtsgeschichte.« Herald 1918, S. 17 f. 358 Marx 2006b, S. 134. Vgl. hierzu auch Marx 2017, S. 107 u. S. 119 sowie Marx 2006a, S. 33. 359 Carlson 2001, S. 119. 360 Monks 2010, S. 21 u. weiterführend S. 120 u. S. 139–143. Zum Konzept des haunting siehe Carlson 2001, S. 1–15 u. im spezifischen Kontext des Kostüms S. 96–130.

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durchaus angesprochen haben. Für das Erschließen des Gesamtzusammenhangs durch das internationale Publikum war ein spezifisches kulturelles Wissen oder gar das Wiedererkennen konkreter Vorbilder jedoch nicht zwingend notwendig. Da die Inszenierung von Anfang an für internationale Aufführungen angelegt war, wurde auf weit tradierte Bilder zurückgegriffen, deren Ursprung auf die Kirchenspiele des Mittelalters selbst zurückgeht: [M]edieval performance emphasised a set of fixed character types through costume that did not vary hugely from year to year. [...] It was less important for theatre costumes to vary [...], than to retain a continuity of representation between performances and between the audience and the belief systems set forward by the texts and repertoire of religious performance.361

Der stereotype mittelalterliche Bildapparat, bestehend aus dem König, dem Ritter, dem Bischof oder der Nonne, repräsentierte die gesellschaftliche Hierarchie und konnte eingeordnet werden, egal, in welcher Stadt die Inszenierung stattgefunden hätte. Die Diskussion um konkrete Periodisierungen wird unter diesem Gesichtspunkt obsolet, weshalb das Figurenensemble zunächst trivial erscheinen mag. Doch gerade für die Reaktivierung und Imagination des mittelalterlichen scenario beziehungsweise des scenario der Wundererscheinung ist die Wiedererkennbarkeit eines im kulturellen Gedächtnis fest verankerten Personals unerlässlich.362 Darüber hinaus ließ die Inszenierung weiterhin Freiraum für die Assoziationen einzelner Zuschauer: Für viele Londoner war Sandro Botticelli vermutlich deshalb ein deutlich wiedererkennbarer Referenzpunkt für das Kostüm der Madonna, weil die National Gallery in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Sammlungsschwerpunkt zur italienischen Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts aufbaute und daher einige Gemälde Botticellis und seines Kreises erwarb, darunter auch Marienbildnisse. Botticellis Werke rückten erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in das Interesse der europäischen Kunstsammler, weshalb sie erst relativ spät in den Kunstkanon aufgenommen wurden und so das Bildgedächtnis prägten.363 Zehn Jahre nach der Premiere von Das Mirakel setzte sich der Schriftsteller Max von Boehn mit der Frage nach dem Abbild vergangener Epochen durch das Bühnenkostüm auseinander. Kostüme »spiegeln den Zeitcharakter in Umriss und Linienführung [...] genügend, um ihn zur Wirklichkeit werden zu lassen«.364 Es bedürfe deshalb lediglich der Andeutung eines bestimmten Zeitalters. In der Optimierung des Kostüms mithilfe neuester technischer Errungenschaften sah von Boehn überdies einen richtungsweisenden Ansatz für die Weiterentwicklung des Theaters: »Die neuen Wege, die Reinhardts Bühnenkunst eben jetzt einschlägt, indem sie das Licht zum formgestaltenden Ele361 Monks 2010, S. 42 f. Siehe auch Harris 1992. 362 Im Sinne Taylors sind jene stereotypen Figuren formulaic structures des scenario der mittelalterlichen Welt. Ihre Wiederverwertung in späteren Aufführungen, selbst wenn die Kostüme Veränderungen unterliegen, ist unabdingbar für die Weitergabe im kulturellen Gedächtnis. Vgl. Monks 2010, S. 142 u. Taylor 2003, S. 28 u. S. 31. 363 Zu den Ankäufen der National Gallery vgl. Horne 1908, S. ix–xv. Siehe auch Assmann 2002, S. 213. 364 Boehn 1918, S. 188.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       105

ment der Szene erhebt [...], werden [...] auch das Kostümproblem in ganz neuem Sinne lösen können.«365 Diese Auffassung entsprach Reinhardts Idee, Klassiker der Theatergeschichte »mit neuen Augen an[zu]schauen, [...] sie aus dem Geist unserer Zeit [zu] begreifen«.366 Mithilfe der aktuellsten Bühnentechnik, wie etwa auch dem Einspielen spezifischer Geräusche oder dem Einströmen prägnanter Gerüche, gelang es dem Regisseur, eine zeitgemäße Aktualisierung der Stücke vorzunehmen, die den Zuschauern zu einem multisensorischen Theatererleben verhalf. Jedes Kostüm wurde also so gewählt, dass es zum einen der Idee einer Figur, zum anderen der ästhetischen Vision einer Szene entsprach und somit die übrigen szenografischen Strategien unterstützte. Zugunsten der effektvollen Inszenierung wurden die historische Akkuratesse bewusst unterlaufen und stereotype Figuren collagiert. Stern setzte also ganz gezielt auf das Prinzip der Übertreibung im Sinne einer Amplifikation des Mittelalters. Dass dabei Farben, Formen und einzelne Details von den Vorlagen abwichen, störte die Gesamtwirkung der Szene keineswegs. Der von einigen Forschern attestierte Eklektizismus beförderte gar die Wahrnehmung der Figuren als Ensemble eines wilden, fantastischen ›Fiebertraums‹. Auf dieses montageartige Prinzip deutet auch eine Anekdote des Produzenten Charles B. Cochran: I remember Percy Macquoid, the authority on costumes and furniture, pointing out that the soldiers in The Miracle carried crossbows, which would have been out of date, because cannons were drawn in the procession. Stern was aware of the anachronism; but, as he said, ›What are a hundred years or so if you get the effect of the Middle Ages?‹.367

Neben der gotischen Imaginationsarchitektur lassen auch die Kostüme der MirakelInszenierung noch einmal über den Historismus-Begriff nachdenken. Es ging Max Reinhardt und Ernst Stern nicht darum, wie die Meininger, ein historisch detailgetreues Abbild der mittelalterlichen Welt zu liefern. Vielmehr wollten sie eine dem Mittelalter wesensgleiche Szenerie hervorrufen, deren spektakuläre sensorische Anreize den Zuschauer zur aktiven Teilhabe aufforderten. Gerade das Bewusstsein, ein Teil von Theater zu sein, beförderte den Anschein, »in ihren Lebensräumen [...] ›wirklichen‹ Menschen aus einer anderen Welt zu begegnen« und »für die Dauer der Aufführung [...] selbst dieser anderen Welt anzugehören«.368 Für den Theaterwissenschaftler Heinrich Braulich birgt jene Grenzüberschreitung von szenischer Welt und Realität eine potenzielle Irritation, hätten doch die Zuschauer selbst mittelalterlich anmutende Kleidung tragen müssen, um die vollkommene Illusion zu wahren.369 Doch gerade über diese Konfrontation bezog Reinhardt die Zuschauer aktiv in das theatrale Spiel ein: »[M]it dem deutlichen Ausstellen der theatralen Mittel wie Kos365 Boehn 1918, S. 188. Vgl. hierzu auch Boehn 1921, S. 440 f. 366 Kahane 1928, S. 119. Anknüpfend an Siegfried Jacobsohn, der Max Reinhardt ›Stimmungsechtheit‹ attestierte, grenzt Uta Grund die Theaterästhetik des Regisseurs von dem Streben der Meininger nach historischer Treue entschieden ab. Vgl. Grund 2002, S. 59–64. Der Aspekt der freien Aneignung von Modegeschichte wird in der Analyse der Figurinen Norman Bel Geddes’ in Kapitel 2.2 vertieft. 367 Cochran 1926, S. 178. Vgl. hierzu auch Marx 2006b, S. 134. 368 Fischer-Lichte 1993, S. 278. 369 Vgl. Braulich 1966, S. 131.

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tüm, Perücke und Schminke [wurde] zugleich unübersehbar auf die Theatralität der Ereignisse hingewiesen.«370 Durch die spielerische Kombination historischer Versatzstücke eröffneten sich historisierende Assoziationsräume, die dem Publikum Freiräume ließen, ein eigenes Mittelalter zu imaginieren. In Reinhardts programmatischem Eklektizismus verbindet sich also ein Bewusstsein für Geschichte mit einem wohlkalkulierten Aufbrechen der historischen Tradition. Kostüm und Masse als Elemente der Szenografie

Sterns Dekorationskonzept zielte auf gewaltige optische Effekte und die spannungsvolle Wechselwirkung von Nähe und Distanz, von Authentizität und Übertreibung. Da einige Szenen auf den Zuschauerrängen spielten, musste einerseits ein größtmöglicher Realitätsgrad erreicht werden: Die Entwürfe sahen deshalb kostbare Stoffe wie etwa Seide und Samt sowie aufwändige Techniken wie Gold- und Silberstickereien vor, deren Verwendung das Publikum im Mittelalter verorten konnte.371 Aufgrund des gigantischen Raumvolumens in der Olympia Hall mussten andererseits die Kostüme besonders hervorgehoben werden. Stern arbeitete also mit grellen Farben, überdimensionierten Formen und auffälligen Schnitten, damit die einzelnen Figuren auch von fernen Plätzen beziehungsweise in großen Menschenmengen wahrgenommen werden konnten: Die Frauen trugen förmliche Spitztürme auf den Köpfen, aus den Riesenhüten der Männer flammten steife Stofffalten in die Höhe. [...] Dazu kam das sogenannte Zaddelwerk, das, gezackt und zerhackt, überreich von den Kleidersäumen und Nähten herabbaumelte. An den Füßen trugen diese papageienbunt gekleideten Menschen Schnabelschuhe mit langen Spitzen. Diese Mode ist teuflisch, fratzenhaft, sie grinst sozusagen, sie höhnt, sie übertreibt maßlos.372

Sterns Zitat rekapituliert das ausgelassene höfische Bankett aus der zweiten Szene des weltlichen Zwischenspiels.373 Die höfische Extravaganz unterstrich Stern durch eine farbenfrohe, zum Teil groteske Kleidung der Damen (Abb. 47 u. 48). Reich ornamentierte Gewänder aus schweren Stoffen, Pelze sowie Perlenschmuck verweisen auf den Wohlstand der Bankettgesellschaft. Besonders betonte Stern die ausladende Kopfbedeckung der Hofdame: Der Hennin besteht aus einem kegelförmigen Gestell und ist mit einem feinen Leinentuch überzogen, welches nach hinten tief herab370 Fischer-Lichte 2005b, S. 17. Fischer-Lichte bezieht sich hier auf eine Strategie der SumurûnInszenierung, die in der Mirakel-Inszenierung ebenfalls zum Tragen kam. 371 Vgl. H. V. M. 1912, S. 110. 372 Stern 1955, S. 59 f. Julius Lessing verwendet die Metapher des Modeteufels im Rahmen seiner Ausführungen über die ökonomischen, gesellschaftlichen und moralischen Veränderungen durch die schnelllebige Modeindustrie. Vgl. Lessing 1884. Die Novemberausgabe der Zeitschrift Simplicissimus des Jahres 1921 ziert eine Karikatur von Olaf Gulbransson, die mit Der Modeteufel betitelt ist und einen weiblichen Akt mit Teufelsattributen zeigt. Die Artikel und Illustrationen karikieren die unaufhaltsamen Wechsel der Moden und die Empfänglichkeit der weiblichen Käuferinnen für diese. Siehe Simplicissimus 26.3 (1921/22): Titelseite. 373 Vgl. Vollmoeller 1912, S. 12 u. Stern 1955, S. 64.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       107

Abb. 47: Ernst Stern, Kostümentwurf zu Das Mirakel, London, 1911.

Abb. 48: Emil Otto Hoppé, Rollenporträt, »Hofdame« in Das Mirakel, London, 1911.

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Abb. 49: Ernst Stern, Kostümentwurf zu Das Mirakel, London, 1911.

fällt. Im Laufe des 15. Jahrhunderts nahm dessen Gestaltung überdimensionale Züge an und Edelfrauen trugen durchaus Kopfbedeckungen von bis zu einem Meter Höhe – eine Tatsache, die sich Stern für die Heraushebung der adeligen Damen in der riesigen Halle zu Nutze machen konnte.374 In der schwungvollen Linienführung, der grellen Farbigkeit, den übertriebenen Gesichtszügen und derben Details – wie etwa die freizügige Darbietung der Kurtisane  – erinnert die Figurine »Hofdame, Kurtisane, Bäuerin« überdies an Sterns Engagement als Karikaturist am Münchener Kabarett Die Elf Scharfrichter sowie seine Illustrationen für die satirischen Zeitschriften Simplicissimus und Lustige Blätter.375 Die Figurine, in der Sterns karikaturistische Kunstfertigkeit besonders deutlich zum Ausdruck kommt, ist die des Spielmanns (Abb. 49): Während die anderen Figuren auf dem Kostümentwurf in einer starren Pose verharren, ist die farbig leuchtende Gestalt des Spielmanns von Bewegung geprägt. Die Hände sind im Begriff, die Querflöte zu spielen, das linke Bein ist zum Tanz erhoben, schwungvoll fällt der schwarze Umhang über die linke Schulter und eine Feder wippt auf dem roten Hut. Eindrücklich verkörpert wurde die zweideutige Figur von dem Wiener Max Pallenberg (1877–1934): Was [...] Pallenberg schuf, war der große Mephisto in der kleinen Gestalt eines Rattenfängers von Hameln. Die Gestalt des Spielmanns [...] war oft dämonisch groß und er-

374 Zur Kleidung als Ausdruck von Macht und Repräsentation im Mittelalter siehe u. a. Keupp 2010. 375 Vgl. Rorrison 1986, S. 218.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       109

Abb. 50: Hans Holbein d. Jüngere, Bilder des Todes: Der Altmann, um 1520–1530.

schütternd, so wenn er die Weise des Todes spielt, oder als Inquisitor das Urteil spricht [...]. [...] Sein Lachen war teuflisch, seine Freudentänze dämonisch.376

Otto Brandes umschreibt die unterschiedlichsten Rollen, in die der Spielmann im Verlauf des Zwischenspiels schlüpft und die zwischen fröhlichem Musikanten und Gaukler einerseits sowie Schicksal und Tod andererseits oszillieren.377 Mit dem Spielmann integrierte Vollmoeller eine Personifikation des Todes in das Stück, dessen Ikonografie auf mittelalterliche Moralitäten und Bildwerke zurückgeht. In der spezifischen Gattung der danse macabre wurde die »Vorstellung vom Tod als erbarmungslose Gestalt, die [...] durch ihre als höllisch charakterisierte Pfeifenmusik alle Menschen ohne Unterschied in einen Reigentanz zwingt« verbreitet.378 Ein Kritiker des Manchester Guardian erkennt in der Figur die »grotesque Holbein Dance-ofDeath figure« (Abb. 50).379 Brandes hat ebenso auf die offenkundige Verbindung zur Sage vom Rattenfänger von Hameln verwiesen, der 1248 eine ganze Kinderschar mit seiner Melodie aus der Stadt geführt haben soll und somit eine durchaus ähnlich konnotierte Bezugsfolie bot.380 So verwundert es nicht, dass die ausgemergelten Gesichtszüge, die Stern auf seinem Entwurf festgehalten hat, an einen Totenschädel gemahnen. Denn in einer der letzten Szenen spielt der Musikant selbst zu einem Totentanz auf, der Megildis ihre verstorbenen Liebhaber ins Gedächtnis rufen soll. Indem die während des weltlichen Abenteuers stets präsente Figur die Bilderfolge des Zwischenspiels einleitete und durch selbige führte, ging Reinhardt über die psy376 377 378 379 380

Brandes 1911. Vgl. Vollmer 2011, S. 391–394; Marx 2006a, S. 142 u. Przytulski 2004, S. 70 f. Wilhelm-Schaffer 1999, S. 267. P. C. 1911. Siehe u. a. Humburg 1990.

110       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel

chologische Entwicklungsdramaturgie hinaus und schuf ein neues dramaturgisches Werkzeug.381 Darüber hinaus wurde die Figur des Spielmanns auch zu einem dynamisch wie akustisch zentralen Bindeglied für das Publikum: Seine eigentümlichen Melodien bereicherten nicht nur das musikalische Spektrum der Inszenierung, sondern bekannte Liedtexte und rhythmische Bewegungen des Reigens regten auch eine aktive Partizipation der Zuschauer an: »Mit seinen Rollenverwandlungen personifiziert er den Schauspieler, der durch sein Musikinstrument Emotionen weckt und Affekte entfesselt und den von der Musik gebannten Zuhörer als einen sinnlichen Menschen zeigt.«382 Über diese von Hartmut Vollmer aufgezeigte Funktion hinaus muss betont werden, dass sich durch die wechselnden Bewegungen, Rhythmen und Melodien des Spielmanns die Raumakustik der Olympia Hall fortwährend änderte und dies die räumliche Wahrnehmung des Publikums entscheidend mitprägte. Ein englischer Journalist betonte, dass die Figur erst innerhalb der sakralen Szenerie zu ihrer vollen Entfaltung kam und stellte das enge Zusammenwirken von Bühnenbild, Kostüm, Beleuchtung und schauspielerischer Leistung in der Mirakel-Inszenierung heraus: »His nimble body, dancing, playing, grovelling, flitted about the vast area [...]. In him was revealed a new kind of Satanic villain, which prayers and bells and all the paraphernalia of the Roman Church only tended to render more realistic.«383 Eine besondere Funktion wurde den Kostümen als raumbildender Mechanismus der effektvollen Massenszenen zuteil. Sterns Bühnenbildentwurf zur ersten Szene veranschaulicht das Zusammenspiel von Raumgestaltung und der kollektiven Bewegung der Schauspieler (Abb. 28): Ein gewaltiger Menschenstrom betritt die Kathedrale, um der Madonnenfigur zu huldigen. So versammelten sich im Spielraum kirchliche Würdenträger in prachtvollem Ornat, Adelige in schillernden Roben, Bürger in farbenfroher Kleidung, Fahnenträger, Nonnen in schlichter Tracht und ärmlich gekleidete Pilger. Otto Brandes’ Beschreibung vermittelt einen Eindruck von der akustischen und rhythmischen Durchbildung des Raums und der atmosphärischen Aufladung der Eröffnungsszene durch die Vielzahl an Akteuren:384 Zweitausend Menschen sind in mittelalterlichen Kostümen in dem hehren Gotteshaus. Betend und singend wogen sie auf und ab. [...] Der erste Akt ist eine überwältigende Symphonie leuchtender Farben und rhythmischer Bewegung. Tief ergreifend in seiner Schönheit ist das Bild der gothischen Kirche, gefüllt von Menschen, während vor dem offene [sic!] Tor noch Hunderte auf dem sanft ansteigenden Hügel des Einlasses harren.385

381 382 383 384

Vgl. Marx 2017, S. 114 u. Marx 2006a, S. 127 f. u. S. 142. Vollmer 2011, S. 394. The Academy and Literature 1912, S. 121. Im Rahmen dieser Arbeit kann nur punktuell auf die akustischen Reize der Masseninszenierung eingegangen werden. Zu den konstituierenden Elementen Rhythmus und Musik vgl. Ségol 2017, S. 90–101; Przytulski 2004, S. 146–155 sowie zum Rhythmus als hypnotisches und körperliches Einschreibungsprinzip vgl. Hiß 2005, S. 180–183 u. S. 188 f. Zum zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs über den Rhythmus-Begriff siehe Streisand 2005, S. 230–233. 385 Brandes 1911.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       111

Abb. 51: Eucharistischer Kongress, Fronleichnamsprozession vor dem Kölner Dom, Köln, 1909.

Dass große Ansammlungen von Menschen eine affizierende Wirkung erzeugen können, ist eine Gestaltungsstrategie, die sich bis zu den prächtigen lebenden Bildern der mittelalterlichen Kirchenspiele zurückverfolgen lässt.386 Ernst beschreibt, wie das Zusammenspiel von liturgischer Zeremonie und symbolträchtiger Kleidung während der Fronleichnamsprozession in Wien eine große Wirkung erzielte: Hinter dem Baldachin mit dem Allerheiligsten ging der alte Kaiser Franz Joseph im weißen Rock, den federgeschmückten Hut in der Hand. Ein glänzendes Gefolge geistlicher Würdenträger und Militärs höchstens [sic!] Ranges schloß den Zug traditioneller Prachtentfaltung.387

Die Anlehnung an Prozessionen zu christlichen Feiertagen eröffnet ein breites Assoziationsspektrum, doch sei an dieser Stelle nochmals auf den Vorbildcharakter des Kölner Doms verwiesen. Die wirkungsvollen Massenszenen der Mirakel-Inszenierung könnten auch auf zwei Ereignisse der jüngeren Kölner Kirchengeschichte rekurrieren: Am 8. August 1909 fand anlässlich des 20. Internationalen Eucharistischen Kongresses eine feierliche Abschlussprozession statt (Abb. 51). Von der imposanten Wirkung der Prozession mit über 40.000 Gläubigen berichtet die Kölnische Zeitung am Tag darauf: Das erste große Erstaunen gilt der Massenwirkung, die um so eindringlicher ist, als sich, sobald man die Prozession von einem festen Standort aus betrachtet, eine Menschenwoge nach der andern aus dem Hintergrunde ablöst und Tausende über Tausende vorüberziehen. [...] Mehr und mehr steigerte sich nun der festlich hohe Eindruck, als der Ordens- und Weltklerus in Ordenstracht oder Chorkleidung vorüberzog.388

386 Max von Boehn bezeichnet diese als »etwas außerordentlich Anziehendes«. Boehn 1921, S. 110. 387 Stern 1955, S. 11. Reinhardt hatte in Österreich zahlreiche katholische Festgottesdienste und Prozessionen erlebt. Vgl. auch Silhouette 2012, S. 325 f. u. Przytulski 2004, S. 74–77. 388 Unbekannt 1909a. Siehe hierzu ausführlich Unbekannt 1909b.

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Zahlreiche Fotografen begleiteten den monumentalen Umzug durch die Innenstadt zum festlich geschmückten Domplatz, sodass die Berichterstattungen sowohl Max Reinhardt und Ernst Stern als auch das internationale Publikum erreicht haben könnten. Außerdem könnte Stern während seiner Recherche zum Kölner Dom auf die reich illustrierten Beschreibungen zum historischen Festzug anlässlich des Domfestes am 16. Oktober 1880 gestoßen sein. Der Umzug führte wichtige Stationen der Geschichte Kölns und des Baus an der Kathedrale im Stil eines riesigen tableau vivant mit zahlreichen historischen Kostümen aus der Zeit der Grundsteinlegung im Jahr 1248 vor Augen (Abb. 9).389 Dass sich Reinhardt in der Eröffnungsszene auf die Reliquienprozessionen und Gottesdienstfeiern an hohen Kirchenfesttagen bezog, blieb schon von den zeitgenössischen Beobachtern, wie dem britischen Journalisten Guy Wilfried Hayler (nicht ermittelbar), nicht unbemerkt. Das eigentliche innovative Potenzial von Reinhardts Masseninszenierung sieht Hayler jedoch in der Verbindung der katholischen Prozessionen mit der Ästhetik der lokalen pageants: Those of us who have seen the religious street spectacles of France, Spain, Italy, and Portugal little thought they contained the germ of ideas which will make the English theatre in the future a vastly different place [...]. The new movement is to make it more a play of pageantry [...] – a sinking of the personal in the interest of the mass. [...] It is to be the era of colour and spectacle.390

Die pageants umfassten Festumzüge und Laienspiele, während derer biblische oder stadthistorische Szenen in oftmals opulenten historisierenden Kostümen nachgestellt wurden. Im Mittelalter weitverbreitet, erfreuten sie sich in England und weiteren englischsprachigen Ländern Anfang des 20. Jahrhunderts einer erneuten Popularität. In ihrem Rückgriff auf eine Tradition vergangener Epochen richteten sich die pageants dezidiert gegen aktuelle Industrialisierungs- und Modernisierungsprozesse. An der Vorbereitung und Aufführung war meist die gesamte Dorfbeziehungsweise Stadtgemeinschaft beteiligt. In diesem tief verwurzelten Gemeinschaftsethos sieht Erika Fischer-Lichte einen der entscheidenden Gründe für die Enwicklung des modernen Massenspektakels in ganz Europa.391 Der spezifische lokale Referenzpunkt bot dem britischen Theaterpublikum eine dezidierte kulturelle Rahmung der inszenierten Gemeinschaftserfahrung, auf die auch ein Rezensent der Times hingewiesen hat: »Every one knows what a ›pageant‹ means [...]. The Miracle is a pageant [...]. [...] We have, therefore, some kind of standard familiar to most by which to measure The Miracle.«392 Die eigentliche Wirkmacht entfaltete die Mirakel-Inszenierung im Wechselspiel der spektakulären Massenszenen und der, wie Reinhardt sie nannte, ›stillen‹ Auftrit389 Vgl. hierzu Hartmann 1980, S. 223–232. Siehe weiterführend Hartmann 1976. 390 Hayler 1912. 391 Vgl. Fischer-Lichte 2005a, S. 90 u. weiterführend S. 90–95. Zur Wiederbelebung dieser Theaterform vor dem Hintergrund des Diskurses der Masse um 1900 siehe weiterführend Esty 2002 u. Ryan 1999. 392 The Times 1911b. Der Verfasser vergleicht die Mirakel-Inszenierungen mit den Werken des Begründers der modern pageants Louis Napoleon Parker. Für diesen Bezugsrahmen siehe auch Vollmoeller 1911, S. 4; Palmer 1912, S. 9 u. P. C. 1911.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       113

te, in denen das Spiel einzelner Schauspieler die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zog. Während der Wundertaten des Marienbildnisses war die Übertragung des Gefühlsausdrucks einzelner Personen auf die Menschenmasse eine entscheidende Strategie der Überwältigung: So war es nötig, [...] zunächst aus der Masse den ganzen Überschwang inbrünstig frommer Ekstase herauszuholen, die aus einzelnen Herzen kommt, sich suggestiv über alle verbreitet und in der allein das ›Wunder‹ [...] möglich werden kann.393

Die ästhetische Erfahrung stellt sich hier als ein verselbstständigter, flüchtiger und körperlicher Prozess dar, der mit dem aus der Medizin stammenden Begriff der Ansteckung zu fassen ist: »Ansteckung im Sinne eines unvermittelten Affiziert-Werdens findet statt [...]. Die Zufälligkeit, die Unmittelbarkeit, die Plötzlichkeit, aber auch die innere Notwendigkeit, die Unvermeidlichkeit müssen in der Begriffsbildung mitgedacht sein.«394 Ansteckung greift immer dort am stärksten, wo große Ansammlungen von Menschen vorhanden sind. Schon Gustave Le Bon (1841–1931) stellte in seiner 1895 veröffentlichten Abhandlung Psychologie der Massen die Gefühlsübertragung als ein für die Masse charakteristisches Phänomen heraus: »Schwinden der bewußten Persönlichkeit, Vorherrschaft des unbewußten Wesens, Leitung der Gedanken und Gefühle durch Beeinflussung und Übertragung in der gleichen Richtung [...].«395 Weiter führt der Psychologe aus, dass sich die Masse insbesondere durch ihre Empfänglichkeit für visuelle Reize konstituiere: Sie könne »nur in Bildern denken und lasse[] sich nur durch Bilder beeinflussen«.396 Mit seinem künstlerischen Interesse an der Arenabühne und seiner Inszenierung einer großen Menschenmenge überführte Reinhardt das durch Industrialisierung und Urbanisierung zunehmend hervorgerufene gesellschaftliche Phänomen der Masse in den ästhetischen Kontext des Theaters.397 Nach Le Bon vermögen effektvolle szenische Bilder in bestimmten Situationen die »Scheinqualität«398 des Theaters aufzuheben: »Manchmal 393 Reinhardt, Max, »Reinhardt über sein ›Mirakel‹ und seine Zukunftspläne. Ein Interview, 1914«, in: Reinhardt 1974, S. 261 f. Vgl. hierzu auch Hoffmann 1966, S. 135. 394 Schaub/Suthor 2005b, S. 9. Für einen anschaulichen Überblick über die Genese des Begriffs in der Medizingeschichte sowie seine Übertragung auf ästhetische Phänomene in der Philosophiegeschichte siehe Schaub 2005b, S. 9–21. Ohne weitere Ausführung hat Huesmann Reinhardts Prinzip als »Steigerung kommunikativer Reizwirkungen durch die Steigerung von Nähe bis an den Rand des Berührungskontaktes« benannt. Huesmann 1983, S. 27. Siehe hierzu auch Fischer-Lichte 2005c, S. 38–41. 395 Le Bon 1982, S. 17. 396 Le Bon 1982, S. 44. 397 Wie in Kapitel 2.1.1 ausgeführt, äußerte sich Reinhardts großes Interesse an Massenphänomenen in seinen Überlegungen zum ›Theater der Zehntausend‹ und der Arenabühne. Mit Blick auf die Fragestellung dieser Arbeit muss auf eine weiterführende Theoretisierung der Masse verzichtet werden. Zu den zeitgenössischen Theorien aus der Soziologie von Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Siegfried Kracauer vgl. Marx 2006a, S. 83–105 u. weiterführend Gamper 2007. 398 Przytulski 2004, S. 112. Przytulski betrachtet die Massenbildung in der Mirakel-Inszenierung im Vergleich zur katholischen Kirche. Ausgehend von Le Bon zieht er insbesondere psychoanalytische und phänomenologische Erklärungsmodelle von Sigmund Freud und Georg Stieler heran. Gerade die Anwendung eines phänomenologischen Ansatzes für die

114       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel

[...] sind die Gefühle, die durch diese Bilder suggeriert werden, stark genug, um wie die gewöhnlichen Suggestionen danach zu streben, sich in Taten umzusetzen.«399 In seinem Regiebuch beschreibt Reinhardt die sich fast ins Unerträgliche steigernde Gefühlsregung der mehr als 2.000 Darsteller, die im Moment der Heilung des Gelähmten durch mediale Effekte verstärkt auf den gesamten Spielraum übergreift: Die Responsionen der Menge werden lauter und inbrünstiger, das ekstatische Summen der Betenden in der ganzen Kirche wächst und schwillt zu einem einzigen, unbestimmten Laut. [...] Eine große graue bewegte, dichte Masse, alle ziemlich nahe dem Boden. Stöhnen, Seufzen, Beten, Gesang schwächer, Beten lauter, Schluchzen, Stöhnen, Wimmern [...] Pause, Starre – um den Lahmen, den Altar ballt sich die Masse zusammen. – Jubelschrei.400

Die starken körperlichen Empfindungen der Wunderheilung wurden so intensiv artikuliert, dass sie von den Zuschauern am eigenen Leib wahrgenommen werden mussten. Im Prozess der Ansteckung bestand die Möglichkeit, dass Akteure und Zuschauer zu einer physischen Einheit verschmolzen, sodass letztere zur aktiven Teilhabe am szenischen Ereignis angeregt waren. Beim Erleben der Wunderheilung und der Reaktionen der Darsteller fühlte sich ein englischer Journalist unmittelbar an Szenen aus Zolas Roman Lourdes erinnert (Abb. 52): »The climax is the cure brought about by the influence of the image, and the exultation of the multitude swaying in such a religious ecstasy as Zola has pictured in scenes at Lourdes.«401 Die kurze Szene wurde vielfach in den Theaterkritiken erwähnt und mit den zahllosen Berichten aus Lourdes in Verbindung gebracht, die in den Medien präsent waren und so das öffentliche Bild von Wundererscheinungen prägten.402 Folglich war Lourdes nicht nur im Hinblick auf die Lichtinszenierung für

399

400

401 402

Untersuchung eines Massenerlebnisses scheint aufgrund der zeitlichen Distanz des Autors zum Theatergeschehen und den involvierten Akteuren eher problematisch. Vgl. Przytulski 2004, S. 110–129. Le Bon 1982, S. 44. Der Vorgang der Suggestion war ein zentraler Diskussionsgegenstand der Medizin, Psychologie und Psychoanalyse um 1900. Definitionsansätze dieser Disziplinen variieren bis heute zwischen Beschreibungen eines Akts des Unterschiebens, der Überrumpelung und der Täuschung. Im Theater des frühen 20. Jahrhunderts fand das Prinzip der Suggestion eine verstärkte Rezeption. Für eine ausführliche Untersuchung dieser Strategie in Reinhardts Masseninszenierungen siehe Przytulski 2004, S. 171–179. Regiebuch zur Londoner Aufführung 1911. Gez. von Reinhardt: Berlin, 1. Dezember 1911, Max Reinhardt Archives & Library, Binghamton University Libraries’ Special Collections and University Archives, Binghamton University. In seiner unveröffentlichten Dissertation hat sich Hoffmann mit dem Phänomen der Masse in Reinhardts Großrauminszenierungen auseinandergesetzt. Seine Analyse dieser Szene basiert nahezu ausschließlich auf Auszügen aus Reinhardts Regiebuch. Vgl. Hoffmann 1966, S. 132 f. Przytulski greift diesen Ansatz auf und kommt dabei zu keinen nennenswerten neuen Erkenntnissen. Siehe Przytulski 2004, S. 68 f. The Athenaeum 1911, S. 827. Vgl. hierzu auch Becker 2011, S. 339. Becker führt weitere Verbindungslinien zu Lourdes an, allerdings nicht um das Massenphänomen, sondern den Wunderglauben im 19. und 20. Jahrhundert zu thematisieren. Auch Przytulski erkennt eine Parallele, führt jedoch weder Belege auf, noch nutzt er diese Erkenntnis für eine weiterführende Analyse. Siehe

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       115

Reinhardt von Interesse. Aus dem 19. Jahrhundert sind zahlreiche Marienerscheinungen und -visionen überliefert, die dazu führten, dass vielerorts in Europa neue Wallfahrtsstätten gegründet wurden. Aufgrund der hohen Pilgerzahlen und der sich rasch weiterentwickelnden Infrastruktur gilt Lourdes als das prominenteste Beispiel des sogenannten ›Marianischen Zeitalters‹.403 Nur zwanzig Jahre nach der ersten Marienvision und deren Anerkennung durch die katholische Kirche entwickelte sich die Stadt zu der zentralen nationalen Pilgerstätte Frankreichs und bald darauf zu einem Ort des modernen Massentourismus: »Unlike premodern sites of Catholic pilgrimage, which reflected locally based devotional practices, Lourdes relied on methods of industrial development to transform a place of local religiosity into an organized mass spectacle.«404 Dies hatte zur Folge, dass die Stadt bereits um 1900 eine halbe Million Pilger zählte, die mit dem Zug aus ganz Europa anreisen konnten. Unzählige Reiseführer, Postkartenserien und Souvenirartikel, wie etwa Votivkerzen oder Quellwasser aus der Grotte, dienten dazu, die Wundergeschehnisse zu verbreiten. Über starke visuelle Anreize sollte ganz gezielt die Kaufkraft der Pilger angeregt und die Wallfahrt als wirtschaftlich ertragreiches Unternehmen etabliert werden: »The new practices and rituals of modern pilgrimage – [...] the routinized spectacles of prayer, procession, and healing – became integral, compelling characteristics of an emerging mass devotional culture.«405 Jene Verschränkung von Religiosität und Konsumkultur rief zahlreiche Kritiker auf den Plan: So lieferte Zolas Roman zwar eine anschauliche Beschreibung der Erlebnisse von nahezu hundert Figuren, doch den Glauben an die Wunderheilung lehnte er ebenso strikt ab wie die Kommerzialisierung der Wallfahrt, die der Autor als moralischen Verfall ansah.406 Trotz lautstarker Vorbehalte entwickelte sich Lourdes Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer der wichtigsten christlichen Pilgerstätten weltweit. Tobias Becker hat argumentiert, dass Lourdes für das Publikum der Mirakel-Aufführung ein entscheidender Anknüpfungspunkt war, weil die jüngsten Ereignisse dort die Vorstellung von Heilungswundern im Wesentlichen mitgestalteten. Etwa durch die Figur des Gelähmten und die Reaktionen der Wallfahrer waren im kulPrzytulski 2004, S. 70 f. u. S. 78. Zur Lichtästhetik der Marienerscheinung und den Illuminationspraktiken am Wallfahrtsort siehe Kapitel 2.1.2. 403 Ausgangspunkt für die Marienverehrung im 19. Jahrhundert war die Verkündigung des Dogmas von der ›Unbefleckten Empfängnis Mariens‹ 1854 durch Papst Pius IX. In dessen Folge sind zahlreiche Marienerscheinungen überliefert, wie etwa in Marpingen in Deutschland (1876/77), das daraufhin als das ›deutsche Lourdes‹ ausgerufen wurde. Auch wurde ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Maiandacht zu Ehren der Muttergottes, der Max Reinhardt Anleihen entnahm, in Süddeutschland und Österreich besonders festlich zelebriert. Vgl. Heinz 2008; Freytag 2006 u. Przytulski 2004, S. 77 f. 404 Kaufman 2005, S. 2. 405 Kaufman 2005, S. 13. Vgl. hierzu auch Jonas 2001, S. 94–119. 406 Vgl. Kaufman 2005, S. 77–81. Kaufman liefert mit ihrer Publikation eine ausführliche Diskussion des wechselseitigen Verhältnisses von religiösem Pilgertum und populärer Konsumkultur in Lourdes und distanziert sich damit von der in der Forschung geläufigen Tendenz, die Pilgerstätte als einen Zufluchtsort der Gläubigen vor dem säkularisierten Alltagsleben zu deuten. Für diese Positionen siehe Harris 1999, S. 247 u. Kselman 1983, S. 198. Eine ähnliche Diskussion wird im Rahmen der Eskapismusdebatte um die MirakelInszenierung in Kapitel 2.3 aufgegriffen.

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Abb. 52: Underwood & Underwood, Szenenfotografie zu Das Mirakel, London, 1911.

Abb. 53: Heinrich Maria Davringhausen, Die Kathedrale von Lourdes II, 1916.

turellen Gedächtnis fest verankerte Strukturen des scenario der Wunderheilung, im Sinne Taylors, wiedererkennbar. Die Visionsberichte sowie die Massenwallfahrt und Andacht folgten einem festgesetzten Ablauf von Frömmigkeitspraktiken, die über Jahrhunderte transportiert und nun in eine moderne, internationalisierte Pilgerkultur übersetzt wurden.407 Auf der Produktionsebene sieht Becker hingegen keine Verbindung: »Nichts deutet allerdings darauf hin, dass Vollmoeller Lourdes vor Augen hatte, als er das Mirakel schrieb, vielmehr studierte er genau die von Caesarius von Heisterbach überlieferte mittelalterliche Legende.«408 Umso überraschender ist 407 Vgl. Seland 2012, S. 85 u. auch Kaufman 2005, S. 13. 408 Becker 2011, S. 339.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       117

sein anschließender Einschub, »dass Legende, Mirakel und Wunderberichte allesamt auf ähnliche Wundervorstellungen zurückgriffen«.409 Gerade weil eine Variation des gleichen scenario vorliegt, war Lourdes für die Produktionsästhetik Reinhardts von großer Relevanz. Andreas Kotulla hat aufgezeigt, dass der Wallfahrtsort durch die populären Marienstatuen, Miniaturnachbauten der Grotte und Großpilgerfahrten des ab 1907 eingetragenen Deutschen-Lourdes-Vereins im Alltag deutscher Katholiken unmittelbar präsent war.410 Diese Präsenz verdeutlicht auch eine Darstellung der Kathedrale von Lourdes II des rheinischen Expressionisten Heinrich Maria Davringhausen (1894–1970) (Abb. 53). Das Gemälde aus dem Jahr 1916 zeigt eine in Grau gehaltene Pilgermenge, die ehrfürchtig vor der Kathedrale niedergesunken ist. Welche konkrete Funktion der Künstler dem in Kriegszeiten in weite Ferne gerückten Wallfahrtsort zuzuweisen versucht, bleibt im Unklaren.411 Trotz des Krieges mit Frankreich zeigt Davringhausen Lourdes als einen gewichtigen Erinnerungsort der katholischen Kirche, der für einen deutschen Künstler keinesfalls an Gültigkeit verloren hat.412 Nicht nur die über Illuminationen und Prozessionen erzeugte Wirkung des Wallfahrtsortes, sondern gerade die strategische Inszenierung des Pilgertums als modernes Spektakel muss auch bei Max Reinhardt einen großen Eindruck hinterlassen haben. Neben dem Einsatz aufsehenerregender visueller Effekte zeichnete sich sein modernes Mirakel-Spiel nicht zuletzt durch werbewirksame Vermarktungsstrategien aus. Mit der Engführung von religiöser Wallfahrt und Massentourismus im frühen 20. Jahrhundert kamen in Max Reinhardts Mirakel-Inszenierung, ebenso wie in Bayreuth, Strategien der Spektakelkultur zum Einsatz. Es verwundert also kaum, dass die Rezeptionsdokumente zum Mirakel und die Berichte von Besuchern der Bayreuther Festspiele von einem ähnlichen Tenor bestimmt sind. So enthüllte Thomas Mann (1875–1955) in seinem 1933 veröffentlichten Essay »Leiden und Größe Richard Wagners« etwa das Massenphänomen Bayreuth als strategische Illusion und wirtschaftliches Kalkül. Das Festspiel sei eine »Orgie des Sinnesrausches« – ein »Theater-Lourdes und Wundergrotte für die Glaubenslüsternheit einer mürben Spätwelt«.413 Vergleicht man Reinhardts Rekurs auf Lourdes mit der Inszenierung Bayreuths als modernen Pilgerort, so muss ein entscheidender Unterschied festgehalten werden: Wagners Festspielstätte wurde schon in den Anfangsjahren als säkularer Wallfahrtsort und der Besuch als Pilgerreise ausgerufen, mit dem Ziel sein Werk als Kunstreligion zu verehren. Max Reinhardts Re-Inszenierung des Pilgerns hingegen stellte eine selektive Aneignung von Bildern, Ereignissen, Medien und Zeremonien dar, die die wirkungsvolle Hervorbringung und kommerziell lukrative Vermarktung seines eigenen, technisch-profanen Theaterwunders garantierten.

409 410 411 412 413

Becker 2001, S. 339. Vgl. Kotulla 2008 u. weiterführend Kotulla 2006. Vgl. Oellers 2014, S. 216 u. Ausst.-Kat. Köln 2014, S. 229, Kat. 113. Vgl. Schreiner 2010, S. 606–611. Mann 1995, S. 51. Siehe hierzu auch Lörke 2010, S. 216 f. Vgl. hierzu auch die Kapitel 1.4 u. 4.1. Hiß bringt Reinhardts und Wagners Inszenierungen in Verbindung, ohne diese näher zu beleuchten. Vgl. Hiß 2005, S. 190.

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Schon aufgrund der Disposition des Spielraums war die Mirakel-Inszenierung auf eine Einheit von Spiel- und Zuschauerraum angelegt. Die schiere Größe des Aufführungsortes, das gewaltige Ausmaß der gotisierenden Bühnenarchitektur und die atmosphärische Lichtregie steigerten die Überwältigungsästhetik: »Ein Teil der gewaltigen Wirkung kommt ja gewiß daher, daß der Zuschauer sich mit den Darstellern in demselben Raum fühlt, daß er die Ereignisse im Dom, nicht vor einem großen Schaukasten miterlebt.«414 In Reinhardts Aussage deutet sich ein neues Theaterverständnis an, das, wie Erika Fischer-Lichte aufgezeigt hat, die Aufführung erstmals als ein Ereignis zwischen Akteuren und Zuschauern begreift. Dieses besondere performative Potenzial tritt häufig dann in Erscheinung, wenn es sich um eine Inszenierung als festliches Spiel handelt, in dem den Körpern der Schauspieler und der Zuschauer eine raumbildende Kraft zugesprochen wird: Thus, it is the bodies performing in space which constitute theatre – the bodies of the actors moving in and through the space and the bodies of the spectators experiencing the spatial dimensions of their common environment, the particular atmosphere of the space they share and their response to the bodily presence of the actors that articulates itself in particular physiological, affective, energetic and motoric impulses.415

So führte nicht nur die Verschränkung von Aktionsraum und Auditorium zu einer sich fortwährend wechselnden Perspektive, sondern die permanente Bewegung der Darstellermenge machte den Zuschauern auch die eigene Teilhabe an der Inszenierung physisch bewusst. Auf diese Weise konnte eine körperliche Verbindung zwischen allen anwesenden Personen hergestellt werden, die bestimmte Affektregungen evozierte, ohne dass eine semiotische Entschlüsselung der Figuren zwingend notwendig war.416 Die raumbildende Funktion, die Fischer-Lichte den Körpern und der Bewegung der Menschenmenge zuweist, soll um die Komponente des Kostüms erweitert werden, da sie an diesem Prozess als starker visueller Reiz beteiligt waren. Anknüpfend an Richard Wagners Idee des Gesamtkunstwerks entfaltete die Inszenierung im Zusammenspiel von Raumgestaltung, Licht, Musik, Geräuschen, Gerüchen sowie den Kostümen und der Bewegung der Schauspieler eine starke Wirkmacht, sodass die Zuschauer abseits der realen Lebenswelt für eine außeralltägliche Erfahrung sensibilisiert wurden.417 Der sakrale aufgeladene Spielraum fungierte in jenen Momenten der Liminalität als Schwelle zu einer Sphäre der Transzendenz, in denen »mittels symbolischer Ausdrucksformen und ritueller Handlungsformen« Spuren des Erhabenen und Heiligen erfahrbar werden konnten.418 Vergleichbar mit 414 Reinhardt, Max, »Reinhardt über sein ›Mirakel‹ und seine Zukunftspläne. Ein Interview, 1914«, in: Reinhardt 1974, S. 262. 415 Fischer-Lichte 2005a, S. 26. Erika Fischer-Lichte verortet dieses performativ geprägte Theaterverständnis in der Rezeption der Ausführungen Friedrich Nietzsches zum Prinzip des Dionysischen. Vgl. hierzu auch Kapitel 1.3. 416 Vgl. Fischer-Lichte 2005a, S. 62 f. 417 Vgl. hierzu Fischer-Lichte 2005b, S. 19 u. Hiß 2005, S. 185 u. S. 189. Zu Richard Wagners Gesamtkunstwerk siehe auch Kapitel 1.4. 418 Schuler 2007, S. 91. Eine ausführliche Erläuterung des Begriffs der ästhetischen Schwellenerfahrung in Bezug auf die Ritualtheorien Arnold van Genneps und Victor Turners sowie

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       119

Reaktionen des Staunens, der Andacht, Ergriffenheit oder gar Ekstase der Pilger in Lourdes bestand die Möglichkeit, dass ein Transformationsprozess des Theaterpublikums stattfand. Besonders in den als festliches Spiel angelegten Inszenierungen war eine Einbindung des Publikums in das theatrale Geschehen durch den Regisseur intendiert: Am Abend, im Augenblick der Empfängnis, erheben sich Schauspieler und Zuschauer unversehens vom Boden der Wirklichkeit und umfangen sich geistig, seelisch, auch körperlich. [...] In diesem Augenblick, in dem der Schaffende zugleich empfängt und der Empfangende mitschafft, wird das kostbare und unvergleichliche Geheimnis des Theaters geboren.419

Michael Gamper definiert das Phänomen ›Masse‹ als eines in einem ereignishaften Prozess hervorgebrachtes: »Die ›Masse‹ ist als konkrete Erscheinung nie von Dauer, sie vermittelt sich stets nur in der Performanz ihres momentanen Zusammenund Auftretens.«420 Damit aus einer heterogenen Ansammlung von Schauspielern und Zuschauern überhaupt eine Einheit entstehen kann, muss der Regisseur auf kulturelle Praktiken zurückgreifen. An diese notwendige Bedingung für die Ausbildung eines theatralen Codes einer Masseninszenierung, die Fischer-Lichte an anderer Stelle formuliert hat,421 lässt sich Diana Taylors Konzept des scenario anschließen: »[Scenarios] are passed on and remain remarkably coherent paradigms of seemingly unchanging attitudes and values. Yet, they adapt costantly to reigning conditions.«422 Die Wiederholung bestimmter Körpersprachen, körperlicher Praktiken, akustischer Vorgänge und Interaktionen von Akteuren, die sich an Riten und Zeremonien religiöser Gemeinschaften orientieren und in Form des Repertoires von Generation zu Generation weitergegeben werden, sind eine wesentliche Voraussetzung für die Wiedererkennbarkeit etwa der scenarios der Marienerscheinung und Wunderheilung. Im folgenden Kapitel wird mit einem dezidierten Fokus auf die Rezeptionsdokumente eine Annäherung an die Frage nach der Wirksamkeit der Reinhardt’schen Überwältigungsästhetik erfolgen: Welche Rückschlüsse lassen die Rezeptionsdokumente zu den Reaktionen des Londoner Publikums auf die Wunderinszenierung zu? Inwieweit wurden die Zuschauer als eine theatrale Gemeinschaft selbst zu Mitspielern des modernen Mirakelspiels?

419 420 421 422

deren spezifische Theoretisierung für die Theaterwissenschaft durch Erika Fischer-Lichte findet sich in Kapitel 1.3. Reinhardt, Max, »Rede zum 25jährigen Jubiläum der Gründung der Schauspielschule des Deutschen Theaters Berlin, 1930«, in: Reinhardt 1989, S. 433. Vgl. hierzu auch »Max Reinhardt im Gespräch über seine Massenregie. 1914«, in: Fuhrich/Prossnitz 1993, S. 76. Gamper 2007, S. 20. Vgl. Fischer-Lichte 1988, S. 193. Taylor 2003, S. 31.

120       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel

2.1.4 ›Kirchenstimmung‹ und Sinnesrausch – Das Mirakel im Spiegel der Kritik Die Londoner Tagespresse begleitete die Vorbereitungen für die Uraufführung am 23. Dezember 1911 mit großer Spannung und schürte durch Superlative eine hohe öffentliche Erwartungshaltung. Als eine wohlkalkulierte Werbestrategie wurde den Journalisten vorab ein Blick auf die gigantischen Dimensionen der Inszenierung gewährt. Nach der selbstbewussten Ankündigung, alle bisherigen Spektakel, die zahlreiche Besucher in die Olympia Hall gelockt hatten, übertreffen zu wollen, verwundert es nicht, dass die Premiere von Reinhardts Inszenierung die Schlagzeilen in den Morgenausgaben dominierte. Sowohl die großen Londoner Zeitungen als auch die Lokalpresse aus ganz England druckten Aufführungsbesprechungen; die Berliner und Wiener Presse entsandte Korrespondenten nach London, um von dem Ereignis zu berichten, da man zu diesem Zeitpunkt zumindest in Berlin noch nicht von einem Gastspiel ausging. Nur wenige Wochen nach der Uraufführung, am 14. Januar 1912, veröffentlichte gar die New York Times eine mehrspaltige Berichterstattung, wodurch die internationale Tragweite des Unternehmens deutlich wird.423 Dieser Untersuchung liegt also ein vielschichtiger Bestand an Dokumenten zugrunde, die die unmittelbaren Reaktionen im Anschluss an eine Vorstellung einfangen. Dabei drückt der Gesamteindruck des Berichterstatters der Zeitschrift The Academy and Literature den allgemein enthusiastischen Tenor der Rezensionen aus: »›The Miracle‹ is a stupendous spectacle. Never before has stagecraft produced such a triumph, to which music and colour, dance and song, the spiritual and the sinister, and, greatest marvel of all, the tense, surging crowds all contributed.«424 Für zahlreiche Theaterkritiker wiesen die Ereignisse in der Scheinkathedrale aus Gips weniger auf eine sakrale Sphäre als auf ein Wunder der Ausstattungskunst und der Bühnentechnik: Wir wollen es genießen als Fest für das Auge. An-Schauen ist hier Pflicht, nicht An-denken! [...] Nicht das religiöse Wunder, vielmehr das Wunder einer phänomenalen Ausstattung und Aufführung lag ihnen am Herzen. [...] Wir alle sind im Grau der Großstadtgassen sinnenblind geworden. Max Reinhardt will uns die Freude an den Erlebnissen des Auges wiedergeben. Das ist sein eigentliches Wunder!425

Diente die christliche Legende Reinhardt also lediglich als Vorwand für ein »Effekttheater«426, das die Wahrnehmung der Zuschauer in einem Übermaß anregen sollte? Der Theaterhistoriker John Elliott hat Das Mirakel in der Tradition des englischen Unterhaltungstheaters verortet und die große Popularität sogenannter religious spectacular im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert beleuchtet: »[T]hese plays tried to bring back at least some hint of the supernatural into a theatre dominated by 423 Vgl. The New York Times 1912. Der Verfasser bezieht sich in seinem Bericht auf das englische Presseecho. 424 The Academy and Literature 1912, S. 121. 425 Großmann 1912, S. 181. Vgl. hierzu auch Becker 2011, S. 358. 426 Stefanek 1973, S. 92.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       121

realism, although in most of them the miracles of religion took second place to the miracles of modern set-design and lighting.«427 Die Olympia Hall bot für Reinhardts ästhetische Verschränkung von Religiosität, Technik und Kommerz eine spezifische kulturelle Rahmung, weshalb das Publikum eine Inszenierung mit Show-Charakter, besonders von einem Show-Veranstalter wie Cochran, durchaus erwartete und diesen im Rezeptionsprozess auch mitdachte.428 Tobias Becker betrachtet die Inszenierung als einen Kulminationspunkt im spannungsvollen Wechselspiel von Wunder und Wissenschaft, Religion und Rationalität, Transzendenz und Technik. Seine Analyse konzentriert sich zum einen auf die Übernahme bestimmter Motive und Praktiken der religiösen Wundererscheinung im Narrativ der szenischen Handlung und der sich daraus ergebenden Rezeption, wie etwa die Instrumentalisierung als religiöses Stück. Zum anderen beleuchtet er die Rezeption als Theaterwunder, die auf der technisch spektakulären Raum- und Masseninszenierung basierte. Aus der Gegenüberstellung unterschiedlichster Begriffe, Vorstellungen und Deutungen des Wunderdiskurses im frühen 20. Jahrhundert filtert Becker ein Überlagerungsmoment: »[S]o, wie das religiöse Wunder bestimmter, wenn auch einfacher Techniken (Gebete, Rituale, Handauflegen, Heilwasser etc.) bedarf, so verweisen technische Wunder stets über sich selbst hinaus auf das Unerklärbare und Phantastische.«429 In der folgenden Analyse wird der Blick auf die Wirkungsästhetik gerichtet, die sich aus dem spezifischen Spannungsverhältnis zwischen religiöser Wunderinszenierung und Theaterwunder ergab. Dabei wird die von Becker herausgestellte Überlagerung des religiösen Wunders und des Theaterwunders weitergedacht. Es wird von der Annahme ausgegangen, dass in Reinhardts Re-Inszenierung des religiösen Marienwunders eine säkulare Inszenierungspraxis religiös aufgeladen wurde, um die Aufführung selbst als Theaterwunder hervorzubringen. Dabei waren die Strukturen des Wunders bereits in der Aufführung angelegt. Ausgehend hiervon soll nicht ausschließlich die sakrale Atmosphäre, die aus den Kritiken abzulesen ist, betrachtet werden. Vielmehr gilt es den von Matthias Warstat und Erika Fischer-Lichte geprägten Begriff der theatralen Gemeinschaft zu hinterfragen, um die von Reinhardt intendierte Rezeptionshaltung aufzuschlüsseln. Es wird die These zur Diskussion gestellt, dass in dem Moment, in dem sich eine Inszenierung Bildern, Praktiken und Stimmungen bedient, die allgemein als religiös rezipiert werden, durchaus eine Überlagerung von festlicher Theatergemeinschaft und religiöser Gemeinschaft stattfinden kann. Im Anschluss an diese Überlegungen soll der Fokus auf die Rezeption der Inszenierung durch spezifische Glaubensgemeinschaften ausgeweitet werden. In diesem Zusammenhang wird auch der Stellenwert von Religion in der säkularisierten Metropole London zu berücksichtigen sein. Der Literaturwissenschaftler Niklaus Largier hat asketische Gebets- und Meditationspraktiken als Techniken der Imagination untersucht, durch die ein Rückzug 427 Elliott 1989, S. 48. Vgl. hierzu auch Stefanek 1973, S. 78–81 und Braulich 1966, S. 123 f. Siehe weiterführend Booth 1981. Zur Popularität visuell spektakulärer Unterhaltungstheater in Europa siehe Leonhardt 2007 u. Schwartz 1998. 428 Vgl. Marx 2012, S. 14. 429 Becker 2011, S. 359. Siehe weiterführend Gall 2011.

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aus der alltäglichen Wirklichkeit vollzogen und ein neuer mentaler Raum generiert wird. Die Wiederholung einer schematischen Abfolge von Mustern während des Gebets sei eine notwendige Bedingung für die Aktivierung dieses Abkehrprozesses: Prayer is intimately connected with the production of exemplary images, [...] with a mechanical art of engaging the imagination and the affects. [...] [Medieval mystical and ascetic treatises – S. B. Q.] construct a formal pattern, a schematic approach that guides the act of prayer and emphasizes a rhythmical element and a framework devoid of meaning.430

Ausgehend von den Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola (1491–1556) zeigt Largier auf, dass das Wiederholen dieser Praktiken einen neuen spirituellen Wahrnehmungsmodus hervorruft: »[T]hey shape the body and the soul, providing it ultimately with a new habitus of the perception of the world.«431 Für die nachfolgende Analyse der Rezeptionsdokumente der Mirakel-Inszenierung erweist sich die Verknüpfung von Largiers Begriff des Musters mit dem Konzept des scenario als besonders ertragreich, da Taylor ebenfalls den Fokus auf die Reaktivierung, Wiederholung und Variation vorgefundener Strukturen legt: »A theatrical scenario [is] structured in a predictable, formulaic, hence repeatable fashion.«432 Mit dem Marienwunder griff Max Reinhardt ein scenario auf, das seit dem Mittelalter im katholischen Diskurs fest verankert war, und nutzte dieses kulturelle Wissen als eine zentrale Strategie, um die Wahrnehmung und Vorstellungskraft des Publikums anzuregen. Der Regisseur orientierte sich dabei ebenso an Mustern, die durch Visionsberichte, Kunstwerke und das liturgische Zeremoniell im christlich-kulturellen Gedächtnis überliefert waren: tradierte Kirchenlieder, vertraute Geräusche wie Orgelspiel und Glockenläuten, der Geruch des Weihrauchs, die Lichtinszenierung, die Beseelung einer Statue sowie die Ekstase der Masse. Reinhardt reaktivierte diese Muster für sein Theaterwunder, um in der Scheinarchitektur der Kathedrale einen Erfahrungsraum zu erzeugen, der an reale Kirchenräume gemahnte und das Sinnesspektrum des Publikums ansprach. Je sensibler der betrachtende Mensch ist, desto deutlicher und vielfältiger wird für ihn der durchsichtige Schatten d[er] Stimmung, in welcher die eigentliche Essenz der einzelnen Dinge über ihnen selbst zu schweben scheint [...]. In der Kunst [...], [...] das wechselnde Spiel der Stimmungen in die Zuschauer zu schicken [...], ist Reinhardt groß.433

Mit dieser Beobachtung machte Hugo von Hofmannsthal auf Reinhardts charakteristisches Regiepotenzial aufmerksam, eine besonders wirkungsvolle Atmosphäre und eine spezifische Affekterregung beim Publikum hervorzurufen. Mehr noch umschreibt das Zitat eine Atmosphäre des Erhabenen – des sich über den Dingen Befindlichen. So wird seine Aussage als ein Impuls genommen, um der spezifischen 430 Largier 2008, S. 85 f. 431 Largier 2008, S. 78 (Hervorh. N. L.). Zu der Frömmigkeits- und Imaginationspraxis der frühen Neuzeit siehe weiterführend u. a. Göttler 2010. 432 Taylor 2003, S. 13. 433 Hofmannsthal 1979/80, S. 315 f.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       123

Wirksamkeit der Mechanismen zur Inszenierung des Heiligen nachzuspüren. Sabine Schouten, die Atmosphäre als eine räumliche Dimension und Stimmung als eine Form des subjektiven Erlebens definiert, hat aufgezeigt, dass in den Theaterkritiken um 1900 die beiden Begriffe meist gleichbedeutend verwendet wurden, wobei der Stimmungsbegriff häufiger zu verzeichnen sei. Die Kritiken zu den Reinhardt-Inszenierungen stellen »einen wahren Fundus historischer Atmosphären-Erfahrungen dar. [...] So wird das räumlich Erspürte hier zum wesentlichen Beschreibungskriterium«.434 Auch die Kritiker der Mirakel-Inszenierung versuchten, die Gesamtatmosphäre mit den Attributen der Sinnlichkeit, Festlichkeit und Außeralltäglichkeit in Worte zu fassen.435 Über eine atmosphärische Schilderung der Raumgestaltung sollte die feierliche »Kirchenstimmung«436 für die Leser fassbarer werden. Sie legten dabei ein besonderes Augenmerk auf die starke sinnliche Qualität der einzelnen Gestaltungselemente in der Eröffnungsszene: »The dim light of the building, the faint smell of incense, and the low, solemn music from the organ lent a mysterious atmosphere to a ceremony about to be performed.«437 Die deutlichen architektonischen, sinnlichen und symbolischen Referenzen auf den Schauplatz Kirche erzeugten eine sakral aufgeladene Atmosphäre. Doch erst durch die ungewöhnliche Platzierung des Publikums entfaltete die Szene ihre volle Wirkung. Ein Berichterstatter des London Standard umschreibt das ausdrücklich erwünschte Partizipationspotenzial: In den vielen Besprechungen und Kritiken der gestrigen Blätter wurde des wunderbaren Schauspiels im Schauspiel eigentlich am wenigsten Erwähnung getan, nämlich des Publikums, das sich im Innern der gewaltigen Kathedrale versammelte [...]. [...] Als darum die Tausende [sic!] am Sonnabend ins Olympia strömten, schien das kirchliche Element am meisten zu ihnen zu sprechen. [...] [D]ie dunklen Gestalten, die inmitten des gewaltigen feierlichen Schiffes knieten, schienen nur ein Bestandteil der ganzen großen Versammlung.438

So wie eine Gemeinde der Gottesdienstfeier folgte, sollten die Zuschauer als Zeugen der feierlichen Zeremonien und der Wunderheilung »sich eins mit den Betern

434 Schouten 2007, S. 184. Zum Stimmungsdiskurs um 1900 siehe weiterführend Thomas 2010. Zum Atmosphäre-Begriff siehe auch Kapitel 1.2. 435 Vgl. hierzu auch Fischer-Lichte 2005b, S. 19. 436 Großmann 1912, S. 178. Zwar wurde der Artikel im Umfeld der Wiener Inszenierung, die am 17. September Premiere feierte, veröffentlicht, diese Bezeichnung hallt jedoch auch in Silberer, Geza Besprechung der Londoner Inszenierung für die Neue Freie Presse Wien nach. Vgl. Sil-Vara 1912. 437 H. V. M. 1912, S. 111. 438 Unbekannt, in: The London Standard, o. D., zit. n. Leipziger Neueste Nachrichten 1913. Anlässlich des örtlichen Gastspiels im September 1913 veröffentlichten die Leipziger Neuesten Nachrichten Auszüge der englischen Presse zur Londoner Uraufführung in deutscher Übersetzung. Als Werbemaßnahme für die Leipziger Inszenierung und um die Aufmerksamkeit der Leser zu gewinnen, wurde ein besonderes Augenmerk auf die Beschreibung der Atmosphäre gelegt.

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fühlen«.439 In seiner Untersuchung der Mirakel-Inszenierung hat Gerhard Przytulski die Überlegung angestellt, dass das Verstehen der christlichen Legende eine in besonderem Maße einheitsstiftende Wirkung auf das Publikum ausübte: »[A]uch der Teil des Publikums, der dieser Glaubensgemeinschaft nicht angehörte, dem konnten sich Reinhardt und Vollmoeller sicher sein, würde dieser christlich-humanen Botschaft nicht ablehnend gegenüberstehen.«440 Allerdings zielte Reinhardts Idee des festlichen Spiels weniger auf die Lesbarkeit theatraler Zeichen als auf die Affizierung der Wahrnehmung und die Hervorbringung von Atmosphäre. Das intensive räumliche und leiblich-affektive Theatererlebnis sollte eine Einheit zwischen den Akteuren und Zuschauern herstellen.441 Die übereinstimmende Meinung der Kritiker zeigt, dass insbesondere die Gestaltung des Raums durch Licht, Farbe und Musik sowie die Bewegung der Massen die mystisch erhabene Atmosphäre eines sakralen Raums evozierten. Das auf einer Überwältigungsästhetik fußende Inszenierungskonzept erreichte selbst Zuschauer, die an eine christliche Botschaft gar nicht glaubten und somit bestimmte Symbole oder Zeremonien nicht entschlüsseln konnten. Eine große Wirkung wurde allein schon dadurch erreicht, dass Erinnerungen an die überwältigende Architektur gotischer Kathderalen geweckt wurden. Auch Zuschauer ohne einen Bezug zum christlichen Glauben konnten sich deshalb dem Prinzip der Affizierung und Ansteckung auf einer sinnlichen und körperlichen Ebene nicht entziehen. Folglich zielte die Mirakel-Inszenierung nicht darauf ab, eine christliche Heilslegende zu vermitteln, sondern eine Schwellenerfahrung freizusetzen, die Gefühle von Ergriffenheit, Feierlichkeit und Transzendenz auslösen konnte. Diesen liminalen Gefühlszustand, in den sich die Zuschauer in Reinhardts Masseninszenierungen versetzt fühlten, bezeichnet Fischer-Lichte als theatrale Gemeinschaft: Reinhardt-style devices [...] were able to bring a community of actors and spectators into existence by marking the performance space as a common space shared by actors and spectators, by allowing the spectators to immerse themselves in a particular atmosphere, by circulating energy between actors and spectators, by transferring it from the actors on to the spectators – by opening up the possibility of shared, lived experiences.442

439 Brandes 1911. In einer Reihe von zeitgenössischen Berichten verstärkt die Verwendung der personalen Erzählform den Eindruck der unmittelbaren Partizipation. Vgl. The Athenaeum 1911 u. Carter 1914, S. 225. 440 Przytulski 2004, S. 72. Der Literaturwissenschaftler Hartmut Vollmer nimmt über weite Strecken eine religiös-moralische Ausdeutung der Handlung und der Figuren im Sinne eines »bildhaften, gleichnisartigen Lehrstücks« vor, die jedoch für die Wirkungsästhetik der Inszenierung nebensächlich erscheint. Vollmer 2011, S. 388 f. Siehe auch Stefanek 1973, S. 92. 441 Vgl. die Ausführungen zu Reinhardts griechischen Tragödien in Fischer-Lichte 2005a, S. 49 u. Fischer-Lichte 2005b, S. 20. Siehe auch Schouten 2007, S. 186. Für eine ausführliche Untersuchung von Reinhardts Beitrag zur Reform des auf Bildung ausgerichteten institutionalisierten Theaters in Deutschland im Sinne einer Entliterarisierung und Retheatralisierung siehe Fischer-Lichte 1999. 442 Fischer-Lichte 2005a, S. 200. Vgl. auch Fischer-Lichte 2005b, S. 24 u. Stefanek 1973, S. 95. Erika Fischer-Lichte überträgt das von Matthias Warstat entwickelte Konzept der theatralen Gemeinschaft auf Reinhardts Inszenierungen der antiken Tragödien. Siehe hierzu auch Kapitel 1.3.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       125

In einem ästhetischen Rahmen hervorgebracht, war die Gemeinschaftsbildung vollkommen unabhängig von einer religiösen, politischen oder ideologischen Gesinnung: »The community that came into being [...] was not able [...] to establish some kind of collective identity among its members. Since it [...] dissolved the moment after it happened, it was a community in a liminal state – never able to acquire an identity of its own.«443 Es ist nur schwerlich davon auszugehen, dass Reinhardt beabsichtigte, mit der Mirakel-Inszenierung für eine christliche Ideologie einzustehen. Vielmehr nutzte er die Medien des katholischen Gottesdienstes als Mechanismen zur Steigerung einer ästhetischen Erfahrung. Auch wenn den Forschungsergebnissen von Fischer-Lichte insofern zuzustimmen ist, als dass es Reinhardt nicht um die Dekodierung einer gemeinsamen Symbolsprache durch ein religiös, kulturell oder akademisch vorgebildetes Publikum ging, so wird in diesem Zusammenhang dennoch eine erweiterte Lesart des Gemeinschaftsbegriffs vorgeschlagen: Es scheint, als ob im Fall von Aufführungen mit solch starken Anlehnungen an eine konfessionelle Bildsprache und liturgische Zeremonien durchaus eine Verschmelzung von theatraler und religiöser Gemeinschaft stattfinden kann. Allerdings ist jenes Moment der Überlappung abhängig von der jeweiligen konfessionellen Rahmung einzelner Zuschauergruppen, die eine Inszenierung mit einem konkreten Vorwissen und somit auch einer spezifischen Erwartungshaltung rezipieren. Fischer-Lichte hat in ihren Ausführungen darauf hingewiesen, dass trotz der Überwältigungsästhetik von Reinhardts Masseninszenierung jeder Zuschauer als einzelnes Individuum eine Aufführung auf eine andere Weise erleben konnte.444 Kann es dann nicht ebenso möglich gewesen sein, dass einzelnen Zuschauergruppen ein unterschiedliches Theatererlebnis widerfahren konnte? Der Religions- und Kulturwissenschaftler Jan Assmann hat eine Begriffsbestimmung des Phänomens ›Fest‹ im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung formuliert: Mit dem Begriff des kollektiven, genauer: des kulturellen Gedächtnisses scheint uns der Schnittpunkt bezeichnet, in dem die am Fest beteiligten Felder der Zeiterfahrung, der Gemeinschaftsbildung, des Ursprungs- und Geschichtsbewußtseins, des Ästhetischen und des Heiligen konvergieren.445

Um sich als Beteiligter eines Festes zu fühlen, muss nach Assmann die »zeremonielle Kommunikation«446 beherrscht, das heißt es müssen die Symbole, Medien und Riten einer Kultur verstanden werden, durch die sich Festlichkeit artikuliert: »Das Fest mit seiner rituell strukturierten und inszenierten Form vergegenwärtigt den manifest wie latent vorhandenen Wissens- und Sinnvorrat einer Kultur [...].«447 Das Marienleben und die Verehrung der Gottesmutter mittels prunkvoller Bildwerke bilden 443 Fischer-Lichte 2005a, S. 59. 444 Vgl. Fischer-Lichte 2005a, S. 61. Für Fischer-Lichtes Ausschluss eines ästhetischen Gemeinschaftserlebnisses in der Mirakel-Inszenierung vgl. Fischer-Lichte 1993, S. 277. 445 Assmann 1991, S. 13. Siehe hierzu auch Schuler 2007, S. 55–65 sowie die Kapitel 1.3 u 1.5. 446 Assmann 1991, S. 24. 447 Schuler 2007, S. 60.

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essenzielle Bestandteile der katholischen Liturgie, ebenso ist das Bewirken eines Wunders die Bedingung für eine Selig- und Heiligsprechung durch die römischkatholische Kirche.448 In der Aktivierung dieses scenario rekurrierten Reinhardt und seine künstlerischen Mitarbeiter nicht nur auf eine katholisch geprägte Ikonografie der Marienverehrung, sondern ebenfalls auf kollektive Verhaltensmuster der katholischen Gottesdienstfeier. Das Wiedererkennen und Nacherleben von Bildern, Sinnesreizen und habituellen Praktiken muss unter katholischen Zuschauern und den Mitgliedern der anglikanischen High Church eine stärkere Verbindung hervorgerufen und so zu einem intensivierten Gemeinschaftserlebnis geführt haben, als dies unter protestantischen oder nicht-gläubigen Zuschauern der Fall gewesen sein konnte. In dieser Lesart kann eine Aufführung nicht nur die Gemeinschaft aller Schauspieler und Zuschauer hervorbringen, sondern auch zum gleichen Zeitpunkt verschiedene theatrale Gemeinschaften.449 Aufgrund der Stellung Londons als Hauptstadt des Vereinigten Königreichs und internationale Metropole sowie des Fassungsvermögens der Olympia Hall ist anzunehmen, dass Zuschauer unterschiedlichster Herkunft die Mirakel-Inszenierung sahen. Für die Wirkungsästhetik drängt sich daher nicht nur die Frage auf, wie das heterogen zusammengesetzte Publikum und die englischen Geistlichen auf die Inszenierung eines Stücks religiösen Inhalts reagierten, sondern auch, ob es aufgrund dieser verschiedenartigen Zusammensetzung überhaupt möglich war, dass das Publikum in eine festliche Gemeinschaft transformiert wurde. [M]an [hat] während der ganzen Zeit, von der Farbenpracht und Lichtfülle geblendet, die Empfindung, sich in irgend einem ungeheuren Gebäude zu befinden, ohne Gefühl für Zeit und Ort, und das die Glocke, die irgendwo in der Ferne ertönt, gleichsam als Sturmglocke der Welt und allen Menschen dient; daß wir und jene mittelalterlichen Pilger, welche die Arena füllen, in diesem erhabenen, religiösen Drama gleichbeteiligt sind: Sie führen uns das Spiel vor, in einem Zeitalter, in dem der Glaube noch lebendig war; wir betrachten es in einer Zeit, in der man sich jenes Glaubens nur noch dunkel erinnert.450

Das Zitat aus dem Daily Chronicle ist nicht nur ein Hinweis darauf, dass der Verfasser sich als ein direkt Beteiligter in dem Mirakelspiel fühlte, sondern mehr noch ein wichtiges Dokument für die Debatte, welche die Inszenierung in der metropolitanen Gesellschaft der Themsestadt auslöste. Wie wirkungsvoll konnten jene über mehrere Jahrhunderte tradierten Bilder, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster für Mitglieder einer säkularisierten Gesellschaft sein? 1913 sieht William Poel (1852–1934), ohne unmittelbaren Bezug auf die zwei Jahre zuvor uraufgeführte Mirakel-Inszenierung zu nehmen, eine Problematik in der Bearbeitung religiöser Stoffe: »An acted

448 Vgl. Fischer 2006. 449 Zur pluralistischen Ausweitung des Konzepts in ›theatrale Gemeinschaften‹ vgl. Förster 2014, S. 68 f. 450 Unbekannt, in: The Daily Chronicle, o. D., zit. n. Leipziger Neueste Nachrichten 1913.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       127

religion is of all insincere and odious things the most insincere, the most odious.«451 Bemerkenswerterweise stammt diese Äußerung von einem englischen Regisseur, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in London den Weg für Reinhardts Inszenierung ebnete. Im Jahr 1901 hatte Poel durch Zufall das elisabethanische Moralitätenspiel Everyman wiederentdeckt und im Hof des Londoner Charterhauses unter freiem Himmel einen Achtungserfolg gefeiert, sodass weitere Gastspiele in England und den Vereinigten Staaten folgten. Edward Gordon Craig (1872–1966), dem Poels Stück selbst zwar missfiel, erkannte dessen aktuelle Popularität und inszenierte 1902 das Weihnachtsspiel Bethlehem im Imperial Institute. Regelmäßige Theaterbesucher der Hauptstadt waren also mit Aufführungen religiöser Stücke vertraut.452 Für die Londoner Uraufführung des Mirakel liegen keine statistisch nachgewiesenen Informationen über die konkrete Zusammensetzung des Publikums oder gar dessen Konfessionszugehörigkeit vor. Seit dem Catholic Emancipation Act im Jahr 1829 war die freie Ausübung des liturgischen Ritus in Großbritannien mit hohen Restriktionen verbunden. Im Zuge der ansteigenden Mitgliederzahlen der Nonconformists im späten 19. Jahrhundert war in England jedoch gleichfalls eine Neubesinnung des katholischen Glaubens zu beobachten. So dokumentieren Statistiken, die zwar auch vor dem Hintergrund eines grundsätzlichen Bevölkerungswachstums zu betrachten sind, einen Anstieg der Katholiken von 305.000 im Jahr 1840 auf 2.216.000 im Jahr 1900. Parallel zu dieser Entwicklung hatten sich zahlreiche weitere konfessionelle Gruppierungen wie beispielsweise die Follower of Luther und die Methodisten formiert.453 Diese strukturelle Veränderung brachte neben Kirchenneubauten ein differenziertes visuelles Gedächtnis und unterschiedlichste liturgische Praktiken hervor, was zwangsläufig zu einer Erweiterung der Wahrnehmung von Religionsausübung in der britischen Bevölkerung geführt haben muss. Wirft man einen Blick auf die Konfessionsverteilung, so zählte Großbritannien um 1900 bei einer Gesamtbevölkerungszahl von ungefähr 42.500.000 Einwohnern rund 38.000.000 Protestanten. Daher ist anzunehmen, dass ein Großteil der Zuschauer der Mirakel-Inszenierung der protestantischen Kirche angehörte, auf die eine solch große Ansammlung von Verweisen auf ein spezifisch katholisches Referenzsystem durchaus befremdlich gewirkt haben könnte.454 Die Konfessionen weisen deutliche Unterschiede nicht nur in ihrer liturgischen Praxis, sondern insbesondere auch in ihrer Haltung gegenüber sinnlich stimulie451 William Poel in einem Interview mit Harold Begbie, in: The Daily Chronicle, 03.12.1913, zit. n. George 1914, S. 101. Der hier anklingende Eskapismusvorwurf soll in Kapitel 2.3 erörtert werden. 452 Vgl. Stefanek 1973, S. 83–85. Zur Wiederentdeckung mittelalterlicher Kirchenspiele im viktorianischen Zeitalter und deren Rezeption in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts siehe Elliott 1989, S. 25–70. Zu Reinhardts Jedermann-Inszenierung in Salzburg vgl. Przytulski 2004, S. 87–109. 453 Vgl. Devlin 1994, S. 409. Seit der offiziellen nationalen Erhebung im Jahr 1851 bis in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg war für sämtliche in Großbritannien ansässige Glaubensgemeinschaften zudem ein stetiger Niedergang der Zahl der Kirchgänger zu verzeichnen. Siehe weiterführend Pary 2003. 454 Vgl. Becker 2001, S. 346. Zu den komplexen Tendenzen in Großbritannien Anfang des 20. Jahrhunderts vgl. Bebington/Jones 2013; Brown 2006, S. 40–87; McLeod 1996 u. Wolfee 1996.

128       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel

renden Gestaltungselementen im Gottesdienst auf. Im katholischen Diskurs können bestimmte sakrale Objekte interaktive Qualitäten annehmen, wie etwa Figuren des gekreuzigten Christus, dessen Stigmata zu bluten beginnen, oder zu frommen Gläubigen sprechende Heiligenstatuen. Insbesondere die prominente Stellung der Gottesmutter sowie ihre Verehrung über stark visuell geprägte Andachtsformen grenzen verschiedene Konfessionen in der Auslegung der christlichen Glaubenslehre klar voneinander ab. Diese Tradition der Heiligen- und Reliquienverehrung lehnten Protestanten als Vorform der Idolatrie ab. Seit der Reformation hatte die Bilderverehrung, darunter insbesondere die Verehrung von Maria als Gottesmutter, die theologischen Debatten der anglikanischen Glaubensgemeinschaft geprägt. Die Lehre der Church of England ist grundsätzlich von der evangelischen Theologieauffassung geprägt, verbindet diese jedoch mit der Ausübung der katholischen Messriten und der Feier der Sakramente. Während die High Church den sogenannten ›Anglokatholizismus‹ vertritt, stehen die Mitglieder Low Church dem Calvinismus nahe.455 Gab es Widerstände oder öffentliche Anfeindungen von Vertretern der protestantischen Glaubensgemeinschaften? Und wie reagierten Katholiken auf den Nachbau einer Klosterkirche, die Nachahmung katholischer Riten sowie die Nachstellung eines Marienwunders im Rahmen einer profanen Theaterinszenierung? Otto Brandes bemühte sich, dem Interesse seiner Leser in Deutschland an einer potenziellen Konfessionsdebatte nachzukommen: Dasselbe London, das die Prozession des eucharistischen Kongresses vor einigen Jahren unmöglich machte, dasselbe London, das große Opern verbietet, nur weil eine biblische Figur darin vorkommt, hat an dem Werke Vollmöllers, wie es Reinhardt vorführt, nichts auszusetzen. Und mit Recht. In dem ganzen Stück ist nicht ein Wort, eine Szene, die ein wirklich religiöses Gemüt verletzen könnte. Selbst der katholische Erzbischof, dem das Stück vorlag, fand nichts auszusetzen. Die Wirkung des Stückes ist nicht Verachtung frommen Glaubens, sondern echte, religiöse Andacht. Oder wie es ein englischer Kollege in mehr frivole Worte faßte: die katholische Kirche kann sich bei Reinhardt für die Reklame bedanken.456

Zwar weist der deutsche Korrespondent die Möglichkeit eines Vorwurfs der Gotteslästerung durch die katholische Kirche entschieden zurück, seine Schlüsse scheinen jedoch voreilig getroffen. Schließlich entfachte drei Jahre später anlässlich des Mirakel-Gastspiels im Berliner Zirkus Busch eine vergleichbare Debatte, die an dieser Stelle kurz skizziert werden soll.457 Anfang August 1914 veröffentlichte die Satire455 Siehe hierzu ausführlich Wheeler 2006, insbesondere S. 213–230. Zur disparaten Auffassung der Marienverehrung unter den christlichen Konfessionen siehe weiterführend Fischer 2006. 456 Brandes 1911. 457 In Berlin ließ Reinhardt die Zirkusarena in einen Kirchenraum transformieren, indem er das Gestaltungsprinzip der Inszenierung in der Wiener Rotunde auf den mit dreizehn Metern vergleichsweise kleinen Aufführungsraum übertrug. Vgl. Schievelkamp 1914. Aufgrund der großen Parallelen zum Raumkonzept der Wiener Inszenierung wird das Berliner Gastspiel nachfolgend nicht im Detail beleuchtet. Siehe auch Kapitel 2.2.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       129

Abb. 54: Olaf Gulbransson, Regiesitzung in Rom, 1914.

zeitschrift Simplicissimus auf der Titelseite die Karikatur Regiesitzung in Rom des norwegischen Zeichners Olaf Gulbransson (1873–1958), die Karl Gustav Vollmoeller und Max Reinhardt während einer Audienz bei Papst Pius X. (1835–1914) zeigt (Abb. 54). Dabei karikiert die Zeichnung nicht nur eine wahre Begebenheit, denn Vollmoeller war tatsächlich auf Einladung des Papstes nach Rom gereist. Vielmehr zeugt sie – wenn auch auf humoristische Weise – von der eigentlichen Tragweite der konfessionellen Debatte, die die Inszenierung seit der Uraufführung in London ausgelöst hatte: Die öffentliche Diskussion erfuhr eine neuerliche Zuspitzung durch einen Skandal, der sich während einer Vorstellung des Mirakel am 8. Juni 1914 in Berlin ereignete, wie die Tägliche Rundschau berichtet: Einige Minuten nach Eröffnung des Spieles erhob sich ein Zuschauer und rief [...] laut in die Manege herab: ›[...] Ich protestiere hiermit als Katholik gegen diese öffentliche Schändung einer christlichen Konfession. Ich beklage es auf das tiefste, daß wir uns in Deutschland diese öffentliche Profanierung unserer heiligsten Gefühle gefallen lassen müssen, und daß die Christen zu lau und zu feige sind, dagegen zu protestieren.‹458

Die Konfrontation des Schriftstellers Artur Dinter (1876–1948) rührte von seiner antisemitischen Haltung gegenüber der Bearbeitung einer christlichen Legende durch den jüdischen Regisseur Max Reinhardt: »Die Direktion des Deutschen Theaters erklärte, Dr. Dinter habe im Verlauf seiner Ansprache noch den Satz gebraucht: ›So etwas brauchen wir uns von Juden nicht gefallen zu lassen‹.«459 Dinters, aus der historischen Distanz als überaus bedenklich einzustufende, antisemitische Anfeindungen scheinen in der Karikatur Gulbranssons durch die unterschiedliche 458 Tägliche Rundschau 1914. Ähnliche Meldungen druckten die BZ am Mittag, der Berliner Lokal-Anzeiger sowie die Berliner Morgenpost. Vgl. hierzu auch Becker 2011, S. 343 u. S. 346. 459 Tägliche Rundschau 1914. Zu Dinters antisemitischen Haltung vgl. Marx 2006a, S. 199 f.

130       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel

Farbigkeit der Kleidung der Protagonisten persifliert: Während sich der Jude Reinhardt, in schwarz gekleidet, im Hintergrund hält, könnte der weiße Anzug Vollmoellers seine Nähe zum katholischen Glauben ausdrücken, entspricht diese Farbe doch der päpstlichen Robe. Für die Mehrheit der Zuschauer in der Metropole Berlin – dies mag für London umso mehr gegolten haben – schienen Reinhardts religiöse Wurzeln zu diesem Zeitpunkt noch keinen Grund für eine Ablehnung darzustellen: Auf diese Äußerung Dinters hin »hätte sich im Publikum eine gewisse Erregung bemerkbar gemacht, und einige Leute hätten die Entfernung des Redners aus dem Theater gefordert«.460 Dinter war, wie die Tägliche Rundschau am nächsten Tag meldete, aufgrund seines Verhaltens mit sofortiger Wirksamkeit des Verbandes deutscher Bühnenschriftsteller verwiesen worden. Ein solch direkter Protest ist nur für diesen Einzelfall nachgewiesen, in London gab es keinen öffentlichen Widerstand seitens der Katholiken. Im Gegenteil, die Times berichtete von der respektvollen Anerkennung der Inszenierung durch den Erzbischof von Liverpool, Thomas Whiteside (1857–1921), auf einer Tagung der Catholic Stage Society: [He] said for centuries past the attitude of the Catholic Church towards stage plays was one of dislike almost deeper than that of the Puritans of 300 years ago. [...] But the clergy now felt that theatres and music-halls did a great deal of good. [...] That play showed the beauty, tenderness and value of the religious life, and the value of stage plays.461

Die Bildunterschrift unter Gulbranssons Karikatur verhandelt die religiöse Thematik auf einer ähnlichen Ebene: »Den Altar stellen wir auf eine Drehbühne, und die Liturgie lassen wir von unseren Herren Kahane und Holländer neu redigieren. Überhaupt, verlassen Sie sich nur auf uns: Wir werden den katholischen Kultus denkbarst effektvoll inszenieren!«462 Die positive Rezeption durch katholische Geistliche beruhte scheinbar auf der Hoffnung auf Werbung für und Rechtfertigung der katholischen Glaubensinhalte, insbesondere in einem überwiegend protestantischen Land wie Großbritannien.463 Gleichzeitig schwingt in dem auf der Titelseite formulierten Versprechen einer effektvollen Inszenierung auch der Hinweis auf einen Propaganda-Vorwurf mit, denn einzelne protestantische Splittergruppen unterstellten den Verantwortlichen der Inszenierung das missionarische Vorhaben, England zum Katholizismus bekehren zu wollen. Die im Rahmen der Rezeption durch die katholische Kirche bereits zitierte Rezension von Otto Brandes deutet auf ein jüngeres Ereignis in diesem Konflikt: Im September 1908 hatte in London der 19. Internationale Eucharistische Kongress in einem überwiegend protestantischen Land, jedoch unter immensen öf460 Tägliche Rundschau 1914. 461 The Times 1912a. 462 Siehe Simplicissimus, 19.18 (1914): Titelseite. 463 Tobias Becker hat in diesem Zusammenhang auf einen Bericht des Jesuiten Jacob Overmans verwiesen. Außerdem bezieht sich Becker auch auf die Wiederaufnahme der Inszenierung in London im Jahr 1932, als der Wunderglaube zum Thema einer öffentlichen theologischen Debatte wurde. Auf dieses späte Gastspiel kann im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden. Vgl. Becker 2011, S. 343–346 u. S. 350, Stefanek 1973 S. 94, S. 100 u. S. 103. Siehe weiterführend Stefanek 1970 u. Overmans 1912.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       131

fentlichen Protesten militanter protestantischer Gruppierungen, stattgefunden. Die Regierung Asquith sah sich gezwungen, die Schlussprozession mit hohen Auflagen einzuschränken. Zu einem politischen Skandal führte der Entschluss des Premierministers, das Tragen der Hostie in der Öffentlichkeit zu untersagen.464 Auch wenn die Demonstrationen von fanatischen Randgruppen ausgingen, so zeugt ihre Tragweite von der weiterhin angespannten Situation in London. Auslöser einer regen Kontroverse war ein Brief des britischen Journalisten William T. Stead (1849–1912), den der London Standard Anfang Januar 1912 veröffentlichte. Der Verfasser beschuldigte die Veranstalter des Mirakel, zur Finanzierung der Inszenierung Bestechungsgelder aus den geheimen Kassen des Vatikans angenommen zu haben. Mit einem Seitenblick auf die von Demonstrationen begleitete Weihe der katholischen Westminster Cathedral im Jahr 1910 unterstrich Stead das Wagnis der Inszenierung. Das Bauwerk galt in dieser Zeit als einflussreichster katholischer Repräsentationsbau und Ausdruck katholischen Selbstbewusstseins seit der Abspaltung der anglikanischen Kirche von Rom im 16. Jahrhundert. In diesem Zuge warnte Stead, nicht ohne ironischen Unterton, vor einem Gastspiel in der damals irischen Stadt Belfast: »Has the great Protestant heart that throbs responsive to the Orange drum ceased to beat? [...] I fear that if you present The Miracle at Belfast few of your performers would escape without broken heads.«465 Stead spielte hiermit auf die gewaltbereite protestantische Vereinigung der Orangemen an, die sich in der Hochburg des religiösen Konflikts zwischen Katholiken und Protestanten zu regelmäßigen Aufmärschen versammelten, die nicht selten in einem Blutbad endeten.466 Wenige Wochen später klärte der Journalist die kontrovers geführte Diskussion um die Veröffentlichung seiner Tirade in der Zeitung The Review of Reviews selbst auf: In order to help to increase the popular interest in ›The Miracle,‹ I wrote a letter [...] pointing out how directly Reinhardt’s play challenged the narrow-minded fanaticism of Orange Protestantism. [...] I asked in derision how much money had been subscribed by the Vatican and the Jesuits to subsidise this subtle attempt to pervert the Protestant subjects of our Protestant king. I thought that the extravagance and exaggeration of my letter would have been sufficient to show my real drift.467

Auch Cochran bestätigte in seiner 1926 veröffentlichten Autobiografie, dass der Skandal als Marketingstrategie inszeniert worden war, um mehr Eintrittskarten verkaufen zu können. Doch die misslungene PR-Kampagne heizte Kundgebungen einzelner religiöser Gruppierungen an, weshalb Zeitgenossen darin eine weitere Ursache für die deutlich schwankenden Besucherzahlen suchten:468 464 Vgl. ausführlich hierzu Devlin 1994, S. 407–425. 465 Brief von William T. Stead, in: The London Standard, 02.01.1912, zit n. Cochran 1926, S. 174. 466 Die Vereinigung ist bis heute nicht nur in Nordirland, sondern auch in Nordengland und Schottland aktiv. Siehe ausführlich MacRaild 2005. 467 Stead 1912, S. 147 f. Der Name des Verfassers ist allerdings nicht aufgeführt. 468 Zwar strömten allabendlich tausende Zuschauer in die Olympia Hall  – Besucherzahlen, an denen andere Londoner Theater sich nicht messen konnten –, doch reichten diese bis zur letzten Vorstellung nicht, um die Gesamtausgaben von schätzungsweise 1,4 Millionen Mark zu decken. Vgl. Becker 2011, S. 349; Marx 2006a, S. 127; Huesmann 1983, S. 25 u.

132       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel Es ist bezeichnend, daß eine ganze Anzahl von Theaterbesuchern sich durch derartige Anschuldigungen abschrecken lassen [sic!]; sie wollen das ›Wunder‹ als etwas Gotteslästerliches gar nicht ansehen. Man ist hier unfähig, Kunst und Religion auseinander zu halten. Ein vergeistigteres Drama können wir uns kaum vorstellen, und dennoch werden Geistliche und ihr Gefolge nicht müde, das ›Miracle‹ als etwas ›Unsittliches‹, ›Ketzerisches‹, ›Die Gefühle Beleidigendes‹ zu verfemen. [...] Manche möchten die ›Blasphemie‹ in den tiefsten Grund und Boden bohren. [...] Andere Geistliche wieder sprechen von dem ›reinigenden Einfluß‹.469

Um einer Ausweitung dieser Debatte entgegenzuwirken, lud Cochran 7.000 Geistliche aller Glaubensgruppen Londons zu einer Sondervorstellung ein und ermutigte diese, Kritikpunkte zu äußern. In England und Deutschland wurde das Urteil des Klerus mit großer Aufmerksamkeit der Presse verfolgt, weshalb die Vermutung naheliegt, dass die Werbewirksamkeit dieses Vorhabens dem Geschäftsmann Cochran eindeutig bewusst war, bezeichneten Journalisten dieses doch »als geschickte[n] Schachzug [...]. Auf jeden Fall wird der Anblick von so vielen Tausenden von Priestern in der herrlichen Kathedrale unvergleichlich sein und wunderbar zu den Bildern und der Atmosphäre passen.«470 Vor dem Besuch der Vorstellung mussten sich die Geistlichen den Weg durch eine organisierte Demonstration der radikalen Protestant Truth Society bahnen, deren erklärtes Ziel es war, die Verbreitung des Katholizismus in England zu stoppen, und die sich durch die Inhalte der Pantomime brüskiert fühlten: »They had to run the gauntlet of some ›Kensitites,‹ who paraded Hammersmithroad, waved banners, distributed handbills, and politely pointed out the way to Olympia as ›The Road to Popery‹.«471 Letztlich folgten rund 4.000 Geistliche der Einladung in die Olympia Hall, um sich dort selbst ein Bild von der Aufführung zu machen. Ihre Zuschriften wertete ein konfessionsübergreifendes Clerical Advisory Committee aus, wobei die Anregungen jedoch eher Veränderungen einzelner Szenen betrafen, als dass die Inszenierung in ihren Grundzügen kritisiert wurde.472 Die hier aufgeführten Proteste beider Konfessionsrichtungen müssen daher als vereinzelte Widerstände gegen die Inszenierung gesehen werden, die Tobias Becker als institutionspolitische Reaktionen einstuft: »Gemeinsam war beiden Gruppen [...], dass es ihnen weniger um das Mirakel selbst ging, als um dessen Instrumentalisierung für

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Cochran 1926, S. 173–177. Eine detaillierte Aufstellung der Gesamtinvestitionen veröffentlichte das Pall Mall Magazine bereits im Januar 1912. Rheinisch-Westfälische Zeitung 1912. Rheinisch-Westfälische Zeitung 1912. The Times 1912b. Von einer weiteren Demonstration gegen die Darstellung des klösterlichen Lebens sowie die scheinbar propagierte Marienverehrung berichtet die Times am 30.01.1912. Nach ihrem Gründer John Kensit werden die Mitglieder der Protestant Truth Society als ›Kensitisten‹ bezeichnet. Vgl. hierzu Becker 2011, S. 342 u. S. 348. Trotz seines umsichtigen Quellenstudiums datiert Becker die Sondervorstellung und Demonstrationen fälschlicherweise vor der eigentlichen Premiere auf Dezember 1911. Hätten die Ereignisse im Vorfeld, auch aus strategischer Sicht, zwar ganz andere Wellen geschlagen, so sind sie im Januar 1912 stärker als Reaktionen auf die Inszenierung und die schwindenden Besucherzahlen zu lesen. Vgl. The Times 1912a.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       133

bereits bestehende Anliegen.«473 Für den zeitgenössischen Beobachter H. V. M von The Playgoer and Society Illustrated gehörten konfessionelle Debatten ebenso wenig wie die Frage nach der Angemessenheit einer solchen Aufführung in den Bereich des Theaters: »Let those quarrel who will. [...] To me, the eternal Battle of the Creeds, the everlasting warfare of the Churches, has no place in a spectacle such as that I was privileged to witness in ›The Miracle‹.«474 Betrachtet man die Mirakel-Inszenierung dennoch aus der Perspektive unterschiedlicher religiöser Gruppen, zeigt sich, dass die Wiedererkennbarkeit eines scenario bedingt ist durch den jeweiligen religiösen Diskurs. Die Überlegungen, was Zuschauer gesehen und welchem Ereignis sie beigewohnt haben, verändert sich durch den jeweiligen konfessionellen Hintergrund. Doch selbst eine oppositionelle Haltung gegenüber der Bildsprache und den Handlungspraktiken einer anderen Konfession und der Wunsch, sich von dieser abzugrenzen, setzen ein Bewusstsein für den andersartigen Diskurs voraus. Von einem Publikum in einer Metropole wie London ist zudem anzunehmen, dass trotz divergierender Religionsauffassungen Grundzüge eines christlich-kulturellen Wissens vorhanden und damit bestimmte Muster eines katholisch geprägten scenario registrierbar waren: »›The Miracle‹ [...] appeals to people of every religion. It is not a Catholic play, but one in which anybody who has a religious feeling of any sort may be interested.«475 Mehrheitlich zeugen die Rezeptionsdokumente von einer großen Faszination des Londoner Publikums, die sich auch Geistlichen verschiedener Glaubensgemeinschaften nicht verschloss. Der London Standard bot Raum für die öffentliche Diskussion der religiösen Thematik und erhielt dadurch auch zahlreiche Zuschriften, die eine eindeutig positive Aufnahme dokumentieren. So veranschaulicht etwa ein Brief eines protestantischen Geistlichen seine Ergriffenheit und Andacht beim Betreten der Scheinkathedrale in der Olympia Hall: Als ich die Halle betrat, die in eine ungeheure Kathedrale umgewandelt schien, fühlte ich fast ein Bedürfnis niederzuknien. [...] Die Madonna, die Nonne, der fast unübersehbar scheinende Strom der Andächtigen im Verein mit einer Musik von seltenem Liebreiz mußten jeden Zuschauer wie auch mich begeistern und erheben. Ich sah Damen, die leidenschaftlich weinten, Männer, die die Tränen zurückhielten.476

473 Becker 2011, S. 350. 474 H. V. M. 1912, S. 127. 475 The New York Times 1914a. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Schuler 2007, S. 153, Fn. 78. Mit Mircea Eliade betrachtet Przytulski den Zuschauer als homo religiosus und setzt ein ›anerzogenes‹ christlich-religiöses Wissen in der ›westlichen‹ Welt voraus, das über die Konfessionszugehörigkeit hinausgeht und für alle internationalen Aufführungsorte des Mirakel gelte. Allerdings stützt er seine Überlegungen zur Rezeption der Londoner Aufführung ausschließlich auf Dokumente, die Paul Stefanek erschlossen hat, Theaterkritiken zieht er beispielsweise nicht heran. Siehe Przytulski 2004, S. 130 u. S. 133 f. Zum homo religiosus siehe Eliade 1998, S. 8. 476 Leserbrief, in: The London Standard, übers. n. Londoner Zeitung Hermann, 06.01.1912, zit. n. Stefanek 1973, S. 93 f. Ähnlich umschrieb auch der katholische Stiftsprobst Franz Kaufmann nach seinem Besuch der Aufführung im Berliner Zirkus Busch den christlichen Lehrcharakter und die ideologische Wirkung des Stücks. Vgl. Kaufmann 1914.

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Allerdings konnte die individuelle Rahmung vereinzelt Spuren des scenario offenbaren, die nicht automatisch für jeden Zuschauer einzuordnen waren. So hat Peter W. Marx die zentrale Funktion des Erkennens und Singens bekannten Liedguts herausgestellt, wodurch die Zuschauer zur Partizipation angeregt werden sollten. Gerhard Przytulski sieht jene Lieder sogar fest verankert in einem allgemeinen, christlichkulturellen Gedächtnis.477 Jedoch betrachtete ein Rezensent der Times gerade Humperdincks Auswahl deutscher Kirchen-, Volks- und Weihnachtslieder kritisch: [T]he old German carol, ›Joseph, lieber Joseph mein,‹ was the chief theme, and its graceful combination with a version of a chorale used by Bach in the Christmas Oratorio was thoroughly characteristic and appropriate. [...] Had the whole been done with tunes sacred and secular which every one could recognize it might have been made infinitely more successful.478

Die hier von dem Kritiker formulierte Forderung lässt sich auch auf der Ebene eines nationalen Diskurses weiterdenken. So spielte Stead in seinem fingierten Brief ebenfalls auf einen latent präsenten politischen Konflikt an, der die Gemüter ebenfalls in Aufregung versetzen konnte: »I received a bulky pamphlet entitled Rome and Germany, by Watchman, who proclaimed aloud the existence of an informal conspiracy got up by Rome and Germany for the destruction of the British Empire.«479 Nicht nur das Liedrepertoire entstammte dem deutschen kulturellen Erbe, auch die architektonischen Vorbilder für die Spielraumgestaltung waren eher in Deutschland und Frankreich als in Großbritannien zu suchen. Dort entwickelte die katholische Kirche eine eigene Bild- und Formensprache: Beispielsweise hatte der Architekt John Francis Bentley (1839–1902) Westminster Cathedral zunächst als neogotische Kathedrale geplant, vollendet wurde sie 1903 im neobyzantinischen Stil. Auf diese visuelle Tradition nahm die Inszenierung nicht zwingend Bezug. Vielmehr genügte die Verschränkung von Zitaten prägnanter Bauwerke und tradierter Bilder, bekannter Figuren und vertrauter kultureller Praktiken mit einer innovativen Beleuchtungsund Bühnenmaschinerie, um ein wirkungsvolles Gesamtbild zu erzeugen: [Max Reinhardt] plays with the imagination as with a familiar. [...] He knew you would see what you were prepared to see, so long as the things you were not prepared to see were absolutely forced upon you. He used his knowledge of the way in which your imagination would work; and in addition to this he used his technical artist’s knowledge [...], so that the working of your imagination might proceed unhindered by merely physical obstacles.480

477 Vgl. Marx 2006a, S. 97 u. Przytulski 2004, S. 64. 478 The Times 1911b. 479 Brief von William T. Stead, in: The London Standard, 02.01.1912, zit. n. Cochran 1926, S. 174 (Hervorh. C. B. C). 480 Palmer 1912, S. 9 f. Vgl. hierzu auch Marx 2006a, S. 132 u. S. 134. Um die spezifische visuelle Sprache des Katholizismus in England nachzuvollziehen, lohnt sich eine nähere Sichtung der Illustrated London News, die das Weltbild ihrer Leserschaft entscheidend mitprägte. Auch finden sich zahlreiche Zeitschriften, die einzelnen religiösen Gruppierungen nahestanden. Für eine Bibliografie siehe Altholz 1989.

2.1  Die Uraufführung von Das Mirakel in London 1911       135

Indem er die Vorstellungskraft der Zuschauer durch geschickt platzierte Anhaltspunkte in eine bestimmte Richtung steuerte, vollbrachte Reinhardt ein »Wunder der seelischen Imagination«.481 Letztlich kann Das Mirakel jedoch nicht als eine direkte Wiederholung des christlichen scenario der Wundererscheinung begriffen werden, sondern als dezidierte theatrale Überhöhung. Diese erfolgte insofern, als dass sich das Wunder nicht zufällig und in Wirklichkeit ereignete, sondern im Rahmen einer gigantischen, spektakulären Inszenierung durch wohlkalkulierte szenografische und technische Effekte sowie performative Strategien hervorgebracht wurde.482 Eine Schauspielerin verkörperte die Statue der Madonna, die durch den Einfall des künstlichen Scheinwerferlichts, das göttliche Strahlen lediglich suggerieren sollte, lebendig wurde und Wundertaten vollbrachte. Dennoch hat Tobias Becker hervorgehoben, dass die spektakuläre Inszenierungsform gerade bei technikaffinen Zuschauern eine dem religiösen Wunder nicht unähnliche Reaktion der sinnlichen und emotionalen Überwältigung auslösen konnte: Unabhängig davon, ob es sich um ein Wunder der Transzendenz, der Natur oder der Technik handelt, mit jedem Wunder geht das Staunen einher: ein Moment der Überraschung, das über sich selbst hinaus auf das Erhabene verweist. Umgekehrt ist das Staunen eine conditio sine qua non, aufgrund derer ein Ereignis erst zum Wunder wird. Um Wunder zu sein, braucht das Wunder jemanden, der staunt.483

Beide Formen des Wunders – das religiöse Wunder als auch das Theaterwunder – waren auf Augenblicke des Staunens ausgerichtet: Man könne einwenden, daß die Wiedergabe des katholischen Ritus, die Wunderheilung und die Prozession, nicht in den Zirkus gehören, aber man übersieht dabei, daß die große und allgemein anerkannte Regiekunst Reinhardts diese Dinge jedoch in einer so künstlerischen Verklärung bringt, daß man zunächst völlig vergißt, in einem Zirkus zu weilen, und daß das Geistige hier eben über das rein Stoffliche triumphiert.484

Wie die Rezension zu der späteren Aufführung im Berliner Zirkus Busch veranschaulicht, lieferte Reinhardt mit der Re-Inszenierung als Theaterwunder eine Variation des religiösen scenario, die auch seine Zeitgenossen zum Staunen brachte.

481 Reinhardt, Max, »Jubiläums-Rede vor der Bühnengenossenschaft«, in: Herald 1953, S. 123. 482 Vgl. auch Przytulski 2004, S. 130. Przytulski bezieht sich hier allerdings nicht auf die Wunderinszenierung, sondern auf die Aneignung der Strategien katholischer Festgottesdienste. 483 Becker 2011, S. 359 f. 484 Tägliche Rundschau 1914.

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2.2 Vom ›Theaterwunder‹ zum ›Heiligenkino‹: ­Europäische Mirakel-Gastspiele und die Neu­ inszenierung in New York 1924 Mit Blick auf Reinhardts Expansionsvorhaben und die groß angelegte Tournee bezeichnet Peter W. Marx Das Mirakel als eine »›reisende‹ Inszenierung«485: Nicht nur der gigantische Umfang sowie der Kostenaufwand, sondern auch das sprachliche Barrieren überwindende Genre der Pantomime zeugen davon, dass die Inszenierung international große Zuschauermassen erreichen sollte. Auf die Uraufführung in London folgten zahlreiche Gastspiele in europäischen Großstädten: Neben der noch zu erwähnenden Aufführung in der Wiener Rotunde (1912) gastierte Das Mirakel in den Jahren 1913 und 1914 unter anderem in der Frankfurter Festhalle, der Leipziger Alberthalle, der Breslauer Jahrhunderthalle, am Opernhaus in Köln und Kleinen Hoftheater in Karlsruhe sowie im Berliner Zirkus Busch. Bereits für das Jahr 1914 war ein amerikanisches Gastspiel geplant, das jedoch wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges verschoben werden musste. Zehn Jahre später eroberte Reinhardt mit einer Neuinszenierung zunächst das Publikum des New Yorker Century Theatre, in dem Das Mirakel nahezu dreihundert Mal aufgeführt wurde. Danach folgte eine auf fünf Jahre angelegte Tournee, unterbrochen von kurzen Gastspielen in Europa, mit Aufführungen in zahlreichen Metropolen der Vereinigten Staaten, darunter Boston, Dallas, Los Angeles, Philadelphia und Saint Louis.486 In den vorangegangenen Kapiteln konnte die Uraufführung der Mirakel-Inszenierung in der Kultur ihrer Zeit verortet und Strategien zur Steuerung der Rezeption aufgezeigt werden, indem ein breites Netz kunst-, kultur- sowie konfessionsgeschichtlicher Verbindungslinien nachgezeichnet wurde. Auf die Folgeinszenierungen wird nun ein allgemeinerer Blick gerichtet, der sich insbesondere auf die visuelle Ästhetik und theatrale Bildsprache konzentriert. Zunächst wird die Anpassung von Sterns Dekorationskonzept für Reinhardts Gastspiel in seiner Heimatstadt Wien im Jahr 1912 durch die Ausstattungsleiter Hermann Dernburg und Rudolf Dworsky untersucht. In der nachfolgenden Analyse der New Yorker Inszenierung wird ein besonderes Augenmerk auf die Frage gelegt, welche szenografischen Strategien übernommen beziehungsweise neu entwickelt wurden, um ein spektakuläres Theaterwunder hervorzubringen. In der deutschsprachigen Forschung wird damit erstmals das umfangreiche Materialkonvolut aus dem Nachlass des Bühnenbildners Norman Bel Geddes (1893–1958) einer thematischen Untersuchung unterzogen.487

485 Marx 2006a, S. 126. 486 Vgl. hierzu Becker 2011, S. 334 u. Przytulski 2004, S. 162. Eine Auflistung der einzelnen Inszenierungen findet sich bei Huesmann 1983. 487 Für eine Forschungsarbeit jüngerer Zeit siehe Mabry 2013. Allerdings klammert dieser die deutschsprachige Literatur gänzlich aus, obschon er kritisiert, dass die amerikanische Forschung zur Mirakel-Inszenierung den europäischen Diskurs bislang weitestgehend unberücksichtigt ließ. Vgl. Mabry 2013, S. 109. Für einen Vergleich des Londoner und des New Yorker Raumkonzepts siehe Bornemann 2013a, S. 10–18. Die Untersuchungsergebnisse werden in dieser Studie ausgearbeitet und vertieft.

2.2  Vom ›Theaterwunder‹ zum ›Heiligenkino‹       137

Nach Diana Taylor sind Veränderungen und Variationen eines scenario unabdingbar für dessen Erhalt in der kollektiven Erinnerung einer Kultur.488 Die unterschiedlichen Programmhefte bis zur letzten Aufführung des Mirakel in London 1932 sowie ein Vergleich der Regiebücher zu den Inszenierungen in London 1911 und New York 1924 belegen, dass Vollmoellers Skript fortwährend überarbeitet und der jeweiligen Aufführungssituation angepasst wurde. So wurden zum Beispiel einzelne Szenen, wie etwa 1912 auf Anraten des Clerical Advisory Committee, verändert, gestrichen oder nachträglich hinzugefügt, sodass die Pantomime über zwei Jahrzehnte hinweg in stets neuen Varianten aufgeführt wurde. Taylor definiert überdies das Verhältnis zu einem physischen Ort als eine Grundbedingung für die Aktivierung eines scenario: »[Scene] [...] suggests both the material stage as well as the highly codified environment [...]. The two, scene and scenario, stand in metonymic relationship: the place allows us to think about the possibilities of the action. But action also defines place.«489 Im Zuge des Wiener Gastspiels wurde eine Festspielgesellschaft gegründet, die auch die Planung nachfolgender Aufführungen in Österreich-Ungarn und Deutschland übernehmen sollte. Zum Mitarbeiterstab zählte Rudolf Dworsky, der mit der Leitung der dekorativen und technischen Ausstattung betraut war. Nach dessen Tod wurde sein Bruder Franz Dworsky (1884–1951) für die Ausstattung der Inszenierung im Wiener Zirkus Renz 1927 beauftragt. Im Programmheft betont er die Herausforderung, das Bühnenbild an die jeweiligen räumlichen Gegebenheiten anzupassen: »Einmal ist es ein Theatergebäude, einmal ein Zirkus, ein andermal wieder eine Halle, die der Gestaltung, beziehungsweise Neugestaltung harrt.«490 Die von Dworsky angesprochene Problematik der diametralen Aufführungssituationen wirft eine Reihe von Fragen auf: Inwiefern veränderte sich das scenario des Wunders bedingt durch die wechselnden räumlichen Begebenheiten der verschiedenen Gastspiele? Welche Muster blieben weiterhin erkennbar? Wie konnte das überdimensionierte Bühnenbild in einem konventionellen Theater realisiert werden und inwieweit beeinflusste diese Rahmung das Wahrnehmungsverhalten der Zuschauer? Das ›Rotundenmirakel‹ im katholischen Wien

Für September 1912 war in der Wiener Rotunde das erste Gastspiel auf dem europäischen Festland geplant. Da die Londoner Uraufführung im deutschsprachigen Raum mit großer Aufmerksamkeit verfolgt worden war, war die Erwartungshaltung seitens des österreichischen Publikums entsprechend hoch. Ein drastischer Vergleich führt Reinhardts enorme Skepsis deutlich vor Augen: »Das protestantische, nüchterne, graue, naive London mit seinem lächerlichen Theater ist nicht mit Wien zu vergleichen.«491 So schreibt er in seinem Brief an an Berthold Held vom 21. August 1912 weiter: 488 Vgl. Taylor 2003, S. 33. 489 Taylor 2003, S. 29. 490 Programmheft zu Das Mirakel, Zirkus Renz, Wien, 1927, S. 6, Wien, Theatermuseum, Programmarchiv, PA_RaraG174. Vgl. hierzu Vollmer 2011, S. 384 u. Fuhrich/Prossnitz 1993, S. 91. 491 Brief von Max Reinhardt an Berthold Held, Jersey, 21.08.1912, Max Reinhardt Archives & Library, Binghamton University Libraries’ Special Collections and University Archives, Binghamton University, R 5983 (O). Siehe auch Reinhardt 1989, S. 178.

138       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel Das Werk hat neben dem musikalischen Teil [...] nur das Bild (und auch hinsichtlich der Dekorationen ist man in Wien [...] unvergleichlich anspruchsvoller als in London). [...] Dekorativ geschieht im Gegensatz zu London, was z. B. die massiven gotischen Kirchenarchitekturen anbelangt, ohnehin im Vergleich so gut wie nichts. [...] Mit diesen enormen Reduktionen ist die Wirkung ohnehin schon eine sehr fragliche, [...]. Dazu kommt, daß die Wiener, was kirchlichen Pomp anbelangt, so fabelhaft verwöhnt sind. (Fronleichnamsumzüge mit d. Kaiser etc., und erst jetzt wieder beim eucharistischen Kongreß, ferner allerhand Jubiläumsfestzüge.) [...] Wenn also jetzt von der so furchtbar reduzierten Pracht noch allerhand Abstriche gemacht werden, fallen wir einfach durch!492

Diese, auf den ersten Blick überraschend ablehnende, Haltung Reinhardts ist auf vielerlei Beweggründe zurückzuführen. Immense Budgetkürzungen hatten im Vorfeld dazu geführt, dass zahlreiche szenografische Kunstgriffe und Verwandlungsmechanismen, wie etwa pyrotechnische Effekte oder die mobile Landschaftskulisse, welche in London noch für Aufsehen gesorgt hatten, ersatzlos gestrichen wurden. Vermutlich erfolgte auch aus finanziellen Gründen keine Vertragseinigung mit Ernst Stern, dem Reinhardt die künstlerische Leitung bevorzugt anvertraut hätte. Sein Unmut darüber äußert sich auch in der Befürchtung, von der österreichischen Presse und der Konkurrenz öffentlich zerrissen zu werden. Dabei scheute Reinhardt weniger finanzielle Einbußen als den Verlust seiner künstlerischen Reputation.493 Eine weitere Zusammenarbeit kam für Reinhardt nur dann in Frage, wenn eine vierundzwanzig Punkte umfassende Liste mit Forderungen ohne Einschränkungen befolgt würde. An anderer Stelle wurde bereits darauf hingewiesen, dass diese Anweisungen im Besonderen die Akustik, Ausstattung und Lichttechnik der Eröffnungsszene betrafen. So wird abermals deutlich, dass deren eindrucksvolle Inszenierung von größter Bedeutung für eine positive Aufnahme der Inszenierung war: Auf die Rüstungen kann ich, wie gesagt nicht verzichten. Sie müssen in der Prozession verwendet werden. Hier handelt es sich ja gerade wieder um das Außergewöhnliche. Die übrige Kirchenprozession macht Nagl echter und pompöser. Das [...] entzieht uns der Kontrolle und dem Vergleich! Außerdem war es die stärkste Wirkung auch in der Londoner Prozession. Die eisernen Kerle mit Kerzen – unvergeßlich!!! Die Rüstungen sind ja leicht auszuleihen, von London oder sonstwoher, [...]. Ich muß sie haben.494

492 Brief von Max Reinhardt an Berthold Held, Jersey, 21.08.1912, Max Reinhardt Archives & Library, Binghamton University Libraries’ Special Collections and University Archives, Binghamton University, R 5983 (O) (Hervorh. M. R./H. F.). Siehe auch Reinhardt 1989, S. 177 f. 493 Vgl. Brief von Max Reinhardt an Berthold Held, Jersey, 21.08.1912, Max Reinhardt Archives & Library, Binghamton University Libraries’ Special Collections and University Archives, Binghamton University, R 5983 (O) u. Reinhardt 1989, S. 177 f. Siehe auch Silhouette 2012, S. 333 u. Przytulski 2004, S. 80–82. 494 Brief von Max Reinhardt an Berthold Held, Jersey, 21.08.1912, Max Reinhardt Archives & Library, Binghamton University Libraries’ Special Collections and University Archives, Binghamton University, R 5983 (O) (Hervorh. M. R./H. F.). Siehe auch Reinhardt 1989, S. 182.

2.2  Vom ›Theaterwunder‹ zum ›Heiligenkino‹       139

Abb. 55: Carl Freiherr von Hasenauer, Rotunde, Wien, Außenansicht, 1873.

Mehrfach spielt Reinhardt in seinem Brief auf die Festprozessionen der katholischen Kirche unter der Leitung des Kardinals und Erzbischofs der Diözese Wien Franz Xaver Nagl (1855–1913) an. Sein Bewusstsein, sich im katholischen Wien noch stärker mit realen liturgischen Zeremonien messen zu müssen, äußerte sich auch in der Suche eines klerikalen Beraters in der Konzeptionsphase des Gastspiels: »Wir brauchen nicht zu copiren [sic!], wir wollen nur nichts falsch machen. Das wäre in Wien gefährlicher als in London.«495 Festgottesdienste und -prozessionen waren nicht nur im kulturellen und liturgischen Alltag der katholischen Stadt fest verankert, sondern auch aus aktuellem Anlass präsent. Wie man dem Titelblatt des Programmheftes entnehmen kann, sollte Das Mirakel ursprünglich »vom 15. September bis 4. Oktober« in der Wiener Rotunde aufgeführt werden.496 Jedoch fand zeitgleich der 23.  Internationale Eucharistische Kongress in der österreichischen Hauptstadt statt. Da die Teilnehmerzahl die Kapazitäten des Stephansdoms um ein Vielfaches überstieg, wurde die offizielle Festversammlung kurzfristig in die Wiener Rotunde verlegt, obwohl das Gebäude bereits für die Erstaufführung der MirakelInszenierung vorbereitet war: [I]n Anwesenheit von etwa 15.000 Personen [fand gestern] die Eröffnungssitzung des Eucharistischen Kongresses statt. Der weite Raum zeigte sich bereits für die bevorstehenden ›Mirakel‹-Aufführungen umgestaltet; die Torbogen gleichen Kirchenfenstern, der Ausgang auf der Nordseite einem von Säulen getragenen Kirchenportal. Vor demselben erhob sich gestern, etwa zehn Meter hoch, die Rednertribüne, zu beiden Seiten Büsten des Kaisers und des Papstes. [...] Das den Mittelraum einnehmende Riesenpodium, auf dem sich die ›Mirakel‹-Szenen abspielen werden, bot gestern als Tribüne für die Ehrengäste Raum.497

495 Reinhardt, Max, »Regienotizen«, in: Reinhardt 1963, S. 59 (Hervorh. M. R./F. H.). Vgl. hierzu auch Przytulski 2004, S. 81. 496 Titelseite des Programmheftes zu Das Mirakel, Rotunde, Wien, 1912, Wien, Theatermuseum, Programmarchiv, PA_RaraG173. 497 Neues Wiener Tagblatt 1912.

140       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel

Am 17. September 1912 feierte Reinhardts Inszenierung die langerwartete Premiere in der Rotunde (Abb. 55). Vergleichbar mit der Aufführungssituation in London hatte der Regisseur erneut einen Ort ausgewählt, der sich durch die Verschränkung von Theater, Populär- und Konsumkultur auszeichnete: Anlässlich der Weltausstellung im Jahr 1873 entstand der Kuppelbau auf dem Gelände des Wiener Praters unter der Leitung des Oberinspektors Friedrich Schmidt (1825–1891). Den Innenausbau übernahm der renommierte Architekt Carl Freiherr von Hasenauer (1833–1894), der auch an der Gestaltung der monumentalen Repräsentationsbauten der Wiener Ringstraße beteiligt war. Das charakteristischste Bauelement des Zentralbaus war die aus Glas und Eisen gefertigte, mit einem Durchmesser von 108 Metern zu diesem Zeitpunkt größte Kuppel der Welt.498 Nach der Weltausstellung beherbergte der sogenannte ›Industriepalast‹ neben einer Automobil- (1898) und Jagdausstellung (1910) im Jahr 1892 die Internationale Ausstellung für Musik- und Theaterwesen. Die groß angelegte Ausstellung sollte Wiens führende Rolle als Musik- und Theaterstadt markieren, deshalb wurden sowohl künstlerische und technische Errungenschaften der Vergangenheit als auch der Gegenwart präsentiert.499 Mit einem Fassungsvermögen von bis zu 9.000 Personen überstieg die Rotunde ebenfalls die räumliche Dimension einer gewöhnlichen Theaterinszenierung, obwohl die Ausmaße zahlenmäßig nicht an die Olympia Hall heranreichen konnten. Reinhardts Präferenz für solche Multifunktionshallen sollte sich in der Wahl zahlreicher späterer Stationen der Mirakel-Tournee, wie etwa der Breslauer Jahrhunderthalle, fortsetzen. Die spezifische Architektur der Rotunde erzwang eine Reihe von Veränderungen der in London so wirkungsvollen Aufführungsarchitektur. Hatten dort die Funktionalität und räumliche Disposition der Olympia Hall der Gestaltung eines gotischen Kirchenraums Freiräume eröffnet, konnte der hallenartige Charakter einer Kathedrale aufgrund des kreisförmigen Grundrisses der Rotunde nicht mehr aufgegriffen werden. Dem Neuen Wiener Tagblatt erläuterte der Architekt Hermann Dernburg die notwendigen Anpassungen: Die kuppelartige Raumdecke wird durch korinthische Pilaster getragen. Zwischen ihnen ziehen sich Rundbogenarkaden um die ganze Halle und scheiden die Mittelkuppel von dem umlaufenden Seitenschiff. Der Raum als solcher hat eine so starke Wirkung, etwas so überwältigend leicht Faßbares und Klares in Grundriß und Höhenentwicklung, daß es unmöglich ist, seiner Form Gewalt anzutun. Das Raumempfinden, aus dem er entstanden ist, ist ausgesprochen renaissancistisch; der Versuch, eine mittelalterliche Kathedrale daraus zu machen, müßte zu einer höchst unglücklichen Maskerade führen.500

Eine Rundtribüne mit ansteigenden Sitzreihen öffnete sich der weitläufigen kreisförmigen Spielfläche unterhalb der Kuppel, auf der ein Podium für Einzeldarstellungen 498 Die Größe der Kuppel übertraf sogar das Pantheon in Rom um ein Vielfaches. Leider fiel die Rotunde 1937 einem Brand zum Opfer, der einen Großteil des Gebäudes zerstörte. Zur Bau- und Ausstellungsgeschichte siehe weiterführend Pemsel 1989. 499 Vgl. Danielczyk 2009. 500 H. 1912.

2.2  Vom ›Theaterwunder‹ zum ›Heiligenkino‹       141

bestimmt war. Die Trennung von Spielraum und Auditorium wurde insofern aufgehoben, als dass sich Schauspielergruppen unter den Zuschauern befanden und in bestimmten Situationen von den Reihen aus in das Handlungsgeschehen eingriffen. Diese Form der Durchdringung von Zuschauer- und Aktionsraum beförderte allerdings weniger jenes kollektive Zugehörigkeitsgefühl, welches die Kritiker in London so oft betont hatten, sondern vielmehr eine Minderung der Illusionsbildung: »Massives Mißbehagen an der totalen Überwindung der Rampe wird laut. Was man mit seinen Sitzteilen drücke, sei Sitzplatz und Schauplatz zugleich. Man rieche den Menschendunst der gehetzten Haufen.«501 Eine ähnliche Problematik äußerte sich auch in den Szenenwechseln: Neben dem Hauptspielraum war zusätzlich eine kleinere Bühne errichtet worden, sodass Dekorationen für verschiedene Szenen simultan installiert werden konnten. Verschiedenfarbige Scheinwerferkegel akzentuierten den jeweiligen Handlungsort; für Verwandlungspausen wurde die Rotunde vollständig abgedunkelt. Zwar sollten Umbauphasen durch musikalische Untermalung überbrückt werden, doch wurden sie als Bruch im Handlungsverlauf empfunden: »Die Regie läßt dabei alle Stimmungskünste spielen: Verdunkelungen, Glockengeläute, Choralgesang. Allein fortgesetzte Wiederkehr degradiert den künstlerischen Notbehelf zum Tric [sic!], der die Stimmung bedroht, die er erzeugen will.«502 Die gigantische kegelförmige Kuppel verkomplizierte die Andeutung eines gotischen Deckengewölbes. Folglich musste die monumentale Kathedralarchitektur auf wenige Bauelemente reduziert werden: In die Arkaden waren leuchtende Transparente eingelassen, die den Anschein von Kirchenfenstern wecken sollten. Außerdem waren die Wände mit farbigen Behängen ausgekleidet, »damit eine mystische, möglichst intime und von der gewohnten Erscheinung des Raumes abweichende Wirkung gewonnen würde«.503 Dernburgs ausführlicher Beschreibung im Neuen Wiener Tagblatt lassen sich weitere Elemente des Szenenbilds entnehmen: Der Eingang [...] wurde architektonisch durch eine mächtige, von Türmen flankierte Orgelempore betont. Um deren Wirkung zu unterstreichen, wurde sie in der Farbe von dem neutralen Grau des Raumes losgelöst und in farbigem Marmor gedacht. Der Eingang zum Chor und Hauptaltar [...] wurde nur durch ein vergoldetes Lettnergitter angedeutet, hinter dem flackernde Kirchenlichter in mystischem Dunkel eine ahnungsvolle Perspektive schaffen.504

Diese wenigen szenografischen Versatzstücke in Kombination mit einer wirkungsvollen Lichtinszenierung und feierlichen musikalischen Untermalung genügten weiterhin, um das scenario des Wunders zu reaktivieren und den »Wunderglaube[n] [...] wieder lebendig« werden zu lassen.505 Doch obschon Dernburg eine in sich geschlossene Raumwirkung angestrebt hatte, ließ die starke Vereinfachung der Gestaltungs501 Huesmann 1983, S. 27. Huesmann liest diesen Tenor aus einer Zusammenschau von Rezensionen heraus. An dieser Stelle finden sich auch detaillierte Maßangaben. 502 Korngold 1912. 503 H. 1912. 504 H. 1912. 505 Graf 1912.

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elemente die Szenerie bruchstückhaft erscheinen. Dadurch büßte die Inszenierung letztlich an atmosphärischer Wirksamkeit ein: »[S]o bleibt über der Farbenpracht dieser Handlung eine Atmosphäre von Nüchternheit. In der Nüchternheit aber ist jegliche Märchenstimmung unmöglich und gleitet selbst mit den herrlichsten Massenaufzügen jeden Augenblick aus dem Erhabenen ins Banale.«506 Darüber hinaus war der Regisseur mit der großen Aufgabe konfrontiert, ein durch katholische Festgottesdienste eindeutig vorgeprägtes Publikum mit seiner visuell opulenten Inszenierung überzeugen zu müssen. Schließlich war nur zwei Tage zuvor die Abschlussprozession des Eucharistischen Kongresses durch die Straßen Wiens gezogen. Neben dieser Manifestation des katholischen Glaubens Österreichs muss gerade die Eröffnungsszene, deren Bildgewalt in London über die Aneignung habitueller Rituale intensiviert wurde, als Trivialität erschienen sein. Zwar wurde Reinhardts souveräne Beherrschung großer Darstellermengen, insbesondere im ersten Akt, als »Ekstase der Massenkunst« gepriesen,507 doch den zeitgenössischen Beobachter Hans Brecka (1885–1954) konnte das Zusammenwirken von schauspielerischer Darstellung und szenischem Raum in einigen Situationen nicht überzeugen: Es war zu offensichtlich arrangiert, zu sehr ›gestellt‹. Man sah all den Beterscharen, die da herankamen, die Mühe an, die es ihnen bereitete, mit den Schuhsohlen fest an dem Boden zu schleifen, um jenes typische Geräusch zu erzeugen, das wir, von dem leisen Schreiten der Andächtigen hervorgebracht, in hohen Domen erhallen hören.508

Von zahlreichen weiteren Kritikern wurde die Kathedrale als eine leere Hülle beziehungsweise als eine Apparatur für ein technisch spektakuläres Effekttheater umschrieben. Sie empfanden die Inszenierung des Irrationalen und Wundersamen nicht als mystisch, sondern als ein auf reine Schauzwecke angelegtes Theaterwunder. Ein Kritiker des Neuen Wiener Tagblatts bezeichnet es als »Betäubung aller Sinne«: »Für Kunstmenschen [...] ist dieses Mirakel [...] nicht gemacht, auch nicht für Leute, die [...] die Pracht heiliger Kirchenfeste kennen. Denn diese gewahren in dem Rotundenmirakel nur Uebertreibung [sic!], die den Reiz und die Kraft der Wirklichkeit doch nicht erreicht.«509 Zwar zog das Gastspiel bis zur letzten Aufführung am 7. Oktober 1912 große Zuschauermengen in die Rotunde, doch lassen sich anhand der Rezeptionsdokumente ambivalente Reaktionen, wie etwa zurückhaltender Beifall und frühzeitiges Verlassen der Vorstellung, ablesen. Selbst wenn die Wiener Theaterszene auf große Ausstattungsstücke des vergangenen Jahrhunderts zurückblicken konnte, blieb Reinhardts Großraumpantomime, für die London traditionsgemäß überaus empfänglich schien, unter den Wiener Kritikern bis zuletzt äußerst umstritten. In einer 506 507 508 509

Salten 1912, S. 15. bs 1912. Vgl. auch Illustrirtes Wiener Extrablatt 1912 u. Das Interessante Blatt 1912, S. 15. Brecka 1912. H. 1912. Vgl. auch Polgar 1912, S. 311 f.: »Einfalt und Monstrosität; Erschütterung des Nervensystems und lauwarme Waschungen der Psyche; katholische Frömmigkeit multipliziert mit andersgläubigem Raffinement; ein dürftiges Quentchen geistiger und ein gigantisches Uebermaß [sic!] sinnlicher Reizungen; keuscheste Gedanken-Askese und geilstes Theater.« Siehe hierzu auch Fuhrich/Dembski 2004, S. 59 f.

2.2  Vom ›Theaterwunder‹ zum ›Heiligenkino‹       143

Besprechung des Schriftstellers Felix Salten (1869–1945) scheint jedoch eine gewisse Anerkennung von Reinhardts innovativem Inszenierungsstil durch, auch wenn diese einhergeht mit dem Eingeständnis der eigenen Wahrnehmungsgrenzen. Die sich vor seinem Auge entrollenden Bilder verursachten nämlich eine regelrechte Herausforderung der zeitgenössischen Sehgewohnheiten: [W]ir sind auf die Optik dieses Kolossaltheaters noch nicht eingestellt. Wir wissen unseren Augen in diesem Ozean von Erscheinungen noch keinen festen Punkt zu geben, können mit unserem Blick nicht das ganze Bild umfassen, sondern klauben nur zerstückelte, kleine Bildchen zusammen, haben dabei fortwährend das Gefühl, daß es nur kleine Bildchen sind, und das macht uns unruhig.510

Bezeichnenderweise begannen unmittelbar nach dem Gastspiel die Dreharbeiten zweier Mirakel-Verfilmungen. Die kinematografische Ästhetik der Pantomime, die auch der Berliner Theaterkritiker Alfred Kerr (1867–1948) mit der Umschreibung des Gastspiels im Zirkus Busch als »Heiligenkino«511 spöttisch beäugte, sollte eine Dekade später in der Konzeption der New Yorker Inszenierung von 1924 auf einer neuen Ebene verhandelt werden. In dieser Neuauflage wurde das Spektakuläre zum zentralen ästhetischen Anliegen.512 Theaterwunder, Theaterspektakel – Die Neuinszenierung in New York

Bereits Anfang 1913 verhandelte Max Reinhardt mit dem aus Mannheim stammenden und in New York lebenden Bankier Otto H. Kahn (1867–1934) über ein groß angelegtes Gastspiel der Mirakel-Inszenierung in den Vereinigten Staaten. Die ursprüngliche Premiere war für den 9. Dezember 1914 angesetzt und als Spielstätte stand unter anderem der Madison Square Garden zur Diskussion. Die Besetzung sowie das Bühnenbild und die Kostüme sollten aus London übernommen werden.513 Reinhardts Brief vom 21. Januar 1913 verdeutlicht sein Bestreben, das amerikanische Theater reformieren zu wollen:

510 Salten 1912, S. 15. Zur Herausforderung der zeitgenössischen Sinneswahrnehmung mit dem Ziel, ein neues Perzeptionsverhalten zu schaffen, siehe auch die Analyse der Berliner Inszenierung von Die Jungfrau von Orleans in Kapitel 3.3.2. 511 Kerr 1914. 512 Siehe Das Mirakel, D, AT, GB 1912, R: Michel-Antoine Carée, Cherry Kearton, Max Reinhardt u. Das Mirakel, D 1912, R: Mime Misu. Aufgrund eines Urheberrechtsstreits entstand in kürzester Zeit eine neue Filmfassung von Misus Stummfilm unter dem Titel Das Marienwunder  – Eine alte Legende. Zu den Verfilmungen siehe ausführlich Wedel 2001; Prossnitz 1986b u. Bier 1983. Zur Verwandtschaft der Inszenierung mit dem zeitgenössischen Film vgl. auch Stefanek 1973, S. 98. 513 Um eine Tournee durch weitere Bundesstaaten zu organisieren, wurde die American Miracle Company gegründet. Dadurch, dass die amerikanische Presse die Londoner Uraufführung mit großem Interesse begleitet und A. H. Woods die Verfilmung vorgeführt hatte, war die Pantomime im eigenen Land bereits publik gemacht worden. Vgl. The New York Times 1914b. Siehe hierzu auch Le Men 2017, S. 67; Marx 2006a, S. 136; Fuhrich/Prossnitz 1993, S. 149 u. Fuhrich-Leisler/Prossnitz 1976.

144       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel Es unterliegt keinem Zweifel, daß Amerika wie kein anderes Land der geeignete Boden für die neue große Theaterform zu sein scheint. [...] Das Wesen unserer Aufgabe scheint mir zu sein, das Theater wieder groß und monumental zu gestalten [...]. [...] Ich glaube fest daran, daß gerade diese Form des Theaters dem amerikanischen Geiste, dem ganzen Zuschnitt der amerikanischen Lebensgestalt am meisten entspricht.514

Mit Großraumproduktionen wollte Reinhardt in Amerika, der bevölkerungsreichen Nation, wirtschaftliche Erfolge feiern und seine Regiekunst vollends entfalten. Dass er in der Nachkriegszeit sofort seine Kontakte nach New York reaktivierte, veranschaulicht die große Bedeutung seines Expansionsvorhabens. Zunächst plante Reinhardt, mit Hugo von Hofmannsthals Das Salzburger Große Welttheater sein Regiedebüt zu geben. 1922 hatte er in Salzburg für Furore gesorgt, indem er die barocke Kollegienkirche für die Inszenierung dieses Stücks umfunktioniert hatte (Abb. 6).515 Für New York bevorzugte Reinhardt einen ›neutralen‹ Aufführungsraum, der sich variabel in ein Kircheninterieur transformieren ließ, stand einer Re-Inszenierung in einem Kirchengebäude in anderen Großstädten jedoch offen gegenüber. Seine Vorgaben für die Suche nach einem geeigneten Aufführungsort für Das Salzburger Große Welttheater planten ebenfalls das Gastspiel der Mirakel-Inszenierung fest ein: Da die normale Bühneneinrichtung hier nicht in Anspruch genommen wird, könnte z. B. eine armoury oder ein ähnlicher Raum gewählt werden, in dem (so wie seinerzeit beim ›Mirakel‹ in der Olympia Hall in London) das Innere einer gotischen Kathedrale gestaltet wird. [...] Mit der Ausgestaltung eines solchen Raumes würde [...] ein ganz neuer zukunftsreicher und, wie ich überzeugt bin, außerordentlich entwicklungsfähiger Typ des sakralen Theaters entstehen, der nicht nur geeignet wäre, das ›Welttheater‹ aufzunehmen, sondern in der Folge auch der geeignetste Rahmen sein würde für Werke wie das ›Mirakel‹ [...]. Das Innere [...] braucht [...] nur eine einfache Dekoration, erzielt trotzdem eine überraschende szenische Wirkung und ist im Wesentlichen auf eine neue Lichttechnik gestellt.516

Da man von der Pantomime einen größeren Publikumserfolg erwartete, legten sich die Verantwortlichen im April 1923 auf die Neuinszenierung von Vollmoellers Mirakel fest. Die Organisation der aufwändigen Produktion, die am 15. Januar 1924 Premiere feiern sollte, übernahm der Theaterunternehmer und Impresario Morris Gest (1875–1942). Einer Empfehlung des renommierten Theaterkritikers Kenneth Macgowan (1888–1963) folgend machte er Reinhardt mit Norman Bel Geddes bekannt.517 Der ambitionierte Architekt und Bühnenbildner, der unter anderem 514 Brief von Max Reinhardt an Otto H. Kahn, Berlin, 21.01.1913, in: Reinhardt 1989, S. 191. 515 Zur Inszenierung in der Kollegienkirche siehe ausführlich Schuler 2007, S. 105–163. 516 Brief von Max Reinhardt an Edward Ziegler, Wien, 20.09.1922, in: Reinhardt 1989, S. 194 f. Zu Reinhardts ursprünglichen Plänen und der Korrespondenz mit seinen amerikanischen Kontakten siehe Fuhrich-Leisler/Prossnitz 1976, S. 28–43. 517 Vgl. Fuhrich/Prossnitz 1993, S. 149; Huesmann 1983, S. 73 u. Adler 1983, S. 146–159. Nach Innes habe Joseph Urban den Kontakt zu Bel Geddes hergestellt. Beide weilten 1923 in Salzburg und hatten an der Metropolitan Opera zusammengearbeitet. Vgl. Innes 2005, S. 4. Christin Essin verweist darauf, dass Bel Geddes eine Zeit lang in Urbans New Yorker

2.2  Vom ›Theaterwunder‹ zum ›Heiligenkino‹       145

am Art Institute in Chicago studiert hatte, wurde mit sämtlichen Bühnenbild- und Kostümentwürfen sowie der Aufsicht über die szenische Beleuchtung betraut. Die öffentlichkeitswirksame Entscheidung, in New York mit einem Amerikaner zusammenzuarbeiten, wurde einerseits aus Vermarktungsgründen getroffen.518 Andererseits überzeugte Bel Geddes’ künstlerische Auffassung, einen Spielraum vornehmlich durch das Wechselspiel von Bühnenbeleuchtung und großen Farbflächen zu modellieren. Mit seinen innovativen Entwürfen zu Dante Alighieris (1265–1321) Die Göttliche Komödie, die 1922 in Amsterdam ausgestellt waren, hatte der Bühnenbildner Reinhardts Interesse geweckt. Sie zeugen von einer Auseinandersetzung mit den zukunftsweisenden Theorien Adolphe Appias (1862–1928) und Edward Gordon Craigs zur Stilisierung der Ausstattung.519 Gemeinsam trafen der Regisseur und der Ausstattungsleiter auch die Wahl des geeigneten Aufführungsortes: Zwar schwebte Reinhardt zunächst die gigantische Raumlösung des Hippodrome Theatre vor, doch weil dies zum geplanten Premierendatum nicht verfügbar war, fiel die Entscheidung auf das auf den ersten Blick überraschend konventionelle Century Theatre. Mithilfe großzügiger Sponsorengelder hatte das Architekturbüro Carrère & Hastings im Jahr 1909 das Theatergebäude an der 62. Straße/Central Park West errichtet. Die Architekten John Merven Carrère (1858–1911) und Thomas Samuel Hastings (1860–1929), die beide an der Pariser École Nationale Supérieure des Beaux-Arts studiert hatten, prägten den historisierenden Beaux-Arts-Stil in den Vereinigten Staaten. Sie statteten die Außenfassade und insbesondere das Interieur des Theaters mit prächtigen Dekorelementen aus, die eine eklektische Mischung aus italienischer Renaissancearchitektur sowie Anleihen maurischen und spanischen Ursprungs bildeten (Abb. 56). Mit einem Fassungsvermögen von über 2.300 Zuschauern sowie einer Bühnenfläche von mehr als 500 Quadratmetern war der Innenraum des Theaters einer der größten in der ganzen Stadt. Unter dem Namen ›New Theatre‹ sollte zunächst ein Repertoiretheater nach europäischem Vorbild geführt werden. Aufgrund der ungünstigen Lage abseits des Broadways sowie der Probleme mit der Akustik stellte sich der erforderliche Publikumserfolg von Beginn an nicht ein. Mit der Umbenennung in ›Century Theatre‹ im Jahr 1911 und einer stetig wechselnden Leitung veränderte sich auch die programmatische Ausrichtung: Musicals, Operetten und Tanzrevuen sollten die notwendigen Zuschauerzahlen einbringen. Von Gastspielen bekannter externer Produktionen, wie etwa Reinhardts Mirakel-Inszenierung, erhoffte man sich weiteren Atelier gearbeitet habe. Vgl. Essin 2012, S. 150. Zu Gests Produzententätigkeit siehe Marx 2006a, S. 138. Zu Joseph Urban siehe Kapitel 4.2.2. 518 Zuvor war Bel Geddes am Little Theatre in Los Angeles tätig, in New York arbeitete er unter anderem an diversen Broadway-Produktionen. Vgl. ausführlich Ausst.-Kat. Austin 2012. 519 Von Bel Geddes’ Persönlichkeit begeistert schwärmte Reinhardt: »Er ist ein Baumeister [...]. Im Mittelalter würde er Kathedralen gebaut und aus ihnen die Wiege unseres Theaters geschaffen haben.« Reinhardt, Max, »Norman Bel Geddes« [1924], in: Reinhardt 1989, S. 201. Zum Dante-Projekt siehe weiterführend u. a. Essin 2006, S. 127–136. Zur New StagecraftBewegung siehe ausführlich Kapitel 4.2.2. Bel Geddes zeigte sich wiederum beeindruckt von Reinhardts Inszenierung Sumurûn, die 1912 im New Yorker Casino Theatre aufgeführt wurde. Vgl. Ausst.-Kat. Austin 1979, S. 8.

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Abb. 56: Carrère & Hastings, Century Theatre, New York, Zuschauerraum, 1909.

Abb. 57: George Wall, How the Century Theatre was Converted into a Cathedral for the Production of »The Miracle«, 1924.

Zuwachs.520 Die Arbeiten im Century Theatre folgten Max Reinhardts Regiebuch, das der Regisseur im November 1923 fertigstellte. Neben einem Typoskript zur Handlung finden sich darin eine Reihe von handschriftlichen Anmerkungen und raschen Skizzen zur Raumaufteilung und Positionierung der Schauspieler, anhand 520 Vgl. Fisher/Hardison Londré 2008, S. 344 u. Larson 1989, S. 77.

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derer sich die vollständige Umarbeitung der Pantomime für das Amerika-Gastspiel nachvollziehen lässt: »Neue Szenen wurden eingefügt, bestehende umgeformt, Figuren hinzugeschaffen, so daß das ›Mirakel‹ [...] als ein völlig neues Werk angesprochen werden kann.«521 Insbesondere die dramaturgische Neustrukturierung fällt ins Auge: War die Uraufführung in zwei Akte unterteilt, die das Zwischenspiel rahmten, war im Regiebuch von 1923 eine Handlungsfolge von neun Bildern angelegt. Außerdem wurde das szenische Personal abgeändert. So wurde beispielsweise anstelle des Spielmanns eine Schattengestalt eingeführt, die zwischen der Figur des Musikanten und der Personifikation des Todes oszillierte.522 Das Raumkonzept, das Norman Bel Geddes für das Century Theatre erarbeitete, musste zwangsläufig einer anderen Herangehensweise folgen als Ernst Sterns Arbeiten in London, denn Bel Geddes sah sich mit einer völlig neuen künstlerischen Aufgabe konfrontiert.523 Veranschaulicht wird diese Problematik in George Walls (nicht ermittelbar) schematischer Skizze der Bühnenarchitektur, die 1924 im Scientific American unter dem Titel How the Century Theatre was Converted into a Cathedral for the Production of »The Miracle« veröffentlicht wurde (Abb. 57): Während Stern seine gotische Kathedrale nahezu uneingeschränkt in eine dekorationslose Arena hineinbauen konnte, galt es in New York ein vorhandenes Theatergebäude in seiner Dimension und Gestalt so zu verändern, dass die räumliche Illusion eines tatsächlichen Kircheninterieurs geweckt werden konnte. Um das Publikum in den Zustand einer Kirchengemeinde zu versetzen, wurden zweihundert Sitzplätze im Parterre entfernt und die ursprüngliche Guckkastenbühne flächenmäßig erweitert, wie Bel Geddes in seiner Autobiografie erläutert hat: »I shortly determined that I would have to bring the setting out into the auditorium, making the whole theater the stage.«524 Durch diese Veränderung rückte das Publikum näher an den Aktionsraum der Schauspieler heran. Während Stern die Londoner Zuschauer hufeisenförmig um die Spielfläche in der Mitte des Raums gruppierte, platzierte Bel Geddes das New Yorker Publikum auf hölzernen Kirchenbänken, die frontal zum Bühnengeschehen ausgerichtet waren. So konnte er den Seheindruck erzeugen, als ob die Zuschauer im Mittelschiff einer Kirche saßen und in Richtung der Apsis blickten. Mit dem zen521 Programmheft zu Das Mirakel, Zirkus Renz, Wien, 1927, S. 18 f., Wien, Theatermuseum, Programmarchiv, PA_RaraG174. Die Inszenierung im Zirkus Renz folgte der Neubearbeitung. 522 Vgl. Regiebuch zur New Yorker Aufführung 1923. Gez. von Reinhardt: New York, November 1923, Wien, Theatermuseum, VM 513 Re. Darüber hinaus wurde die musikalische Begleitung Humperdincks durch Einar Nilson und Friedrich Schirmer kompositorisch angepasst. Siehe auch Marx 2006a, S. 142 u. Fuhrich-Leisler/Prossnitz 1976, S. 47–49. 523 John Mabry bezeichnet die Kathedrale im Century Theatre als eine Replik von Sterns Ursprungsentwurf. Seine Beschreibung des Londoner wie auch des New Yorker Bühnenbildes stützen sich hauptsächlich auf Kritiken und die englischsprachige Forschungsliteratur, während das Bildmaterial der reinen Illustration dient. Eine intensivere Analyse der vorhandenen Bühnenbildentwürfe und Pläne weisen Bel Geddes’ Konzept als Variation aus, nicht aber als unmittelbare Nachbildung von Sterns Prototyp. Vgl. Mabry 2013, besonders S. 14 f. u. S. 103–115. 524 Bel Geddes 1960, S. 274. Hierbei handelt es sich um eine posthum veröffentlichte, gekürzte Version der Autobiografie. Ergänzende Manuskripte finden sich im Nachlass des Künstlers. Vgl. hierzu auch Hopkins 1924, S. 228 f.

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Abb. 58: Norman Bel Geddes, Längsschnitt durch die Kathedrale zu Das Mirakel, New York, 1924.

tralperspektivischen Blick auf den Hochaltar musste er jedoch die konventionelle Trennung von Bühne und Zuschauerraum beibehalten, die in London so eindrucksvoll überwunden werden konnte.525 Zahlreiche Fotografien, Illustrationen und technische Pläne dokumentieren im Detail, wie der Aufführungsraum in eine gotische Kathedrale transformiert wurde: Auf der Bühne ließ Bel Geddes eine halbkreisförmige Apsis mit einem Chorumgang und neun Seitenkapellen errichten, wodurch eine räumliche Tiefenwirkung erzielt werden konnte. Ein umlaufender Lichtgaden mit Maßwerkfenstern suggerierte das Höhenverhältnis einer gotischen Kathedrale (Abb. 58). Auf der linken Seite wurde die Hauptszene von einem Turm und rechts von einer wuchtigen Kanzel begrenzt. Das Zentrum des Spielraums markierte ein prächtiger frei stehender Hochaltar, der von einem filigranen Eisengitter abgeschirmt wurde. Das gotische Deckengewölbe wurde von wuchtigen Steinsäulen gestützt. Den hinteren Bühnenbereich schloss ein überdimensionierter schwarzer Rundhorizont ab, welcher extra für die Inszenierung angefertigt worden war. Im Rücken der Zuschauer bildete ein gewaltiges Radfenster den Abschluss auf der gegenüberliegenden Seite. Ausgehend von dem Bühnenrahmen, der wie ein riesiger Trinitätsbogen gestaltet war, wurden die gotischen Dekorationselemente im gesamten Theaterraum fortgeführt. So wurden etwa die seitlichen Logen mit Bogengängen und Maßwerkschmuck ausgestattet. Dabei legte Bel Geddes einen besonderen Wert auf die multisensorische Erfahrbarkeit einzelner Materialien. Bodenbeläge und Wandverkleidungen sollten die Haptik und den Klang von massivem Stein imitieren. Außerdem beschränkte sich die Ausgestaltung nicht 525 Vgl. auch Essin 2012, S. 150 f.; Essin 2006, S. 136–138; Marx 2006a, S. 139 u. Innes 2005, S. 66–68.

2.2  Vom ›Theaterwunder‹ zum ›Heiligenkino‹       149

nur auf den eigentlichen Aufführungsraum. Verstärkt wurde der Raumeindruck der mittelalterlichen Kathedrale durch die Gänge und das Foyer des Theaters, welche an einen Kreuzgang gemahnen sollten.526 Mit großem Enthusiasmus konstatierte Max Reinhardt, der ursprünglich einen neutraleren Aufführungsraum bevorzugt hätte, dass sich Bel Geddes’ Raumkonzept auch beliebig für Inszenierungen von Das Salzburger Große Welttheater und Jedermann umfunktionieren ließe: Wenn das Ganze so realisiert wird, wie es gedacht und entworfen ist [...] so dürfte schon der dekorative Teil allein, die faszinierende Stimmung des gotischen Dominterieurs, wie sie keine der Kirchen in Newyork [sic!] annähernd aufzuweisen hat, nach meiner Überzeugung eine beispiellose Überraschung sein und eine unabsehbare Attraktion ausüben. Niemand wird das reiche aber banale Century Theatre erkennen und jedermann wird sofort im Bann der gewaltigen Architektur stehen, die ein Mirakel für sich ist. Alles Hergebrachte im Theater ist hier völlig aufgehoben. In diesem Raum werde ich [...] nicht ein Mirakel sondern [...] hundert Mirakel erstehen lassen, indem ich mit Schauspielern, Licht, Musik, Bewegung jede Einzelheit, jede Säule, jedes Fenster, jede Treppe, jeden Gang wirklich belebe und das Ganze zu einem, noch nie dagewesenen Mysterium mache.527

Umbaumaßnahmen in dieser gigantischen Dimension hatte die New Yorker Theaterwelt bis dato noch nicht erlebt, weshalb die Tagespresse Bel Geddes’ Arbeit mit großer Aufmerksamkeit verfolgte. In einem gesonderten Artikel dokumentierte die New York Times die einzelnen Umbauschritte, die Vielzahl an Requisiten, das umfangreiche technische Equipment sowie die Anzahl der Arbeitsstunden, um dem finanziellen und technischen Aufwand Ausdruck zu verleihen.528 Das große Aufsehen ist sicherlich auf die schiere Dimension dieses Theaterprojekts der Superlative als auch auf eine gezielt geführte Werbekampagne von Morris Gest zurückzuführen. Bel Geddes war im Sommer 1923 nach Europa gereist und hatte in Wien, Salzburg und Paris zahlreiche mittelalterliche Bau- und Kunstwerke im Original studiert. Daraufhin fertigte er über achthundert technische Pläne zur Kirchenarchitektur sowie zum dekorativen Schmuck, anhand derer sich die nähere Gestaltung des Kircheninterieurs nachvollziehen lässt. Das Materialkonvolut umfasst sowohl detaillierte Studien als auch rasche Skizzen zum Wandaufriss und Grundriss, zur Boden- und Deckengestaltung sowie zu einer Vielzahl von Requisiten und kleinen Dekorelementen (Abb. 59). Allein die Vielzahl und die Größe der einzelnen Detailentwürfe vermitteln einen Eindruck von der Monumentalität der gesamten Bühnen526 Vgl. Marx 2006a, S. 139; Innes 2005, S. 66 u. Russel 1974, S. 49 f. 527 Max Reinhardt an Morris Gest: Briefentwurf, Sommer 1923. Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, Teilnachlass Max Reinhardt, ZPH 1565, Box 4, 2.1.97. Für die spätere englische Übersetzung siehe Brief von Max Reinhardt an Morris Gest, 25.08.1923, Harry Ransom Center, The University of Texas at Austin, Courtesy of the Edith Lutyens and Norman Bel Geddes Foundation. 528 Vgl. Unbekannt 1924a. Siehe auch Huesmann 1983, S. 73–75. Für die spätere Tournee durch Amerika wurde eine transportable Kathedralarchitektur aus leichten Materialien konstruiert, deren Auf- und Abbau fast zwei Wochen in Anspruch nahm. Vgl. FuhrichLeisler/Prossnitz 1976, S. 66.

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Abb. 59: Norman Bel Geddes, Entwurf für Requisiten zu Das Mirakel, New York, 1924.

architektur. Auf Basis dieser akribisch ausgeführten Pläne wurden Modelle gefertigt und Handwerker beauftragt, die einzelnen Elemente aus soliden Materialien wie Holz, Eisen und Stein nachzubauen. Mittels einer gedeckten Farbpalette aus Braun-, Grau- und Weißtönen wurde die authentische Materialästhetik eines mittelalterlichen Kirchenbaus verstärkt.529 Von einer besonders leuchtenden Farbigkeit zeugen die Entwürfe zu den Buntglasfenstern, die Szenen aus dem Leben Christi zeigen (Abb. 60). Im Austausch mit einer Glaserei entstanden Nachbildungen auf durchlässigen Musselinbahnen, hinter denen Scheinwerfer angebracht waren. Wie natürliches Tageslicht fielen die farbig gefilterten Lichtkegel in den Spielraum hinein. Zudem waren hunderte von elektrischen Kerzen im Raum verteilt, wodurch die charakteristische Lichtsituation einer mittelalterlichen Kathedrale nachgeahmt werden konnte: »I wanted the members of the audience to feel that they were [...] at a service and not at a show. They must enter a dimly lightened church as they would have done to see The Miracle in the twelfth century.«530 In der Form der Maßwerkfenster sowie der vielfarbigen Lichtinszenierung folgte Bel Geddes der hochgotischen Sainte-Chapelle in Paris (Abb. 61): »Durch die immens hohen Glasfenster filtriert, spielt, singt, befiehlt das Licht. Alle Wirkung tritt allein durch dieses glühende Mysterium in Erschei-

529 Vgl. Russel 1974, S. 50. 530 Bel Geddes 1960, S. 274. Vgl. hierzu auch Russel 1974, S. 53 u. S. 56.

2.2  Vom ›Theaterwunder‹ zum ›Heiligenkino‹       151

Abb. 60: Norman Bel Geddes, Entwurf für ein Maßwerkfenster zu Das Mirakel, New York, 1924.

nung.«531 Mehr noch als in London war eine minutiös abgestimmte Bühnenbeleuchtung erforderlich, damit die in den Theaterraum eingepasste Scheinkathedrale ihre 531 »Reinhardts Heimkehr. Die Dollarprinzessin als ›Nonne‹ – Das amerikanische Publikum [Ein Bericht]«, in: Reinhardt 1989, S. 204. Überdies finden sich Hinweise auf den MontSaint-Michel in der Normandie, die Kathedrale Notre-Dame in Paris sowie gotische Abteikirchen in Deutschland als Vorbilder. Vgl. Morrowitz 2009, S. 357. Ségolène Le Men verweist mit dem Chicago Tribune Tower auf eine spezifische kulturelle Rahmung des Mirakel-Gastspiels in Chicago. Der Wolkenkratzer war zwischen 1923 und 1925 im neogotischen Stil errichtet worden. Da Bel Geddes selbst eine Zeit lang in Chicago studiert hatte, muss er den Bau mit großem Interesse verfolgt haben. Um diese Verbindungslinie zu konkretisieren, müsste, wie die Autorin empfiehlt, das Bild- und Quellenmaterial im Nachlass des Bühnenbildners konsultiert werden. Vgl. Le Men 2017, besonders S. 65, S. 67 u. S. 71–80.

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Abb. 61: Sainte-Chapelle, Paris, Oberkirche, Chor, 1239–1248.

überwältigende Wirkung entfalten konnte. Um diese spezifische Anforderung zu erfüllen, wurde für die Mirakel-Inszenierung extra eine spektakuläre Technik eingerichtet. So ließ Bel Geddes eine Hauptschaltstelle installieren, über die die gesamte Beleuchtung gesteuert werden konnte.532 Dieser Beleuchtungsapparat half, jene umfangreichen Lichteffekte und fein abgestimmte Farbpalette zu erzeugen, die Bel Geddes in einem Probenmanuskript notierte. Der gesamte Spielraum wurde, abgesehen von den wirkungsvollen Massenszenen, selten vollständig ausgeleuchtet. Vielmehr diente eine nuancierte Lichtregie, die Bel Geddes ›mobile lighting‹ nannte, der räumlichen Modulation einzelner Schauplätze. So konnte etwa über ein tiefes Schwarz die scheinbar endlose Höhe der Kathedrale oder das undurchdringliche Dickicht des Waldes suggeriert werden. Darüber hinaus entwickelte er einen differenzierten Farbschlüssel, der einzelnen Aktionen, Kulissen und Kostümen konkrete Farbwerte zuordnete, durch die situationsbedingte Stimmungen verdeutlicht werden sollten. Auch wies er einzelnen Aktionen spezifische Toneffekte zu, wodurch Bel Geddes’ fortschrittliches Szenografieverständnis, in dem alle Künste wechselseitig ineinanderwirken, dokumentiert wird.533 Unter den Entwürfen zu den einzelnen Szenenbildern fällt die Kreidezeichnung »The Cathedral« besonders ins Auge (Abb. 62). Während einige Bühnenbildentwürfe in Schwarz-Weiß gehalten sind, modelliert Bel Geddes in dieser Skizze den Bildraum mithilfe von Farbakzenten: Schlaglicht erhellt das Marienbildnis im Zentrum des Geschehens, während der übrige Kirchenraum in einem diffusen Spiel aus Licht und Schatten verschwimmt. So wird auf anschauliche Weise vorgeführt, wie die Lichtregie zum zentralen Gestaltungselement der Rauminszenierung einer 532 Zu den technischen Details vgl. Huesmann 1983, S. 74. 533 Vgl. hierzu Russel 1974, S. 51–57; Bogusch 1972, S. 420 f. sowie Bogusch 1968, S. 71. Der Farbschlüssel wurde erstmals abgedruckt in Sayler 1926, S. 249–251.

2.2  Vom ›Theaterwunder‹ zum ›Heiligenkino‹       153

Abb. 62 und 63: Norman Bel Geddes, Bühnenbildentwürfe zu Das Mirakel, New York, 1924.

heiligen Szene wird. Bel Geddes erklärte in einer Vorlesung aus dem Jahr 1927 den Mehrwert der Beleuchtung, Schauspieler, Bühnenbild und Kostüm in eine atmosphärische Einheit zu verwandeln und so die Affektregungen der Zuschauer in eine bestimmte Richtung zu lenken: Good illumination [...] gives a feeling of space, of depth; an all-over quality to the walls, pieces of furniture, the people, and so forth, and pulls them together. It’s a quality you

154       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel can’t possibly get in any other way. [...] If it’s done well, it will produce a rhythm; an emotional thing; a sort of hypnotic power over an audience that you can’t get any other way.534

Über die atmosphärische Beleuchtung hinaus kam auch in New York das bewährte Prinzip der vollständigen sinnlichen Affizierung der Zuschauer zum Einsatz: Gesänge und Orgelspiel füllten den Raum akustisch, Glockenläuten war aus der Höhe zu vernehmen und Weihrauch strömte in die Luft, um die sakrale Atmosphäre zu intensivieren. Diese Medien ließen die Grenze zwischen Inszenierung und Wirklichkeit so sehr verschwimmen, dass die scheinbare Unzulänglichkeit der konventionellen Theaterarchitektur aufgehoben und ein allumfassendes gemeindeähnliches Raumerlebnis erzeugt werden konnte: There is no curtain nor any division between the stage and the rest of the theater, for the stage has become the apse of the cathedral in which the audience is sitting. [...] The whole place has an air of solidity, of mellow age and impressive beautiful dignity. No one knows when the play begins, as movements seem to be continual and natural.535

Nach den ersten Bildern in der Klosterkirche folgten unmittelbar die weltlichen Abenteuer und Prüfungen der jungen Nonne, ohne dass Ortswechsel im eigentlichen Sinne vollzogen wurden. Vielmehr wurden neue Räume im bereits bestehenden szenischen Raum geschaffen. Der Wald ist nicht nur ein Schauplatz, an dem die Nonne schicksalhafte Entscheidungen treffen muss, sondern markiert in der Bilderfolge aus bühnentechnischer Sicht auch einen Übergangsort: [A]us dem Hochaltar wurde ein Wald, und aus den Nonnen wurden plötzlich lauter nackte Nymphen, die brauchten nur ihre Kutten wegzuwerfen [...]. Die Nymphen waren in phosphoreszierende Stoffe eingepackt. Das war natürlich ein besonderer Reiz für das Publikum.536

Bel Geddes’ Entwurf »The Forest Scene« veranschaulicht die transitorische Funktion des Waldes (Abb. 63). Die Umgebung ist in ein tiefschwarzes Dunkel getaucht, während ein von rechts einfallender Lichtkegel die Waldlichtung, auf der die Gruppe der Schauspieler versammelt ist, hervortreten lässt. Ganz bewusst scheint die monumentale Kathedralkonstruktion in der Zeichnung hindurch, indem die vormaligen Säulen der Kirche nun als Baumstämme fungieren. So deutet sich in der Raumkon-

534 Bel Geddes, Norman, »Elementary Lesson V« [1927], zit. n. Bogusch 1972, S. 420. In dieser Auffassung wird die Auseinandersetzung mit Appias Reformkonzept deutlich. Siehe hierzu Kapitel 4.2.1. 535 Unbekannt 1924b, S. 210. Siehe auch Ausst.-Kat. Austin 2012, S. 159 f. u. Marx 2006a, S. 143 f. 536 Krauß 1958, S. 92. Da im Programmheft »intermissions« – kurze Unterbrechungspausen – aufgeführt werden, kann nicht von einem nahtlosen Übergang zwischen den einzelnen Szenen ausgegangen werden. Siehe Programmheft zu Das Mirakel, Century Theatre, New York, 1924, Wien, Theatermuseum, Programmarchiv, PA_RaraG3057.

2.2  Vom ›Theaterwunder‹ zum ›Heiligenkino‹       155

struktion des Waldes die Nähe zum Kloster an.537 Daraus resultierte ein spannungsgeladenes Verhältnis zwischen dem sakralen Interieur und der profanen Außenwelt. Diese Spannung wurde insofern gesteigert, als dass, wie Reinhardt in seinem Regiebuch vermerkte, während der weltlichen Szenen weiterhin Glockenläuten und Gesänge der Nonne zu hören waren. Dadurch vergegenwärtigte sich die räumliche Präsenz der Kathedrale unterschwellig nicht nur für die sich in einem Gewissenskonflikt befindende Protagonistin, sondern – wie John Palmer bereits für die Londoner Uraufführung herausgestellt hatte – im Besonderen auch für das Publikum: »The mere physical presence of the cathedral walls lends a unity to the play, though we are not actively aware of them when the story requires us to forget.«538 In London hatte dieses Spannungsverhältnis zu ambivalenten Interpretationen des Zwischenspiels geführt. Sah Vollmoeller darin ein realistisches Abbild des mittelalterlichen Lebens beziehungsweise der Begebenheit einer Wundererscheinung, präferierte Cochran den Traumcharakter, mit dem es im Programmheft angekündigt wurde: »Die Londoner Kritik sieht darin ein reizvolles und sinnreiches Arrangement von Traum, Schaum und Wirklichkeit, [...]. In Wahrheit ist das Intermezzo eine Revue des Mittelalters.«539 Hatte bereits das Clerical Advisory Committee Reinhardt nahegelegt, die Grenze zwischen der Realität des Klosterlebens und dem weltlichen Traum stärker zu betonen, so findet sich in seinem Regiebuch für die New Yorker Inszenierung eine deutliche Markierung: In diesem Augenblick setzt etwas ein, was ebensogut die tolle Ausgeburt eines [...] rasenden Fiebertraumes sein kann, wie eine phantastische Wirklichkeit, die in traumhaft raschem Wechsel ein Erlebnis über das andere stürzt und die Nonne nach einem [...] bunte[n], wilde[n] Leben [...] wieder in den Schoss der Kirche kehrt. Traum oder Wirklichkeit: Der Traum ist jedenfalls von phantastischer Traumhaftigkeit, so endlos lang, wie ein schwerer Traum, so erschreckend kurz wie ein reiches Leben.540

Dabei ist anzunehmen, dass Reinhardt diese Verdeutlichung nicht aus moralischen Beweggründen vornahm, sondern ein Skript für eine effektreiche und bildgewaltige Szenenfolge liefern wollte. Die zu diesem Zweck eingesetzten technischen Hilfsmittel nähern sich zunehmend den Spezialeffekten des Films an, zumal Bel Geddes vor seiner Tätigkeit in New York auch in Hollywood Station gemacht hatte: Über eine Nebelmaschine konnte anstelle eines Vorhangs eine künstliche Rauchwand – also eine räumliche Begrenzung – erzeugt werden. Farbiges Scheinwerferlicht, das auf die Rauchschwaden traf, schuf eine mystische Lichtsituation, welche den Traumszenen zu einer Atmosphäre des Entrückten und Unwirklichen verhalf. Hinter dem Nebel versteckt, konnten überdies rasche Szenenwechsel vollzogen werden. Für die 537 Siehe auch Bogusch 1972, S. 424. 538 Palmer 1912, S. 10. Siehe hierzu auch Przytulski 2004, S. 79 u. Fuhrich-Leisler/Prossnitz 1976, S. 48. 539 Kommer 1912. Vgl. hierzu auch The Times 1911b. Die Idee eines Traums wurde in den späten Mirakel-Inszenierungen gänzlich aufgegeben. Zu der Diskussion siehe auch Becker 2011, S. 227; Przytulski 2004, S. 78 f.; Shewring 1987, S. 16 u. Stefanek 1973, S. 97 f. 540 Regiebuch zur New Yorker Aufführung 1923. Gez. von Reinhardt: New York, November 1923, Wien, Theatermuseum, VM 513 Re, S. 10.

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Abb. 64: Szenenfotografie zu Das Mirakel, New York, 1924.

Verwandlungen stand außerdem ein komplexes, elektronisch betriebenes Schnürbodensystem zur Verfügung, über das Kulissenteile in der Gegenwart des Publikums verschoben werden konnten. In kontinuierlicher Geschwindigkeit ließen sich die einzelnen Szenenbilder wie von einer Filmspule entrollen.541 Vergleichbar mit Ernst Sterns Ansatz waren auch für Norman Bel Geddes, der die Szenografie als eine Einheit von Bühnenbild, Kostüm und Lichtregie betrachtete, die Schauspieler eine zentrale Komponente seines Raumkonzepts: »Costumes are the scenery worn by actors in and around the setting. Lighting is the instrument for drawing the costumes and settings together.«542 Eine spezifisch raumbildende Funktion übernahm das Bildnis der Madonna. Hatte Ernst Stern ein besonderes Augenmerk auf die Inszenierung des Marienwunders durch die szenische Beleuchtung sowie die Materialität ihres Kostüms gelegt, entwickelte Bel Geddes eine neue Form der raumgreifenden Inszenierung, wie der Schauspieler Werner Krauß (1884–1959) berichtet: [A]n einer dieser Säulen stand die Madonnenfigur aus Stein, und der Vorhang war immer offen, es war wie eine ewige Handlung. Wenn um halb acht die Leute kamen, war

541 Zur Verwandlungstechnik vgl. Marx 2006a, S. 143; Huesmann 1983, S. 74; Russel 1974, S. 52 u. Bogusch 1972, S. 423 f. Bel Geddes’ Tätigkeit für den Film wird aufgeführt bei Fuhrich-Leisler/Prossnitz 1976, S. 44 u. Bliven 1919, S. 188. 542 Bel Geddes 1960, S. 262.

2.2  Vom ›Theaterwunder‹ zum ›Heiligenkino‹       157

Abb. 65 und 66: Norman Bel Geddes, Kostümentwürfe zu Das Mirakel, New York, 1924.

das Spiel eigentlich schon im Gang. Die Figur stand da, und Lady Diana mußte eine Stunde lang stehen, nur den Kopf frei, das andere war wie Stein.543

Während die Madonna der Uraufführung auf ihrem erhöhten Thron von allen Plätzen aus erkennbar war, lehnte die Schauspielerin Diana Manners (1892–1986) wie zu Stein erstarrt an einer Säule. Eine Szenenfotografie veranschaulicht, wie ihre aufrechte, majestätische Haltung mit der Heiligenfigur an der dahinterliegenden Säule korrespondiert (Abb. 64). Durch den nahtlosen Übergang der steinernen Säule und der Materialität ihres Gewandes scheint die Figur mit der Raumkonstruktion zu verschmelzen. Indem die Säule als stützendes Postament fungiert, wird das Statuarische des Bildnisses zusätzlich betont. Bel Geddes soll den Habit einer Nonne in Beton getaucht haben, um einen möglichst hohen Authentizitätsgrad zu erreichen: »Es ist vor allem der Faltenwurf, dessen Künstlichkeit durch die Einfarbigkeit des Mantels in besonderer Weise ins Auge sticht.«544 Manners blasser, fast weißer Teint betont diese skulpturale Wirkung zusätzlich. Reinhardt nannte sie ein »lebendes Wachsbild«545 und knüpfte mit dieser Beschreibung unmittelbar an die materialästhetische Dimension des Pygmalion-Mythos an, der die hohe Kunstfertigkeit, Skulpturen so zu formen, als wären sie lebendig, vor Augen führt. In Ovids Quelle verwandelt sich das Bein der Elfenbeinstatue unter dem warmen Druck des Daumens des Bild-

543 Krauß 1958, S. 91. Krauß agierte damals in der Doppelrolle des Gelähmten und der Schattenfigur. 544 Marx 2006a, S. 142. Siehe auch Ausst.-Kat. Austin 1979, S. 12. 545 Max Reinhardt an Helene Thimig: Brief vom 25.12.1923, Wienbibliothek im Rathaus, Teilnachlass Max Reinhardt, ZPH 989, Box 3, 2.2.1.139.

158       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel

hauers in weiches Wachs.546 In der Mirakel-Inszenierung muss im Moment der Verlebendigung für einen kurzen Moment der Anschein erweckt worden sein, als ob der steinerne Mantel sich in Wachs verwandelte, aus dem die lebendige Madonna rasch herausgleiten konnte. Diese Szene wurde von den Kritikern als besonders wirkungsvoll beschrieben: »By common consent the most exquisite moment of the play is that when the Madonna is vivified.«547 Bel Geddes’ rund 500 Kostümstudien lassen eine Kombination unterschiedlichster Materialien, Farben, Ornamente und Strukturen erkennen. Großflächige Schnitte, überdimensionierte Formen sowie stilisierte Kopfbedeckungen ließen die Figuren aus der Nähe bisweilen grotesk erscheinen, auf großer Distanz entfalteten sie jedoch ihre eigentliche Ausdruckskraft (Abb. 65 u. 66). Insbesondere die Entwürfe für das Zwischenspiel nehmen fantastische und karikaturistische Züge an, in denen sich die kinematografische Ästhetik der Rauminszenierung fortsetzt und die sowohl Bel Geddes’ Arbeit für die opulenten Broadwayrevuen erahnen lassen als auch die Entwicklung des damals noch jungen Zeichentrickfilms vorwegzugreifen scheinen.548 Schon einige Jahre vor der Mirakel-Premiere hatte der Journalist Bruce Bliven (1889–1977) Kostümstudien des Künstlers in Augenschein genommen und herausgestellt: »[H]is costumes are in a sense not authentic; in their broad aspects they are, but they are greatly simplified, keeping only the essential elements to portray the character.«549 In der Übersteigerung von Details wiesen die Kostüme auf ein deutliches Ausstellen der Theatralität des szenischen Ereignisses und sollten die Imagination der Zuschauer anregen. Während den gotisierenden Bühnenaufbauten ein akribisches Studium einzelner architektonischer Details vorausging, das sich in seinen nahezu hyperrealistischen Planzeichnungen niederschlug, bemühte sich Bel Geddes in den Kostümentwürfen zwar um die Darstellung historisierender Kleidung, doch weist seine Arbeitsweise willkürliche Anleihen aus der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kostümgeschichte auf. Die einzelnen Vorstudien und Figurinen folgen keinem zeitlich oder geografisch homogenen Prinzip, vielmehr trug der Künstler einen Fundus an Inspirationsquellen zusammen, die von der Spätantike bis in das 18. Jahrhundert reichten und verschiedene Regionen umfassten. Zwar stammt die Mehrheit der Vorlagen aus dem west- und südeuropäischen Kulturraum, doch findet sich in der Ideensammlung ebenfalls folkloristische Kleidung fremder Länder anderer Kontinente, wobei der Blick nach Latein- und Südamerika aus nordamerikanischer Perspektive naheliegend scheint. Aufgrund jener anachronistischen Zusammenstellung drängt sich die Vermutung auf, dass Reinhardt für eine ame546 Vgl. Ovid, Metamorphosen Buch 10, V. 247–297, hier V. 280–289. Vgl. die Ausführungen zum Pygmalion-Motiv in Kapitel 2.1.3. Zur Materialästhetik kleiner Wachsbüsten, die als Andachtsbilder dienten, siehe Göttler 2002, S. 85 f. 547 Monahan 1924. 548 Vgl. Fuhrich-Leisler/Prossnitz 1976, S. 59 u. Stefanek 1973, S. 97. Die Kostüme unterscheiden sich am deutlichsten von den Entwürfen Sterns. John Mabry argumentiert, Bel Geddes habe darin seine eigene ästhetische Auffassung am stärksten durchsetzen können. Siehe umfassend Mabry 2013, S. 125–181. 1923 gründeten die Brüder Walt und Roy O. Disney das Disney Brothers Cartoon Studio, erst 1937 erschien mit Snow White and the Seven Dwarfs ihr erster abendfüllender Zeichentrickfilm. Siehe u. a. Lambert 2008. 549 Bliven 1919, S. 189. Vgl. auch Innes 2005, S. 125.

2.2  Vom ›Theaterwunder‹ zum ›Heiligenkino‹       159

rikanische Inszenierung eine freiere Aneignung der europäischen Kulturgeschichte präferierte. Seine Regie zielte noch weniger als in London auf das authentische Abbilden der mittelalterlichen Szenerie, vielmehr wünschte Reinhardt, das atmosphärische Gesamtbild einer rein fiktiven Welt zu schaffen: Finally I should like to suggest to him not to overdo the ›stylisation‹ of the costumes. I do not mean that he should use anything really existing (especially not in the dream scenes) or least of all historical models. [...] Everything may be so as it is nowhere in the world, but it should be so as it would be anywhere in the world.550

Sowohl spezifische Referenzen auf die europäische Kulturgeschichte als auch die Auseinandersetzung mit einzelnen religiösen Bedeutungsinhalten scheinen weder auf der Produktions- noch auf der Rezeptionsebene von großer Bedeutung gewesen zu sein. Dabei verfehlte dies freie Form der Re-Inszenierung des christlichen Wunder-scenario mitnichten ihre Wirksamkeit. Bel Geddes’ Ausstattung und Reinhardts Regie bedienten sich gezielter visueller Strategien, die dem New Yorker Publikum ein Ereignis von kultureller und religiöser Bedeutung vermittelten und dadurch Reaktionen emotionaler Ergriffenheit hervorriefen: In our cosmopolitan New York – metropolis of all creeds and all peoples – one is, above all, impressed with the religious emotion of this grand evocation of the medieval past – I would say the emotion inherent in the play to which our cosmopolitan audience is, beyond expectation, so prompt and sympathetic in its response. [...]. [T]here is [...] a yearning for the old simple religion of duty and sacrifice, which has so little place in our present-day world. [...] It is significant that the intense Catholic mise en scene [sic!] and atmosphere of the play seem to attract equally all classes of theatregoers.551

Mit dem Verweis auf die spezifische Heterogenität der kosmopolitischen New Yorker Gesellschaft macht der Journalist und Dichter Michael Monahan (1865–1933) einerseits deutlich, dass das mittelalterliche Referenzsystem des anderen Kontinents nur marginalen Anteil an der Rezeption der Inszenierung hatte. Andererseits klingt in dieser Aussage des gebürtigen Iren auch das Rezeptionsverhalten von Zuwanderern europäischer Abstammung an. Mit der Inszenierung begaben sie sich auf eine imaginäre Bilderreise, in die sie die eigene europäische Vergangenheit hineinprojizieren konnten: Die metropolitane Kultur [New Yorks – S. B. Q.] versprach [...] mit ihren Wurzeln in der Geschichte, dem kulturellen Kanon und der Populärkultur, aus denen sie sich speiste,

550 Zitat von Max Reinhardt in einem Brief von Rudolf Kommer an Norman Bel Geddes, 14.09.1923, Harry Ransom Center, The University of Texas at Austin, Courtesy of the Edith Lutyens and Norman Bel Geddes Foundation. 551 Monahan 1924. Vgl. hierzu auch Ausst.-Kat. Austin 2012, S. 160; Essin 2012, S. 151 u. Marx 2006a, S. 144 f. Marx führt an dieser Stelle auch vereinzelte kritische Äußerungen gegenüber der effektreichen Re-Inszenierung der religiösen Wunderthematik an, die im Rahmen dieses Kapitels nicht diskutiert werden können.

160       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel die sie sich aber auch frei aneignete, eine Kultur des ästhetischen Erlebens, für die nationale, ethnische oder religiöse Grenzen sekundär waren.552

Als Reinhardt über ein Gastspiel von Das Salzburger Große Welttheater nachdachte, sah er den potenziellen Erfolg solcher Stücke in den USA gerade in dem Zusammenspiel von religiösem Wunderglauben und dessen Nacherleben durch eine ästhetisch und technisch spektakuläre Inszenierung: »Es ist mir auch allgemein versichert worden, daß gerade dieses Werk [...] künstlerisch sowohl, wie wirtschaftlich, just in Amerika unvergleichlich große Chancen habe.«553 So verdeutlicht auch das allgemeine Resümee der New Yorker Rezensionen, dass sich die Mehrheit der Kritiker am meisten beeindruckt von Norman Bel Geddes’ neuartigem Dekorationskonzept, den spektakulären technischen Innovationen und der Gigantomanie der Produktion zeigte. Die Presse pries Max Reinhardts Inszenierung als neueste Theatersensation, die ihresgleichen suchte und die die New Yorker nicht verpassen durften: »The result is a colossal achievement which has never been equalled on the New York stage.«554 Anhand einer Besprechung des amerikanischen Kritikers Alan Dale (1861–1928) stellt Tobias Becker die Gefühlsreaktion des Staunens als »prägende Erfahrung«555 der New Yorker Inszenierung heraus, die ganz bewusst durch Bel Geddes’ überwältigende Architektur und die sakral aufgeladene Atmosphäre hervorgerufen werden sollte. War das Staunen des Londoner Publikums durch gezielte Assoziationen an eine Gottesdienstfeier auch eng verwoben mit einer religiös anmutenden Andacht und Ergriffenheit, resultierte es in New York in erster Linie aus der szenografischen und technischen Gigantomanie der Inszenierung: I rubbed my eyes in amaze. Who was I, and where was I? I distinctly remembered entering the Century Theatre last night, and yet [...] something strange had happened. [...] The huge theatre I had once known was a marvelous cathedral. Glinting lights shone through magnificent stained glass windows; from above came the notes of an organ [...]. For one brief second I forgot my ›dinner clothes‹ and my modernity. I was part and parcel of that triumphant maedevialism [sic!]. [...] [T]his was so real, so curiously untheatrical, so absolutely gripping in its appeal, that it was difficult to believe it was just make-believe. [...] It is an epoch-making wonder.556

Mithilfe von Farb-, Licht- und Klangeffekten erzeugte Bel Geddes einen synästhetischen Erfahrungsraum, der ein immersives und transformatives Potenzial entwickelte, durch das sich Dale in den Zustand des Staunens versetzt fühlte und dabei seine eigene Zeit zu vergessen schien. Ein vergleichbares theatrales Erfahrungsmoment wollte Bel Geddes auslösen, als er 1939 im Auftrag der General Motors Corporation 552 Marx 2006a, S. 148. Zum transatlantischen kulturellen Transfer und dem Chicago Tribune Tower als spezifisches architektonisches und kulturelles Referenzsystem des Mirakel-Gastspiels in Chicago siehe Le Men 2017. 553 Brief von Max Reinhardt an Edward Ziegler, Wien, 20.09.1922, in: Reinhardt 1989, S. 194. 554 Welsh 1924. 555 Becker 2011, S. 354. 556 Dale 1924. Vgl. hierzu auch Essin 2012, S. 152 u. Essin 2006, S. 139 f.

2.2  Vom ›Theaterwunder‹ zum ›Heiligenkino‹       161

für die New York World’s Fair die Installation Futurama entwarf. Transportmittel und -wege wurden in einer visionären Modellstadt inszeniert, die nicht in der Realität verankert war, sondern die Besucher imaginativ und immersiv in das Amerika der 1960er Jahre versetzen sollte. Die Inszenierung der Ausstellungslandschaft als konsumierbares Produkt weist durchaus Parallelen zu den Sakralisierungsstrategien der New Yorker Mirakel-Inszenierung auf.557 Gerade in der Scheinkathedrale einer längst vergangenen Zeit sieht Christopher Innes einen Verweis auf die hochgradig industrialisierte amerikanische Gesellschaft: Bel Geddes’ »theatre plans [...] pointed toward a specifically modernist and ›machine age‹ type of entertainment space«.558 Diese Ästhetik rief Kritiker unter den Anhängern der New Stagecraft-Bewegung auf den Plan, die gerade jene effektreiche Form der Inszenierung missbilligten und ein reduzierteres Dekorationskonzept bevorzugt hätten.559 Sicherlich wird in dem überschwänglichen Tenor zahlreicher Rezensionen deutlich, dass die Presse ein Ereignis feierte, welches in erster Linie die Sensationslust einer Gesellschaft befriedigte, für die Konsum und Technifizierung zu festen Bestandteilen ihrer Kultur geworden waren. Bel Geddes’ enorme Konstruktionsleistung veranlasste renommierte Architekturzeitschriften wie Architectural Record und Scientific American dazu, seine bautechnischen Errungenschaften in ausführlichen Beiträgen zu würdigen. Gleichzeitig wurden von verschiedenen Seiten Aufträge an ihn herangetragen, Innenräume von Restaurants im historisierenden Stil umzugestalten.560 Als ein Beispiel dieser Kultstätten der profanen Unterhaltung, deren Räumlichkeiten mithilfe eines anachronistischen Referenzsystems als eigener Mikrokosmos innerhalb der Großstadt gestaltet wurden, hat der Theaterwissenschaftler Florian Nelles das 1927 in New York feierlich eröffnete Roxy aufgeführt. Als »Cathedral of the Motion Picture« sei das Roxy ein »Ort, an dem die Welt standardisierter Träume und Wünsche begehbar und zugleich ein Gefühl sozialen Zusammenhalts geschaffen werden sollte«.561 Aufgrund der Monumentalität der Eröffnungsveranstaltung sowie des Erfahrungsmoments von kollektiver Gemeinschaft sieht er eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Filmpalast und Reinhardts Mirakel-Inszenierung.562

557 Vgl. hierzu Marchand 1992, S. 30 u. Adams 1976, S. 22. Zu der Verschränkung von Theater und Industriedesign in Norman Bel Geddes’ Schaffen siehe weiterführend Essin 2012, S. 132–137 u. S. 149–155 u. Wickstrom 2006. Zum Prinzip der Immersion siehe auch Kapitel 3.2. 558 Innes 2005, S. 69. Vgl. hierzu auch Fuhrich-Leisler/Prossnitz 1976, S. 63. 559 Mabry diskutiert die Mirakel-Inszenierung im Spannungsfeld zwischen der europäischen Avantgarde und der New Stagecraft-Bewegung. Mit Blick auf eine Reihe von Vorstudien aus dem Nachlass des Bühnenbildners führt er anschaulich vor Augen, dass Bel Geddes an einem alternativen Szenografiekonzept für Das Mirakel arbeitete, das einen stärkeren Fokus auf die Reduktion der Architektur und die atmosphärische Ausleuchtung der Szene gelegt hätte. Siehe weiterführend Mabry 2013, S. 116–124. Für die Wirkungskraft von Reinhardts Gesamtkonzept war jedoch die Wiederaufnahme der gotischen Scheinkathedrale unerlässlich. 560 Vgl. Ausst.-Kat. Austin 2012, S. 160; Essin 2012, S. 152; Innes 2005, S. 68; Larson 1989, S. 77 u. Ausst.-Kat. Austin 1979, S. 9. 561 Nelle 2005, S. 259. 562 Vgl. Nelle 2005, S. 269.

162       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel

Abb. 67: Anzeige des Parfumfabrikanten Lenthéric für das Parfum »Miracle«, 1926/27.

Um das Wunder der Technik zu preisen und das Staunen der Theaterbesucher auszudehnen, wurde am Ende einer jeden Vorstellung des Mirakel zu einer zwanzigminütigen Besichtigung der Bühnenarchitektur eingeladen. Süffisant bemerkte Bel Geddes in seiner Autobiografie, dass einige Zuschauer gar auf der Suche nach einem Andenken beim »chipping pieces of wood from pews and walls« beobachtet worden seien.563 Allerdings äußert sich in dieser scheinbar entleerten Geste des Souvenirsammelns die Wiederholung einer rituellen Handlung der Wallfahrt und des Wunderglaubens. So wie die Pilger in Lourdes Gegenstände, die mit einer religiösen Konnotation aufgeladen waren, von ihrer Reise mit nach Hause brachten, wollten die Theaterbesucher ein Stück der Aufführung mit in ihren Alltag nehmen. Als Ausdruck der Bewunderung des Theaterereignisses erlangten auf den ersten Blick wertlose Überreste der Kulisse eine tiefere Bedeutung und wurden zu profanen Kultobjekten umgewertet. In dem Moment, als die Ästhetik des Spektakulären in den Mittelpunkt der Aufführungsbesprechungen rückte, entbrannte zudem ein regelrechter Starkult um das schauspielerische Ensemble. Die scheinbar überirdi563 Bel Geddes 1960, S. 252. Vgl. auch Programmheft zu Das Mirakel, Century Theatre, New York, 1924, Wien, Theatermuseum, Programmarchiv, PA_RaraG3057. Christin Essin hat das Souvenirsammeln ebenfalls herausgehoben, ohne diese markante Praxis näher zu beleuchten. Vgl. Essin 2012, S. 152 u. Essin 2006, S. 140 f.

2.2  Vom ›Theaterwunder‹ zum ›Heiligenkino‹       163

sche Schönheit und Anmut der Hauptdarstellerin Diana Manners in der Rolle der Madonna versetzte die Kritiker in frenetische Lobeshymnen: »Her posing was admirable and her pantomime gave exact verisimilitude to the holy character she was impersonating.«564 Selbst Charles B. Cochran, der mit der Erfindung des Künstlernamens ›Maria Carmi‹ die Vermarktung der Gattin Vollmoellers in London vorangetrieben hatte, konnte sich Manners Anziehungskraft nicht entziehen: I confess to going to the theatre with prejudged opinions because Carmi’s ›Madonna‹ at Olympia had seemed to be unapproachable. [...] Lady Diana’s every moment, every expression, beautified my conception of the part. She did not seem a creature of this world. [...] It stood out as the feature of the New York production that truly caught the spirit and intention of the theme.565

Mehr als zehn Jahre nach der Londoner Uraufführung erlangte die Werbemaschinerie um Reinhardts Inszenierung eine neue Dimension: Manners Porträt zierte die Titelseiten der Magazine und die seriell vervielfältigten Publicityfotos verbreiteten sich wie Autogrammkarten unter ihrer Anhängerschaft im ganzen Land. Der Schriftsteller Hilaire Belloc (1870–1953) verfasste ihr zu Ehren sechs Sonette. Bezeichnenderweise stand sie dem Bildhauer Jo Davidson (1883–1952) für eine Marmorbüste der Mirakel-Madonna Modell und initiierte somit erneut einen Transformationsprozess – diesmal von der lebendigen Schauspielerin in eine Skulptur.566 Eine solche Form des werbewirksamen Marketings und der Fankultur hatte das amerikanische Theater bis zu diesem Zeitpunkt kaum erlebt. Vielmehr wurden Strategien vorweggegriffen, die erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts für die Vermarktung von Filmstars in Werbespots und Hochglanzmagazinen zum gängigen Prinzip werden sollten. So unterstützten Manners und ihre Kollegin Rosamond Pinchot (1904–1938), die die Rolle der Nonne spielte, eine Anzeige des Pariser Parfumproduzenten Lenthéric, der auf der letzten Seite des Souvenirheftes der Spielzeit 1926/27 sein neuestes Produkt mit dem Namen ›Miracle‹ bewarb: »a perfume summing up in one exquisite odour the splendour and mystery, the romance and hauting beauty of the play«.567 Zwar hatte zum Beispiel die französische Modeindustrie schon im 19. Jahrhundert auf den gezielten Werbeeffekt mit Schauspielerinnen, wie etwa Sarah Bernhardt (1844– 1923), gesetzt, doch die Reklame für ein Produkt über einer klaren Referenz auf eine einzelne Inszenierung beziehungsweise auf ein spezifisches Szenenbild stellt ein absolutes Novum dar. Um einen sinnlich wahrnehmbaren Hauch der überwältigenden Theaterinszenierung mit in den Alltag nehmen zu können, waren be564 Hornblow 1924, S. 15. 565 Cochran 1926, S. 178 f. sowie zur Londoner Besetzung der Madonna S. 171. Bereits Maria Carmi erhielt Briefe begeisterter Zuschauerinnen und Zuschauer. Vgl. hierzu Stefanek 1973, S. 93. 566 Siehe hierzu ausführlich Cooper 1959, S. 1–28. An dieser Stelle finden sich Angaben zum Besetzungsstreit mit Maria Carmi, die eine Zeit lang ebenfalls die Madonna in New York spielte. 567 Siehe Sayler, Oliver M., Souvenirheft zu Das Mirakel, Spielzeit 1926/27, Harry Ransom Center, The University of Texas at Austin, Courtesy of the Edith Lutyens and Norman Bel Geddes Foundation.

164       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel

geisterte Zuschauerinnen aufgerufen, das Parfum in Lenthérics Kosmetiksalons in New York und Paris zu erwerben. Die Gestaltung des Flakons sollte die Erinnerung an das Theatererlebnis aufrechterhalten (Abb. 67): In der oberen Hälfte der Anzeige ahmt die Silhouette des kleinen schwarzen Fläschchens, das mit einer Schicht von Goldpartikeln überzogen ist, auf stilisierte Weise die Umrisslinien einer Krone und eines Mantels nach. Auf einem Wolkenbett thronend und von einer goldenen Strahlengloriole umgeben korrespondiert die Darstellung mit einer Skizze des hell erleuchteten Marienbildnisses der Mirakel-Inszenierung im unteren Bildteil. Indem eine gotische Spitzbogenarkade von Glückwunschschreiben der beiden Schauspielerinnen überlagert wird, greift die Gestaltung auf die zentrale visuelle Strategie der Inszenierung zurück: In dieser Form der Sakralisierung eines Produkts findet eine explizite Verschränkung von mittelalterlichem Referenzsystem und modernem Zeitgeist statt, die sich bereits als eine bewährte Strategie der amerikanischen Konsumkultur erwiesen hatte.568 In ihrer Studie Spectacle of Reform. Theater and Activism in Nineteenth-Century America hat die Theaterwissenschaftlerin Amy Hughes aufgezeigt, dass die gesamte amerikanische Kultur des 19. Jahrhunderts von einer Ästhetik des Aufsehenerregenden geprägt war. Die Rezeptionshaltung des Publikums bedingte die spezifische Bildsprache des Spektakels, welche die Erinnerung an den Theaterbesuch festigte: »The sensations evoked by spectacle serve as a technology of recollection, a mechanism by and through which [...] [a] personal version of theatre history [is relayed – S. B. Q.].«569 Die Tatsache, dass die Verantwortlichen der Mirakel-Inszenierung mit dieser ganzseitigen Anzeige das Souvenirheft abschlossen, zeigt, dass die Gastspiele in den Vereinigten Staaten ganz gezielt auf eine Verschränkung von Theater, Spektakel und Kommerz angelegt waren. Mehr noch, als dies in London der Fall gewesen beziehungsweise in Wien erwünscht war, diente das religiöse scenario des Marienwunders als ein Vehikel für Reinhardts spektakuläres Theaterwunder.

568 Ab 1889 ließ John Wanamaker seine Warenhäuser in Philadelphia und New York zur Weihnachtszeit in Anlehnung an die Kathedralen von Chartres und Reims in gotische Kirchenräume verwandeln, um die Kaufkraft seiner Kundschaft zu befördern. Vgl. Nelle 2005, S. 283. Siehe weiterführend Schweitzer 2009; Morrowitz 2009 u. Schmidt 1995, besonders S. 159–169. Für eine grundsätzliche Betrachtung von theatralen Strategien der frühen Warenhäuser Amerikas siehe Whitaker 2006. 569 Hughes 2014, S. 2 u. weiterführend S. 1–12.

2.3  Zwischenfazit: Gottesdienst ›spielen‹, Theater zelebrieren!       165

2.3 Zwischenfazit: Gottesdienst ›spielen‹, Theater zelebrieren! In Franz Albert Jüttners (1865–1926) Karikatur Tres faciunt collegium sind die drei Macher des modernen Mirakelspiels, das bis 1932 in über tausend Vorstellungen Millionen von Zuschauern erreichen sollte, in Bischofsroben zu einer festlichen Prozession versammelt (Abb. 68). Eingerahmt von Karl Gustav Vollmoeller und Engelbert Humperdinck trägt Max Reinhardt anstelle der Heiligen Schrift ein Buch mit dem Titel Mirakel in seiner linken Hand. Im Hintergrund werden die drei Männer von einer Fahne umfangen, die statt eines Kreuzes ein Werbeaufdruck für die Inszenierung im Berliner Zirkus Busch schmückt. Der lateinische Titel der Karikatur, der mit »Drei machen ein Kollegium aus« zu übersetzen ist, geht auf das Corpus Iuris Civilis des Kaiser Justinian I. (482–565) zurück, nach dem mindestens drei Personen zusammenkommen müssen, um einen rechtsgültigen Verein zu bilden.570 Diese Referenz spielt offenkundig mit der Initiation einer neuen Glaubensgemeinschaft, die sich am katholischen Ritus orientiert.571 Durch den Theaterkritiker Alfred Polgar (1873–1955) erfuhr der Regisseur 1922 eine Erhebung zum Schöpfer: »Es ist schon bewundernswert, wie Reinhardt Gottesdienst spielt und Theater zelebriert, daß die Grenzen beider ineinanderfließen!«572 In seiner programmatischen Schrift »Über das lebendige Theater« aus dem Jahr 1924 begründete Reinhardt, warum er die Inszenierungsstrategien der prunkvollen katholischen Festgottesdienste als Vorbild seiner Großrauminszenierung sah: Die katholische Kirche, deren Ziele die höchsten, die geistlichsten, die übernatürlichsten sind, verfolgt diese Ziele mit Mitteln, die sich direkt an unsere Sinne wenden [...] [I]n einer solchen Sphäre des Sinnenhaften offenbart sich uns das Höchste und Heiligste. [...] Die Kirche, insbesondere die katholische Kirche, ist die wahre Wiege unseres modernen Theaters.573

570 Vgl. Jancke 2013, S. 379. 571 Die jüdischen Wurzeln Reinhardts finden scheinbar zu diesem Zeitpunkt in der liberalen Berliner Satirezeitschrift Lustige Blätter keinen negativen Anklang. Allerdings sollte sich die Gesinnungshaltung der Herausgeber mit dem Fortschreiten der Weimarer Republik in eine nationalliberale wandeln. Zur Gewichtung von Judentum und Katholizismus in Reinhardts Biografie vgl. Silhouette 2012. Siehe weiterführend Marx 2006a, S. 191–219. Zur zunehmenden antisemitischen Instrumentalisierung von Satirezeitschriften siehe Gülker 2001. 572 Polgar 1922, S. 341. Max Reinhardt stellte das Kunstschaffen in die Nachfolge des Schöpfergottes: »Deshalb erschaffen wir die ganze Welt noch einmal in der Kunst, mit allen Elementen, und am ersten Schöpfungstage, als Krone der Schöpfung, erschaffen wir den Menschen nach unserem Ebenbild.« Reinhardt, Max, »Der Schauspieler und seine Rolle«, in: Reinhardt 1974, S. 326. Die Analogie von Schöpfung und Gesamtkunstwerk findet sich ebenfalls in den Schriften von Peter Behrens und Bruno Taut. Vgl. hierzu die Kapitel 1.4 u. 3.2. 573 Reinhardt, Max, »Über das lebendige Theater« [1924], in: Reinhardt 1989, S. 458 f. Zwischen 1917 und 1924 äußerte sich Reinhardt in einer Reihe von Schriften und Stellungnahmen zur katholischen Kirche als Ursprung des modernen Theaters. Zu Reinhardts Konzept einer ›Theaterreligion‹ siehe Silhouette 2012, S. 322–340, besonders S. 333.

166       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel

Abb. 68: Franz Albert Jüttner, Tres faciunt collegium, 1914.

Die hochgradig symbolische Inszenierung des Mirakel war keineswegs ein schlichter Ausdruck von Reinhardts Faszination für den Katholizismus, sondern unterlag dem durchdachten Konzept eines idealen Theaters. Reinhardt wollte eine annähernd so feierliche Atmosphäre erzeugen wie die der prunkvollen katholischen Festgottesdienste, die mit ihrer Raumwirkung, Bilderpracht und Musik die Sinne der Gemeinde ansprachen. Die akribische dreidimensionale Ausgestaltung der Szene zu einer gotischen Kathedrale steigerte die sakral aufgeladene Atmosphäre und die sinnliche Erfahrbarkeit der Wunderinszenierung. Allerdings hat die Analyse der unterschiedlichen Raumkonzepte für die Inszenierungen in London, Wien und New York aufgezeigt, dass das Szenenbild durchaus an räumliche Gegebenheiten angepasst und die Pantomime an grundverschiedenen Orten aufgeführt werden konnte. Deutlich erkennbare architektonische, sinnliche und symbolische Referenzen auf einen Kircheninnenraum genügten, um das Wunder-scenario zu aktivieren. Darüber hinaus kam in allen Inszenierungen das Prinzip der sinnlichen Affizierung des Publikums zum Einsatz: Die szenische Beleuchtung war das entscheidende Gestaltungselement, um einen sakralen Raum und eine feierliche Atmosphäre hervorzubringen. Doch erst im Zusammenspiel mit weiteren multisensorischen Faktoren, wie Geräuschen, Gerüchen, Musik sowie den Kostümen, konnte der Erfahrungsraum seine allumfassende Wirkungskraft entfalten, wie auch einer Rezension aus dem Neuen Wiener Journal zu entnehmen ist: [I]m ›Mirakel‹ Reinhardts ist ein Zusammenschluß höchster geistiger und technischer Kraft gegeben, ein Gesamtkunstwerk im schönsten Sinne, vor dem man nur verblüfft dasitzt, um zu schauen, zu empfinden, mitzuleben. [...] Immer wieder überrumpelt einen ein Eindruck von grandiosester Lebendigkeit und Pracht, daß man aufhört, aufs Detail zu achten und nur den Sinn aufs Gesamtbild gerichtet hält. [...] Hier ist die ganze Kirchenpracht in den Dienst eines Spiels gestellt und wirkt vehement.574

574 bs 1912 (Hervorh. S. B. Q.). Zu Reinhardts Neudefinition der Inszenierung als szenisches Gesamtkunstwerk in der Nachfolge Richard Wagners siehe auch Hiß 2005, besonders S. 183–185 u. Bahr 1926, S. 28–43, besonders S. 43.

2.3  Zwischenfazit: Gottesdienst ›spielen‹, Theater zelebrieren!       167

In Anlehnung an die intensive sinnliche Erfahrbarkeit eines Kirchenfestes transformierte Reinhardt also das Liturgische in ein ästhetisches Vergnügen. Da die Re-Inszenierung eines religiösen Wunders ein unmittelbares körperliches Erleben in den Vordergrund rückte, erzielte der Regisseur einen neuartigen Wahrnehmungsmodus. Im Prozess der Ansteckung wurde der gesamte Körper der Zuschauer zu einem Resonanzraum für Affektreaktionen, sodass Akteure und Publikum zu einer physischen Einheit verschmolzen. In Verbindung mit der sakralen Scheinarchitektur, der ungewöhnlichen Zuschauerplatzierung, der symbolischen Lichtinszenierung sowie den spektakulären Effekten sollte die Bewegung der Massen die Zuschauer für eine außeralltägliche Erfahrung sensibilisieren und ein temporäres Gemeinschaftserlebnis hervorrufen: Wie die Gemeinde in der Kirche nahm das Publikum als Festgemeinschaft aktiv an der Handlung teil und wurde Zeuge des Marienwunders. Ihr Zustandekommen war grundsätzlich zu keinem Zeitpunkt religiös motiviert, sondern resultierte ausschließlich aus der gemeinsamen ästhetischen Erfahrung. Allerdings konnte Matthias Warstats und Erika Fischer-Lichtes Konzept der ästhetischen Gemeinschaft im Rahmen der Analyse der Rezeptionsdokumente ausgeweitet werden: Im Moment des Wiedererkennens vertrauter Bilder, Stimmungen und Zeremonien konnte in der Imagination einzelner Zuschauergruppen – abhängig von ihrer konfessionellen Rahmung – durchaus eine temporäre Verschränkung von ästhetischer Theatergemeinschaft und religiöser Glaubensgemeinschaft stattfinden.575 Reinhardts Mirakel-Inszenierung zielte jedoch keinesfalls darauf, eine christliche Botschaft zu artikulieren, vielmehr reaktivierte er tradierte religiöse Muster für sein eigenes Theaterwunder. Über seine Licht-, Raum- und Masseninszenierung wurde ein Wunder-scenario, das seit dem Mittelalter im katholischen Glauben fest verwurzelt war, ästhetisch neu besetzt. Der Regisseur appellierte an das kulturelle Wissen der Zuschauer als eine zentrale Strategie, um die Wahrnehmung und Vorstellungskraft anzuregen. Für das Erschließen des Gesamtzusammenhangs durch das internationale Publikum war ein spezifischer Wissensvorrat jedoch nicht zwingend notwendig. In erster Linie nutzte der Regisseur Medien und Rituale des katholischen Gottesdienstes als Mechanismen zur Steigerung der ästhetischen Erfahrung. Er hob die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum auf, um ein intensives räumliches und körperlich-affektives Theatererlebnis hervorzurufen. Das auf einer Überwältigungsästhetik fußende Inszenierungskonzept erreichte das Publikum gänzlich unabhängig von seinem religiösen Hintergrund, denn auch Zuschauer ohne einen Bezug zum christlichen Glauben konnten sich den Strategien der sinnlichen Affizierung und körperlichen Ansteckung nicht entziehen. Es galt eine temporäre Schwellerfahrung freizusetzen, die ein Gefühlsspektrum von Staunen, Feierlichkeit, andächtiger Ergriffenheit oder gar Ekstase auslösen konnte. Die sakrale Aufladung des festlichen Spiels in der Mirakel-Inszenierung fand eine besondere Fortführung in den Salzburger Festspielen. Das Hauptportal des Salzburger Doms bildete die eindrucksvolle Kulisse für die Eröffnung der Festspielsaison von 1920 mit Hugo von Hofmannsthals Jedermann (Abb. 5). Zwei Jahre später er575 Vgl. Fischer-Lichte 2012b, S. 11 f. u. Warstat 2005b.

168       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel

Abb. 69: Joseph Urban, Entwurf des Reinhardt Theatre, Schnitt, 1928 (Projekt).

reichte Reinhardts Sakralisierung der Kunstform Theater eine neue Dimension, als es ihm gelang, mit der barocken Kollegienkirche einen realen Kirchenraum für die Aufführung von das Salzburger Große Welttheater umzunutzen (Abb. 6).576 Überdies beauftragte er die Architekten Eduard Hütter (1880–1967) und Clemens Holzmeister (1886–1983) mit der Errichtung einer gotisierenden Mysterienbühne, die ab 1925 für die regelmäßige Aufführung seiner Kirchenraumspiele gedacht war. In der Transformation des katholischen Salzburg in einen ästhetischen Wallfahrtsort suchte Reinhardt Richard Wagners Weihe der Bayreuther Festspielstätte als Versammlungsort der Künste und der Menschen nachzueifern: »Es bildete sich eine mit dem Sakralen eng gekoppelte Theatertopographie, eine Art ›kultureller Identifikationsraum‹ heraus, der an der orientierungsgebenden Kraft religiöser Symbole partizipiert.«577 In New York City sah Reinhardt ebenfalls einen geeigneten Ort, um den Plan eines internationalen Festspielhauses zu realisieren. Es ist nicht geplant, ein kostspieliges Prunkhaus zu bauen, sondern ein Festspielhaus von höchster Einfachheit (etwa in der Art von Bayreuth), ohne Repräsentationsprunk, aber nach allen Gesetzen der Zweckmäßigkeit mit Ausnutzung aller bisherigen Erfahrungen und technischen Errungenschaften.578

576 Vgl. Kahane 1975, S. 335. Für eine ausführliche Untersuchung von Reinhardts Kirchenraumspielen siehe Schuler 2007, S. 69–163. Siehe auch Coors 2015, S. 246–259; Przytulski 2004, S. 87–109 u. Styan 1982, S. 86–107. 577 Schuler 2007, S. 85. Vgl. hierzu auch Merkel 2012, S. 183–188; Silhouette 2012, S. 325 u. Hiß 2005, S. 185 u. S. 190. Zur sakralen Topografie Bayreuths und der Darmstädter Mathildenhöhe siehe auch die Kapitel 1.4 u. 4.1. 578 Brief von Max Reinhardt an Otto H. Kahn, Berlin, 21.01.1913, in: Reinhardt 1989, S. 193.

2.3  Zwischenfazit: Gottesdienst ›spielen‹, Theater zelebrieren!       169

Abb. 70 und 71: Joseph Urban, Entwurf des Reinhardt Theatre, Blick auf die Bühne und die Fassade, 1928 (Projekt).

Erst in den Jahren 1927 und 1928 nahm die Idee eines Theaterbaus eine konkretere Gestalt an. Die finanziellen Mittel sollte Otto H. Kahn bereitstellen, welcher den Wiener Architekten Joseph Urban mit detaillierten Entwürfen beauftragte. Diese zeigen einen ovalen, multifunktional nutzbaren Raum, in dem die Trennung von Aktions- und Zuschauerraum gänzlich aufgehoben ist, wodurch eine größtmögliche Interaktion zwischen Schauspielern und Publikum erzielt wird (Abb. 69 u. 70). Das alles beherrschende Dekorationselement ist die Beleuchtung: Zum einen sollte der Aufführungsraum mit einer flexibel einsetzbaren Beleuchtungsmaschinerie ausgestattet werden, zum anderen musste der Bau in einer Metropole wie New York nicht durch die Fassadengestaltung, sondern durch eine grelle Leuchtreklame ins Auge fallen (Abb. 71).579 Reinhardts fortwährendes Aufrechterhalten der Idee des festlichen Spiels zeugt von einer Hoffnung, der von den Wirren des Ersten Weltkrieges tief erschütterten westlichen Welt eine neue kulturelle Ordnung zurückgeben zu wollen: Ich bin vollkommen überzeugt davon [...], daß unsere Zeit heute ganz besonders nach solchen Festspielen verlangt, daß die Mentalität der Gegenwart hier überall entgegen kommt und daß von solchen Festspielen, hier wie überall, die ersehnte Erneuerung des Theaters ausgehen wird.580

579 Zu einer Realisierung dieses Vorhabens kam es jedoch letztlich nie. Vgl. Innes 2005, S. 63– 65; Huesmann 1983, S. 75 f.; Fuhrich-Leisler/Prossnitz 1976, S. 104–108 u. Vogelsang 1928. Zu Joseph Urban siehe Kapitel 4.2.2. 580 Brief von Max Reinhardt an Edward Ziegler, Wien, 20.09.1922, in: Reinhardt 1989, S. 195.

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Solche Aussagen sowie die Erlösungsthematik des Stücks veranlasste die ReinhardtForschung, über eine mögliche eskapistische Tendenz der Mirakel-Inszenierung nachzudenken: »[E]inmal mehr konnte hier eine abgestumpfte Gesellschaft in eine Scheinwelt eskapieren und diesmal gar aufgrund des unverbindlich verbindenden Inhalts sich [...] erhoben fühlen.«581 Die Reaktionen zahlreicher Kritiker lassen durchaus darauf schließen, dass die Inszenierung für einige Zuschauer eine Art Sehnsuchtsraum als Gegenentwurf zur säkularisierten, technisierten und urbanisierten Lebenswelt eröffnen konnte: »Es gibt nichts, was auf Großstadtmassen stärker wirkt als religiöse Stimmungen, fromme Litaneien und Glockenklang.«582 Das Mirakel drängte allerdings nicht zwingend die Religion als Refugium in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche auf, es offenbarte sie lediglich als einen Möglichkeitsraum. Ebenso wenig wollte Reinhardt den Menschen ein idealisiertes Mittelalter näherbringen, sondern das stimmungsvolle Gesamtbild einer absolut fiktiven Welt erzeugen. Mehr noch fand in der Verschränkung von Fiktion und realer Lebenswelt sein »Theater, das den Menschen wieder Freude gibt« Realisierung.583 Diese Idealvorstellung hallt auch in der Rezension von Otto Brandes wider: Ein Genius entbot am Sonnabend die vergrämten, sorgenerfüllten, schwerfälligen Bewohner der grämlichen Themsestadt zu sich. Er hatte ihnen als Weihnachtsgeschenk versprochen, er würde sie des Alltags graue Häßlichkeit für einige Stunden vergessen machen und sie einführen in ein Reich reinster Schönheit, ein Wunderland, das sein Zauberstab hatte erstehen lassen.584

Nach Tobias Becker bildeten die Erlebnisse der Nonne in dieser Zauberwelt und die Szenenwechsel zwischen dem sakralen Innenraum als Zufluchtsstätte und der profanen Außenwelt als düsterer Ort der Sünde ein ungeschöntes Referenzsystem für die Umbrüche in der modernen Lebenswelt.585 So verwundert es etwa nicht, dass wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg auch die Vorzeichen einer nationalen Mobilmachung vor der Rezeption der Uraufführung keinen Halt machten: »Deutsche Kunst, deutscher Geist und deutsche Begeisterung haben einen riesigen Erfolg errungen. Sie haben mit einem Schlage London erobert, nicht mit dem Schwert, nein, mit der edlen Waffe der Kunst.«586 Wenn auch dieser friedliche Gestus der Kunst auf ein in seiner Grenzüberschreitung erfolgreiches Theaterereignis deutet, so benennt Peter W. Marx den Kriegsausbruch als unweigerliche Zensur im Expansionsvorhaben Max Reinhardts: »Der Abbruch des ›Reiseweges‹ aber führt vor Augen, wie eng der Spiel-

581 Stefanek 1973, S. 83. Zur Diskussion des Eskapismusvorwurfes vgl. auch Becker 2011, S. 340 f.; Vollmer 2011, S. 397; Schuler 2007, S. 71 u. S. 75; Marx 2006a, S. 134 f.; Hiß 2005, S. 192 f.; Fischer-Lichte 1993, S. 277 f. u. Hoffmann 1966, S. 127. 582 Graf 1912. 583 Kahane 1928, S. 115. 584 Brandes 1911. 585 Vgl. Becker 2011, S. 341. Marcus Merkel sieht in Reinhardts Ästhetik des festlichen Spiels »ganz wesentlich die Kritik an der Moderne dieser Zeit«. Merkel 2012, S. 189. 586 Brandes 1911.

2.3  Zwischenfazit: Gottesdienst ›spielen‹, Theater zelebrieren!       171

raum für die hier praktizierte Utopie einer metropolitanen Kultur, die konsequent nationalstaatliche Grenzen hinter sich lässt, war.«587 Viel deutlicher als die Referenzen auf das internationale Zeitgeschehen waren die technisch imposante Rauminszenierung sowie Reinhardts Auseinandersetzung mit der Masse als Ausdruck eines »modernen Erfahrens«.588 In einer Reihe von Rezensionen findet sich die Metapher des Magiers oder Zauberers dann, wenn Reinhardts Beherrschung dieser zeitgenössischen Phänomene besonders hervorgehoben wird.589 Der Stiftsprobst Franz Kaufmann (1862–1920) sah darin eine gelungene Strategie, um dem Großstadtpublikum über ein »moderne[s] Zeitempfinden[]«590 die religiöse Frömmigkeit und Tugenden, die im Mittelalter fest verankert waren, näherzubringen. Bezeichnenderweise hat die Historikerin Suzanne Kaufman in ihrer Untersuchung der Pilgerwallfahrt nach Lourdes auf eine vergleichbare Diskussion hingewiesen. Es entspräche der geläufigen Auffassung der Forschung, dass die katholische Kirche kommerzielle Technologien für eine moderne Pilgerpraxis zweckentfremdet habe, um so eine Abkehr von der säkularisierten Gesellschaft und eine Revitalisierung einer längst vergangenen Frömmigkeit herbeizuführen.591 Für die Wirksamkeit der Inszenierung des Wunders in Lourdes in einem Zeitalter rückläufiger Kirchenmitgliederzahlen stellt die Autorin eine Gegenthese auf, die auch in Bezug auf Reinhardts Re-Inszenierung eines Wunders berücksichtigt werden muss: »Going to Lourdes on a pilgrimage gave the faithful access to the modern world [...]. [T]he very success [...] depended on [...] linking the practices of Catholic pilgrimage to the emerging mass culture of urban France.«592 Attraktionen der Unterhaltungskultur, wie Dioramen und Panoramen, intensivierten die Authentizität und Glaubwürdigkeit des Wunders von Lourdes insoweit, als dass sich im Moment des Nacherlebens der Wundererscheinung und der Erfahrung des heiligen Ortes ein vergangenes Ereignis mit der Gegenwart des modernen Pilgers überlagerte.593 Das Prinzip der anachronistischen und eklektischen Überlagerung von Vergangenheit und Gegenwart erwies sich als Reinhardts entscheidende Strategie der 587 Marx 2006a, S. 135. 588 Großmann 1912. 589 »Im modernen Gesellschaftsanzug steht der kleine und doch so große Zauberer vor uns: Max Reinhardt.« Brandes 1911. Siehe auch The Athenaeum 1911, S. 827: »[H]e has handled it like a magician.« 590 Kaufmann 1914. 591 Vgl. Kaufman 2005, S. 17. Vertreter dieser Auslegung sind Harris 1999 u. Kselman 1983. Zu einer vergleichbaren Deutung des Wunders von Marpingen siehe Becker 2011, S. 340. Vgl. auch Kapitel 2.1.3. 592 Kaufman 2005, S. 18. 593 Weitere kommerzielle Attraktionen und Medien waren die Reiseführer, die Postkartenserien sowie die Zugreise. Vgl. Kaufman 2005, S. 17 f. u. S. 51–54. Siehe weiterführend Leonhardt 2007, S. 75–89 u. Schwartz 1998, S. 149–176. Auch die Wandeldekoration, die Richard Wagner in der Parsifal-Uraufführung von 1882 einsetzen ließ, griff die Techniken des Dioramas und Panoramas auf. Zur Wandeldekoration als Symbol des Pilgerns nach Bayreuth siehe Kapitel 4.1. Becker hat den Blick ebenfalls auf die Kommerzialisierung des Wunders im frühen 20. Jahrhundert gerichtet. Statt jedoch das konkrete Reaktivieren einer modernen Pilgerpraxis in der Mirakel-Inszenierung aufzuzeigen, verweist er auf Adaptionen des Wunder-scenario im zeitgenössischen Film. Siehe Becker 2011, S. 361.

172       2  Heilige Szene, irdische Welt: Max Reinhardts modernes Mirakelspiel

Reaktivierung des religiösen Wunder-scenario. Die Wiederbelebung visueller und sinnlicher Referenzen auf Wundererscheinungen vergangener Epochen bildeten nur einen Teil der Muster, die Reinhardt für sein Theaterwunder nutzbar machte. So verschränkten sich insbesondere im Ritual der Massenzusammenkunft verschiedene zeitliche Ebenen: In der Anlehnung an das Perzeptionsverhalten einer Kirchengemeinde verschmolz der tradierte katholische Ritus mit der alltäglichen Lebenspraxis. Darüber hinaus spiegelten die kulturellen und kommerziellen Praktiken des modernen Pilgertums, wie etwa das Erwerben von Devotionalien, die urbanen Lebensumstände der modernen Großstadtbewohner. Das technisch Spektakuläre löste mit dem überwältigten Staunen eine ästhetische Erfahrung aus, die einer religiösen Ergriffenheit nahekam. All diese Muster verflochten Reinhardt und seine künstlerischen Mitarbeiter zu einer Inszenierung des Theaterwunders als modernes Spektakel. Auf diese Weise gelang es Reinhardt erfolgreich, ein großes internationales Publikum unterschiedlicher Herkunft und Glaubensrichtung zu erreichen und zu bewegen. Nachdem er von Reinhardts Plänen für Salzburg Kenntnis genommen hatte, machte der amerikanische Theaterkritiker und Produzent Kenneth Macgowan in seiner einflussreichen Publikation Continental Stagecraft auf eine grundsätzliche Problematik der modernen, insbesondere der amerikanischen Gesellschaft aufmerksam: »[T]he problem is to find a way to the religious spirit independent of the church. It is not a question of producing plays in cathedrals, but of producing the spirit of life in plays. It is not: Can religion make itself theatrical? But: Can the theater make itself – in a new sense – religious?«594 Gerade an Orten, wie London und New York, die eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Wunderbaren und einem kommerziellen Vergnügen herstellten, entfaltete Reinhardts Inszenierung eine besondere Wirkung. Bereits 1911 hatte der Regisseur die Idee »des zukünftigen großen Volkstheaters« als »Theater wie ein Heiligtum«, das große Menschenmengen ansprechen sollte, formuliert.595 Als Ort der synästhetischen Inszenierungspraxis, des kollektiven Theatererlebens und Sinnbild eines utopischen Gesellschaftsideals findet Reinhardts Idee in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg in einer Reihe von programmatischen Theaterkonzepten und Kunstauffassungen neuerlichen Ausdruck, die den Gegenstand der Untersuchung des nachfolgenden Kapitels bilden.

594 Macgowan/Jones 1964, S. 218. 595 »Bei Max Reinhardt« [1911], in: Reinhardt 1989, S. 448.

3 Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen Der Architekt Bruno Taut beschäftigte sich auf einer utopisch-visionären Ebene mit dem Phänomen der kristallinen Gotik. Für die Architektur, Grafik und Malerei des frühen 20. Jahrhunderts hat die kunstwissenschaftliche Forschung das Interesse an kristallinen Formen bereits hinreichend erforscht.596 Besonders hervorzuheben sind die Beiträge der Kunsthistorikerin Regine Prange, die beginnend mit ihrer Dissertation Das Kristalline als Kunstsymbol – Bruno Taut und Paul Klee das Prinzip und die Symbolik des Kristalls im Schaffen Tauts grundlegend untersucht hat.597 Eine ausführliche Betrachtung dieses gleichsam kulturellen und künstlerischen Phänomens in Theateraufführungen jener Zeit steht bislang jedoch noch aus. Dies verwundert umso mehr, als dass das Theater Bruno Taut eine ideale Bühne bot, um seine kristallinen Visionen zu realisieren, während die architektonischen, malerischen und zeichnerischen Entwürfe oftmals im Bereich der Imagination beziehungsweise der Modellhaftigkeit verblieben. Tauts Raumkonzept für Karlheinz Martins (1886–1948) Inszenierung von Friedrich Schillers Die Jungfrau von Orleans, die am 19. Februar 1921 am Deutschen Theater Berlin Premiere feierte, ist in die Reihe seiner Visionen zur Glasarchitektur einzuordnen und vor dem Hintergrund des Kulturverständnisses der Zeit genauer zu untersuchen.598 Schillers Stückvorlage, entstanden im Jahr 1801, greift Stationen aus dem Leben des französischen Bauernmädchens Johanna von Orléans (um 1412–1431) auf und zeigt ihren aufopferungsvollen Einsatz während des Hundertjährigen Krieges (1337–1453). Zwar folgt das Stück nicht in allen Einzelheiten den Begebenheiten der Legende – so stirbt Johanna nicht auf dem Scheiterhaufen, sondern auf dem Schlachtfeld –, doch war es schon zu Lebzeiten Schillers in Deutschland wie in Frankreich überaus erfolgreich. Denn im Kern entsprach die Tragödie dem Mythos der Befreierin Frankreichs.599 Die französische Nationalheldin wurde 596 Vor wenigen Jahren präsentierte das Kunstmuseum Bern mit der Ausstellung Stein aus Licht. Kristallvisionen in der Kunst Interpretationen des Kristalls von der Romantik bis in die Gegenwart. Vgl. Ausst.-Kat. Bern 2015 u. darin besonders Prange 2015, S. 32–40 u. Nicolai 2015, S. 42–51. Siehe u. a. auch Ruhl 2009; Hoormann 2007; Bushart 2003 u. Ausst.Kat. Quedlinburg 1997. 597 Vgl. Prange 1995, S. 103–143; Prange 1994, S. 69–97; Prange 1993 u. Prange 1991. 598 Prange klammert die Inszenierung am Deutschen Theater gänzlich aus. Vereinzelte Beiträge mit einem Fokus auf das schriftliche Quellenmaterial liegen in der architektur- und theaterwissenschaftlichen Forschung vor. Sie erweisen sich jedoch als ausgesprochen lückenhaft. Vgl. Brauneck 1987; Whyte 1982, S. 209–212 u. Schultes 1981. 599 Vgl. Schiller 2009. Siehe hierzu auch Krumeich 1995, S. 136.

174       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

im Jahr 1920 von Papst Benedikt XV. (1854–1922) heiliggesprochen. Martins Strichfassung für die Aufführung im darauffolgenden Jahr scheint unter dem Eindruck dieses aktuellen Ereignisses entstanden zu sein. Der Regisseur sah von der komplexen psychologischen Entwicklungsdramaturgie des Historienstücks ab und ließ ein Drittel aller Verse Schillers aus. Vielmehr orientierte sich Martin an der katholischen Auslegung der Johanna von Orléans als Märtyrerin und fokussierte die Handlung auf die Inszenierung einer mystischen Heiligenlegende: »Diese Johanna schien nur Werkzeug himmlischer Gnade. Irgendeine überirdische Macht lenkte ihren Schritt, ihren Arm, ihre Zunge. Nicht die Jungfrau von Orleans, sondern die göttliche Jungfrau selbst gewann ihre Schlachten.«600 In der Ausgabe der Blätter des Deutschen Theaters, die als Programmheft zur Inszenierung veröffentlicht wurde, war es nicht etwa der Regisseur Martin, sondern sein Bühnenbildner Taut, der unter dem Titel »Inszenierungsgedanken« die Regieintention verkündete: »Uns ist das Stichwort für das ganze Drama Johannas Ausruf im Prolog: ›Es geschehen noch Wunder‹. [...] Und der Ausklang des Stückes trägt völlig den Ton einer Heiligenverklärung.«601 Die Mystifizierung der Legende bestimmte Tauts abstrakte Raumgestaltung, die als wesentlicher Stimmungsträger einer entrückten Atmosphäre auf etwas Höheres verweisen musste. Anhand des Bild- und Quellenmaterials zu der Inszenierung soll diskutiert werden, inwieweit Taut in seinem Bühnenbild die Idee einer kristallinen Gotik reflektierte.602 Welche gestalterischen Strategien übertrug der Architekt auf die Theaterinszenierung und welche neuen Möglichkeiten bot ihm der Arbeitsort Theater? Max Reinhardts Strategien zur Inszenierung von Heiligkeit, wie etwa die Licht- und Massenregie, waren eng verwoben mit dem scenario der Wundererscheinung, der Figur der Madonna und der sinnlichen Erfahrbarkeit katholischer Gottesdienste. Zehn Jahre nach der Londoner Mirakel-Inszenierung, nach der Erfahrung des Ersten Weltkrieges und der sich abzeichnenden intellektuellen Krise des deutschen Reiches verweist Tauts Inszenierungskonzept dagegen auf einen vergeistigten Zugang zum Heiligen.603 Die Analyse der Inszenierung nimmt die Entmaterialisierung der Szene durch die Gestaltungselemente Glas, Licht und Farbe in den Fokus. Wie nachfolgend näher zu untersuchen sein wird, wurde die Legende der Johanna von Orléans als heilige Szene abstrahiert und symbolisch aufgeladen, um eine neue Idealvorstellung von Theater, Kunst und Gesellschaft zu artikulieren. In diesem Zusammenhang muss auch das Programmheft berücksichtigt werden: Dass Tauts »Inszenierungsgedanken« vorab veröffentlicht wurden, unterstreicht die Notwendigkeit, seine neuartige ästhetische Konzeption erläutern zu müssen. Das Programmheft zur Mirakel-Inszenierung diente vornehmlich dazu, die Handlung der Pantomime leichter nachzuvollziehen. Taut hingegen schien mit seinen Ausführungen die Entscheidung 600 Jacobs 1921. Vgl. hierzu auch Schultes 1981, S. 263 f. Die Johanna wurde von Helene Thimig gespielt. 601 Taut 1921, S. 5. Zum Einfluss der Mystik auf Tauts Weltauffassung vgl. Schirren 2001, S. 104–108. 602 Ohne eine weiterführende Verortung wurden die Bühnenbildentwürfe publiziert in Ausst.Kat. Köln 2014, Kat. Nr. 127 a–e, S. 247 f.; Köhler 2001, S. 156 f. u. Ausst.-Kat. Tokyo 1994, S. 194–200. 603 Zur intellektuellen Krise nach dem Ersten Weltkrieg siehe auch Kapitel 1.1.

3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen       175

für ein abstraktes Raumkonzept begründen zu wollen. Aufgrund dieser Innovation war es ihm ein zentrales Anliegen, dem Publikum eine konkrete Rezeptionshaltung vorzugeben, weshalb in einer Zusammenschau der überlieferten Rezeptionsdokumente die Wirksamkeit seiner Inszenierungsstrategien hinterfragt wird. Inwieweit verhandelte auch Bruno Taut das Phänomen der ästhetischen Gemeinschaft, das für Reinhardts Inszenierung von zentraler Bedeutung gewesen war? Welche Strategien der Sakralisierung fanden hier Anwendung, um einer neuen Auffassung von Kunst und Welt Ausdruck zu verleihen? Da der Materialkorpus zu der Inszenierung, die insgesamt achtundzwanzig Mal aufgeführt wurde, klar umrissen ist, treten in diesem Kapitel Referenzen unterschiedlichster künstlerischer und kultureller Felder in einen gleichwertigen Dialog.604 Um das übergeordnete kulturelle Phänomen der kristallinen Gotik angemessen fassen zu können, werden neben der eigentlichen Theaterinszenierung ausgewählte architektonische Projekte Tauts und Positionen der zeitgenössischen Kunstkritik, -theorie und der Literatur zum Sprechen gebracht. Das erste Teilkapitel dieser Fallstudie untersucht das Glashaus für die Kölner Werkbundausstellung von 1914. Durch eine spezifische Form der Theatralisierung der temporären Ausstellungsarchitektur, die nach wenigen Monaten wieder abgebaut wurde, bereitete der Architekt ein innovatives Raumerlebnis vor, das er in seinen späteren Theaterprojekten weiterdenken sollte.605 Von einer besonders engen Wechselwirkung von Architektur, bildender Kunst und Theater zeugt das 1920 veröffentlichte Architektur-Schauspiel Der Weltbaumeister, dem das zweite Teilkapitel gewidmet ist. Auf eine kosmische Ebene übertragen, setzte sich hierin die Auflösung des Raums durch Glas, Licht und Farbe fort. Mit dieser Kapitelstruktur erfolgt eine Einführung in die virulente kunsttheoretische Debatte um die Legitimation abstrakter Tendenzen in der zeitgenössischen Architektur und Kunst, die in dem Gründungsmanifest des Bauhauses gipfelte. Auf diese Weise soll aufgezeigt werden, dass die Gotik, der Kristall und das Licht zu zentralen Figuren einer stark bildlichen und spirituell aufgeladenen Rhetorik wurden, welche wiederum von den zeitgenössischen Künstlern intensiv reflektiert wurde. In dem Dialog zwischen Moderne und Mittelalter, Theater und Architektur sowie Künstlern und Kunsttheorie werden sich die sakral aufgeladenen Topoi Glas, Kristall und Licht als konstituierende Elemente künstlerischer, kultureller und sozialer Imaginationsräume erweisen. So wird die nachfolgende Untersuchung Aufschluss darüber geben, inwieweit der Sakralraum – die ›Zukunftskathedrale‹ – als Kunstsymbol einer utopischen Auffassung von der Gesellschaft als Gesamtkunstwerk verstanden wurde. Mit der Transformation der alltäglichen Lebenswelt als erklärtes Ziel der künstlerischen Bestrebungen erlangte das Konzept des Gesamtkunstwerks über eine ästhetische und metaphysische Ebene hinaus eine eindeutig politische Dimension.606 604 Zu dieser Vorgehensweise vgl. auch Nagel 2012. Siehe hierzu auch Kapitel 1.5. 605 Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges am 28. Juli wurde die Werkbundausstellung vorzeitig am 8. August 1914 geschlossen. Nach einigen Jahren des Verfalls wurde der Bau während einer Militärübung weitestgehend zerstört, lediglich das Eisenbetongerüst blieb erhalten. Vgl. Hartmann/Bollerey 1984, S. 141. 606 Zu dieser Theoretisierung des Gesamtkunstwerks vgl. u. a. Anger 2016, S. 162; Finger/Follett 2011, S. 4 f.; Roberts 2011, S. 1–10 u. Stavrinaki 2011, S. 253 f. Zu den Konnotationen des Gesamtkunstwerks im Expressionismus siehe weiterführend Ausst.-Kat. Darmstadt

176       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

3.1 Vom gotischen Dom zum Kristallhaus: Architekturprogramme der Moderne »Es scheint mir das wichtigste, ein ideales Gotteshaus zu bauen, kein konfessionelles, sondern ein religiöses Werk«,607 schrieb der Architekt und Publizist Adolf Behne (1885–1948) in der 1919 unter dem Titel Ja! Stimmen des Arbeitsrates für Kunst in Berlin veröffentlichten Umfrage. Im selben Jahr erschien Behnes Schrift Die Wiederkehr der Kunst, in der er seinen Appell vertiefte: Seit der Gotik hätte es keine ideale Baukunst mehr gegeben. Doch könne man dieses Ideal nicht in der reinen Nachahmung einer vergangenen Epoche suchen, sondern ausschließlich durch die Entwicklung einer neuen Bauweise erreichen.608 Behne gilt als frühester Förderer des aufstrebenden Architekten Bruno Taut und stellte dessen Arbeiten mit seinen Veröffentlichungen in einen breiten kulturellen, gesellschaftlichen und kunstphilosophischen Diskurs. In einem Artikel, der im Frühjahr 1913 in der Zeitschrift Pan erschien, fasste Behne Tauts Bauweise erstmals als »dem innersten Sinn nach ›expressionistisch‹«und schrieb ihm eine wesentliche Rolle in der Erneuerung der deutschen Architektur zu.609 In Behnes Augen schien Taut in besonderem Maße befähigt, einen überkonfessionellen Kultbau zu errichten. Die Forderung nach einem neuen kultischen Bauwerk ist als paradigmatisch für die weitreichende kulturelle Debatte um das Verhältnis von Religion, Mittelalter und den Künsten in den deutschen Intellektuellenkreisen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zu sehen. Eine singuläre Stellung nahmen darin die fiktiven Architekturvisionen Paul Scheerbarts (1863–1915) ein. Der Schriftsteller, der 1914 unter dem Titel Glasarchitektur eine Sammlung aphoristischer Texte zu fantastischen Glas- und Kristallgebilden veröffentlichte, lieferte entscheidende Impulse für die Etablierung einer neuen Architekturauffassung. So gilt sein 1912 erschienener Roman Das große Licht als ein »Manifest für die kaleidoskopische Glas- und Lichtarchitektur«,610 in dem Scheerbart die Zukunft des Bauens entwarf: Die Glasarchitektur ist ein Kind der alten Mysterien. Nicht mit Unrecht hat man im farbigen Glase einen geheimnisvollen mystischen Zauber vermutet. Schon die alten Kir-

2010b. Die Forschungsergebnisse wurden erstmals diskutiert in Bornemann 2013a, S. 14– 17. In einer vollständig überarbeiteten Fassung dienen diese Ausführungen als Grundlage für das vorliegende Kapitel. 607 Arbeitsrat für Kunst 1919, S. 16. Das Zitat ist dem von Behne verfassten Zusatz »Utopische Bauaufgabe« entnommen. Unter den Unterzeichnern des vorläufigen Programms wurden im Frühjahr 1919 dreizehn Fragen zu der Arbeitsgemeinschaft aller Künstler im Sinne einer Erneuerung der Architektur zirkuliert. Daraufhin wurde eine Auswahl der Antworten im November publiziert. Zu den Forderungen des Arbeitsrates für Kunst siehe weiterführend u. a. Fornoff 2004, S. 411–417 u. Pehnt 1998, S. 125–128. 608 Siehe weiterführend Behne 1919. 609 Behne 1913, S. 539. Vgl. auch Behne 1915, S. 135. Zu Behnes Tätigkeit als Architekturkritiker siehe weiterführend Gutschow 2005. Zur Bestimmungsproblematik des Begriffs ›Expressionismus‹, der bereits ab 1911 für die Malerei und Literatur in Deutschland geläufig war, siehe ausführlich Pehnt 1998, S. 8–16. 610 Krauter 1998, S. 116.

3.1  Vom gotischen Dom zum Kristallhaus: Architekturprogramme der Moderne       177

Abb. 72: Bruno Taut, Glashaus, Deutsche Werkbundausstellung Köln, 1914.

chen des europäischen Mittelalters zeigten sehr viele Glasfenster. Die wollen wir wieder haben, damit unser ganzes Leben kathedralenhaft wird. Heute können wir durch den Eisenbau noch größere Glaswirkungen hervorbringen – als im europäischen Mittelalter. Das große Licht soll der Erlöser der Menschheit sein.611

Scheerbart betrachtet die Zerlegung des steinernen Wandsystems gotischer Kathedralen durch die Glasfenster als einen unmittelbaren Vorläufer einer neuen idealen Architektur. Für ihn ist es das »farbige[] Glas, welches das Licht substanziell erscheinen lässt« und dadurch über ein besonderes Transformationspotenzial verfügt.612 In der Beherrschung von Farbe und Licht durch die Künstler sah Scheerbart folglich die Kraft zur Erneuerung der Kultur seiner Zeit. Er widmete seine Publikation Glasarchitektur dem ambitionierten Architekten Bruno Taut, mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verband. In ihrem fortwährenden Dialog über die Architektur und Literatur entwickelten sich die Elemente Glas, Licht und Kristall zu den dominierenden Ausdrucksformen und konzeptionelle Denkfiguren ihres Kunstschaffens.613 Im Umfeld der Forderungen nach einer neuen Bauweise entstand eines der programmatischsten Werke der Glasarchitektur, durch das Scheerbarts visionäre Ideen Realisierung fanden: Wenige Monate vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges baute Taut für die Kölner Werkbundausstellung einen gläsernen Ausstellungspavillon, der die Leistungen der deutschen Glasindustrie würdigen und kostbare Erzeugnisse von Glaskunstwerkstätten präsentieren sollte (Abb. 72). Auf einem robusten Betonsockel ruhend entwickelte sich über einem polygonalen Stahlstützenkranz eine 611 Scheerbart, Paul, »Das große Licht« [1912], in: Scheerbart 1987, S. 180 f. 612 Hoormann 2003, S. 50. Siehe hierzu auch Ersoy 2011, S. 123. 613 Gottfried Heinersdorff hatte die beiden 1913 miteinander bekannt gemacht, sodass Scheerbarts Glasarchitektur und Tauts Glashaus in unmittelbaren Dialog entstanden. Vgl. Ersoy 2015, S. 156–159; Fornoff 2004, S. 380 f. u. Hartmann 2001, hier besonders S. 56–60. Siehe weiterführend u. a. Musielski 2003; Ikelaar 1996 u. Haag Bletter 1973.

178       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

Abb. 73: Owen Jones, The Great Exhibition, um 1854.

knospenförmige gläserne Kuppel. Diese war der Silhouette eines Kristalls nachempfunden.614 Ein umlaufender Fries, in den Aphorismen Scheerbarts, wie etwa »Das Licht will durch das ganze All und ist lebendig im Kristall«, eingelassen waren, bildete den Übergang zwischen der Massivität des Betons und der Leichtigkeit des Glases. Den Eingangsbereich zierte der Sinnspruch »Das Glas bringt uns die neue Zeit. Backsteinkultur tut uns leid«, der die Beständigkeit und den Zukunftscharakter des Baustoffes Glas unterstreichen sollte. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts avancierte Glas zu einem Sinnbild des modernen Bauens. In Kontrast zu älteren Industriebauten aus massivem Backstein fand das Material Anwendung in Ausstellungsarchitekturen, Bürokomplexen, Gewächs- sowie Warenhäusern. Den Fortschrittsglauben und das Selbstverständnis der modernen Gesellschaft repräsentierend diente die transparente Beschaffenheit des Glases nicht nur der Ausleuchtung von Gebäuden, sondern auch als Material der Zurschaustellung von Innenräumen, Innenleben und Konsumgütern. Joseph Paxton (1803–1865) gestaltete die Fassade des Kristallpalastes für die Londoner Weltausstellung von 1851 so, dass sich die Architektur übergangslos mit der natürlichen Landschaft des Hyde Parks verband (Abb. 73).615 Von außen betrachtet, erweckte Tauts Glashaus durch die Verwendung von Spiegelscheiben zunächst ebenfalls den Eindruck, als verschwimme die Grenze zwischen Außen- und Innenraum. Allerdings war dies eine wohlkalkulierte optische Illusion: In Wirklichkeit schuf Taut ein paradoxes Spiel von Material und Form, von Transparenz und Opazität. Das rautenförmige Spiegelglas der Kuppel reflektierte das Sonnenlicht in mannigfachen Farbtönen, die das Auge als ein dynamisches Flimmern wahrnahm. Auf diese Weise schienen sich die angrenzenden Betonverstrebungen 614 Vgl. Taut, Bruno, »Erläuterungsbericht zur Errichtung eines Glashauses auf dem Ausstellungsgelände in Cöln am Rhein, 7. Februrar 1914«, zit. n. Ausst.-Kat. Tokyo 1994, S. 126. An dieser Stelle vergleicht Taut sein Glashaus mit einem Kristall. Zeitgenossen griffen diese Metapher in ihren Berichten ebenfalls auf, wodurch diese zu einer geläufigen Beschreibungskategorie wurde. Vgl. Behne 1914a, zit. n. Behne 1994, S. 28. Für einen umfassenden Forschungsbeitrag zu Bruno Tauts Glashaus mit zahlreichen kulturhistorischen Querverbindungen und Quellentexten siehe Ausst.-Kat. Berlin 1993. 615 Vgl. u. a. Nicolai 2008, S. 142; Hoormann 2007, S. 138 u. Prange 1994, S. 76 f. Ein Jahr zuvor hatte Taut am Monument des Eisens in Leipzig bereits das Bauen mit Glas erprobt. Siehe weiterführend Ersoy 2008 u. James-Chakraborty 2000, S. 44–47. Zur Entwicklung der Glasindustrie und Glasbauweise im 19. Jahrhundert siehe u. a. Armstrong 2008 u. Kohlmaier 1988.

3.1  Vom gotischen Dom zum Kristallhaus: Architekturprogramme der Moderne       179

Abb. 74: Bruno Taut, Glashaus, Deutsche Werkbundausstellung Köln, Kuppelraum, 1914.

mehr und mehr zu verflüchtigen. Dem Eingangsportal waren Stufen vorgelagert, die in ein offenes Treppenhaus mündeten, welches von außen scheinbar übergangslos in den Kuppelraum hineinführte. Dieser war mit einer farbigen Doppelverglasung ausgekleidet, wodurch das obere Stockwerk zwar in Tageslicht getaucht wurde, die Besucher jedoch die Außenwelt aus dem Inneren nicht direkt betrachten konnten.616 Wie eine zeitgenössische Innenaufnahme des Fotografen Franz Stoedtner (1870– 1944) veranschaulicht, stattete Taut das Innere des Kuppelraums mit Glaselementen unterschiedlichster Form und Göße aus (Abb. 74). Im Zusammenspiel brachten diese Elemente irisierende Lichteffekte hervor, die Taut an die Wirkung von Kristallglas anlehnte. Aufgrund seiner amorphen Molekülzusammensetzung teilt das farblose Glas keine physikalischen Materialeigenschaften mit Kristallen. Allerdings wird durch Bleianreicherungen bei Lichtbrechung ein Farbspektrum erzeugt, das dem funkelnden Bergkristall entspricht.617 Solche kristallinen Effekte und Farbwirkungen 616 Vgl. u. a. Ersoy 2011, S. 117 f. u. S. 129 f.; Hoormann 2007, S. 136 u. Gutschow 2006, S. 63. Für eine zeitgenössische Beschreibung des Glashauses siehe Linke 1914. Für einen imaginären Rundgang durch das Glashaus vgl. Ausst.-Kat. Berlin 1993, S. 26–28. Zur Ambivalenz von Transparenz und Opazität vgl. Behne 1914a, zit. n. Behne 1994, S. 28. Siehe weiterführend Anger 2016, besonders S. 157–161 u. S. 174–176. 617 Mit den in Gitterstrukturen angeordneten Molekülen ist der Kristall in seiner Materialeigenschaft völlig konträr zum fragilen Glas. Der molekularen Zusammensetzung von Kristallen galt ein großes Forschungsinteresse der Naturwissenschaften um 1900. 1912 un-

180       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

Abb. 75: Bruno Taut, Glashaus, Deutsche Werkbundausstellung Köln, Kaskadenraum, 1914.

konnte Taut mittels kleiner farbiger Luxfer-Prismen, die in dünne Stahlhalterungen eingelassen die Rippen der Kuppel ausfüllten, technisch nachahmen. Durch die fein geriffelte Beschaffenheit der Oberfläche brach sich das Tageslicht auf immer neue Weise. Bei Einbruch der Dämmerung erhellten verschiedenfarbige Glühbirnen den Raum. Der mit Glasbausteinen ausgekleidete Boden öffnete sich in der Mitte zu einer runden Ausbuchtung, die den Blick in das untere Geschoss freigab. Dort befand sich ein runder Kaskadenraum, dessen Zentrum ein künstlich illuminiertes Wasserspiel bildete (Abb. 75). Die apsidiale Rückwand war mit quadratischen Silbersmalten ausgekleidet, die hinterleuchtet in Nuancen von Silber bis Perlmutt glänzten. Eine ähnliche Wirkung entfaltete die Decke aus rotem Glas und feinen Goldsmalten. Aufgelockert wurde die Wandfläche durch Einlegearbeiten zeitgenössischer Künstler, darunter auch Werke Johan Thorn Prikkers. Die Mosaike aus farbigen Glas- und Spiegelfliesen, die elektrischen Beleuchtungsvarianten sowie die Intensität des Tageslichts erzeugten stetig wechselnde Sinneseindrücke.618 Gesteigert wurde die Atmosphäre durch die farbigen Reflexe auf dem Wasser und dessen Plätschern, wie der zeitgenössische Bericht des Astronomen und Journalisten Felix Linke (1879–1959) tersuchte der Physiker Max von Laue die kristalline Struktur mithilfe von Röntgenstrahlen und erhielt dafür zwei Jahre später den Nobelpreis. Zwischen 1913 und 1923 veröffentlichte der Mineraloge und Naturphilosoph Victor Goldschmidt seinen neunbändigen Atlas der Krystallformen (Heidelberg: Winter). Siehe hierzu auch Spanke 2015, S. 12. Zum Verfahren des Diamantschliffs und der Bleianreicherung von Glas siehe Richter 2015, S. 67 u. 75. 618 Siehe auch Ersoy 2011, S. 118; Bushart 2003, S. 110 u. Hoormann 2007, S. 139. Zur Produktion der Luxfer-Prismen siehe Neumann 1995 u. Linke 1914, S. 1133 f. Zur Thorn Prikkers Glasmalerei, die im Haus Heinersdorff auf der Werkbundausstellung präsentiert wurde, vgl. Kraus 1984b u. weiterführend die Kapitel 1.1 u. 2.1.2.

3.1  Vom gotischen Dom zum Kristallhaus: Architekturprogramme der Moderne       181

Abb. 76: Bruno Taut, Glashaus, Deutsche Werkbundausstellung Köln, Aufriss, Schnitt und Grundriss, 1914.

belegt: »Wie flüssiges Gold strömt das Wasser die Stufen hinunter und gibt dem Ganzen ein ungewöhliches Leben von hoher Festlichkeit und Heiterkeit.«619 Über eine umlaufende gläserne Treppe erschloss der Besucher das Innere des Pavillons in einer vorgegebenen Richtung und blieb somit in einer ständigen Bewegung. Gelangte man in den abgedunkelten Anbau, wurde das multisensorische Erleben noch gesteigert. Dort war ein riesiges, sich drehendes Kaleidoskop installiert (Abb. 76). Mit den farbigen Glasfüllungen war unter anderem der Künstler Adolf Hölzel (1853– 1934) beauftragt worden, der ausgehend von den Lehren der Geometrie, Musik und Optik ein Harmoniegesetz für Farbe und Form erarbeitet hatte (Abb. 77).620 Das Zusammenspiel von Glas-, Beleuchtungs- und Farbelementen brachte nicht nur konstant neue abstrakte Formen vor den Augen der Betrachter hervor, sondern ließ sie diesen Raum auch als einen »einzige[n] große[n] Farbenrausch« wahrnehmen.621 Dieses neuartige dynamische und multimediale Raumerlebnis war von der anthroposophischen und esoterischen Lebensauffassung der Zeit geprägt. Für die Anhänger der Lebensreformbewegung, deren Überzeugung vom Einklang zwischen Körper und Geist aus dieser philosophischen Grundhaltung entsprang, symboli619 Linke 1914, S. 1138. Zu den literarischen und theologischen Quellen über den Zusammenhang von Glas und Wasser vgl. Anger 2016, S. 173 u. Haag Bletter 1981, S. 20–43. 620 Vgl. hierzu Spanke 2015, S. 16 f. Zur Funktion des Kaleidoskops in Scheerbarts Werk, das von Taut in diesem Raum reflektiert wurde, siehe Krauter 1998, S. 37–39 u. S. 108–136. 621 Linke 1914, S. 1138.

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Abb. 77: Adolf Hölzel, Fuge über ein Auferstehungsthema, um 1916.

sierte die aufgehende Sonne die Kraft und Vitalität der Jugend.622 In den kristallinen Licht- und Farbeffekten des Glashauses findet jenes ganzheitliche Verständnis von körperlicher und mentaler Gesundheit durch Bewegung und Lichterfahrung einen architektonischen Ausdruck. Von Etage zu Etage wurde durch das Ineinandergreifen der Gestaltungselemente Glas, Licht, Farbe und Wasser die sinnliche Wahrnehmung der Besucher auf bis dato unbekannte Weise angeregt. Während Ausstellungsgebäude als ›neutrale Behälter‹ für die Präsentation ausgewählter Exponate, den kontemplativen visuellen Kunstgenuss und die Vermittlung von Wissen bestimmt sind, zielte Tauts Pavillon ausschließlich auf ein multisensorisches ästhetisches Erleben der Architektur selbst. Der Architekturhistoriker Kai Gutschow überträgt daher Kriterien, die erst ab den 1960er Jahren für die Installationskunst aufgestellt wurden, auf Tauts Glashaus: Both architects and installation artists create ›immersive,‹ ›theatrical,‹ and ›experiential‹ environments that are site-specific, and often collaborative, ventures. [...] [B]oth focus on spatiality and the carefully choreographed movement of ›embodied‹ spectators,

622 Vgl. Hoormann 2003, S. 40. Diese Metapher fand Ausdruck in Fidus’ Gemälde Lichtgebet (um 1894), das zum Sinnbild der Lebensreformbewegung werden sollte. Zur ästhetischreligiösen Aufladung des Gemäldes vgl. u. a. Baader 2003. Zur Funktion des Lichts in den Lehren Rudolf Steiners vgl. Kapitel 4.2.3. Zu den ›Licht- und Lufthütten‹, die zeitgleich auf dem Monte Verità entstanden, vgl. Kapitel 4.3.

3.1  Vom gotischen Dom zum Kristallhaus: Architekturprogramme der Moderne       183

Abb. 78: Bruno Taut, Deckblatt des Bauprospekts zur Deutschen Werkbundausstellung in Köln (Detail), Juni 1914.

fully engaged with their senses, who activate and participate in the creation of space by moving through it.623

Damit verweist Gutschow auf ein spezifisch theatrales Potenzial, welches nicht nur der Installationskunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts attestiert werden kann, sondern auch bereits in Tauts Konzeption des Ausstellungspavillons von zentraler Bedeutung war. Wie bei einem Theaterbesuch wurde die Außenwelt im Augenblick des Betretens ausgeblendet. Über theatrale Strategien, wie die Lichtregie und das kontinuierliche Bewegungsmoment, wurde der Besucher selbst zu einem Akteur in und mit dem Raum. Vergleichbar mit dem flüchtigen Prozess einer Theateraufführung wurde die ästhetische Erfahrung erst in der Interaktion der menschlichen Körper mit dem sie umgebenden Raum performativ hervorgebracht. Wie nachfolgend noch eingehender zu untersuchen sein wird, war hierin ein neues, aktives Perzeptionsverhalten des Betrachters angelegt, das Taut im Weltbaumeister und in seiner Arbeit am Deutschen Theater auf der Ebene des Zuschauers weiterdenken sollte. Selbstbewusst bewarb Taut auf dem Deckblatt des ausstellungsbegleitenden Bauprospekts sein Bauwerk mit dem Motto: »Der gotische Dom ist das Präludium der 623 Gutschow 2006, S. 63. Vgl. hierzu auch Anger 2016, S. 163 u. Ausst.-Kat. Berlin 1993, S. 26–28. In seinem grundlegenden Beitrag zur Minimal Art hat Michael Fried die theatralen Qualitäten der Betrachtereinbeziehung negativ bewertet. Vgl. Fried 1967. Juliane Rebentisch bezieht in Ästhetik der Installation eine Gegenposition in dieser Diskussion. Vgl. Rebentisch 2003. Ab den 1990er Jahren entwickelt sich eine spezifische Erscheinungsform der Installation, die sich durch das Zusammenspiel von bildender Kunst und Theater auszeichnet und die die Theaterwissenschaftlerin Barbara Gronau als ›Theaterinstallation‹ definiert hat. Siehe hierzu weiterführend Gronau 2010.

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Abb. 79: Caspar David Friedrich, Kreuz im Gebirge, um 1812.

Glasarchitektur« (Abb. 78).624 Damit sah er sein Schaffen nicht nur in einer direkten Tradition mit den mittelalterlichen Baumeistern, sondern stellte in Köln auch eine unmittelbare Verbindung zu dem wichtigsten Repräsentationsbau der katholischen Kirche in Deutschland her. Und wenn das Ganze von Außen mit allen seinen zahllosen Türmen und Türmchen aus der Ferne einem Walde nicht unähnlich sieht, so scheint das ganze Gewächse, wenn man etwas näher tritt, eher einer ungeheuern Krystallisation zu vergleichen. Es gleichen mit einem Worte, diese Wunderwerke der Kunst [...] am meisten den Werken und Erzeugnissen der Natur selbst.625

Mit diesen Worten imaginierte Friedrich Schlegel (1772–1829) um 1805 die Bauruine des Kölner Doms. Er sah das unvollendete Bauwerk als Idealbild gotischer Architektur – ein Naturwerk, das der Mensch errichtet hatte (Abb. 7). Dabei verwendete Schlegel den Kristall als Sinnbild für die dynamische Formensprache der Gotik. Das organisch gewachsene Mineral, das regelmäßige geometrische Strukturen ausbildet, tritt in eine außergewöhnliche Verbindung von Natur und Wissenschaft und vereint daher seit jeher wissenschaftlich-rationale wie spirituelle Bedeutungszuweisungen. In der Antike wurden Kristalle wegen ihrer Beständigkeit, Kostbarkeit, Reinheit und 624 Ein nahezu wortgleicher Ausruf findet sich bei Scheerbart 1914, S. 79. Zu den Werbestrategien des Werkbundes vgl. Schwartz 1996, S. 164–191. 625 Schlegel 1959, S. 178 f. Siehe weiterführend Niehr 1999 u. Prange 1991, S. 9–16. Zur Vollendung des Kölner Doms im späten 19. Jahrhundert vgl. auch Kapitel 1.4.

3.1  Vom gotischen Dom zum Kristallhaus: Architekturprogramme der Moderne       185

ihres Farbenreichtums als schöne Kunstwerke der Natur aufgefasst.626 Ausgehend von biblischen Quellen, wie etwa der Beschreibung des goldenen Bodens im Tempel des Salomons oder des Himmlischen Jerusalems in der Offenbarung des Johannes, wurde der Kristall im Mittelalter aufgrund seiner Transparenz und seiner intensiven Leuchtkraft als heiliger Stein religiös konnotiert.627 In Schlegels Beschreibung des Kölner Doms vereinen sich die Auffassungen der Antike und des Mittelalters, indem der Kristall als ›lebender‹ Organismus der Natur mit einer religiösen Bedeutung aufgeladen wird. Deshalb hat Regine Prange den Ursprung der sogenannten ›kristallinen‹ Gotik in der Romantik verortet. Die Künstler und Schriftsteller der Romantik sahen in der Natur den Ort, an dem sich die Schöpfung Gottes offenbarte, und erachteten ihr eigenes Kunstschaffen im Sinne dieser pantheistischen Weltanschauung als einen schöpferischen Akt. An scheinbar wilden Felsmassiven, Gebirgsketten, Eis- und Schneelandschaften erprobten sie die klaren Formationen des Kristalls, der gleichzeitig zu einem wichtigen Symbol der angestrebten Erneuerung der Kunst wurde. Insbesondere in den Kathedralvisionen Caspar David Friedrichs (1774–1840) kündigte sich eine ästhetische Neubewertung der Gotik an. Den Vordergrund des Gemäldes Kreuz im Gebirge aus dem Jahr 1812 dominiert eine schroffe, kristalline Felsenlandschaft, in der Kompositionselemente wie das Wegkreuz und die Wasserquelle plastisch ausgestaltet sind (Abb. 79). Im Hintergrund erhebt sich eine gotische Kathedrale aus dem Nebeldunst, die in der Ferne dreidimensional kaum noch fassbar ist. Vielmehr löst sie sich durch das rötliche Gegenlicht des Himmels in die transparente und flächenhafte Silhouette eines ›Kristalldoms‹ auf. Nach Prange markierte dieser kompositorische Gegensatz zwischen dem Flächig-Transparenten und dem Gegenständlichen einen entscheidenden Paradigmenwechsel, der für die Weiterentwicklung einer gegenstandsunabhängigen Kunst in der Klassischen Moderne prägend wurde: »Der Kristall bot Kompensation an für den Verlust an darstellerischen Möglichkeiten, die sich in der Malerei durch das Verschwinden des Sujets, in der Architektur durch den Verzicht auf das Ornament bemerkbar machten.«628 Das Formprinzip des Kristalls und das Ideal der Romantik weiterdenkend zerlegten Maler wie Lyonel Feininger (1871–1956) und Robert Delaunay (1885–1941) ihre Kompositionen in kristalline Gebilde. Die Verbindungslinie zur Malerei der Romantik, die Prange aufgezeigt hat, scheint nicht unbegründet, zumal die Werke Friedrichs zu den Publikumsmagneten der 1906 in Berlin präsentierten Jahrhundertausstellung deutscher Kunst zählten. Allerdings darf 626 Vgl. etwa Plinius’ Ausführungen über den Bergkristall in Plinius 1994, S. 29. Siehe hierzu Richter 2015, S. 67. Zur Rezeption der Schriften durch die Kristallografie des 19. Jahrhunderts siehe Nies 1884. Zur Beseelung des Kristalls als natura artifex siehe auch Prange 1994, S. 69. 627 Ausgehend von den biblischen Quellen wurde der Bergkristall seit dem Mittelalter als Allegorie Christi, der Engel und des Himmels verstanden. Vgl. Richter 2015, S. 67–69. Rosemarie Haag Bletter hat anhand der Metaphorik im Christentum, Islam und Judentum gezeigt, dass die Worte Licht, Glas, Kristall, Edelstein und Gold meist synonym für eine transzendentale Erscheinung verwendet wurden. Tauts Arbeiten zeugen von einer eklektischen Assemblage jener Einflüsse. Vgl. Haag Bletter 1981, S. 21–25. 628 Prange 1994, S. 79. Siehe auch Hoormann 2003, S. 50 u. Prange 1991, S. 3. Zu Friedrichs Domvisionen siehe weiterführend Prange 1989.

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mit der Popularität der Romantik Anfang des 20. Jahrhunderts keinesfalls von einer lediglich neoromantischen Verklärung der Gotik beziehungsweise des Kristalls ausgegangen werden.629 Um die Jahrhundertwende war Peter Behrens der einzige Künstler, der den Kristall konsequent als künstlerisches Motiv eingesetzt hatte, während seine Zeitgenossen der abstrakt-vegetabilen Ornamentik des Jugendstils verschrieben waren. Bei der Aufführung des Festspiels anlässlich der Eröffnungsausstellung der Künstlerkolonie Darmstadt auf der Mathildenhöhe äußerte sich dieser Gegensatz in dem dramatischen Spannungsmoment der Enthüllung des Kristalls vor dem vergoldeten floralen Schmuck der von Joseph Maria Olbrich gestalteten Fassade des Atelierhauses (Abb. 18). In der kontrastreichen Inszenierung der divergierenden Formensprache kündigt sich ein Paradigmenwechsel an, der zwar zeitlich noch keine direkten Nachfolger fand, doch seine Schatten bereits vorauswarf. Grundsätzlich muss Behrens daher als Wegbereiter der expressionistischen Glasvisionen verstanden werden, in der die Anwendung des Kristalls als abstrakte Form ihren Höhepunkt fand. Schon in Behrens’ Schriften deutet sich eine vergeistigte Auffassung des Kunstschaffens an, die später auch von Behne und Taut propagiert und durch das Glashaus manifestiert werden sollte: Hatten wir unten in unsrer gewohnten Umgebung alles so gestaltet, dass es Bezug auf unser tägliches Leben habe, auf die Logik unsrer Gedanken, auf unser sinnliches Zweckbewusstsein, nun erfüllt uns hier oben der Eindruck eines höheren Zweckes, ein ins Sinnliche nur übersetzter Zweck, unser geistiges Bedürfnis, die Befriedigung unserer Übersinnlichkeit.630

Der Werkbund sollte die Ästhetisierung der Lebenswelt ebenso verfolgen, wenngleich dessen Ziel stärker geprägt war von einer sozialistischen Lebensauffassung. Im Rahmen der groß angelegten Ausstellung sollte in Köln, einem der Zentren des katholischen Glaubens in Europa,631 ein neues Kunstverständnis der Öffentlichkeit präsentiert werden. Dieses hatte Taut bereits in seinem Essay »Eine Notwendigkeit«,

629 Vgl. u. a. Nicolai 2008, S. 143; Wagner 2005, S. 405 u. Whyte 1993, S. 120. Für eine Übersicht der ausgestellten Werke siehe Ausst.-Kat. Berlin 1906. Im spezifischen Fall von Bruno Tauts Lichtästhetik könnte der Bezug zu den Künstlern der Romantik auch deshalb von Bedeutung sein, da sich unter anderem Caspar David Friedrich eingehend mit Licht- und Transparenzphänomenen auseinandergesetzt hatte. Im Rahmen dieser Arbeit kann der Vergleich jedoch nicht weiter ausgeführt werden. Zu Friedrichs Transparentmalerei siehe Verwiebe 1997, besonders S. 45–69. 630 Behrens 1900a, S. 12. Zur Instrumentalisierung des Kristalls als nationales Ornament vgl. Grosskopf 2011, S. 20 f. Siehe hierzu weiterführend Kapitel 1.4. Zum Zweck-Begriff von Adolf Behne und Bruno Taut vgl. ausführlich Prange 1991, S. 78–90. 631 Der Kölner Ars sacra-Verein zur Förderung religiöser Kunst lieferte innovative Entwürfe für den zeitgenössischen Sakralbau. Siehe hierzu Kraus 1984a. Die Werkbundausstellung spiegelte damit die sogenannte ›kirchliche Kunstdebatte‹ in Deutschland. Die in der katholischen Kirche bestehende Auffassung von Sakralarchitektur, welche die Nachahmung mittelalterlicher Baustile anordnete, wurde von Fürsprechern des modernen Bauens angefochten. Vgl. ausführlich Giebeler 1996, S. 33–49 u. S. 75–94.

3.1  Vom gotischen Dom zum Kristallhaus: Architekturprogramme der Moderne       187

Abb. 80: Robert Delaunay, Die Fenster zur Stadt (Les fenêtres sur la ville), 1912.

der im Februar 1914 wenige Monate vor der Eröffnung der Ausstellung am 15. Mai erschien, formuliert: Eine Intensität hat Künstler aller Künste ergriffen, eine Religiosität, die sich nicht mit weichen Anwandlungen begnügen will, sondern nach gesetzmäßigen Formen strebt. [...] Es geht eine geheime Architektur durch alle diese Werke und hält sie alle zusammen. [...] Die gotische Kathedrale umfaßt ebenso alle Künstler, die von einer wundervollen Einheit erfüllt waren und in dem Architekturgebilde des Domes den klingenden Gesamtrhythmus fanden.632

Die Idee des Gleichklangs der Künste mündet in seinen Aufruf zur kollektiven Zusammenarbeit unter dem Primat der Architektur: »Bauen wir zusammen an einem großartigen Bauwerk! An einem Bauwerk, das nicht allein Architektur ist, in dem alles, Malerei, Plastik, alles zusammen eine große Architektur bildet, und in dem die Architektur wieder in den anderen Künsten aufgeht.«633 Die gotische Kathedrale wird in dieser Aufforderung zu einem Kunstsymbol für das von Richard Wagner proklamierte Ideal des Gesamtkunstwerks. In der Verbindung mit dem Kristall symbolisiert sie eine vergeistigte Kunst, die keine funktionalen Vorgaben erfüllt, sondern rein ideelle Züge annehmen soll. In diesem Sinne soll mit den Materialien Glas, Eisen und Beton ein Bauwerk der Zukunft errichtet werden, in dessen ästhetischer Vollkommenheit Taut die einzige ›Funktion‹ sieht: Der Bau soll Räume enthalten, welche die charakteristischen Erscheinungen der neuen Kunst in sich aufnehmen: in großen Glasfenstern die Lichtkompositionen Delaunays, an den Wänden die kubistischen Rhythmen, die Malerei eines Franz Marc und die Kunst Kandinskys.634

Kurz darauf sollte Taut mit dem Glashaus ein repräsentatives Beispiel dieser neuen Bauweise errichten. Das intensiv leuchtende Lichtspiel des Glashauses scheint wie eine unmittelbare Übertragung von Robert Delaunays Malerei in die Formensprache 632 Taut 1914, S. 174. 633 Taut 1914, S. 174. 634 Taut 1914, S. 175. Siehe hierzu auch den Vergleich von der gotischen Kathedrale und Tauts Glashaus als autonome künstlerische Schöpfungen in Behne 1915/16, S. 2. Vgl. auch Behne 1914b, S. 182 f.

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der Architektur. In seinen Fenster-Bildern, die Herwarth Walden (1878–1941) 1913 in seiner Sturm-Galerie ausgestellt hatte, sucht der Künstler die raumbrechende Lichtwirkung der gotischen Kathedrale in seinen kristallinen Bildkompositionen einzufangen (Abb. 80). Ohne einen klaren Blickpunkt erscheinen die Fenster durch das Zusammenspiel von Farbe und Licht entschwert und so in eine rhythmische Bewegung versetzt. Durch das mystisch-unwirkliche Spiel des Lichts auf den Luxfer-Prismen erhielt das Baumaterial Glas einen immateriellen Charakter, der die Grenzen des Raums und die Schwerkraft aufzuheben schien. Darin sieht auch Anne Hoormann, die Tauts Architektur und Delaunays Malerei einem Vergleich unterzogen hat, eine wesentliche Verbindung zur Lichtwirkung in den gotischen Kathedralen: Das durch die Glasfenster gefilterte und farbig gebrochene Licht schafft ein eigenes Raumlicht, das sein unmittelbares Umfeld überstrahlt und die Dinge gleichsam im Licht verschwinden lässt. Faktisch wirken Glasfenster wie Lichtquellen, die ihre Strahlen aussenden. Die Farben scheinen vom transluziden Bildträger losgelöst und frei im Raum zu schweben, nahezu ortlos zu sein.635

In dem Rückbezug auf die gotische Glasmalerei in den schriftlichen Zeugnissen, die den Bau und die Präsentation des Glashauses auf dem Ausstellungsgelände in Köln-Deutz begleiteten, äußert sich ein Kräftemessen mit der jahrhundertealten Baukunst. Der Zeitgenosse Linke sah dabei den ehrwürdigen Dom übertroffen: »[S]ogar die herrlichen Bögen des Doms auf der andern Rheinseite sind gegen dieses lichtdurchströmte Gewölbe tot.«636 An dem irisierenden Spiel des Lichts interessierte Taut selbst nicht nur die wahrnehmbare Auflösung des Raums, sondern auch dessen Entmaterialisierung im Sinne einer religiös-symbolischen Überhöhung, denn das lichtdurchlässige und reflektierende Material ließ etwas eigentlich Nichtgreifbares erfahrbar werden. Emotional aufgeladene Beschreibungen zeitgenössischer Besucher des »Tempel[s] der Schönheit«637 unterstreichen, dass das außeralltägliche Raumerlebnis und die erhabene Gesamtwirkung mehr denn die architektonischen oder technischen Einzelheiten des Glashauses haften blieben. Der Ausstellungspavillon schien der Realität entrückt und wie ein Gebäude, das der Fantasie des Betrachters entsprungen war. Mit jener sakralen Aufladung des Glashauses zu einem über allem Wirklichen erhabenen Bauwerk bezog sich Taut, wie Scheerbart wenige Jahre zuvor, ebenfalls auf die gotische Kathedrale. Während die Wiederbelebung der Gotik und die Idealisierung 635 Hoormann 2003, S. 103. Vgl. hierzu auch Bushart 2003, S. 106–109. Zu Delaunays Malerei vor dem spezifischen Kontext kristalliner Lichtphänomene siehe u. a. Anger 2016, S. 166– 169; Hoormann 2003, S. 104–112 u. Krauter 1998, S. 128–137. Zur Farbigkeit des Glashauses siehe Ausst.-Kat. Berlin 1993, S. 46. Zur Illumination von Kirchenräumen im Sinne einer Vermittlung von Transzendenz siehe die Ausführungen zur Mirakel-Inszenierung in Kapitel 2.1.2. 636 Linke 1914, S. 1137. 637 Linke 1914, S. 1133. Zur Rezeption des Glashauses siehe auch Gutschow 2006, S. 66; Ausst.Kat. Berlin 1993, S. 43 u. Hartmann/Bollerey 1984, S. 138 f.

3.1  Vom gotischen Dom zum Kristallhaus: Architekturprogramme der Moderne       189

der Religion in der Romantik mit einem mentalen Rückzug in die Innerlichkeit verbunden waren, zielte Tauts Architektur auf eine gänzliche andere Form der spirituellen Erfahrung. Sie ging für ihn einher mit einem intensiven sinnlich-körperlichen Erleben. So wurden durch die Nähe zum Kölner Dom am gegenüberliegenden Ufer automatisch auch Erinnerungen an die Klänge der katholischen Festgottesdienste geweckt. In Anlehnung an diese Referenz sollte die Gesamtheit aller Künste im Glashaus »einen großartigen Gesamtklang«638 hervorbringen. In dem Moment, in dem die Besucher in die mannigfachen visuellen, akustischen sowie haptischen Reize eintauchten, ließen sie die profane Außenwelt hinter sich, obschon sie sich weiterhin in einem säkularen Ausstellungsgebäude befanden. So wie das Licht, das durch die Buntglasfenster in den gotischen Kirchenraum reflektiert wurde, die sakrale Atmosphäre während liturgischer Zeremonien intensivierte, eröffnete es den zeitgenössischen Ausstellungsbesuchern ein Moment der Transformation, das eine Erfahrung von Transzendenz auslösen konnte.639 Dabei erfuhr das Glas als Sinnbild einer zukunftsweisenden, vergeistigten Architektur eine sakrale Aufladung zum reinen Kristall, die in Adolf Behnes Lobpreis des Baumaterials Glas anklingt: Die Sehnsucht nach Reinheit und Klarheit, nach leuchtender Helligkeit, kristallischer Exaktheit, nach körperloser Leichtigkeit und unendlicher Lebendigkeit fand das Glas als Mittel ihrer Erfüllung – den körperlosesten, den elementarischsten, den wandlungsfähigsten und an Deutungen und Anregungen reichsten Stoff, der wie kein anderer verschmilzt mit der Welt.640

Diese künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis von Figuration und Abstraktion, die die Künstler im Kristall reflektiert sahen, traten zeitgleich in Erscheinung mit einer weitreichenden kunsttheoretischen Debatte. In seiner kontrovers diskutierten Dissertation Abstraktion und Einfühlung, die 1908 erstmals in Buchform erschien, formulierte Wilhelm Worringer (1881–1965) das Prinzip des Kristallisierens als erste Stufe der Abstraktion: »[D]er Abstraktionsdrang [findet] seine Schönheit im lebensverneinenden Anorganischen, im Kristallinischen, allgemein gesprochen, in aller abstrakten Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit.«641 Bezeichnenderweise nahm in dieser neuen Abstraktionstheorie das Referenzsystem Gotik eine exponierte Stellung ein. Worringers Schrift Formprobleme der Gotik aus dem Jahr 1911 markierte den theoretischen Ausgangspunkt für die Wiederbele-

638 Taut 1914, S. 175. Siehe hierzu auch Anger 2016, S. 161 f., die betont, dass für die Einheit der Künste im Sinne des Gesamtkunstwerks nicht länger eine Zusammensetzung vorgeschriebener Komponenten notwendig war. Im Glashaus genügte beispielsweise die Assoziation von Klängen, ohne dass Musik tatsächlich gespielt wurde. 639 Vgl. Ersoy 2011, S. 124 u. Haag Bletter 1975, S. 89. Dieses Transformationspotenzial sieht Ersoy auch in dem Spannungsverhältnis von Erdbezogenheit und Aufstreben der Architektur zum Ausdruck gebracht. Vgl. Ersoy 2015, S. 159. 640 Behne 1915/16, S. 4. Siehe hierzu auch Ersoy 2011, S. 113. Zum Glashaus als Gesamtkunstwerk siehe auch Bushart 2003, S. 110. Für eine gekürzte Fassung des Aufsatzes siehe Bushart 2010, S. 49–71. 641 Worringer 1911, S. 3.

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bung der Gotik in der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts.642 Die expressiven Stilelemente und Formensprache der Gotik, so der Kunsthistoriker, ermöglichten eine Dynamisierung der Architektur, die ein singuläres Raumerlebnis auslöste. In der gotischen Kathedrale sah Worringer die vollendete Entmaterialisierung eines Baus, der als Symbol der Transzendenz über jegliche Funktionalität und Zweckmäßigkeit erhaben war: »Der ganze Bau reckt sich in dem freudigen Bewusstsein, nun von aller Schwere der Materie, von aller irdischen Gebundenheit befreit zu sein.«643 Wenn auch nicht frei von Sarkasmus, so bezeichnete der renommierte Mediävist Richard Hamann (1879–1961) Formprobleme der Gotik als »Manifest des Expressionismus«644: In seiner auf wirkungsästhetische Aspekte konzentrierten Beschreibung des gotischen Baustils habe Worringer mit der Auflösung des Gegenständlichen eine essenzielle Parallele zu den abstrakten Tendenzen der zeitgenössischen Malerei aufzeigen wollen. Anlass für diese Inanspruchnahmen gaben eine ganze Reihe von Worringers Beobachtungen. So kennzeichne etwa die gotische Ornamentik eine »Erregungslinie«, die er als »eine starre, eckige, immer wieder unterbrochene, zackige Linie von stärkster Ausdruckswucht« umschreibt, welche »eine geistige, über die Sinne weit hinausgehende Lebendigkeit« hervorrufen könne.645 Daraus schlossen zeitgenössische Kritiker, dass Worringer die Errungenschaften der gotischen Baumeister als eine historische Bezugsfolie nutzte, um die zeitgenössischen Kunstströmungen auratisch aufzuladen und in den Status einer ›wahren‹ Kunst zu erheben.646 Worringers Schriften lösten in der Kunstwelt eine kontroverse Debatte um die ›Ausdruckskunst‹ aus. Einige Kunsthistoriker und -kritiker zweifelten an der Wissenschaftlichkeit seines stilpsychologischen Forschungsansatzes, der das Kunstwerk als Ausdruck der psychischen Verfasstheit einer bestimmten Epoche auffasste. Seine Methode, den Zugang zur Architektur über das subjektive Gefühlserlebnis einem vergleichenden Formstudium vorzuziehen, galt unter vielen als terminologisch unpräzise und somit fragwürdig.647 Wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg verstärkte Worringer überdies die radikale Tendenz zur Erhebung der Gotik zum deutschen Nationalstil. Indem er die Gotik als Spiegel des ›deutschen‹ Wesens erachtete, formulierte der Kunsthistoriker das Bedürfnis der Nation, einen künstlerischen Stil als Ausdruck einer kollektiven Identität und eines politischen Selbstverständnisses zu beanspruchen. Diese nationalistisch gefärbte Auslegung des gotischen Baustils, die zu einem bereits im späten 19. Jahrhundert länderübergreifend geführten kulturpolitischen Disput zwischen Deutschland und Frankreich zurückreichte, wurde 642 Siehe in diesem Zusammenhang auch Schmitz 1921. Vgl. u. a. Simmons 2004, S. 266 f.; Prange 1991, S. 29–31 sowie ausführlich Öhlschläger 2005. Für einen Überblick, der die Stationen der ästhetischen Neubewertung der Gotik seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nachzeichnet, siehe auch Oexle 2007. 643 Worringer 1912, S. 103. 644 Hamann 1915, S. 360 f. 645 Worringer 1912, S. 33 u. 35. Vgl. hierzu auch Werner 2013, S. 243 f. u. Pehnt 1998, S. 43 f. 646 Vgl. Zerbst 2004, S. 1338–1340 u. S. 1349 f. u. Bushart 2003, S. 104–106. Siehe weiterführend Fornoff 2004, S. 369–377 u. Bushart 1990, besonders S. 25–39. 647 Julius Baum nennt Worringers Herangehensweise beispielsweise eine »intuitiv geleitete Spekulation«. Baum 1917/18, S. 145.

3.1  Vom gotischen Dom zum Kristallhaus: Architekturprogramme der Moderne       191

allerdings nicht von allen Seiten kritiklos aufgenommen.648 So distanzierte sich etwa Hamann von Worringers Instrumentalisierung der Gotik als eine »auf Rasseneigentümlichkeiten beruhende spezifisch germanische Geistesverfassung«.649 Anknüpfend an Worringers Schriften plädierte Karl Scheffler (1869–1951) im Jahr 1917 für eine Erneuerung der Künste im ›Geiste‹ der Gotik. Seine Forderung zielte dabei weniger auf die Imitation der gotischen Formensprache, als auf die Wiederbelebung der »unmittelbaren Ausdruckskraft«.650 In Zeiten von Krieg und Chaos sahen Scheffler und seine Zeitgenossen in der Gotik ein ordnendes Prinzip  – eine Rückbesinnung, die sich durch die revolutionäre Aufbruchsstimmung der Nachkriegsjahre potenzierte. Allerdings rückte dabei die patriotisch geprägte Überhöhung der Gotik gänzlich in den Hintergrund. So erklärte Walter Gropius (1883–1969) in einer Rede, die er 1919 im Vorfeld der Neugründung des Bauhauses hielt, dass die gotischen Kathedralen aus einem »religiösen Sehnsuchtsgefühl[] im ganzen Volke« errichtet worden seien.651 Gleichzeitig konstatierte er, dass Industrialisierung, Krieg und das damit verbundene Massensterben dieses kollektive Gefühl in der modernen Gesellschaft ausgelöscht und zu einer Stagnation künstlerischer Entfaltung geführt hätten: »Wir kennen dieses gemeinsame starke Empfinden nicht mehr und solange wird die höchste Kunst nur von wenigen vereinsamten, kaum verstandenen Menschen gepflegt und gekannt.«652 In der Idee des Gesamtkunstwerks sah der Architekt einen Anstoß, die Kluft in der Gesellschaft zu überwinden, eine neuerliche Einheit herzustellen und somit zur eigenen Identität zurückzufinden. Deshalb forderte er die Künstler seiner Zeit zu der »schöpferische[n] Konzeption der Zukunftskathedrale, die wieder alles in einer Gestalt sein wird, Architektur und Plastik und Malerei«, auf.653 Kurz darauf wurde das Gründungsmanifest des Weimarer 648 Siehe weiterführend Kramp 2014, S. 23–39 u. Passini 2014, S. 40–44. 649 Hamann 1915, S. 358. Weiter betont Hamann die Errungenschaften Frankreichs auf dem Gebiet der gotischen Baukunst, die nicht ausgeblendet werden dürften. Vgl. Hamann 1915, S. 359 f. Siehe hierzu auch Baum 1917/18. Zu Worringers Typisierung der Menschheitsentwicklung siehe u. a. Nicolai 2012; Zerbst 2004, S. 1342–1348; Fornoff 2004, S. 370–373 u. Bushart 1990, S. 34–41 u. S. 93–134. 650 Scheffler 1922, S. 30. Vgl. u. a. Werner 2013, S. 242; Fornoff 2004, S. 376 f. u. Pehnt 1998, S. 44. 651 »Vortrag von Walter Gropius in der Aussprache des Direktors des Staatlichen Bauhauses mit Handwerkern und Industriellen am 28. Juni 1919«, in: Wahl 2009, S. 246. Siehe hierzu auch Nagel 2012, S. 244 u. weiterführend Lane 1986. 652 Wahl 2009, S. 246. Vgl. hierzu auch Fornoff 2004, S. 378 f. u. S. 434–438. 653 Gropius 1919, S. 87. Siehe hierzu auch Bushart 2003, S. 115. Gropius’ Feststellung deckt sich mit Behnes Forderung nach einer Rückbesinnung auf die Religiosität, die er in Ja! Stimmen des Arbeitsrates für Kunst in Berlin formulierte. Der Arbeitsrat für Kunst, wie auch zahlreiche andere Künstlergruppen, hatte sich 1918 aus dem sozialistischen Geist der Novemberrevolution heraus formiert. Neben Walter Gropius verfasste auch Mitbegründer und Wortführer Bruno Taut anlässlich der Berliner Ausstellung für unbekannte Architekten einen mannifestartigen Aufruf. Siehe weiterführend Maciuika 2005, S. 287–290. Die Ausstellung präsentierte utopische Bauvisionen, darunter Arbeiten von einigen Architekten, die sich kurz darauf der von Taut initierten Künstlergemeinschaft Gläserne Kette anschlossen. Auch Worringer unterzeichnete das Gründungsmanifest des Arbeitsrates, was darauf schließen lässt, dass den Mitgliedern seine Schriften wohlbekannt waren. Siehe hierzu Nagel 2012, S. 244 f. u. S. 301 sowie Kapitel 3.2.

192       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

Bauhauses herausgegeben, das dem Wortlaut des zuvor skizzierten Appells ähnelte. Allerdings spitzt Gropius darin seine Idee auf die Bildung eines sozialen Kollektivs und einer Erneuerung der Gesellschaft zu, leitet er doch den Namen ›Bauhaus‹ von der mittelalterlichen Bauhütte ab. In Anlehnung an das sozial und religiös gefestigte Organisationssystem ruft Gropius zu einer Überwindung gattungsbedingter Hierarchien und einem Zusammenschluss der Künstler und Handwerker aller Bereiche auf, um das Bauwerk der Zukunft zu schaffen: Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau! Ihn zu schmücken war einst die vornehmste Aufgabe der bildenden Künste, sie waren unablösliche Bestandteile der großen Baukunst. Heute stehen sie in selbstgenügsamer Eigenheit, aus der sie erst wieder erlöst werden können durch bewußtes Mit- und Ineinanderwirken aller Werkleute untereinander. [...] Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik und Malerei, der aus Millionen Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens.654

Obschon zwischen den einzelnen Veröffentlichungen mehrere Jahre und damit verbunden kriegsbedingte Einschnitte in die Lebenswelt liegen, weisen die im Rahmen dieses Überblicks vorgestellten künstlerischen, literarischen und theoretischen Programme eine entscheidende Gemeinsamkeit auf: Worringers Schriften, Behnes Forderungen, Scheerbarts Prosa und Tauts Ideenskizzen einer zukunftsweisenden Architektur kennzeichnen allesamt eine wort- und bildgewaltige Sprache, durch die die Kunst zu einer Art Ersatzreligion stilisiert wird. Nach Anne Hoormann lesen sich die schriftlichen Zeugnisse im Sinne einer Erlösung aus der Dunkelheit der Gegenwart wie eine »spirituelle Archäologie vom Licht [...]. Im Licht sahen [...] [die Verfasser – S. B. Q.] ihre Vision von einer neuen Zeit verkörpert«.655 Mithilfe dieser spirituell aufgeladenen Rhetorik sollten nicht nur die abstrakten Strategien der künstlerischen Produktion vorgearbeitet beziehungsweise legitimiert werden. Vielmehr galt es, der Interpretation der Leser und seiner Rezeption der Kunstwerke eine konkrete Richtung vorzugeben. Um Vorstellungen von einer neuen vergeistigten Kunst, der Organisation künstlerischer Zusammenarbeit sowie einer idealen Gesellschaft wirksam zu platzieren, stützten sich die Autoren auf die wiederkehrenden und somit in der

654 Gropius, Walter, »Bauhaus-Manifest« [1919], in: Wahl 2009, S. 97. Diese Zielformulierung findet sich ebenfalls in Arbeitsrat für Kunst 1919, S. 31. Siehe hierzu auch Nagel 2012, S. 241–246; Breuer 2010, S. 404–407; Maciuika 2005, S. 290 u. Bushart 2003, S. 115. Christoph Wagner hat die ideengeschichtlichen Hintergründe der Gotikfaszination in der künstlerischen Produktion, Theorie und Pädagogik am Bauhaus ergründet: So befindet sich etwa Julius Haases Die Bauhütten des späten Mittelalters (München: Die Kelle, 1919) in Walter Gropius’ Nachlass. Siehe Wagner 2005, besonders S. 385 f. Zur Wiederbelebung der Gotik und des Bauhüttengedankens in der Romantik sowie der Rezeption durch Taut und Gropius siehe Nicolai 2015, S. 44 u. S. 46. Vgl. hierzu auch Werner 2013, S. 245–249 u. Fornoff 2004, S. 438–446. 655 Hoormann 2003, S. 49. Vgl. hierzu auch Nagel 2012, S. 242 u. Stavrinaki 2011, S. 255 f. u. S. 260. Zur Wiederbelegung der Religion und Mystik siehe auch Pehnt 1998, S. 29 f.

3.1  Vom gotischen Dom zum Kristallhaus: Architekturprogramme der Moderne       193

Abb. 81: Lyonel Feininger, Titelblatt »Kathedrale« zu Walter Gropius’ Manifest und Programm des Staatlichen Bauhauses, April 1919.

Kultur der Zeit fest verankerten Metaphern des Lichts, der gotischen Kathedrale und des Kristalls, die sie in einen abstrakten Bedeutungszusammenhang überführten.656 Unter diesen modernen Visionsschriften markierte das Bauhaus-Manifest einen Höhepunkt. Verstärkt wurde Gropius’ religiös aufgeladene Rhetorik durch die Verknüpfung mit einem programmatischen Bild auf dem Titelblatt des Manifests, auf dem ein Holzschnitt Feiningers abgedruckt war (Abb. 81): Er zeigt eine dreischiffige Kathedrale, deren Fassade in zerklüftete Linien, Schattenpartien und Dreiecksformen zerlegt ist. Die Spitzen der drei Kirchtürme streben übergangslos einem abstrahierten Himmel entgegen, von dessen drei Sternen Licht in die Umgebung reflektiert wird. Durch den Rand der Grafik kaum begrenzt, reichen die Strahlen in das Endlose. In den unendlichen Kosmos aufsteigend scheint sich das irdische Bauwerk in die Sphäre der Transzendenz auszudehnen und wird somit zum »kristallinen Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens«.657 Aufgeladen mit einer religiös anmutenden Ideologie sollte das Bauhaus-Manifest nicht nur die Ziele und Lehrpläne der neuen Schule, sondern insbesondere auch deren programmatische Aus-

656 Neben den hier aufgeführten Beispielen zeichnen sich zahlreiche kunsttheoretische Schriften der Avantgarde durch eine spirituell geprägte, sehr bildhafte Sprache aus. Darunter insbesondere Kandinsky 1911/12. Vgl. Fornoff 2004, S. 278–367. Für weitere Beispiele siehe auch Nagel 2012, S. 244 sowie zu deren Ursprüngen abseits der christlichen Theologie Ringbom 1966, S. 386–418. 657 Gropius, Walter, »Bauhaus-Manifest« [1919], in: Wahl 2009, S. 97. Der Holzschnitt trug ursprünglich den Titel Kathedrale des Sozialismus. Zu der Verbindung von Bild und Text siehe Günther 2012, S. 147–150; Breuer 2010, S. 407; Nagel 2012, S. 245 f.; Maciuika 2005, S. 290–292; Wagner 2005, S. 383 f. u. Hoormann 2003, S. 49–51.

194       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

richtung präsentieren: Als ›Zukunftskathedrale‹, deren tragende Säulen Architektur, Bildhauerei und Malerei in Feiningers Holzschnitt durch die Dreizahl der Sterne und Türme repräsentiert sind, sollte die Gemeinschaft des Bauhauses ein neues, sozialistisch geprägtes Ideal von Gesellschaft repräsentieren.

3.2  Der Weltbaumeister – eine szenische Vision einer kristallinen Gotik       195

3.2 Der Weltbaumeister – eine szenische Vision einer kristallinen Gotik Die Erdoberfläche würde sich sehr verändern, wenn überall die Backsteinarchitektur von der Glasarchitektur verdrängt würde. Es wäre so, als umkleide sich die Erde mit einem Brillanten- und Emailschmuck. Die Herrlichkeit ist gar nicht auszudenken. Und wir hätten dann auf der Erde überall Köstlicheres als die Gärten aus tausend und einer Nacht. Wir hätten dann ein Paradies auf der Erde und brauchten nicht sehnsüchtig nach dem Paradiese im Himmel auszuschauen.658

In diesem Auszug aus seinem 1914 geschriebenen Spätwerk Glasarchitektur entwirft Paul Scheerbart das Ideal einer Welt, die nur aus gläsernen, dynamischen, bisweilen schwebenden Bauwerken besteht. Insbesondere in der Qualität des Glases, das Tageslicht zu brechen, sah Scheerbart ein ungewöhnliches Transformationspotenzial.659 Die wie farbige Edelsteine funkelnden Architekturen erinnern an die Vision des Himmlischen Jerusalems in der Offenbarung des Johannes und werden durch diese deutlich erkennbare biblische Referenz in eine Sphäre der Transzendenz erhoben. In den nachfolgenden Passagen steigert sich die Auflösung der Großstadt in ein fantastisches, kristallines Gebilde. Darin sah Scheerbart die Voraussetzung für die Etablierung einer höheren Kultur, die sich durch eine veränderte Lebensform und Denkweise auszeichnen sollte. Seine utopische Vision einer neuen Welt erlangte insofern eine politische und soziale Dimension, als dass sie Dezentralisierung, Gleichberechtigung, Globalisierung und Pazifismus in einer Zeit vorausahnte, in der das Weltbild der Menschen durch die Kriegserfahrung erschüttert wurde.660 Der Soziologe Norbert Elias (1897–1990) hat in seiner Zivilisationstheorie Utopien als »Phantasiebilder möglicher zukünftiger Welten« bezeichnet, die als Wunschbilder einer besseren Welt einer Gesellschaft Orientierung bieten.661 Utopisches Denken 658 Scheerbart, Paul, »Die Schönheit der Erde, wenn die Glasarchitektur überall da ist«, in: Scheerbart 1914, S. 29. 659 Vgl. Anger 2016, S. 171–174 u. Ersoy 2015, S. 156. Zu Scheerbarts Schreibstil und seiner bildhaften Metaphorik siehe ausführlich Ersoy 2011, S. 119–123 sowie Haag Bletter 1975, S. 84 u. S. 87. 660 Es ist kein Zufall, dass Scheerbarts urbane Vision ebenso wie die symbolische Konzeption der gotischen Kathedrale auf das Himmlische Jerusalem rekurrieren. Vgl. Haag Bletter 1981, S. 25 u. S. 40. Zu Scheerbarts Prosa siehe weiterführend Krauter 1998, S. 23–145 u. Haag Bletter 1975. Zur Popularität der Kristallmetaphorik in der Literatur des deutschen Expressionismus siehe auch Beil 1988. 661 Elias, Norbert, »Eine kurze Notiz zum Begriff der Utopie und den Aufgaben der Utopieforschung«, unveröffentl. Manuskript, Bielefeld, Zentrum für interdisziplinäre Forschung, 1981, zit. n. Kilminster 1985, S. 69. An anderer Stelle definiert der Soziologie Utopie als »Phantasiebild einer zukünftigen Gesellschaft«. Elias 1985, S. 109.

196       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

Abb. 82: Bruno Taut, Die Stadtkrone, Jena, 1919.

tritt dann in Erscheinung, wenn ein Bruch mit dem historischen Kontinuum entsteht, aktuelle Zustände Ablehnung erfahren und eine Neuordnung gesellschaftlicher Strukturen unumgänglich ist.662 So verwundert es nicht, dass die in Scheerbarts Prosa propagierte fundamental neue Weltanschauung nach dem Ende des Ersten Weltkrieges von einer Reihe von Künstlern verstärkt reflektiert wurde. Bruno Taut entwickelte seine persönliche Vision einer alternativen Lebenswelt zur überbevölkerten Metropole in den Jahren 1916 und 1917 für sein erstes Buch Die Stadtkrone, das nach Kriegsende erschien. Darin imaginiert er eine Gartenstadt, in der Natur und Architektur miteinander verschmelzen. Ihr Zentrum bildet ein alles überragendes gläsernes Kristallhaus, in dessen Gestaltung der Architekt das Kölner Glashaus weiterdachte (Abb. 72 u. 82). Dieses leuchtende Kristallhaus, das ein Rückzugsort für die kontemplative Kunst- und Naturandacht sein sollte, wird zum Inbegriff seines Entwurfs einer neuen, friedlicheren »Glanzwelt«663. In den Jahren 1919 und 1920, als die Bauaufgaben durch die Kriegsfolgen stark dezimiert waren, kamen um Bruno Taut einige junge Architekten in der Künstlergemeinschaft Gläserne Kette zusammen. Tauts Aufforderung, »[s]eien wir mit Bewußtsein ›imaginäre Architekten‹!«,664 schlossen sich unter anderem Walter Gropius, Wenzel Hablik (1881–1934) und Hans Scharoun (1893–1972) an. An einen spirituellen Geheimbund erinnernd erfolgte der geistige Austausch des kurzlebigen Zirkels in Form von Rundbriefen.665 In diesen Briefwechseln suchten die Künstler 662 Vgl. Brauneck 1987, S. 17 u. S. 21. 663 Taut 1919a, S. 14. Vgl. James-Chakraborty 2000, S. 50–53 u. Whyte 1993, S. 128. Siehe weiterführend Pehnt 1998, S. 106–114 u. Prange 1991, S. 87–105. Seine Ideen zu einer alternativen Lebenswelt konkretisierte Taut außerdem in Alpine Architektur (Hagen: Folkwang, 1919) und Die Auflösung der Städte (Hagen: Folkwang, 1920). Siehe hierzu weiterführend u. a. Fornoff 2004, S. 385–395 u. S. 397–410; Prange 1991, S. 107–157 u. Whyte 1982, S. 149–152. ZumVorbildcharakter der Gartenstadt Hellerau, dessen ästhetisches Programm Émile Jaques-Dalcroze und Adolph Appia entwickelten, siehe Brauneck 1987, S. 21 u. weiterführend Kapitel 3.4. 664 Brief von Bruno Taut an die Gläserne Kette, 24.11.1919, zit. n. Whyte/Schneider 1996, S. 25. 665 Vgl. Hengst 2015; Schuetze 2012 u. Whyte 1982, S. 174–208. Siehe hierzu weiterführend Fornoff 2004, S. 418–433; Musielski 2003; Pehnt 1998, S. 130–134 u. Whyte/Schneider 1996.

3.2  Der Weltbaumeister – eine szenische Vision einer kristallinen Gotik       197

ihre utopischen Architekturvisionen nicht nur in Worte zu fassen, sondern auch mithilfe von Skizzen fantastischer Glas- und Kristallgebilden zukunftweisende Bauprojekte zu entwerfen. Losgelöst von der materiellen Bausubstanz orientierten sich die flüchtig zu Papier gebrachten Entwürfe an Scheerbarts literarischem Stil, den eine bewusste Reduktion sprachlicher Gestaltungsmittel auszeichnete. Die illustrierten Briefe wurden unter den Mitgliedern zirkuliert, sodass deren ergänzende Kommentare und Zeichnungen das Ideenspektrum zur Erneuerung von Architektur und Gesellschaft kontinuierlich erweiterten. Das erklärte Ziel der Architekten sieht Kurt Junghanns durch die politischen und gesellschaftlichen Umstürze der Novemberrevolution von 1918 motiviert: »Sie sahen sich der ganzen Fülle eines in Bewegung geratenen Daseins gegenüber, deuteten es als einen Aufbruch zu einer neuen Gemeinschaft und waren besessen von dem Gedanken, dieser Bewegung mit ihrer Kunst Ziele setzen zu können.«666 Die imaginären Zukunftsvisionen der Verfasser fanden in der Realität allerdings nur schwerlich Umsetzung. Daraus schließt Magdalena Bushart: »Es gehört zum Wesen von Utopien, daß sie sich der Umsetzung verweigern. Konsequenterweise wurden die ›Zukunftskathedralen‹ vorzugsweise auf dem Papier entwickelt: in Form von Beschwörungen, [...] von Visionen [...] und in Zeichnungen.«667 Im Gegensatz zu den schriftlichen und grafischen Vorstößen, die oftmals im Bereich des Imaginären verharrten, bot das zeitgenössische Theater einen real existierenden Ort, an dem Taut seine kristallinen Architekturvisionen erproben konnte. Mehr noch erwies es sich als eine ideale Projektionsfläche seiner neuen Kunst- und Weltauffassung, deren Grundzüge bereits in Peter Behrens’ Festspielkonzeption aufscheinen. In einem Theater, das zur Feier einer neuen Lebenskultur werden soll, weist Behrens dem Menschen ein kulturschöpferisches Potenzial zu: Das Künstlerische beginnt da, wo eine Erscheinung zur selbstherrlichen Form vereinfacht, das umfassende Sinnbild aller ähnlichen Erscheinungen wird. Der Mensch soll Kulturschöpfer auf der Bühne werden, ein Künstler, der selbst sein Material ist, aus sich heraus und durch sich Edleres schafft.668

In Abgrenzung zum bürgerlichen Theaterverständnis umschreibt Behrens damit nicht die Funktion einzelner Individuen, sondern appelliert an die Gemeinschaft von Zuschauern und Schauspielern. Jenes schöpferische Potenzial, das das Theater birgt, sollte Bruno Taut auf einer gänzlich neuen Ebene weiterdenken. Davon zeugt im Besonderen das achtundzwanzig Kohlezeichnungen umfassende Mappenwerk Der Weltbaumeister. Architektur-Schauspiel für symphonische Musik (gezeichnet 1919), in dem Taut die expressiv-fantastische Formensprache seiner kristallinen Gotik zur vollen Entfaltung brachte. Wie ein überdimensioniertes Daumenkino mit kurzen Regieanweisungen präsentieren die einzelnen Schwarz-Weiß-Zeichnungen 666 Junghanns 1979, S. 306. Vgl. hierzu auch Giebeler 1996, S. 27 f. u. Whyte 1993 S. 118 f. Siehe weiterführend James-Chakraborty 2000, S. 41–53 u. Lane 1986. 667 Bushart 2003, S. 116. Siehe hierzu auch Hengst 2015 u. Prange 1994, S. 70. 668 Behrens 1900a, S. 22. Siehe hierzu auch Fischer 2013, S. 95 u. Fischer-Lichte 1993, S. 270.

198       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

Abb. 83: Bruno Taut, Der Weltbaumeister. ArchitekturSchauspiel für symphonische Musik, Hagen, 1920, Blatt 2.

die visionäre Transformation einer imaginierten Welt: Die erste Sequenz zeigt zunächst das allmähliche Aufstreben einer gotisch anmutenden Kathedrale aus dem Nichts, das kleinteilige Zusammensetzen ihrer Fassade und die Ausdehnung des gigantischen Innenraums (Abb. 83 u. 84). Bei genauerem Betrachten erweisen sich die scheinbar gotischen Pfeiler, Bögen und Streben als ein abstrakt-organisches, »lebendiges Geschiebe von Formen« (Abb. 85).669 Schließlich zerbirst die fragile Konstruktion durch eine explosive Erschütterung in unzählige Einzelteile, die in der zweiten Phase gen Himmel steigen und sich im endlosen Weltall langsam verlieren (Abb. 86). Aus einem Sternenhimmel formt sich der kristalline ›Kathedralenstern‹, der wie ein Meteor der Erde entgegenfliegt (Abb. 87). In der letzten Bilderfolge wird der neuerliche Evolutionsprozess der Erde ausgelöst: Die Elemente Licht und Wasser lassen Vegetation sprießen und Menschenhütten entstehen (Abb. 88). Alles Leben versammelt sich um die Krone der Stadt: »Auf dem Hügel wächst DAS HAUS empor in warm gelbem Licht.«670 In seinem Inneren birgt das gläserne Kristallhaus leuchtende Wasserspiele, sodass die künstliche Architektur die lebenswichtigen Elemente der Natur, das Licht und das Wasser, in sich trägt (Abb. 89). Den Schlusspunkt des Architektur-Schauspiels markiert die vollendete Verschmelzung von Lebenswelt und Kosmos. In den letzten beiden Szenen wird das Kristallhaus in eine kubistische Bildkomposition aufgesprengt, in der kristalline Flächen, Kaskaden, Sterne und die dunkle Tiefe des Kosmos zu einem Ganzen verschmelzen. Hierzu notiert Taut: »Völlige Entfaltung – – Sterne durchschimmern die Kristalltafeln – – – Architektur – – Nacht – Weltall – – eine Einheit« (Abb. 90).671 669 Taut 1920 o. S., Anmerkung auf dem vierten Blatt der Szenenfolge. Das Deckblatt wird in die Zählung nicht einbezogen. Die Publikation ist dem Andenken Scheerbarts gewidmet, der 1915 verstorben war. 670 Taut 1920, o. S., Anmerkung auf dem dreiundzwanzigsten Blatt der Szenenfolge. 671 Taut 1920, o. S., Anmerkung auf dem siebenundzwanzigsten Blatt der Szenenfolge.

3.2  Der Weltbaumeister – eine szenische Vision einer kristallinen Gotik       199

Abb. 84: Bruno Taut, Der Weltbaumeister. ArchitekturSchauspiel für symphonische Musik, Hagen, 1920, Blatt 3.

Seit der Renaissance wird der Kristall mit dem Schöpfungsakt und somit der künstlerischen Produktivität in Verbindung gesetzt: Der natürliche Prozess des Wachsens, der gleichsam für Werden und Erstarren steht, versinnbildlicht den Übergang von der Natur zur Kunst. Ausgehend von diesem Vergleich hat der Kunsthistoriker Alois Riegl (1858–1905) in seiner Historischen Grammatik der Bildenden Künste die These aufgestellt, dass das Kunstschaffen demselben übergreifenden Ordnungsprinzip unterliegt wie die Schöpfungen der Natur: »Die menschliche Hand bildet ihre Werke aus toter Materie genau nach den gleichen Formgesetzen, nach denen die Natur die ihrigen formt. [...] Das Grundgesetz, nach welchem die Natur tote Materie formt, ist dasjenige der Kristallisation.«672 Hinter Tauts Weltbaumeister verbirgt sich eine spezifische Auffassung von Mikro- und Makrokosmos, die sich als Gegenmodell zu Charles Darwins (1809–1882) Evolutionstheorie verstand. Nicht nur Menschen, Tiere und Pflanzen, sondern auch anorganische Materie und Sterne werden als Lebewesen und gleichwertige Teile des Kosmos verstanden. Ein ähnliches Evolutionsmodell vertrat auch der Biologe und Philosoph Ernst Haeckel (1834–1919), der alle Organismen auf ein gemeinsames Urprinzip zurückführte. Im Jahr 1906 gründete Haeckel den Deutschen Monistenbund, der sich als eine neureligiöse Gemeinschaftsform verstand: »Tausende und Abertausende finden keine Befriedigung mehr in der alten, durch Tradition oder Herkommen geheiligten Weltanschauung; sie suchen nach einer neuen, auf naturwissenschaftlicher Grundlage

672 Riegl 1966, S. 22. In ihrer Dissertation hat Regine Prange die Positionen der Kunsttheorie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zum Prinzip der Kristallisation eingehend beleuchtet. Neben der Auffassung Riegls diskutiert sie die Ausführungen von Gottfried Semper, Wilhelm Worringer und Erwin Panofsky. Siehe ausführlich Prange 1991, S. 21–38 u. S. 138 f.

200       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

Abb. 85: Bruno Taut, Der Weltbaumeister. ArchitekturSchauspiel für symphonische Musik, Hagen, 1920, Blatt 6.

Abb. 86: Bruno Taut, Der Weltbaumeister. ArchitekturSchauspiel für symphonische Musik, Hagen, 1920, Blatt 8.

ruhenden einheitlichen Weltanschauung.«673 Mit dieser Gründungsmaxime wurde die religiöse Überzeugung von der Immanenz des Heiligen in allen Erscheinungsformen auf das naturwissenschaftliche Weltverständnis übertragen. Die Kristallformationen in Tauts Weltbaumeister zeugen von einer Reflexion dieser Theorieauffassung. So untermauerte Haeckel in seinem 1917 veröffentlichten Buch Kristallseelen. Studium über das anorganische Leben die Vorstellung von einer Urform.

673 Schmidt 1912/13, S. 748. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 wurde der Monistenbund aufgelöst. Vgl. auch Weber 2001, S. 125–131 u. Nipperdey 1988b, S. 604–606. Siehe hierzu weiterführend Neef 2014 u. Brückner 2011.

3.2  Der Weltbaumeister – eine szenische Vision einer kristallinen Gotik       201

Abb. 87: Bruno Taut, Der Weltbaumeister. ArchitekturSchauspiel für symphonische Musik, Hagen, 1920, Blatt 14.

Abb. 88: Bruno Taut, Der Weltbaumeister. ArchitekturSchauspiel für symphonische Musik, Hagen, 1920, Blatt 21.

Das Hauptziel der vorliegenden Studien über die Kristallseelen ist die feste Begründung der einheitlichen Naturanschauung; der Nachweis, daß in der organischen und anorganischen Natur überall dieselben ›ewigen, ehernen, großen Gesezte‹ alles Geschehen beherrschen. Die ganze ›Lebewelt‹, untrennbar mit der sogenannten ›leblosen Welt‹ verknüpft, wird als ›Universum‹ einheitlich von demselben Prinzip der Entwicklung geleitet.674

674 Haeckel 1917, S. 92 (Hervorh. E. H.). Bereits im Jahr 1904 hatte Haeckel die reich bebilderte Studie Kunstformen der Natur veröffentlicht. Siehe Haeckel 1904 u. weiterführend Gebauer 2013. Die darin abgedruckten Illustrationen von Zelltieren und -pflanzen inspirierte die or-

202       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

Abb. 89: Bruno Taut, Der Weltbaumeister. ArchitekturSchauspiel für symphonische Musik, Hagen, 1920, Blatt 25.

Abb. 90: Bruno Taut, Der Weltbaumeister. ArchitekturSchauspiel für symphonische Musik, Hagen, 1920, Blatt 27.

In dieser Monografie, die naturwissenschaftliche mit philosophischen und psychologischen Ansätzen vereint, steht der ›Urkristall‹, der unter bestimmten natürlichen Bedingungen wächst und dadurch lebendig erscheint, für die Verschränkung des Organischen und Anorganischen und wird daher zum zentralen Symbol eines ganzheitlichen Kosmos. Haeckel, der selbst Natur und Kunst in einem engen Wechselverhältnis betrachtete, ergänzte seine wissenschaftliche Studie um detaillierte Illustrationen zu den unterschiedlichsten Kristalltypen, die das Formenspiel Bruno Tauts und der Gläsernen Kette in besonderen Maße anregten (Abb. 91). So erfährt die

ganische Formensprache von einigen Mitgliedern der Gläsernen Kette. Vgl. hierzu Spanke 2015, S. 17 f.; Whyte 2004, S. 267; Pehnt 1998, S. 32 f. u. Prange 1994, S. 69.

3.2  Der Weltbaumeister – eine szenische Vision einer kristallinen Gotik       203

Abb. 91: Flüssige Kristalle, in: Ernst Haeckel, Kristallseelen, Leipzig, 1917.

seit der Antike geläufige Charakterisierung des Kristalls als natura artifex eine spezifische Form der animatio.675 1920 von Folkwang veröffentlicht, war Tauts Weltbaumeister ursprünglich für die Vorführung auf einer Bühne geplant.676 Um Zweifeln an der Aufführbarkeit des Architektur-Schauspiels vorzubeugen, ergänzte er die schwarz-weißen Skizzen nicht

675 Für eine ausführliche Verortung der organischen und anorganischen Qualitäten des Kristalls im kunst- und naturwissenschaftlichen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts siehe Prange 1995. Zur Definition des Begriffs ›organische Architektur‹ siehe ausführlich Brinitzer 2006, S. 13–19. 676 Der expressionistische Film verhandelte zeitgleich Architekturen, die zwischen Traum und Albtraum oszillieren. Vgl. Dillmann 2010 u. Whyte 1993, S. 135 f. Siehe hierzu weiterführend Roberts 2008. Sicherlich zeugt das dramatische Licht- und Schattenspiel der schwarzen Kohlezeichnung auf weißem Grund und der Sequenzcharakter von einer kinematografischen Ästhetik. Für die Magdeburger Mittellandausstellung des Jahres 1922 plante Taut den Bau eines kristallinen ›Tageslichtkinos‹, in dem der Weltbaumeister vorgeführt werden sollte. Dieses Vorhaben reichte jedoch nicht über das Planungsstadium hinaus. An dieser Stelle kann nicht im Detail auf die Möglichkeiten eingegangen werden, die der Film als Schnittstelle zwischen Fiktion und Realität der Umsetzung des Werks geboten hätte. Siehe hierzu Dähne 2013, S. 31 f.; Prange 1994, S. 72; Prange 1991, S. 129–135 u. Brauneck 1987, S. 24. Für die Ausstellung Gesamtkunstwerk Expressionismus des Institut Mathildenhöhe Darmstadt wurde das Mappenwerk als Film realisiert. Siehe hierzu Dillmann 2010, S. 278 f. Tängerstad hat in seiner Analyse von Fritz Langs Metropolis das Architektur-Schauspiel als Referenz aufgeführt. Vgl. Tängerstad 2012, S. 160 f. Zudem verweist die Forschung auf Tauts Kontakt zu dem Berliner Theaterschauspieler und Filmregisseur Paul Wegener. Vgl. Pehnt 1998, S. 106 f. u. S. 260 f. u. Whyte 1993, S. 137, Fn. 37.

204       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

Abb. 92: Bruno Taut, Der Weltbaumeister. Architektur-Schauspiel für symphonische Musik, Hagen, 1920, Blatt 1.

nur um Anweisungen zur Lichtregie und musikalischen Begleitung, sondern erläuterte in einem Nachwort zur Szenenfolge auch seine künstlerische Konzeption: Diese Zeichnungen mußten zunächst möglichst deutlich die Idee zeigen. Bei der Vorbereitung des Stückes für die Bühne wird die Anpassung an den Bühnenapparat oft eine stilistische Vereinfachung und Verstärkung ergeben [...]. Farbe und Licht bringen eine Fülle hinein, welche hier kaum angedeutet ist, und werden das Fehlende im Sinne der Illusion überbrücken.677

Das Architektur-Schauspiel beginnt in einem vollkommen leeren Raum, der lediglich durch den Vorhang als Theaterraum markiert ist. Für den Auftakt notiert Taut: »DIE GANZE BÜHNE NUR FARBENLICHT – STRAHLEND GELB Sonst nichts, kein Boden, keine Decke, keine Wände MUSIK ohne Schwellungen nur ein Klingen im Raum – langes helles gelbstrahlendes KLINGEN.«678 Die langsam erscheinen677 Taut, Bruno, »Über Bühne und Musik. Nachwort zum Architekturschauspiel«, in: Taut 1920, o. S. 678 Taut 1920, o. S., Anmerkung auf dem ersten Blatt der Szenenfolge.

3.2  Der Weltbaumeister – eine szenische Vision einer kristallinen Gotik       205

Abb. 93: Bruno Taut, Der Weltbaumeister. Architektur-Schauspiel für symphonische Musik, Hagen, 1920, Blatt 11.

den, abstrahierten Formationen erlangen erst durch die sensible Abstimmung von Lichtregie und Musik ihre Plastizität und Dynamik im Raum: »Von unten tauchen Formen auf und mit ihnen Figuren in der Musik  – mit den Formen werden die musikalischen Figuren reicher schwellender brausender farbiger« (Abb. 92).679 Das Wachsen, Aufbrechen und Neuzusammensetzen der Formen des Weltbaumeister erinnern dabei an das Kaleidoskop im Inneren des Glashauses, das, einmal in Bewegung versetzt, fortwährend neue Lichtreflexionen und Farbstrukturen erzeugte.680 Die Stimmung der einzelnen Sequenzen wird jedoch nicht nur durch die Intensität der Musik und des Lichts, sondern auch durch dessen symbolisches Farbspektrum evoziert: In der Weltall-Szene demonstriert Taut, dass ein vollends entleerter Spielraum durch das Ineinanderwirken von Licht, Farbe und Klang eine eindringliche räumliche Präsenz erlangen kann: Das Licht wird in dunkle Farbnuancen wie ›moos679 Taut 1920, o. S., Anmerkung auf dem ersten Blatt der Szenenfolge. 680 Vgl. Haag Bletter 1981, S. 35. Siehe hierzu auch Krauter 1998, S. 37–39 u. S. 108–136. Für einen ausführlichen Vergleich des szenischen Ablaufs des Weltbaumeister und der Bewegung sowie Farb- und Raumwahrnehmung der Besucher des Glashauses siehe Ausst.-Kat. Berlin 1993, S. 67–70.

206       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

grün‹, ›tiefblaugrün‹ und ›tiefstblau‹ getaucht, um die unendliche räumliche Tiefe des Kosmos zu erzeugen. Die Musik erklingt ›fern raumhaft‹ und aus ›ätherischer Ferne‹, um die mystische, überirdische Atmosphäre zu intensivieren (Abb. 93). Auf diese Weise zur Aufführung gebracht, können Farbe, Form, Klang, Licht und Raum ein multimediales Gesamtkunstwerk entstehen lassen: Die Farbe klingt, die Formen klingen – [...] Farbe und Form der hörbaren Welt trägt und erzeugt in Wechselspiel und Widerwirkung Form und Farbe der sichtbaren Welt. [...] Hörbare, erschaubare und erfühlbare Formen verbinden sich frei und einfach in der Sphäre des kosmischen Elements, gehen einen weder in sich noch nach außen abgegrenzten Bund ein, eine Verschmelzung innigster Art .... treues Abbild der Elemente in der realen Welt, Erde, Luft, Wasser, Feuer, Sonne, Sterne.681

Da Farbe, Form und Klang das Handlungsnarrativ vollständig ersetzten, hat Regine Prange auf Richard Wagners Musikdrama als historischen Fluchtpunkt für das Architektur-Schauspiel mit symphonischer Begleitung verwiesen. Diese synästhetische Inszenierung, die sämtliche Sinnesorgane im gleichen Maße anspricht, zielt auf ein Eintauchen des Zuschauers in den Spielraum – eine vollständige Verschmelzung mit dem Architektur-Schauspiel.682 In diesem Perzeptions- und Rezeptionsmodus, der die räumlichen und zeitlichen Grenzen vergessen lässt, deutet sich ein immersives Potenzial an, das Gutschow bereits in der Gestaltung und theatralen Inszenierung des Glashauses gegeben sieht.683 Den Moment des Eintauchens bezeichnet die Amerikanistin Laura Bieger als wesentliches ästhetisches Charakteristikum der Immersion, zumal der Begriff in seinem etymologischen Ursprung auf den symbolischen Akt des Untertauchens während der Taufe zurückgeht: Die Ästhetik der Immersion ist eine Ästhetik des Eintauchens, ein kalkuliertes Spiel mit der Auflösung von Distanz. Sie ist eine Ästhetik des empathischen körperlichen Erlebens und keine der kühlen Interpretation. Und: sie ist eine Ästhetik des Raumes, da sich das Eintaucherleben in einer Verwischung der Grenze zwischen Bildraum und Realraum vollzieht.684

Bruno Tauts Weltbaumeister greift immersive Qualitäten voraus, die später für die digitalen Bildwelten in Computerspielen und 3D-Filmen eine gängige ästhetische Strategie werden sollen.685 Nicht nur reduziert er die wahrnehmbaren Grenzen des Theaterraums auf ein absolutes Minimum, auch verschwindet der menschliche Schauspieler als räumlicher Orientierungspunkt in Gänze. Der gesamte Spielraum wird durch künstlerische und technische Medien zum Träger der Handlung und der Atmosphäre auserkoren:

681 682 683 684 685

Taut 1920, o. S. Vgl. Prange 1994, S. 71. Siehe auch Roberts 2011, S. 161 u. Whyte 1993, S. 128–130. Vgl. Gutschow 2006, S. 63. Siehe auch Anger 2016, S. 163 u. Kapitel 3.1. Bieger 2007, S. 9. Siehe weiterführend Grau 2001.

3.2  Der Weltbaumeister – eine szenische Vision einer kristallinen Gotik       207 Dieses Reich der Kunst duldet kein Hineintreten eines Einzelwesens, wenn dieses nicht als bloß untergeordnetes Glied des großen Kosmos erscheint. [...] Das hinter den Dingen schaffende und auflösende unpersönliche Prinzip, der im Kosmos wirksame ›Weltbaumeister‹ ist die handelnde Person.686

Aufgrund dieses zukunftsweisenden, bisweilen provokativen Theaterverständnisses kam das Architektur-Schauspiel erst im Jahr 1993 als Oper auf dem Grazer Festival steirischer herbst zur Uraufführung, ohne dass Taut als Urheber Einfluss auf die Inszenierung nehmen konnte. Die Wiener Architektengruppe COOP HIMMELB(L)AU fand für Tauts abstrakte Formensprache mit dreidimensionalen, asymmetrischen und schwebenden Metallobjekten eine eigenwillige Interpretation. Das Scheinwerferlicht versetzte nicht nur diese Objekte in Bewegung, auch wurden Lichtprojektionen auf Metallvorhänge geworfen (Abb. 94). Während die mal rhythmischen, mal statischen Klangkompositionen des Ensemble Modern überzeugten, übt Susanne Janes Kritik an den Illuminationen und zweifelt dabei gleichzeitig an Tauts ursprünglichem ästhetischen Konzept: Daß sich der Lichtdesigner des Hamburger Thalia Theaters [Franz Peter David – S. B. Q.] mit sich oft wiederholenden, auf Dauer wenig aufregenden Effekten begnügt, somit auf vordergründiges Spektakel verzichtet, sei akzeptiert; daß sich seine Lichtspiele nur mit viel Bemühen mit der eigentlichen Konzeption Tauts in Übereinstimmung bringen lassen, stellt allerdings das gesamte Unternehmen im Sinne seines geistigen Urhebers entschieden in Frage.687

Wenn die von Taut angedachten Lichteffekte selbst der hoch entwickelten Bühnentechnik des 20. Jahrhunderts Grenzen aufzeigen, wie hätten sie mit den Standards der 1920er Jahre wirkungsvoll umgesetzt werden können? Vor dem Hintergrund der zeitlich stark versetzten, kontrovers diskutierten Form der Inszenierung ließe sich in der Tat argumentieren, dass sich das Architektur-Schauspiel ebenso wie die visionären schriftlichen Architekturentwürfe einer Realisierung verweigert.688 Allerdings darf der Weltbaumeister in seinem erhaltenen Zustand als Mappenwerk nicht als singuläre Erscheinung aufgefasst werden: Mit dem Komponisten Hans Pfitzner (1869–1949) und dem Dirigenten Heinz Tiessen (1887–1971) feilte Taut an der konkreten musikalischen Gestaltung des Stücks. Er plante, es im Rahmen der Eröffnungsausstellung der sich formierenden Künstlervereinigung ›Bauwandlung‹ auf der Mathildenhöhe in Darmstadt aufzuführen. Auch wenn die Gründung der Gruppe und somit die Ausstellung letztlich scheiterten, knüpfte der Architekt zeitgleich Kontakte zu Berliner Theatern und Regisseuren. So hat Iain Boyd Whyte auf den regen Austausch mit dem Regisseur Ludwig Berger (1892–1969) verwiesen. Da ihm Bergers Interesse an architektonischen Komponenten der Szenografie entgegen686 Taut 1920, o. S. 687 Janes 1994, S. 51. Siehe hierzu auch Roelcke 1993. 688 Vgl. Bushart 2003, S. 117. Zum Theater als Produktionsstätte von Utopien siehe umfassend Drewes 2010. Zu den utopischen Theatervisionen des Bauhauses siehe Köhler 2012, S. 90– 97. Zum Theater als Raum- und Zeit-Utopie siehe Brauneck 1987, besonders S. 17 f.

208       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

Abb. 94: COOP HIMMELB(L)AU, Der Weltbaumeister, Graz, 1993.

Abb. 95: Hans Poelzig, Großes Schauspielhaus, Berlin, 1919.

kam, versuchte er den Regisseur zu der Inszenierung des Stücks Der singende Fisch von Alfred Brust (1891–1934), einem ehemaligen Mitglied der Gläsernen Kette, zu bewegen. Felix Hollaenders (1867–1931) Anfrage zu einer Zusammenarbeit im Rahmen einer Monumentalinszenierung von Friedrich Schillers Die Räuber lehnte Taut jedoch ab, weil ihn das Format des Massentheaters nicht überzeugte.689 Vor dem Hintergrund dieser konkreten Bestrebungen, Theaterprojekte in die Tat umzusetzen, greift für den Weltbaumeister deshalb eher eine produktive Dimension des Utopischen, die Manfred Brauneck wie folgt charakterisiert hat: »Utopisches steht [...] in der Nähe des Spiels, ist ein Gedankenspiel, entwirft spielerisch einen Horizont, auf den hin Praxis sich ausrichtet, von dessen Faszination praktisches Handeln seine Dynamik gewinnt.«690 Mit seinen prägnanten Regieanweisungen und der Erläuterung zur ästhetischen Ausrichtung des Architektur-Schauspiels lieferte Taut konkrete Vorgaben für eine Umsetzung auf der Bühne, mehr noch für eine Neudefinition des Theaterraums. In diesem konzeptionellen Werk entwickelte er anhand der Metapher des Universums die Auffassung von einem grenzenlosen Theaterraum. Diese sollte er schließlich ein Jahr später für die Inszenierung der Jungfrau von Orleans am Deutschen Theater in einer zeitgemäßeren Ausprägung

689 Vgl. Whyte 1982, S. 209 f. Siehe auch Brauneck 1987, S. 20 u. S. 25. 690 Brauneck 1987, S. 17.

3.2  Der Weltbaumeister – eine szenische Vision einer kristallinen Gotik       209

auf die Bühne bringen.691 Außerdem verwirklichte zeitgleich der Berliner Architekt Hans Poelzig (1869–1936) auf dem Gelände des ehemaligen Zirkus Schumann mit dem Großen Schauspielhaus Max Reinhardts Vision eines monumentalen Theaterraums mit neuesten beleuchtungstechnischen Standards (Abb. 95): Die tropfenförmig herabhängenden Zapfen der gigantischen Kuppel gemahnen nicht nur an eine von der Natur geschaffene Tropfsteinhöhle, sondern stehen in einer unmittelbaren Verbindung zu den kristallinen Formengebilden des Weltbaumeister.692 Unter Berücksichtigung dieser geglückten Versuche erwies sich das Theater in der Tat als das einzig tragfähige Labor, um überhaupt mit den Mitteln der Szenografie eine ephemere, transzendentale Architektur und damit verbunden die Idealvorstellung einer neuen Kultur zu erproben. Im Zuge der Idee des ›Weltbauens‹, die ästhetische, technische, geografische, soziale und utopische Überlegungen vereint, entwickelten Architekten und Kunstkritiker das Verständnis von einem ›architektonischen Theater‹, in dem der Architekt »nicht nur als Planer von Theaterhäusern, [...] sondern vielmehr als Vordenker, als Entwerfer neuer Theaterkonzeptionen« auftritt.693 Die seit der Antike überlieferte Metapher des theatrum mundi erfährt mit Taut eine spezifische ästhetische und kulturhistorische Neubewertung. Schon der Titel, der mit dem ›Weltbaumeister‹ nicht nur auf die mittelalterliche Baumeistergilde anspielt, sondern auch eine Analogie zu der Metapher vom Schöpfergott als Architekt der Welt herstellt, zeugt von einem besonderen künstlerischen Selbstverständnis. Ausgehend von dieser Grundhaltung ist es der Schöpfung des Architekten vorbehalten, eine bessere Umwelt hervorzubringen.694 Dass Tauts Titelwahl die Auffassung einer ganzen Künstlergeneration repräsentierte, verdeutlichen Adolf Behnes Ausführungen zum Wesen der Architektur: »Das Werden der Welt ist ein Bauen und durch den von Weltliebe erfüllten Menschen baut die Menschheit mit an der sich vollendenden Gestalt der Welt.«695 Der Historiker Christian Freigang sieht jene Allmachtsfantasie nicht nur in der politischen wie gesellschaftlichen Umbruchsituation nach dem Krieg oder in den unbegrenzten Möglichkeiten der Technik begründet. Vielmehr führt er sie auch auf die intensive Rezeption der Schriften Friedrich Nietzsches in den Intellektuellen- und Künstlerkreisen dieser Zeit zurück, in denen der Künstler zum

691 Als er im Jahr 1919 am Weltbaumeister arbeitete, theoretisierte Taut diese Idee auch in einem Aufsatz. Siehe Taut 1919b. Vgl. hierzu auch Roberts 2011, S. 161 u. ausführlich Kapitel 3.3.1. 692 Vgl. Nicolai 2015, S. 48; Pehnt 1998, S. 252–258 u. Whyte 1982, S. 150. Siehe ausführlich Brinitzer 2006, S. 136–138 u. S. 145–152; Hambrock 2005, S. 31–44 u. James-Chakraborty 2000, S. 80–87. 693 Brauneck 1987, S. 17. 694 Vgl. Freigang 2012, S. 396 f. Ausgehend von alttestamentarischen Quellen und Platons Auffassung des ›Weltbildners‹ in der Denkfigur des Demiurgen (griech. ›Handwerker‹) verfolgt Freigang die Entwicklung des Topos ›Gott als Architekt‹ und dessen Identifikationspotenzial vom Mittelalter bis in das 20. Jahrhundert. Zum Bestreben des religiösen Menschen, eine ›heilige‹ Umgebung zu errichten, vgl. Eliade 1998, S. 30–34 u. Kapitel 1.2. 695 Behne 1921, S. 189. Siehe hierzu auch Schirren 2001.

210       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

›Übermenschen‹ ausgerufen wird, der allein eine neue Gemeinschaft hervorbringen kann.696 Tauts Konzeption des Architektur-Schauspiels basiert auf der Überzeugung, dass sich im Augenblick der Aufführung die reale mit der imaginierten Welt verschränkt und eine gänzlich andere Welt hervorgebracht wird. Da nicht nur mittels der gestalterischen Möglichkeiten der Szenografie eine neue szenische Welt generiert, sondern auch eine zeitspezifische Vorstellung von Welt offenbart wird, soll die tradierte Metapher des Welttheaters durch die von Peter W. Marx eingeführte Denkfigur der scena mundi ersetzt werden. Während der Begriff theatrum sämtliche Dimensionen von Theater einschließt, legt die Bezeichnung scena den Fokus auf den konkret vorgegebenen, kulturellen Bezugsrahmen: »Als erkenntnisleitende Metapher hat scena mundi damit einen doppelten Referenzpunkt, nämlich den spezifischen Ort der Imagination und seine Rahmung sowie den konstitutiven Akt des Welt-Bild-Machens.«697 Die kulturelle Rahmung des Weltbaumeister ist die Auseinandersetzung mit dem Ist-Zustand der Gesellschaft der Weimarer Republik, der als nicht mehr tragbar empfunden wird. Deshalb setzt Taut das Bauen mit einem Evolutionsprozess gleich: Anhand der architektonischen Sinnbilder der Kathedrale und des Kristallhauses führt er das Wachsen, den Zerfall und das Werden einer neuen Lebenswelt vor: »Den Baukörpern wird in Tauts Szenarium jedoch ihre Statik genommen, sie werden theatralisiert; die monumentalen Architekturbilder sind in Bewegung versetzt, mit Musik, Sprache und Lichtgestaltung.«698 Indem er schließlich die gläserne über die steinerne Bauweise triumphieren lässt, folgt Taut Scheerbarts fiktiven Architekturen. Während Marx in seiner Theoretisierung mit dem Begriff der Anatomie die Beschaffenheit und Materialität der räumlichen Konstellation der Szene als Ort der Imagination lediglich andeutet,699 werden diese in Tauts Architektur-Schauspiel zu einem zentralen Dreh- und Angelpunkt der Welt-Imagination. Gleichzeitig offenbart sich darin eine Ambivalenz: Einerseits entwirft Taut Imaginationsarchitekturen aus dem Material Glas, das jedoch im nächsten Moment die räumlichen Strukturen auflöst. Die Szene der Imagination befindet sich also in einem stetigen Wechselspiel zwischen Materialisierung und Entmaterialisierung, wodurch der utopisch-visionäre Charakter des Weltbaumeister zum Ausdruck kommt. Obschon die gotische Kathedrale in ihrer Auflösung begriffen ist, verleiht sie als wesentliches Referenzsystem für eine ganzheitliche Konstruktion dem neuen kristallinen Kultbau Beständigkeit: 696 Vgl. Freigang 2012, S. 397. Nietzsche richtete seine Forderung nach einem ›Großen Stil‹ zur Erneuerung der deutschen Kultur an die Künstler, insbesondere an die Architekten. Vgl. hierzu auch Nicolai 2015, S. 46; Grosskopf 2011, S. 22 f.; Pehnt 1998 S. 34–36 u. Whyte 1993, S. 131. Zu Tauts Lektüre von Also sprach Zarathustra siehe Whyte 2004, S. 260 u. Whyte/ Schneider 1996, S. 10 f. Daniel Schreiber stellt die manifestartigen Aussagen expressionistischer Architekten den Schriften Nietzsches gegenüber, um diese als zentralen, aber nicht singulären Fluchtpunkt der neuen Kunst- und Weltauffassung zu definieren. Vgl. Schreiber 2003, besonders S. 30–33. Nietzsches Schriften hatten schon die Ideen der Darmstädter Künstlerkolonie wesentlich geprägt. Vgl. hierzu Fischer 2013, besonders S. 92 sowie die Kapitel 1.1 u. 1.4. 697 Marx 2012, S. 14 (Hervorh. P. W. M.). Zum scena-Begriff siehe auch Kapitel 1.5. 698 Brauneck 1987, S. 20. 699 Vgl. Marx 2012, S. 14 f. u. 19 f.

3.2  Der Weltbaumeister – eine szenische Vision einer kristallinen Gotik       211

»It is a transposition of the ›spirit of the Gothic‹ into a new situation, a re-creation due to the Weltbaumeister [...].«700 Schon in Die Stadtkrone besann sich der Architekt auf die sakralen Bauwerke vergangener Epochen und verschiedener Kulturkreise als Ausdruck architektonischer Harmonie und gemeinschaftlichen Glaubens: In jeder großartigen Kulturepoche ist es der jenseitig über das Erdenhafte gerichtete Bau, zu dem alle schauen und auf den sich der Bauwille der Zeit richtet. [...] Der Dom, die Kathedrale über der alten Stadt, die Pagode über den Hütten der Inder, der ungeheuere Tempelbezirk im Rechteck der chinesischen Stadt und die Akropolis über den schlichten Wohnhäusern der antiken Stadt – sie zeigen, daß die Spitze, das Höchste, die kristallisierte religiöse Anschauung Endziel und Ausgangspunkt zugleich für alle Architektur ist.701

Es überrascht kaum, dass Taut für den geistigen Mittelpunkt des alltäglichen Lebens seiner imaginierten Städte die gotische Kathedrale als eine entscheidende Referenz wählt. Wie die Buntglasfenster der Kathedrale das himmlische Licht auffangen und auf die Gläubigen im Kirchenraum reflektieren, bündelt das Kristallhaus die Strahlen eines unendlich erscheinenden, kosmischen Lichts und überstrahlt damit seine Umgebung: »Der Glanz, das Leuchten des Reinen, Transzendentalen schimmert über der Festlichkeit der ungebrochen strahlenden Farben. Und als ein Farbenmeer breitet sich der Stadtbezirk rings umher aus, zum Zeichen des Glückes im neuen Leben.«702 Indem der Schöpfungsakt re-inszeniert wird, soll ein erhabenes, religiös anmutendes Erfahrungsmoment evoziert werden. Als Ort und Raum der Kontemplation im Einklang von Natur und Kunst eröffnet der gläserne Kultbau die Möglichkeit zur spirituellen Transformation seiner Besucher. Über die Ebene der persönlichen Veränderung hinaus, erlangt die Kristallsymbolik bei Taut allerdings eine politische Dimension: In einer Zeit der Säkularisierung und des Materialismus, in der die Kirche an Bedeutung verloren hatte, wird das »gemeinschaftliche[] religiöse[] Symbol« der mittelalterlichen Welt für ein zukunftsweisendes Gesellschaftsideal umgewertet.703 Der zweckfreie Kristallbau soll nicht nur die Einheit der Künste, sondern auch die harmonische soziale Einheit des Volkes in der neuen Lebenswelt vergegenwärtigen. Ebenso wie für Scheerbart geht für Taut die Etablierung der neuen Glasarchitektur konsequent einher mit einem neuen Glauben, der in diesem Fall eine neue Auffassung von Kultur und Welt meint.704 700 Werner 2013, S. 250. Siehe auch Prange 1994, S. 79 f. u. S. 86–88 u. Prange 1991, S. 127–129 u. S. 135 f. 701 Taut 1919a, S. 51 f. 702 Taut 1919a, S. 69. 703 Bushart 2003, S. 110. Siehe hierzu u. a. auch Freigang 2012, S. 396 f.; Roberts 2011, S. 161 f. u. Haag Bletter 1981, S. 37 u. S. 39. 704 Taut stützte sich ebenso wie Behne, Gropius, Scheffler und Worringer auf die Gotik als Modell der sozialen Einheit. Die politische Dimension dieses Modells ist auf die Rezeption von Gustav Landauers Schrift Aufruf zum Sozialismus (Berlin: Verlag d. Sozialistischen Bundes, 1911) und Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes (Wien: Braumüller, 1918) zurückzuführen. Siehe hierzu u. a. Stavrinaki 2011, S. 264; Fornoff 2004, S. 399–401 u. Prange 1994, S. 71 u. S. 74.

212       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

3.3 Bruno Tauts gläserne Kathedrale für Die Jungfrau von Orleans (1921) 3.3.1 Die Bühne als ›Heiligenschein‹ – eine szenografische Kristall­vision Bruno Tauts Architekturauffassung fand einen besonderen Ausdruck in seinem Raumkonzept für Karlheinz Martins Inszenierung von Friedrich Schillers Die Jungfrau von Orleans am Deutschen Theater Berlin im Jahr 1921. Der Architekt wurde mit dem Bühnenbild, der Lichtregie sowie der Gestaltung der Kostüme betraut. Obwohl es sich um Tauts einziges Theaterprojekt handelt, das letztlich Realisierung fand, gewährte Martin ihm den nötigen Freiraum, um seine kristallinen Visionen zu entfalten.705 Im Bestand der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln befindet sich Tauts Bühnenbildentwurf für das Hintergrundprospekt des vierten Aufzugs von Schillers Tragödie (Abb. 96). Dargestellt ist das Portal der Kathedrale Notre-Dame in Reims, in der Johanna der Krönung Karls VII. (1403–1461) beiwohnt. Bereits 1818 hatte der renommierte Architekt und Maler Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) für die Inszenierung am Berliner Opernhaus Unter den Linden ein imposantes Abbild der hochgotischen Krönungskirche entworfen (Abb. 97). Schinkel, der zahlreiche Vorlagenbücher, Kupferstiche des 18. Jahrhunderts sowie weiteres Quellenmaterial studiert hatte, wich mit einzelnen architektonischen Formelementen, die seiner freien Erfindung zuzuschreiben sind, von dem Original ab.

Abb. 96: Bruno Taut, Bühnenbildentwurf zu Die Jungfrau von Orleans, Berlin, 1921.

705 Siehe auch Brauneck 1987, S. 26 u. Whyte 1982, S. 210. Ausführlichere Informationen über das Zustandekommen dieser Kollaboration liegen leider nicht vor.

3.3  Bruno Tauts gläserne Kathedrale für Die Jungfrau von Orleans (1921)       213

Abb. 97: Johann Friedrich Jügel nach Karl Friedrich Schinkel, Getreue Nachbildung des Domes zu Rheims in dem Trauerspiel: Die Jungfrau von Orleans, 1847.

Dennoch zeigten sich zeitgenössische Theaterbesucher tief beeindruckt von der »getreuen Nachbildung des Domes zu Rheims«.706 Die Szenenbilder lösten nicht nur enthusiastische Beifallsbekundungen seiner Zeitgenossen aus, jenes ikonische Bühnenbild wurde vielmehr zum Vorbild für die Krönungsszene vieler nachfolgender Aufführungen. Bruno Taut hingegen nahm die Inszenierung am Deutschen Theater zum Anlass, die in seinen Augen überkommene historisierende Bühnendekoration, die sich seit Schinkel fortgesetzt hatte, zu überwinden. Er verzichtete auf die historisch detailgetreue Wiedergabe und übersetzte die mittelalterliche Szenerie in ein abstraktes Formengebilde. Im Programmheft zur Inszenierung erläutert der Künstler sein szenisches Raumkonzept wie folgt: »[D]ie Architektur geht weit hinein in den Bühnenraum, aus ihr treten die handelnden Personen heraus und nur ein Hintergrund und wenige Versatzstücke geben alles, was die künstlerische Illusion erfordert.«707 Somit reduzierte Taut die Dekoration auf signifikante Bühnenaufbauten, Rampen, würfelförmige Podeste und wenige Kulissenteile, die während der gesamten Handlung variabel eingesetzt werden konnten. Eine Rahmenkonstruktion aus Eisen, Holz sowie farbig leuchtenden Glasprismen und -ornamenten, die über die Bühne hinaus 706 Diese Bezeichnung findet sich unterhalb des Bildausschnitts. Vgl. Ausst.-Kat. Köln 2014, S. 75 f., Kat. Nr. 16a u. b. Siehe weiterführend Krippner 2012, S. 80 f. u. Harten 2000, S. 258– 264. 707 Taut 1921, S. 7 f. Schinkels Bühnenbild findet Erwähnung auf S. 5 u. S. 7.

214       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

Abb. 98: Bruno Taut, Skizze zu Die Jungfrau von Orleans, Berlin, 1921.

in den Zuschauerraum hineinreichte, ersetzte das herkömmliche Proszenium. Mithilfe der Drehbühne des Deutschen Theaters konnte die dreidimensionale Tiefenwirkung des Spielraums intensiviert werden (Abb. 98).708 Darüber hinaus diente sie den übergangslosen Wechseln zwischen wiederkehrenden Handlungsorten: In kubische Formen zerklüftete Felsen und einzelne Bäume aus Pappmaché sollten Naturschauplätze andeuten. »Den Hintergrund bildete eine durch drei zackig umrahmte Oeffnungen [sic!] unten vierteilig gegliederte Dekorationswand, die zunächst oben grün bestrahlt wie ein kubistisch stilisierter Wald wirkte« (Abb. 99).709 Mithilfe ei708 Zur Disposition des Bühnenraums siehe auch Ausst.-Kat. Köln 2014, S. 247; Whyte 1982, S. 210 u. Schultes 1981, S. 264. Die Finanzierung der kostspieligen Aufbauten übernahm die Luxfer-Prismen-Gesellschaft. Vgl. Taut 1921, S. 7. Carl Lautenschläger hatte die Drehbühne, die 1896 erstmals im Münchener Residenztheater zum Einsatz kam, an den europäischen Theatern etabliert. Max Reinhardt perfektionierte ihre ästhetische Funktion am Deutschen Theater. Siehe hierzu u. a. Marx 2006a, S. 57 f. u. Hiß 2005, S. 147. 709 Fechter 1921.

3.3  Bruno Tauts gläserne Kathedrale für Die Jungfrau von Orleans (1921)       215

Abb. 99 und 100: Bruno Taut, Szenenentwürfe zu Die Jungfrau von Orleans, Berlin, 1921.

ner Staffelung von Torbögen wurde die Szenerie von Gräben eines Schlachtfeldes heraufbeschworen. Der Festungsturm hingegen zeugte von einer historisierenden Wiedergabe (Abb. 100). Die Rückseite der gläsernen Dekorationswand war für die Szenen im Königsaal mit gotischem Maßwerk ausgestaltet. »Ein [...] davorgelegtes Vertikalgitter aus schmalen Latten verwandelte sie geschickt in die Portalseite der

216       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

Kathedrale von Reims«,710 die so in ihrer monumentalen Größe die gesamte Breite der Bühne beherrschte. Tauts Bühnenbildentwurf für die Krönungsszene zeigt lediglich einen begrenzten Ausschnitt einer gotisierenden Fassade, an der der Architekt das Formenrepertoire des Expressionismus erprobt (Abb. 96): Ein breites Treppenpodest erstreckt sich vor einer filigranen Konstruktion aus Eisen und Glas, in der drei Fensterportale eingefasst sind. Die charakteristisch gotischen Formen wie Spitzbögen und Maßwerkfenster sind zu einer kristallinen Gitterstruktur verfremdet. In gezackten Formationen ragt das stilisiert übersteigerte Strebewerk in die Höhe und erinnert so an die fantastischen Formtransformationen in der Szenenfolge des Weltbaumeister. Der Entwurf zeugt von einer besonderen Materialästhetik: Die kolorierte Bleistiftund Federzeichnung auf transparentem Millimeterpapier dokumentiert nicht nur unterschiedliche Kompositionsphasen, sondern auch die genaue Herangehensweise des Architekten-Bühnenbildners. Da das Transparentpapier später dabei half, den Entwurf maßstabsgerecht nachzubauen, notierte Taut mit einem roten Farbstift einige Anweisungen für die Theatergewerke, die die Größenverhältnisse und die Umsetzung des Bühnenbildes betrafen. Auch wenn der scheinbare Arbeitsentwurf ein eher pragmatisches Vorgehen vermuten lässt, entwickelte Taut ein vielschichtiges ästhetisches Konzept. Notizen am oberen Bildrand unterstreichen die gewollte Verfremdung der architektonischen Elemente, so vermerkt der Architekt: »durchbrochen [...] Alle Formen durch Vor- und Rücksprünge sowie durch Leisten! [...] Bitte alle Masse [sic!], auch in den Unsymmetrien, genau einzuhalten« (Hervorh. B. T.). Der Anweisung, »Prospekt nach hinten geneigt!«, folgend wurde der sieben Meter hohe Bühnenaufbau in Schräglage versetzt. Auf diese Weise erzeugte Taut, so Manfred Brauneck, »eine perspektivische Fluchtwirkung [...], die den Raum nicht abgeschlossen, sondern vielmehr nach oben sich öffnend erscheinen ließ«.711 Mehr noch ließ sich mithilfe dieser optischen Verzerrung die Illusion eines gen Himmel endlos erscheinenden Sakralbaus erwecken. Diese Symbolwirkung wurde durch eine gezielte Beleuchtung gesteigert: Verschiedenfarbige Glasfüllungen in den Maßwerkausbuchtungen, die aus dem Hintergrund mit Scheinwerfern ausgeleuchtet wurden, waren der funkelnden Lichtwirkung gotischer Buntglasfenster nachempfunden. Tauts Interesse für das Zusammenspiel von mittelalterlichen Bauprinzipien, Farbe und Licht äußerte sich erstmals, als der junge Architekt 1906 mit der Neugestaltung des gotischen Chorraums der evangelischen Pfarrkirche zu Unterriexingen beauftragt wurde. In der neuen Raumgliederung erwies sich die polychrome Ausgestaltung des Innenraums als innovativstes Verbindungselement. Ein Entwurf aus dem Nachlass Bruno Tauts in der Akademie der Künste Berlin verdeutlicht die kräftige Farbgebung in leuchtenden Grün-, Weiß-, Blau-, Rot- und Brauntönen (Abb. 101). So wurde das Kirchenmobiliar farbig gefasst, Farbfelder und eine stilisierte bäuerliche Ornamentik zierten die Wände und das Deckengewölbe. Die Fenster beließ er ohne farbige Verglasung, um dem natür-

710 Fechter 1921. 711 Brauneck 1987, S. 27. Siehe hierzu auch Niessen 1958, S. 45.

3.3  Bruno Tauts gläserne Kathedrale für Die Jungfrau von Orleans (1921)       217

Abb. 101: Bruno Taut, Entwurf der Kirche in Unterriexingen, 1908.

lichen Licht die Veränderung der Raumwirkung je nach Tageszeit zu gewähren.712 Während die Farbe als eigenständige Qualität in den Vordergrund trat, blieb die Bausubstanz vergangener Epochen jedoch sichtbar erhalten. Im Verlauf seiner weiteren Karriere veränderte sich dieses Gleichgewicht zugunsten einer Entmaterialisierung des Räumlichen. Sein Vorgehen – der vorgefundenen Architektur eine expressive Farbgestaltung überzustreifen – muss jedoch als ein Ausgangspunkt dieser Entwicklung gesehen werden. Um den immateriellen, flüchtigen und schwerelosen Charakter der Architektur zu betonen, spielte Taut in seinem szenografischen Konzept für die Berliner Inszenierung mit dem diaphanen Charakter der gotischen Architektur, deren Bausubstanz durch die farbigen Maßwerkfenster wie »leuchtende Wände«713 erschien. Anknüpfend an die kristalline Lichtwirkung des Glashauses verschmolzen die gotisierenden Formen zu einem einzigen ›Lichtstein‹: Gefiltert durch die filigrane Struktur der Glasfassade brach sich das Licht prismatisch in spektrale Farben auf, sodass die räumlichen Grenzen an Stabilität verloren. Durch diese atmosphärisch aufgeladene Lichtinszenierung wandelte sich der architektonisch gestaltete Bühnenraum in einen Bedeutungsraum. Das abstrahierte Kirchenportal wurde zu einer visuellen Metapher des Heiligen, wie Carl Niessen (1890–1969) beschreibt: [D]ie Kathedrale von Reims [war] ganz aus dem Farbenglanz ihrer Fenster gespeist: Der Hintergrund war ein einziges buntes Leuchten. [...] Dieses Netz aus unwirklichen

712 Manfred Speidel verweist auf eine mögliche Orientierung an Adolf Hölzels Farbenlehre. Zu den Restaurierungsmaßnahmen Tauts vgl. umfassend Ausst.-Kat. Tokyo 1994, S. 88–92 u. Speidel/Graf 1992. 713 Böhme 2001, S. 455. Die Beschreibungskategorie des Diaphanen wurde 1927 von Hans Jantzen eingeführt. Siehe Jantzen 2000, S. 7–33. In diesem Zusammenhang führt Ufuk Ersoy Tauts Aquarell der Stiftskirche in Stuttgart aus dem Jahr 1904 an. Auf dem Papier hatte Taut das Prinzip der Auflösung des Gesteins durch Licht und Farbe also schon vor der Restaurierung der Pfarrkirche zu Unterriexingen erprobt. Siehe Ersoy 2015, S. 158 u. Ersoy 2011, S. 116 f.

218       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen Formen wurde zum Hintergrund geneigt aufgestellt, so daß jede Realität, auch die der Bühnentechnik, geschwunden schien.714

Nur wenige Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, der aufgrund der erstmalig eingesetzten Flak- und Suchscheinwerfer als »Lichtkrieg«715 in die Geschichtsbücher eingehen sollte und die Welt aus den Angeln gehoben hatte, könnte Taut in seiner Inszenierung der Kathedrale eine Debatte von politischer Dimension reflektiert haben. Frankreich erhob den Vorwurf, dass am 19. September 1914 während der Beschießung der Stadt Reims durch die Deutschen die Krönungskirche der französischen Könige in Brand geraten war: »Das Bild der beschädigten Kathedrale, in zahlreichen Fotografien und Gemälden zur Anschauung gebracht, wurde zum Zeichen nationaler Identität und ihrer Gefährdung.«716 In den Intellektuellenkreisen entfachte daraufhin ein länderübergreifender ›Krieg der Geister‹, in dem die Franzosen den Deutschen Kulturbarbarei vorwarfen. Deutsche Schriftsteller und Kunsthistoriker unterstellten wiederum den Franzosen, die Kathedrale durch ihre exponierte Lage auf einer Anhöhe wissentlich in Gefahr gebracht zu haben.717 Wilhelm Worringer widersetzte sich den Vorwürfen aus Frankreich und distanzierte sich von den Protesten zahlreicher ausländischer Künstler: Dies gedankenlose, hysterische, bedingungslos gehässige Beifallsklatschen einer ganzen Welt zu solch durchsichtigem französischen Gebahren [...] – wir unterstreichen es dreimal, dass auch ein Ferdinand Hodler sich zu den Applaudierenden gesellt hat –, daran leiden wir in der That stärker als wir an der Vernichtung sämtlicher französischen [sic!] Kathedralen leiden würden, denn eine moralische Kathedrale ist damit zusammengestürzt, deren Trümmer uns noch im Wege liegen werden, wenn die Reimser ­Kathedrale längst wieder in ihrer alten Schönheit prangt.718

Der Schweizer Künstler Ferdinand Hodler (1853–1918) hatte als einer der ersten den sogenannten ›Genfer Protest‹ unterzeichnet, welcher die deutsche Kriegsführung und die Beschießung von Kulturdenkmälern entschieden verurteilte. Auf dieses Zeichen der Solidarität mit Frankreich folgten nicht nur zahllose offene Briefe deutscher Intellektueller, die gegen Hodler gerichtet waren. Vielmehr wurde der Schweizer aus allen großen Künstlervereinigungen in Deutschland ausgeschlossen, sein Wandgemälde in der Aula der Universität Jena wurde hinter Brettern verborgen und das 714 Niessen 1958, S. 45. In diesem Zusammenhang hebt Niessen den singulären Charakter der Schenkung für seine Sammlung heraus, da es sich um die einzig realisierten szenografischen Entwürfe Tauts handelt. 715 Virilio 1989, S. 153. Siehe hierzu auch Hoormann 2003, S. 51. 716 Padberg 2014, S. 155. Zu dem umstrittenen Hergang der Ereignisse im September 1914 vgl. ausführlich Kiefer 1998. Zur Bildpropaganda als wesentliche Strategie der Kriegsführung siehe Paul 2004, besonders S. 103–172. 717 Vgl. hierzu Padberg 2014, S. 154 f. Siehe weiterführend Schneider 2011, besonders S. 169– 171. 718 Worringer 1915, S. 86. Eine ähnliche Position bezogen u. a. auch Richard Dehmel, Arno Holz, Gerhart Hauptmann und Thomas Mann. Siehe hierzu weiterführend Flasch 2000 u. Schneider/Schumann 2000.

3.3  Bruno Tauts gläserne Kathedrale für Die Jungfrau von Orleans (1921)       219

Kölner Wallraf-Richartz-Museum lagerte seine Kopfstudie eines Italieners im Depot ein.719 In den umfangreichen Berichterstattungen über den länderübergreifenden Streit um die Zerstörung der Kathedrale von Reims wurden Bildmedien von beiden Nationen strategisch eingesetzt. 1915 veröffentlichte Olaf Gulbransson in den Kriegsflugblättern des Simplicissimus eine Karikatur unter dem Titel Der Kampf um Reims, die die Türme der Kathedrale mit Geschützen bekrönt zeigt (Abb. 102). Unmittelbar nach der Beschuldigung durch die Franzosen hatte das deutsche Hauptquartier diese mit der Begründung entkräften wollen, ein Beobachtungsposten der französischen Artillerie sei auf den Türmen. Dieses Bild und die Diskussion um die Schuldfrage prägten die Erinnerung der Deutschen langfristig. So wird im Berliner Lokalanzeiger zwölf Jahre später von einem Besuch des ehemaligen Kriegsschauplatzes berichtet: Wir sind noch zehn Kilometer von Reims, und schon hebt sich aus der Ebene, gewaltig das Land überragend, die Kathedrale mit ihren beiden Türmen, mit bloßem Auge deutlich erkennbar. Wir wissen, was für ein willkommenes Propagandamittel gerade diese Kathedrale im Kriege gewesen ist, und jetzt, da ich die riesigen Türme aus solcher Entfernung ragen sehe, bin ich überzeugt, daß damals Beobachter oben gesessen haben, denn einen besseren Ueberblick [sic!] auf viele Meilen in der Runde hat es nie gegeben.720

In der französischen Kriegspropaganda erfuhr auch der Mythos um Jeanne d’Arc eine spezifische Form der Aktualisierung. So wurden neben Gemälden, wie Raymond Fournier-Sarlovèzes (1836–1916) Triptychonflügel La cathédrale de Reims en flamme (1915), welches ein Denkmal der Heiligen in unmittelbarer Nähe des Bauwerks zeigt (Abb. 103), in der Folgezeit hunderte von Postkarten mit dem Motiv der brennenden Kathedrale gedruckt, die nicht selten auch die Nationalheldin als Objekt des Angriffs präsentierten. In den Kriegs- und Nachkriegsjahren wurde Johanna von Orléans zur Schutzheiligen der Soldaten sowie zum Symbol des Widerstandes und schließlich des Sieges.721 Die Folgen des Krieges, das Zerstörungsausmaß und somit die Erinnerungen an die Verluste waren auch im Alltag der Deutschen omnipräsent, zumal aktuelle Meldungen in den Berliner Zeitungen im Februar 1921 die Belastungen durch die hohen Reparationszahlungen aufsummierten. Daran erinnert auch Fritz Engel (1867–1935) Besprechung der Aufführung im Berliner Tageblatt: Die Zeit krampft sich noch in den ungeheuren Liquidationsrechnungen des Krieges zusammen, wir alle sind Rechenmaschinen mit dem großen Minuszeichen: um so heißer ist die Sehnsucht nach irgendeinem Altar, nach einer Verheißung, nach dem ›Höheren‹,

719 Vgl. Padberg 2014, S. 156 f. 720 Heil 1926, zit. n. Goebel 2007, S. 181. Siehe hierzu weiterführend Brandt 2000. 721 Vgl. hierzu auch Nipperdey 1988b, S. 598. Siehe weiterführend Rieger 2005 u. Krumeich 1989, S. 216–219.

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Abb. 102: Olaf Gulbransson, Der Kampf um Reims, 1915.

das immer das gleiche ist, mögen die Unfrommen es auch anders nennen als die Frommen.722

Da es sich bei der Inszenierung von 1921 um die erste Aufführung von Schillers Tragödie in Berlin nach dem Krieg handelte, mag sich Taut also eine hochsensible Frage aufgedrängt haben: Wie setzt man ein französisches Nationaldenkmal in Szene, das zum Sinnbild der Kriegszerstörung und der schmerzhaften Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich wurde? In seiner Mirakel-Inszenierung reaktivierte Max Reinhardt das über Jahrhunderte tradierte scenario der Wundererscheinung und rekurrierte auf die gotische Kathedrale als ein beständiges ikonisches Kontinuum. In der Inszenierung der Jungfrau von Orleans am Deutschen Theater Berlin waren es die Geister der Kriegszerstörung, der Schuldfrage und des Wiederaufbaus, die die Produktion und Rezeption der Inszenierung überlagerten. 722 Engel 1921. In derselben Ausgabe wurden unter dem Titel »Briand über die französischen Forderungen. Minimal- oder Maximalprogramm« Telegramme der Auslandskorrespondenten zur Wiedergutmachungsfrage veröffentlicht. Siehe hierzu Unbekannt 1921. Am Tag zuvor erschien oberhalb von Engels Kurzmeldung zur Inszenierung in der Sonntagsausgabe des Berliner Tageblatts eine Gesamtübersicht über die Reparationsforderungen Frankreichs.

3.3  Bruno Tauts gläserne Kathedrale für Die Jungfrau von Orleans (1921)       221

Abb. 103: Raymond Fournier-Sarlovèze, La cathédrale de Reims en flamme, linker Seitenflügel des Triptychons Les prêtres aux armées, um 1915.

In seiner Monografie The Haunted Stage. The Theatre as Memory Machine dienen ›Geister‹ Marvin Carlson als Denkfigur, um sich wiederkehrender Erinnerungen, die die Zuschauer während einer Aufführung heimsuchen können, anzunähern: »[G]hosting presents the identical thing they have encountered before, athough now in a somewhat different context. Thus, a recognition not of similarity, as in genre, but of identity becomes a part of the reception process.«723 Carlson bezieht das Phänomen des ghostings auf die Wiederholung bekannter Bilder, Figuren, Muster, Räume und Strategien des Theaters, die den Rezeptionsprozess der Zuschauer prägen. Für Tauts Raumkonzept muss ghosting jedoch auch als ein Vorgang der Einschreibung kultureller Bilder in den Produktionsprozess des Bühnenbildners verstanden werden. Auch wenn diese Überlegung nicht durch persönliche Zeugnisse belegt werden kann, scheint die kristalline Silhouette der Kathedrale einerseits ein Ausdruck für die Durchlässigkeit des vormals zweifellos Ikonischen. Andererseits überführt Taut, der in den Kriegsjahren vom Wehrdienst befreit am Entwurf einer utopischen Idealstadt für seine 1919 mit der Widmung ›dem Friedfertigen‹ veröffentlichten Stadtkrone arbeitete,724 seine Bühnenarchitektur in eine Sphäre der Transzendenz: Losgelöst von dem historischen Referenzsystem der Gotik und durch das Material Glas sowie 723 Carlson 2001, S. 2. Siehe hierzu auch Förster 2014, S. 52 f. Vgl. auch die Ausführungen zu den Kostümen der Mirakel-Inszenierung in Kapitel 2.1.3. 724 Vgl. Prange 1991, S. 92 u. Brauneck 1987, S. 19. Siehe hierzu auch Kapitel 3.2. Auf eine Frage des Arbeitsrates für Kunst, die auf den Umgang mit dem Ersten Weltkrieg in der

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die dramatische Lichtregie nahezu gänzlich entmaterialisiert, macht er sie zu einem Symbol des über allem weltlichen Geschehen Erhabenen. Auch wenn die Geister der Zerstörung über diesem Entwurf schweben, zeigt er ein überschöntes Bild der Kathedrale, das frei ist von einer direkten Anklage der Deutschen oder einer unmittelbaren Thematisierung der belastenden Schuldfrage. Tauts Reflexion der historischen Ereignisse ist dabei nur ein Beispiel für die fortwährende Zirkulation dieser kulturellen Erinnerung. Erst 1937 begann der Wiederaufbau der zerstörten Kathedrale. Trotz umfangreicher Restaurierungsarbeiten konnte eine vollständige Wiederherstellung des historischen Zustands bis heute nicht geleistet werden, da große Teile der ursprünglichen Bausubstanz unwiderruflich verloren gingen. Als Gestus der Versöhnung wurde der deutsche Künstler Imi Knoebel (*1940) im Jahr 2011 mit der Neugestaltung zerstörter Fenster beauftragt. Im Mai 2015 wurden die letzten Fenster in einem feierlichen Akt eingesetzt. In Anlehnung an die Malerei der klassischen Moderne löste er seine Kompositionen in leuchtende Farbsplitter auf (Abb. 104). Doch im Gegensatz zu Tauts idealisierender Darstellung blendet Knoebel das Kriegstrauma nicht aus. Vielmehr scheinen die Fenster unter einer imaginären Druckwelle eines Einschlags in tausend Einzelteile zu zerspringen. Auf diese Weise verhandelt auch Knoebel neunzig Jahre nach der Zerstörung die Frage nach der Darstellbarkeit von Kriegszerstörung. Seine abstrakten Fenster verbleiben als eine Reminiszenz an das Kriegstrauma.725 Dass die Lichtregie zu Tauts zentraler szenografischer Strategie avancierte, dokumentieren elf weitere Aquarellskizzen aus dem Bestand der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln (Abb. 105 u. 106). Die mit Anmerkungen Tauts versehenen Entwürfe veranschaulichen, dass der Bühnenraum mithilfe einer gezielten Bühnenbeleuchtung gegliedert wurde. Das Wechselspiel von Licht und Schatten erzeugte Silhouetteneffekte und dadurch eine zusätzliche Tiefenwirkung, »[w]enn z. B. das Licht nur eine Mittelgruppe traf, sei es von oben, sei es rein von den Seiten – und die Gestalten vorne standen dunkel, als große schwere Silhouetten vor dem Lichtbereich«.726 Entscheidender ist jedoch, dass die eigentliche Hervorbringung von szenischen Räumen primär über die Lichtregie erfolgte. Die Symbolwirkung der Szene wurde immens gesteigert, indem über wechselnde Farb- und Lichteffekte die Stimmung einzelner Situationen untermalt wurde. In seiner Deutung von Schillers Regieanweisungen weist Taut einzelnen Farbtönen konkrete Stimmungswerte zu: Daraus folgt für uns eine dramatische möglichst vollkommene Auswertung von Licht und Farbe: Blau die mystische Farbe, Rot die des Gefühls, in diesem Falle der Schuld, Grün die Erde usw. mit der ganzen Skala der Zwischenstufen und Helligkeitsunterschie-

kulturellen Erinnerung abzielte, antwortete Taut entschieden: »Das Grauen und Elend des Krieges darf nie vergessen werden.« Arbeitsrat für Kunst 1919, S. 101. 725 Vgl. hierzu auch Padberg 2014, S. 155. 726 Fechter 1921.

3.3  Bruno Tauts gläserne Kathedrale für Die Jungfrau von Orleans (1921)       223

Abb. 104: Imi Knoebel, Glasfenster in der nördlichen Apsis der Kathedrale NotreDame zu Reims, 2011.

de, welche nicht als Naturerscheinungen, sondern aus dem Gehalt der Vorgänge heraus leuchten oder verdunkeln.727

Auf seinem Bühnenbildentwurf deutet Taut hinter der gläsernen Konstruktion an den Seiten weiße sowie in der Mitte grüne Farbflächen an, die auf eine transparente Stoffbespannung hinweisen. Es ist anzunehmen, dass die Farben je nach Szenenbild über einen versteckten Mechanismus ausgetauscht werden konnten. Vermutlich fungierten diese Stoffbahnen als zusätzliche Projektionsflächen, über die das einströmende Scheinwerferlicht in die, wie Taut notiert, unzähligen »Zwischenstufen und Helligkeitsunterschiede« gefiltert werden konnte (Abb. 96). Tauts 1919 veröffentlichter Aufsatz »Zum neuen Theaterbau« zeugt von einer differenzierten Auseinandersetzung mit der Wirkung von Farbkontrasten. Darüber hinaus spricht er sich dezidiert gegen die erstmals 1876 von Wagner in Bayreuth durchgesetzte vollständige Verdunkelung des Zuschauerraums aus: 727 Taut 1921, S. 7. Siehe auch Ausst.-Kat. Köln 2014, S. 248; Köhler 2001, S. 156 f.; Brauneck 1987, S. 27 u. Whyte 1982, S. 210. In ihrer kurzen Überblicksdarstellung über die Lichttechnik der Theateravantgarde klammert Ulrike Gärtner die Berliner Inszenierung aus. Vgl. Gärtner 2009a. Zur Lichttechnik als Gestaltungselement von Architektur, Kunst und Theater siehe auch Blumenberg 2001, S. 170 f. u. Böhme 2001, S. 449 f.

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Abb. 105 und 106: Bruno Taut, Szenenentwürfe zu Die Jungfrau von Orleans, Berlin, 1921.

3.3  Bruno Tauts gläserne Kathedrale für Die Jungfrau von Orleans (1921)       225 Es ist eine traurige Verirrung, durch Gegensatzwirkung, durch den Gegensatz in der Dürftigkeit beim Zuschauerraum diese Buntheit steigern zu wollen. Zinnoberrot leuchtet nicht auf Stark-Grün, sondern schreit; es leuchtet auf Braun, und ebenso Hell nicht auf schwärzestem Dunkel, sondern auf schwächerem Hell. Ist die Bühne strahlend hell, so muß auch der Zuschauerraum beleuchtet sein, zwar weniger, aber doch so, daß kein Gegensatz, sondern alles eins ist. Wie stark wirkt dann die einbrechende Nacht auf der Bühne, wenn auch er gleichzeitig langsam dunkler wird!728

Tauts detaillierte Ausführungen über die Funktion der szenischen Beleuchtung reflektieren das große künstlerische und wissenschaftliche Interesse an den Innovationen der Beleuchtungstechnik und den multiplen Bedeutungen des Lichts zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Verbreitung des elektrischen Lichts in den Großstädten hatte nicht nur die alltägliche Lebenswelt, sondern auch die Wahrnehmung räumlicher Dimensionen nachhaltig verändert: »Leuchtreklame und Autoscheinwerfer verwandelten die Zentren der Großstädte gleichsam in einen blitzenden Kristall.«729 Physikalische Untersuchungen zu der Quantentheorie, vertreten durch Max Planck (1858–1947), sowie der Relativitätstheorie Albert Einsteins (1879–1955) lieferten essenzielle Vorstöße in der Erforschung des Lichts als eine Form von Energie, seiner Geschwindigkeit und Strahlung.730 Hinzu kam die zunehmende Popularität der technifizierten Medien Fotografie und Film, die zu immer neuen künstlerischen Reflexionen über das Verhältnis von Licht, Farbe, Bewegung und Raum führte. Diese Suche nach innovativen Darstellungsmodi in den Künsten war bedingt durch neueste wissenschaftliche Erkenntnisse zu der spezifischen Qualität des Lichts, sowohl den Sehsinn zu regulieren als auch auf den gesamten Körper des Menschen einzuwirken. So wählte Taut in seinem Aufsatz »Farbenwirkungen aus meiner Praxis« sein Glashaus als Anschauungsbeispiel, um über den Einfluss von Farb- und Lichtreflexen auf die menschliche Gemütslage nachzudenken: Im Kuppelraum, in dem das Licht immer, bei Sonnenschein und bei Regenwetter durch Reflexgläser zerstreut war, gab es keine trübe Stimmung. Immer ein gleich verteilter Lichtschein, dessen Farben unten tiefblau begannen, von Moosgrün nach oben in Goldgelb übergingen und in der Spitze des Raumes in strahlend Weißgelb ausklangen. Der belebende Eindruck auf die Nerven wurde allgemein bestätigt.731

728 Taut 1919b, S. 206. Bezeichnenderweise vergleicht die Kunsthistorikerin Jenny Anger die Wirkung des Glashauses mit einem dunklen Theaterraum, der die Imagination einer besseren Welt freisetzen könne. Vgl. Anger 2016, S. 163. Allerdings widerspricht dieser Vergleich Tauts eigener ästhetischer Auffassung. In seinen Augen betone der abgedunkelte Zuschauerraum in Bayreuth die Abtrennung von der Bühne. Zur Reflexion von Wagners theaterbaulichen Neuerungen durch Taut vgl. Prange 1994, S. 74 sowie weiterführend die Kapitel 1.4 u. 4.1. 729 Hoormann 2003, S. 33 f. Zu den Wechselwirkungen zwischen den Künsten, der Lichttechnik und der menschlichen Sinneswahrnehmung siehe Gärtner 2009b; Krauter 2009; Schwarz 1998; Schivelbusch 1992 u. Asendorf 1989. Zu der fortschreitenden Elektrifizierung der Gesellschaft im frühen 20. Jahrhundert siehe umfassend Binder 1999. 730 Für einen differenzierten Überblick über die naturwissenschaftliche und philosophische Debatte siehe Hoormann 2003, S. 38–40 u. S. 51–53. 731 Taut 1919c, S. 266.

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Zur selben Zeit widmete sich insbesondere die Musikpsychologie dem Zusammenhang von psychologischen und physiologischen Wahrnehmungserscheinungen: Von 1927 bis 1936 veranstaltete die Universität Hamburg Kongresse für Farbe-TonForschung. So führte beispielsweise der Psychologe Georg Anschütz (1886–1953) mehrere empirische Untersuchungen zur intersensoriellen Wahrnehmung, wie etwa dem ›Farbhören‹, durch.732 Diese neuen Erkenntnisse zum Ineinandergreifen unterschiedlicher Sinnesorgane zu neuen Wahrnehmungsphänomenen fanden breite Rezeption durch die zeitgenössische Kunst. Wassily Kandinskys (1866–1944) Bühnenkomposition Der Gelbe Klang, 1912 veröffentlicht im Almanach Der Blaue Reiter, reflektierte die Farb-Ton-Experimente seiner Zeitgenossen ebenso wie die kinetischen Farbelicht-Spiele des Bauhaus-Künstlers Ludwig Hirschfeld-Mack (1893–1965). Anknüpfend an das von dem englischen Kunstmaler Alexander Wallace Rimington (1854–1918) gebaute Farbenklavier ahmte der russische Komponist Alexander Skrjabin (1871/72–1915) Synästhesieeffekte nach und gilt damit als ein Vorreiter moderner Lichtshows. Diese unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen verhandelten in ihrem Streben nach einer Synthese aller Künste Richard Wagners Idee des Gesamtkunstwerks auf einer neuen wahrnehmungsästhetischen Ebene.733 Insbesondere das Bauhaus mit seinem ganzheitlichen Programm griff die Ergebnisse der Synästhesieforschung in seinem Curriculum auf. Neben der Musiktherapeutin Getrud Grunow (1870–1944), die Harmonielehre unterrichtete, war insbesondere Johannes Itten (1888–1967), der die naturwissenschaftlichen und psychologischen Erkenntnisse in seine Farbtheorie übertrug, federführend. Anknüpfend an Adolf Hölzels Lehre der sieben Farbkontraste fasste Itten die Farbe als »Musik gewordenes Licht auf«.734 Des Weiteren ging die ästhetische Neubewertung des Lichts zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch auf eine neue spirituelle Grundhaltung zurück. »Das Licht bot [...] [den Künstlern – S. B. Q.] über Erkenntnisse der Naturwissenschaften hinaus eine Metapher für ihre Annahme einer metaphysischen Dimension jenseits der materiellen Wirklichkeit.«735 Die Wurzeln dieser Auffassung des Lichts als immaterielles Phänomen gehen einerseits auf theologische Auslegungen des Lichts als Ursprung allen Lebens zurück. Andererseits fußen sie auf Schriften des Okkultismus und den Lehren der Theosophie, die sich ebenfalls mit der Visualisierung nicht-sichtbarer Phänomene befassten.736 Sabine Schouten betrachtet die Theaterexperimente der 1910er und 1920er Jahre vor dem Hintergrund der naturwissenschaftlichen Vorstöße und spirituellen Lebensentwürfe als »Erforschung atmosphärischer Ekstasen« anhand der Kategorien Farbe, Form, Licht, Rhythmus und Bewegung von Akteu732 Vgl. Anschütz/Reimpell 1929. Siehe weiterführend Henke 2009; Jewanski/Sidler 2006 u. Jewanski 2002, S. 239–248. 733 Siehe weiterführend Fornoff 2004, S. 278–367, hier besonders S. 349–367 u. Hoormann 2003, S. 164–173. 734 Itten 1961, S. 15. Siehe weiterführend Schimma 2009. Neben seinem Mentor Hölzel zeigt sich Ittens Farbauffassung besonders beeinflusst von den Schriften Rudolf Steiners, der viele Jahre zu Goethes Farbenlehre geforscht hatte. Siehe weiterführend Siebenbrodt 2009 u. Düchting 2002. Zu Steiners Farbenlehre siehe auch Kapitel 4.2.3. 735 Hoormann 2003, S. 40. 736 Vgl. hierzu Hoormann 2003, S. 40–48.

3.3  Bruno Tauts gläserne Kathedrale für Die Jungfrau von Orleans (1921)       227

ren.737 Zu diesen Experimenten mit der sinnlichen Polyphonie ist zweifelsohne Tauts Raumkonzept für Die Jungfrau von Orleans zu zählen. Schon die Inszenierung des Weltbaumeister schwebte ihm als synästhetisches ›Architektur-Schauspiel‹ vor, in dem Farben, Formen, Licht und Musik eine harmonische Einheit bildeten: Es genügt das Spiel der auftauchenden und vergehenden Formen und Farben, getränkt in der großen Flut der Töne. Nur der Raum der tiefen Bühne kann nicht entbehrt werden. Der Raum in seiner restlosen Tiefe ist der Schoß, der alles gebiert, Formen, Farben, Licht – wie der schwebende Ton des grenzenlosen Klingens, aus dem die Musik hervorquillt.738

Hatte die Bühnenbeleuchtung in der Wunderinszenierung von Reinhardts Mirakel bereits eine entscheidende performative Funktion in der Konstitution des szenischen Sakralraums und der Inszenierung von Heiligkeit eingenommen, wurde sie in Tauts Raumkonzept zum herausragenden Gestaltungselement. Das Licht markiert die Präsenz des Heiligen und erzeugt eine der Wirklichkeit entrückte Atmosphäre. Das Aquarell zum zehnten Auftritt im ersten Akt zeigt Johanna im Bildzentrum unmittelbar vor dem in Gelb- und Grüntönen erleuchteten Portal der Kathedrale (Abb. 107). In seinen Randnotizen vermerkte Taut: »Allergrößte Helligkeit beim Auftreten Johannas. Bei Aufgehen des Vorhangs harmonische Farben – dann zunehmende Trübe, bis bei Siegverkündung hinten Gelb aufleuchtet. Über Johanna strahlt die Architektur in Silber.« Seit dem Mittelalter gilt das immaterielle Phänomen ›Licht‹ als ein Symbol des Göttlichen. In den barocken Kapellen, darunter seien die Werke Gian Lorenzo Berninis (1598–1680) besonders herauszuheben, wurde die direkte wie indirekte Ausleuchtung von Architektur und Bildwerk durch Fensteröffnungen, plastische goldene Strahlenbündel und gemaltes Licht zu einer zentralen Inszenierungsstrategie des Heiligen weiterentwickelt. Parallel dazu begann das Theater mithilfe von Kerzen, Öllampen und verschiedenen reflektierenden Materialien ein künstliches Licht zu erzeugen, dem häufig eine ähnliche symbolische Funktion zukam: Strahlender Lichtglanz und sanfte Lichteffekte, die Heiligenscheine andeuten oder Wolken zum Leuchten bringen sollten, wurden zu theatralen Zeichen von Heiligen und Engeln, also dem Bereich des Göttlichen zugeordnet. Sowohl in der Kapellenausstattung als auch in den Theaterinszenierungen des 17. Jahrhunderts kam eine Lichtregie zum Einsatz, die räumliche Grenzen durchlässig erscheinen ließ, um so die Sphäre der Transzendenz anschaulich zu machen und damit verbunden der Unendlichkeit der göttlichen Gnade Ausdruck zu verleihen.739 In Tauts Lichtregie erfuhr sowohl das metaphorische Potenzial des Lichts eine Neubewertung als auch 737 Schouten 2007, S. 183. 738 Taut 1920, o. S. 739 Siehe hierzu auch Rößler 2012, besonders S. 97–142 u. Barry 2002. Zur Lichtinszenierung in den Kappellenräumen Berninis vgl. u. a. Fehrenbach 2005b. Zur Funktion der Lichtgloriole siehe Hecht 2003. Zu den Lichteffekten des Barocktheaters vgl. Fischer-Lichte 2008, S. 232–234 u. weiterführend Baur-Heinhold 1966. Zur kulturellen, naturwissenschaftlichen und philosophischen Auffassung des Lichts im 17. Jahrhundert siehe umfassend Bohlmann/Fink 2008. Zur Lichtkultur des Katholizismus, wie etwa die Einbindung von Kerzen und Lichterprozessionen in das liturgische Zeremoniell, siehe Kapitel 2.1.2.

228       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

Abb. 107: Bruno Taut, Szenenentwurf zu Die Jungfrau von Orleans, Berlin, 1921.

seine Kraft, eine Atmosphäre zu erzeugen, die weit über die rein sinnliche Wahrnehmung von Räumlichkeit hinausreichen kann. So umschreibt der Bühnenbildner im Programmheft die sakrale Überhöhung des Glasrahmens, der während der gesamten Aufführung das architektonische Bindeglied zum Publikum bildete, als visuelle Metapher der verklärten Heiligen: »Eine Heiligenlegende: der glasarchitektonische, den Bühnenrahmen sprengende Rahmen bleibt durch das ganze Stück hindurch der gleiche. [...] Ein verklärtes Spiel muß entrückt sein, gleichsam gefaßt in einem Heiligenschein.«740 Die mithilfe der Beleuchtung in ein überirdisches Strahlen versetzte Rahmenkonstruktion stellte für Taut einen wesentlichen Schritt dar, um die Trennung von Bühne und Zuschauerraum in dem konventionellen Theatergebäude des Deutschen Theaters zu überwinden. In seinem Aufsatz »Zum neuen Theaterbau« setzte er sich mit der Problematik traditioneller Theaterarchitektur auseinander. Seine Kritik galt insbesondere dem Vorhang, der seiner Meinung nach das imaginäre Ineinandergreifen von szenischer Welt und Realität beschränke. Er enthülle der versammelten Menge eine neue Glanzwelt [...], wo der Raum plötzlich nicht bloß physisch-räumlich geweitet wird, wo diese Weitung ein Zeichen einer geistigen Weitung ist, es wenigstens sein sollte [...]. Es gibt kein modernes Theater, bei dem diese Stelle nicht einen absoluten Schnitt zwischen zwei Welten bedeutet: hier der Zuschauer, da der Schauspieler.741

740 Taut 1921 S. 7 (Hervorh. S. B. Q.). Siehe hierzu auch sch. 1921. 741 Taut 1919b, S. 204 f.

3.3  Bruno Tauts gläserne Kathedrale für Die Jungfrau von Orleans (1921)       229

Das Vermögen neben der Architektur gleichsam das Theater selbst zu reformieren, schreibt Taut in logischer Konsequenz nicht dem Regisseur, sondern dem Architekten zu, wenn er zwischen Bühne und Zuschauerraum die Einheit schafft, den ungeteilten, alle [...] gleich umfangenden Theaterraum, [...] in dem alle, Schauspieler und Menge eine hingerissene Gemeinsamkeit bilden. [...] Der Zuschauerraum mit seiner Gliederung setzt sich in die Bühne hinein fort, so daß man beim Spiel keine Grenzen empfindet. Grenzenlos muß schon der Theaterraum wirken, aber wahrhaft grenzenlos muß die Bühne sein, nicht bloß in ihrer geistigen Vielheit, sondern auch oft wirklich unendlich.742

Um diese Einheit zwischen Bühnengeschehen und dem Publikum herzustellen, schlägt Taut vor, den Spielraum sowie den Theaterraum mithilfe von Glas und Beleuchtung von seinen starren Grenzen zu befreien: »Es darf keine Wände geben, sie müssen in Farbe und Form [...] aufgelöst sein.«743 Zusätzlich gesteigert werden sollte dieser Effekt durch eine rhythmische Lichtregie, die den gesamten Raum in Bewegung brachte.744 Die vollständige Entfaltung der Idee eines grenzenlosen Theaterraums, der den Zuschauer in eine andere Welt zu versetzen mag, sieht Taut zu diesem Zeitpunkt insbesondere in den Stückvorlagen frühexpressionistischer Autoren gegeben, darunter insbesondere »Scheerbarts Stern- und Weltendramen, die im Weltall spielen – – hier ist schon eine Dramatik, die vom Menschen zum Dimensionslosen in Höhe, Tiefe und Weite leitet«.745 In Tauts farb- und lichtdurchfluteten Raumkonzept für Martins Inszenierung wiederum war auch Scheerbarts visionäre Idee eines atmosphärischen ›Glas-Theaters‹, die er in dem gleichnamigen Prosatext aus dem Jahr 1910 durch den fiktiven Theaterdirektor Roderich Bäcker formulieren ließ, realisiert: Stellen Sie sich mal sogenannte Schattenspiele mit durchsichtigen und nichtdurchsichtigen Glasplatten vor. Auf diesen Glasplatten, die jede Farbe zeigen können, lassen sich Schatten von farbigen Gläsern raufwerfen. Da haben Sie plötzlich farbiges Schattenspiel. [...] Sind mit diesen farbigen Schatten nicht außerordentliche Stimmungen zu erzeugen? Gibt das in der Theaterkunst nicht eine ganz neue Richtung, in der das Glas die dominierende Rolle spielt?746

742 Taut 1919b, S. 205 u. S. 208. Auch wenn Parallelen zu Appias szenografischer Ästhetik erkennbar sind, erwähnt Taut diesen selbst nicht. Als einen, wenngleich in seinen Augen nicht ausgereiften Versuch, die Architektur der traditionellen Guckkastenbühne zu überwinden, nennt Taut Henry van de Veldes Raumlösung des 1914 erbauten Werkbundtheaters in Köln. Vgl. hierzu auch Behne 1914c, S. 503 f. Siehe weiterführend Kuenzli 2012; Brinitzer 2006, S. 83–88 u. Teuber 1984. Vgl. auch Bornemann-Quecke 2018 u. Kapitel 1.1. 743 Taut 1919b, S. 206. 744 Siehe hierzu auch Fornoff 2004, S. 395 f. u. Brauneck 1987, S. 28. 745 Taut 1919b, S. 208. Zu Scheerbarts Theatervisionen siehe weiterführend Brauneck 1987, S. 23. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen zu Tauts Weltbaumeister in Kapitel 3.2. 746 Scheerbart 1910. Siehe hierzu auch Ersoy 2011, S. 123. Haag Bletter bezeichnet Scheerbarts Architekturfantasien deshalb auch als ›Lichtarchitekturen‹. Vgl. Haag Bletter 1975, S. 90 f.

230       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

Angeregt durch die farbpsychologischen Studien jener Zeit entwarf Scheerbart ein Theater der Farblichtprojektionen. Er war davon überzeugt, dass das farbige Glas durch seine hochgradige sinnliche Affizierung die Distanz zwischen den Zuschauern und dem Bühnengeschehen aufheben und so ein intensiveres Kunsterlebnis hervorrufen konnte. Aufgrund ihrer Transparenz entwickelte Tauts gläserne Bühnenarchitektur eine enorme Strahlkraft, die bis in den Zuschauerraum hineinreichte. Wie ein riesiger Magnet sollte sie die Zuschauer an die Bühne heranziehen. In der Berliner Inszenierung konnten die energetisch-rhythmischen Lichteffekte unmittelbare körperliche wie auch emotionale Reaktionen bei den Schauspielern und Zuschauern freisetzen.747 Nach Karlheinz Martins Regieanweisungen sollte im fünften Akt der Jungfrau-Inszenierung eine im Gleichtakt mit der musikalischen Begleitung flutende Beleuchtung – »Pauken, Trommeln, rhythmisch, dann dunkle Hörner verklingen«748 – nicht allein die Imagination einer Schlachtszene intensivieren, sondern sinnlich-affektive Regungen bei den Akteuren und Zuschauern hervorrufen. Unterstrichen wurde die ›schwere‹ Atmosphäre einer blutigen Schlacht durch »schweres rotes Licht bei violettem Himmel«.749 Auch ein Berichterstatter der Volksbühne beschrieb das starke performative Potenzial der kalkulierten Lichtwechsel, die der Regisseur Karlheinz Martin in einem speziellen Beleuchtungsbuch aufführte: [W]ie die rhythmischen Klänge einer Musik, [...] verdeutlichten, verstärkten und vertieften [sie] die Wirkung des gesprochenen Wortes und rückten das Ganze in eine Sphäre, die zweifellos reiner, künstlerischer ist als diejenige, in die die naturalistische Illusionsbühne uns zu erheben vermag.750

Mit seinen »Inszenierungsgedanken« im Programmheft trat Bruno Taut in eine direkte Kommunikation mit dem Publikum. In dem Bedürfnis, seinen ästhetischen Ansatz vorzustellen, äußert sich die Vorgabe spezifischer Reaktionen. Er beschreibt das Raumerlebnis, das durch seine Form der Inszenierung hervorgerufen werden sollte, als eine »Illusion, welche aus rein künstlerischen Mitteln heraus zum Vergessen des Alltags und zum unmittelbaren Mitschwingen führt«.751 In seinem Aufsatz »Illusion und ästhetische Wirklichkeit« problematisiert der Philosoph Johannes Volkelt (1848–1930) den Illusionsbegriff als Moment der Täuschung der Wahrnehmung und Vortäuschung einer Wirklichkeit. Im zeitgenössischen Theater produziere das Zusammenspiel von Raum, Bühnendekoration und schauspielerischer Darstellung eine von der Realität gänzlich unabhängige, jedoch »als ästhetische Wirklichkeit

747 Vgl. auch Brauneck 1987, S. 26 f. In diesem Zusammenhang sei auch auf Albert Einsteins und Heinrich Hertz’ Studien zum Elektromagnetismus verwiesen. Siehe hierzu ausführlich Hoormann 2003, S. 38–42. Anhand anderer Untersuchungsbeispiele wird diese Beobachtung auch diskutiert in Bornemann-Quecke 2018. Zum performativen Potenzial des Lichts siehe ausführlich Fischer-Lichte 2008, S. 236 u. Fischer-Lichte 2005b, S. 17–26. 748 Zit. n. Winds 1925, S. 135. Da das Regiebuch im Original nicht einsehbar ist, sei hier aus einer zeitgenössischen Quelle zitiert. 749 Fechter 1921. 750 sch. 1921. Zum Beleuchtungsbuch siehe auch Winds 1925, S. 135. 751 Taut 1921, S. 7.

3.3  Bruno Tauts gläserne Kathedrale für Die Jungfrau von Orleans (1921)       231

existierende vollkörperliche Raum- und Dingwelt«.752 Bruno Taut sprach sich eindeutig gegen das Prinzip der Naturnachahmung im Theater aus, vielmehr sollte das Zusammenspiel von Architektur, Farbe, Licht, Musik sowie der Bewegung der Drehbühne und der Schauspieler eine reine Suggestivwirkung erlangen. Diese ästhetische Strategie stützte sich auf seine eigene Lesart der Stückvorlage: »Was Schiller als Mittelalter oder Gotik darstellt oder auch als Naturbild, das ist nicht Mittelalter oder Gotik oder Wald und Felsen, sondern es ist seine Idee von diesen Dingen.«753 Die Reaktion des Mitschwingens ist vergleichbar mit dem Prinzip der kollektiven Gefühlsansteckung, das Max Reinhardt in seiner Mirakel-Inszenierung als eine zentrale ästhetische Strategie nutzte, um ein Gefühl von Gemeinschaft hervorzurufen. Auch wenn Taut den intimen Charakter des Theaters präferierte und sich von den »verunglückten Massenaufführungen Reinhardts« abzusetzen suchte,754 lässt seine Intention durchaus Parallelen zu dessen Konzept des Theaters als festliches Spiel erkennen. Das Zusammenwirken von Spielraumgestaltung und Bewegung der Akteure sollte eine Atmosphäre erzeugen, die die Zuschauer ihre eigene Wirklichkeit vergessen ließ und ihnen eine liminiale Erfahrung von feierlicher Außeralltäglichkeit eröffnete. Allerdings muss das künstlerische Konzept der beiden Inszenierungen differenziert betrachtet werden. Mithilfe von Sterns gotisierendem Bühnenbild versetzte Max Reinhardt die Zuschauer in eine wesensgleiche, wenn auch historischeklektische mittelalterliche Szenerie. Über die Re-Inszenierung sensorischer Reize, ritueller Praktiken, aber auch der spezifischen Symbolik der katholischen Kirche wollte er eine Einheit der Akteure im sie umgebenden Raum herstellen. In Anlehnung an die gotische Kathedralarchitektur sollten Licht und Farbe in Tauts Inszenierungskonzept ein neuartiges Raumerlebnis hervorrufen. Allerdings zielt sein ›unmittelbares Mitschwingen‹ weit über die Imagination eines sakralen Raums hinaus auf eine übermäßig starke körperliche Erfahrung. Böhmes und Schoutens Begriff der Atmosphäre, der sich im vorangegangenen Kapitel als besonders ertragreich erwiesen hat, soll an dieser Stelle mit dem Konzept der affektiven Räume des Soziologen und Kulturwissenschaftlers Andreas Reckwitz weitergedacht werden. Mit seinem praxeologischen Ansatz betrachtet Reckwitz emotionale und affektive Phänomene sowie räumliche Systeme als integrative Bestandteile von Gesellschafts- und Kulturtheorie. Affektive Räume zeichnen sich demnach durch eine kulturell kodierte Atmosphäre aus: »Atmospheres are [...] always already connected to a specific cultural sensitivity and attentiveness on the part of the carriers of practices, a specific sensitivity for perceptions, impressions and affections.«755 Als unerlässliche Bedingung für das Nacherleben solcher Atmosphären nennt Reckwitz das Vorhandensein eines affektiven Habitus. Nur die Aneignung tradierter sensorischer und kultureller Muster ermöglicht eine Korrespondenz zwischen dem Rezipienten und einem affektiven Raum beziehungsweise die Hervorbringung bestimmter Affektregungen: 752 753 754 755

Volkelt 1919, S. 351. Taut 1921, S. 7. Vgl. hierzu auch Schultes 1981, S. 265. Taut 1919b, S. 205. Siehe hierzu ausführlich die Kapitel 2.1.3 u. 2.1.4. Reckwitz 2012a, S. 255 (Hervorh. A. R.). Für die deutsche Übersetzung des Aufsatzes siehe Reckwitz 2012b. Da es sich dabei nicht um eine deutschsprachige Fassung des Verfassers, sondern um eine Übersetzung anderer Autoren handelt, wird hier der Originaltext zitiert.

232       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen In these cases we can detect an affective habitus, which is again and again reproduced in the same spaces and atmospheres, for instance in the case of religious practices and feelings carried out and experiences by pious actors in churches. Such spatial environments constitute crucial constellations for social and cultural reproduction in general and the reproduction of affective relations in particular.756

In gewisser Form nutzte auch Bruno Taut das implizite Wissen der Zuschauer um das von Reckwitz skizzierte affektive und kulturelle Referenzsystem Kirche. Allerdings steigert er die sinnliche und affektive Raumwirkung der gotischen Kathedrale um ein Vielfaches. In seiner Entmaterialisierung der Heiligenlegende und der hochgradigen Abstrahierung des religiösen Schauplatzes mithilfe von starken multisensorischen Impulsen erzeugt er einen neuen affektiven Raum, »der scheinbar völlig aus dem Funktionszusammenhang des Gebäudes gelöst, nur auf seine ästhetische Wirkung ausgerichtet« war.757 Nachfolgend soll daher die Wirksamkeit der Strategien zur Hervorbringung jenes neuen affektiven Raums anhand der Rezeptionsdokumente zu der Premiere überprüft werden: Inwieweit überzeugten Tauts Lichtregie sowie seine Prinzipien der Entmaterialisierung und der Illusion die zeitgenössischen Berichterstatter?

3.3.2 Theater der ›Mystik und Magie‹: Zur Rezeption der Berliner Inszenierung Von den Theaterkritikern wurde die Aufführung der Jungfrau von Orleans als eine der aufsehenerregendsten, wenn auch umstrittensten der Berliner Spielzeit 1921 besprochen. Das ambivalente Urteil vieler Kritiker rührte zum einen daher, dass die Auslegung der Tragödie als mystische Heiligenlegende, die vorab über das Programmheft kommuniziert wurde, Schillers Stückvorlage nicht unmittelbar entsprach. Zum anderen störten sie sich an der konsequenten Abstraktion des Bühnenbildes: Auf alle historische Echtheit und Zuverlässigkeit bei der Wiedergabe dieser romantischen Tragödie will ich gern verzichten; aber daß ihr irgend ein Stil aufgezwungen wird, der nicht aus ihrem Geist und Wesen herausgeboren ist, davor – meine ich – sollte sie geschützt werden. Bruno Taut behauptet von seinem Stil sicherlich, er entspringe dem innersten Wesen der Dichtung [...]. Wie in aller Welt sollten in dieser mathematischen Abgezirkeltheit jene geheimnisvollen Stimmen raunen können, die das schlichte Mädchen zu hören vermeint?758

Wie seiner Bewertung zu entnehmen ist, zeigte sich Franz Köppen (*1872–nicht ermittelbar) von der Berliner Börsen-Zeitung zwar einer zeitgemäßen Aktualisierung der Ausstattung durchaus zugetan, Tauts radikale Lösung überzeugte ihn allerdings

756 Reckwitz 2012a, S. 255 (Hervorh. A. R.). 757 Bushart 2003, S. 121. 758 Köppen 1921. Siehe hierzu auch Engel 1921.

3.3  Bruno Tauts gläserne Kathedrale für Die Jungfrau von Orleans (1921)       233

nicht. In seinen Augen trug das Prinzip der Stilisierung keineswegs dazu bei, das Publikum in eine mystisch-feierliche Stimmung zu versetzen. [D]ie Erweckung der Stimmung, der Empfänglichkeit für das holde Wunder [wird] durch die architektonische Nüchternheit und Bewußtheit im Keime erstickt. [...] Und so bleibt für mich das Ergebnis, daß hier ein völlig selbstherrlicher architektonischer Wille [...] der Dichtung Gewalt antut, ohne auch nur die leiseste Neigung zu zeigen, ihren mystischen Gehalt an- und auszudeuten.759

Eine besondere Aufmerksamkeit erregte die gläserne Rahmenkonstruktion, durch die Taut das Publikum enger an die Bühne binden wollte. Auf diese Weise wollte er einen grenzenlosen Theaterraum schaffen, in dem sich Wirklichkeit und Imagination überlagern konnten. Beschrieb Julius Bab (1880–1955) sie als einen »klirrenden Bühnenrahmen aus bunten Glasstücken«,760 so erschloss sich auch Fritz Engel der eigentliche Zweck der Konstruktion, nicht: Die Kulisse, von Bruno Taut gestaltet, ist schweigsam, schwer, in einer unwirklichen Gotik, von Licht überflirrt, das regenbogenspielerisch alle Realitäten irrwischtanzend verwischt. Ehe der Vorhang aufgeht, sieht man unten auf der Vorbühne links und rechts gerahmte Glasgebilde [...] Wenn der Vorhang sich lüftet, wird wahrnehmbar, daß es sich um Teile eines Rahmens handelt, der die Szene märchenartig umspannen soll. Ich bin bereit, darauf zu verzichten.761

Auch der Theater- und Kunstkritiker Paul Fechter (1880–1958) zweifelte an der Durchsetzungskraft des Glasrahmens zur Überwindung der Grenze zwischen Spielund Zuschauerraum, obschon er das Innovationspotenzial mit einem Seitenblick auf die Experimente des Bauhaus-Theaters durchaus registrierte: »[D]ie Theorie seines Verandarahmens, der die harten Kanten des Bühnenrahmens auflösen, zwischen Bühne und Zuschauerraum vermitteln will[,] [...] ist theoretische Spielerei aus Neu-Weimar, die schon öfter versucht, aber noch nie lebendig geworden ist.«762 Grundsätzlich stand Fechter, der mit seinem 1914 veröffentlichten Buch Der Expressionismus eine frühe Gesamtdarstellung der neuen Kunstrichtung lieferte, der flexiblen architektonischen Gestaltung der Bühne aufgeschlossener gegenüber. Im Besonderen hob er Tauts innovative Experimente mit der szenischen Beleuchtung heraus. Wenngleich er in dessen symbolischen Farbwertsystem eine Überreizung der Vorstellungskraft sah, bewertete Fechter die Lichtregie als eine konsequente Weiterentwicklung seit Ludwig Bergers ambitionierter Inszenierung von William Shakespeares (1564–1616) Cymbeline, die am 10. Oktober 1919 am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt wurde: 759 Köppen 1921. Aus solchen Reaktionen hat Whyte geschlossen, Taut habe die Arbeit am Theater aufgrund mangelnder Wertschätzung nicht weiter fortgesetzt. Vgl. Whyte 1982, S. 211. 760 Bab 1928, S. 186. 761 Engel 1921. 762 Fechter 1921.

234       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen Es war verblüffend, was für ganz starke Wirkungen räumlich und bildhaft hier erreicht wurden. Vieles blieb Spielerei, wie der ständige Wechsel der Lichtfarbe etwa in der ersten Szene des vierten Aktes, in dem Johanna je nach ihrer Seelenstimmung [...] bald ein grünes, bald ein blaues, zuletzt sogar ein fast farbloses Röckchen anhatte. Vieles aber gelang glänzend, wirkte bildhaft so stark, daß man nur dafür plädieren kann, hier weiter zu versuchen.763

Insbesondere das Schlussbild auf dem Schlachtfeld, in der Taut die Dekoration der Szene bis auf ein schlichtes Treppenpodest gänzlich reduzierte, sei zukunftsweisend, denn »[h]ier klang der Raum als Ganzes«.764 In dem Moment des Sterbens, der für die Heilige den Übergang in die Sphäre der Transzendenz bedeutete und deshalb an eine Himmelfahrtsdarstellung gemahnte, erstrahlte der »Himmel von klarstem Blau übergehend zu Weiss-Rosa«, wie Taut auf seinem Bühnenbildentwurf notierte (Abb. 108). Auch der Theaterkritiker Herbert Ihering (1888–1977) lobte jene vollständige Auflösung der Szene als einen zukunftsweisenden ästhetischen Ansatz: Es war der erste radikale Versuch in dieser Richtung. Es war hinreißend. [...] Wenn die Kathedrale von Reims die Breite der Bühne abgrenzte, so war sie durch Gitterwerk entschwert. [...] [S]o bedeuteten die wechselnden Lichtwellen, die den Raum durchfluteten [...] besonders in den Szenen am Königshof schwebende Entmaterialisierung.765

Ihering würdigte zwar das innovative Potenzial der Entmaterialisierung des Raums durch das Zusammenspiel von Licht und Glas, stellte jedoch gleichzeitig die unüberwindbare Diskrepanz zwischen der abstrakten Raumgestaltung Tauts und der Regie Martins als die größte Schwachstelle des ambitionierten Experiments heraus: Karl Heinz Martin gab mehr den Zickzack szenischer Fragmente als die Wellenlinien eines durchgehenden Stromes. Er gab Hervorragendes in gedrängten Augenblicken, in Kontrastierungen, in Schärfen, in Zäsuren. Aber es fehlte das Ausatmen, das Ausschwingen der Szenen.766

Der Regisseur bevorzugte eine präzise Sprechweise sowie eine prägnante Gestik und Mimik, wovon knappe Regieanweisungen zeugen, wie Adolf Winds (1856–1927) aufgeführt hat: »[O]ft erfolgt die Kennzeichnung nur durch ein einziges Wort: ›Mystik, Trance, Hoffnung, Nervös, Wie ein Traum, Fanatisch, schwebt, rasend, weh, Schrei, 763 Fechter 1921. Auch Berger setzte auf eine symbolische Beleuchtung. Außerdem verblieb ein quaderförmiger Rahmen, der mit verschiedenfarbigen, rhythmisch wechselnden Lichtkegeln angestrahlt wurde, während der gesamten Aufführung auf der Bühne. Vgl. Schultes 1981, S. 126–135. Zur Rezeption der Cymbeline-Aufführung siehe auch Rühle 1967, S. 165– 170. Zu Fechters Theoretisierung des Expressionismus siehe Fechter 1914. Zur nationalistischen Prägung seiner Kunstauffassung siehe Zeising 2015 u. Bushart 1990, S. 103–106. 764 Fechter 1921. Auch Engel konstatiert, es gäbe »Prospekte von weihevoller Schönheit«, worunter das reduzierte Schlussbild das schönste sei. Engel 1921. 765 Ihering 1921, zit. n. Ihering 1958, S. 181 (Hervorh. S. B. Q.). 766 Ihering 1921, zit. n. Ihering 1958, S. 181 f. Siehe hierzu auch Schultes 1981, S. 267 f. u. Runge 1962, S. 90. Zu Karlheinz Martins Namen finden sich unterschiedliche Schreibweisen.

3.3  Bruno Tauts gläserne Kathedrale für Die Jungfrau von Orleans (1921)       235

Abb. 108: Bruno Taut, Szenenentwurf zu Die Jungfrau von Orleans, Berlin, 1921.

jauchzt‹ usw.«767 Scheinbar gelang es Martin damit nicht, die akustische und optische Bewegung seiner Schauspieler an die dynamischen Lichtwechsel anzupassen, was wiederum die Mehrheit der Rezensenten irritierte.768 Monty Jacobs (1875–1945) veranlasste dieser Umstand, von einer Überforderung der Wahrnehmung durch Tauts Spielraumgestaltung zu sprechen: Den Augen drängt er seinen Willen mit den bunten Lichtern des Kirchenfensters auf, das Ohr wird mit dem Geläut der Kirchenglocken gekirrt, und von Rechts wegen müßte auch die Nase mit dem Weihrauchfasse überzeugt werden. [...] Nimmt man hinzu, daß das Bühnenbild mitten in der Szene pfauenbunt wird, dann wieder aufs Stichwort Helle und Finsternis wechseln lässt, so wird klar, daß Bruno Taut an Mystik und Magie nicht geknausert hat. [...] Bruno Taut, der Baukünstler, hat eine zu schwere Hand für die Bühne. [...] [S]ein Karusselspiel als Beleuchter fällt auf die Nerven. [...] Man hört eine Maschine, wie sie, ratternd und stöhnend, ununterbrochen Mystik und Magie produziert.769

767 Winds 1925, S. 134. 768 Siehe hierzu auch Ihering 1974, S. 179 u. Bab 1928, S. 186 f. Rückblickend räumte Taut selbst ein, die kurzfristige Fertigstellung der Dekorationen habe die Feinabstimmung der Beleuchtung erheblich beeinträchtigt. Die Lichteffekte waren »den Beleuchtern neu und fremd [...]. [D]as letzte [Bild – S. B. Q.] konnte ich nur theoretisch am letzten Tage mit den Beleuchtern ausarbeiten – gesehen habe ich es garnicht [sic!] vor der Vorstellung. So war vieles ganz falsch und ist es geblieben, und was da ist, ist nur ein Abglanz.« Brief von Bruno Taut an seine Frau Hedwig, 01.03.1921, Akademie der Künste, Bruno-Taut-Archiv, Nr. 96. 769 Jacobs 1921.

236       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

Dass die Kritiker wiederholt das ungewöhnliche Zusammenspiel der theatralen Mittel Licht und Farbe herausstellten, zeigt, dass sie Tauts Interesse an sinnlichen und affektiven Wirkungen durchaus registrierten. Die Atmosphäre, die mithilfe dieser Strategien vermittelt werden sollte, erfuhr jedoch kaum positive Resonanz. Vielmehr fühlten sie sich durch die den Handlungsanweisungen des Regisseurs widerstrebende Lichtregie gestört. Für die Mehrzahl der Kritiker schienen die ungewöhnlichen multisensorischen Impulse die vollkommene Illusion einer anderen Wirklichkeit und das Einlassen der Zuschauer auf diese neue Raumwirkung verhindert zu haben. Schon Paul Scheerbart sinnierte über die Vielfalt und Intensität des Lichtspektrums und die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung. So konstatierte er beispielweise über die vom menschlichen Auge nicht wahrnehmbaren, jedoch ästhetisch reizvollen Lichtwerte Ultraviolett und Infrarot: Wenn wir nun auch vorläufig nicht annehmen können, daß unsere Sinnesorgane sich von heute bis morgen weiterentwickeln, so werden wir doch berechtigt sein anzunehmen, daß wir zunächst dasjenige erreichen dürfen, was wir erreichen können – eben den Teil des Spektrums, den wir mit unseren Augen zu fassen vermögen, eben die Farbenwunder, die wir in uns aufzunehmen imstande sind.770

In der Feststellung dieser Barriere klingt bereits der Wunsch an, mithilfe der Glasarchitektur die Sinnesorgane so sehr auszureizen, dass langfristig die menschlichen Sehgewohnheiten durch neue Lichtimpulse erweitert werden. Mit seiner Vision zielte Scheerbart auf die Vorbereitung eines neuen affektiven Habitus, der nach Reckwitz die wesentliche Grundbedingung für die Wahrnehmbarkeit und Wirksamkeit affektiver Räume ist.771 In der deutlich formulierten Irritation und Überforderung der Kritiker durch Martins und Tauts Inszenierungskonzept offenbart sich also ein Moment der Fremdheit. Dieses lässt eindeutig darauf schließen, dass der für die Wirksamkeit der Atmosphäre notwendige affektive Habitus noch nicht vorhanden war. Ein Vergleich mit Max Reinhardts Mirakel-Inszenierung unterstreicht diese Schlussfolgerung: Während Reinhardt gezielt sämtliche Gestaltungselemente auf die Wirkungsästhetik der heiligen Szene ausrichtete und diese an kulturell angeeignete Bilder, Symbole, Geräusche, Lieder sowie rituelle Praktiken knüpfte, die im Rezeptionsprozess problemlos reaktiviert werden konnten, verfolgten Karlheinz Martin und Bruno Taut eine gänzlich andere Strategie. Mit der über das Programmheft schon im Vorfeld kommunizierten Interpretation der Stückvorlage als Heiligenlegende schürten sie eine spezifische Erwartungshaltung hinsichtlich der szenischen Umsetzung. Das Publikum muss deshalb zunächst szenografische und theatrale Strategien erwartet haben, die wie die Prozessionen, das stimmungsvolle Kerzenlicht oder die feierlichen Gesänge in Reinhardts Inszenierung an der katholischen Liturgie und Sakralraumgestaltung angelehnt waren. Folgt man allerdings Monty Jacobs Eindrücken, negierte im Moment des Suggerierens einer sakralen Atmosphäre der Sakralraum sich selbst: 770 Scheerbart 1914, S. 115 f. Krauter hat in diesem Zusammenhang auf Scheerbarts Interesse für die Sinnesphysiologie und -psychologie verwiesen. Siehe Krauter 1998, S. 24 u. weiterführend Scheerbart 1995, S. 250–258. 771 Vgl. Reckwitz 2012, S. 256.

3.3  Bruno Tauts gläserne Kathedrale für Die Jungfrau von Orleans (1921)       237

Die festen Strukturen des gotischen Gemäuers wurden verzerrt und das feierliche Läuten der Kirchenglocken mutierte zu einem Schrillen. Insbesondere das authentische Licht der Buntglasfenster, das Reinhardt als eine zentrale Strategie der Sakralisierung nutzte, wurde von vielen Kritikern nun als ein übersteigertes, grelles Flackern wahrgenommen. Die Tatsache, dass Taut auf eine große Vielfalt von Strategien der modernen Lichterzeugung und -gestaltung Bezug nahm, verweist neben der symbolischen Funktion, auf einen technischen beziehungsweise wahrnehmungsästhetischen und somit säkular orientierten Zugang. Doch obschon das Medium Licht sich im zeitgenössischen Kino und Lichtspiel bereits als massenwirksam erwiesen hatte, zeugt Jacobs abschätzige Bezeichnung der technisch innovativen Bühnenbeleuchtung als ›Maschine‹ von einer grundsätzlichen Ablehnung solcher medialen Effekte.772 Dadurch, dass die expressionistischen und die sakralen Strategien zur Hervorbringung des szenischen Raums nicht übereinstimmten, fehlte den Zuschauern der JungfrauInszenierung sowohl die affektive, die ästhetische als auch die semantische Bezugsfolie, vor der sie die Inszenierung angemessen hätten lesen beziehungsweise erleben können. Folglich funktionierten das Erkennen kultureller Muster, das Evozieren bestimmter Affektreaktionen und das Einlassen auf die Atmosphäre nicht. Während Tauts »Inszenierungsgedanken« die Hervorbringung eines neuen affektiven Raums als Ziel ausersehen hatten, erweisen sich die Rezeptionsdokumente schlussendlich als Beleg für das Scheitern dieses ambitionierten Vorhabens. Allerdings verfolgte Taut mit der Entmaterialisierung des Spielraums durch Licht und Farbe, die die Sehgewohnheiten und das Wahrnehmungsverhalten des Publikums herausforderte, ein für die zeitgenössischen Kunstströmungen gängiges Gestaltungsprinzip. So hat bereits Schultes auf die Nähe zum Expressionismus verwiesen: »Wenn diese Aufführung auch nicht [...] eindeutig expressionistisch genannt werden kann, so berührte sie sich in ihrem Ausdrucksverlangen und ihren wesentlichen Formelementen [...] eng mit diesem sehr komplexen Stil.«773 Berücksichtigt man die in den Rezensionen wiederkehrende Beschreibungskategorie ›kubistisch‹, zum Beispiel in dem von Fechter gewählten Titel »Der kubistische Schiller«, so wird deutlich, dass sich die Jungfrau-Inszenierung einer klaren Verortung innerhalb des Stilpluralismus jener Zeit entzog. Bezogen auf sein Konzept eines gläsernen Theaters verwendete Taut das Attribut ›kubistisch‹ als ein allgemeines Synonym für eine geometrische Formensprache: »Die Wände sind ein strahlendes Geschiebe von intensiven Farben, – kubistisch, aber dies nicht im Sinne eines Stilformalismus, sondern in einer architektonischen Gliederung, welche die Wände in ein entzückendes Formenspiel auflöst.«774 Überdies machen jene Begriffsspiele in den Aufführungsbesprechungen deutlich, dass auch in der Theaterwelt die kulturelle Debatte um die öffentliche Legitimation abstrakter Kunstformen rege geführt wurde. Obschon die 772 Zur massenmedialen Funktion des Lichts siehe Hoormann 2003, S. 95 u. Böhme 2001, S. 449. 773 Schultes 1981, S. 262. 774 Taut 1919b, S. 206. Maria Stavrinaki deutet den vorherrschenden Stilpluralismus dieser Jahre als Ausdrucksform der kulturellen Krise bedingt durch die politischen und sozialen Umwälzungen nach dem Ersten Weltkrieg. Vgl. Stavrinaki 2011, S. 260–266.

238       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

damalige Berliner Theaterszene als Laboratorium für experimentelle Inszenierungsformen galt, demonstrieren zahlreiche Kritiken eine eher konservative Haltung: Der Auffassung von Theater als einer Bildungsanstalt folgend schrieben sie dem Worttheater weiterhin den größtmöglichen künstlerischen Wert zu. In der Frage, ob das Theater eine Raumkunst sein solle, nahm Ernst Heilborn (1867–1942) von der Frankfurter Zeitung eine eindeutige Position ein, in dem er den Schauspielern, in diesem Fall Werner Krauß’ gefeierte Darstellung des Talbots, die eigentliche Wirkmacht zuschrieb: Was sind denn diese gepriesenen Bühnenbilder? Nichts als vergrößertes Ragout aus den Kunstausstellungen der letzten Jahre. Was diese gefeierten Einstellungen in den Raum? Nichts anderes als Ruhepunkte für die Auffassung, Hilfsmittel für die Erinnerung. Für das Spiel eines Werner Krauß ist es herzlich gleichgültig, ob er vor naturalistisch oder expressionistisch gehaltenem Hintergrund steht, dies ständige Flackern der Beleuchtung kann ihm eher Abbruch tun, als Hilfe leisten.775

An dieser Stelle sollen exemplarisch einige Fragen formuliert werden, die im Rahmen dieser Studie nicht ausführlich erörtert werden können, jedoch einen Anstoß für zukünftige Diskussionen von Rezeptionsdokumenten geben sollen. Die Tatsache, dass viele Rezensenten die Werktreue als einen ausschlaggebenden Kritikpunkt an Martins und Tauts Inszenierung herausstellten, überdeckt in Wahrheit eine viel größere Frustration. Unter diesem Vorwurf liegt eigentlich ein Gefühl der Fremdheit und damit verbunden eine Frage der Lesbarkeit: Wie fassen Kritiker etwas in Worte, für das es zunächst keine Worte zu geben scheint? In Bezug auf die Lesbarkeit von Inszenierungen sei auf den Repertoire-Begriff verwiesen, den die amerikanische Theaterwissenschaftlerin Tracy C. Davis in ihrem Aufsatz »Nineteenth-Century Repertoire« entwickelt: [R]epertoires are multiple circulating recombinative discourses of intelligibility that create a means by which audiences are habituated to understand one or more kinds or combinations of performative tropes and then recognise and interpret others that are unfamiliar, so that the new may be incorporated into repertoire. Thus repertoire [...] involves processes of reiteration, revision, citation and incorporation.776

Wenn das Verstehen von Bekanntem notwendig ist, um Unbekanntes in das bestehende Repertoire einzuordnen, wie reagieren Kritiker auf etwas, dass sich ihrem Bezugssystem versperrt? Was geschieht mit Inszenierungen, die nicht verstanden werden? Werden sie automatisch als Flop kategorisiert? Martins und Tauts Insze775 Heilborn 1921. Ähnlich positioniert sich auch Franz Köppen, der den Erfolg der Inszenierung an den Leistungen von Thimig und Krauß festmacht. Bezogen auf Taut schreibt er: »Der Regisseur Martin ist der Selbstherrlichkeit dieses Willens zunächst sklavisch erlegen, bis sich später Spuren zeigen, die auf Befreiungsversuche deuten, zu denen ihm vielleicht einige phantasievollere Darsteller ermutigt haben.« Köppen 1921. 776 Davis 2009, S. 7. Davis nutzt ›Repertoire‹ als methodischen Begriff, um mit dem Fokus auf das Alltägliche neue theaterhistoriografische Fragestellungen zu generieren.

3.3  Bruno Tauts gläserne Kathedrale für Die Jungfrau von Orleans (1921)       239

nierungsstrategien schienen in diesem Fall zu innovativ, als dass die Kritiker sie mit dem bisher Gesehenen in Verbindung bringen konnten. In seinem kurzen Abriss über die Geschichte der Sozialtheorie hat Andreas Reckwitz die Gründe für den Ausschluss von Affekten und Emotionen in gesellschaftstheoretischen Abhandlungen des frühen 20. Jahrhunderts aufgezeigt: One reason [...] is the widely disseminated identification of the social with normative order and later on with regimes of knowledge. Thus, affects appear to be non-cultural and non-social phenomena. The second reason is related to an identification of modernity with rationality and with overcoming the affects.777

Jene Tendenz zur Rationalisierung war sicherlich auch ein Grund, warum sowohl Wilhelm Worringers kunstwissenschaftlicher als auch Rudolf Ottos religionsphilosophischer Ansatz, die beide emotionale Kategorien in das Zentrum der Untersuchungen stellten, im zeitgenössischen Wissenschaftsdiskurs überaus kontrovers aufgenommen wurden.778 Es ist anzunehmen, dass die akademisch vorgebildeten Theaterkritiker von dieser Haltung geprägt waren. Denn vor diesem Hintergrund ließe sich die Frage nach der Ursache von Fremdheitsgefühlen auch unabhängig von dem bildungsbürgerlichen Theaterrepertoire formulieren: Wie reagieren Theaterkritiker auf etwas gänzlich Neuartiges, das sich nicht nur ihrem zeitgenössischen Verständnis von Theater, sondern insbesondere auch ihrem gewohnten affektiven Habitus entzieht? Aus einer ästhetischen Perspektive betrachtet, lieferten Bruno Taut und Karlheinz Martin wesentliche Impulse für innovative Raumlösungen, die bald Nachfolger fanden. Am 13. März 1923 feierte Richard Weicherts (1880–1961) Inszenierung der Jungfrau von Orleans am Frankfurter Schauspielhaus Premiere. Der Regisseur folgte der in Berlin so kontrovers aufgenommenen Mystifizierung der Tragödie als Heiligenlegende. So orientierte sich auch Weicherts Bühnenbildner Ludwig Sievert (1877–1966) in seinen farb- und lichtdurchfluteten Entwürfen an Tauts atmosphärischer Raumgestaltung: Für den Theaterkritiker Ernst Leopold Stahl (1882–1949) war das Ergebnis »ein ästhetisches Fest in himmlischem Blau und Violett als stehendem Akkord, der sich am Schlusse im Dreiklang Blau-Weiß-Gold löst, eine weihevolle Auferstehung«.779 Sieverts Entwurf zur Domszene veranschaulicht ein neuartiges Gestaltungsprinzip (Abb. 109): Ein zum Hintergrund leicht ansteigender, prismatisch angeordneter Rahmen umfängt das Geschehen auf der Bühne. Über eine rautenförmige Treppenanlage verbindet sich der Bühnenvordergrund mit der höhergelegenen Spielfläche. Auf der linken und rechten Seite dieses Podiums hat sich eine 777 Reckwitz 2012, S. 242. 778 Als eine Ausnahme nennt Reckwitz die Schrift Les formes élémentaires de la vie religieuse des französischen Soziologen Émile Durkheim. Vgl. Reckwitz 2012, S. 242–245. Zur wissenschaftlichen Rezeption der Schriften Worringers siehe Kapitel 3.1.1, zu Rudolf Otto und Émile Durkheim Kapitel 1.2. 779 Stahl 1944, S. 35. Zu Weicherts Bearbeitung der Stückvorlage siehe Schultes 1981, S. 259– 261.

240       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

Abb. 109: Ludwig Sievert, Bühnenbildentwurf zu Die Jungfrau von Orleans, Frankfurt am Main, 1923.

Ritterschar zu einem eindrucksvollen Spalier versammelt. Die so entstandene freie Gasse im Bildzentrum lenkt den Blick des Betrachters auf eine abstrahierte Turmarchitektur im Hintergrund. Das Kirchenportal der Reimser Krönungskathedrale ist hier lediglich durch neun schmucklose Spitztürme angedeutet. In der Tiefe der Bühne vervielfachen sich die Zacken, wodurch die Architektur sich im Endlosen zu verlieren scheint.780 Anhand des Entwurfs bleibt unklar, ob letztlich eine gebaute Architektur, zum Beispiel aus Glas, Aufstellung fand oder ob der Effekt der Auflösung durch lichtdurchlässige Stoffbahnen suggeriert werden sollte. Da Sievert dieses Prinzip auch in anderen Inszenierungen umsetzte, ist anzunehmen, dass er den Eindruck der Entmaterialisierung mithilfe von Schleiern zu steigern suchte: Die Uniformen der acht Soldaten in der ersten Reihe sind in kräftigen Farben und mit klaren Konturen ge780 Für die Pariser Inszenierung Jeanne d’Arc im Sommer 1925 konzipierte Norman Bel Geddes ein Bühnenbild, das einige Parallelen zu Sieverts Entwurf für die Krönungsszene aufweist. Die Verwendung eines Treppenpodests, die kubischen Formen, die Staffelung der Ritter, die Andeutung der Kathedrale im Hintergrund sowie die Lichtregie zeugen von einer ähnlichen Disposition des szenischen Raums. Für Abbildungen siehe Ausst.-Kat. Austin 2012, S. 31 u. S. 198 f. Vgl. auch Innes 2005, S. 157 f. u. Larson 1989, S. 79. Auf den kulturellen Austausch zwischen Deutschland und Amerika kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden. Nachweislich traf Bel Geddes den deutsch-jüdischen Architekten Erich Mendelsohn 1924 in den USA. Vgl. Ausst.-Kat. Austin 2012, S. 117. Es ist darüber hinaus anzunehmen, dass Bel Geddes durch Max Reinhardt mit den expressionistischen Tendenzen im Deutschen Theater Berlin in Berührung kam. Bezeichnenderweise löste die Inszenierung unter den Kritikern eine ähnliche Irritation aus wie schon Tauts Bühnenbild. Der Einsatz von Treppenpodesten und Beleuchtung erinnert außerdem an die Raumexperimente Adolphe Appias. Vgl. Carnegy 2006, S. 197. Siehe hierzu auch Kapitel 3.4 sowie Kapitel 4.2. Zur Zusammenarbeit von Reinhard und Bel Geddes vgl. ausführlich Kapitel 2.2.

3.3  Bruno Tauts gläserne Kathedrale für Die Jungfrau von Orleans (1921)       241

malt, jene in den hinteren Reihen sind nur lasierend angedeutet.781 In seinen Ausführungen zur neuen Theaterarchitektur hatte Bruno Taut empfohlen, den starren Vorhang durch durchsichtige Stoffe zu ersetzen, um die strikte optische Trennung von Spiel- und Zuschauerraum zu mindern: »Der Vorhang [...] muß nur wie ein Schleier empfunden werden, der gleichsam zu dem Erwarteten hindurchsehen läßt.«782 Der Gazestoff war seit dem späten 19. Jahrhundert ein beliebtes Material der Szenografie, um mit der Wahrnehmung der Zuschauer zu spielen: Einerseits gibt er den Blick frei auf ein Geschehen, das scheinbar noch im Verborgenen bleibt. Frontal in das Scheinwerferlicht getaucht, entwickelt das Material jedoch andererseits eine solch intensive Strahlkraft, wodurch eine freie Sicht auf die Bühne unmöglich wird. Jenes Spannungsverhältnis zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren ist ebenfalls in der Farbwahl Sieverts angelegt: Das Spektrum aus Gelb-, Gold- und Silbertönen der eigentlichen Szene setzt sich deutlich von dem leuchtenden Blau des Bühnenrahmens ab. Auch wenn die heilige Johanna im Entwurf nicht sichtbar dargestellt ist, lässt die bildimmanente Spannung ihren Auftritt in der Mitte des Podiums erahnen. Mithilfe eines gleißenden Scheinwerfers wurde die Märtyrerin von ihrer weltlichen Umgebung abgesetzt und als heilige Lichtgestalt inszeniert. Die Beschreibung des Entwurfs durch den Zeitgenossen Ludwig Wagner (nicht ermittelbar) liest sich wie ein musikalischer Akkord aus Farbe und Licht: Die Kathedrale, die zum Symbol des Göttlichen selbst wird, schwimmt in mystischem Blauviolett, in lyrischen Helligkeiten und verzückten Tönen, in zerfließendem Lichtdämmer, die überirdische Melodie singt in die Welt der Endlichkeit herein, wölbt sich in verschwimmender Weite zu einem leuchtenden Lichtdom der Farbe, die in letzten übersinnlichen farbigen Ekstasen aufglüht. [...] Alles scheint sich in strahlendes Weiß aufzulösen, die Wände verfließen, von oben strahlt unermessliches Licht, das aus erhabener Höhe auf die Heldin Johanna stürzt und sich auf sie konzentriert.783

Das Zusammenspiel von Schleiern, szenischer Beleuchtung und symbolischer Farbgebung erweckte den Eindruck, als verflüchtigten sich die scheinbar stabilen Raumgrenzen der Kathedrale in eine Sphäre der Transzendenz. Vergleicht man Bruno Tauts und Ludwig Sieverts Raumkonzept, so wird deutlich das letzterer sich für eine seiner Zeit angepasstere Szenografie entschied. Im Moment der Inszenierung der Heiligen verschränkten sich die expressionistischen Gestaltungsstrategien mit kulturell tradierten Strategien der sakralen Aufladung zu einem harmonischen Gesamteindruck.

781 Vgl. Schultes 1981, S. 262. Auch in Sieverts Bühnenbild für den Gralstempel der Freiburger Parsifal-Inszenierung von 1914 kamen Gazeschleier zum Einsatz. Vgl. hierzu die Vorrede zu Kapitel 4.1. 782 Taut 1919b, S. 206. 783 Wagner 1926, S. 112 f. Siehe hierzu auch Runge 1962, S. 120 f. Vgl. auch Bork 2006, S. 44– 46, die allerdings die Beschreibung Wagners nicht mit dem erhaltenen Bühnenbildentwurf aus dem Bestand der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln in Verbindung bringt.

242       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

3.4 Zwischenfazit: Eine Kathedrale der Zukunft? Bruno Tauts Inszenierungskonzept für Die Jungfrau von Orleans, sein Glashaus und die von Paul Scheerbart angeregten kristallinen Architekturen, allen voran das Architektur-Schauspiel Der Weltbaumeister, sowie auch das Bühnenbild Ludwig Sieverts sind im Anschluss an Richard Wagner als Gesamtkunstwerke aus Glas, Licht, Farbe, Klang und Raum zu fassen. Sie sollten das Perzeptionsverhalten von Betrachtern und Zuschauern auf eine noch nie dagewesene Weise anregen. Mit der Inszenierung von Schillers Stück als mystische Heiligenlegende erreichte Taut die zu diesem Zeitpunkt größtmögliche Form der Entmaterialisierung der Szene. Am Deutschen Theater konnte der Architekt sein theoretisches Konzept des grenzenlosen Theaterraums, das er während seiner Arbeit am Weltbaumeister entwickelte, erproben. Abstrakte Glaselemente, gleißende Lichtkegel und wechselnde Farbkontraste bildeten einen transparenten Magneten, der das Publikum in seinen Sog aufnehmen und in das Bühnengeschehen hineinziehen sollte. Darüber hinaus erwies sich die Entmaterialisierung des Heiligen als seine zentrale ästhetische Strategie. Indem Taut die Medien und Symbole des Sakralen in kristallinen Formen und Lichtbrechungen zerlegte, löste er das Referenzsystem der gotischen Kathedrale mit seiner atmosphärischen Lichtsituation in eine sinnlich-affektive Spur auf. Der affektive Habitus einer liturgischen Zeremonie in einem Kirchenraum diente ihm lediglich als Fluchtpunkt für die Hervorbringung eines neuen affektiven Raums, jedoch nicht als konkrete Bezugsfolie. Der Vergleich mit Max Reinhardts Mirakel-Inszenierung konnte aufzeigen, dass es Taut nicht um einen religiös konnotierten Transformationsprozess des Publikums in eine ästhetische Gemeinde ging, der Reaktionen von Andacht und Ergriffenheit auslösen sollte. Taut zielte auf eine andere Form der transzendentalen Grenzerfahrung: Das Ineinandergreifen künstlerischer Gestaltungselemente sollte einen sinnlichkörperlichen Rauschzustand hervorrufen, durch den die Wahrnehmungssensoren ausgereizt und der Geist für eine neue Kunstform erweitert werden sollten. Dabei wurde der Heiligenschein zu einer visuellen Metapher eines abstrakt-vergeistigten Architektur-, Kunst- und Theaterverständnisses. Als Schnittstelle zwischen Realität und Imagination eröffnete das Theater Taut einen Möglichkeitsraum, durch den sich seine Kunst- und Weltauffassung artikulieren ließ. Auch wenn die Analyse der Rezeptionsdokumente aufgetan hat, dass Tauts Überreizung der Sinneswahrnehmung das Publikum irritierte, so demonstrierte er der Öffentlichkeit doch einen in die Zukunft weisenden Ansatz, der seinem künstlerischen Selbstverständnis entsprach. Ohne dass Taut bereits den Kontakt zur zeitgenössischen Theaterszene gesucht hatte, zeugen seine zwischen 1914 und 1920 imaginierten wie realisierten Glasbauten von einem fortwährenden Wechselspiel von Architektur und Theater. Mit dem Glashaus setzte eine ganz spezifische Form der Theatralisierung ein, die Regine Prange mit dem Begriff des »Bewegungsspiels«784 treffend beschrieben hat: Ausgehend 784 Prange 1994, S. 72. Zum Vergleich der Bewegung durch das Glashaus mit einem szenischen Ablauf, den die Architektur als Regisseur vorgibt, siehe auch Hartmann 2001, S. 63 u. Ausst.-Kat. Berlin 1993, S. 26–28 u. S. 67–70. Taut selbst setzte seine Architektur mit einer Komposition gleich, aus der eine feste Bewegungsrichtung hervorgeht. Vgl. Taut, Bruno,

3.4  Zwischenfazit: Eine Kathedrale der Zukunft?       243

von dem formbaren, transparenten und mannigfache Farbwerte reflektierenden Baumaterial Glas entwarf Taut dynamische Ausstellungs- beziehungsweise Erlebnisarchitekturen. Im Glashaus erzeugten Glas, Licht und Farbe konstant wechselnde, simultan auftretende synästhetische Wahrnehmungseindrücke. Im Prozess der Entmaterialisierung sollte ein Raumeindruck evoziert werden, der nicht von greifbaren Orientierungspunkten, sondern von affektiv erlebbaren Sinnesreizen gesteuert wurde. Für die Erlebnisarchitektur des Glashauses war überdies die spezifische Topografie des Ausstellungsgeländes von besonderer Bedeutung. Die multisensorischen Assoziationen mit dem Kölner Dom, die die Wahrnehmung der Besucher der Werkbundausstellung unweigerlich vorprägten, wurden in der vorangehenden Analyse eingehend untersucht. Darüberhinaus befand sich Tauts Pavillon in unmittelbarer Nähe zu einem Vergnügungspark mit Fahrgeschäften auf dem neuesten technischen Stand. In der Verbindung dieser sakralen und profanen Topografie sollte im Glashaus ein außeralltägliches Erfahrungsmoment erzeugt werden, wie es später auch in der Jungfrau-Inszenierung intendiert war, »a spatio-temporal experience that would [...] add an aesthetic and symbolic meaning to the homogenous, banal space of the industrial city«.785 Eine Steigerung des Bewegungsmoments vollzog Taut mit dem kosmischen Architektur-Schauspiel Der Weltbaumeister, in dem seine architektonischen Visionen und seine Theaterambitionen noch stärker ineinandergriffen: Darin tritt die belebte, erstarrende und wiederbelebte Architektur anstelle eines menschlichen Schauspielers mit dem Zuschauer in eine theatrale Interaktion. Auch wenn Tauts Bühnenbildentwürfe von einer großen Berücksichtigung technisch-konstruktiver Details zeugen und er den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt in seinen Schriften und künstlerischen Projekten reflektierte, interessierten ihn technische Funktionen nur marginal. Wie auch in Scheerbarts fiktiven Glasarchitekturen wurden Errungenschaften der alltäglichen Lebenswelt wie Elektrizität, künstliches Licht und Magnetismus für ein ästhetisches Anliegen metaphorisch aufgeladen und idealisiert.786 Als Alternative zur Steinbauweise repräsentierten Glas und Licht mit ihren flexiblen und ephemeren Materialeigenschaften das Potenzial zur Veränderung der aktuellen Lebenswelt und ihrer Bewohner. In der Umwertung der sakral aufgeladenen Licht- und Kristallsymbolik, der gotischen Kathedralarchitektur sowie des christlichen Heilversprechens suchten die Künstler und Theatermacher mit den bestehenden Konventionen zu brechen, die Grenze ihrer Gattungen auszuloten und eigene abstrakte Kompositionen zu erproben, um eine neue Kunstauffassung öffentlich zu legitimieren. Doch ging es ihnen um mehr, als radikale Umwälzungsprozesse in Architektur, Kunst und Theater anzustoßen. Durch ihre sakrale, spirituelle und symbolische Aufladung zum Kristall wurde die Glasbauweise nicht nur als Architektur der Zukunft ausgerufen, sondern vielmehr zum Träger der Erneuerung von Kunst, Kultur und Gesellschaft auserkoren. »Erläuterungsbericht zur Errichtung eines Glashauses auf dem Ausstellungsgelände in Cöln am Rhein, 7. Feburar 1914«, zit. n. Ausst.-Kat. Tokyo 1994, S. 126. 785 Ersoy 2011, S. 128. Vgl. hierzu auch Anger 2016, S. 160; James-Chakraborty 2000, S. 45 u. Ausst.-Kat. Berlin 1993, S. 18–22. Zur Topografie heiliger Szenen vgl. auch die Kapitel 1.4 u. 4.1. 786 Vgl. Krauter 1998, S. 137 u. Haag Bletter 1975, S. 92 u. S. 97.

244       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

Schon Peter Behrens’ Anspruch, die gesamte Lebenswelt zu ästhetisieren und ihr so eine höhere symbolische Bedeutung zu verleihen, stellte eine große künstlerische Herausforderung dar. So blieb die Mathildenhöhe mit ihren Künstlerhäusern letztlich eine ideale Modellstadt, die um 1900 in Deutschland zunächst keine weitere Nachahmung fand. Der Architekturhistoriker Stanford Anderson hat den Modellcharakter der Eröffnungsausstellung als große Kulisse für das Spiel einer neuen Kultur von und für eine neue Elite bezeichnet, das sich im Moment des Scheiterns als bloße Staffage entpuppen würde: The endeavor to dramatize the world, to make the whole of life artistic, to make every act symbolic, was a high goal. But it was an endeavor in constant danger of destroying that which it most highly valued. [...] What was meant to be artful risked being only artificial.787

Dennoch knüpften Bruno Taut, Walter Gropius und ihre Zeitgenossen in den Jahren um den Ersten Weltkrieg mit ihrer Vision der kristallinen ›Zukunftskathedrale‹ ganz gezielt an die Idee des Zusammenschlusses von Kunst und Leben an. In diesem Topos überlagerte sich Behrens’ Kulturauffassung mit einem akut politischen, sozialistisch geprägten Zeitgeist, der im Winter 1918/19 mit der Novemberrevolution in der Auflösung des Kaiserreiches und der Ausrufung einer parlamentarisch-demokratischen Republik seinen Höhepunkt fand. Mittels ihrer kristallinen Formen- und Symbolsprache verklärten Taut und seine Zeitgenossen die gotische Kathedrale, in deren Bauweise sie den Prozess der Entmaterialisierung erstmals formvollendet sahen, als das absolute Symbol einer idealen Lebenswelt, durch das die neue Auffassung von der Gesellschaft als Gesamtkunstwerk Ausdruck fand: Wie die Kathedrale der Zukunft in der Zusammenarbeit von Architekten, Künstlern, Handwerkern und dem Volk erbaut würde, so sollte die gesamte Lebenswelt ästhetisch überhöht werden.788 Unter dem Topos der Zukunftskathedrale wurde die Architektur zu einem gattungsübergreifenden Organisationssystem auserkoren, das nicht nur die Künste und das Kunsthandwerk zusammenzubringen, sondern vielmehr die Erfahrung sozialer Kollektivität auszulösen vermochte.789 Dabei dachten Taut, Gropius und ihre Zeitgenossen Wagners Vision des Gesamtkunstwerks im Sinne einer Konzentration aller Disziplinen zu einer einzigen künstlerischen Ausdrucksform weiter: »Das letzte, wenn auch ferne Ziel ist das Einheitskunstwerk – der große Bau –, in dem es 787 Anderson 1990, S. 131. Vgl. auch Maciuika 2005, S. 37 f. Siehe hierzu auch Kapitel 1.4. 788 Vgl. u. a. Roberts 2011, S. 159–164; Stavrinaki 2011, S. 254–267 u. Wagner 2005, S. 383 f. Zur politischen Dimension der Gesellschaftsutopie, die sich auch im ursprünglichen Titel von Feiningers Holzschnitt – Die Kathedrale des Sozialismus – manifestiert, siehe ausführlich Werner 1986. Zwar teilten Behne, Gropius und Taut die Idee der Zukunftskathedrale, in ihren Auffassungen waren jedoch die symbolische beziehungsweise soziale Funktion durchaus unterschiedlich ausgeprägt. Vgl. Bushart 2003, S. 111–115. Siehe weiterführend Fornoff 2004, hier besonders S. 436 f. u. Bushart 1990, S. 188–195. 789 In der Vorstellung des Gemeinschaftslebens äußert sich eine spezifische Gotik-Rezeption, die auf die Forschungen Anton Wachsbergers zurückgeht. Dieser erachtete den Gemeinschaftswillen und das Kollektiverlebnis als »Fundamente der Gotik«. Wachsberger 1919, S. 8. Vgl. hierzu Bushart 2003, S. 116.

3.4  Zwischenfazit: Eine Kathedrale der Zukunft?       245

keine Grenzen gibt zwischen monumentaler und dekorativer Kunst«.790 In seiner immateriellen Erscheinung wurden sakral aufgeladene Architekturen gleichsam zum Sinnbild einer ideellen Auffassung von der Grenzen überschreitenden Menschheitsgemeinschaft als Einheitskunstwerk. Der Gegenentwurf zu dem säkularisierten Gesellschaftsmodell kulminiert in Tauts Weltbaumeister in der Erschaffung einer »neuen geistig-abstrakten Welt«.791 Verblieb die architektonische Zukunftskathedrale vielfach als utopisches Imaginationsmodell, schien im ›Theater der Zukunft‹ unter der Beteiligung aller Künste das neue Einheitskunstwerk realisierbar. So stellte das Theater für Gropius ein der Architektur gleichwertiges Organisationssystem dar: Wie im Bauwerk alle Glieder ihr eigenes Ich verlassen zugunsten einer höheren gemeinsamen Lebendigkeit des Gesamtwerks, so sammelt sich auch im Bühnenwerk eine Vielheit künstlerischer Probleme, nach diesem übergeordneten eignen Gesetz, zu einer neuen größeren Einheit.792

Im Gründungsmanifest des Bauhauses rief Gropius zur »[g]emeinsamen Planung umfangreicher utopischer Bauentwürfe  – Volks- und Kultbauten  – [...] mit dem Ziel allmählichen Einklangs aller zum Bau gehöriger Glieder und Teile« auf.793 Es verwundert daher kaum, dass diese Volks- und Kultbauten, die ein höheres kollektives Erleben von Gesellschaft und Kunst erfahrbar machen sollten – diese Bauwerke der Zukunft – häufig als Theater oder Festspielhäuser imaginiert wurden. Eine ›Kathedrale der Zukunft‹ nannte Adolphe Appia das innovative Festspielhaus, das der Architekt Heinrich Tessenow (1876–1950) als kulturelles Zentrum der Gartenstadt Hellerau bei Dresden realisiert hatte. Es entstand ein rein funktionaler, hallenartiger Aufführungsraum, der auf eine vorgegebene Bühnenarchitektur gänzlich verzichtete.794 In Zusammenarbeit mit dem Maler und Techniker Alexander von Salzmann (1874–1934) transformierte Appia den Aufführungsraum in einen regelrechten »Lichtraum«795: Die Decke und Wände waren vollständig mit weißen, transparenten Stoffbahnen ausgekleidet, hinter denen Tausende von Glühbirnen versteckt war. Mithilfe dieser innovativen Lichtanlage, die von einem einzigen Techniker gesteuert wurde, ließen sich nicht nur mannigfache individuelle Lichteffekte 790 Gropius, Walter, »Bauhaus-Manifest« [1919], in: Wahl 2009, S. 97. Siehe auch Arbeitsrat für Kunst 1919, S. 31. Vgl. hierzu Roberts 2011, S. 159; Fornoff 2004, S. 447–449 u. Gutschow 2006, S. 66. 791 Prange 1994, S. 80. 792 Gropius 1923, S. 10. 793 Gropius, Walter, »Bauhaus-Manifest« [1919], in: Wahl 2009, S. 98. Vgl. hierzu auch Bushart 2003, S. 114–116. 794 Vgl. Appia 1963, S. xiii. Siehe hierzu weiterführend u. a. Sonntag 2011; Streisand 2005, S. 256–261; Haller 2002, S. 150–152; James-Chakraborty 2000, S. 73–76 u. De Michelis/ Bilenker 1990. 795 Salzmann umschreibt den Aufführungsraum als »leuchtenden Raum«. Salzmann 1913. Matthias Schirren führt diesen Lichtraum als Referenzbeispiel für Tauts Glashaus auf. Vgl. Schirren 1993, S. 122 f.

246       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

Abb. 110: Adolphe Appia, Espace rythmique: La clairière, 1909.

Abb. 111: Erna Lendvai-Dircksen, Szenenfotografie zu Die Verkündigung, Hellerau, 1913.

von einer punktuellen bis zu einer diffusen Beleuchtung erzielen, sondern auch die Bühne und der Zuschauerraum in einem dem Sonnenlicht ähnlichen Lichtzustand vereinen. In Appias Entwurfsserie Espace rythmique wird der Festsaal zu einem Bewegungsraum, in dem die Musik und die Bühnenbeleuchtung die Bewegung der Darsteller und Tänzer bestimmte (Abb. 110).796 Der Schweizer Bühnenbildner und der Musikpädagoge Émile Jaques-Dalcroze (1865–1950) arbeiteten gezielt mit dem performativen Potenzial des Lichts, das von allen Seiten reflektiert wurde und so als kontinuierliches Schwingen empfunden werden sollte. Auf diese Weise bezweckten sie, eine Einheit zwischen den Akteuren und Zuschauern herzustellen und das Publikum zu einer aktiveren Teilhabe an der Aufführung anzuregen.797 George Bernard 796 Die Lichtanlage wurde von der Firma Siemens-Schuckert gebaut. Streisand verweist zudem auf Salzmanns Plan, eine farbige Lichtorgel einzusetzen, die mit den Klängen der Musik korrespondieren sollte. Vgl. Streisand 2005, S. 230–233 u. S. 257–259. Zum Festspielhaus in Hellerau und dem Projekt Espace rythmique siehe auch Baugh 2014, S. 108–110; Schmidt 2012, S. 171 f.; Jacobs 2008, S. 98 f. u. Nehring 2004, S. 26 f. u. S. 40. Zur Lichttheorie Appias siehe Kapitel 4.2. 797 In seinem Essay »Zum neuen Theaterbau« spricht sich Taut ebenfalls für die Installation eines Lichtpults aus, von dem aus die Beleuchtung im Spiel- wie Zuschauerraum zeitgleich gesteuert werden kann. Vgl. Taut 1919b, S. 206. Manfred Brauneck hat auf Appias Experi-

3.4  Zwischenfazit: Eine Kathedrale der Zukunft?       247

Abb. 112: Hans Scharoun, ohne Titel, undatiert.

Shaw (1856–1950) berichtet 1913 von einer unwirklichen Lichtsituation, die das Raumgefüge nicht nur entmaterialisiert, sondern vielmehr unendlich erschienen ließ: »Man brauchte nur noch einen durchsichtigen Boden mit Lichtern darunter, dann könnte man alles Himmlische aufführen.«798 Eine besondere Wirkungskraft sollte dieser ›Lichtraum‹ in der Aufführung von Paul Claudels (1868–1955) Verkündigung entfalten (Abb. 111). Die Inszenierung arbeitete mit einer Strategie, die Bruno Taut wenige Jahre später auch am Deutschen Theater verfolgen sollte: Ein farbiger Lichtbogen und ein Lichtkreuz wurden als visuelle Metaphern des Heiligen eingesetzt.799

mente mit der Lichtverteilung im Festspielhaus Hellerau verwiesen, die Taut durchaus gekannt haben könnte. Vgl. auch Brauneck 1987, S. 27. Appias Szenenentwürfe waren zudem auf der Werkbundausstellung in Köln 1914 zu sehen. Vgl. Grosse 1984, S. 289 f. 798 Shaw/Patrick Campbell 1953, S. 147. Für eine vergleichbare Reaktion siehe Seidl 1912, S. 13. 799 Siehe Claudel 1913. Vgl. hierzu auch Haller 2012, S. 151 u. weiterführend Jacobs 2008, S. 102–110. Für Dezember 1913 plante Claudel eine weitere Aufführung in Berlin in Zusammenarbeit mit Max Reinhardt. Dieses Vorhaben wurde allerdings nicht realisiert. Zur einheitsstiftenden Kraft von Licht und Klang in der Mirakel-Inszenierung siehe Kapitel 2.1.3.

248       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

Im Jahr 1920 skizzierte Hans Scharoun in seinem Essay »Gedanken zum Theaterraum« ein in Farben, Formen, Klängen und Licht kristallisierten Spielraum, in dem die Trennung zwischen Bühne und Schauspieler gänzlich aufgelöst scheint. Angeregt durch die multisensorischen Impulse sollte die Partizipation des Publikums im Kollektiv ausgelöst werden: Form, gemeinschaftliches Bewußtsein und gemeinsames Erleben in Haus, Ding und Mensch sind einheitliches Wiederspiel unseres Zeitsehnens: Einen Kunst und Leben. ›Ein‹ Mensch im Angesicht eines andern, gereicht in Kreise, in mächtig schwingendem Bogen um strebende Kristall-Pyramide. Raum: aus Schwarz und Blau wühlend durch 1000 Farbsprühen; zum silbergelben Stern emporschwingend; in Bogen, Rippen, Vorsprung und Aushöhlung aus dunkler Masse zu beschwingter Reinheit hinantastend, sich selbst und erwartungsheißer Volksmenge Aufstieg und Krone weisend.800

Scharouns Ideenskizze weist nicht nur in den Sprachbildern zahlreiche Verbindungen zu Bruno Tauts Weltbaumeister auf. Zur selben Zeit entwirft der Architekt eine Reihe von Kultbauten, die in einem unmittelbaren Austausch mit Taut entstanden sein müssen. Aufgetürmte gezackte Bauelemente in mannigfachen Farbtönen verleihen der oben beschriebenen ›Kristall-Pyramide‹, deren Silhouette augenscheinlich der des Glashauses nachempfunden ist, einen architektonischen Ausdruck (Abb. 72 u. Abb. 112).801 In jenen Konzepten traten Entwürfe für neue Gebäudeformen mit neuen Inszenierungsformen in einen engen Dialog. Als Orte, an denen sich die neue Kultur manifestierte, sollten die Kultbauten eine spezifische Sakralisierung erfahren. In der Symbolfunktion von Architektur und Topografie orientierten sich die Künstler und Theatermacher dieser Generation, wie auch Prange aufgezeigt hat, an Wagners Festspielhaus in Bayreuth als »Urbild aller kommenden ›Volkshäuser‹«.802 Dabei wurde für Taut und seine Zeitgenossen die Einheit von Akteuren und Zuschauern zu einem zentralen Konstruktionsprinzip der neuen Theaterarchitektur. Der Idee der Verschmelzung von Kunst und Volk im Theater der Zukunft wohnten gleichzeitig auch die Forderung nach der aktiven Teilnahme des Publikums an der Aufführung und das Ziel eines außeralltäglichen Kollektiverlebnisses inne. Das Kunsterlebnis des Publikums sollte die Erinnerung an die partizipierende Gemeinde in der Kirche wachrufen, schien jedoch die feierliche Atmosphäre einer Gottesdienstfeier in einen tranceartigen, ekstatischen Zustand steigern zu wollen.803 In diesem Sinne findet auch das von Matthias Warstat und Erika Fischer-Lichte formulierte Konzept der theatralen Gemeinschaft eine neuerliche Ausprägung. Doch wie bereits im Fall der Mirakel-Inszenierung gilt es auch für die spezifische Idee des ›Volkstheaters‹ eine Erweiterung des Definitionsbereichs in Erwägung zu ziehen. Während Warstat und Fischer-Lichte die theatrale Gemeinschaft klar abgrenzen von einer politischen

800 Scharoun 1920. 801 Vgl. hierzu Brinitzer 2006, S. 346–348 u. S. 360–368 u. Pehnt 1998, S. 146 f. 802 Prange 1994, S. 71. Vgl. auch Roberts 2011, S. 162.; Fornoff 2004, S. 395 f. u. die Kapitel 1.4 u. 4.1. 803 Vgl. Taut 1919b, S. 205 u. 208. Siehe hierzu auch Bushart 2003, S. 115 f.

3.4  Zwischenfazit: Eine Kathedrale der Zukunft?       249

Ideologie, darf das von der sozialistischen Idee des Volksstaates motivierte Volkstheater nicht verkannt werden. »Als Kunstsymbol richtet sich das neue Theater [...] an ein ideales Kollektiv.«804 Architektur, Kunst und Theater wurden zu einer Bezugsfolie für ein Konzept von Gemeinschaft, das als Gegenentwurf zur aktuellen politischen Situation konzipiert war, dabei dennoch einer spezifischen Gesinnungshaltung unterlag. Bereits in der Zusammenarbeit von Georg Fuchs und Max Reinhardt war die Idee des Volksfestspiels gereift. In der »Zusammenfassung eines Theaterraumes von Tausenden zu einer Gemeinsamkeit von mithandelnden, mitgerissenen und mitreißenden Bürgern und Volksgenossen« imaginierte Karl Gustav Vollmoeller das von Hanz Poelzig für Max Reinhardt entworfene Große Schauspielhaus als eine Kultstätte des Volkes.805 Während Fuchs jedoch für eine Erneuerung der Kultur eintrat, strebte Reinhardt mit seinem ›Theater der Fünftausend‹ nach der Ästhetisierung des Massenspektakels. Da beispielsweise sein Repertoire fest in der bildungsbürgerlichen Kultur verankert blieb, initiierte Reinhardt ein die sozialen Grenzen überschreitendes Volkstheater letztlich nicht.806 Schlussendlich zielte auch Gropius’ Gründungsidee, »das Bauhaus als eine in sich abgeschlossene elitäre Gemeinschaft aufzubauen, die als Bewahrer eines Glaubenskernes die kommende Architektur und das große strahlende Kunstwerk mitgestalten konnte«,807 auf das Prinzip der Selektion. Die Idealisierung und Ästhetisierung der Lebenswelt durch Künstler wie Peter Behrens sowie die utopischen Visionen der Expressionisten um Bruno Taut und des frühen Bauhauses hielten vor den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen ihrer Zeit nicht lange stand. Vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Finanzkrise in den späten 1920er Jahren und den politischen Unruhen mit bürgerkriegsähnlichen Straßenkämpfen, gegen die die Weimarer Republik nur mühsam bestehen konnte, waren solche künstlerischen Ziele kaum mehr vertretbar. Die Idee des großen Zukunftsbaus und der Synthese der Künste sowie das pazifistische Streben nach einer besseren, friedlicheren und geeinten Gesellschaft unter Rückbesinnung auf die Kunst und Kultur des Mittelalters erwiesen sich schlussendlich als eskapistische Versuche.808 Statt Repräsentationsbauten wandten sich die Architekten um Bruno Taut zwangsläufig akuteren gesellschaftlichen Problemen zu. Die groß angelegten Wohnsiedlungen wurden als wichtigste Bauaufgabe des Sozialismus deklariert, obschon dieser sich als politische Ausrichtung zu diesem Zeitpunkt nicht durchsetzen

804 Prange 1994, S. 75. Siehe hierzu auch Finger/Follett 2011, S. 4 u. Junghanns 1979, S. 306. 805 Vollmoeller 1920, S. 21. 806 Realisierung fanden Reinhardts und Vollmoellers Vorhaben letztlich nie. Vgl. hierzu Merkel 2012, S. 189 f. u. Fischer-Lichte 1993, S. 276–279. Zu den Festspielauffassungen von Peter Behrens, Georg Fuchs und Max Reinhardt siehe auch die Kapitel 1.3, 1.4 u. 2.1.1. Zu den Parallelen von Poelzigs Architektur und Tauts Weltbaumeister siehe auch Kapitel 3.2. 807 Fischer-Lichte 2000, S. 18. 808 Vgl. Haag Bletter 1981, S. 40. Zur Eskapismusdebatte siehe auch Ersoy 2011, S. 110; Nagel 2012, S. 248; Stavrinaki 2011, S. 266 f.; Maciuika 2005, S. 291 f.; Bushart 2003, S. 120 u. Giebeler 1996, S. 31.

250       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

Abb. 113: Peter Behrens, Dombauhütte, München, 1922.

konnte.809 Stellvertretend für die Neuausrichtung des Bauhauses formulierte Oskar Schlemmer (1888–1943) im Juni 1922 einen architektonischen Pragmatismus: »Abkehr von der Utopie. Wir können und dürfen nur das Realste, wollen die Realisation der Ideen erstreben. Statt Kathedralen die Wohnmaschine. Abkehr also von der Mittelalterlichkeit und vom mittelalterlichen Begriff des Handwerks.«810 Mit diesem wirklichkeitsbezogeneren Anwendungsgebiet änderte sich unweigerlich nicht nur die Formensprache der Künstler oder die Rhetorik der Kunstkritik, sondern auch ihre Lesart der Religion und der Kunst des Mittelalters, wie ein Essay Adolf Behnes in der Zeitschrift Frühlicht demonstriert: Als nach Kriegsende die Welle des Utopischen [...] auch die jungen Architekten ergriff [...], war das als Folge der langen Isolierung, als Reaktion des Gefühls auf die Nutzlosigkeit der geopferten Jahre verständlich. Aber wohl alle Utopisten haben inzwischen vom Kult des Phantastischen zum Lebendigen und zur Selbstbesinnung zurückgefunden.811

Am Beispiel der von seinen Zeitgenossen überaus kritisch aufgenommenen Dombauhütte, die Peter Behrens 1922 anlässlich der Deutschen Gewerbeschau in München errichten ließ (Abb. 113), hat Alexander Nagel die plötzliche Abwendung von der Mittelalterbegeisterung in zentralen kunsttheoretischen Schriften ausführlich erörtert. Worin einstige Verfechter wie Adolf Behne und Wilhelm Worringer vormals die Erneuerung von Kunst, Kultur und Gesellschaft prognostizierten, taten sie

809 Vgl. Ersoy 2015, S. 159–163; Nicolai 2015, S. 50; Hoormann 2007, S. 151; Whyte 2004, S. 268 u. Prange 1994, S. 90. Für zeitgenössische Abhandlungen siehe Korn 1929 u. Schulze 1929. 810 Schlemmer, Oskar, Tagebucheintrag vom Juni 1922, in: Schlemmer 1977, S. 59. 811 Behne 1921/22, zit. n. Conrads 1963, S. 127.

3.4  Zwischenfazit: Eine Kathedrale der Zukunft?       251

Abb. 114: Walter Gropius, Entwurf für ein Totaltheater, Grundriss mit peripherer Spielfläche, 1926/27.

es wenige Jahre später als inhaltslose Spielerei, als ›manieristische Mode‹ ab.812 Aufgrund ihrer Betonung von Funktionalität, Konstruktion und Mechanik kamen die Materialien Beton, Eisen und Glas allerdings weiterhin häufig zum Einsatz. Darüber hinaus hat Regine Prange auf weitere Berührungspunkte zwischen den ideellen, bisweilen utopischen Architekturentwürfen des frühen 20. Jahrhunderts und der Architektur des Funktionalismus hingewiesen. So wie sich in Behrens’ Ästhetisierung von Gebrauchsgegenständen und in Fuchs’ Betonung des Rhythmischen modernes Industriedesign und Serienproduktion ankündigten, nahmen die Ideen der Gläsernen Kette die »Forderung der inneren Gliederung und Funktion eines Gebäudes in seiner äußeren Gestalt« vorweg.813 Auf diese Weise fand zumindest das Ordnungsprinzip des Kristallinen ein unterschwelliges Fortleben. Iain Boyd White hat argumentiert, dass Bruno Taut sich deshalb von der Theaterarbeit zurückzog, weil er zum einen auf die Ablehnung der Berliner Kritikerschaft reagierte. Zum anderen sei im Augenblick der Realisierung seiner Glasvisionen auf der realen Bühne ein Prozess der Kommerzialisierung und Popularisierung eingetre-

812 Vgl. Nagel 2012, S. 248–251 u. Bushart 1990, S. 186–188. Für diese neue Haltung siehe Behne 1925 u. Worringer 1921. Siehe hierzu weiterführend Haxthausen 1995. Zu Behrens’ Dombauhütte siehe weiterführend Anderson 2008; Giebeler 1996, S. 84–87 u. Behrens 1922/23. 813 Prange 1994, S. 70 u. S. 92 f. Zu den Berührungspunkten von utopischer und sachlicher Architektur vgl. Prange 1993. Im Auftrag der evangelischen Kirche schuf Otto Bartning die Stahlkirche, die 1928 auf der Internationalen Presseausstellung in Köln präsentiert wurde. Durch das Material Stahl und die Referenzen auf die gotische Kathedralarchitektur verbanden sich Modernität und Tradition zu einem Bauwerk, das den Bedürfnissen einer Kirchengemeinde des 20. Jahrhunderts entgegenkam. Rekurrierten die Glaswände von Elisabeth Coester ebenfalls auf die mittelalterliche Glasmalerei, verwiesen sie gleichzeitig auch auf die Entmaterialisierung, die Taut in seinem Glashaus zur Perfektion gebracht hatte. Die beiden Architekten kannten sich durch den Arbeitsrat für Kunst. Vgl. hierzu Akademie der Künste 2017, S. 64–69 u. James-Chakraborty 2000, S. 57–69.

252       3  Szenen aus Licht und Glas: Bruno Tauts Entmaterialisierung des Heiligen

ten, wodurch für Taut das Theater seinen Reiz verloren hätte.814 Tauts Rückzug muss allerdings auch im Kontext der Verschiebung des künstlerischen Interesses gesehen werden, das sich ebenfalls im Theater äußerte. Im Gegensatz zum festlichen Spiel als Ausdrucksform einer »ästhetisch[]-festliche[n] Lebensgestaltung einer friedfertigen Gemeinschaft« wurden vermehrt politisch motivierte Stücke in Szene gesetzt.815 Allen voran der linksorientierte Regisseur Erwin Piscator (1893–1966), der in Berlin das Proletarische Theater als Bühne der revolutionären Arbeiter gegründet hatte, forderte in seinen Aufführungen das Publikum zu politischen Aktionen auf. Gropius plante für Piscator 1926/27 mit dem Totaltheater eine ›Licht- und Raummaschine‹– eine multifunktionale und multidimensionale Bühnenform, »die den Zuschauer nicht mehr als fiktiven Begriff, sondern als lebendige Kraft in das Theater einbezieht« (Abb. 114).816 Durch den Einsatz neuester Bühnentechnik zielten diese Pläne auf eine Überwindung der Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur: Ziel dabei war die Begründung eines multimedialen Massentheaters, das durch die Gestaltung von simultanen Bewegungsrhythmen und Lichteffekten eine neue Perzeptionsweise ermöglichen sollte. [...] Das Totaltheater aktualisierte Formen kultischer Handlungen und Institutionen, und zwar durch Technisierung und Medialisierung der Bühne.817

Die in den Jahren zuvor von Behrens, Fuchs, Reinhardt und Taut etablierte Idee eines Theaters, das eine gesteigerte Erfahrung von Kollektivität auszulösen vermochte, erwies sich gerade für Piscators Intention als überaus produktiv. Dass jene Festspielkonzepte für die Masseninszenierungen der Nationalsozialisten missbraucht und die ästhetisch motivierte theatrale Gemeinschaft von einer völkischen Ideologie einverleibt wurde, gilt es zum Abschluss der vorliegenden Untersuchung noch einmal zu diskutieren.818

814 Siehe Whyte 1982, S. 211. 815 Brauneck 1987, S. 21. 816 Piscator 1986, S. 127. Vgl. auch Piscator 1929. Siehe weiterführend Innes 1972. 817 Hoormann 2003, S. 226 (Hervorh. A. H.). Vgl. hierzu auch Roberts 2011, S. 160; Smith 2007, S. 51–53 u. Fischer-Lichte 1991, S. 20 f. Siehe weiterführend Woll 1984. 818 Siehe hierzu weiterführend Strobl 2009; James-Chakraborty 2000, S. 70–94 u. Lane 1986.

4 Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914 Richard Wagner hatte zu Lebzeiten darüber verfügt, dass der Parsifal ausnahmslos in Bayreuth zur Aufführung gebracht werden sollte. Mit Ausnahme einer Sonderaufführung für König Ludwig II. von Bayern (1845–1886) in München sowie der als widerrechtlich eingestuften Neuinszenierungen der Metropolitan Opera New York 1903 und der Stadsschouwburg in Amsterdam 1905 konnten die Erben den Urheberrechtsschutz für das Bühnenweihfestspiel bis 1913 erwirken. Eine Schutzverlängerung über dieses Jahr hinaus, die Wagners Ehefrau Cosima (1837–1930) durch eine Petition einzufordern suchte, gewährte der deutsche Reichstag nicht. Im Januar 1914 wurde das Werk für Aufführungen außerhalb des Bayreuther Festspielhauses freigegeben, was zu einer Flut von unmittelbaren Neuinszenierungen in den deutschen und europäischen Großstädten führte.819 Die Frage, ob es angemessen sei, Parsifal an anderen Orten in Szene zu setzen, fand einen großen Widerhall durch die zeitgenössische Presse. So würdigte der Musikhistoriker und -kritiker Leopold Schmidt (1860–1927) einerseits die sakrale Aura des Bühnenweihfestspiels und der Festspielstätte Bayreuth, begrüßte andererseits jedoch auch die Tatsache, dass diese mit der Freigabe für ein größeres Publikum erfahrbar werden konnte: Tausende und Abertausende, die nicht nach Bayreuth pilgern konnten, sehen endlich ihren Wunsch erfüllt, das Werk in lebendiger Anschauung genießen zu können [...]. Von allen dramatischen Schöpfungen der Neuzeit [...] geht der ›Parsifal‹ am weitesten in der Darstellung des Heiligen.820

Der Jüngling Parsifal ist auserkoren, den verwundeten König Amfortas zu heilen und die Zeremonie der Gralsenthüllung zu erneuern. Doch erweist er sich zunächst als unfähig, das Ritual im Gralstempel zu verstehen. Er muss erst einige Prüfungen in der westlichen Welt durchlaufen, um seine Tauglichkeit zu beweisen. Erst dann begreift er, zu welcher Tat er berufen ist und wird zum neuen Gralskönig erkoren.821 Die Suche nach dem heiligen Gral entstammt zahlreichen Legenden der europäi819 Bereits im April 1913 brachte das Opernhaus Zürich den Parsifal zur Aufführung, weil der Urheberrechtsschutz nach Schweizerischer Rechtsprechung zu diesem Zeitpunkt auslief. Gleich um Mitternacht des 01.01.1914 feierte in Barcelona die nächste Neuinszenierung Premiere. Als Protestreaktion ließen die Wagner-Erben die Festspiele von 1913 vollständig aussetzen. Vgl. ausführlich Steinhoff 2012, S. 372–394 u. Syer 2005, S. 277–299. Zu der New Yorker Erstaufführung von 1903 siehe auch Kapitel 4.2.2. 820 Schmidt 1914a, S. 193. 821 Siehe Wagner 1907a, S. 324–375.

254       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

Abb. 115: Ludwig Sievert, Bühnenbildentwurf zu Parsifal, Freiburg im Breisgau, 1914.

schen Kulturgeschichte, die seit Anbeginn der Überlieferung christlich-religiös konnotiert waren. Als Grundlage für seine Komposition diente Wagner die höfische Versdichtung Parzival, die Wolfram von Eschenbach (um 1160/80–um 1220) Ende des 12. Jahrhunderts verfasst hatte.822 In Zusammenarbeit mit Paul von Joukowsky und dem Atelier Brückner hatte Wagner für die Uraufführung im Jahr 1882 den Gralstempel als den Prototyp eines sakralen Raums im Theater etabliert, in dem sich ein Erfahrungsmoment von Heiligkeit ereignen konnte (Abb. 13).823 Die Bayreuther Dekorationen wurden bis 1934, als Alfred Roller (1864–1935) die Ausstattungsleitung für die Inszenierung von Heinz Tietjen (1881–1967) übernahm, nicht verändert. Führende Theaterateliers hielten deshalb auch für Aufführungen in anderen deutschen Städten an dem vorgeschriebenen Muster fest.824 Die Aufhebung der Schutzfrist im Jahr 1914 brachte allerdings auch eine Reihe neuartiger Szenografiekonzepte hervor. Wenn auch die grundsätzliche räumliche Disposition des Gralstempels als ein von einer Kuppel umspannter Zentralbau durch das Bayreuther Vorbild fixiert war, lieferten einige Bühnenbildner innovative künstlerische Interpretationen. So zeichnet sich etwa Ludwig Sieverts Säulenhalle für die Neuinszenierung im Stadttheater Freiburg durch eine streng aufgefasste Raumstruktur sowie einen hohen Abstraktionsgrad der Bühnenaufbauten aus (Abb. 115). Die Andeutung 822 In der Gralslegende vereinen sich keltische und christliche Überlieferungen mit alchemistischen Lehren. Für einen Überblick über die Quellen siehe Mertens 2003. In Bezug auf die höfische Versdichtung Wolframs von Eschenbach nahm Wagner eine Reihe inhaltlicher Anpassungen vor, darunter auch in der Namensgebung. So änderte Wagner unter anderem die Schreibweise des Namens ›Parzival‹ in ›Parsifal‹. Zu Wagners Aneignung des ParzivalStoffes vgl. Wapnewski 2011. 823 Für eine detaillierte Beschreibung des Gralstempels der Uraufführung siehe Kapitel 1.4. 824 Dazu zählten u. a. auch die Dekorationen von Kautsky & Rottonara für die Inszenierung am Prinzregententheater in München. Vgl. Kern 2010, S. 154; Bauer 1982, S. 273 f. u. Storck 1914, S. 457.

4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914       255

transparenter Gazeschleier sowie die Konzentration auf blaue, graue und violette Farbnuancen simulieren eine diffuse Beleuchtung, über die eine Atmosphäre der »geweihte[n] Stätte für die heilige Handlung« evoziert werden konnte.825 Der Begriff ›Sakralraum‹, wie er in dieser Arbeit und in der Forschung verwendet wird, bezieht sich auf Bautypen, Gebäudekomplexe und feste Raumstrukturen. Sowohl in den Scheinarchitekturen der Mirakel-Inszenierungen als auch vor Tauts abstrakter Silhouette des Reimser Kirchenportals war die sakrale Atmosphäre gebunden an die konkreten räumlichen Kategorien der gotischen Kathedrale – ihre Formensprache, Größenverhältnisse und charakteristische Lichtwirkung. Das vorliegende Kapitel richtet die Aufmerksamkeit auf eine andere Art von Räumlichkeit – nämlich auf den Gralswald und den Prozess der sakralen Raumwahrnehmung eines Naturschauplatzes. Im Zentrum dieser Analyse stehen neuartige szenografische Konzepte für die Neuinszenierung des Parsifal nach der Bühnenfreigabe von 1914. Das Innovationspotenzial der Aufführungen außerhalb Bayreuths liegt in der Sakralisierung des Waldbildes und der sich anschließenden Verwandlungsszene in den Gralstempel. Schon im Jahr 1913 stellte Ludwig Sievert seine Entwürfe für den Freiburger Parsifal fertig, weshalb diese als zentrale Bezugsfolie des in Deutschland geführten theoretischen Diskurses um eine szenografische Neuausrichtung von Wagners Bühnenweihfestspiel dienten.826 Das erste Szenenbild für die Freiburger Inszenierung zeigt zwei parallel angeordnete, stilisiert aufgefasste und in dunklen Farbtönen gehaltene Bäume auf einem unebenen Gelände vor dem Gralssee (Abb. 116). In diesem Entwurf noch durch einen Windstoß in dieselbe Richtung geneigt und den Strahl des Lichts nachahmend, das im Bildzentrum auf den See fällt, formen die Baumstämme im darauffolgenden Szenenbild einen natürlich gewachsenen Spitzbogen als Eingang in die Gralsburg (Abb. 117). Als einzige architektonische Spur des Gralstempels verbleibt jene gotisch anmutende Säulenstellung auch im zweiten Akt auf der Bühne (Abb. 115). Ludwig Wagner schreibt über diese Überlagerung von Natur- und Sakralraum: »Die Rahmung sich ineinanderschiebender Portalsäulen gibt den architektonischen Zusammenschluß der Szenen. Wald und Kirchensäule werden eins. Auch der Wald wird zu einer Art von mystischem Dom.«827 Die auffällige formale Verbindung, die der Naturschauplatz und die gotische Kathedrale in vielen neuen Inszenierungskonzepten des frühen 20. Jahrhunderts eingingen, hat die Parsifal-Forschung bereits herausgestellt, als zentrale ästhetische Strategie der Sakralisierung ist diese bislang aber nicht näher untersucht worden.828 Dabei interessieren insbesondere zwei Perspektiven: Zum einen soll die Ausbildung eines 825 Niessen 1959, S. 8. Siehe hierzu auch Bornemann 2012, S. 70 u. Wagner 1926, S. 89. Um die herausragende Stellung unter den Neuinszenierungen zu betonen, verweist Niessen auf eine Publikation von Sieverts Entwürfen im Stage Year Book von 1914. Vgl. Niessen 1959, S. 7 u. 9. 826 Vgl. Storck 1914; Stahl 1913/14 u. Stahl 1913a. 827 Wagner 1926, S. 91. Durch einen integrierten Mechanismus konnten die Baumstämme um die eigene Achse gedreht werden und so den Portalbogen bilden. Vgl. Steinhoff 2012, S. 390 u. Stahl 1944, S. 24. 828 Sammelbände und Kompendien beschränken sich meist auf eine kurze chronologische Abhandlung der wichtigsten Neuinszenierungen. Siehe u. a. Steinhoff 2012, S. 387–392; Ashman 2008, S. 248–251; Syer 2005, S. 292–299 u. Bauer 1982, S. 273 f. Eine Ausnahme

256       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

Abb. 116 und 117: Ludwig Sievert, Bühnenbildentwürfe zu Parsifal, Freiburg im Breisgau, 1914.

eigenständigen Bildrepertoires für die Waldszene aufgezeigt werden, die mit dem Verlassen des Bezugsrahmens Bayreuth notwendig wurde. Zum anderen rücken die technischen Herausforderungen in den Blick, die sich für Bühnenbildner, Regisseure und Theatertechniker aus der Ambivalenz der Sakralisierung eines Naturraums im Theater ergeben und zu innovativen technischen Lösungen geführt haben. Beide Perspektiven erfordern eine Rückbindung der Analysebeispiele an die Uraufführung und die besonderen Umstände ihrer Rezeptionsgeschichte. Das mehr als dreißig Jahre andauernde Monopol der Aufführung des Parsifal an einem einzigen Ort verbilden Adolphe Appias Entwürfe für ein nicht-realisiertes Parsifal-Projekt. Siehe hierzu ausführlich Kapitel 4.2.

4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914       257

bleibt als Reibungspunkt für die späteren Inszenierungen, sodass den Fallstudien ein Exkurs nach Bayreuth vorangestellt ist. Während die Literaturlage zur Bayreuther Uraufführung nahezu unerschöpflich ist und auch die Parsifal-Rezeption im Dritten Reich und darauffolgend in der Nachkriegszeit umfassende Beachtung gefunden hat, markieren die Neuinszenierungen außerhalb Bayreuths nach 1914 eine Leerstelle in der theaterwissenschaftlichen Forschung.829 In ihrem Buch Parsifal 1914. Über Heilsbringer, Volkes Wille und die Instrumentalisierung des Krieges stellt Nora Eckert die These auf, dass die Rezeption des Parsifal nach dessen Bühnenfreigabe und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges untrennbar durch eine ideologisch motivierte Form der Sakralisierung verbunden seien. Sie vereine ein gemeinsames »apokalyptische[s] und messianische[s] Denken«, das schließlich den Weg für die Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 geebnet habe.830 Diese Ausgangsthese mündet in eine Analyse des Parsifal als nationales Heiligtum, die durchdrungen ist von dem Wissen um die politische Instrumentalisierung Bayreuths im Dritten Reich. Grundsätzlich ist die Herleitung dieses Zusammenhangs in der Forschung nicht unüblich. So hat beispielsweise der Historiker Gerwin Strobl in seiner Monografie The Swastika and the Stage eine starke Wechselbeziehung zwischen dem Theater der Weimarer Republik und den theatralen Praktiken der Nationalsozialisten aufgezeigt.831 Sicherlich darf eine Studie, die sich mit der Sakralisierung des Parsifal nach 1914 befasst, die Debatte um die Stilisierung des Bühnenweihfestspiels zum ›nationalen Heiligtum‹ nicht außer Acht lassen. Auch drängt sich gerade bei der spezifischen Thematik des ›heiligen‹ Waldes die Frage nach der Instrumentalisierung des ›deutschen Waldes‹ in der nationalsozialistischen Propaganda auf. Es ist jedoch als problematisch einzustufen, die Inszenierungsflut nach der Bühnenfreigabe aus einer vornehmlich ideologischen Motivation zu begründen: Wenn der Blick auf das Jahr 1914 durch gegenwärtige Erkenntnisse über die ideologische Umwertung des Gesamtwerks Wagners durch die Nationalsozialisten zu sehr getrübt wird, rückt der eigentliche kulturhistorische Bezugsrahmen gänzlich in den Hintergrund. Folglich geht diesem Kapitel eine wesentliche Überlegung voraus: Wie kann man die Inszenierungsflut anders betrachten, als durch jene vom Fortgang der Geschichte gefärbte Linse? Mit dem Fokus auf die Sakralisierung des Waldes wird nachfolgend für eine alternative Lesart argumentiert. Aus dem breiten Spektrum der Parsifal-Rezeption wurden mit dem ›Waldtempel‹, der Verwandlungsszene und dem Gralstempel drei Erscheinungsformen des Sakralen herauskristallisiert, die im Zentrum der nachfolgenden Fallstudie stehen. Indem 829 Die Bühnenfreigabe von 1914 gab Anlass für eine umfassende zeitgenössische wissenschaftliche Diskussion. Siehe hierzu u. a. Kaden 1914; Vogl 1914 u. Wirth 1914. Weitere Veröffentlichungen der Schutzfrist-Gegner und -Befürworter finden sich in Steinhoff 2012. Die Wagner-Forschung hat diese Quellen bislang genutzt, um die beiden diametral entgegengesetzten Positionen in der Debatte um den Urheberrechtsstreit zu untermauern. Steinhoff hingegen beleuchtet die Parsifal-Debatte nicht als Gegenüberstellung, sondern als Spiegel eines umfangreichen Diskurses um zentrale kulturpolitische Fragen im späten Wilhelminischen Deutschland. Siehe Steinhoff 2012, besonders S. 392 f. 830 Eckert 2003, S. 11. 831 Siehe Strobl 2009.

258       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

das Spannungsverhältnis zwischen der Bayreuther Uraufführung und den Neuinszenierungen, das entscheidende ästhetische und bühnentechnische Reformen hervorgerufen hat, in den Fokus rückt, lässt sich der spezifischen Wechselbeziehung zwischen dem Parsifal-Mythos, der Kultur der Moderne und der Religion nachspüren. In einem abschließenden Ausblick soll die kulturhistorische Dimension der Neuinszenierungen betrachtet und Eckerts Interpretation der Parsifal-Rezeption als nationalistisch gefärbte Sakralisierung und Flucht aus dem Alltag in den Vorkriegsmonaten kritisch hinterfragt werden.832 So wird das Zwischenfazit dieses Kapitels den einschneidenden politischen Entwicklungen zwar Rechnung tragen, die szenischen Waldbilder jedoch vornehmlich im Rahmen der ästhetisch-wissenschaftlichen Neubewertung der Natur zu Beginn des 20. Jahrhunderts kontextualisieren.833

832 Vgl. Eckert 2003. 833 Oswald Georg Bauer hat auf die Neubewertung der Natur in der zeitgenössischen Kunst verwiesen. Allerdings geht seine Betrachtung nicht über eine kurze Auflistung neuartiger Waldbilder in den Parsifal-Inszenierungen nach 1914 hinaus. Bauer 1982, S. 274.

4.1  Vom heiligen Wald zur sakralen Landschaft der Uraufführung des Parsifal       259

4.1 Vom heiligen Wald zur sakralen Landschaft der Uraufführung des Parsifal Im Vergleich zu den vorangegangenen Fallstudien ist die Sakralisierung einer Landschaft beziehungsweise eines Naturraums in anderen theoretischen und kulturhistorischen Diskursen zu verorten. Die Herausgeberinnen des Sammelbandes Land/ Scape/Theater argumentieren für eine konzeptuelle Neubewertung des Begriffs ›Landschaft‹ als »framework for fresh thinking on modern theater«.834 Una Chaudhuri und Elinor Fuchs weisen der Landschaft eine neue Bedeutung innerhalb des kulturwissenschaftlichen Diskurses um den sogenannten spatial turn zu. Gekennzeichnet durch ein ›Dazwischen‹ ermöglicht die Landschaft eine produktive Perspektive auf den Raum und den Ort gleichermaßen. Diese Überlegungen stützen sich auf W. J. T. Mitchells Publikation Landscape and Power, in der der Kunsthistoriker anhand der Doppeldeutigkeit von realer Natur und dem malerischen Genre ein trianguläres Verhältnis von Landschaft, Ort und Raum aufgezeigt hat.835 Als methodologisches Instrument verstanden, dient der Begriff der Beschreibung neuer räumlicher Dimensionen, die das Theater seit dem 19. Jahrhundert hervorgebracht hat: »Landscape [...] can [...] more fully represent the complex spatial mediations within modern theatrical form, and between modern theater and the world.«836 Nachfolgend wird das methodische Konzept ›Landschaft‹ im Zusammenhang mit der Frage nach der Darstellung des Waldes auf der Bühne angewendet. Auf den ersten Blick tritt die weite Landschaft in eine ambivalente Beziehung zur räumlich begrenzten Situation des Theaters: »[O]ne imagines a stage ›interior,‹ inside a windowless performance space, inside an urban edifice, at the heart of a dense metropolis.«837 So erscheint die Verschränkung von ›Nicht-Natur‹ und Naturraum zunächst in dem dialektischen Spannungsverhältnis von Innen und Außen, von künstlicher Konstruktion und natürlichem Gewächs, von Ordnung und Wildnis, von Enge und Weite, von Nähe und Ferne sowie von Endlichkeit und Unendlichkeit. Über die Mittel der Szenografie muss also die Raumerfahrung des Publikums von den architektonischen Grenzen des Theaters gelöst werden, um ein Erleben von Natur zu suggerieren. Ein ähnlicher Prozess der Loslösung ereignete sich beim Besuch des Kristallpalastes von Joseph Paxton (Abb. 73). Dessen Glas- und Eisenkonstruktion wurde in die Landschaft des Hyde Parks beziehungsweise des späteren Aufstellungsortes Sydenham hineingesetzt, sodass bestehende Bäume und Sträucher in die Architektur integriert und um lokale wie exotische Pflanzen sowie künstliche Wasserspiele ergänzt wurden. Wie schon im vorangegangenen Kapitel als historischen Fluchtpunkt für Bruno Tauts Glashaus skizziert, verbanden sich das Innen und das Außen zu einem scheinbar endlosen Raumeindruck, den der Architekt Richard Lucae als Zeitzeuge herausgehoben hat: 834 Chaudhuri/Fuchs 2002b, S. 1. 835 Vgl. ausführlich Mitchell 2002, S. 5–34. Siehe hierzu auch Chaudhuri 2002, S. 17. Zur Differenzierung des Begriffspaares Ort und Raum siehe weiterführend Certeau 1988. 836 Chaudhuri/Fuchs 2002b, S. 3 (Hervorh. U. C. u. E. F). 837 Chaudhuri/Fuchs 2002b, S. 1.

260       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914 [S]o besteht für uns der Zauber von Sydenham darin, daß wir in einer künstlich geschaffenen Umgebung sind, die [...] schon wieder aufgehört hat, ein Raum zu sein. [...] Wir sind von der Natur getrennt, aber wir fühlen es kaum. Die Schranke, die sich zwischen uns und die Landschaft gestellt hat, ist eine fast wesenlose.838

Wie Paxtons Kristallpalast wurden Wagners Parsifal-Uraufführung in Bayreuth und auch die Neuinszenierungen außerhalb des Festspielgeländes zum Sinnbild einer neuen modernen Kultur, in der die Natur und die Menschen, aber auch neue technische Errungenschaften eine enge Verbindung eingingen.839 So rückt in den Analysen der Inszenierungskonzepte insbesondere die Bedeutung der Bühnenmaschinerie und der Lichttechnik für die Aufhebung des ambivalenten Verhältnisses von Innenund Außenraum und die Herstellung einer sinnlichen Erfahrbarkeit von Natur in den Vordergrund. Darüber hinaus ist die szenische Landschaft immer auch ein Spiegel der Wirklichkeit, weshalb die Thematik über die szenografische Darstellungsweise hinaus eine breitere Verortung der Inszenierungskonzepte im Naturdiskurs der Zeit eröffnet. In ihrer Monografie German Culture and the Modern Environmental Imagination hat die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Sabine Wilke herausgestellt, dass Landschaften immer als Szenen wahrgenommen, imaginiert, beschrieben und dargestellt werden: »I mean the specific scenic and performative attribution given to nature in [...] sources that derive primarily from nature writing and visual material.«840 Während Wilke den Fokus auf literarische Beschreibungen, Gemälde und filmische Darstellungen von Landschaften legt, verhandelt auch das Theater die Idee der Landschaft als Szene auf besondere Weise. Am Beispiel der ParsifalInszenierungen soll aufgezeigt werden, welche Erfahrungsqualitäten des Waldes in den Bühnenbildentwürfen und Raumkonzepten reflektiert und inszeniert wurden. In seinem weiten Verständnis des scena-Begriffs hat Peter W. Marx diese auch als »kulturell gegebene Rahmung eines Ortes der Imagination« gefasst.841 Anknüpfend an die von Simon Schama in seiner Publikation Der Traum der Wildnis aufgestellten These, die Natur sei das Produkt kultureller Imagination, soll der Frage nachgegangen werden, welche Kodierungen die Produktion und Rezeption der Waldlandschaft in Parsifal geprägt haben.842 In einem Exkurs zu Wagners Uraufführung wird überdies die geografische und topografische Dimension des Landschaftsbegriffs als methodologisches Konzept beleuchtet. Es soll ausgelotet werden, inwieweit eine kon838 Lucae 1869, Sp. 303. Vgl. Kohlmaier 1981, S. 49 u. Kapitel 3.1. 839 Parallel zur Eröffnung der Weltausstellung im Jahr 1851 äußerte Wagner konkrete Pläne für die Realisierung eines eigenen Festspieltheaters. Vor diesem Hintergrund soll König Ludwig II. von Bayern ihm den Münchener Glaspalast als Aufführungsort nahegelegt haben. Überdies berichtet die zeitgenössische englische Presse von der außergewöhnlichen, Kirchenräumen in nichts nachstehenden Akustik des Kristallpalastes. So wurden ab 1856 Auszüge aus Wagners Musikdramen gespielt, darunter 1883 der »Karfreitagszauber« aus Parsifal. Vgl. Smith 2007, S. 22–24. 840 Wilke 2015. 841 Marx 2012, S. 14. 842 Anhand zahlreicher Fallstudien beleuchtet Schama Natur und Landschaft als Konstrukte kultureller Imagination sowie die Mythen und Metaphern, die damit verbunden sind. Vgl. Schama 1996, besonders S. 17–29. Siehe hierzu auch Mitchell 2002, S. 14.

4.1  Vom heiligen Wald zur sakralen Landschaft der Uraufführung des Parsifal       261

krete Inszenierung eine ›Landschaft‹ – in diesem Fall die Kleinstadt Bayreuth und seine ländliche Umgebung – prägen kann. Im Prozess der Sakralisierung des ›Waldbildes‹ wird der Naturraum um die Dimension des Sakralraums erweitert, sodass sich verschiedene, bisweilen divergierende Modi der Wahrnehmung, Erfahrung und Zuschreibung von Räumen überschneiden. Eigentlich markiert der Sakralraum eine räumliche und spirituelle Trennung von der profanen Außenwelt. In dem Moment, in dem Waldlandschaft und Sakralraum auf der Szene eine räumliche und atmosphärische Einheit bilden, ergeben sich also eine Reihe von Überlegungen: Was ist Natur? Was ist Architektur? Was wächst? Was ist gebaut? Wo endet das Irdische und wo beginnt das Heilige? Wie wird dieses Spannungsverhältnis im Theater inszeniert? Die symbolgeladene Überlagerung von Naturschauplatz und Sakralraum in den Parsifal-Inszenierungen geht auf ein spezifisches Rezeptionsmodell zurück. Seit dem späten 18. Jahrhundert stand das subjektive Empfinden im Zentrum von Architekturbeschreibungen, wie etwa derjenigien, welche die Vollendung der Bauruine des Kölner Doms vorweggriffen. Der Ethnologe, Naturforscher und Reiseschriftsteller Georg Forster (1754–1794) schilderte 1791 seine Überwältigung durch die scheinbare Unendlichkeit der Architektur des Doms. In Forsters Beschreibung wird die Waldmetapher zur zentralen Ausdrucksform, um seiner ›Sehnsucht nach dem Unbegrenzten‹ Ausdruck zu verleihen: Die Pracht des himmelan sich wölbenden Chores hat eine majestätische Einfalt, die alle Vorstellung übertrifft. In ungeheurer Länge stehen die Gruppen schlanker Säulen da, wie die Bäume eines uralten Forstes; nur am höchsten Gipfel sind sie in eine Krone von Aesten [sic!] gespalten, [...] dem Auge [...] fast unerreichbar.843

Jenes emotional geprägte Rezeptionsmodell geht auf den Diskurs des Erhabenen zurück, der in der ästhetischen Theorie seit dem 17. Jahrhundert eine breite Diskussion erfahren hat. Auffallend ist, dass das Erhabene als wirkungsästhetische Kategorie in Beschreibungen von Sakralbauten wie Naturgewalten gleichermaßen aufzufinden ist. Aufgrund ihrer eindrucksvollen Dimensionen und dem unwirklichen Spiel von Licht und Schatten üben die gotische Kathedrale, unberührte Gebirgsketten oder etwa auch undurchdringliche Wälder seit jeher eine ambivalente Anziehungskraft auf den Menschen aus. Bei all ihrer Schönheit und Faszination rufen sie nicht nur einen andächtigen, sondern häufig auch einen furchteinflößenden Schauer aus.844 Durch Rudolf Ottos Beschreibungsversuch des Heiligen als mysterium tremendum und mysterium fascinans, das gleichsam Entzückung und Schrecken auslösen kann, erfuhr der Diskurs über die Wirkungskraft des Erhabenen im Kontext der Bühnen843 Forster 1958, S. 23. Vgl. auch Schlegels Beschreibung des Kölner Doms in Kapitel 3.1. Siehe hierzu auch Engelbrecht 2014, S. 81–83 u. Prange 1991, S. 10. Zur Vollendung des Kölner Doms siehe weiterführend Kapitel 1.4. 844 Zum Diskurs des Erhabenen in der Architekturbeschreibung siehe Engelbrecht 2014, S. 75–86. Für einen umfassenden Überblick über die Entwicklung des Erhabenen bzw. des Sublimen als ästhetisch-theoretische Kategorie, so etwa die Überlegungen Edmund Burkes und Immanuel Kants, siehe Till 2006.

262       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

freigabe des Parsifal eine neuerliche Aktualisierung.845 Im Moment der Verschränkung von Waldlandschaft und sakralem Raum auf der Bühne musste dem Zusammenspiel von Szenografie und Technik die entscheidende Funktion zukommen, eine sinnlich-affektive Wirkmacht auszuüben und das Publikum in den Zustand eines überwältigenden Schauers zu versetzen. Repertoire der Bilderdarstellung des heiligen Waldes

Bei der Analyse der neuen szenografischen Konzepte für die Waldszene in Richard Wagners Parsifal gilt es einige grundsätzliche Faktoren zu berücksichtigen: Wagner hatte das Bühnenweihfestspiel, wie all seine späten Musikdramen, als »Musteraufführung«846 konzipiert. Der Theaterwissenschaftler Friedemann Kreuder hat Wagners Muster-Begriff als eine formalästhetische Gesetzmäßigkeit definiert: »Werden [...] [die ›Umrisse‹ der Musik – S. B. Q.] auf der Bühne ›projiziert‹, werden sie zum ›Aufriss‹, in den der Bühnenbildner seine Bildelemente/Objekte ›einträgt‹«.847 Sänger, Tänzer, Bühnen- und Kostümbildner konnten sich nur im Rahmen der Vorgaben Wagners für die darstellerische, szenische und musikalische Umsetzung seiner Musikdramen bewegen. Da er die Aufnahme seiner Werke in das Repertoire der deutschen Theater vorausahnte, wollte Wagner mit seinen Festspielen den Stil nachfolgender Inszenierungen in allen Einzelheiten vorprägen. Jenes Ideal der Musteraufführung wurde unter der Leitung von Cosima Wagner aufrechterhalten, sodass beispielsweise der Parsifal bis 1934 in Bayreuth nahezu unverändert in der gleichen Inszenierung gegeben wurde.848 Auf diese Weise wurde eine eindeutige Bildersprache, die man mit dem Bühnenweihfestspiel verband, entwickelt und durch die rege überregionale Berichterstattung propagiert. Demzufolge war der Besuch einer Parsifal-Inszenierung stets mit einer konkreten Erwartungshaltung der Rezipienten verbunden, deren Nicht-Erfüllung zwangsläufig Irritation hervorrief. Bis 1914 war das Bühnenweihfestspiel Parsifal also kein fester Bestandteil des Repertoiretheaters.849 Dennoch lassen sich in den späteren Raumkonzepten, trotz aller Innovationen, Muster und Übereinstimmungen erkennen, die auch auf das Bühnenbild der Uraufführung zurückverweisen. In ihrer theoretischen Konzeption des Repertoire-Begriffs hat Tracy C. Davis das Repertoire als ein System des Wissenstransfers definiert, das einen Zusammenhang zwischen bekannten und neuen Aufführungen herstellt und dem Publikum das Verständnis und die Interpretation durch wiederkehrende Muster ermöglicht: »Repertoire draws attention to the factors that matter in making intertheatricality intelligible. The connection ›between texts 845 Das Erhabene dient Otto als eine Eigenschaft, um das Numinose in Worte zu fassen. Vgl. Otto 1920, S. 52–58 sowie Kapitel 1.2. 846 In der Diskussion um einen deutschen Inszenierungsstil verwendete Wagner diese Bezeichnung erstmals in Wagner 1865, S. 8 f. 847 Kreuder 2013, S. 10. 848 Zur Debatte um den sogenannten ›Bayreuther Stil‹ siehe auch Steinhoff 2012, S. 375–377 u. Mösch 2009, S. 319–359. 849 Die übrigen Musikdramen Wagners zählten 1913 bereits zum festen Repertoire der deutschen Theater. Vgl. auch Steinhoff 2012, S. 373. Hier bezieht sich der Begriff ›Repertoire‹ auf einen Stückekorpus, der zu diesem Zeitpunkt in den deutschen Theatern zur Aufführung gebracht wurde. Für eine terminologische Differenzierung siehe Davis 2009, S. 6.

4.1  Vom heiligen Wald zur sakralen Landschaft der Uraufführung des Parsifal       263

and their users‹ forces the question of what is appropriate evidence of an historical audience’s competence to interpret performance.«850 Da Bühnenbildner wie Ludwig Sievert auf eine unmittelbare Übernahme der visuellen Strategien Bayreuths verzichteten, ist die Erklärung für die Ähnlichkeit der grundlegenden Struktur der Waldbilder in einem gemeinsamen kulturellen Bildgedächtnis und einem dynamischen Bildrepertoire zu suchen. Das Bildrepertoire konstituiert sich in einem Austauschprozess, der an theatrale Praktiken gebunden ist. Auf der Produktionsebene arbeitet sich ein Künstler bewusst an dem Repertoire eines anderen ab, um dieses aufzugreifen, abzuwandeln oder weiterzuentwickeln. So kann das Repertoire über Generationen von Theaterschaffenden weitergegeben werden. Das Bildgedächtnis hingegen bezeichnet den übergreifenden Bilderspeicher einer Kultur, der sich in Bau- und Kunstwerken, Orten und Ereignissen manifestiert. Auf diese visuell fixierten Bilder beziehen sich Bühnenbildner und Regisseure einerseits im Entwurfsprozess und der Konzeptionsphase einer Inszenierung. Andererseits wird jenes kulturelle Wissen während der Aufführung in der Erinnerung der Zuschauer hervorgerufen, um so deren Rezeption gezielt in eine bestimmte Richtung zu steuern.851 Eine jahrhundertealte Tradition hat das Waldbild, insbesondere dasjenige der Deutschen, und die sinnliche Erfahrbarkeit von Wäldern über Generationen geprägt: »Der deutsche Wald – das ist nicht dasselbe wie die Wälder in Deutschland. Es handelt sich nicht um eine geographische Größe, sondern um eine Gefühlsqualität.«852 So ist der Wald in Carl Maria von Webers (1786–1826) 1821 uraufgeführten Oper Der Freischütz sowohl Schauplatz als auch selbst Hauptakteur der Handlung. Als musikalischer Ausdruck eines ausgeprägten Waldgefühls, das den Deutschen seit der Romantik zugeschrieben wurde, galt die Oper fortan als Sinnbild eines neuen patriotischen Nationalbewusstseins.853 Richard Wagner wie auch seine Nachfolger im 20. Jahrhundert griffen auf dieses kulturelle Wissen zurück, indem vertraute Waldmotive wiederbenutzt oder abgewandelt wurden. Im Folgenden sollen daher zunächst einige formale und symbolische Konnotationen des Waldes in Kultur, Kunst und Religion hergeleitet werden, die unerlässliche Parameter für die Beschreibung und Deutung dieser Waldbilder sind. Um die Neuerungen der szenografischen Konzepte in den Parsifal-Inszenierungen nach 1914 aufschlussreich untersuchen zu können, ist ebenso eine Rückbindung an das Wald-Repertoire der Uraufführung von 1882 notwendig. In seiner Differenzierung zwischen dem Heiligen und dem Profanen stellt der Religionsphilosoph Mircea Eliade die zentrale Funktion von Symbolen heraus, durch die der religiöse Mensch seine Welt konstituiert. Seinen Überlegungen zum Baum als 850 Davis 2009, S. 6 (Hervorh. T. C. D.) u. weiterführend S. 7 f. In den Aufführungsbesprechungen zu den Neuinszenierungen nach 1914 wird die Bezeichnung ›Muster Bayreuth‹ zu einer allgemein gültigen Beschreibungskategorie. Siehe beispielsweise Badische Presse Karlsruhe 1914. 851 Vgl. hierzu auch die Kapitel 1.5 u. 2. 852 Bausinger 2000, S. 74. Zum Topos des deutschen Waldes siehe weiterführend Zechner 2016; Wilke 2015; Ausst.-Kat. Berlin 2011; Lehmann 1999 u. Schama 1996, S. 91–152. Siehe hierzu auch Kapitel 4.3. 853 Siehe hierzu weiterführend Schmidt-Vogt 1996 u. Budde 1987, S. 47–50.

264       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

»Ausdruck für alles [...] Heilige schlechthin« fußen nicht nur auf der Bibel als Quelle des Christentums,854 sondern auch auf Schöpfungsmythen fernöstlicher Religionen und die Kosmossymbolik der antiken Mythologie: »Dem religiösen Menschen offenbart sich in den Rhythmen der Vegetation sowohl das Geheimnis des Lebens und der Schöpfung wie das Geheimnis der Erneuerung, der Jugend und der Unsterblichkeit.«855 Seit jeher wird der Wald als ein ambivalenter Ort aufgefasst, der auf unterschiedlichste Weise gedeutet werden kann. Die christliche Kirche legte den Wald als Gegenpol zum himmlischen Paradies als Ort der Sünde und der Verdammnis aus, den es auf dem Weg in die Hölle zu durchqueren galt. Dadurch wurde der dunkle, undurchdringliche und wilde Wald als Ort der Bedrohung und Gefahr negativ besetzt. Durch die zunehmende Eroberung des Waldes in Form von Jagdgebieten, Rodungen und ackerbaulicher Kultivierung, die im Mittelalter einsetzte, veränderte sich die Wahrnehmung des Waldes. Zwar blieben seine furchteinflößenden Konnotationen bis in das 19. Jahrhundert bestehen, doch mit einem Rückgriff auf den antiken Terminus des Locus amoenus wurde der Wald als fruchtbarer und lieblicher Ort vermehrt positiv idealisiert.856 In Wolfram von Eschenbachs zwischen 1180 und 1190 entstandenen höfischen Versdichtung Parzival werden die komplexen Konnotationen in unterschiedlichsten Erscheinungsformen des Waldes verhandelt.857 Zu Beginn ist er der Ort des Glücks Herzeloydes’, der Mutter Parzivals. Doch im Verlauf der Handlung zieht sie sich in das lebensfeindliche Gebiet »in einen Wald, in der Wüste Soltane« zurück,858 mit dem auf die Einöde als religiöse Metapher für die Einsamkeit und als Gegenentwurf zur Zivilisation angespielt werden soll. Von besonderer Bedeutung ist seine Funktion als Gralswald, einem fremden Ort außerhalb der Gesellschaft, an dem sich mystische Vorgänge ereignen können – eine »Raumschwelle«859 – die zum Sinnbild der Selbstfindung und -transformation des jungen Parsifal wird: Der Wald ist dort eine vom Menschen unberührte aktive Gegenwelt und Schauplatz irrationalen Geschehens. [...] Der Mensch streift mit dem Eintritt in seinen Wirkungsbereich sämtliche Bindungen an die im Mittelalter überlebenswichtige soziale Gemeinschaft ab. Im Wald kann selbst die Zeit aufgehoben sein.860

854 Eliade 1998, S. 131. 855 Eliade 1998, S. 132. Im Alten Testament gelten konkrete Baumarten wie Zedern, Akazien oder Kiefern als Zeichen Gottes. Siehe zum Beispiel Jesaja 41,17–20. 856 Zur Ambivalenz des Waldes siehe weiterführend Göttler 2018; Schlapbach 2007 u. Vavra 2008. Zur Kulturgeschichte des Waldes siehe u. a. Zechner 2016; Demandt 2014 u. Küster 1998. 857 1833 erschien die erste kritische Ausgabe der höfischen Versdichtung, die von Karl Lachmann herausgegeben wurde. Zur Wiederentdeckung des Parzival im 18. Jahrhundert und seine Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert siehe weiterführend Mertens 2011, S. 705–741 u. Schulze 2011, S. 758–797. 858 Unbekannt 1834, S. 66. Die Wüste gilt als Zufluchtsort der frühneuzeitlichen Eremiten. In den fruchtbaren Regionen Europas zogen sie sich in den Wald zurück. Siehe hierzu auch Kapitel 4.2.1. Zur Analogie von Wüste und Wald in der jüdisch-christlichen Tradition siehe Le Goff 1990, S. 81–97. 859 Tersch 1996, S. 294. Siehe hierzu auch Schuler-Lang 2014, S. 26–30. 860 Stadlober 2006, S. 113. Zum Einfluss der Waldmythen auf die Volksmärchen siehe Lehmann 2008; Schama 1996, S. 124 f. u. Röhrich 1988.

4.1  Vom heiligen Wald zur sakralen Landschaft der Uraufführung des Parsifal       265

Als Ort, an dem sich mystische Vorgänge ereignen konnten, sollte der Wald ebenso zu einem zentralen Handlungsort in den Volksmärchen der Gebrüder Grimm, so etwa in Hänsel und Gretel, werden. In den Schriften Dantes und Petrarcas (1304– 1374) verschränken sich die religiösen Topoi des Waldes mit der konkreten Naturbeobachtung und dem eigenen, sinnlichen Naturerleben. In der Göttlichen Komödie (begonnen 1311) muss er erst Höllen-Wald und Trauerwald sein, der sinnbildlich für Dantes Irrweg steht, den er wie Parzival eingeschlagen hat, bevor er sich im Purgatorium in einen »heller[en], lichter[en] Wald« wandelt.861 Der religiöse Symbolgehalt des ›lichteren‹ Waldes führte auch dazu, dass die Waldmetapher auf die diaphane Architektur der gotischen Kathedrale übertragen wurde, denn Bäume galten als Stützen des Himmelsgewölbes. In einer Reihe von Kirchenbauten der deutschen Spätgotik bildeten Stützen, Rippen und Gurte steinernes Astwerk, Blätter und Baumstämme nach (Abb. 118). Die Ableitung eines architektonischen Gewölbes von der Natur lässt sich bis zu Tacitus’ (um 56 – um 120 n. Chr.) Ende des 15. Jahrhunderts wieder aufgefundenen Bericht über die Germanen – De origine et situ Germanorum (Germania) – zurückverfolgen, die zum Schutz ein natürliches Laubdach über ihren kultischen Heiligtümern errichteten. Wie Hubertus Günther anhand italienischer Architekturtraktate der frühen Neuzeit herausgestellt hat, wurde das antike Beschreibungsmodell in der Rezeption der Gotik wieder aufgegriffen: Der Spitzbogen »sei [...] aus den Ästen von lebenden Bäumen entstanden, die man oben zusammengebunden hätte«.862 Im ausgehenden 18. Jahrhundert erlebt die Metapher der ›grünen Halle, die zum Dom wird‹ als Beschreibungskategorie der gotischen Kathedralen Hochkonjunktur.863 Kunsttheoretische Schriften, allen voran Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) Beschreibung des Straßburger Münsters in »Von deutscher Baukunst«, verwiesen auf die steinerne Nachahmung des Waldes in der Gotik, »der mit tausend Ästen, Millionen Zweigen und Blättern [...] die Herrlichkeit des Herrn« verkünde.864 Als Ausdruck des Göttlichen und Ort der Selbstfindung wurde die Natur, darunter explizit der Wald, in der deutschen Romantik zu einem zentralen Motiv in Dichtung, Malerei und Musik. Mit der Neudefinition des Verhältnisses von Natur und Kunst ging die Aufladung des Waldes als Sakralraum einher. Die Dichter und Künstler verliehen den Metaphern der Kathedrale als Wald und des Waldes als ›heiligem Tempel‹ einen gesteigerten Ausdruck. In dieser Verbindung wird die Natur zum wichtigsten Inspirationsort herausgehoben, mehr noch 861 Stadlober 2006, S. 119. In Petrarcas Schriften erfährt die positive Konnotation des Waldes als Locus amoenus, als Ort des Naturerlebnisses, der Inspiration, Kreativität und Selbstreflexion eine entscheidende Neubewertung. Siehe weiterführend Roddewig 1991 u. Petrarca 1990, S. 249–254. 862 Günther 2003, S. 63. Schon Vitruv zog den Vergleich mit Bäumen heran, den später auch Leon Battista Alberti, Baldassare Peruzzi und Giorgio Vasari aufgreifen sollten. Siehe weiterführend Günther 2003, S. 63–68. Zur Fortführung in den theoretischen Schriften der englischen, französischen und italienischen Kunsttheorie bis in das 19. Jahrhundert vgl. Fraquelli 2008, S. 72. 863 Zur Verschränkung von Wald- und Kathedralmetapher für die Umschreibung der Eisenarchitektur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Nelle 2005, S. 213–215. 864 Goethe 2008, S. 10. Vgl. hierzu auch Günther 2012, S. 145–147 u. Siegmund 2002, S. 135.

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Abb. 118: Evangelische Stadtkirche Sankt Annen, Annaberg-Buchholz, Chor, 1499–1525.

der dem Irdischen entrückte, ›lichtere‹ Sakralbau zum Ziel des christlichen Lebensweges ausgerufen.865 In seinem 1902 veröffentlichten Handbuch der Architektur ließ der Architekt Max Hasak (1856–1934) die romantische Analogie des Waldes und der Gotik nochmals aufleben, indem er das Formenrepertoire der Baumeister als ein nach dem Vorbild der Natur geformtes aufzeigte.866 Die Metamorphose des Waldes in der Uraufführung des Parsifal

Richard Wagner knüpfte rund ein halbes Jahrhundert später in seinen Musikdramen an die tradierten Topoi der Darstellung des Waldes in der bildenden Kunst und Literatur an.867 Darüber hinaus stellte er die Landschaft in einen theoretischen Zusammenhang mit seinem Konzept des Gesamtkunstwerks. Ausgehend von der These, »[w]ie der Mensch sich zur Natur verhält, so verhält die Kunst sich zum Menschen«,868 attestiert Wagner seinem Zeitalter eine Entfremdung von der Natur, die er im Zerfall der Künste in die einzelnen Gattungen gespiegelt sieht. Durch die Einheit der bildenden und darstellenden Künste im Kunstwerk der Zukunft soll der Mensch zurück zur Natur finden. Als Ausdrucksform der Natur erfährt die Landschaftsmalerei eine spezifische Idealisierung: 865 Diese metaphorische Aufladung des Waldes findet sich beispielsweise in den Kathedralvisionen Caspar David Friedrichs, in denen der enge Zusammenhang von Kunst-, Naturund Religionsauffassung in der Romantik anschaulich wird. Vgl. Schuster 2011, S. 38–42; Jung-Kaiser 2008b, S. 15 f.; Siegmund 2002, S. 129–148 u. Schama 1996, S. 118–137. Siehe weiterführend Brüggemann 2005 u. Lindemann 1985. In Verbindung mit der Metapher des Kristalls wurde das begriffliche Konstrukt im frühen 20. Jahrhundert auf die abstrakten Tendenzen der Künste übertragen. Siehe weiterführend Kapitel 3.1. 866 Vgl. Hasak 1902, S. 1. Zur Rezeption in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts siehe Schmitz 1921. 867 Vgl. Weber/Elsen-Schwedler 2011, S. 16. 868 Wagner 1850, S. 1. Siehe hierzu auch Smith 2002, S. 255 f.

4.1  Vom heiligen Wald zur sakralen Landschaft der Uraufführung des Parsifal       267 Die Landschaftsmalerei [...] wird, als letzter und vollendeter Abschluss aller bildenden Kunst, die eigentliche, lebengebende Seele der Architektur werden; sie wird uns so lehren die Bühne für das dramatische Kunstwerk der Zukunft zu errichten, in welchem sie, selbst lebendig, den warmen Hintergrund der Natur für den lebendigen, nicht mehr nachgebildeten, Menschen darstellen will.869

Im Detailreichtum der Vegetation und der Feinabstimmung von Farbnuancen und -kontrasten weisen Wagners Bühnenlandschaften durchaus Parallelen zu der Landschaftsmalerei der Romantik auf. Während in den Gemälden die Natur als eine über dem menschlichen Dasein erhabene Kraft idealisiert wird, sind die Bühnenbilder an die Größe der Figuren angepasst, die wiederum durch ihre Taten selbst über sich hinauswachsen sollen.870 In seinem 1905 veröffentlichten Artikel »Die Natur bei Richard Wagner« griff der Kunsthistoriker Paul Schubring (1869–1935) den Vergleich von Wagners Musikdramen und den romantischen Landschaftsgemälden ebenfalls auf. In Zeiten der wissenschaftlichen Erforschung einzelner Naturphänomene und -gewalten sei der Mensch im Gegensatz zu der pantheistischen Auffassung in der Romantik »in ein immer persönlicheres Verhältnis zu der [...] umgebenden Außenwelt geraten«.871 Die moderne Landschaftsmalerei habe deshalb zwei Tendenzen ausgebildet – eine, die auf einer objektiven Beobachtung der Natur basiere und eine andere, die es vermöge, ihre unterschiedlichsten Kräfte auf die Leinwand zu bannen und damit eine überaus starke Wirkung zu erzielen: »Alles ist auf den höchsten Ausdruck gebracht, [...] alle bloße Stimmungsmalerei abgelehnt. Kunst als Ausdruck – das bekräftigen auch Wagners Naturbilder.«872 Wagner erachtete jedoch nicht nur die Landschaft mit ihrer Formvielfalt sowie ihrem Farb- und Lichtspektrum als einzig ›wahres‹ Bühnenbild seines Kunstwerks der Zukunft: »[F]or [him  – S. B. Q.], the whole opera [...] functioned as a single landscape painting in sight, sound, and motion.«873 Zwei von sechs Bildern in Parsifal spielen in dem geheimnisvollen, undurchdringlichen Wald, in dessen Schutz sich der Gralstempel befindet. Allein durch jene Abgeschiedenheit von der Welt wird der Wald als ein »heiliger [...] Bezirk«874 markiert, in den nur wenige, auserwählte Personen gelangen können. An diesem Ort kündigt sich das Schlüsselereignis bereits zu Beginn der Handlung an: Im ersten Akt tötet Parsifal den wilden Schwan, der die menschliche Seele, die zu Gott aufsteigt, sym869 Wagner 1850, S. 182. Wenngleich Wagner seine Argumentation auf die Kunstgeschichte überträgt, nennt er keine konkreten Beispiele aus der bildenden Kunst. Seine Ausführungen über die Landschaftsmalerei dienen lediglich der Legitimierung seiner Gesamtkunstwerk-Theorie. Vgl. Wagner 1850, S. 140–182. Zu Wagners Prägung des Begriffs ›Gesamtkunstwerk‹ siehe Kapitel 1.4. 870 Vgl. Smith 2002, S. 257. Siehe auch Smith 2007, S. 27–29. Zu Wagners Rezeption der Romantik siehe weiterführend Kiessling 1916. 871 Schubring 1905, S. 545. 872 Schubring 1905, S. 552. Als Beispiele für diese Richtung nennt Schubring u. a. die Landschaftsgemälde Arnold Böcklins. Zu Böcklin siehe Kapitel 4.2. 873 Smith 2002, S. 256 (Hervorh. M. W. S.). 874 Kienzle 2008b, S. 161. Vgl. hierzu auch Eckert 2003, S. 120.

268       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

bolisiert. Doch das Sterben des Schwans initiiert zugleich die neuerliche Enthüllung des heiligen Grals, zu der Parsifal auserkoren ist. Der Schwan im Gralswald ist somit eine Präfiguration der Heiliggeist Taube, die in der letzten Szene von der Kuppel des Gralstempels hinabschwebt.875 Wagners Anweisung für das Szenenbild im ersten Akt lautet: »Wald, schattig und ernst, doch nicht düster. Felsiger Boden. Eine Lichtung in der Mitte. Links aufsteigend wird der Weg zur Gralsburg angenommen. Der Mitte des Hintergrundes zu senkt sich der Boden zu einem tiefer gelegenen Waldsee hinab.«876 Die Szenenfotografie des Bayreuther Bühnenbildes zeigt eine aus Leinwandbahnen und Pappmaché modellierte felsige Waldlichtung, die zu den Seiten von hohen Bäumen und dichtem Gebüsch abgeschirmt wird (Abb. 119). Während auf der linken Seite eine Wasserquelle erkennbar ist, scheint auf der rechten das Gelände im Hintergrund leicht abschüssig, wodurch der Blick auf einen hellen Prospekt frei wird. Dieser soll den von Wagner beschriebenen See andeuten, »dessen [...] Spiegel im Schein der Morgensonne langsam erstrahlt«.877 In Parsifal ist der Wald sowohl Ort der Prüfung und des Leidens als auch der Selbst- und Welterkenntnis, er ist gleichsam beängstigend und verheißungsvoll. Die beiden Szenenabfolgen im Wald veranschaulichen den Persönlichkeitswandel Parsifals, den Oswald Georg Bauer als »Tugendweg«878 dezidiert religiös ausdeutet. Im ersten Aufzug offenbart die Gralsbotin Kundry dem ›reinen Tor‹ Parsifal, dass er vaterlos von seiner Mutter großgezogen wurde. Doch der Einsiedler Gurnemanz erkennt in ihm den Auserwählten für die Erneuerung des Gralsmysteriums. Um dies zu beweisen, muss Parsifal jedoch erst nach einigen weltlichen Abenteuern im Schloss und Zaubergarten Klingsors den Weg zurück in den Wald finden. Bei seiner Rückkehr am Karfreitag erscheint die vormals stille Waldlichtung verändert (Abb. 120): Winterliches Dorngestrüpp liegt noch tot da; aber um die Baumstämme haben sich Rosen gewunden, der Wiesengrund lacht im Silberton und durch alle Blüten geht ein feierlich-fröhliches Singen. Es ist nicht mehr die milde ruhige Natur wie an dem Waldsee des ersten Aktes, sondern eine Genesung, ein Auferstehen zieht sich durch alle Kreatur [sic!].879

Trotz der sichtbaren Spuren überwundener Hindernisse wirkt die Frühlingsaue in Schubrings Beschreibung der Bühnenbilder zum dritten Aufzug wie ein Locus amoenus. Das Wiederaufblühen des Waldes zur prächtigen Blumenaue wird zur visuellen Metapher der Reife Parsifals. Bereit für das Ritual im Gralstempel reinigt sich Parsifal selbst von seinen Sünden und tauft Kundry mit dem Wasser der heiligen Quelle. Um ein wirkungsvolles, multisensorisches Erleben des Waldes zu evozieren, 875 Vgl. Kienzle 2008a, S. 22 f. u. S. 25 u. Kienzle 2008b, S. 175. 876 Wagner 1907a, S. 324. 877 Schubring 1905, S. 550. 878 Bauer 1995, S. 91. 879 Schubring 1905, S. 551. Die Melodie »Karfreitagszauber« gipfelt in einer musikalischen Apotheose, in der sich die Frühlingspracht des Waldes ausdrückt. Vgl. hierzu Kienzle 2008b, S. 177–182.

4.1  Vom heiligen Wald zur sakralen Landschaft der Uraufführung des Parsifal       269

Abb. 119 und 120: Atelier Brückner, Bühnenbilder zu Parsifal, Bayreuth, 1882.

270       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

wurden Geräusche, die seit jeher die Vorstellung des Waldes als Locus amoenus prägten, wie Vogelzwitschern oder Windrauschen durch Instrumente nachempfunden und mit den zentralen musikalischen Motiven verwoben. Die mimetische Qualität der Musik wurde durch das naturnachahmende Bühnenbild verstärkt: Die Bühnenbilder [...] waren so unbeschreiblich groß, vornehm, ausdrucksvoll, jedem Effekt entrückt und doch ohne falsche Zurückhaltung, daß man das wirkliche Spiel der Elemente zu erleben glaubte. [...] Der Wald schien zu duften, die Sonne brannte und der Wind fächelte die Eichblätter.880

Aufgrund dieser sakral aufgeladenen Symbolik hat die Musikwissenschaftlerin Ulrike Kienzle die Spielräume des Parsifal als »heilige Topografie«881 definiert. Anhand der historischen Szenenfotografien der Uraufführung zeigt sie einen Wechsel der Himmelsrichtungen im Waldbild des ersten und dritten Aufzugs auf. Dadurch ergäbe sich eine Veränderung der Perspektive auf die Szene, wodurch die Zuschauer zu einer Teilnahme an der »imaginäre[n] Weltumrundung Parsifals« aufgefordert wären.882 Obschon das Aufzeigen einer sakralen Bilderwelt, »die den Zuschauer [...] auf eine spirituelle Reise mitnimmt«,883 ein Kernanliegen ihrer Untersuchung ist, konzentriert sich die Autorin nur marginal auf die ästhetischen Strategien zur Inszenierung des Sakralen und deren Wirkmacht auf das Publikum. An dieser Stelle soll Kienzles Aspekt des Topografischen aufgegriffen werden, um die Verwandlungsszene am Ende des ersten Akts in den Blick zu nehmen. Da dieser Studie die Annahme zugrunde liegt, dass das Heilige lediglich als Spur aufscheinen und beispielsweise an sakralen Orten erfahrbar werden kann, wird allerdings die Bezeichnung »sakrale Topografie«884 bevorzugt. Nicht nur die stückimmanente Reise Parsifals, sondern 880 Schubring 1905, S. 547. Schubring weilte 1904 anlässlich der Festspiele in Bayreuth und sah den Fliegenden Holländer, Parsifal und den Ring des Nibelungen. Budde spricht von einem leitmotivischen ›Waldweben‹ im zweiten Akt des Siegfried, in dem Wagner die tradierten musikalischen Motive zur Darstellung des Waldes vereinte. Vgl. Budde 1987, S. 50–52. Auf dieses Werk bezieht sich auch Schubrings Beschreibung, die sich jedoch gleichfalls auf die musikalische Bearbeitung des Parsifal übertragen lässt. Für eine ausführliche Analyse der musikalischen Topografie des Waldes im ersten und dritten Aufzug vgl. Kienzle 2008b, S. 170–183. 881 Kienzle 2008a, S. 19–26. In ihren Ausführungen legt Kienzle ein besonderes Augenmerk auf geometrische Formen, die sie als eigenständiges Referenzsystem aus den Bühnenbildern der Uraufführung ableitet und denen sie anhand von Wagners Religionsphilosophie einen Symbolgehalt zuordnet. Vgl. auch Kienzle 2008b, S. 159–183 u. im Wortlaut nahezu identisch Kienzle 2008c. 882 Kienzle 2008a, S. 25. Obschon die Grunddisposition der beiden Waldbilder ähnlich ist, hat Kienzle eine Umkehrung der Perspektive um 180 Grad festgestellt, da im Vergleich zum ersten Aufzug der Weg zur Gralsburg und die Quelle auf der rechten Seite liegen, während sich nun die Hütte des Einsiedlers Gurnemanz auf der linken befindet. Der Zuschauer blickt von Osten auf die Szene, wo sich ursprünglich der Gralssee befunden hat. Vgl. Kienzle 2008 a, S. 22 f. Siehe hierzu auch Mösch 2010, S. 243 f. 883 Kienzle 2008a, S. 17. 884 Bewusst wird hier die Begriffskonstruktion des Kunsthistorikers Harald Szeemann für die Künstlerkolonie Monte Verità aufgegriffen. Vgl. Ausst.-Kat. Ascona 1978. Für eine Verortung dieser Reformbewegung im Kontext der Parsifal-Neuinszenierungen nach 1914 siehe

4.1  Vom heiligen Wald zur sakralen Landschaft der Uraufführung des Parsifal       271

auch der Festspielbezirk in Bayreuth muss als sakrale Topografie aufgefasst werden. In der Verwandlungsszene, in der eine unmittelbare Beziehung zwischen dem Wald und dem Gralstempel hergestellt wird, gehen diese beiden Ebenen des Topografischen eine besondere Verbindung ein. Parsifals erstaunter Ausruf, »Ich schreite kaum – / doch wähn’ ich mich schon weit«,885 deutet auf sein Bewusstwerden einer neuen Zeiterfahrung. Der Wald, dessen jahrhundertealte Vegetation den Menschen um ein Vielfaches überdauert, weist über das zeitliche Kontinuum und wird so zur Raumschwelle: »Der Wald [...] ist das mystische [...] Anderswo, der heilige Ort des Übergangs, der jenseits alles Irdischen Raum bietet [...]. [E]r ist auch eine andere Zeit, die früher und heute gleichzeitig umfasst«.886 Mit dem Übergangsritual von dem Wald in den Gralstempel wird Parsifal auf die Teilnahme an der heiligen Zeremonie der Gralsenthüllung vorbereitet. Wie Mircea Eliade aufgezeigt hat, bedeutet »[j]edes religiöse Fest, jede liturgische Zeit [...] die Reaktualisierung eines sakralen Ereignisses«.887 Auf diese Weise entsteht ein Bruch mit dem Kontinuum der ›profanen‹ Zeit. Im Moment des Betretens des Gralstempels und der Wiederholung der feierlichen Rituale wird die Zeitdauer als eine ›heilige‹ Zeit wahrnehmbar. Die eindringlichen Worte des Einsiedlers Gurnemanz, »Du siehst, mein Sohn, / zum Raum wird hier die Zeit«,888 lösen also die visuelle und musikalische Metamorphose des Szenenbildes aus, durch die das räumliche und zeitliche Kontinuum aufgehoben scheint: Allmählich, während Gurnemanz und Parsifal zu schreiten scheinen, verwandelt sich die Bühne, von links nach rechts hin, in unmerklicher Weise: es verschwindet so der Wald; in Felswänden öffnet sich ein Tor, welches nun die Beiden einschließt; dann wieder werden sie in aufsteigenden Gängen sichtbar, welche sie zu durchschreiten scheinen. – Lang gehaltene Posaunentöne schwellen sanft an: näher kommendes Glockengeläute. – Endlich sind sie in einem mächtigen Saale angekommen, welcher nach oben in eine hochgewölbte Kuppel, durch die einzig das Licht hereindringt, sich verliert. – Von der Höhe über der Kuppel her vernimmt man wachsendes Geläute.889

In Bayreuth wurde der Szenenwechsel von der Waldlichtung zum Gralstempel vor den Augen der Zuschauer mittels einer zwölf Meter hohen Wandeldekoration vollzogen, die Wagners Theatermaschinist Carl Brandt (1828–1881) entwickelt hatte.890

885 886

887 888 889 890

Kapitel 4.3. Vgl. auch die Ausführungen zu der sakralen Topografie der Darmstädter Mathildenhöhe in Kapitel 1.4 und die Begriffsdifferenzierung des Heiligen und des Sakralen in Kapitel 1.2. Wagner 1907a, S. 339. Hergott 2011, S. 84 f. Die Waldszene in Wagners Parsifal führt die ästhetische Schwellenerfahrung als Moment der Liminalität und des Übergangs anschaulich vor Augen. Zur ästhetischen Schwellenerfahrung vgl. Fischer-Lichte 2001, S. 347–366 u. die Kapitel 1.3 u. 2.1.3. Eliade 1998, S. 63. Wagner 1907a, S. 339. Wagner 1907a, S. 339. Das Grundprinzip der Wandeldekoration geht auf barocke Theatermaschinen zur Darstellung von Feuer-, Wasser- und Wolkeneffekten zurück, wie sie etwa von Jean Bérain, Nicola Sabbattini oder Jean-Nicolas Servandoni angewendet wurden. Eine Wandeldekoration, wie

272       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

Abb. 121: Atelier Brückner, Wandeldekoration zu Parsifal, Bayreuth, 1882.

Vor dem Bühnenhintergrund wurden vier bemalte Stoffbahnen auf Walzen langsam ab- und aufgerollt, die den Weg durch den Wald und eine Felsenschlucht, das Tor in einen Felsen sowie Säulen im Inneren eines dunklen Felsens zeigten (Abb. 121 u. 122). Einschnitte in den sich überlagernden Stoffbahnen erzeugten den Eindruck einer sich kontinuierlich verändernden Szenerie. Durch die Wandeldekoration verschwanden Parsifal und Gurnemanz teilweise aus dem Sichtfeld der Zuschauer, um kurz darauf wieder zu erscheinen. Auf diese Weise konnte ein Schreiten simuliert werden, obwohl sich die Akteure kaum vorwärtsbewegten.891 Eine auf den Bewegungsablauf der neuartigen Bühnentechnik abgestimmte Verwandlungsmusik steigerte die Dynamik der Passage. So wie sich die Szene allmählich veränderte, ging sie in Bayreuth zum Einsatz kam, wird erstmals Anfang des 19. Jahrhunderts in Aufführungen von Weihnachtspantomimen in London vermutet. Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass die Oper in Covent Garden 1826 eine Wandeldekoration für Carl Maria von Webers Oberon nutzte, um einen topografischen Ortswechsel zu suggerieren. Vgl. Taubert 2018, S. 177–183 u. Baumann 1988, S. 285–288. Die Erforschung von Theatertechnik stellt weiterhin ein Desiderat der Theaterwissenschaft dar. Zur Aufarbeitung im Rahmen von Operninszenierungen, beginnend mit dem 18. Jahrhundert, siehe Taubert 2018. 891 Zu den technischen Details der Wandeldekoration Carl Brandts siehe Mösch 2009, S. 91–99; Carnegy 2006, S. 111 u. Baumann 1980, S. 154–163. Auch für den umgekehrten Szenenwechsel im dritten Akt war eine Wandeldekoration geplant. Da diese im Vorfeld der Uraufführung technische Probleme bereitete, verzichtete Wagner zunächst auf einen Einsatz. In späteren Parsifal-Aufführungen fanden in Bayreuth beide Wandeldekorationen Anwendung. Vgl. u. a. Kern 2010, S. 134 u. S. 144; Kienzle 2008a, S. 21; Syer 2005, S. 289 f., Smith 2002, S. 258 u. Bauer 1982, S. 262. Die »Erinnerungsblätter« des Sängers Anton Schittenhelm, die Notizen und Skizzen zu den ersten beiden Aufführungen des Bühnenweihfestspiels am 26. und 27. Juli 1882 enthalten, dienen als wichtige Quelle zur Gestaltung und Mechanik der Wandeldekoration. Vgl. Schittenhelm 1970, S. 139–147. Siehe auch Baker 1998, S. 271–274.

4.1  Vom heiligen Wald zur sakralen Landschaft der Uraufführung des Parsifal       273

Abb. 122: Atelier Brückner, Wandeldekoration zu Parsifal, Bayreuth, 1882.

das musikalische Motiv in dasjenige des Gralstempels über. Wagner verschränkte die zentralen Melodien des Werks ineinander, die schließlich in der dreimalig intonierten Heilandsklage gipfelten. Das stetig lauter werdende Glockenläuten bereitete die Verwandlung in den heiligen Tempel vor.892 In der szenografischen und musikalischen Illusion der Verwandlung sah Wagner nicht nur einen dekorativen Kunstgriff, sondern auch eine zentrale dramaturgische Funktion. Obschon sie ihre Sitzplätze im Festspielhaus zu keinem Zeitpunkt verließen, sollte die Wandeldekoration die Imagination der Zuschauer anregen, Parsifal auf seiner Reise durch Raum und Zeit in eine Sphäre der Transzendenz zu begleiten: [U]nter der Einwirkung der die Verwandelung [sic!] begleitenden Musik, sollten wir, wie in träumerischer Entrückung, eben nur unmerklich die ›pfadlosen‹ Wege zur Gralsburg geleitet werden, womit zugleich die sagenhafte Unauffindbarkeit derselben für Unberufene in das Gebiet der dramatischen Vorstellung gezogen war.893

Dem Theaterpublikum des 19. Jahrhunderts war das Prinzip der mechanisierten Landschaft nicht unbekannt. Es wird vermutet, dass ähnliche Wandeldekorationen beispielsweise in London und Paris ab Ende der 1820er Jahre zum Einsatz kamen. Außerdem erfreuten sich Bildmedien der populären Unterhaltungskultur, wie das Panorama und das Diorama, in dieser Zeit größter Popularität, weil sie dem stark aufkeimenden Bedürfnis nach einer Reise durch Raum und Zeit entgegenkamen. In der Dynamisierung des Bühnenbildes, die die Ästhetik einer Filmspule vorweggriff, knüpfte Brandts Wandeldekoration für die Parsifal-Uraufführung dezidiert an 892 Zur musikalischen Verwandlung der Szene siehe u. a. Kienzle 2008b, S. 175–177; Kinderman 2005, S. 158–175 u. Syer 2005, S. 190. 893 Wagner 1907b, S. 305. Siehe hierzu auch Smith 2002, S. 257.

274       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

Abb. 123: Schnitt durch das Panorama in der Rotunde, Leicester Square, London, 1801.

jene technischen Errungenschaften an. Das monumentale Rundbild des Panoramas ermöglichte dem Besucher einen 360-Grad-Rundumblick auf detailgenau wiedergegebene Landschaften oder Stadtansichten (Abb. 123).894 Mechanisierte Panoramen, die sogenannten moving panoramas oder Cycloramen erweiterten diese Funktion. Auf zwei senkrechten Spulen wurden bemalte Leinwandstreifen langsam abgerollt, um eine Illusion von Bewegung zu erzeugen. Die in ihrer Funktion abweichende Dioramatechnik kam dem Anliegen der Visualisierung von Zeit am stärksten entgegen. Durch einen sich kontinuierlich verändernden Lichteinfall auf die Dioramabilder sowie einen schwenkbaren Zuschauerraum suggerierte das Medium nicht nur Perspektivwechsel und Bewegungsabläufe, sondern auch Veränderungen des Ortes und der Tageszeiten.895 So wie Wagner den Zuschauerraum in seinem Festspielhaus abdunkeln ließ, benötigten die Panoramen und Dioramen die fast vollständige Dunkelheit für die wirkungsvolle Entfaltung ihres visuellen Spektakels. Auf diese Weise wurde die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die technische Innovation gebündelt, um das Eintauchen in eine authentische Landschaft und das unmittelbare Nacherleben einer Bewegung beziehungsweise einer Reise zu befördern.896 Wagners Bühnenbildner und Theatertechniker konnten durch den Einsatz neuester Bühnenmaschinerie und Beleuchtungstechnik die verschiedenen Funktionen der Unterhaltungsmedien in der Wandeldekoration vereinen. So wie die Besucher der Panoramen und Dioramen von Überwältigung, Staunen und Schwindelgefühlen ob der dynamischen Raum- und Zeiterfahrung berichteten, erinnerte sich der Dirigent Felix Weingartner (1863–1942) an die Uraufführung des Parsifal: Als Gurnemanz sich anschickte, Parsifal zur Gralsburg zu geleiten, ergriff mich ein leiser Schwindel. Was geschah? Mir war es, als ob sich das Haus mit allen Zuhörern in Bewe-

894 Vgl. hierzu auch Smith 2002, S. 258 u. Baumann 1988, S. 286–288. Für eine ausführliche Differenzierung der Mechanik von Panorama und Diorama, ihre Weiterentwicklung im Verlauf des 19. Jahrhunderts sowie deren Popularität in Deutschland und Frankreich siehe Leonhardt 2007, S. 75–89; Schwartz 1998, S. 149–176 u. Buddemeier 1970. 895 Vgl. Leonhardt 2007, S. 83 f. 896 Siehe hierzu auch Mackintosh 2003, S. 40–42.

4.1  Vom heiligen Wald zur sakralen Landschaft der Uraufführung des Parsifal       275 gung setzte. Die durch eine Wandeldekoration bewerkstelligte Umgestaltung der Szene hatte begonnen. Die Illusion war vollkommen. Man schritt nicht, man wurde getragen. [...] Eine beispiellose Wirkung war mit den einfachsten Mitteln hervorgebracht.897

Obschon der Gralstempel und der Gralskelch als die offensichtlichen Medien des Heiligen in Wagners Parsifal erscheinen, muss die Verwandlung des Waldes in den Tempel als eine entscheidende Szene der Sakralisierung angesehen werden. Die Wandeldekoration sollte unter den Zuschauern nicht nur den Eindruck einer imaginären Raum- und Zeitreise erwecken, sondern Wagner wollte damit auch an die dramaturgisch wie symbolisch zentrale Funktion des Pilgerns appellieren. Matthew Smith hat das große Identifikationspotenzial in der Verwandlungsszene herausgestellt: »Parsifal’s pilgrimage to Monsalvat [...] reinforc[ed] a medieval sense of the German landscape as well as an identification of Bayreuth with the long-lost castle of the Grail.«898 Mit dieser Beobachtung setzt Smith den Gralstempel und das Festspielhaus als Erlebnisraum einer weihevollen Zeremonie in eins. Wie schon in der Einleitung skizziert, erfolgte die konsequente Nachahmung der rituellen Praktiken und Inszenierungsstrategien von Wallfahrtsorten auch zu dem Zweck einer topografischen Sakralisierung des Aufführungsortes. Die Errichtung der Festspielstätte in Bayreuth wurde durch Wagners Wunsch bestärkt, sich in einer ländlichen Umgebung – in der Natur – niederzulassen, in der der Wald immer schon eine besondere Bedeutung trug: »Bis hierher erstreckte sich einst der ungeheure hercynische Wald, in welchen die Römer nie vordrangen.«899 Während das Gelände heute von Wohnsiedlungen eingerahmt ist, befand sich das Festspielhaus im Jahr seiner Eröffnung 1876 auf einer weitläufigen Anhöhe nördlich der eigentlichen Stadt. Durch den Beinamen ›Grüner Hügel‹ erfuhr der Festspielbezirk eine metaphorische Abgrenzung vom städtischen Alltag.900 Der Holzstich Das Wagner-Theater in Bayreuth nach seiner Vollendung, der im Jahr 1873 veröffentlicht wurde, zeigt das zukünftige Festspielhaus, wenngleich die Arbeiten an der Außenfassade und der Innenausstattung zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen waren (Abb. 124). In all seinen »gewaltigen Dimensionen«901 thront der Neubau im Zentrum der Darstellung. Ergänzt wird das Bauwerk um Staffagefiguren, die an 897 Weingartner 1923, S. 165 f. (Hervorh. S. B. Q.). In ihrer Analyse zeitgenössischer Rezeptionsdokumente hat Nic Leonhardt Schwindel und Übelkeit als Reaktionen der Besucher eines Panoramas herausgestellt. Vgl. Leonhardt 2007, S. 81. 898 Smith 2002, S. 259. Siehe auch Koss 2011; Gebhardt/Zingerle 1998 u. Schneller 1997, S. 94– 113. 899 Wagner 1873, S. 17. Als Reaktion auf die zunehmende Industrialisierung und Urbanisierung besannen sich die Großstädter auf die Natur als Ort der Freizeitgestaltung. Zu dieser Tendenz siehe Kapitel 4.3. 900 Die Bezeichnung ›Grüner Hügel‹ geht auf den gleichnamigen Hügel in Zürich, auf dem die Villa Wesendonck steht, zurück. Richard Wagner war in den Jahren 1857 und 1858 Gast der Familie Wesendonck. Die Stadt Bayreuth hatte Wagner das »unvergleichlich schöne[] und ausgiebige[]« Grundstück geschenkt, um sein Festspielvorhaben zu unterstützen. Wagner 1873, S. 9. Siehe weiterführend Schneller 1997, S. 113–136. In der Bibel gilt der Berg als ein Ort der unmittelbaren Nähe zu Gott, so etwa der Berg Sinai, an dem Moses die Zehn Gebote empfängt. Vgl. 2. Mose 34. 901 Kästner 1873, S. 516.

276       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

Abb. 124: Das Wagner-Theater in Bayreuth nach seiner Vollendung, 1873.

einem sonnigen Tag auf der weitläufigen Terrasse promenieren. Während die Stadt Bayreuth nicht zu sehen ist, kann der Betrachter den Blick über Wiesen im Hintergrund wandern lassen. Diese Aussicht imaginiert Peter Kästner (nicht ermittelbar), der Verfasser des Artikels »Der Tempel der Zukunftsmusik« in der Zeitschrift Die Gartenlaube, dem der Holzstich als Illustration beigegeben ist: Wir lassen den Blick gen Osten schweifen – da zeigt sich uns in blauer duftiger Ferne die lange Kette des Fichtelgebirges, an deren Grenze fern am Horizonte der rauhe Culm emporsteigt. Aus dunkeln Tannen- und Fichtenwäldern erhebt sich gegen Süden ein alter Bergriese, der Sophienberg. [...] [Ü]ber Berg und Thäler, Wälder und Wiesen, durch das herrliche Mainthal schweift das Auge weit hinein in’s Culmbacher Land, um endlich im Norden auf einer prächtigen Hochwaldpartie, der Hohen Warte, einen angenehmen Ruhepunkt zu finden.902

In Verbindung mit dem Holzschnitt macht dieses Landschaftspanorama deutlich, dass die visuelle Überhöhung des Festspielhauses schon vor seiner Vollendung einherging mit einer gesteigerten Wahrnehmung der Natur als Ausdruck des Erhabenen. Für Kästner fügte sich der neuartige Kolossalbau nahtlos in die Reihe der als mächtig empfundenen ›Bergriesen‹ ein, wurde er doch zum alles überragenden Blickpunkt. Diese visuelle Inszenierung des über der Stadt erhabenen Festspielhauses findet sich in zahlreichen zeitgenössischen Aquarellen, Druckgrafiken, Fotogra902 Kästner 1873, S. 516.

4.1  Vom heiligen Wald zur sakralen Landschaft der Uraufführung des Parsifal       277

fien und Postkarten. Mit der Eröffnung der ersten Festspiele wurde die Bezeichnung ›Grüner Hügel‹ zu einer festen Metapher für die sakrale Überhöhung des Festspielhauses und die kultische Verehrung Richard Wagners. In diesem Prozess muss die Wandeldekoration als das szenische Repräsentationsmedium der sakralen Topografie der Festspielstätte in Bayreuth verstanden werden. Die fortschrittliche Bühnentechnik vergegenwärtigte den Zuschauern ihre weite Anreise mit der Eisenbahn und rief gleichfalls Erinnerungen an den eigenen physischen Prozess des Wanderns auf den Festspielhügel wach. Nach der Ankunft am Bahnhof galt es, vergleichbar mit einer Pilgerprozession, einen zwanzigminütigen Fußweg aus dem Stadtzentrum vorbei an Wiesen und Weiden den ›Grünen Hügel‹ hinauf zurückzulegen. Die weite Anreise, die Zwischenstation in den beiden Gaststätten, welche den Weg säumten, und die Zerstreuung in den künstlich angelegten Gärten wurden zu einem festen rituellen Ablauf eines jeden Aufenthaltes in Bayreuth. In Anlehnung an die Pilgerpraktiken wurde »der übliche Theaterbesuch zu etwas Besonderem, zum Festlichen erhoben«.903 Nicht alleine das ikonische Bühnenbild des Gralstempels, sondern gerade die Inszenierung der Festspielstätte als Ort der Weihe und des Kultes trugen also zu einer gesteigerten sakralen Aufladung des Parsifal bei: Es ist gewiß, daß nicht nur die Güte der Darstellung und die Überlieferungen in Bayreuth, daß auch die Schlichtheit des Ortes, auch die Ruhe seiner Abgeschiedenheit, daß jetzt auch schon die Fülle seiner Erinnerungen das Spiel auf dem Hügel immerdar zu andrer Wirkung bringen kann, als eine Aufführung auf irgendwelcher Bühne sonst.904

Ferdinand Avenarius’ (1856–1923) Einschätzung untermauert, wie sehr sich der Aufführungsort Bayreuth in die Rezeption des Bühnenweihfestspiels einschrieb. Dennoch bemühte sich der Stiefneffe Wagners um eine objektive Positionierung innerhalb der Debatte um die Aufhebung der Schutzfrist. Auf die Gefahr hin, dass der Parsifal zu einem europäischen ›Wandertheater‹ verkomme, betont er die Notwendigkeit einer Inszenierung an renommierten deutschen Opernhäusern.905 Aufgrund dieser hohen, bisweilen skeptischen Erwartungshaltung drängen sich daher mit Blick auf die Bühnenfreigabe im Jahr 1914 zwei entscheidende Fragen auf: Inwiefern wurde die Inszenierung des Sakralen ästhetisch neu besetzt, als die sakrale Topografie Bayreuth als Rahmung der Parsifal-Aufführung hinfällig wurde? Inwieweit wurde das Muster der Festspielgemeinde ästhetisch neu verhandelt?

903 Bauer 2010, S. 223. Siehe hierzu u. a. auch Koss 2010, S. 44 u. S. 46; Weber 2010, S. 193; Schwartz 2003, S. 427 u. Smith 2002, S. 255. Zur Anlehnung des Theaters an das Ritual des Pilgerns vgl. die Kapitel 1.4 u. 2.1.3. 904 Avenarius 1912, S. 372. Siehe hierzu auch Steinhoff 2012, S. 379 f. u. S. 382. 905 Vgl. Avenarius 1912, S. 371 f.

278       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

4.2 Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen Die nachfolgenden Fallstudien gehen von der Grundannahme aus, dass nach 1914 neue szenografische Konzepte für den Parsifal entstanden, in denen Richard Wagners musikalische Komposition zu dem zentralen Fluchtpunkt wurde. Auf der Grundlage von Wagners philosophisch-theoretischen Ausführungen attestiert Friedemann Kreuder dem Komponisten eine dynamische Bildauffassung: »Bilder bilden die Realität nicht einfach nur ab, sondern bringen unter der produktiven Leistung der Betrachter eine neue Realität hervor.«906 Zwar hatte er von Anfang an die Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Landschaftsmalern gesucht, jedoch zweifelte Wagner stets an der Umsetzbarkeit der malerischen Entwürfe auf der Bühne.907 Die gemalten Hintergrundprospekte, für die er das renommierte Theateratelier Brückner beauftragt hatte, blieben schließlich der Darstellungstradition jener Zeit verpflichtet. Ausgehend von den Szenenanweisungen Wagners wurden also Landschaften in ihrer topografischen Beschaffenheit und Farbigkeit exakt nachgebildet, wie Max Brückner (1836–1919) erklärte: »Grosse herrliche Naturbilder in ergreifenden Stimmungen sind es, welche die Dichtung verlangt und vorschreibt und habe ich mich bestrebt, so treu und innig wie möglich, die scenische Oertlichkeit [sic!], wie der Meister dieselbe sich gedacht, wiederzugeben.«908 Auf diese Weise manifestierte sich auch für die Inszenierung des uralten Gralsmythos eine dem szenischen Realismus verhaftete Bildsprache. Zwar widersprach sie Wagners ästhetischer Grundauffassung, schrieb sich jedoch dadurch, dass der Parsifal-Stoff über Jahrzehnte ausschließlich und unverändert in Bayreuth aufgeführt werden durfte, fest in die Erwartungshaltung des Publikums ein. Der Widerspruch zwischen Produktionspraxis und Wagners ästhetischer Überzeugung barg eine Herausforderung für seine Nachfolger, wie sie Willy F. Storck (1889–1927) formulierte: Es »gähnt eine Kluft zwischen dem wesenhaften Gehalt des Spieles und seiner vorgeschriebenen Bühnengestaltung. Die Erhabenheit der Vision liegt im Kampf mit einem lähmenden Dekorationsüberschwang«.909 Ansätze, die jenem ›Dekorationsüberschwang‹ hätten entgegenwirken können, gab es durchaus schon zu Wagners Zeiten. Für Paul Schubring war der Schweizer Arnold Böcklin (1827–1901) einer der Maler, die Wagners Kunstauffassung durch »eine Konzentration der künstlerischen Mittel auf eine höchste Klarheit des Ausdrucks« am wirkungsvollsten hätte umsetzen können.910 Böcklin, der einen Ver906 Kreuder 2013, S. 13. 907 Für den Ring des Nibelungen engagierte Wagner Josef Hoffmann. Daneben suchte er den Kontakt zu Arnold Böcklin und Hans Makart. Vgl. Kreuder 2013, S. 7 f. u. Fischer-Lichte 1993, S. 212. 908 Brückner 1896, o. S. Zu den seriell gefertigten Kulissen der Theaterateliers siehe weiterführend Ibscher 1972. 909 Storck 1914, S. 458. 910 Schubring 1905, S. 552. In seiner 1904 veröffentlichten Studie Richard Wagner und Arnold Böcklin oder Über das Wesen von Landschaft und Musik (Leipzig: Zeitler) beschäftigte sich Gottfried Niemann ausführlich mit den Stimmungselementen in Wagners Musikdramen und Böcklins Landschaftsgemälden. Siehe hierzu weiterführend Gottdang 2015.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       279

Abb. 125: Arnold Böcklin, Der heilige Hain, 1882.

trag mit Wagner für die Bühnenbildentwürfe zu Parsifal abgelehnt hatte, schuf im Jahr der Uraufführung das Gemälde Der heilige Hain (Abb. 125).911 In diesem Werk erfährt die sakrale Aufladung des ›lichten Hains‹ als Metapher des Heiligen eine dezidierte ästhetische Neubewertung. Eingerahmt von einer Gruppe von Birken ist die Anbetung eines Naturheiligtums durch eine Gruppe von Priestern dargestellt. Für das Bildthema wählte Böcklin eine theaterhafte Komposition: Der Blick des Betrachters ist wie aus einem Zuschauerraum frontal auf die Szene gerichtet, die Platzierung der einzelnen Bäume im Vordergrund erinnert an die Gassen einer Guckkastenbühne und die Prozession der Priester an den Auftritt von Schauspielern.912 Zur zentralen Inszenierungsstrategie des kultischen Rituals avanciert jedoch die Lichtführung. Insbesondere auf der rechten Seite ist der Himmel in gleißendes Licht getaucht. Das Leuchten dringt durch die Bäume hindurch und erzeugt ein markantes Spiel des Hell-Dunkel-Kontrastes. Auf diese Weise umgibt ein warmes, unwirkliches Licht die Kultstätte. Während der Wald im Hintergrund flächenhaft erscheint, tritt der durchlichtete Bereich links plastisch deutlich hervor. Darüber hinaus zeichnet sich das Gemälde durch eine besondere sinnliche Erfahrbarkeit aus, die über das rein Visuelle hinausreicht. So zeugt Thomas Manns Beschreibung in Betrachtungen eines Unpolitischen aus dem Jahr 1918 von einem hohen Maß an Sinneseindrücken: Ich brauche nur aufzublicken von meinem Tisch, um mein Auge an der Vision eines feuchten Haines zu laben, durch dessen Halbdunkel die lichte Architektur eines Tempels schimmert. Vom Opferstein lodert die Flamme, deren Rauch sich in den Zweigen verliert. Steinplatten, in den sumpfig-beblümten Grund gebettet, führen zu seinen flachen

911 Am 24. Juli 1880 besuchte Böcklin Wagner in seiner Villa in Posillipo bei Neapel. Vgl. Glasenapp 1905, S. 375–377. Zu Wagners Angebot an Böcklin siehe auch Ausst.-Kat. Bayreuth 2008, S. 65. 912 In einer Streitschrift kritisierte der Kunsthistoriker Alfred Julius Meier-Graefe Böcklins Kompositionen als Effekttheater. Vgl. Meier-Graefe 1905, S. 229 f. Siehe hierzu auch Marx 2007, S. 25.

280       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914 Stufen, und dort knieen [sic!], ihr Menschtum feierlich vor dem Heiligen erniedernd, priesterlich verhüllte Gestalten.913

Für den Betrachter wird nicht nur das Lodern des Feuers auf dem Altar als Geräusch und Geruch imaginierbar. Vielmehr wird es ebenso wie das Rauschen des Windes in den Blättern der Bäume und den Gräsern zum Ausdruck der Präsenz einer göttlichen Macht. Obschon Böcklin letztlich in der naturalistischen Darstellungstradition verblieb, ist seine Auffassung des Naturschauplatzes keinesfalls mit den Walddekorationen des Theaterateliers Brückner zu vergleichen. Mit seiner atmosphärischen Lichtführung griff er eine Strategie vorweg, die für die Raumkonzepte der Neuinszenierungen des Parsifal nach 1914 maßgeblich werden sollte.914 Bereits in den 1890er Jahren setzte sich der Schweizer Bühnenbildner und Theaterreformer Adolphe Appia intensiv mit der Inszenierung des Parsifal auseinander.915 Während seines Besuchs der Bayreuther Uraufführung hatte die statische Beleuchtung des Festspielhauses die gemalten Leinwandkulissen als »scenische Täuschung«916 entlarvt. Um Wagners ästhetischen Zielvorgaben zu entsprechen, dachte Appia an, die symbolgewaltige Handlung und die ausdrucksstarke Musik ausschließlich durch ein »anspielungsreiches und fließendes Heraufbeschwören der Umgebung« in Szene zu setzen.917 Mit dieser Überzeugung war er einer der ersten Bühnenbildner, der Wagners Musik als Vorlage für ein dynamisches und transitorisches Szenenbild begriff. Seine monochromen Szenenentwürfe für das nicht realisierte Projekt aus dem Jahr 1896 veranschaulichen eines der frühesten und visionärsten Raumkonzepte für die Neuinszenierung des Parsifal.918 Die Verwandlung des Waldes in den Gralstempel sah Appia in Wagners musikalischer Komposition vorgearbeitet: In der Musik steht der Wald für einen Tempel. Er muß diesen Charakter haben – um so mehr, als der Tempel des Heiligen Grals selbst am Ende des Akts an die Stelle des Waldes

913 Mann 1918, S. 487. 914 In seinem Beitrag über die szenografische Erneuerung des Parsifal setzt Ernst Leopold Stahl die Entwürfe Böcklins und Appia diametral entgegen. Vgl. Stahl 1913b, S. 6. Allerdings könnte die Lichtwirkung, die Böcklin in dem Gemälde Der heilige Hain erzielte, ein wichtiger Anstoß für Appias Lichtraumexperimente gewesen sein. 915 Diese Überlegungen veröffentlichte Appia erstmals in La mise en scène du drame wagnérien (Paris: L. Chailley, 1895) mit einer Auflage von dreihundert Exemplaren. Zwischen 1890 und 1892 sandte er Entwürfe zum Ring des Nibelungen nach Bayreuth, doch Cosima Wagner lehnte eine Zusammenarbeit mit dem Bühnenbildner ab, weil sie die Musteraufführungen ihres Mannes nicht verändern wollte. Vgl. u. a. Schmidt 2012, S. 170 f.; Carnegy 2006, S. 175–190 u. Nehring 2004, S. 27–40. 916 Appia 1899, S. 18. Seine Analyse der Bayreuther Parsifal-Inszenierung findet sich auf S. 140–153. 917 Beacham 2006, S. 53. Vgl. hierzu auch Kreuder 2013, S. 13; Nehring 2004, S. 25 f. u. Styan 1981, S. 10–12. Zu Appias Musik-Begriff siehe ausführlich Roesner 2014, S. 23–56. 918 Im Oktober 1912 wurden diese Entwürfe gemeinsam mit begleitenden Szenenanweisungen in der deutschsprachigen Kulturzeitschrift Der Türmer veröffentlicht. Vermutlich arbeitete Appia schon früher an dem Projekt, seine Überlegungen zur Neuinszenierung des Parsifal fanden jedoch keinen Eingang in La mise en scène du drame wagnérien. Vgl. hierzu auch Volbach 1968, S. 67.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       281

Abb. 126: Adolphe Appia, Bühnenbildentwurf zu Parsifal, 1896 (Projekt).

tritt. Entsprechend müssen die Linien und die allgemeine Anordnung der Bäume zur architektonischen Anordnung passen.919

Demzufolge skizziert Appia das Waldbild als eine dreidimensionale Raumbühne, deren Ausstattung er auf abstrakt-geometrische Bühnenaufbauten reduziert (Abb. 126). Auf eine farbige Ausgestaltung des Entwurfs verzichtet er gänzlich, um stattdessen differenzierte Licht- und Schattenwirkungen zu erproben. Die glatten, hoch aufragenden Baumstämme umstehen halbkreisförmig eine Freifläche im Vordergrund. Durch eine dunkle Schattenbildung im Bereich der Bäume gewinnen diese zusätzlich an Monumentalität. Ihre Kronen verbinden sich scheinbar nahtlos zu einer dunklen Masse, die an ein Deckengewölbe gemahnt. Auf der linken Seite steigt der Waldboden zunehmend an, während der Gralssee lediglich als ein heller Streifen im Mittelgrund angedeutet ist. Dadurch, dass das Licht von der im Hintergrund liegenden Gebirgslandschaft in den Wald hineinfällt, wird eine atmosphärische Raumwirkung erzeugt, die zwischen Außen und Innen oszilliert. So verdeutlicht dieser Entwurf Appias innovativen Ansatz, Räumlichkeit allein durch eine gezielte Bewegung des Lichts zu schaffen. In seiner erstmals 1899 unter dem deutschen Titel Die Musik und die Inscenierung veröffentlichten Schrift erklärte Appia die szenische Beleuchtung als das zentrale künstlerische Gestaltungselement einer Inszenierung. Während er dem ›verteilten 919 Appia 1988, S. 407, übers. v. Beacham 2006, S. 54.

282       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

Licht‹, das von der feststehenden Rampen- und Seitenbeleuchtung aus auf die Bühne trifft, die Aufgabe zuschreibt, das Spielgeschehen für das Publikum überhaupt erst sichtbar zu machen, erzeuge das ›gestaltende Licht‹, das sich an den Darstellern und den praktikablen Bühnenaufbauten bricht, ein dynamisches Spiel von Licht und Schatten. Die verschiedenen Formen, die die Lichtkegel hervorbringen, sollten zu einer zusätzlichen Ausgestaltung des Spielraums beitragen.920 Der symbolgeladene Ortswechsel in den Gralstempel bedurfte folglich einer kalkulierten beleuchtungstechnischen und maschinellen Metamorphose: [W]ährend der musikalischen Pause [wechseln] die Baumstämme der ersten Szene langsam ihren Platz auf das Felsplateau [...]. Das natürliche Tageslicht weicht dem übernatürlichen Licht des übernatürlichen Tempels, und die Steinsäulen treten allmählich und reibungslos an die Stelle der hohen Baumstämme des Waldes: Auf diese Weise treten wir von einem Tempel in den anderen.921

Erst über die Bewegung von Licht und Schatten, die den Rhythmus der Musik aufgreift, kann es folglich gelingen, das Waldbild auf der Bühne in einen gelichteten, klingenden und dynamischen Waldraum zu überführen, der für das Publikum nicht nur sichtbar, sondern auch sinnlich erlebbar wird. Indem er in seinem Parsifal-Entwurf den Gralswald als einen ›lichteren‹ Wald modelliert, erzeugt Appia jene sakrale Atmosphäre, die in der darauffolgenden Szene im Gralstempel eine Steigung erfahren soll.922 Es ist überaus bezeichnend, dass Appias programmatische Schrift zunächst in einer deutschen Übersetzung und erst 1963 in der französischen Originalfassung erschien. Dies scheint gar ein strategischer Fingerzeig in Richtung Bayreuth gewesen zu sein, um auf die dringend notwendigen Reformen der dortigen Inszenierungspraxis aufmerksam zu machen. Die starke Zirkulation seiner theoretischen Abhandlungen, die unmittelbar mit der Veröffentlichung einsetzte, veranschaulicht überdies, 920 Vgl. Appia 1899, S. 83–86. Vielfach wurde Appia attestiert, er habe Beleuchtungstechniken imaginiert, die seiner Zeit weit voraus gewesen seien. Vgl. u. a. Baugh 2014, S. 95 u. S. 105 f. u. Styan 1981, S. 10–12. Allerdings hat jüngst Scott Palmer darauf hingewiesen, dass er viele seiner Erkenntnisse aus Experimenten mit der verfügbaren Beleuchtungstechnik seiner Zeit schöpfte. Vgl. Palmer 2013, S. 77–97. Siehe hieran anschließend Abulafia 2015, S. 20–23. Zu Appias Lichttheorie siehe außerdem Schmidt 2012, S. 170–174; Streisand 2005, S. 257–259; Nehring 2004, S. 42–44 u. Baumann 1988, S. 306–321. Bezugnehmend auf diese Entwicklungen spricht Hans Blumenberg von einem ›gezielten‹ Licht des Theaters. Vgl. Blumenberg 2001, S. 170 f. 921 Appia 1988, S. 407, übers. v. Beacham 2006, S. 54 f. 922 Zum atmosphärischen Spiel von Licht und Schatten, das die Atmosphäre eines Waldes hervorbringen kann, schreibt Appia an anderer Stelle: »[D]ie Beschaffenheit dieses Lichtes läßt nun den Zuschauer das Vorhandensein jener Dinge empfinden, welche gerade dieses Licht bedingen, und welche er deshalb nicht mehr nötig hat, thatsächlich zu sehen.« Appia 1899, S. 75 f. Vgl. hierzu auch Palmer 2013, S. 87 u. Mackintosh 2003, S. 45. Christopher Baugh geht davon aus, dass Appia anhand von Wagners Libretti ein lighting plot, also ein Skript mit Anweisungen zur Lichtregie in den einzelnen Szenen, anfertigte. Vgl. Baugh 2014, S. 104. Es sind leider keine Skizzen Appias für die Gralstempelszene erhalten. Vgl. Volbach 1968, S. 67.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       283

dass Appias Vision in erster Linie in Schriftform verbreitet wurde. Erst zu einem späten Zeitpunkt seiner Karriere konnte Appia seine Konzepte für die Neuinszenierung von Wagners Musikdramen realisieren. So arbeitete er in den 1920er Jahren mit dem Regisseur Oskar Wälterlin (1895–1961) am Stadttheater Basel an zwei Opern des Ring-Zyklus. Obschon Appia zu dieser Zeit neue Skizzen für ein Parsifal-Projekt entwarf, fanden diese keine Umsetzung.923 Dennoch hatte er mit seinem frühen Projekt ein bahnbrechendes Muster für die Wald- und Verwandlungsszene vorgelegt. Mit der Bühnenfreigabe des Stücks im Jahr 1914 gewann Appias Konzept, über eine gezielte Bühnenbeleuchtung, die Architektur und feierliche Atmosphäre des Gralstempels schon in der Waldszene einzuleiten, an Aktualität. Zahlreiche Künstler, insbesondere aus dem deutschsprachigen Raum, hatten einen leichten Zugang zu Appias Schriften. Für die ausgewählten Inszenierungen der nachfolgenden Analysen sind zwar keine expliziten Dokumente erhalten, in denen sich die Bühnenbildner unmittelbar auf Appia bezogen. Doch das Bild- und Quellenmaterial gibt eindeutig Aufschluss darüber, dass sie sich an diesem innovativen Muster orientierten. Auf diese Weise etablierte sich ein alternatives Bildrepertoire zu der Bayreuther Musterinszenierung, das in einem dynamischen Prozess stetig abgewandelt und weiterentwickelt wurde.924 In ihrer Publikation Parsifal 1914 unternimmt Nora Eckert den Versuch einer mentalitätsgeschichtlichen Analyse des Bühnenweihfestspiels. Dabei spannt sie einen weiten Bogen zwischen der Gründung des Deutschen Reiches 1871, der Uraufführung des Parsifal im Jahr 1882, dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der politischen Instrumentalisierung des Stücks durch die Nationalsozialisten. Ihr methodischer Zugriff des »Panoramablicks«925 auf diverse Neuinszenierungen, die Fülle an Querverbindungen und die Vielzahl zeithistorischer Ereignisse lässt sowohl eine abgesteckte Materialgrundlage als auch eine konsistente Argumentation vermissen und viele Schlussfolgerungen pauschalisierend erscheinen. Um die einzelnen Parsifal-Projekte als Teil einer umfassenden ästhetischen Strömung zu begreifen, ist die Auswahl mehrerer Inszenierungen sinnvoll, während in den vorangegangenen Fallstudien jeweils eine Inszenierung im Zentrum der Analyse stand. Die ParsifalForschung hat sich bislang auf prominente Beispiele konzentriert. Ausführlichere Beschreibungen finden sich zu Adolphe Appias Projekt von 1896, Gustav Gampers (1873–1948) Bühnenbild für die Inszenierung in Zürich im Februar 1913, Ludwig Sieverts Entwürfe für die Freiburger Premiere von 1914 sowie Ewald Dülbergs (1888– 1933) und Svend Gades (1877–1952) Zusammenarbeit am Stadttheater Hamburg.926 Um die Vielfalt szenografischer Lösungen für die Neuinszenierung aufzuzeigen, rü923 Volbach hat aufgezeigt, dass Appia über ein Jahrzehnt an den Entwürfen für den Gralswald arbeitete, indem er das Größenverhältnis und den Lichteinfall variierte. Siehe Volbach 1968, S. 69. 924 Siehe hierzu auch Storck 1914, S. 458, der Appias »reine und hohe Kunst« in ihrer »ätherischen Leichtigkeit« als singuläre Erscheinung deklariert. 925 Eckert 2003, S. 8. 926 Zur Inszenierung in Zürich vgl. »Regieplan von Oberregisseur Hans Rogorsch«, in: Stahl 1913a, S. 25–31. Siehe auch Steinhoff 2012, S. 388; Bauer 1982, S. 272 u. Trapp 1913. Für die Hamburger Inszenierung von Hans Löwenfeld im Jahr 1914 schuf Dülberg die Kostüme

284       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

cken nachfolgend bewusst Randgestalten der Theatergeschichtsschreibung in den Fokus. Im Prozess der Neuinszenierung durch die Bühnenbildner Gustav Wunderwald, Joseph Urban und Hans Wildermann erfuhr der Moment der Verwandlung des Waldes in den Gralstempel eine gesteigerte sakrale Aufladung. Auch in Max Reinhardts Mirakel-Inszenierung war der Wald ein Ort des Übergangs zwischen den Szenen, die im Inneren der Klosterkirche spielen und jenen, die eindeutig in der profanen Außenwelt angesiedelt sind. In einer subtilen Überlagerung der beiden Spielräume fing der Bühnenbildner Norman Bel Geddes diese spannungsvolle Wechselbeziehung ein (Abb. 63).927 Außerhalb der vorgeschriebenen Strukturen Bayreuths wird die Transformation des Waldes von einem transitorischen in einen heiligen Ort zu einem zentralen Gestaltungselement der Parsifal-Inszenierungen. Da nachfolgend visionäre Konzepte in das Zentrum der Untersuchung rücken, liegt deren Fokus insbesondere auf einer materialorientierten Analyse der Bühnenbildentwürfe im Hinblick auf die ästhetischen Gestaltungsstrategien und die intendierte sinnlich-affektive Erfahrbarkeit der Waldszene. Rezeptionsdokumente werden weniger zu Rate gezogen, um sich der Aufnahme durch das jeweilige Theaterpublikum anzunähern, sondern vielmehr um das szenografische Gesamtkonzept der Inszenierungen zu vervollständigen. Die Metamorphose des Waldes wird dabei unter verschiedenen, sich dennoch durchdringenden Aspekten beleuchtet. Die ausgewählten Konzepte kennzeichnen allesamt Inszenierungsstrategien, die den sakral aufgeladenen Raum des Gralstempels in der Waldszene abstrakt durchscheinen lassen. Daher soll die Analyse der Entwürfe die ästhetischen Strategien aufzeigen, durch die das Erfahrungsmoment des Sakralen vorbereitet wurde: Wodurch erfuhr der Wald eine sakrale Aufladung und inwieweit verschränkte sich die Wahrnehmung der Natur mit der des Heiligen? Den Ausgangspunkt der Analyse bildet die Beobachtung, dass in dem Moment des Durchscheinens des Tempels im Wald dem Verhältnis von Licht und Dunkelheit eine entscheidende Funktion zuteil kam. Eine gezielte Lichtinszenierung und Beleuchtungstechnik waren zwingend notwendig, um die Illusion eines Sakralraums im Naturraum zu evozieren. Felix Weingartner, ein Befürworter der Bayreuther Verwandlungsmechanismen, betrachtete die technische Umsetzung als Scheidepunkt der Neuinszenierungen: Als der ›Parsifal‹ für die Theater frei wurde, hat man mit plastischen Säulen, massigen Kuppeln und stellenweise noch massiverer Reklame diese [beispiellose – S. B. Q.] Wirkung nicht hervorgebracht und dabei noch die Wandeldekoration fallen lassen müssen, die man kurzerhand als ›überwundenen Standpunkt‹ bezeichnete, weil man seine Sorgfalt auf Unwichtiges verwendete, Wagners für den Stil seines Werkes unerläßliche Vorschrift aber zu verwirklichen nicht fähig war.928

und Gade das Bühnenbild. Zu dieser Zusammenarbeit siehe Bornemann 2013b, S. 25 f.; Kreuder 2013, S. 13 f. u. Syer 2005, S. 296. 927 Siehe die Analyse des Szenenbildes »A Forest Scene« in Kapitel 2.2. 928 Weingartner 1923, S. 166. Vgl. auch Avenarius 1912, S. 372. Siehe hierzu auch Steinhoff 2012, S. 379 f.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       285

Im Sommer 1913 erschien ein Sonderheft der Zeitschrift Die Scene, das der szenografischen Neuausrichtung des Parsifal gewidmet war. Einflussreiche Persönlichkeiten der Theaterpraxis und -kritik diskutierten die technischen Herausforderungen, die die Neuinszenierung des Bühnenweihfestspiels außerhalb Bayreuths in sich bergen würde. So galt die von Weingartner noch idealisierte Wandeldekoration Anfang des 20. Jahrhunderts bereits als unzeitgemäß und überholt. Deshalb wurden zahlreiche alternative Lösungsansätze, wie die Drehbühne, die Schiebebühne oder Vorhänge und Projektionen zur Diskussion gestellt.929 Vor dem Hintergrund dieses theoretischen Diskurses ergeben sich folgende zentrale Fragen an das Material: Welche Bühnenmaschinerie und technischen Errungenschaften kamen zum Einsatz, um die Metamorphose des Waldes in den Gralstempel in Gang zu setzen? Inwieweit war es möglich, die Farb-, Licht- und Schattenwirkungen der Natur mit der neuesten Beleuchtungstechnik des Theaters nacherlebbar zu machen?

4.2.1 Wald-Vision: Gustav Wunderwalds Raumkonzept zu ­Wagners Parsifal Die Ankunft des Parsifal in der Reichshauptstadt Berlin im Januar 1914 war schon Monate zuvor ein mediales Ereignis, markierte dessen Freigabe doch einen »[n]eue[n] Zeitabschnitt der Bühnengeschichte«.930 Dabei fällt auf, dass eine Reihe lokaler und überregionaler Berichterstattungen mit einer Schilderung der ›sakralen‹ Topografie Bayreuths beginnen, um diese im Anschluss mit dem geschäftigen Treiben der Industriemetropole Berlin zu kontrastieren. Im Gegensatz zu den Festspielbesuchern, die mit großer Vorbereitung und langer Anreise andächtig zu dem ›Grünen Hügel‹ pilgerten, war Wagners Bühnenweihfestspiel in Berlin mit der »bunt zusammengewürfelten Gesellschaft einer Millionenstadt« konfrontiert,931 die nach einem gewöhnlichen Arbeitstag zu den allabendlichen Parsifal-Aufführungen hetzten: [D]er genius loci, der um den Festhügel am roten Main schwebt und webt, schlug sie [die ungläubige Hörerschaft – S. B. Q.] doch wenigstens während der Stunden, in denen sich das Bühnenweihfestspiel in unvergleichlicher Erhabenheit vollzog, widerstandslos in seinen Bann. Er läßt sich nicht auf ein gewöhnliches Theater übertragen und noch minder auf ein gewöhnliches Theaterpublikum, das [...] sich in fliegender Eile in den Frack oder Smoking geworfen hat und dann im ratternden Auto angerast kommt, um nur ja noch vor dem dritten Fanfarenstoß den oft teuer vom Billetthändler erstandenen Sitz mit Mühe und Not zu erreichen.932

929 Vgl. Stahl 1913a. Zur Problematik der Wandeldekoration siehe auch Storck 1914, S. 459 u. S. 462. 930 Schmidt 1914b. 931 H. E. 1914. Siehe auch Schmidt 1914b. 932 H. E. 1914. Fritz Engel ließ seine Leser das exklusive Premierenpublikum im Auto durch das verregnete Berlin bis zum Königlichen Opernhaus an der Prachtstraße Unter den Linden folgen: »[A]us den Fonds der Wagen tasten ängstliche Lackschuhe nach den feuchten Trittbrettern. Reiher wippen auf unbedeckten Haarbauwerken, aus den Pelzen wagt sich

286       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

Aus jener gänzlich anderen, profanen Topografie ergibt sich für den Verfasser dieser Rezension in den Dresdner Neuesten Nachrichten die entscheidende Frage nach der Wirkungskraft einer Neuinszenierung in Berlin: »Wie kann da die erforderliche Sammlung vorhanden sein, wie kann man, heraustretend aus dem Lärm des Alltags, gleich in die Stimmung kommen, ohne die ein solches Werk gar nicht aufgenommen und genossen werden kann?«933 Während in der kleinstädtischen Provinz durch die exklusive Ausstattung und Lage des Festspielhauses die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Aufführung des Parsifal fokussiert wurde, wartete die Metropole Berlin mit einer Theaterlandschaft auf, »die im späten 19. Jahrhundert zu einem neuen Publikum für das Unterhaltungstheater und zur Ausbildung zahlreicher kleiner und großer Privattheater geführt hatte.«934 Neben der Königlichen Hofoper an der städtischen Hauptachse Unter den Linden und der Kroll-Oper wurde in der Peripherie der Großstadt mit dem Deutschen Opernhaus Charlottenburg im Jahr 1912 eine dritte große Opernbühne von einer privat-gesellschaftlichen Bürgerinitiative gegründet.935 Die dort am 1. Januar 1914 unter der Intendanz Georg Hartmanns (1862–1936) und der musikalischen Leitung Eduard Mörikes (1877–1929) gefeierte erste Premiere einer Neuinszenierung des Parsifal in Deutschland barg besondere Umstände der Rezeption. Die Kritikerschaft stellte nicht nur einen Vergleich zu der Bayreuther Uraufführung oder den zeitgleich stattfindenden Premieren in den europäischen Großstädten wie Breslau, Budapest, Madrid, Prag oder Rom auf. Vielmehr bestand in Berlin selbst eine besondere Wettbewerbssituation: Mit der Premiere am 5. Januar 1914 brachte Generalintendant Georg Graf von Hülsen-Haeseler (1858–1922) den Parsifal ununterbrochen vierzehnmal am Königlichen Opernhaus zur Aufführung.936 Die beiden Intendanten der Berliner Opernhäuser entschieden sich dabei für zwei diametral entgegengesetzte Inszenierungsstrategien. Im Rahmen seiner Ausführungen zur Parsifal-Manie der Jahre 1913 und 1914 verweist Anthony H. Steinhoff auf die spezifische »rivalry«937 der beiden Inszenierungen. Obschon der Historiker eine Reihe von Rezeptionsdokumenten ausgewertet hat, konzentriert er sich auf eine Zusammenfassung der Produktionsbedingungen der Inszenierung an der Königlichen Hofoper. Er streift die Inszenierung am Charlottenburger Opernhaus

oben ein schlanker Hals und unten irgendein Atlasglanz hervor, und die wohlrasierten Herren umsorgen zärtlich diese Frauen.« F. E. 1914. 933 H. E. 1914. Siehe auch Krebs 1914. 934 Grosch 2004, S. 1. 935 Der Neubau wurde am 7. November 1912 unter der Leitung von Ignatz Waghalter mit Ludwig van Beethovens Fidelio eröffnet. Siehe weiterführend Meyer zu Heringdorf 1988. 936 Auf Anordnung einer Hoftrauer wurde die Erstaufführung im Königlichen Opernhaus vom 4. auf den 5. Januar verlegt. Die Parsifal-Serie sollte dann vom 5. bis 18. Januar 1914 aufgeführt werden. Siehe die Ankündigung in der Berliner Börsen-Zeitung vom 31.12.1913. Eine spätere Ankündigung berichtet von einer dreiwöchigen Vorstellungsreihe mit achtzehn Vorstellungen, die am 25. Januar beendet wurde. Das Charlottenburger Opernhaus nahm das Bühnenweihfestspiel in seinen ständigen Spielplan auf. Siehe hierzu H. G. 1914. Zur Wettbewerbssituation vgl. auch Grosse 1982, S. 102. 937 Steinhoff 2012, S. 372.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       287

lediglich, während er die ästhetischen Strategien nahezu gänzlich außer Acht lässt.938 Mit der Gegenüberstellung der beiden Inszenierungen in Berlin soll in der folgenden Analyse eine Gleichzeitigkeit aufgezeigt werden, die von der musik- und theaterwissenschaftlichen Forschung bislang unberücksichtigt geblieben ist: Der Fokus liegt dabei auf dem Bühnenbild der Charlottenburger Inszenierung. Gustav Wunderwald lotete die Errungenschaften der Theaterreformbewegung aus, um seine eigene Position im Avantgardetheater auszuhandeln. Demgegenüber feierte die Wilhelminische Hofoper mit dem Hoftheatermaler Hans Kautsky (1864–1937) einen ihrer letzten großen Erfolge. Von der Berliner Avantgarde zu diesem Zeitpunkt bereits als nicht mehr zeitgemäß eingestuft, sollte sie mit der Kapitulation 1918 auch in der breiten Öffentlichkeit keine Beachtung mehr finden.939 Doch im Januar 1914 traten in Berlin Tradition und Innovation in eine Konkurrenz auf Augenhöhe. Um im Königlichen Opernhaus einen würdigen Rahmen zu schaffen, sollte schon vor Beginn der eigentlichen Aufführung der Raumeindruck des Festspielhauses und des Gralstempels evoziert werden. Die Ausstattungswerkstätten griffen dabei auf eine Strategie zurück, die mit Ernst Sterns gotischer Scheinkathedrale in der Londoner Olympia Hall vergleichbar ist: [B]eim Betreten des Zuschauerraumes sind wir schon mitten in der mystischen, religiösen Stimmung, die uns noch lange festhält, wenn wir das Theater wieder verlassen haben. Der vordere Teil des Zuschauerraumes ist auf den flüchtigen ersten Blick dem Bayreuther Festspielhaus nachempfunden worden. Um die Aufmerksamkeit des Hörers zu konzentrieren, hat Hülsen alle Orchester- und Proszeniumslogen bis zum Plafond und auch diesen mit einer Verkleidung im Stil des Graltempels [sic!] versehen, so daß wir – wenden wir den Blick geradeaus – glauben, nicht in einem Theater zu sein, sondern an geweihter Stätte zu stehen.940

Neben der exakten Nachbildung jenes feierlichen Ambientes auf der Vorbühne und im Zuschauerraum orientierte sich die Aufführung konsequent an dem Vorbild der Wagner-Inszenierung. Die Bühnenbilder Hans Kautskys, der einer traditionsreichen österreichischen Theatermalerfamilie entstammte, folgen in ihrem detailgetreuen Darstellungsstil dem Bayreuther Muster. So zeigt eine Szenenfotografie des dritten Aufzugs die Enthüllung des Gralskelches durch Parsifal (Abb. 127). In mittelalterlich anmutenden Gewändern versammeln sich Parsifal, Gurnemanz, Kundry und die Gralsritter um einen Altartisch im Gralstempel. Die räumliche Disposition 938 Es handelt sich hierbei um die einzige Publikation, die die beiden Berliner Inszenierungen ausführlicher bespricht. Steinhoffs Ausführungen konzentrieren sich insbesondere auf die musikalische Besetzung und eine kompakte Auswertung des Presse-Echos. Die kurzen Bemerkungen zum Bühnenbild stützen sich auf die Beschreibungen in Theaterrezensionen. Visuelles Bildmaterial zur Inszenierung wurde nicht konsultiert. Der Intendant der Königlichen Hofoper Hülsen-Haeseler wird in diesem Aufsatz fälschlicherweise als ›Hülsmann‹ ausgewiesen. Vgl. Steinhoff 2012, S. 387–392. 939 Kritik am künstlerischen Repertoire der Hofbühnen wurde schon Ende des 19. Jahrhunderts laut. Siehe hierzu ausführlich Marx 2008, S. 363–366. 940 Doebber 1914a. Zu Ernst Sterns Scheinkathedrale vgl. Kapitel 2.1.2.

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Abb. 127 und 128: Zander & Labisch, Szenenfotografien zu Parsifal, Berlin, 1914.

des Schauplatzes folgt dem Bayreuther Prototyp (Abb. 13). So versetzt Kautsky die feierliche Erneuerung des Gralsmysteriums erneut in einen Kuppelbau, deren Architektur an romanische und byzantinische Kirchen angelehnt ist. Die Pracht der aufwändig gemalten Marmor- und Mosaikausstattung entspricht Wagners Szenenanweisung. Allerdings fällt auf, dass die Monumentalität des Raums durch eine reduzierte Tiefenstaffelung eingebüßt hat. Diesen Eindruck verstärken gedrungene

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       289

plastische Pfeiler, die Kautsky anstelle der schlanken Säulen wählt.941 Darüber hinaus ziert den Boden und die Arkaden mit dem Kreuz ein Symbol der kirchlichen Macht, auf das in der Gestaltung des Bayreuther Gralstempels verzichtet worden war. Fritz Brandt (1846–1927) übernahm den Mechanismus der Wandeldekoration, den sein Bruder Carl für die Uraufführung entworfen hatte. Während diese Technik in Bayreuth lediglich für die erste Verwandlung verwendet wurde, wollte von Hülsen-Haeseler Wagners ursprünglichen Szenenanweisungen treu bleiben. Die Tatsache, dass er den Verwandlungsmechanismus sowohl im ersten als auch im dritten Aufzug einsetzte, zeugt von einem Bestreben, nicht der Uraufführung, sondern dem Idealbild, das Wagner für die Inszenierung des Parsifal vorgeschwebt hatte, zu entsprechen. Dass die Wandeldekoration durch die Verwendung einer Nebelmaschine effektreich unterstützt wurde, fand jedoch keine einhellige Zustimmung unter den Kritikern.942 Den Landschaftsbildern aus dem ersten und dritten Akt hingegen gebührte eine besondere Erwähnung (Abb. 128): »Wenn sich der Vorhang teilt, schweift unser Blick in den ›heiligen‹ Wald mit dem blauen Weiher, dess’ stiller Frieden uns umfängt. Groß und erhaben von Professor Kautsky entworfen, bereitet er stimmungsvoll auf Kommendes vor.«943 Da seine Inszenierung dem Vorbild Bayreuth treu blieb, es fast zu übertreffen schien, erntete Graf von Hülsen ein überschwängliches Lob von den Kritikern. Das auf eine harmonische Bildwirkung abzielende Zusammenspiel aller Inszenierungselemente ließ den Berichterstatter der Berliner Zeitung Der Tag überwältigt resümieren: »[D]iese Darstellung war von einer so fabelhaften Schönheit, daß man getrost behaupten darf, etwas ähnlich Vollendetes ist auf einer Opernbühne überhaupt noch nicht geboten worden.«944 Betrachtet man die detaillierten Vergleiche mit der Uraufführung und die ausführlichen Schilderungen zu der Topografie der Festspielstätte, so verschränkte sich bei einem Großteil der Berliner Kritiker die Wahrnehmung der Neuinszenierung mit der Erinnerung an den eigenen Festspielbesuch in Bayreuth. Diese Vorprägung der Rezeption wird ebenso auf das vorwiegend adelige Publikum zugetroffen haben. Über den Spielplan der Hoftheater entschied Kaiser Wilhelm II. persönlich. Somit war die Königliche Hofoper nicht nur ein Repräsentationsort, sondern vielmehr ein Symbol der kaiserlichen Macht. In seiner Monografie über die Spektakelkultur um 1900 hat Peter W. Marx die wohlkalkulierte visuelle »Inszenierung der Selbst-Bestätigung« des Kaisers untersucht.945 Insbesondere gegen Ende der Wilhelminischen Herrschaft im Jahr 1914 »[geronn] [d]er Anspruch repräsentativer Öffentlichkeit bzw. unumschränkter Macht [...] zum Gestus, der seiner permanenten Inszenierung bedurfte, um soziale Wirklichkeit zu gewinnen«.946 Als die entscheidende Strategie

941 Julius Kapp hat vier Entwürfe von Hans Kautsky abgedruckt. Darunter findet sich auch eine Schwarz-Weiß-Reproduktion des Gralstempels. Da diese jedoch sehr undeutlich ist, wurde an dieser Stelle die Beschreibung der Szenenfotografie bevorzugt. Vgl. Kapp 1942, S. 105 f. 942 Vgl. u. a. Doebber 1914a u. Schmidt 1914c. Zu den Lösungsvorschlägen Brandts vgl. Brandt 1913. Siehe auch Kapitel 4.1. 943 Doebber 1914a. 944 Krebs 1914. Siehe hierzu auch Steinhoff 2012, S. 389. 945 Marx 2008, S. 351. Zur politischen Inszenierung des ›Domfestes‹ siehe auch Kapitel 1.4. 946 Marx 2008, S. 353.

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dieser öffentlichen Inszenierung definiert Marx die »mythische Überhöhung«947 des preußischen Königshauses. Die Wiederbelebung historischer Ereignisse und Mythen sollte die junge Geschichte des Hauses Hohenzollern überlagern. Diese Strategie äußert sich nicht nur in den Historiengemälden und Denkmälern, die Wilhelm II. in einer großen Zahl in Auftrag gab, sondern auch in der historisch idealisierenden Inszenierung des Parsifal. Die heroische Handlung des uralten Parzival-Mythos und die feierliche Inszenierung des Bühnenweihfestspiels in der Reichshauptstadt Berlin diente somit auch der Legitimation der eigenen Geschichte. Im Deutschen Opernhaus Charlottenburg stellte sich die Situation gänzlich anders dar: Das Haus war in deutlicher Abgrenzung zu der Königlichen Hofoper errichtet worden, die kaiserlichen Repräsentationszwecken diente und deren Besuch vor allem der Kaiserfamilie und dem Adel vorbehalten war. Die Aufführungen des ›demokratischen‹ Hauses auf der anderen Seite der Stadt richteten sich nicht nur an gut situierte Bürger, sondern insbesondere auch an Intellektuelle, Künstler, Musiker und Schriftsteller: [D]ie Zuhörerschaft [setzte sich] zusammen aus denen, die mit dem Werke vertraut sind, und denen, die in seiner Aufführung die Erfüllung eines längst ersehnten Wunsches erlebten. [...] Man sah alte Bayreuthianer, die ihr Unbehagen zunächst nur schwer zu überwinden vermochten; man sah aber auch beglückte Jugend, die alle Erwartung übertroffen fand.948

Die Aufführungsbesprechungen zu den Berliner Inszenierungen durchzieht der übereinstimmende Tenor, dass das Stück, losgelöst von dem Bezugsrahmen Bayreuth, gezwungen sei, aus sich selbst heraus die sakrale Atmosphäre eines Bühnenweihfestspiels zu erzeugen. Ökonomisch gesehen bedeutete die Heterogenität des Publikums für die Charlottenburger Oper, die als Privatbühne über eingeschränkte finanzielle Ressourcen verfügte, möglichst niedrige Eintrittspreise und somit wenige Mittel für eine effektreiche Inszenierung.949 Auf welche Weise konnte die Parsifal-Aufführung demnach die divergierende Erwartungshaltung seines Publikums bedienen? Aus ästhetischer Sicht drängt sich überdies die Frage auf, inwieweit die demokratischere Ausrichtung des Hauses auch eine experimentellere Inszenierungspraxis bedeutete. Georg Hartmann teilte Appias Auffassung von Wagners musikalischer Bearbeitung als der einzigen gültigen Vorlage für die Inszenierung des Parsifal-Stoffes. Seine Regieintention hatte der Intendant der Charlottenburger Oper bereits im Sommer

947 Marx 2008, S. 350. Siehe weiterführend Brunckhorst/Weber 2016 u. Stather 1994. 948 Schmidt 1914b. Steinhoff hat darauf verwiesen, dass in der journalistischen Debatte der Jahre 1911 bis 1914 Befürworter der Freigabe des Parsifal kritisiert hätten, dass sich nicht zwingend Musikliebhaber, sondern vorwiegend wohlhabende Bürger die kostspielige Teilnahme an den Festspielen leisten konnten. Siehe hierzu Steinhoff 2012, S. 380 u. Kapitel 1.4. 949 Vgl. Badische Presse Karlsruhe 1914. Zur sozialpolitischen Ausrichtung und der Wirtschaftlichkeit des deutschen Opernhauses vgl. Draber 1914. Siehe weiterführend Meyer zu Heringdorf 1988.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       291

1913 im Sonderheft der Zeitschrift Die Scene beschrieben. Die Wortwahl Hartmanns, um seine Absichten zu formulieren, erinnert dabei deutlich an Appias Rhetorik: Aus der Sprache der Tonkunst heraus müssen wir solche Bilder, Offenbarungen tiefer Geheimnisse, in Scene setzen! Dann haben wir den wahren Gralstempel und die wahre Verwandlung des dekorativen Bildes gefunden, dann wird der Zuschauer von 1914 in die wahre Feststimmung versetzt.950

Um eine festliche Rezeptionshaltung zu evozieren, wurde dieser Artikel später im Programmheft der Parsifal-Inszenierung abgedruckt und dem Publikum vor Beginn der Aufführung kommuniziert. Es verwundert daher nicht, dass sich Hartmanns Bühnenbildner Gustav Wunderwald ebenso an Appias szenografischem Konzept orientierte.951 Dabei wurde die Transformation des Waldes in einen heiligen Ort zu dem zentralen Gestaltungselement der Neuinszenierung. Die Kohlezeichnung Morgengebet im schattigen Wald des aus Köln stammenden Bühnenbildners zeigt das erste Szenenbild im ersten Aufzug (Abb. 129).952 Dargestellt ist der Waldrand, der an den Gralssee angrenzt. Das Terrain ist nach rechts ansteigend und geht im Hintergrund in die Hänge eines Gebirges über. Von dem See führt ein Weg durch den Wald, auf dessen rechter Seite sich der dunkle Eingang zur Gralsburg befindet. Am Ufer des Gralssees ist die mit einem Umhang bekleidete Figur des Gurnemanz’ zu erkennen. Er hat den Blick auf den See gerichtet und die Arme – wie zum Gebet – gen Himmel erhoben. Der Gralswald wird durch einige hoch aufragende Baumstämme angedeutet, die formal die Säulen der späteren Tempelarchitektur vorweggreifen sollen. Dieses Prinzip sollte die bühnentechnische Verwandlung vereinfachen und die symbolische Metamorphose des Naturschauplatzes in den Gralstempel betonen. Wunderwald griff folglich nicht nur Appias Anordnung und Gestaltung der Baumstämme, die sich übergangslos in die Säulen des Gralstempels verwandeln sollten, auf, sondern arbeitete ebenfalls auch mit dem ansteigenden Terrain, um eine dynamische Interaktion der Darsteller mit dem sie

950 Hartmann 1913, S. 21 (Hervorh. G. H.). Appia hatte den Begriff des Wort-Ton-Dramas für Wagners Musikdramen geprägt. Vgl. hierzu Kapitel 4.2. Der Verweis auf das Programmheft findet sich bei Geil 1995, S. 44. Überdies findet sich eine inhaltliche Einführung des Intendanten in der anlässlich der Berliner Inszenierung veröffentlichten Neuausgabe des Textes. Siehe Wagner 1914, S. 3–12. 951 Nach Stationen als Bühnenbildner an der Königlichen Oper Stockholm, am Düsseldorfer Schauspielhaus, in Innsbruck und am Stadttheater in Freiburg im Breisgau wurde Wunderwald 1912 nach Charlottenburg auf die Stelle des Ausstattungsleiters berufen. Vgl. u. a. Geil 1995. 952 Die spannungsgeladene Kohlezeichnung zur Parsifal-Inszenierung ist von der Forschung bislang nahezu unberücksichtigt geblieben. Vgl. auch Bornemann 2012, S. 70. Im Besitz der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln befinden sich elf Bühnenbild- und Szenenentwürfe für die Berliner Parsifal-Inszenierung (TWS Inv.-Nr. 3770 u. 7119). Im Fokus dieser Analyse stehen die Entwürfe für den ersten Aufzug. Kurze Forschungsbeiträge zu der Berliner Inszenierung finden sich in Geil 1995, S. 44 u. Grosse 1982, S. 102 f. Überdies sind dreizehn Kostümfigurinen erhalten (TWS Inv.-Nr. 7082). Zu den Kostümen siehe Bie 1914 u. Holzbock 1914.

292       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

Abb. 129: Gustav Wunderwald, Bühnenbildentwurf zu Parsifal, Charlottenburg, 1914.

umgebenden Spielraum herauszufordern.953 Wie sich Appia in seinen Entwürfen für Zeichenkohle, Kreide und Bleistift als Zeichenmittel entschied, so konzentrierte sich auch Wunderwald auf jenen charakteristischen Schwarz-Weiß-Kontrast, um die Modellierung des Gralswaldes durch die Licht- und Schattenwirkung anzudeuten. Mit dem stimmungsvollen Wechselspiel von Licht und Schatten gelang es ihm in diesem Szenenentwurf, einen spürbar sakralen Raum zu erzeugen. Eine Vielzahl leichter Kohleschraffuren deuten die Strahlen der Sonne an, die von hinten links über den See streifen und in den Wald hineinfallen. Im Zentrum des Bildes lassen sie einen kreisförmigen Bezirk aus dem Halbdunkel des Waldes deutlich hervortreten.954 Durch diese räumliche Hervorhebung wird nicht nur der Wald als ein heiliger Ort markiert. Vielmehr kündigt sich durch die exponierte Lichtsituation bereits in der Waldszene die sakral aufgeladene Atmosphäre des Gralstempels an. Damit griff Wunderwald auf eine Strategie der Sakralisierung zurück, die Ludwig Sievert bereits im Jahr 1913 erprobt hatte (Abb. 116). Im Vorfeld der Bühnenfreigabe wurde die von 953 Siehe hierzu auch Fontana 1910, S. 674. 954 Anknüpfend an Rudolf Ottos Deutung des Halbdunkels wurde dies als sakrale Lichtsituation im Zusammenhang mit Ernst Sterns gotischer Scheinkathedrale für Max Reinhardts Mirakel-Inszenierung in Kapitel 2.1.2 herausgearbeitet. Auf die Gemeinsamkeit der Lichtsituation der Kathedrale und des Waldes wurde bereits in Kapitel 4.1 hingewiesen. Dieser augenfälligen Parallele kommt in Hans Wildermanns Bühnenbildentwürfen eine besondere Funktion zu. Siehe hierzu Kapitel 4.2.3.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       293

Sievert in dieser Szene angestrebte Lichtregie von Ernst Leopold Stahl als Beispiel für ein innovatives Konzept genannt: Wir haben hier einen der Fälle, wo der Beleuchter dichten darf. [...] Die Nähe der Gralsburg deutet [...] Sievert (ohne etwas von ihr sehen zu lassen) durch einen [sic!] Lichtbündel von dieser Seite an, nach der sich, dem Erlösung bringenden Licht, die Pflanzen, wie von der Sonne angezogen neigen.955

Obschon Wunderwald nach seiner Aufnahme in das Coburger Theateratelier Brückner im Jahr 1899 mit den Bayreuther Dekorationen vertraut gewesen sein muss und sich ein Jahr später im Berliner Theateratelier Georg Hartwig auf Landschaftsdekorationen spezialisierte, hielt er nicht lange an diesem mimetischen Darstellungsstil fest.956 Insbesondere während seiner Tätigkeit für Louise Dumont (1862–1932) und Gustav Lindemann (1872–1960) am Düsseldorfer Schauspielhaus entwickelte er eine zukunftsweisende Szenografieauffassung, die Oskar Maurus Fontana (1889–1969) in einem Artikel in der Zeitschrift Der Merker treffend charakterisierte: So sehr hat er den Begriff des Raumes als Bühnenraum erfühlt und gestaltet. Den andern [Bühnenbildnern – S. B. Q.] haftet noch immer ein letzter Rest von Bildhaftem, nur um seiner selbst Daseiendem an. Bei Wunderwald schwindet auch dieser, es bleibt ein mit einer kühnen Phantasie gesehener und stilisierter Raumausschnitt.957

Um die Dreidimensionalität der Bühne auszunutzen, hatte Wunderwald mit den Möglichkeiten der neuen Beleuchtungstechnik experimentiert. So zeigt etwa sein Entwurf für die Medea-Inszenierung des Jahres 1909, dass er das Licht als ein zentrales Gestaltungselement seines szenografischen Konzepts erachtete (Abb. 130). Wunderwald erprobte sowohl die Wirkung von wechselndem Farblicht auf transparentem Untergrund, als auch die Akzentuierung von Körpern und Flächen in einer dunklen Umgebung durch einzelne Lichtkegel. Obwohl die damalige Technik für diese Versuche noch nicht ausgereift war, gelang es Wunderwald zumindest auf kurzen Distanzen Bewegungen mithilfe von Scheinwerfern zu verfolgen.958 Anknüpfend an die ästhetischen Strategien, die Appia für den Parsifal vorschwebten, zeigt Wunderwald den Wald also als ein transitorisches Zwischenreich zu einem andersartigen Ort – als einen Grenzwald. Bereits die Kunsthistorikerin Anne Hoormann hat herausgestellt, dass »Appia [...] den Raum durch ein diffuses Licht [entgrenzte]«.959 Wunderwalds zeichnerische Studie einer solch diffusen Lichtwirkung verweist auf eine differenzierte Lektüre der Schrift Die Musik und die Inscenierung. Die Literatur- und Theaterwissenschaftlerin Elisabeth Nehring hat auf Appias Interesse an den gemeinsamen Eigenschaften von Musik und Licht hingewiesen, durch die das Transzendente wahrnehmbar und erlebbar werden sollte: 955 956 957 958 959

Stahl 1913b, S. 6. Zu den Parsifal-Entwürfen Sieverts siehe die Vorrede zu dieser Fallstudie. Vgl. Buck 1995 u. Grosse 1982, S. 95 f. Fontana 1910, S. 673. Vgl. Grosse 1982, S. 99. Hoormann 2003, S. 204.

294       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

Abb. 130: Gustav Wunderwald, Bühnenbildentwurf zu Medea (Das goldene Vlies), Düsseldorf, 1909.

Auffällig erscheint in Appias Theorie die Tatsache, daß es vor allem die immateriellen Mittel der Musik und des Lichtes sind, die mit ihrer Präsenz [...] während der Dauer der Inszenierung für die Wahrhaftigkeit der Übertragung der Vision in das szenische Kunstwerk bürgen.960

Während sich Nehring hier auf die Visualisierung von Wagners musikalischer Komposition bezieht, lässt sich diese Eigenschaft des Lichts in Wunderwalds Kohlezeichnung als Form der Materialisierung des Heiligen weiterdenken. Als überirdische Lichterscheinung, die in Form von Sonnenstrahlen, welche auf den Waldboden treffen, eine räumliche Präsenz gewinnen, manifestiert sich das Heilige in Wunderwalds Szenenbild. Der Wald öffnet sich hin zu einem verheißungsvollen Gebiet und zeigt den Moment der Vorbereitung auf eine transzendente Erfahrung. Dem hell erleuchteten Gralssee in andächtiger Pose zugewandt, ist Gurnemanz bereit für die Begegnung mit Parsifal, der aus dieser Richtung die Szene betritt und den der Einsiedler sogleich als den Erlöser und Erneuerer des Gralsrituals erkennt. Von der Ankunft des Auserwählten durch einen Lichtstrahl zu künden, schlägt Ernst Leopold Stahl als neue Inszenierungsstrategie vor:

960 Nehring 2004, S. 44. Vgl. hierzu Appia 1899, S. 89.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       295 Erwägenswerter ist vielleicht ein Lichtschein in der Ferne bei der Anrufung des Speers durch Gurnemanz: ›O wunden-, wundervoller heiliger Speer‹. [...] Der See wird erstrahlen dürfen (kurz vor der Stelle: ›Im heiligen See wohl labt mich auch die Welle.‹).961

Die Erfahrbarkeit des Heiligen wird in diesem Szenenentwurf noch auf einer weiteren Ebene verhandelt: dem Betrachter abgewandt, zeigt er den betenden Gurnemanz. Diese Darstellung ist sogleich ein Ausblick auf den dritten Aufzug, in dem sich Gurnemanz von der Gralsgemeinschaft lossagen und in eine einsame Waldhütte zurückziehen wird.962 Mit dieser Figur knüpfte Wunderwald unmittelbar an die frühneuzeitliche Darstellungstradition der Anachoreten und Eremiten an, die abgeschieden von der Welt in einer undurchdringlichen und wilden Natur lebten, um innere Einkehr und Zwiesprache mit Gott zu suchen. Neben der Wüste und kargen Gebirgslandschaften stellte der Wald einen zentralen Ort der Askese und Kontemplation dar. Von der besonderen Popularität des Motivs in der Zeit um 1600 zeugt die Kupferstichserie Sylvae sacrae der Brüder Johann d. Ältere (um 1550–1600) und Raphaël d. Ältere Sadeler (1560/61–1632), die im Jahr 1594 in München verlegt wurde. Ein Blatt zeigt im linken Bildvordergrund den Heiligen Blasius in einem Wald. Er ist im Gebet vor einem ausgehöhlten Baumstamm versunken, der ihm als einfache Behausung dient (Abb. 131).963 Im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert findet das Bildmotiv des Eremiten im Wald eine neuerliche Beachtung, so etwa in John Singer Sargents (1856–1925) Gemälde The Hermit (Il solitario) aus dem Jahr 1908 (Abb. 132). Durch die grobe Pinselstruktur verschmelzen ein Mann, zwei Rehe, die Bäume und der von Laub und Steinen bedeckte Waldboden zu einer flimmernden Oberfläche, aus der helle Lichtpunkte und -flächen deutlich hervortreten. Diese erscheinen als Visualisierung des göttlichen Lichts, das auch auf den nackten Oberkörper des bärtigen Mannes trifft, der den Kopf erwartungsvoll in die Richtung des Lichteinfalls gereckt hält.964 Bezeichnenderweise ließ König Ludwig II. von Bayern im Jahr 1877 im Park von Schloss Linderhof die Einsiedelei des Gurnemanz nachbauen. Im Sommer desselben Jahres hatte er eine erste Abschrift der Dichtung des Parsifal von Wagner erhalten, 961 Stahl 1913b, S. 6. Zu Parsifal als Erlöserfigur vgl. auch Kienzle 2008b, S. 167 u. Kapitel 4.3. 962 Bei Wolfram von Eschenbach begegnet Parzival dem Einsiedler Trevrizent, dem Bruder des verwundeten Gralskönigs Anfortas (bei Wagner ›Amfortas‹), der die Ritterschaft abgelegt hat, um für die Heilung seines Bruders in Einsamkeit zu leben. Für seine Sünden büßend, schließt sich Parzival dem asketischen Leben für vierzehn Tage an. Wagner verzichtet auf die Figur des Trevrizents und verbindet dessen Charakter mit der Person des Gurnemanz’. Vgl. Bell 2013, S. 57 f. u. Buschinger 2007, S. 140. 963 Vgl. hierzu auch Le Goff 1990, S. 81–97 u. Kapitel 4.1. Zur Kupferstichfolge Sylvae sacrae siehe weiterführend u. a. Göttler 2017 u. Göttler 2013, S. 441–443. Siehe hierzu auch Herrin 2014, S. 391 f.; Witte 2008, S. 125–149 u. Wiberg 2005, S. 373 f. 964 Ernst Leopold Stahl hat in diesem Zusammenhang auf Goethes Epen-Fragment Die Geheimnisse (1785) verwiesen, in dem der Prozess der Selbstfindung und Erkenntnis des jungen Mönchs Marcus verhandelt wird. Dieses zentrale Motiv lässt sich nicht nur auf den ›reinen Tor‹ Parsifal, sondern gleichfalls auch auf den Einsiedler Gurnemanz übertragen. Vgl. Stahl 1913b, S. 5. Eine zeitgenössische Interpretation der Figur des Gurnemanz’ als ein Persönlichkeitsideal, das Parsifal zunächst anstrebt und schließlich überwindet, findet sich bei Petsch 1903/04. Zu der Verbindung jener inneren Transformation mit der Verwandlungsszene siehe die Kapitel 4.1 u. 4.2.3.

296       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

Abb. 131: Johann Sadeler d. Ältere nach Maarten de Vos, Sylvae Sacrae. Der heilige Blasius von Sebaste, 1594.

Abb. 132: John Singer Sargent, The Hermit (Il solitario), 1908.

sodass er das Bühnenbild zum dritten Aufzug anhand der Szenenanweisungen imaginieren konnte, ohne dass das Bühnenweihfestspiel bereits zur Uraufführung gebracht worden war. Die Literaturwissenschaftlerin Stefanie Hein deutet dieses Bauvorhaben als eine Abkehr von der staatspolitischen Verantwortung und einen Rückzug in eine »Kunst und Fantasiewelt«.965 Das Aquarell des Hofmalers Heinrich Breling (1849–1914) Die Einsiedelei des Gurnemanz aus dem Jahr 1882 zeigt eine einfache Behausung aus Ästen, Holzbrettern, Schindeln und aufgetürmten Steinen 965 Hein 2006, S. 134. Die bewusste Inszenierung von Einsamkeit hat eine spezifische Tradition am bayerischen Königshaus. Zu Schloss Schleissheim als Rückzugsort von Wilhelm V. siehe weiterführend Göttler 2018 u. Göttler 2017.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       297

inmitten einer Blumenaue und umgeben von einem Tannenwald (Abb. 133). An diesem Rückzugsort, mit Blick auf das nahgelegene Ammergebirge, konnte der König das Eintauchen in die Musik des Parsifal als religiös konnotiertes Erlebnis imaginieren. Der an die Hütte angrenzende Glockenturm sollte dabei das Läuten, das die Verwandlung in den Gralstempel ankündigt, simulieren: Alles mahnt mich dort an jenen Charfreitagsmorgen Ihres wonnevollen ›Parcifal‹ [sic!], der mit überwältigender Macht mir bis in die tiefste Seele drang und Thränen der heiligst reinsten Rührung mir in’s Auge treten ließ [...]. Dort auf geweihter Stätte höre ich ahnungsvoll schon die Silberposaunen aus der Gralsburg erschallen; dort höre ich im Geiste die heiligen Gesänge aus Montsalvat vom unnahbaren Berge herniedertönen; [...] dort ist [...] der Genuß des Versenkens in den Geist der altgermanischen und mittelalterlichen Dichtungen und Sagen ein erhöhter!966

Mit der Darstellung des Einsiedlers als Rückenfigur reflektierte wiederum Gustav Wunderwald eine anders- und neuartige Wahrnehmungshaltung, die zuvor Appia in Die Musik und die Inscenierung formuliert hatte. Von einer spezifischen sinnlichen Affizierung ausgehend sollten die Schauspieler und die Zuschauer gleichermaßen den besonderen Darstellungs- und Rezeptionsmodus der Entgrenzung erfassen: »[Die Musik] weitet mit unsagbarer Zauberkraft unsere Schauweise ins Unbegrenzte, indem sie ihr eine hoch über jede Alltagswirklichkeit erhabenes Dasein erschließt.«967 So wie Parsifal die eigene Persönlichkeit überwinden muss, um die überirdischen Vorgänge im Allerheiligsten des Tempels und seine wahre Bestimmung zu begreifen, muss auch eine Transformation der Akteure und des Publikums stattfinden.968 Indem Gurnemanz, wie in Wunderwalds Zeichnung, den Zuschauern den Rücken zuwendet, sind sie aufgefordert, sich in seine erwartungsvolle Pose hineinzuversetzen. In einem Zustand der Entgrenzung sollen sie aus dem eigenen Alltag in der Großstadt heraustreten und das Bühnenweihfestspiel als ein außergewöhnliches Theaterereignis wahrnehmen. Dabei handelt es sich um eine neue körperliche Dimension des Erlebens von Musik und Inszenierung, die den geistigen Nachvollzug des Stücks und den von Wagner angestrebten sowie von König Ludwig II. umschriebenen passiven kontemplativen Kunstgenuss übersteigt. Vielmehr impliziert Appias Konzept ein ganzheitliches, kollektives Erleben der Aufführung: »[S]o erfüllt 966 Brief von König Ludwig II. von Bayern an Richard Wagner, 30.08.1877, zit. n. Petzet 1995, S. 71. Die nach Kriegsende 1945 stark beschädigte Einsiedlerhütte wurde Ende des 20. Jahrhunderts rekonstruiert. Überdies war die Ausstattung der Innenräume von Schloss Neuschwanstein an Wagners Parsifal angelehnt. Siehe weiterführend Tauber 2014. 967 Appia 1899, S. 33. Siehe hierzu auch Nehring 2004, S. 48. Diesen von Appia beschriebenen Moment des Über-die-eigene-Persönlichkeit-Hinausgehens vergleicht Nehring mit dem Rauschzustand, der nach Friedrich Nietzsche das Resultat der orgiastischen Feste der Großen Dionysien war. Siehe hierzu auch Kapitel 1.2. 968 Vgl. Nehring 2004, S. 49. Nehring hat in diesem Zusammenhang herausgestellt, dass Appias Definition der Entgrenzung auch den schöpferischen ›Wort-Ton-Dichter‹ umfasst. Erst wenn er sich über seine eigene Persönlichkeit hinwegsetzen kann, vermag der Künstler, eine für die musikalische Vorlage angemessene visuelle und szenische Ausdrucksform zu finden. Vgl. Appia 1899, S. 34.

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Abb. 133: Heinrich Breling, Schloss Linderhof: Die »Einsiedelei des Gurnemanz« im Ammerwald, nach dem Bühnenbild in »Parsifal«, 1882.

sie [die Musik – S. B. Q.] überreich die unmöglichsten Wünsche einer Menschheit, die nur aus sich heraus treten will, um sich selbst wieder zu finden.«969 Obschon Elisabeth Nehring, die Appias Konzept der Entgrenzung eingehend diskutiert hat, an anderer Stelle auf das Festspielhaus in Hellerau als Appias Gegenentwurf zu Wagners Festspielstätte in Bayreuth verweist, schlägt sie nicht den logischen Bogen zu dessen Konzept der Entgrenzung. Zwar fand keine Parsifal-Aufführung in Appias lichtdurchfluteter ›Kathedrale der Zukunft‹ statt, doch muss der in Hellerau praktizierte ästhetische Ansatz eines ›kultischen‹ Kollektiverlebens die Inszenierungskonzepte anderer Bühnenbildner dieser Zeit stark beeinflusst haben. Schließlich lässt es kaum ein anderes Stück mehr zu, dass die ästhetische Wahrnehmung und das religiös anmutende Ritual eine solch außergewöhnliche Verbindung eingehen, wodurch Erfahrungsmomente von Transzendenz möglich werden.970 Bei einer näheren Betrachtung von Gustav Wunderwalds Zeichnung stellt sich die Frage nach der Einordnung der groben Kohlezeichnung in den künstlerischen Schaffensprozess (Abb. 129). Handelt es sich hierbei tatsächlich um einen Entwurf, der in dieser Form realisiert werden konnte? Sogleich fällt auf, dass der Bühnenbildner in der Zeichnung auf die farbige Ausmalung des Gralstempelentwurfs verzichtet. Der Gralstempel ist als ein streng monumentaler Sakralraum aufgefasst, dessen massives Mauerwerk nur durch geometrisch schlichte Fenster und Türeinbuchtungen unterbrochen wird (Abb. 134). Auf architektonischen Schmuck verzichtet Wunderwald gänzlich. Vielmehr zeugt seine abstrakte Raumauffassung von einer zunehmenden 969 Appia 1899, S. 33. 970 Bezeichnenderweise fand am 30. September 1995 im Festspielhaus Hellerau ein Perfomance-Projekt unter dem Titel Parsifal der Dresdner RU-IN Gruppe in Kollaboration mit Mitgliedern der AlienNation Company statt. Allerdings attestiert Norma M. Darr keine unmittelbaren Bezüge zu Appias Auseinandersetzung mit Wagners Parsifal. Siehe hierzu Darr 1996. Zu Appias Idee, das Festspielhaus in Hellerau in eine ›Kathedrale der Zukunft‹ zu transformieren, siehe Kapitel 3.3.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       299

Abb. 134: Gustav Wunderwald, Bühnenbildentwurf zu Parsifal, Charlottenburg, 1914.

Entmaterialisierung. Die Kritiken berichten von einer sich in großer Höhe verlierenden Kuppel die von goldenen Säulen vor tiefblauen Wänden getragen wird.971 Um 971 Vgl. u. a. L. 1914 u. Badische Presse Karlsruhe 1914. Ernst Leopold Stahl warnte vor einer historisierenden Auffassung und formulierte ein mit Wunderwalds Konzept übereinstim-

300       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

Abb. 135: Gustav Wunderwald, Bühnenbildentwurf zu Parsifal, Charlottenburg, 1914.

die feierliche Atmosphäre des Gralstempels hervorzurufen, sah Hartmann im ersten Aufzug eine konzentrierte Lichtregie vor: »Die Kuppel selbst sehen wir nicht mehr, aber das Licht, das von oben kommt, sendet seine milden Strahlen auf die großen, unendlichen, erhabenen Säulen, die uns das Sinnbild des fernen Landes sind, unnahbar den profanen Menschen.«972 In Wunderwalds Entwurf ist der Innenraum allerdings in ein solch dominant leuchtendes Gelb getaucht, das jegliche blaue Farbgebung verschwinden und nur als Grundierung erahnen lässt. So scheint der Bühnenbildner in diesem Entwurf zwar die Disposition des Tempels aus dem ersten Akt wiederzugeben, gleichzeitig aber die Beleuchtung zum Zeitpunkt der Enthüllung des Grals, wie sie im ersten und im dritten Aufzug stattfindet, zu erproben.973 Die unterschiedlichen Darstellungsformen des Gralswaldes und des Tempels legen nahe, dass die beiden Parsifal-Bilder nicht aus der gleichen Entwurfsserie stammen können. Die theatrale Inszenierung des betenden Gurnemanz’ am Ufer mendes Raumkonzept für den ›neuen‹ Gralstempel: »Wagner wünschte dem Gralsbau die ›höchste feierliche Würde‹ zu geben [...]. Die Anordnung der Säulen mag den Kuppelbau mehr ahnen als sehen lassen: der Eindruck einer unabsehbaren Höhe müßte hier vorwalten.« Stahl 1913b, S. 11. 972 Hartmann 1913, S. 20. 973 Zur Lichtinszenierung in der Uraufführung siehe Kapitel 1.4. Ausgehend hiervon fordert Ernst Leopold Stahl zu der Ausschöpfung der neuesten Beleuchtungstechnik auf, um die von Wagner geforderte Wirkungskraft zu erzielen. Vgl. Stahl 1913b, S. 11 u. S. 16. Zu den nuancierten Lichtveränderungen für die Szenen im Gralstempel siehe auch Grosse 1982, S. 103.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       301

des Waldsees rückt die Kohlezeichnung in den Kontext einer Theateraufführung. Jedoch vermittelt die Komposition durch den kontinuierlichen Anstieg der rechten Bildseite keine Zentralperspektive auf das Bühnengeschehen. Wäre eine solch außergewöhnliche Blickrichtung der Zuschauer auf das Bühnengeschehen in einem Opernhaus, dessen Architektur der ›demokratischen‹ Idee der Gründung folgend auf Logen verzichtete, um dem Publikum eine uneingeschränkte Sicht auf das Spielgeschehen zu erlauben, überhaupt möglich gewesen? Die Vermutung, dass es sich bei Wunderwalds Kohlezeichnung nicht um den endgültigen Bühnenbildentwurf zur Waldszene handelt, bestätigt ein Vergleich mit einem weiteren farbigen Entwurf, der ebenfalls für die Berliner Inszenierung 1914 entstand (Abb. 135). Erneut öffnet sich der Gralswald einem im Hintergrund skizzenhaft angedeuteten Panorama. Über dem in einem hellen Weiß gehaltenen Gralssee und der gelb-rötlichen Gebirgskette erhebt sich das Himmelsgewölbe in zarten Blautönen. Der Eingang zur Gralsburg befindet sich diesmal am linken Bildrand. Im Vordergrund verstellen die monumentalen Baumstämme den vollständigen Blick auf das Ufer. Durch die Farbwahl und den Pinselduktus erzielt Wunderwald eine starke räumliche Tiefenwirkung. Der in Pastelltönen und feinen Pinselstrichen gehaltene Hintergrund kontrastiert mit den in dunklen Grüntönen und flächig gemalten Baumstämmen im Vordergrund. Durch die hellen Farben erscheint die Landschaft in der Ferne wie von einem Dunst umgeben und so, gegenüber der Massivität und Strenge der Bäume, dem irdischen Diesseits entrückt. Gleichzeitig wird ein Gegensatz zwischen der natürlichen Farbgebung des Waldes und seiner räumlichen Anordnung augenfällig: Die fast symmetrische Verteilung der Baumstämme auf dem rotbraunen Waldboden erzeugt einen architektonischen Raumeindruck. Verstärkt wird dieser Eindruck durch eine mit groben Pinselabdrücken angelegte Baumkrone, deren Form an eine Kuppel erinnert.974 Mit jener Anlehnung an die monumentalen Säulen sollte nicht nur die Architektur des Tempels in der Natur, sondern auch die feierlich-erhabene Atmosphäre eines Sakralraums vorbereitet werden. Die sakrale Aufladung der ersten Szene sah Hartmann in der musikalischen Komposition Wagners vorgebildet. Sein Ziel war es, »das Wesentliche sichtbar zu machen, statt sich an den Buchstaben zu halten. [...] Das Wesentliche des Parsifal ist Größe, Erhabenheit. Groß und erhaben muß unsere Inscenierung sein.«975 Für den Moment der Wandlung in den Grals­ tempel ergebe sich aus der Musik folgende Situation: Von der Höhe her vernimmt man den vollen Ton der vier großen Glocken, die ihre mit Obertönen geschwellten Akkorde hernieder senden, Engelstimmen verkünden: ›Der Glaube lebt.‹ ... Das ist es, was wir zu inszenieren haben! Nicht aber Wagners Vorschriften über Einzelheiten.976

974 Vgl. Badische Presse Karlsruhe 1914. Wunderwald erprobte das Szenenbild in verschiedenen Entwurfsstadien, die sich in der Farbgebung, jedoch nicht in der räumlichen Disposition unterscheiden. Vermutlich dachte er dabei über die Wirkung unterschiedlicher Lichtsituationen nach. Siehe hierzu auch Geil 1995, S. 44 u. Grosse 1982, S. 102. 975 Hartmann 1913, S. 20. Zur Steigerung des Ausdrucks als Grundprinzip von Wagners Bühnenweihfestspiel vgl. auch Stahl 1913b, S. 5. Siehe hierzu auch Grosse 1982, S. 102. 976 Hartmann 1913, S. 20.

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Abb. 136: Heinrich Seeling, Deutsches Opernhaus Charlottenburg, Blick in den Zuschauerraum, 1911/12.

Legt man das Waldbild über den farbigen Entwurf des Gralstempels, fügt sich dessen Architektur genau in die Umrisslinien der Bäume ein. Dass die Dimensionen von Wunderwalds Gralstempel dabei schmaler erscheinen, fiel damals dem Kritiker Johannes Doebber (1866–1921) negativ ins Auge: »Die angestrebte Idee der Erhabenheit und Größe wird damit nicht erreicht, daß man die Kuppel nicht sieht.«977 In seiner zentralperspektivischen Anordnung entspricht Wunderwalds Entwurf für die Waldszene nicht nur eindeutig einer Theatersituation. Vielmehr ist das finale Waldbild aufgrund der Anordnung und der architektonischen Strenge der Baumstämme eine Fortführung der Vision Appias. Rund zwanzig Jahre zuvor hatte dieser einen monochromen Spielraum skizziert, der allein mithilfe einer farbigen Bühnenbeleuchtung in eine atmosphärische Szene verwandelt werden sollte. Wunderwald dachte die Idee allerdings auf seine eigene Weise weiter, indem er der Szene über die intensive Farbigkeit eine neue sinnliche Erfahrbarkeit verlieh.978 Überdies verfolgten der Bühnenbildner und Georg Hartmann aus technischer Sicht einen anderen, aktuelleren Ansatz. Wenige Monate nach der Gründung des Deutschen Opernhauses in Charlottenburg übernahm Wunderwald den Posten des Ausstattungsleiters. Das Gebäude an der Bismarckstraße war in den Jahren 1911 und 1912 unter der Leitung des Architekten Heinrich Seeling (1852–1932) errichtet worden (Abb. 136). Mit einer Kapazität von über 2.000 Sitzplätzen war es nicht nur das größte Theatergebäude der Stadt, sondern galt aufgrund der räumlichen Gegebenheiten und der technischen Ausstattung auch als eines der modernsten Opernhäuser Europas. Wunderwalds Engagement war folglich mit der Verantwortung verbunden, ein zeitgemäßes ästhetisches Programm zu entwickeln.979 Die schiere Größe des Aufführungsraums führte zu einer kontroversen Diskussion unter den Rezensenten der Parsifal-Inszenierung:

977 Doebber 1914b. Siehe hierzu auch Holzbock 1914. 978 Zu den unterschiedlichen Farbauffassungen vgl. auch Carnegy 2006, S. 180 u. Grosse 1982, S. 103. 979 Vgl. Neue Freie Presse Wien 1914a. Siehe hierzu ausführlich Meyer zu Heringdorf 1988.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       303 [I]n dem Riesenraume des Deutschen Opernhauses hat sich auch diesmal der innere Kontakt zwischen Bühne und Publikum ebensowenig eingestellt wie das Gefühl der Zusammengehörigkeit der Zuhörer untereinander, – jenes unfaßbare Element, das in kleinern [sic!] Theatern so unendlich viel zur Stimmung beiträgt.980

Während J. C. Lusztig (nicht ermittelbar) von der Berliner Morgenpost den Vorgang der kollektiven Entgrenzung durch die schiere Größe des Raums unterbrochen sah, hob Hermann Wilhelm Draber (1878–1942) sie als entscheidendes Element der besonderen Wirkungskraft der Charlottenburger Inszenierung heraus: »Im Hoftheater konnte ich [...] nicht dieselbe intensive Weihe der Stimmung bemerken wie in dem grossen Charlottenburger Bau. Ich glaube, dass die Grösse des Raumes gerade beim Parsifal sehr viel zur Stimmung beiträgt.«981 Eine Besonderheit der technischen Ausstattung war die gigantische Schiebebühne, die im Hintergrund von einem weiten Kuppelhorizont abgeschlossen wurde. Die beiden Seitenbühnen waren schalldicht isoliert, sodass Umbauten vollzogen werden konnten, ohne das eigentliche Bühnengeschehen zu stören. Auf zwei großzügigen Bühnenwagen konnten ganze Schauplätze montiert werden, weshalb der Austausch auf der Hauptbühne nur wenige Sekunden erforderte.982 Welche ästhetischen Möglichkeiten eröffnete die Schiebebühne für die zentrale Verwandlungsszene im ersten Aufzug? Vor dem Hintergrund der neuesten bühnentechnischen Errungenschaften betrachtete Georg Hartmann, wie viele seiner Zeitgenossen, die Wandeldekorationen als einen überholten »Theaterzauber«983 der Wagner-Zeit. In Wagners Verwandlungsmusik und Szenenanweisungen wollte der Intendant ein aufstrebendes Fortschreiten erkennen, das mit der Wandeldekoration nicht zu realisieren sei: »Da nun Wagners Wandeldekoration von ›links nach rechts‹ die rechte Wirkung niemals ergibt, die Aufwärtsbewegung aber nur kinematographische Ausführungen zuläßt, so müssen wir uns schon anders helfen.«984 So beauftragte er Wunderwald, Alternativen zu diesem Illusionsmechanismus zu entwickeln. Zunächst zog dieser in Erwägung, nach der Szene im Gralswald ein Zwischenbild auf die Hauptbühne zu schieben, während auf einer Seitenbühne die Dekoration des Gralstempels aufgebaut werden sollte. Schon in der eingangs beschriebenen Kohlezeichnung war der Waldboden in Schräglage versetzt, wodurch eine leicht nach rechts ansteigende Rampe angedeutet wurde. Im Zwischenbild griff er das nach rechts ansteigende Gelände erneut auf, um den Eindruck der Aufwärtsbewegung von Parsifal und Gurnemanz zu verstärken. Es zeigt den Weg durch eine dunkle, felsige Höhle, deren Öffnung den Blick auf die von einem Dunstschleier umhüllten, hell erleuchteten

980 Lusztig 1914. 981 Draber 1914, S. 39. 982 Vgl. Grosse 1982, S. 101. Zu diesem horizontalen translatorischen Verfahren des Bühnenbodens siehe auch Grösel 2015, S. 13. Im Sonderheft der Zeitschrift Die Scene wurde die Eignung der Schiebebühne als Lösung für einen reibungslosen Szenenübergang mehrfach diskutiert und empfohlen. Vgl. hierzu Brandt 1913, S. 18; Stahl 1913b, S. 6 u. Linnebach 1913, S. 19. 983 Hartmann 1913, S. 20. 984 Hartmann 1913, S. 20.

304       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

Abb. 137: Gustav Wunderwald, Bühnenbildentwurf zu Parsifal, Charlottenburg, 1914.

Umrisslinien eines kuppelförmigen Zentralbaus in der Ferne freigibt (Abb. 137).985 Die schriftlichen Quellen zu der Berliner Inszenierung dokumentieren allerdings, dass die Idee des Zwischenbildes nicht beibehalten wurde. So beschreibt Hartmann lediglich zwei Schauplätze des ersten Akts, die auf den Bühnenwagen aufgebaut werden sollten: Da wir die Schiebebühne zur Verfügung haben, so stellen wir zwei Bilder: 1. Landschaft am Fuße der Gralsburg. 2. Gralstempel. Den Eingang zur Burg nehmen wir rechts (vom Zuschauer) oben an. Sobald nun die Verwandlungsmusik beginnt, schreiten Gurnemanz und Parsifal der Burg zu, also aufwärts. Dann verschwinden sie.986

Begünstigt wurde der Schiebemechanismus durch eine fein abgestimmte szenische Beleuchtung: »Die dunklen, aufsteigenden Gänge symbolisieren wir auf unsere Weise: die Bühne verdunkelt sich.«987 Um einen langsamen Übergang der Szenenbilder zu vollziehen, wurde das Abdunkeln der Scheinwerfer von einem dunklen, halbtransparenten Vorhang unterstützt. Auf diese Weise verschwand die Landschaft, sodass die Umrisslinien der Bäume als abstrakte Stützen für kurze Zeit allein auf der Bühne verweilten. In einem nächsten Schritt schälte die Beleuchtung die Silhouette des Gralstempels, der scheinbar unmerklich von der Seitenbühne auf die Hauptbühne geschoben wurde, aus der Dunkelheit heraus: »Das Licht, das von oben kommt, sendet nun seine sanften Strahlen, klar und feierlich. Es ist, als sähen wir in den blauen Frühlingshimmel hinein. Eine neue Welt umfängt uns, wir betreten heiliges Land.«988 Der Vorhang erhob sich erst in dem Moment, in dem der Gralstempel 985 Die Idee des Zwischenbildes findet auch Erwähnung bei Geil 1995, S. 44 u. Grosse 1982, S. 102 f. Da das Zwischenbild mit seinen schattigen Partien im Vordergrund und dem durchlichteten Hintergrund einen mit dem Waldbild vergleichbaren Hell-Dunkel-Kontrast aufweist, ist Joachim Geil fälschlicherweise von einer Realisierung dieser Verwandlungsvariante ausgegangen. 986 Hartmann 1913, S. 20. 987 Hartmann 1913, S. 20. 988 Hartmann 1913, S. 20. Zu den Beleuchtungsvarianten, die die Technik der Charlottenburger Oper zuließ, siehe auch Grosse 1982, S. 102–104.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       305

als leuchtender Innenraum vollständig sichtbar war. Ein Großteil der Kritiker empfand das Fortbleiben der Wandeldekoration als einen groben Verstoß gegen das von Wagner für die Verwandlungsszene festgelegte Bayreuther Muster: Im Deutschen Opernhause wird es dunkel, und eine kahle Einöde breitet sich aus. [...] Das bedeutet eine störende Zweiteilung des Aktes, und widerspricht direkt der in der Dichtung klar gezeichneten Absicht. Gurnemanz sagt zu Parsifal: ›Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.‹ Also während der Zeit, in der Gurnemanz und Parsifal zum Tempel schreiten, soll der Raum, den sie durchwandern, sichtbar sein.989

Ohne die Wandeldekoration sei es kaum möglich, die Undurchdringlichkeit des Gralswaldes, die schreitende Bewegung von Gurnemanz und Parsifal sowie die scheinbar unmerkliche Veränderung des Schauplatzes angemessen in Szene zu setzen. Treue Wagnerianer unter den Kritikern sahen sich insbesondere dadurch brüskiert, dass Hartmann seinen Ansatz, die Anordnungen Wagners für diese Szene vollständig zu umgehen, im Vorfeld der Premiere selbstbewusst kommuniziert hatte: Hartmann ist selbstständig vorgegangen. Er will kein ›Buchstabenreiter‹ sein und steht auf dem Standpunkt, daß man die Vorschriften Wagners in dessen Sinn weiter ausbauen kann, darf und soll. [...] Wagner aber ist so peinlich genau in seinen Vorschriften, daß es hier nichts zu ändern gibt.990

Wie seine Ausführungen in der Zeitschrift Die Scene und im Vorwort zur Neuausgabe des Textbuches belegen, hatte Hartmann gerade in der Handlung die Begründung gesehen, auf die Wandeldekoration zu verzichten: Wir sehen jetzt klar, aus welchem Grunde Wagner mit seiner Wandeldekoration nicht zum gewünschten Ziele gelangte: sie kann den ›inneren‹ Vorgang [...] nicht deutlich machen. Sobald aber der Zuschauer von 1914 diesen inneren Vorgang erfaßt, wird unsere Inscenierung von der Wirkung sein, die Wagner vorschwebte.991

Mit der Bezeichnung des ›inneren‹ Vorgangs implizierte der Intendant die Transformation des unwissenden Tors auf seinem Weg zu »des hohen Werkes, das er verrichten soll: [...] Parsifal soll in Zukunft des Grales Hüter, Walter und König sein«.992 Die Visualisierung dieser inneren Verwandlung bedurfte nicht nur in Hartmanns Augen einer zeitgemäßen szenografischen Umsetzung: »Wenn die Bäume zu wandeln beginnen, damit man glaubt, daß die Menschen gehen, entsteht immer 989 Holzbock 1914. Vgl. hierzu auch Bie 1914; Lusztig 1914 u. Schmidt 1914a. Ohne dies näher auszuführen, verweist auch Steinhoff auf den Vorhang. Siehe Steinhoff 2012, S. 390. 990 Doebber 1914b. So verwundert kaum, dass sich in Doebbers Loblied auf die Erstaufführung an der Königlichen Hofoper mehrfach eine versteckte Kritik an Hartmanns Inszenierungspraxis findet, wenn er die »Reinheit« der detailgetreuen Umsetzung und die Zurücknahme »persönlicher Einzelheiten« besonders heraushebt. Doebber 1914a. Für einen ähnlichen Tenor siehe auch Holzbock 1914. 991 Hartmann 1913, S. 20. 992 Hartmann 1914, S. 11.

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ein Effekt, der stört, weil er nie ganz gelingt.«993 Egbert Delpy (1876–1951) begrüßte allerdings in diesem Zusammenhang auch, dass Hartmann bei den Möglichkeiten des Theaters blieb und sich nicht dazu verleiten ließ, »hier etwas ›Modernes‹ (etwa eine landschaftliche Kinoaufnahme ...) zu bieten«.994 Auch wenn die Charlottenburger Neuinszenierung des Parsifal trotz ihrer eingeschränkt verfügbaren finanziellen Mittel die Anerkennung einiger Kritiker fand, hob die Mehrheit der Pressevertreter die Reinheit der Inszenierungspraxis des Graf von Hülsens gegenüber dem experimentellen Stil Georg Hartmanns hervor: »Man konnte im ›Parsifal‹ nicht mehr jenen höchsten, unmittelbaren Ausdruck des Erlösungsgedankens finden, den man darin finden wollte.«995 Leopold Schmidt sieht dies darin begründet, dass es in Charlottenburg »infolge des Monopols noch an einer mit dem Stile vertrauten Künstlergeneration« gefehlt habe.996 In seiner Besprechung »Parsifal in Berlin. Der ›königliche‹ und der ›demokratische‹ Parsifal« betrachtet Hermann Wilhelm Draber die beiden Inszenierungen aus einer anderen Perspektive, denn er kommt zu dem Schluss, »dass in keinem der beiden Theater eine wirklich vollkommene Darstellung zustande gebracht« wurde.997 Mit Blick auf die sogenannten ›Wagnerdarsteller‹, die während ihrer Laufbahn Station in Bayreuth gemacht hatten, führt er einen Begriff ein, der im Zuge der Neuinszenierung des Parsifal von besonderem Interesse ist: »Und gerade weil in Charlottenburg noch so unverbrauchte Kräfte vorhanden sind, die noch nicht in das Durchgangsstadium der Bayreuther Schablonisierung geraten sind, hat mir dort der Parsifal mindestens ebenso gut gefallen, wie am Franz-Josef-Platz.«998 Der Begriff ›Schablonisierung‹, unter den keinesfalls nur der Darstellungsstil fällt, zielt also auf die routinierte und kritiklose Nachahmung des Bayreuther Vorbildes, die sich durch den Mangel an Überraschungseffekten einer Weiterentwicklung versperrt. Den Anspruch auf Vollständigkeit zu erfüllen suchend, passte sich die Inszenierung des Königlichen Hoftheaters mit »dem üblichen Prunk und den etwas überlebten Bühnenbildern in Düsseldorfer Akademieart« nahtlos in die vorgefundene Schablone ein.999 Im Spannungsfeld der beiden Berliner Inszenierungen wird Wagners Parsifal folglich zu einer Bühne der Ambivalenz. Die Zusammenschau der Kritiken verdeutlicht, dass das Berliner Musiktheater einen tiefen Einblick in das instabile Konstrukt der Wilhelminischen Gesellschaft, Kultur und Politik gibt. Mit dem Kriegsausbruch im August 1914 sollten die bestehenden Verhältnisse unwiderruflich ins Wanken geraten. Die Königliche Hofoper, die der Autorität des Kaisers

993 994 995 996 997 998

Badische Presse Karlsruhe 1914. Delpy 1914. Neue Freie Presse Wien 1914b. Vgl. hierzu auch H. E. 1914. Schmidt 1914a. Draber 1914, S. 38. Draber 1914, S. 38 (Hervorh. S. B. Q.). Dadurch, dass es in Bayreuth keine festen Sänger gab, sondern diese aus ganz Deutschland engagiert wurden, hatten einige Mitglieder des Ensembles der Königlichen Hofoper bereits Erfahrungen während der Festspiele sammeln können. Siehe hierzu auch Steinhoff 2012, S. 389 f. 999 Draber 1914, S. 39.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       307

unterlag, erwies sich dabei als Gegenwelt zu der Metropole Berlin.1000 Mit seiner experimentellen Inszenierungspraxis am Deutschen Opernhaus überführte Georg Hartmann den Parsifal in die Topografie der schnelllebigen Großstadt: Es [das Stück – S. B. Q.] trifft eine junge Generation, die sich von dem wühlendes [sic!] Pathos Wagners abgewendet hat. Es trifft eine neue religiöse Bewegung, aber keine kontemplativ musikalische, sondern eine scharfe, soziale, die nicht auf das Wissen, sondern auf die Tat geht. Es trifft eine musikalische Entwicklung, die längst neue Bahnen gegangen ist und das Schwächliche und Altershafte im Parsifal doppelt empfindet.1001

Die neuen Bedingungen für die Rezeption des Parsifal durch ein modernes Großstadtpublikum setzten folglich die Etablierung eines neuen, zeitgemäßeren Inszenierungskonzepts voraus. Wunderwalds Tendenz zur Stilisierung und Abstraktion, seine leuchtende Farbigkeit und sein klarer Kompositionsaufbau kam der Kunstauffassung der ›jungen‹ Generation entgegen. Mit einer an der zeitgenössischen bildenden Kunst orientierten Ästhetik übertrugen Hartmann und Wunderwald Wagners Idee der Gemeinschaft, die sich im Theater versammelt, um Zeuge des Bühnenweihfestspiels zu werden, auf die moderne Lebenswelt: Charlottenburg [huldigte] wieder der künstlerischen Askese [...], die der geniale junge Maler Wunderwald dort hineingetragen hat. Ich muss sagen, dass die Charlottenburger Dekorationen auf mich weit stärker gewirkt haben wie die Berliner. [...] [A]lles fühlte man mit der Handlung, ohne dadurch vom Gehalt des Werkes abgelenkt zu werden. [...] Die Augen der Zuhörer sollen, zum mindesten bei einem so gedanken- und gefühlstiefen Werke, nicht beständig zu Entdeckungsreisen in den Dekorationen angeregt werden.1002

Im Zuge der Premiere am Deutschen Opernhaus in Charlottenburg gab die Richard Wagner-Gesellschaft ein neues Textbuch zu Parsifal mit Szenenfotografien dieser Neuinszenierung heraus. Anhand dieser fällt auf, dass das endgültige Bühnenbild für die Waldszene in seiner Disposition eine Verschränkung der Kohlezeichnung und des farbigen Entwurfs Wunderwalds gewesen zu sein scheint. Die Baumstämme ragen als dunkle stilisierte Farbflächen in die Höhe und bilden einen starken Kontrast gegenüber der im Hintergrund liegenden Gebirgslandschaft, die stärker modelliert wirkt. Der gesamte Vordergrund ist in Schräglage versetzt (Abb. 138). Dass die Herausgeber Georg Hartmanns Inszenierung für die Illustration der Textgrundlage auswählten, ist durchaus bezeichnend für die grundsätzliche Anerkennung, die dieser Aufführung gezollt wurde. So zeugt die Publikation auch davon, 1000 Vgl. hierzu auch Steinhoff 2012, S. 378 u. S. 384 f. Zu der Spannung zwischen dem Königshaus und der Großstadt vgl. auch Marx 2008, S. 361. 1001 Bie 1914. Vgl. hierzu auch Delpy 1914. 1002 Draber 1914, S. 39. Zu den malerischen Stilmerkmalen Wunderwalds vgl. Reinhardt 1995, S. 11–28; Westheim 1927 u. Herald 1916/17. Wunderwald ebnete mit seiner Tätigkeit am Theater den Weg in die Neue Sachlichkeit, den er als freischaffender Maler nach dem Ersten Weltkrieg einschlug. Vgl. u. a. Buck 1995 u. Reinhardt 1980, S. 14. Siehe weiterführend Reinhardt 1988.

308       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

Abb. 138: Szenenfotografie zu Parsifal, Charlottenburg, 1914.

dass Wunderwalds experimentelles Bühnenbild, bei aller Kritik, über die Grenzen Berlins und Deutschlands hinaus verbreitet und bekannt gemacht wurde.1003 Dass seine Entwürfe dem Geschmack der Zeit entsprachen, belegt überdies die Teilnahme an einer Ausstellung des Frankfurter Kunstgewerbemuseums, in der innovative Szenografiekonzepte für Richard Wagners Bühnenweihfestspiel präsentiert wurden. Da die Ausstellung als »Gradmesser der zeitgenössischen Bühnenkunst« die Vielfalt neuer szenografischer Lösungen zeigte, stellte sie einen wichtigen Meilenstein in der Formung eines wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurses um die Inszenierung des Parsifal nach der Bühnenfreigabe 1914 dar.1004 Vor dem Hintergrund dieser Errungenschaften beurteilte auch der Publizist, Musik- und Kunsthistoriker Oscar Bie (1864–1938) Wunderwalds Bühnenbild für die Charlottenburger Inszenierung: [A]lles das ist schön gedacht und aus heutiger Seele empfunden. Wenn ich etwas auszusetzen hätte, wäre es, daß alle diese Dekorationen noch zu sehr Motiv geblieben sind, Säule, Bäume, See, Berg, zu sehr Gedanke der Malerei, gerahmtes und schematisches Bild ohne die Transzendenz der höheren Gattung, das webend und lebend Musikalische.1005

1003 Das Nachwort von Prof. Dr. Freiherr von Lichtenberg ist mit Reproduktionen der Bayreuther Dekorationen illustriert. Siehe Richard Wagner-Gesellschaft o. D. Das Textbuch befand sich beispielsweise im Besitz von Joseph Urban. Vgl. hierzu Kapitel 4.2.2. 1004 Storck 1914, S. 457. Ausgestellt waren u. a. Entwürfe von Gustav Gamper (Bern), Heinrich Lefler (Wien) und Ludwig Sievert (Freiburg). Aufgrund ihrer »frühlingshaft-knospender Buntheit« entschied man sich, Wunderwalds Szenenentwurf für den dritten Akt Blumige Au ebenso wie Hans Wildermanns Entwurf zu derselben Szene auszustellen. Storck 1914, S. 462. Unter der Inv.-Nr. 13770f der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln befinden sich zwei Entwürfe, darunter einer mit der Signatur G. W. Siehe auch Grosse 1982, S. 102 u. Reinhardt 1980, S. 18, Fn. 14. Zu Wildermanns Parsifal-Entwürfen vgl. Kapitel 4.2.3. 1005 Bie 1914. Zu dieser Meinung bezieht Egbert Delpy eine Gegenposition: »Die Bühnenbilder [...] brachten denn auch diesen neuen [...] modernen Stil der Vereinfachung, der Stilisierung und der starken Farbakzente. [...] Je mehr [...] Handlung und Musik fortschritten, um so mehr stellte sich für mein Gefühl ein innerer Widerspruch heraus, der das Nebeneinander zweier im Tiefsten verschiedener Welten aufdeckte.« Delpy 1914.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       309

Womöglich hatte Bie in diesem Augenblick Adolphe Appias ›rhythmische Räume‹, in denen niemals der Parsifal zur Aufführung gebracht wurde, vor Augen. Zweifellos formulierte er eine künstlerische Aufgabe für die Zukunft, durch die sich nachfolgende Bühnenbildner angespornt sahen.

4.2.2 Joseph Urbans Traumlandschaft für den Parsifal der Metropolitan Opera Am 19. Februar 1920 feierte die Metropolitan Opera in New York unter der Leitung des Regisseurs Richard Ordynski (1878–1953) und des Dirigenten Artur Bodanzky (1877–1939) die Premiere einer Parsifal-Neuinszenierung. Das Bühnenweihfestspiel aus der beschaulichen Kleinstadt Bayreuth sollte nach 1903 erneut in der zu diesem Zeitpunkt mit über 5.500.000 Einwohner zählenden größten Stadt der Welt aufgeführt werden.1006 Die Roaring Twenties, die die Jahre 1920 bis zur Weltwirtschaftskrise im Oktober 1929 umfassen, gelten als schnelllebiges Jahrzehnt, das geprägt durch den technischen und industriellen Fortschritt, den insbesondere die Automobilbranche, das Kommunikationswesen und die Elektrifizierung ankurbelten, nicht nur zu einem wirtschaftlichen Aufschwung der Vereinigten Staaten führte, sondern auch den Alltag in der Großstadt maßgeblich veränderte. Wie schon in dem Kapitel zu Max Reinhardts Mirakel-Gastspiel in New York aufgezeigt, kennzeichnete das amerikanische Theater dieser Zeit eine enge Durchdringung von Kommerzialisierung und Spektakel, die in der rasanten Entwicklung der Filmindustrie in Hollywood eine zusätzliche Steigerung erfuhr. Jene populäre Unterhaltungskultur wurde zu einem festen Bestandteil des urbanen Lebens. In den 1920er Jahren genoss die Bevölkerung von Manhattan bereits einen der höchsten Lebensstandards des Landes und war dazu bereit, einen beträchtlichen Anteil ihres monatlichen Einkommens für das Amüsement auszugeben, das ihnen die Theater des Broadways sowie die Kabaretts und Music Halls am Times Square boten. Gleichzeitig zogen die Tanzsäle des Stadtteils Harlem unzählige Besucher an, die kamen, um aufstrebende Stars der Szene wie Louis Armstrong (1901–1971) zu hören. Allein im Jahr 1920 wurden hundertfünfzig Stücke am Broadway aufgeführt, womit die Produzenten dem Großstadtpublikum ein umfangreiches Unterhaltungsangebot lieferten.1007 Während eine Reihe von Theaterkritiken zu den Berliner Erstaufführungen mit einer Schilderung der Topografie der Großstadt beginnen, sind solche Beschreibungen in der amerikanischen Tagespresse von 1920 nicht zu finden. Als der Parsifal jedoch zum allerersten Mal am 24. Dezember 1903 in der Metropolitan Opera in einer Neuinszenierung gezeigt wurde, führten die Kritiker eine kontroverse Diskussion über die Aufführbarkeit des für Bayreuth bestimmten Bühnenweihfestspiels in der amerikanischen Weltmetropole. So beginnt Richard Aldrich (1863–1937), der 1006 Am 1. Januar 1920 zählte New York City 5.620.048 Einwohner. Es folgten London und Berlin, wobei letztere die zu diesem Zeitpunkt flächenmäßig größte Stadt der Welt war. Vgl. New York Chamber of Commerce 1921, S. 210. Siehe weiterführend u. a. Palmer 2006. 1007 Vgl. Houchin 2003, S. 73. Zur Spektakelkultur in den Vereinigten Staaten siehe weiterführend Hughes 2014. Siehe hierzu auch Kapitel 2.2.

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noch 1920 für die New York Times Rezensionen zu Opern- und Theateraufführungen schrieb, einen Bericht über die Ankunft des Parsifal in der ›Neuen Welt‹ mit der Überlegung, ob man das Stück überhaupt in einer Stadt wie New York City spielen dürfte: ›Parsifal,‹ in truth, is calculated for a different environment than New York [...]. The substance of the drama, its motive, and lessons it seeks to enforce, cannot make an appeal to modern sympathies and understanding. These need the beguilement of Baireuth [sic!], the withdrawal from other interests, the special pilgrimage, the unaccustomed attitude of mind. [...] The spectator there is led to leave something of his intellectual equipment behind him. In New York he takes it all with him into the Opera House and views theses mediaeval fantasies, this relic worship, this strange play of impulse and emotion, with reseve.1008

Da man in New York weder mit der Abgeschiedenheit des Festspielhügels konkurrieren noch ein konfessionell homogenes Publikum erwarten konnte, musste die religiös konnotierte Symbolik des Bühnenweihfestspiels und seines Aufführungsortes in den Kontext einer modernen Metropole überführt werden: »›Parsifal‹ so far as it is accepted in its New World surroundings, will be accepted for the most part as a profoundly impressive appeal to emotional and aesthetic sensibilities.«1009 Dennoch ist offensichtlich, dass die Verantwortlichen mit der Premiere zum Weihnachtsfest und späteren Vorstellungen an christlichen Feiertagen – insbesondere an Karfreitag – der religiösen Aufladung der Inszenierung Rechnung tragen und bei den Rezipienten eine spirituelle Grundhaltung evozieren wollten.1010 Überdies bereitete sich Manhattan gezielt auf das gesellschaftliche Ereignis der Parsifal-Premiere vor. Dabei entwickelte sich ein für das Treiben des geschäftigen Stadtzentrums eigentümlicher, glamouröser Rahmen, der im New York der Roaring Twenties zweifellos eine Steigerung erfahren haben muss. Schneidereien warben für den Erwerb einer neuen Garderobe, um den langen Aufführungstag in angemessener Kleidung zu bestreiten, und Hotels in den umliegenden Straßen wurden gebucht, um dort die Pause nach dem ersten Akt verbringen zu können. Die Gastronomen am Broadway bereiteten sich ihrerseits auf einen Besucheransturm vor: As it will be impossible for many of the audience to get home for dinner in time to be back for the opening of the second act of ›Parsifal‹, the many restaurants in the vicinity are making unusual efforts to accommodate the crowds. Many of them have reserved every seat for the operagoers. The larger places will have their up-stairs rooms opened and have engaged increased forces of cooks and waiters.1011

1008 Aldrich 1903. 1009 Aldrich 1903. Zur konfessionellen Rahmung von Theaterstücken religiösen Inhalts im spezifischen Kontext der Metropole London siehe weiterführend Kapitel 2.1.4. 1010 Einen Überblick über die Vorstellungen zwischen 1903 und 1913 liefert Aldrich anlässlich der offiziellen Bühnenfreigabe 1914. Um die Vorstellung von allen bisher da gewesenen abzuheben, verdoppelte Conried zudem die Eintrittspreise. Vgl. Aldrich 1914. Siehe hierzu auch Syer 2005, S. 282. 1011 The New York Times 1903a. Aus dem Wissen um das gesellschaftliche Ereignis der Parsifal-Erstaufführung entbrannte eine ausführliche Diskussion über den angemessenen

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       311

Dass an dieser Stelle der Einstieg in die Analyse der Inszenierung von 1920 mit den Theaterkritiken zu der Erstaufführung von 1903 beginnt, veranschaulicht die besonderen Umstände der Parsifal-Rezeption in New York: Zwar lassen sich in vereinzelten Kritiken zu der späteren Inszenierung Rückbezüge auf Wagners Uraufführung finden, doch sind die Vergleiche verhältnismäßig gering. Grundsätzlich zeugen auch die knappen Pressemitteilungen der New Yorker Zeitungen anlässlich der Uraufführung im Juli 1882 von einem ursprünglich gemäßigten Interesse der Öffentlichkeit.1012 Die wesentliche Bezugsfolie für die Rezeption einer Parsifal-Inszenierung an der Metropolitan Opera war nicht Bayreuth, sondern der Mikrokosmos New York selbst. Die Erstaufführung durch den Österreicher Heinrich Conried (1855–1909) im Jahr 1903, der sich vor dem United Circuit Court über die von Cosima Wagner erwirkte Schutzfrist und das europäische Urheberrecht hinwegsetzen konnte,1013 hatte in der Stadt nicht nur für Furore gesorgt, sondern wurde durch die besondere Aufmerksamkeit der nationalen und internationalen Presse auch zu einem festen Bestandteil des amerikanischen Opernrepertoires: ›Parsifal‹ at Baireuth [sic!] is accessible to but a comparatively few. At the Metropolitan Opera House it is reproduced with a perfection of technical detail, a completeness of ensemble, a large vision of the spirit and significance of it all, that really present ›Parsifal‹ to the listener.1014

Während nur eine wohlhabende Minderheit im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die Gelegenheit hatte, das Bühnenweihfestspiel in Wagners Originalfassung in Bayreuth zu erleben, eignete sich ein Großteil des New Yorker Publikums sein kulturhistorisches Wissen um den Parsifal über Conrieds Neuinszenierung an, die in dieser Fassung unverändert bis 1917 sechsundfünfzig Mal an der Metropolitan Opera gespielt wurde.1015 Dresscode für Frauen und Männer, an der sich auch Herrenschneider, Näherinnen und Inhaber renommierter Bekleidungsgeschäfte an der Fifth Avenue beteiligten, da sie ein großes Geschäft witterten. Vgl. The New York Times 1903b. 1012 Vgl. Unbekannt 1882. In dieser kurzen Pressemeldung fällt der abschließende Satz, »America was largely represented at the performance«, ins Auge. Diese Bemerkung bezieht sich vermutlich auf Diplomatengäste, amerikanische Bewohner in den Großstädten Europas sowie wenige privilegierte Reisende. 1013 Zum Vorwurf der ›Profanierung‹ durch Kommerzialisierung siehe Aldrich 1914 u. The New York Times 1903c. Zur Aufnahme der Inszenierung durch die deutsche Theaterwelt vgl. u. a. Zweig 1913; Americus 1904 u. Sharp. 1904. Siehe weiterführend Horrowitz 1994, S. 259–266. 1014 Aldrich 1903. 1015 Vgl. hierzu Aldrich 1914. In den Jahren 1904 und 1905 ging das Parsifal-Ensemble auf eine große Tournee, um das gesamte Land an diesem Ereignis teilhaben zu lassen. Siehe hierzu Syer 2005, S. 283–285. Über den Andrang amerikanischer Festspielbesucher in Bayreuth schreibt Theodor Fontane 1889: »Zwei Drittel sind Engländer und Amerikaner, Amerikaner noch mehr als Engländer.« Brief von Theodor Fontane an seine Frau, 27. Juli 1889, in: Fontane 1905, S. 221. Zum Anstieg amerikanischer Bayreuth-Touristen seit der Jahrhundertwende vgl. auch Schlesinger 1908, S. 133. Zu den Reisenden zählten u. a. Mark Twain, Giulio Gatti-Casazza und Isabella Stewart Gardner. Siehe weiterführend Koss 2010, S. 45–50. Einen statistischen Überblick über die ausländischen Festspielbesucher, ihre Na-

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Abb. 139: C. McKnight-Smith, The New Stage of the Metropolitan Opera House for the Production of »Parsifal«, 1904.

Conrieds Anliegen war es, in New York ein zweites, ein neues Bayreuth entstehen zu lassen – ein Vorhaben, welches sich als ein dynamischer kultureller Transferprozess erwies. Selbstredend hatte Conried vor Ort die Bayreuther Dekorationen genauestens studiert. Für das New Yorker Bühnenbild und die Kostüme beauftragte er daher das renommierte Hoftheateratelier Brioschi, Burghart & Kautsky, das sich nah am Bayreuther Vorbild orientierte.1016 Die Zeitschrift Scientific American veröffentlichte im Februar 1904 einen Artikel über die umfassenden Umbaumaßnahmen, die den Proben vorausgingen. Darin ist Conrieds Motto aufgegriffen: »Now thanks to the new stage of the Metropolitan Opera House, we have our own Bayreuth in New York, where we can get the ›solemn festival play‹.«1017 Als technischen Direktor konnte Conried Carl Lautenschläger (1843–1906) gewinnen, der bei Wagners Theationalitäten, Berufsbezeichnungen und Unterkünfte bieten die sogenannten ›Fremdenlisten‹ im Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth. 1016 Vgl. The New York Times 1903d. Der Kritiker bemerkte nur vereinzelte Abweichungen im Detail. Vgl. auch Syer 2005, S. 281 f. Carlo Brioschi, Hermann Burghart und Johann Kautsky fertigten Theaterdekorationen für die Wiener Hofoper und belieferten zahlreiche Häuser im Ausland. Johann Kautskys Sohn Hans zeichnete 1914 für das Bühnenbild der Königlichen Hofoper in Berlin verantwortlich. Siehe hierzu Kapitel 4.2.1. 1017 Unbekannt 1904, S. 117 f. (Hervorh. S. B. Q.).

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       313

termaschinist Carl Brandt gelernt und am Residenztheater München einen neuen technischen Standard gesetzt hatte.1018 Die ganzseitige Illustration The New Stage of the Metropolitan Opera House auf der Titelseite des Scientific American enthüllt in mehreren Schichten die neue Illusionsmaschinerie, die für die Inszenierung des Parsifal notwendig war (Abb. 139). Im Zentrum ist der Hintergrundprospekt für Klingsors Zaubergarten im zweiten Akt zu erkennen, der auf der rechten Bildseite von einem prunkvollen Proszeniumbogen und den Zuschauerlogen eingefasst wird. Ein Riss durchzieht die Darstellung im oberen Drittel, sodass links die eigentliche Höhe des Bühnenturms für das Walzensystem der Wandeldekoration mit der Architektur des Tempels sichtbar wird. In den Seitengängen bedienen die Techniker die Seilzüge mit Gewichten für die hängenden Kulissenteile. Im unteren Bilddrittel erscheint der bewegliche Bühnenboden wie aufgeklappt und offenbart so die komplexe Versenkungsmaschinerie, über die die Kulissenteile von Klingsors Turm schnell aufund abgebaut werden konnten. Lautenschlägers Anspruch war es, jene technischen Möglichkeiten so auszuschöpfen, dass sich Kulissenwechsel und die dramaturgisch bedeutsamen Verwandlungsszenen akkurat, effizient und rasch umsetzen ließen. Über die anhand der Illustration nachvollziehbaren technischen Neuerungen hinaus war die komplette Gasbeleuchtung dem neuesten Standard entsprechend durch elektrisches Licht ausgetauscht worden.1019 Mit Milka Ternina (1863–1941), Alois Burgstaller (1871–1945) und Anton van Rooy (1870–1932) wurden Sängerinnen und Sänger engagiert, die sich bereits in Bayreuth bewiesen hatten.1020 Über die Orientierung am Originalbühnenbild, die Anpassungen an der Architektur und Technik des Opernhauses sowie die Feinabstimmung der Besetzungsliste hinaus verweist Katherine Syer auf den ›Parsifal Limited‹, einen Sonderzug, der Zuschauer aus Chicago und dem Mittleren Westen nach New York brachte.1021 Indem das Opernunternehmen sich das moderne Massentransportsystem zunutze machte, konnten nicht nur Scharen von WagnerBegeisterten zu der Erstaufführung pilgern, gleichzeitig wurde auch der Tourismus in der Stadt generell gefördert. Mithilfe dieser Strategien, die er sich in Bayreuth abgeguckt und an die New Yorker Bedingungen angepasst hatte, wollte Conried den außergewöhnlichen Parsifal-Kult der amerikanischen Öffentlichkeit näherbringen. Die Inszenierung zielte nicht darauf ab, das Vorbild exakt nachzubilden, sondern dieses gar zu übertreffen: »It was in many respects equal to anything that has ever 1018 Unbekannt 1904, S. 118. 1019 Über das Prinzip der Wandeldekoration hinaus enthält der Artikel detaillierte technische Informationen zu den Seilzugmechanismen, Versenkungstechniken und Bühnenwagen. Die Metropolitan Opera Company erwog sogar, auf das von Lautenschläger weiterentwickelte Prinzip der Drehbühne umzurüsten, was jedoch nicht realisiert wurde. Vgl. Unbekannt 1904, S. 118. 1914 folgten einige Opernhäuser in Europa, die nicht über die notwendige technische Ausstattung für die Wandeldekoration verfügten, den Umbaumaßnahmen der Metropolitan Opera. Siehe hierzu auch Syer 2005, S. 281 f. 1020 Als Gegenreaktion forderte Cosima Wagner, dass Mitglieder des New Yorker Ensemble, der musikalischen Leitung und des Ausstattungsstabes niemals wieder ein Engagement in Deutschland erhalten sollten. So erging es beispielsweise dem Dirigenten Alfred Hertz. Vgl. Syer 2005, S. 282. 1021 Vgl. Syer 2005, S. 281.

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been done at Baireuth [sic!], and in some much superior. It was without doubt the most perfect production ever made on the American lyric stage.«1022 Letztmalig wurde Conrieds Inszenierung des Parsifal am Karfreitag des Jahres 1917, damals bereits unter der Leitung des Opernmanagers Giulio Gatti-Casazza (1869– 1940), zur Aufführung gebracht. Dieses Ereignis sollte sich unumgänglich in die Rezeption nachfolgender Parsifal-Inszenierungen einschreiben: While newsboys were screaming through the streets their extras making known the President’s official announcement of a state of war with Germany a great audience sat in the Metropolitan Opera House listening reverently to the ineffably beautiful music with which Richard Wagner had hymned the holiness of Good Friday. For it was Good Friday, April 6, 1917, and when that audience passed out into the street it knew that the strains of Wagner’s scores would be heard no more in the Metropolitan Opera House till the arrogant tongue of Prussianism was stilled and Europe might once more sleep in peace.1023

Mit der Kriegserklärung an Deutschland und dem Eintritt der Vereinigten Staaten von Amerika in den Ersten Weltkrieg verschwanden zu Beginn der Saison 1917/18 deutschsprachige Stücke, darunter allein neun Musikdramen Richard Wagners, aus dem Repertoire der Metropolitan Opera. Mit dieser vorläufigen Spielplanänderung reagierte die Direktion Gatti-Casazza im November 1917 auf einen zunehmenden Druck durch öffentliche Proteste. Das Opernhaus, das maßgeblich an der Prägung des amerikanischen Musikgeschmacks beteiligt und sich dessen Verantwortung bewusst war, wollte weder eine Angriffsfläche für den Patriotismus der eigenen Bevölkerung noch für die Propaganda des Feindes in Deutschland bieten.1024 Während die einschneidenden Ereignisse in den Pressemeldungen des Jahres 1917 in einem sachlich nüchternen Ton reflektiert werden, entfacht diese Diskussion mit der Wiederaufnahme des Parsifal 1920 erneut. Dabei fällt auf, dass das Stück erst in der emotionalen Rückschau auf die Tragweite des Krieges zum Politikum wird und von dem politischen Meinungsbild einer Nation überlagert wird:

1022 The New York Times 1903d. Siehe hierzu auch Horrowitz 1994, S. 264–266. 1023 The Sun and the New York Herald 1920. Siehe hierzu auch Henderson 1920. 1024 Ebenso betroffen waren u. a. die Werke von Beethoven, Humperdinck und Mozart. Dieser Einschnitt in den Spielplan bedeutete, dass die Verträge mit einigen Ensemblemitgliedern aus Deutschland aufgelöst werden mussten. Vgl. ausführlich The New York Times 1917a. Siehe hierzu auch die Stellungnahme Henry Edward Krehbiels, die abgedruckt wurde in The New York Times 1920a u. The New York Tribune 1920a. Wenige Wochen nach Kriegseintritt erklärte Gatti-Casazza noch optimistisch, dieser würde keine Auswirkungen auf den Spielplan haben. Vgl. Aldrich 1917. Als aus Deutschland die Forderung nach einem Boykott gegenüber Deutschen, die in Amerika auftraten, laut wurde, nahm er zunächst deutsche Sängerinnen und Sänger in Schutz. Siehe hierzu The New York Times 1917b. Andere Opernhäuser in den Vereinigten Staaten brachten den Parsifal auch während des Krieges zur Aufführung. Allerdings griff man auf bestehende Inszenierungen zurück. Vgl. Syer 2005, S. 297. Auch während Max Reinhardts Vertragsverhandlungen für eine Mirakel-Tournee in Amerika stellte der Krieg eine Zäsur dar. Siehe hierzu Kapitel 2.2.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       315 Sooner or later, doubtless, German opera will return. Music is the most nearly unblemished product of Kultur, history and even philosophy having been incarnadined in Prussian guilt. And it is the highest product of Teutonic genius. [...] Multitudes of operagoers feel that what the drama would be without SHAKESPEARE, opera would be without WAGNER. If the ban were continued indefinitely, musical art would be the loser.1025

Die Neuinszenierung des Parsifal zu einem Zeitpunkt, da sich ein Großteil der Nation aufgrund der anhaltenden Konferenzen über die Reparationsfrage weiterhin mit Deutschland im Krieg begriff, bedurfte einer taktvollen Reaktion der Operndirektion auf die großen Vorbehalte der amerikanischen Öffentlichkeit: »Germany is still Germany and we are still technically at war. The sound of the German language is still obnoxious, stirring complexes of emotion that easily quicken to pain and resentment.«1026 Dass am Premierenabend die Zuschauer in Scharen in das Opernhaus strömten, war Resultat grundlegender Veränderungen. Erstmals wurde der Parsifal in einer englischen Übersetzung des Musikwissenschaftlers und -kritikers Henry Edward Krehbiel (1854–1923) gegeben.1027 In einer Stellungnahme zu seiner neuen Textgrundlage erinnert der Übersetzer an Wagners politischen Einsatz während der Dresdner Mairevolution von 1849, deren Scheitern ihn in das politische Exil nach Zürich zwang: [T]he political ideals which he represented were not those of the Germany whose foundations were laid by Frederick II of Prussia [...] and those who attempted to destroy the political ideals for which the United States went into battle.1028

Konsequenterweise wurden für die Neuinszenierung keine Sängerinnen und Sänger aus Deutschland, sondern zahlreiche Amerikanerinnen und Amerikaner engagiert. Die Presse argumentierte, dass die ursprüngliche Parzival-Legende ihre literarischen Wurzeln neben Wolfram von Eschenbachs Versdichtung gleichfalls in Frankreich und Großbritannien habe: »The legend of ›Parsifal‹ belongs to no one land, no one people.«1029 Gleichzeitig betonten die Kritiker die christlich-moralischen Grundzüge von Wagners Bühnenweihfestspiel. Die von Wagner zentral gesetzten Tugenden der

1025 The New York Times 1920b (Hervorh. Unbekannt). 1026 The New York Times 1920b. 1027 Vgl. Vernon 1920. Obschon die Mehrheit der Kritiker den sensiblen Umgang mit Wagners Parsifal begrüßte, diskutierte sie dennoch die Problematik und Wirkungskraft einer englischen Übersetzung der Wagner-Sprache. Siehe hierzu u. a. Hubbard 1920; Murray 1920 u. The Evening Journal 1920. Im Dezember 1922 wurde in New York der Parsifal auch wieder in der deutschen Originalfassung mit einem deutschsprachigen Ensemble gegeben. Vgl. hierzu Aldrich 1922. 1028 Programmheft zu Parsifal, Metropolitan Opera, New York, 1919/20, S. 31, Joseph Urban Archive, Rare Book & Manuscript Library, Columbia University. Die Stellungnahme Krehbiels wurde außerdem abgedruckt in The New York Times 1920a u. The New York Tribune 1920a. Auf Wagners revolutionäre Haltung in der deutschen Geschichte bezogen sich eine Reihe von Rezensenten, darunter auch Smith 1920; The Boston Daily Globe 1920 u. The New York Times 1920b. 1029 The New York Times1920b. Auf die Ursprünge des Parzival-Stoffes in der keltischen Kultur beziehen sich u. a. auch Aldrich 1920a u. The Sun and the New York Herald 1920a.

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Nächstenliebe und des Mitleidens sowie der Menschlichkeit und Brüderlichkeit bildeten ein »anathema to the violators of Belgium and of France«.1030 Als sich der Direktor der Metropolitan Opera Giulio Gatti-Casazza zu Wort meldete, hob er an allererster Stelle die ästhetische Qualität der Neuinszenierung hervor: »It will not be performed either as a social or religious function; no, but as a function truly artistic, and it will evoke emotions profound and pure, such as only the rarest scenic-musical spectacles can possibly awaken.«1031 Das Ziel einer vollständigen Neuinszenierung setzte selbstverständlich neue Bühnenbild- und Kostümentwürfe voraus, die – im Gegensatz zu Conrieds Inszenierung – in New York von dem gebürtigen Wiener Joseph Urban neu geschaffen wurden: »It is ›Parsifal‹ sensed by an entirely new imagination.«1032 In der Person Urbans vereinten sich Fähigkeiten des Bühnenbildners, Architekten, Illustrators und Innenausstatters.1033 Erste Erfahrungen im Bereich des Ausstattungswesens sammelte Urban in einem Wiener Theateratelier, das Bühnenbilder und Kostüme für das Wiener Burgtheater, die Hofoper und die Volksoper fertigte sowie Auftragsarbeiten für die großen europäischen Opernhäuser annahm. Obschon er Mitglied in mehreren lokalen Künstlervereinigungen war, die die Formensprache der Wiener Werkstätte prägen sollten, schuf er gemeinsam mit seinem Schwager Heinrich Lefler (1863–1919) Entwürfe von höchstem Realismus.1034 1912 emigrierte Urban in die Vereinigten Staaten und folgte einem Angebot des amerikanischen Theaterimpresarios Henry Russell (1871–1937), um als Ausstattungsleiter der Boston Grand Opera zu arbeiten.1035 Dort löste er sich von dem detailgetreuen Darstellungsstil und übertrug die geometrische Formensprache 1030 Vernon 1920. 1031 Die Stellungnahme Gatti-Casazzas wurde u. a. abgedruckt in The New York Tribune 1920b. 1032 Aldrich 1920b. Im Nachlass Joseph Urbans in der Rare Book & Manuscript Library der Columbia University befinden sich insgesamt neun Bühnenbildentwürfe für die ParsifalInszenierung zu »Curtain: Titurel’s vision«, »Holy Woods«, »Klingsor’s garden« sowie »Klingsor’s tower«. Die Entwürfe »Grail« und »Good Friday« werden im Theatermuseum in Wien aufbewahrt. 1033 1927 errichtete Urban das Ziegfeld Theatre am Broadway, in den Jahren 1928 und 1929 baute er für William Randolph Hearst das International Magazine Building. Siehe weiterführend Innes 2005; Ostergard 2001, S. 38–47; Boeckl 1995, S. 73–85 u. Lejeune 1995, S. 63–70. Zum Plan für ein Reinhardt Theatre in New York siehe Kapitel 2.4. 1034 Zu Urbans Frühwerk siehe weiterführend Kristan 2000 u. Boeckl 1993. Markus Kristan hat auf die Problematik der Erschließung von Urbans Beteiligung an Wiener Inszenierungen durch die enge Zusammenarbeit mit Lefler hingewiesen. In seinem Werkverzeichnis führt er sämtliche bühnenbildnerischen Arbeiten Leflers der Jahre 1898 bis 1911 auf, an denen er eine Beteiligung Urbans vermutet. Vgl. Kristan 2001, S. 506 f. u. Kristan 2000, S. 43 f., S. 59 u. S. 144. 1035 Einige englischsprachige Forschungsbeiträge beschränken sich auf einen deskriptiven Abriss der wichtigsten Theaterprojekte Urbans, darunter Loring 2010 u. Carter/Cole 1992. Eine Ausnahme bilden die Publikationen von Aronson 2005 u. Aronson 2001 (im gleichen Wortlaut publiziert); Howd 1991; Mahnken/Mahnken 1963; Taylor 1934 u. Macgowan 1917. Allerdings steht in den genannten Beiträgen die grundsätzliche Szenografieauffassung Urbans im Vordergrund, während Inszenierungen als veranschaulichende Beispiele dienen.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       317

der Wiener Werkstätte auf seine Bühnenbildentwürfe.1036 Ab 1914 war Urban verantwortlich für die Kostüme, das Bühnenbild und die Plakatwerbung der Jahresrevue Ziegfeld Follies am Broadway. Obschon er parallel weiterhin für Ziegfeld arbeiten wollte, löste seine Berufung an die Metropolitan Opera im Jahr 1917 Verwunderung und Anerkennung gleichermaßen aus.1037 Christin Essin hat aufgezeigt, dass das temporeiche visuelle Spektakel der Ziegfeld Follies als Sinnbild für den Kapitalismus und den Kommerz des New Yorks der Roaring Twenties begriffen werden muss. Mit seiner leuchtenden Farbpalette und den stilisierten Formen des Jugendstils setzte Urban die Tänzerinnen in einer lukullischen Gegenwelt glamourös in Szene.1038 Die Ausgelassenheit und Extravaganz der Tanznummern, die das luxuriöse Leben in der modernen Metropole symbolisierten, erscheinen auf den ersten Blick als ein unüberwindbarer Kontrast zu dem Vorhaben, Wagners Bühnenweihfestspiel Parsifal für die Metropolitan Opera auszustatten. Allerdings verschränkten sich in den Bühnenbildentwürfen dieser Zeit Urbans Architektenausbildung, seine Wurzeln im Wiener Jugendstil, seine Märchenillustrationen und seine Tätigkeit für die spektakulären Broadway-Shows zu einer innovativen Szenografieauffassung. Dabei entwickelte er einen individuellen Gebrauch von Farbe, Form und Licht, mit dem er neue Maßstäbe für die amerikanische Bühnendekoration setzen sollte. Urbans Bühnenbilder sollten das Publikum der Metropolitan Opera in eine fiktive Welt der Märchen, des Zauberhaften und der Träume entführen. In seinen Raumkonzepten ging es nicht darum, die Realität abzubilden, so erklärte er im Vorwort seiner einzigen Publikation Theatres aus dem Jahr 1929, in der seine innovativsten Entwürfe für den Theaterbau präsentiert wurden: A theatre [...] is a place in which to experience a heightened sense of life. [...] The drama is an illusion of real life. It is more moving than life. The drama may be gayer than real life, more exalted than real life or fuller than real life, but it dare not remain a merely factual presentation.1039

Ende 1899 war Sigmund Freuds (1856–1939) erstes großes psychoanalytisches Werk Die Traumdeutung erschienen, in dem er die tief verborgenen Wünsche des Unter1036 Vgl. Aronson 2005, S. 146 f.; Syer 2005, S. 297 f.; Kristan 2001, S. 507; Kristan 2000, S. 138 u. Unbekannt 1915. Carnegy stellt die Vermutung auf, dass der zu dieser Zeit an der Wiener Hofoper tätige Dirigent Felix Weingartner, der ebenfalls nach Boston wechselte und dort mit Urban einige Jahre zusammenarbeitete, den Kontakt zu Russell hergestellt habe. Vgl. Carnegy 2006, S. 197. 1037 Vgl. The New York Times 1917c. 1038 Vgl. Essin 2012, S. 143. Unter dem Begriff des scenographic entrepreneur betrachtet Christin Essin die Theaterprojekte Joseph Urbans und Norman Bel Geddes’ im Wechselspiel von Kunst und Kommerzialisierung. Vgl. Essin 2012, S. 132–136. Siehe hierzu auch Aronson 2005, S. 154–157. Zum Zusammenwirken von Theater und modernem Industriedesign am Beispiel der Karrieren Joseph Urbans und Norman Bel Geddes’ vgl. Wickstrom 2006 u. Innes 2005. Siehe hierzu auch Gilmartin 1991 u. Kapitel 2.2. Die Jahresrevue von Florenz Ziegfeld Jr. wurde von 1907 bis 1957 am New Yorker Broadway zur Aufführung gebracht. Siehe hierzu weiterführend Schweitzer 2009 u. Mizejewski 1999. 1039 Urban 1929, o. S.

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Abb. 140: Joseph Urban, Bühnenbildentwurf zu Parsifal, New York, 1920.

bewusstseins zu ergründen suchte. Die künstlerischen Tendenzen, die sich zu dieser Zeit um die Wiener Secession ausbildeten, waren gleichfalls an dem Wechselspiel von Kunst und menschlichen Seelenregungen interessiert.1040 Als Wortführer dieser Bewegung beobachtete der Schriftsteller Hermann Bahr (1863–1934) eine Abkehr der bildenden und darstellenden Künste von der Realität, die durch die latente Sehnsucht nach einer anderen Welt bestimmt sei: »[F]ort aus der deutlichen Wirklichkeit, ins Dunkle, Fremde und Versteckte – das ist heute die eingestandene Losung für zahlreiche Künstler.«1041 Auch Joseph Urban strebte danach, Welten jenseits der Wirklichkeit hervorzubringen. Allerdings sollten diese fiktiven Welten für den Zuschauer sinnlich wahrnehmbar, erlebbar werden und dadurch ihre Vorstellungskraft besonders anregen. Aus diesem Grund bezeichnet der amerikanische Theaterwissenschaftler Arnold Aronson Urbans Bühnenräume als dreamscapes: »No matter how fanciful or fantastic the imagery he devised [...] there was a palpable reality to the representation – as if one could physically enter into this imaginary world.«1042 In der Analyse der Parsifal-Inszenierung von 1920 soll der Begriff ›Traumlandschaft‹ als ein Instrument dienen, um sich Urbans Raumkonzept für die Szene im Gralswald anzunähern. Worin liegen die ›traumhaften‹ Qualitäten seiner Bühnenbilder? 1040 Vgl. Aronson 2005, S. 134 f. Aronson führt diese Durchdringung von Kunst und zeitgenössischer Psychologie auf den literarischen Symbolismus zurück, der seine Wurzeln in Paris hatte. Zur Traummetaphorik in den Theatertheorien an der Wende zum 20. Jahrhundert, wie etwa Adolphe Appias Theaterreform oder Hugo von Hofmannsthals Konzept der Bühne als Traumbild für das Theater Max Reinhardts siehe Conrad 2004, S. 105–181. Als Vorläufer nennt Conrad Wagners Spiritualisierung der Musikdramen sowie Nietzsches Proklamation des Traum- und Scheinhaften in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Zur Traumdeutung siehe Freud 1900. 1041 Bahr 1892, S. 576. 1042 Aronson 2005, S. 133.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       319

Abb. 141: Joseph Urban, Bühnenbildentwurf zu Parsifal, New York, 1920.

Welche ästhetischen und szenografischen Strategien kamen zum Einsatz, um eine solche Wirkung zu erzielen? Auf welche Weise förderten diese Mechanismen eine aktive Teilhabe der Zuschauer? In Joseph Urbans filigranem Bühnenbildentwurf für den ersten Aufzug ist der Naturschauplatz eindeutig als Sakralraum aufgefasst (Abb. 140). Während die wuchtigen Baumstämme auf der linken und rechten Bildseite eng nebeneinander platziert sind, um die dunkle Undurchdringlichkeit des Gralswaldes zu suggerieren, öffnet sich der Wald im Zentrum zu einer apsidialen Freifläche. Die Baumstämme des Mittelgrundes sind in einer mehrfachen Spitzbogenarkade angeordnet, die an die Schiffe einer Kathedrale erinnern. In ihrer Gestaltung muten die Bäume zunächst realistisch an, jedoch verbinden sich ihre Äste zu einer ornamentalen Struktur, die das florale Maßwerk der gotischen Baukunst zitiert. Obschon die Bogenöffnungen einen Ausblick auf den Gralssee und die felsigen Hänge des Gebirges am gegenüberliegenden Ufer zulassen, wirkt der Gralswald wie ein Innenraum in der Natur, der nur für wenige Auserwählte zugänglich ist. Dieser geschlossene architektonische Raumeindruck wird durch den starken Hell-Dunkel-Kontrast der Entwurfszeichnung intensiviert. Zunächst legte Urban die gesamte Komposition als Bleistiftzeichnung an: Durch starke schwarze und graue Schraffuren sowie nachträgliche blaue Übermalungen gewinnen die Baumstämme an Monumentalität. Anschließend überzog Urban die gesamte Zeichnung mit einer Aquarelllasur, durch die der gelblich schimmernde Himmel, die hellen Felsen am anderen Ufer und der in einem kühlen Weiß gehaltene See in gleißendes Licht getaucht und in die Ferne gerückt werden. Im Wald hingegen herrscht ein diffuses Dämmerlicht, welches ein Kritiker als »churchly darkness«1043 1043 The Evening Sun 1920. Zum Halbdunkel der Kathedrale, das in den im Rahmen dieser Ar-

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Abb. 142: Joseph Urban, Bühnenbildentwurf zu Parsifal, Paris, 1914.

beschrieb. Von der linken Seite fällt ein Lichtstrahl in den Wald hinein, der auf dem Waldboden in Form von hellen Flecken sichtbar wird und auf den Bäumen eine feingliedrige Projektion erzeugt: Auf diese Weise verschränken sich die vegetabilen Formen der Bäume, die filigrane Konstruktionsweise der gotischen Kathedrale und die immaterielle Lichtsituation zu einem spannungsgeladenen Wechselspiel zwischen Natur- und Sakralraum. Als Weißhöhungen setzen sich die Lichtflecken auf den Steinstufen am linken Ufer des Sees fort, um den Weg zur Gralsburg zu weisen. Indem sie den heiligen Bezirk im Inneren des Waldes von der Außenwelt isoliert, wird die Lichtregie auch in diesem Entwurf zu dem konstituierenden Gestaltungselement von Räumlichkeit und Atmosphäre. Auf diese Weise wird die Nähe zum ›heiligen‹ Tempel angekündigt, in dem die sakral aufgeladene Atmosphäre eine Steigerung ins Unermessliche erfährt (Abb. 141): [H]is Hall of the Grail establishes one of the most remarkable and unforgettable pictures ever put upon a stage. [...] [T]here is a brooding, religious solemnity, a twilight peace, a cathedral grandeur and holiness the old one, with its brighter and broader aspect, could never achieve. Its pillars rear up in a dusk of quietness to heights beyond the stage.1044

beit vorgestellten Beispielen wiederkehrend aufzufinden ist, um eine sakrale Atmosphäre im Theater herzustellen, siehe die Kapitel 2.1.2 u. 4.1. 1044 The Evening Sun 1920. Vgl. hierzu auch Aldrich 1920b. Siehe weiterführend Krehbiel 1920.

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Schon 1914 hatte Urban die Gelegenheit gehabt, sich mit Wagners Parsifal auseinanderzusetzen. Die Boston Opera Company ging im Sommer 1914 für ein Gastspiel nach Paris. Im wiedereröffneten Théâtre des Champs-Élysées feierte die Inszenierung des Bühnenweihfestspiels, die von Felix Weingartner dirigiert und Joseph Urban ausgestattet wurde, Premiere. Zu der Waldszene sind heute leider keine Originalentwürfe erhalten. Eine Fotografie eines Bühnenbildentwurfs zeigt den Blick auf den Gralssee, der von Bäumen und Sträuchern dicht bewuchert ist (Abb. 142). Ein heller Lichtstrahl trifft von oben auf die Wasseroberfläche. Am linken Bildrand dominiert ein einzelner, massiver Baumstamm den Vordergrund, während sonst nur vereinzelte Bäume aufragen. Dieser Entwurf zeugt bereits von jenem charakteristischen Hell-Dunkel-Kontrast, den Urban in seinem späteren Waldbild von 1920 erneut aufgreifen sollte.1045 Obschon Weingartner selbst der Bayreuther Uraufführung des Parsifal mit größtem Enthusiasmus beigewohnt hatte und daher mit Urban über die ursprünglichen Dekorationen diskutiert haben muss, eröffneten die Entwürfe für das Pariser Gastspiel eine neuen ästhetischen Zugang, der das Publikum überraschen sollte: Mr Joseph Urban’s productions [...] are quite different in methods of treatment from the scenery to which they are accustomed over here. [...] Mr Urban paints with light as much as with color, and [...] all his work is done with a view solely to the effect it will have when lit up, and everyone is anxious to see the new style.1046

Das Zusammenspiel von Licht und Farbe, das der Kritiker des Boston Daily Globe als ›Lichtmalerei‹ bezeichnet, setzte Urban auch in der Parsifal-Inszenierung von 1920 gezielt ein, um eine der Wirklichkeit entrückte Atmosphäre hervorzurufen und die Zuschauer in einen traumähnlichen Zustand zu versetzen. Am Beispiel der malerischen Gestaltung des Himmels erläuterte Urban seine spezifische Vorgehensweise. Um sich von den Entwürfen der Theaterateliers, welche einen blauen Untergrund und helle Wolkenpartien auf realistische Weise zu verbinden suchten, abzusetzen, entwickelte er eine Technik, die die Kombination von speziellen Farbpigmenten und einer gezielten Bühnenbeleuchtung vorsah, um ein intensiv leuchtendes Himmelblau hervorzubringen. Obschon vordergründig ein harmonisches Gesamtbild entstand, legte Urban dieses in einer mosaikartigen Struktur von Punktierungen einzelner Farbtöne an. Unter natürlichem Tageslicht erschienen die Farbflächen oftmals 1045 Aufgrund der Schwarz-Weiß-Reproduktion lässt sich nicht genau ausmachen, ob es sich in der Tat um das Waldbild des ersten oder die Frühlingsaue des letzten Aufzugs handelt. Leider finden sich in den kurzen Pressemeldungen zu der Pariser Premiere keine näheren Beschreibungen des Bühnenbildes. Vgl. The Boston Daily Globe 1914a; The New York Sun 1914 u. The New York Times 1914c. Als Position des neuen amerikanischen Bühnenbildes druckte das Theatre Arts Magazine Urbans Entwurf für den Gralstempel ab. Vgl. Unbekannt 1916, S. 16. Nachdem Felix Weingartner 1898 in London Auszüge des Parsifal dirigiert hatte, war er 1914 das erste Mal an einer Inszenierung des gesamten Musikdramas beteiligt. Vgl. Brown 2012, S. 287 f. Zu Weingartners Rezeption der Bayreuther Uraufführung siehe Kapitel 4.1. 1046 The Boston Daily Globe 1914b. Weiter wird von der Anpassung des Bostoner Bühnenbildes aufgrund der neuen Aufführungssituation im Théâtre des Champs-Élysées berichtet.

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Abb. 143: Alexander Rothaug, Heiliger Frühling, undatiert.

Abb. 144: Joseph Urban, Bühnenbildentwurf zu Parsifal (Detail), New York, 1920.

gräulich, erst in ein farblich abgestimmtes Scheinwerferlicht getaucht, erstrahlten die Bühnenbilder in dem gewünschten Farbglanz: »[W]hen a light is thrown on it [...] the light is broken up and diffused and you get atmosphere.«1047 Der Schriftsteller und Kritiker Hiram Kelly Moderwell (1888–1945) war einer der ersten Zeitgenossen, der Urbans Technik kunsthistorisch verortete und das Rastersystem in Anlehnung an den französischen Impressioniums als pointillage bezeichnete.1048 Allerdings lässt sich das Prinzip auch in Urbans Heimatstadt Wien zurückverfolgen. Alexander Rothaugs (1870–1946) Heiliger Frühling zeigt einen Reigen von Frauen und Jünglingen in antikisierenden Gewändern in einer idyllischen Landschaft (Abb. 143). Dabei setzte der Künstler einen punkteähnlichen Farbauftrag

1047 Das Interview mit Joseph Urban ist abgedruckt in Unbekannt 1915. Weiter führt Urban aus, dass er die Leinwandbahnen auf dem Boden seines Ateliers auslegte und die Farbe mit einem halbtrockenen Pinsel auftrug. Vgl. hierzu auch Corbin 1917. 1048 Vgl. Moderwell 1914, S. 102 f. Siehe hierzu auch Macgowan 1914, S. 421: »He [...] achieves a total effect that is as suggestive of reality as is any painting by Monet.« Vgl. auch Cheney 1928, S. 67 f. Nachfolgende Forschungsbeiträge führten das Punktesystem auch auf die Pointillisten um Georges Seurat zurück. Vgl. Essin 2012, S. 137; Aronson 2005, S. 148–150; Kristan 2000, S. 43 f.; Mahnken/Mahnken 1963, S. 57; Eckert 1954, S. 12 u. Taylor 1934, S. 279.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       323

ein, der bei Arthur Roessler (1877–1955) einen Wahrnehmungseindruck auslöste, welcher mit Urbans Szenenentwürfen verwandt ist: Rothaug streicht [...] die Farbe [...] nicht in österreichischer Barockbreite und Saftigkeit derb hin, sondern streut über das feste Gerüst der mit sicherer Hand virtuos gezeichneten Formen gleichsam ein Konfettigestöber flimmernder Farbtupfen und Strichelchen, das erst auf der Netzhaut des Beschauers flächenhaft harmonisch zusammenschmilzt.1049

Ein Vergleich des undatierten Gemäldes mit anderen Werken des Künstlers lässt eine Entstehungszeit um 1910 vermuten, weshalb Joseph Urban dieses noch in seiner Heimatstadt Wien gesehen haben könnte. Bezeichnenderweise deutet Rothaugs bühnenhafte Anordnung der Birken zu einer Gasse, durch die die Tanzenden und Musizierenden die Szene betreten, auf eine intensive Auseinandersetzung mit dem Theater. So ist bekannt, dass der Künstler neben Gemälden auch Bühnenvorhänge für einige Theater in Wien, Frankfurt am Main, Graz und Nürnberg schuf. Zwischen 1907 und 1909 arbeitete Rothaugs Bruder Leopold (1868–1959) als Theatermaler an der Metropolitan Opera. Eine Auswertung von Theaterkritiken und -zetteln der Metropolitan Opera Archives hat ergeben, dass Leopold Rothaug Teil des Ausstattungsstabes von Conrieds Parsifal-Inszenierung im Jahr 1903 gewesen war.1050 Da Urban sich mit seinem Bühnenbild von diesem Vorgänger allerdings stilistisch klar abzusetzen suchte, ist davon auszugehen, dass er nicht über die New Yorker Vorgängerinszenierung mit den Brüdern Rothaug in Berührung kam, sondern diesen bereits in Wien persönlich begegnet war. In dieser Zeit fand ein reger Austausch zwischen den Mitgliedern der drei großen Künstlervereinigungen – dem Künstlerhaus, der Secession und dem Hagenbund – statt. Ebenso wie Urban durchliefen die Brüder Rothaug das Studium an der Akademie der Bildenden Künste. Außerdem war Alexander Rothaug mit einem Gemälde in der Jubiläumsausstellung des Künstlerhauses Wien im Jahr 1898 vertreten, in deren verantwortlichen Kommission Urban saß.1051 Im Gegensatz zu Rothaug diente Urban die Leinwand allerdings nicht als eine Projektionsfläche für das Abbilden einer Architektur, Landschaft oder Stadt, sondern vielmehr um das diffuse Spiel des farbigen Scheinwerferlichts hervorzubringen. 1049 Roessler 1934/35, S. 254. Vgl. hierzu auch Elsen-Schwedler 2011, S. 91. Siehe weiterführend Ludwig 2009. Mit Blick auf Urbans Heimatstadt Wien hat Aronson auf die Farbauffassung Gustav Klimts hingewiesen, die Verbindung zu Rothaugs Malweise scheint jedoch naheliegender. Vgl. Aronson 2005, S. 149. Gilmartin verweist auf eine Übernahme des impressionistischen Stils von Mitgliedern des Hagenbundes, führt an dieser Stelle jedoch kein Beispiel an. Vgl. Gilmartin 1991, S. 276. 1050 Vgl. Kristan 2000, S. 138. Da Kristans Augenmerk nicht auf einer Analyse von Urbans Tätigkeit als Bühnenbildner liegt, geht er dieser Verbindung nicht weiter nach. Für die Daten siehe Affron/Affron 2014, S. 74. Im Rahmen eines Katalogs des Theatermuseums Wien wird die Vermutung angestellt, Alexander Rothaug sei ebenfalls an der New Yorker Parsifal-Inszenierung beteiligt gewesen. Diese Vermutung lässt sich jedoch nicht eindeutig nachweisen. Vgl. Ausst.-Kat. Wien 1997, S. 58. 1051 Vgl. Ausst.-Kat. Wien 1898, S. 23 u. S. 69.

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Abb. 145: Illustration nach einer Zeichnung von H. Burghart & Co. zu Parsifal, New York, 1903.

Unter Lichteinfall erzeugte das Raster von Farbpunkten eine dynamisch flimmernde Oberflächenstruktur, welche die Wahrnehmung und die Vorstellungskraft der Zuschauer auf besondere Weise anregen sollte (Abb. 144). So beschreibt Hiram Kelly Moderwell die Wirkung der Bühnenbilder wie folgt: »The result to the observer is nothing short of magical.«1052 Um einen solch ›magischen‹ Wahrnehmungseffekt auf einer Theaterbühne erzeugen zu können, erforderte es eine spezifische Beleuchtungssituation, die über die herkömmliche Rampenbeleuchtung hinausreichte: I light my stage from above so that the light will come down as in nature and will cast shadows. A bridge is placed above the stage and on this the lighting crew [...] with spotlights. When I paint the scenerey I make the colored shades for the lights and prepare a chart which provides every effect.1053

So stellen die partiellen blauen Übermalungen der mit Bleistift gezeichneten, monochromen Baumstämme in Urbans Waldbild Abstufungen eines blauen Farblichts dar, das gemeinsam mit einem gleißenden weißen Licht die Szene dominieren sollte (Abb. 140). In dieser Kombination erzielte Urban eine unwirkliche Lichtsituation, 1052 Moderwell 1914, S. 103. Um an dieser Stelle Urbans technisches Prinzip zu veranschaulichen, sei der Detailausschnitt eines Entwurfs zu Klingsors Zaubergarten gewählt: Obschon die architektonischen Elemente realistisch wiedergegeben sind, wird die Wirkung des Zauberhaften dieser Gartenlandschaft durch die farbenreiche Vegetation verstärkt. 1053 Unbekannt 1915. Moderwell hat in diesem Zusammenhang auf die Problematik der zeitgenössischen Beleuchtungstechnik hingewiesen. Häufig würde gemischtes Licht auf die Bühne geworfen, welches mehrere Farben zum Vorschein brächte. Vgl. Moderwell 1914, S. 103.

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die dem Wald eine kühle Atmosphäre verlieh. Auf diese Weise entzog er den Gralswald der Verortung an einem realen Naturschauplatz und entrückte ihn in eine Sphäre der Transzendenz. Richard Aldrich, der Urbans Gralssee als Eisfläche beschrieb, irritierte jene neue Unnahbarkeit: »It still seems [...] to those who remember the atmosphere of warmth and rich sylvan beauty in the old decoration of the first act, that the present one is unnecessarily thin and cold and that it does not fulfill Wagner’s prescriptions.«1054 Diejenigen unter den Kritikern, die also bereits die Inszenierung von 1903 erlebt hatten, sahen in Urbans Gralswald eine Störung ihrer Vorstellungskraft und wünschten sich die alte naturnachahmende Kulisse zurück (Abb. 145): The first picture of the forest glade, with its near-by lake, is a charming wood interior. A great tree occupies nearly the middle of the stage, overhanging it with its foliage; in the background gleans the blue water of the lake; sifting through the leaves, glowing upon the lake, is sunlight – not the sunlight of the limelight, but of skillful landscape art.1055

Der Theaterkritiker Kenneth Macgowan hingegen erkannte früh die Notwendigkeit der Erneuerung des amerikanischen Theaterwesens. Er begrüßte Urbans Herangehensweise, die Atmosphäre des Waldes über den gezielten Einsatz von Farb- und Lichtwirkung zu generieren: »[T]hat same canvas of old days [...] becomes an abstraction of a forest, full of all the suggestive beauty of which the artist in colors, shapes and lights is capable.«1056 Urbans flimmerndes Farb- und Lichtspiel, das die soliden Bühnenaufbauten in eine überirdische Welt zu entrücken scheint, kontrastiert mit einem rationalen Moment der Konstruktion und der Technik. Von den im Rahmen dieser Fallstudie vorgestellten Entwürfen weist Joseph Urbans Waldbild am stärksten auf das Prinzip des Bauens von Bühnenräumen hin, worin die enge Verschränkung seiner beiden Tätigkeiten als Architekt und Bühnenbildner aufscheint.1057 Nicht alle Kritiker begrüßten die architektonisch anmutende Anordnung der Baumstämme. So sah sich Richard Aldrich von der New York Times in eine künstliche Gartenlaube versetzt: »There is no ›forest glade.‹ There is a single line of tall trees whose lowest branches interlace so as to form symmetrical Gothic arches: the effect is less of a forest glade than of a rustic arbor in natural wood.«1058 Für Urbans szenografisches Konzept waren 1054 Aldrich 1920c. Für die Assoziation des Eises vgl. Aldrich 1920b. 1055 The New York Times 1903d. 1056 Macgowan 1919, S. 85. Als Zwischenstufe in dieser Entwicklung verweist Macgowan auf Max Reinhardts Inszenierung von Shakespeares Ein Sommernachtstraum am Neuen Theater Berlin 1905, in der er mithilfe dreidimensionaler Bäume aus Pappmaché, der Drehbühne, einer authentischen Lichtsituation und Tannenduft das multisensorische Erleben des Waldes anregte. Vgl. hierzu u. a. Marx 2007, S. 17–31. Zu Reinhardts Strategien zur Hervorbringung von Atmosphäre vgl. auch Kapitel 2.1.2. 1057 In Urbans Gesamtwerk ist der Übergang zwischen Wirklichkeit und Fiktion fließend. So wie seine Bühnenbilder stets ein Moment des Architektonischen in sich tragen, folgen seine Bauwerke gleichfalls szenografischen Strategien. Siehe hierzu Rustow 2007 u. Ostergard 2001. 1058 Aldrich 1920b.

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solche architektonischen und plastischen Versatzstücke, die für rasche Bewegungen konzipiert waren, jedoch entscheidend, da sie eine größere Brechungsvielfalt und Schattenbildung für das Scheinwerferlicht bedeuteten.1059 Auch wenn seine Formen in der Gestaltung weniger abstrakt erscheinen, ist unverkennbar, dass Urban sich mit den Entwürfen und theoretischen Schriften Appias auseinandergesetzt haben muss. Zwar erschien Appias Hauptschrift Die Musik und die Inscenierung erst 1962 in der englischen Übersetzung, doch Urban muss zu diesem Zeitpunkt bereits die viel diskutierte deutschsprachige Originalfassung gekannt haben. Überdies waren Auszüge in der Dezemberausgabe der Wiener Rundschau des Jahres 1900 veröffentlicht worden.1060 Dem amerikanischen Theaterkenner waren Appias Reformansätze durch die Publikationen von Sheldon Cheney (1886–1980), Hiram Kelly Moderwell und Carl van Vechten (1880–1964) vertraut.1061 Zwei Jahre nach der New Yorker Parsifal-Inszenierung veröffentlichten Kenneth Macgowan und Robert Edmond Jones (1887–1954) ihr Buch Continental Stagecraft, das eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung der New Stagecraft-Bewegung in den USA bildete. In dem Kapitel »Light as Setting« wird Appia für seine herausragende Leistung gelobt, die Bühnenbeleuchtung als Träger von Atmosphäre etabliert zu haben.1062 Die amerikanische Theaterreformbewegung der 1920er Jahre entwickelte sich also dezidiert aus dem theoretischen Diskurs um die Innovationen, die europäische Regisseure und Bühnenbildner schon vor dem Ersten Weltkrieg hervorgebracht hatten. So fordert Macgowan, die Experimente Appias, Craigs und Reinhardts zu studieren und für eine neue Ästhetik weiterzudenken.1063 In seinem frühen Aufsatz »The New StageCraft in America« aus dem Jahr 1914 nutzt Macgowan Urbans Bostoner Arbeiten, um seiner Leserschaft die ästhetische Neuausrichtung des Theaters zu veranschaulichen. In seinen Augen leistete Urban mit seiner Malweise, seinen Überlegungen zur szenischen Beleuchtung, der Formenvielfalt und dreidimensionalen Auffassung der Bühne einen wesentlichen Beitrag in dem kulturellen Transfer zwischen Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika: »Behind his work are theories of scenic design so long and thoroughly practised in Europe that they are now definitely formulated in monographs on what is called ›The New Stage-craft‹.«1064 Angelehnt an 1059 Vgl. auch Essin 2012, S. 137 f.; Eckert 1954, S. 12; Macgowan 1917, S. 105 u. Unbekannt 1915. 1060 Appia konnte 1890 in der Dekorations- und Beleuchtungsabteilung der Wiener Hofoper und des Burgtheaters hospitieren. Überdies wurden seine Parsifal-Entwürfe u. a. abgedruckt in Stahl 1913a u. Appia 1908. Für die englischsprachige Übersetzung von Die Musik und die Inscenierung siehe Appia 1962. Vgl. hierzu auch Carnegy 2006, S. 179 u. S. 189 u. Beacham 1994, S. 12 u. S. 244. 1061 Vgl. Carnegy 2006, S. 190; Aronson 2005, S. 143 u. Horowitz 1994, S. 313. Siehe weiterführend Vechten 1916; Vechten 1915; Cheney 1914 u. Moderwell 1914, S. 70–75, S. 107 u. S. 115–117 mit Reproduktionen der Parsifal-Entwürfe auf S. 22 u. S. 30. 1062 Vgl. Macgowan/Jones 1964, S. 68–70. 1063 Vgl. Macgowan 1919, S. 84. In diesem Beitrag zählt Macgowan die wichtigsten Errungenschaften des europäischen Avantgardetheaters auf. Zum veralteten Stand der Kulissenmalerei vgl. auch Macgowan 1914, S. 416 u. S. 418. 1064 Macgowan 1914, S. 416. Siehe hierzu auch The New York Times 1917c. In der frühen Forschungsliteratur finden sich unterschiedliche Schreibweisen der Bewegung. Hier wird die

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die von Richard Wagner geprägte Idee des Gesamtkunstwerks, aber ebenso durchdrungen von der Vorstellung der vollständigen Ästhetisierung der realen Lebenswelt, die die Künstler der Wiener Werkstätte vertraten, war Urban einer der ersten Vertreter in Amerika, der das Bühnenbild als autonome Kunstform und somit den Bühnenbildner als Künstler verstand. Er plädierte für ein allumfassendes Inszenierungskonzept, in dem er alle szenischen Gestaltungselemente und Strategien, darunter insbesondere die szenische Beleuchtung, als gleichwertige, die Aufführung konstituierende Komponenten begriff: »The new art of the theatre is more than a matter of scenery; it concerns the entire production. The scenery is vain unless it fits the play or the playing [...]. The new art is a fusion of the pictorial with the dramatic.«1065 Heute gilt Joseph Urban neben Robert Edmond Jones und Lee Simonson (1888–1967) als einer der einflussreichsten Vertreter der New Stagecraft-Bewegung in Amerika. Sie alle strebten nach der Reduktion des Bühnenbildes auf die wesentlichen szenischen Gestaltungsmittel. Ihr gemeinsames Ziel war es, »[to create  – S. B. Q.] an atmosphere of reality, not reality itself; the impression of things, not crude, literal representations«.1066 Das bahnbrechende Konzept der atmosphärischen und symbolischen Stilisierung diente Urban als ein Ausgangspunkt, um den Gralswald als eine der Wirklichkeit entrückte Traumlandschaft in Szene zu setzen. Im Gegensatz zu der realen Lebenswelt weist bereits Appia den Traum als eigentliche Inspirationsquelle für die Schöpfung des Bühnenbildners aus: [O]hne daß ihm die Welt, welche es ihm erschließt eine neue wäre, ist ihm [dem Künstler – S. B. Q.] darin unbegrenzte Macht verliehen. [...] [I]m Traum [...] [ist die – S. B. Q.] Gruppierung der Elemente [...] ein spontaner, dem bloßen Wunsche entfließender Vorgang.1067

Ausgehend von dieser Bezugsfolie entwickelte Appia szenografische Gestaltungselemente, die sich durch das Prinzip der vagen Andeutung auszeichneten und in den Parsifal-Entwürfen von 1896 auf besondere Weise zum Ausdruck kamen: Der schattige Wald im Vordergrund kontrastiert mit den lichten Partien des Sees, der Felsen und des Himmels. Eingehüllt von einem Dunst wird die unwirkliche Atmosphäre des transitorischen Ortes zusätzlich gesteigert (Abb. 126).1068 Aufgrund der großen Ähnlichkeit in der räumlichen Anordnung und der Gestaltung des Felsmassivs, des Sees und des Zugangs zur Gralsburg geht Arnold Aronson folglich davon aus, dass Bezeichnung New Stagecraft, wie sie die aktuelle Forschungsliteratur aus dem englischsprachigen Raum vorschlägt, verwendet. Vgl. hierzu auch Essin 2012, S. 131 u. Howd 1991, S. 180. 1065 Maschinenschriftliches Manuskript, Joseph Urban Archive, Rare Book & Manuscript Library, Columbia University, Box 34, Mappe 5. Vgl. auch Macgowan 1917, S. 105 f. u. Macgowan 1914, S. 418. 1066 Macgowan 1914, S. 418. Zu Bel Geddes’ Sonderstellung in dieser Bewegung siehe Kapitel 2.2. 1067 Appia 1899, S. 115. Vgl. hierzu auch Conrad 2004, S. 142–145. 1068 Vgl. Barón-Nusbaum 2013, S. 70. Siehe auch Appia 1899, S. 117.

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Urban eine Kopie von Appias Szenenbild aus dem Jahr 1896 schuf.1069 Da Appias Szenenentwürfe keine Realisierung fanden und die Bühnenbildner der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts vor eine große technische Herausforderung stellten, muss ein differenzierter Blick auf die Rezeption Appias geworfen werden: In Urbans Nachlass befindet sich eine Fotografie der Waldszene von der Aufführung im Deutschen Opernhaus in Charlottenburg, die Gurnemanz und die Knappen vor dem Hintergrundprospekt mit den dunklen und stilisiert aufgefassten Baumstämmen zeigt (Abb. 138).1070 Aufgrund dieses Fundes ist es sehr wahrscheinlich, dass sich Urban Appias visionärem Ansatz auch über Wunderwalds Raumkonzept annäherte. Für die New Yorker Inszenierung griff Urban also auf ein in Europa bereits etabliertes Bildrepertoire für den Gralswald zurück. In diesem Prozess bildete er jedoch einen eigenen visuellen Stil aus, da sich die starke architektonische Referenz auf die gotische Kathedrale, der spielerische Lichteinfall und sein spezifischer Farbgebrauch so weder bei Appia noch bei Wunderwald finden. Eine besondere Parallele zu der Charlottenburger Inszenierung wies Urbans Lichtregie für die Verwandlung des Waldes in den Gralstempel auf. Für das Gastspiel der Boston Opera Company in Paris hatte der Bühnenbildner Wagners Prinzip der Wandeldekoration noch übernommen. Eine handschriftliche Aufzeichnung zu den Lichtveränderungen in den drei Aufzügen veranschaulicht allerdings, dass er diese mit den Möglichkeiten der neuen elektrischen Beleuchtungstechnik kombinierte: When moving scenery starts all lights gradually down; foots to blend. 1 ½ minutes after the start of the moving scenery singers off stage. When Gral [sic!] is seen lights up in 1 minute. When cover of Gral [sic!] is taken away all lights gradually down. Grallight [sic!] alone. Then lights up again.1071

In Urbans Nachlass findet sich außerdem das Textbuch zu Parsifal mit den Charlottenburger Szenenfotografien, das im Umfeld der Neuinszenierung von 1914 erschienen war.1072 An einigen Stellen versah er den Text mit kurzen Anweisungen zu der Beleuchtung der Schlüsselszenen. Vergleicht man diese Notizen mit dem oben zitierten Schriftstück, so lassen sich einige Abweichungen erkennen, die zu der Annahme führen, dass das Textbuch als Grundlage für die Lichtinszenierung 1069 Vgl. Aronson 2005, S. 146. 1070 Macgowan berichtet von Urbans Arbeiten für die Komische Oper in Berlin in der Zeit zwischen 1904 und 1912, wobei er nicht klarstellt, ob diese Tätigkeit vor Ort oder von Wien aus erfolgte. Vgl. Macgowan 1917, S. 101 f. Gilmartin verweist auf Berlin-Aufenthalte zwischen 1909 und 1914. Vgl. Gilmartin 1991, S. 272. Da zu Beginn des Jahres die Vorbereitungen für das Paris-Gastspiel bereits angelaufen sein mussten, ist eher anzunehmen, dass er sich dem Berliner Raumkonzept über Reproduktionen annäherte, als dass er die Inszenierung im Charlottenburger Opernhaus selbst beiwohnte. Amerikanische Korrespondenten berichteten von den Neuinszenierungen zu Beginn des Jahres 1914. Vgl. u. a. Aldrich 1914. 1071 Auszug aus einer zweiseitigen handschriftlichen Notiz zu der Lichtregie der Pariser Inszenierung. Hier sind auch die Zeitabschnitte für die Verwandlungsszene genauestens vermerkt. Siehe Konvolut »Series II: Boston Opera, 1910–1914«, Joseph Urban Archive, Rare Book & Manuscript Library, Columbia University, Box 8. 1072 Siehe Richard Wagner-Gesellschaft o. D.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       329

des Parsifal an der Metropolitan Opera diente. Hierin vermerkte Urban die Art und Position der Beleuchtung aus dem Hintergrund oder als Gegenlicht sowie deren Intensitätsgrad: »Enthüllet den Gral / Licht sehr langsam zurück / 4 Minuten.« Darüber hinaus finden sich Anweisungen zur Verwendung von Farblicht (»Rosa« und »Blau«) sowie der Heraushebung individueller Darsteller (»Kundry«) und Requisiten (»Speerlicht«) durch einzelne Spots. In einer losen Sammlung von Notizzetteln sind zusätzliche Angaben vermerkt, die ein noch anschaulicheres Bild von der atmosphärischen Lichtsituation im ersten Aufzug ermöglichen. So vermerkt Urban für die Eingangsszene: »I.; opening / Morgen Kühl / mit I. Sonnenstrahl (wie [...] Sonnflecken/ langsam wachsend zu etwas mehr Sonne.« Zu der Verwandlung notierte der Bühnenbildner, dass sich die Szene verfinstern sollte. Mit dem ersten Glockenschlag, der die Nähe zum Gralstempel verkündete, erhellte sich die Bühne »langsam«, damit dieser nach dem zweiten Glockenschlag in »voll[em]« Scheinwerferlicht erstrahlte. Auf den ergänzenden Notizen führt Urban aus, dass ein »schwarzer Vorhang« die Lichtveränderung der Verwandlungsszene unterstützen sollte.1073 Vorhänge aus Gaze waren in dieser Zeit ein beliebtes Gestaltungselement, um eine Distanz zwischen dem Bühnengeschehen und dem Zuschauerraum herzustellen und so die Szene in eine transzendente Sphäre zu versetzen – ein Mechanismus, der für die Verwandlungsszene in Parsifal von größter Relevanz war. Während sich über die Ähnlichkeit zu Appias Lichtinszenierung aufgrund fehlender Quellen nur mutmaßen lässt, war die Lichtregie, die in Charlottenburg zum Einsatz kam, durch Hartmanns Beitrag im begleitenden Programmheft sowie die Berichterstattung der deutschen Presse bekannt. Wie Hartmann und Wunderwald setzte Urban auf eine allmähliche Verdunkelung der Waldszene und die anschließende leuchtende Erscheinung des Gralstempels. Bezeichnenderweise wählten Regisseur und Bühnenbildner ebenfalls einen dunklen Vorhang, um die Baumstämme als abstrakte Säulen und die Silhouette des Tempels schemenhaft erscheinen zu lassen.1074 Im Bestand der Rare Book & Manuscript Library der Columbia University in New York ist ein umfangreiches Konvolut an Grundrissplänen auf transparentem Millimeterpapier erhalten, auf denen Urban für jede Szene die Maße und anhand der Gassen die Positionen der einzelnen Kulissenteile exakt vermerkte (Abb. 146).1075

1073 Für die Notizsammlung und das Textbuch siehe Konvolut »Series II: Boston Opera, 1910– 1914«, Joseph Urban Archive, Rare Book & Manuscript Library, Columbia University, Boxen 8 u. 9. 1074 Dies mag an der zeitlichen Nähe der Berliner und Pariser Aufführung liegen. Dass Urban die entscheidende Technik der Wandeldekoration mit keinem Wort erwähnt und stattdessen auf den Vorhang, den er für die New Yorker Inszenierung anfertigen ließ, verweist, stärkt die Argumentation. Zu Urbans Einsatz von Gazestoffen vgl. auch Aronson 2005, S. 144. Siehe hierzu auch die Ausführungen zu Sieverts Bühnenbild für Die Jungfrau von Orleans in Kapitel 3.3.2. In Urbans Textbuch findet sich zudem die Anmerkung »Dampf« zu der Verstärkung von Atmosphären. 1075 Erst im Anschluss arbeitete Urban an den kleinformatigen Bühnenbildentwürfen. Gemeinsam mit den Grundrissplänen dienten diese als Vorlage für Bühnenbildmodelle, mithilfe derer die finale Raumdisposition festgelegt wurde. Vgl. Macgowan 1914, S. 421. Ein Bühnenbildmodell zu der Parsifal-Inszenierung ist heute nicht mehr erhalten.

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Abb. 146 und 147: Joseph Urban, Technische Pläne zu Parsifal, New York, 1920.

Eingezeichnet sind dreidimensionale Kulissenteile und kleine Plattformen, mit denen Urban verschiedene Ebenen der Bühne ausnutzen und einen dynamischen Raumeindruck erzeugen wollte. Überdies ist unmittelbar hinter dem Proszenium ein sogenanntes »Parsifal Portal« eingetragen, das eine weitere Neuerung benennt, die Urban im amerikanischen Theater einführte. Neben der Verkleinerung des Bühnenausschnitts, um ein intimeres Theatererlebnis zu ermöglichen, erläuterte Kenneth Macgowan die Beteiligung des Publikums als eine entscheidende Funktion dieses Rahmens: »[H]e has broken the deadly spell of the gold proscenium frame and lifted us into a land where reality or fantasy – anything but playacting –

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       331

Abb. 148 und 149: Sedge LeBlang, Szenenfotografien zu Parsifal, New York, 1920.

was ready waiting for us.«1076 Mehrfache Ausführungen des Waldes und des Gralstempels in unterschiedlichem Detailgrad lassen auf Urbans besonderes Interesse an der mechanischen Transformation des Waldes in die ›heilige Halle‹ schließen (Abb. 147). Szenenfotografien dokumentieren, dass die Baumstämme massiger und bewusster platziert wirken als in Urbans Entwurf. Auf diese Weise wird eine architektonische Monumentalität erzeugt, die sich in der Säulenstellung des Tempels fortsetzt (Abb. 148 u. 149). Während seiner Zeit als Ausstattungschef der Metropolitan Opera plante Urban den Umbau des Opernhauses. Sein Hauptanliegen war die Vergrößerung und flexiblere Gestaltung der Bühne: »So long as the stage is not widened to dimesions which will embrace the audience, so long as the stage does not offer full communication between actor and audience, any reform is only a compromise.«1077 Darüber hinaus wollte er die hufeisenförmige Anordnung der Zuschauerränge aufheben, um die Kapazität des Hauses von 2.000 auf 5.000 Zuschauer zu erhöhen. Allerdings wurde Urbans Entwürfen nicht stattgegeben, sodass er mit den räumlichen Gegebenheiten, die für Conrieds Parsifal-Inszenierung angepasst worden waren, arbeiten musste. Im Jahr 1903 waren die Bühne und die Technik der Metropolitan Opera für die Schlüsselszene der Verwandlung auf den neuesten Stand der Theatermaschinerie gebracht worden. Wie schon bei Wagners Urauffüh1076 Macgowan 1917, S. 105. Vgl. hierzu auch Macgowan 1914, S. 419 u. S. 421. 1077 Urban 1929, o. S. Mahnken setzt die geplanten Umbaumaßnahmen unmittelbar mit einer angemessenen und zeitgemäßen Inszenierung von Wagners Musikdramen in Verbindung. Vgl. hierzu Mahnken/Mahnken 1963, S. 60.

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Abb. 150: Joseph Urban, Vorhangentwurf zu Parsifal, New York, 1920.

rung suggerierte eine Wandeldekoration den beschwerlichen Weg von Gurnemanz und Parsifal über felsige Klippen und durch Höhlengänge zum Eingang der Gralsburg. Obschon die Übernahme des Bayreuther Mechanismus bei der Mehrheit der Kritiker auf großen Anklang stieß, übte ein zeitgenössischer Beobachter von Conrieds Inszenierung Kritik an der Authentizität dieser Vorwärtsbewegung: »In the panoramic transformation of both the first and third acts there is something so unreal and unnatural that they appear nothing short of ludicrous. To gain what the composer desired it is necessary [...] to have the lighting considerably softened.«1078 Dieser Auffassung folgend finden sich auch in Joseph Urbans technischen Plänen für die Inszenierung von 1920 keinerlei Hinweise auf eine erneute Verwendung der in New York vorhandenen Wandeldekoration. Stattdessen ist auf allen Blättern der sogenannte »Parsifal Curtain« eingezeichnet, der während den zentralen Szenenwechseln zum Einsatz kam (Abb. 150). Vor einem flächigen tiefblauen Hintergrund, den ein goldenes Schriftband mit dem Titel »Titurel’s Vision« ziert, ist eine stilisierte Waldlandschaft dargestellt. Auf der linken Seite kniet ein Ritter in voller Rüstung mit einem hell erleuchteten Speer in der Hand, den Blick zum Himmel gerichtet. Ihm gegenüber hat sich die zierliche Gestalt eines engelsgleichen Wesens mit langem goldglänzendem Haar von dem dunkelgrünen Waldboden emporgehoben. In ihren Händen hält sie den goldenen Kelch mit dem gleißenden Gral.1079 In der Gestaltung 1078 Edwards 1904. Für ein positives Urteil über diese Technik siehe The New York Times 1903d. 1079 Der Titel bezieht sich auf die Vorgeschichte der Parzival-Legende, die Wolfram von Eschenbach in dem Fragment Titurel schildert. Vgl. hierzu auch Eckert 1954, S. 13 u. S. 20; Aldrich 1920b u. The Sun and the New York Herald 1920. Zur Aneignung dieses Stoffes durch Wagner siehe auch Buschinger 2007, S. 130–148. Jenes Blau, das zwischen einem tiefen mediterranen Blau und einem dunklen Violett oszillieren konnte, wurde unter dem Namen ›Urban Blue‹ bekannt. Diese Bezeichnung wird heute noch für eine Mal- und eine

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des Vorhangs verschränken sich verschiedene Kunstauffassungen, mit denen Urban in Europa in Berührung gekommen war: Während die strenge Kompositionsauffassung die geometrischen Formen der Wiener Werkstätte reflektieren, sind die Figuren in einer schwungvollen Linienführung gezeichnet, welche an den organischen Zeichenstil des englischen Illustrators Aubrey Beardsley (1872–1898) erinnern. Der symbolische Gehalt des Motivs referiert auf die kulturhistorische Dimension des Waldes als Ort der Märchen und Mythen. In Zusammenarbeit mit Heinrich Lefler schuf Urban in Wien verschiedenste Märchenillustrationen, darunter Grimms Märchen (1905), Kling-Klang Gloria (1907), ein Andersen Kalender (1911) und Marienkind (1914). In dem Vorhangentwurf für die Parsifal-Inszenierung vereinte Urban die malerische Figurenauffassung Leflers mit seinen eigenen geometrischvegetabilen Dekorrahmen aus diesen frühen Illustrationen.1080 Der Vorhang wurde am Anfang und Ende der Aufführung sowie zur Pause nach dem ersten Akt heruntergelassen. Darüber hinaus verdeckte er den Blick auf das Bühnengeschehen, als das Szenenbild des Waldes durch das des Gralstempels ausgetauscht wurde, sodass ausschließlich Wagners Verwandlungsmusik, die die Passage Gurnemanz’ und Parsifals zur Gralsburg begleitete, zu hören war. Um kritische Stimmen, die darin einen Bruch mit der Bayreuther Tradition sahen, zum Schweigen zu bringen, wandte sich der Direktor der Metropolitan Opera mit einer ausführlichen Erklärung zu Urbans szenografischem Konzept an die New Yorker Leserschaft. Ein Großteil dieser Stellungnahme ist dem kontrovers diskutierten Wegfall der Wandeldekoration gewidmet: The scheme worked out splendidly on the mechanical and pictorial sides, but as an illusion it was a failure. [...] [T]he panorama had hardly begun to move when it was seen that the two singing actors had to retire to the wings. This sudden disappearance of Parsifal and Gurnemanz always occurred, both at Bayreuth and at the Metropolitan. [...] [T]he best thing to do is to get rid of it and rather seek an effect more rational even if it be less ambitious.1081

Neben dem unnatürlichen Bewegungseffekt beruft sich Gatti-Casazza auch auf die problematische Abstimmung der Wandeldekoration auf die Verwandlungsmusik, die Wagner schon in Bayreuth dazu bewogen hatte, bei der Verwandlung im dritten Aufzug auf den Mechanismus zu verzichten. Darüber hinaus hätten spätere Aufführungen keine merkliche technische Verbesserung der Wandeldekoration erScheinwerferfarbe verwendet. Vgl. Corbin 1917. Siehe hierzu auch Aronson 2005, S. 148 u. Howd 1991, S. 180 f. 1080 Vgl. Aronson 2005, S. 150 f. Die Märchenillustrationen hatte Urban 1904 bei seinem ersten Aufenthalt in Amerika in der Abteilung des Hagenbundes auf der Louisiana Purchase Exposition gezeigt. Siehe hierzu Kristan 2001, S. 506; Howd 1991, S. 176; Macgowan 1917, S. 99 u. S. 101 u. Macgowan 1914, S. 416. 1081 Die Stellungnahme wurde u. a. abgedruckt in The New York Tribune 1920c. Frühere Äußerungen des Direktors zu dem neuen szenografischen Konzept finden sich u. a. auch in The New York Evening Telegram 1920. Für Stimmen, die die Nichtberücksichtigung der Wandeldekoration beklagten, siehe Smith 1920; The Evening Sun 1920 u. The Sun and the New York Herald 1920.

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geben. Mit dieser Aussage distanzierte sich der Direktor der Metropolitan Opera von Conrieds Inszenierungspraxis und übte gar Kritik an den kostspieligen Umbaumaßnahmen. Stattdessen wollte Gatti-Casazza der Darstellungstradition folgen, die in Europa mit der Bühnenfreigabe begründet wurde: [W]hen ›Parsifal,‹ after its escape from its prison in Bayreuth, appeared in various other European theaters, not one of these theaters thought of reproducing the moving panorama – not even the most orthodox theaters of Berlin and of Vienna, where I saw ›Parsifal‹ given without the panorama.1082

Bedenkt man, dass die Jahresrevue Ziegfeld Follies auf schnelle Szenenwechsel setzte und ihr Bühnenbild sowie ihre Choreografie auf diese Gegebenheiten abstimmte, so verwundert es fast, dass Urban mit dem Vorhang eine eher konservative Lösung für die Verwandlungsszene wählte.1083 Henry Edward Krehbiel berichtet, dass eine filmische Lösung für eine übergangslose Verwandlung durchaus eine erwägenswerte Option wäre, zumal der Film in diesen Jahren zu dem populärsten Unterhaltungsmedium avancieren sollte.1084 Sicherlich hätten Bewegtbilder jedweder Form die Vorstellungskraft derjenigen im Publikum angesprochen, die primär auf visuelle Reize reagierten. Doch der Idee, die Schlüsselszene des Bühnenweihfestspiels bei geschlossenem Vorhang zu spielen, lag schließlich die ästhetische Motivation zugrunde, sich ohne jegliche optische Ablenkung vollständig auf das andächtige Lauschen von Wagners Verwandlungsmusik einzulassen.1085 Gewiss wurden nach der Premiere der Parsifal-Inszenierung einige kritische Stimmen laut, die das Fehlen der Bayreuther Inszenierungspraxis, die auch Heinrich Conrieds Neuinszenierung gestützt hatte, bemängelten. Eine Reihe von Kritikern, die sich offen gegenüber Reformen des amerikanischen Theaters äußerten, begrüßten, dass sich Urban mit seinen Bühnenräumen über den »ancient postcard style of scenic inventure« hinweggesetzt hatte.1086 Sie unterstrichen ihr Lob mit dem 1082 The New York Tribune 1920c. Da der Direktor der Metropolitan Opera an dieser Stelle Berlin aufzählt, ist denkbar, dass er Urban das Bildmaterial zu Hartmanns Inszenierung lieferte. 1083 Zu der kinematografischen Ästhetik der Tanzrevue vgl. Essin 2012, S. 141. 1084 Vgl. Krehbiel 1920. Bezeichnenderweise unterzeichnete Urban am Tag der Parsifal-Premiere einen Vertrag mit William Randolph Hearsts Filmproduktionsfirma und sollte zukünftig auch Filmsets designen. Vgl. hierzu Smith 2001; Howd 1991, S. 183 f. u. Mahnken/ Mahnken 1963, S. 59. In diesem Zusammenhang sei nochmals auf Ludwig Sievert verwiesen, der in Anlehnung an Appia Projektionen von Lichtbildern für die Verwandlungsszene in Erwägung zog. Vgl. Stahl 1913b, S. 10. Zu Appias ›Lichtschirmen‹ vgl. u. a. Baugh 2014, S. 105; Beacham 2006, S. 100 u. Hoormann 2003, S. 203 f. In der Forschungsliteratur wurde auch die Wirkung der Bayreuther Wandeldekoration im vollständig abgedunkelten Zuschauerraum mit der Ästhetik des Films in Verbindung gebracht. Siehe hierzu u. a. Macintosh 2003, S. 40 u. Baumann 1988, S. 287. Auch die Autoren des Sonderheftes Die Scene diskutierten bereits über den Einsatz einer filmischen Sequenz für die Verwandlungsszene. Vgl. Hartmann 1913, S. 20; Kapp 1913, S. 22 u. Stahl 1913b, S. 10. 1085 Vgl. Murray 1920 u. Vernon 1920. 1086 Murray 1920.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       335

Hinweis, dass Wagner aus dem ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten alles ausgeschöpft und selbst die neuesten Errungenschaften des Theaters erprobt hätte, wenn er den Parsifal im 20. Jahrhundert hätte aufführen können. Urban selbst sah die besondere Erfahrungsqualität in dem engen Wechselverhältnis von Theater und Religion begründet: »Today the theatre at its best retains an ecstasy akin to the religious origin. Like religion, the theatre is a record of the effort to transcend every-day experience.«1087 Die New Yorker Parsifal-Inszenierung bot ihm die Gelegenheit, ästhetische Strategien zur Inszenierung des Traums und des Heiligen zu verschränken, um auf diese Weise ein außeralltägliches Kunsterlebnis herbeizuführen. Anstelle von religiösen Praktiken wurden Erfahrungen aus dem Alltag in Manhattan zu festen Ritualen der theatralen Gemeinschaft, die sich allabendlich in der Metropolitan Opera einfand. Auf ihrem Weg zur Metropolitan Opera passierten einige Besucher möglicherweise den Times Square, den des Nachts zahlreiche Leuchtreklamen in mannigfachen Farben schillern ließen. Urbans dreamscapes griffen diese leuchtende Farbpalette auf, welche die Zuschauer ebenso wie das Publikum der Ziegfeld Follies am Broadway in ihren Bann zog: »Mr. Urban’s paints give a play to the imagination which, superimposed on that of the music’s inspiration, gave us a greater joy in the work than we have ever before experienced.«1088 Nachdem der Parsifal in der Premierenspielzeit sechs Mal aufgeführt wurde, kamen Urbans Bühnenbilder über Jahrzehnte hinweg jährlich in New York zum Einsatz. Als das führende Opernhaus des Landes beeinflusste die Metropolitan Opera das Musikverständnis und den musikalischen Geschmack ganzer Generationen. Urbans Parsifal-Entwürfe, die bis 1955 unverändert verwendet wurden, formten das Muster für die Inszenierung des Bühnenweihfestspiels in Nordamerika und prägten dessen Rezeption durch das amerikanische Publikum maßgeblich.1089 In seinem Werkverzeichnis führt Markus Kristan einen architektonischen Aufbau auf, den er der New Yorker Parsifal-Inszenierung von 1903 zuordnet. Heinrich Lefler habe zu dieser Zeit in Wien an Dekorationen für Heinrich Conrieds Inszenierung gearbeitet, eine Beteiligung Urbans ließe sich allerdings nicht eindeutig nachweisen.1090 Dass sich Urban von jener Inszenierungspraxis klar distanzierte, konnte in der vorangehenden Analyse herausgestellt werden. Die Popularität seiner Entwürfe mag deshalb auch darin begründet sein, dass er nach Conrieds Bayreuth-Kopie die Szene für einen ›amerikanischeren‹ Parsifal bereitet hatte. Wie man einer Rezension in der Evening Sun entnehmen kann, appellierte sein Waldbild an ein dezidiert amerikanisches Bildgedächtnis: »[B]ehind is the lake of brilliant green, blue cliffs rising sheer from the water with proud remembrance of the Grand Canyon and the Palisades.«1091 Eine ähnliche Umschreibung wählte Max Smith in der Zeitung The American: »[T]he first tableau [...] looked like a picture of the Hudson, with the

1087 Urban 1929, o. S. 1088 Murray 1920. Vgl. hierzu auch The Evening Journal 1920 u. Vernon 1920. 1089 Ohne daraus einen weiterführenden Schluss zu ziehen, verweist auch Katherine Syer auf die Langlebigkeit der Entwürfe. Vgl. Syer 2005, S. 298. 1090 Vgl. Kristan 2000, S. 293. 1091 The Evening Sun 1920.

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Palisades as a background.«1092 Mit dieser Aneignungsstrategie überführte Urban das Bayreuther Bühnenweihfestspiel in die amerikanische Kultur und erzielte so einen großen Erfolg in New York. Anlässlich einer neuerlichen Aufführung des Parsifal im Jahr 1954 veröffentlichte die Zeitschrift Opera News einen mehrseitigen Bericht zu der Inszenierung von 1920 und Urbans Bühnenbild: »In the current season Urban’s Parsifal settings of 1920 happily survive on the Metropolitan stage. [...] Joseph Urban’s conceptions are still recognized by stage designers of today as the unforgettable pictures of an artist of sensitive vision, and extraordinary practicality.«1093 Erst für die Neuinszenierung des Parsifal unter der Regie von Herbert Graf (1903–1973), die am 24. März 1956 Premiere feierte, wurde ein neues Bühnenbild geschaffen. Mit dem Einsatz von Lichtprojektionen anstelle der alten Hintergrundprospekte orientierte sich der Bühnenbildner Leo Kerz (1912–1976) an der von Wieland Wagner (1917– 1966) 1951 initiierten Neuausrichtung der Bayreuther Inszenierung.1094 Aufgrund seines Erfolges am kommerziellen Revuetheater distanzierten sich Zeitgenossen der New Stagecraft-Bewegung, darunter Robert Edmond Jones und Lee Simonson, seinerzeit von Urban. Seine farbintensiven, bisweilen zu einem architektonischen Realismus neigenden Entwürfe bildeten einen sichtbaren Kontrast zu den abstrakten und in den Augen seiner Mitstreiter ›ernsthaften‹ Raumkonzepten. Darüber hinaus hat Dean Howd verschiedene Stimmen, darunter die des einflussreichen Theaterkritikers und Theoretikers Sheldon Cheney zusammengefasst, die Urbans Orientierung an den europäischen Reformansätzen nutzten, um ihm vorzuhalten, er könne auf diese Weise keine spezifisch amerikanische Ausdrucksweise ausbilden.1095 Die letzte Aufführung des ersten Parsifal im Jahr 1917 markierte eine scharfe Trennung zwischen den deutschsprachigen Ländern Europas und den Vereinigten Staaten von Amerika, die einige Jahre nach dem Kriegsende noch nachhallte. Aus ästhetischer Perspektive ist es umso bezeichnender, dass der Parsifal von 1920 als eine Brücke zwischen den Nationen verstanden werden kann, auf der Urban in seiner Funktion als Bühnenbildner als entscheidender Vermittler zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Theater auftrat. Er wollte seine künstlerischen Wurzeln in der Wiener Moderne keinesfalls ausradieren. Doch erst in der Verschränkung der Ästhetik des Gesamtkunstwerks mit der amerikanischen Populärkultur durch seine Arbeit für die Ziegfeld Follies fand Joseph Urban zu seinem eigenständigen visuellen und szenischen Ausdruck, der ihn von da an auszeichnen sollte.1096

1092 Smith 1920. 1093 Eckert 1954, S. 20. 1094 Vgl. hierzu auch Syer 2005, S. 309–311. Aufgrund ihres schlechten Zustands war eine weitere Verwendung von Urbans Hintergrundprospekten zu diesem Zeitpunkt unmöglich. 1095 Vgl. Essin 2012, S. 148; Aronson 2005, S. 156 f.; Howd 1991, S. 183 u. Larson 1989, S. 44. 1096 Zu Urbans Funktion als Bindeglied zwischen der amerikanischen und europäischen Kultur siehe auch Boeckel 1995, S. 73 u. Gilmartin 1991, S. 272. Zu seinem produktiven Mäandern zwischen der Hoch- und der Populärkultur siehe auch Aronson 2005, S. 156.

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4.2.3 Wald-Lichtung: Hans Wildermanns Farbenräume der Breslauer Inszenierung Das szenografische Konzept der beiden zuvor besprochenen Inszenierungen war eng geknüpft an die jeweilige topografische Situation des Aufführungsortes und die damit verbundenen Bedingungen für die Rezeption des Parsifal. Die Zusammenarbeit des Generalintendanten Josef Turnau (1888–1954) mit dem aus Köln stammenden Bühnenbildner Hans Wildermann am Stadttheater Breslau, wo am 15. April 1927 die Premiere ihres Parsifal stattfand, eröffnet eine gänzlich andere Perspektive auf das Bühnenweihfestspiel.1097 Zum einen liegt dies darin begründet, dass der Parsifal Ende der 1920er Jahre unabhängig von dem Bezugsrahmen Bayreuth zum festen Repertoire der deutschen Opernhäuser gehörte. Zum anderen ist eine Verschiebung des künstlerischen Interesses weg von der Frage nach technischen Lösungen hin zu einer ästhetisch-theoretischen Auseinandersetzung mit den Gestaltungselementen Licht und Farbe zu beobachten. Der Blick auf die Breslauer Inszenierung wird also viel stärker gefiltert durch Wildermanns Studium der Schriften Johann Wolfgang von Goethes und eine tiefe »Verehrung für Wagner«.1098 Jene Verehrung äußerte sich in einem besonders stark ausgeprägten Interesse für Wagners Bühnenweihfestspiel. 1904 hatte Wildermann eine Aufführung in Bayreuth erlebt und arbeitete fortan unter dem Eindruck dieser Inszenierung an einem Parsifal-Zyklus, der 1907 im Kölner Kunstsalon Lenoble ausgestellt und in mehreren führenden Kunstzeitschriften veröffentlicht wurde. Es handelt sich dabei vorwiegend um figürliche Szenen, die in einen floral-vegetabilen Rahmen eingefasst sowie mit einem Auszug aus dem Text und der Partitur versehen sind (Abb. 151): Maßgebend [...] war und ist [...] das seelische Moment, das in diesen kleinen Aquarellen zum Ausdruck kommt. [...] [W]as WILDERMANN auch immer schildert, zeigt die Formensprache des Erlebten. [...] Das ist das Stammeln eines Suchenden, die Sprache eines Ringenden, der bis zum Gipfel will.1099

Es verwundert kaum, dass Wildermann diesen Gipfel an den verschiedenen Stationen seiner Tätigkeit als Bühnenbildner zu erreichen suchte.1100 Anfang Januar 1914 1097 Bevor Hans Wildermann 1926 eine Professur für Theatermalerei an der Staatlichen Akademie für Kunst und Kunstgewerbe in Breslau annahm, arbeitete er als Bühnenbildner mit Otto Klemperer in Köln und Barmen zusammen. Im Jahr 1919 nahm Wildermann ein Engagement an den Städtischen Bühnen Dortmund an. Aus seiner Zeit in Breslau ist die Beteiligung an allein zweihundert Opern- und Theaterinszenierungen bekannt. Vgl. Niessen 1933. 1098 Niessen 1933, S. 33. Siehe hierzu auch Wildermann 1922. 1099 Schultze-Malkowsky 1907, S. 123 (Hervorh. E. S. M.). Das 1913 in Köln neu gegründete Musikhistorische Museum Wilhelm Heyer erwarb die Illustrationen und stellte sie für eine Textbuchausgabe zur Verfügung, die 1922 im Verlag Gustav Bosse erschien. Vgl. Wagner 1922. Zu Wildermanns Aufenthalt in Bayreuth vgl. auch La Nier-Kuhnt 1970, S. 2. 1100 Durch die Beiträge Carl Niessens erfuhr Hans Wildermann eine frühe Würdigung durch einen Zeitgenossen. Sein Nachlass befindet sich heute in der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln. In der Forschung werden Wildermanns Arbeiten meist überblicksartig abgehandelt. Unter Berücksichtigung des Quellenmaterials hat Irm-

338       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

Abb. 151: Hans Wildermann, Illustration zu Parsifal, 1904/05.

kamen seine ersten Bühnenbildentwürfe für Neuinszenierungen des Parsifal sowohl in Barmen als auch in Köln, hier in einer Kooperation mit Heinrich Lefler, zum Einsatz.1101 Wildermanns Entwurf für den ersten Aufzug zeigt die Waldlandschaft aus einer ungewöhnlichen Perspektive (Abb. 152). In den meisten Bühnenbildern zu dieser Szene wird der Wald im Vorder- und Mittelgrund dargestellt, während er sich nach hinten zu einem Landschaftspanorama öffnet. Wildermann kehrt diese Ansicht um und lässt eine strenge, undurchdringliche Baumreihung den Gralssee im Bildzentrum halbkreisförmig umstehen. Im Vordergrund schließt das Bühnenbild mit einem felsigen Plateau ab. Über Wildermanns Herangehensweise schreibt Carl Niessen, dass seine Szenenbilder die »›innere[] Form‹ der Dichtung« zum Ausdruck brachten.1102 In der Erneuerung von Wagners Parsifal verfolgten eine Reihe aufstrebender Bühnenbildner diesen Ansatz, so Willy F. Storck: Die meisten Entwürfe bemühen sich, einzig den ernsten und feierlichen Eindruck des Waldes [...] am heiligen See zum Ausdruck zu bringen, und besonders Wildermann gibt

hild La Nier-Kuhnt als einzige seine Bühnenbilder einer detaillierten Analyse unterzogen. Vgl. La Nier-Kuhnt 1983 u. La Nier-Kuhnt 1970. 1101 Für die Inszenierung in Köln, die am 11. Januar 1914 Premiere feierte, wurde Wildermann mit dem Bühnenbild für den ersten und dritten Aufzug beauftragt. Da er an der vollständigen Entwurfsserie gearbeitet hatte, inszenierte er den Parsifal am 4. Januar 1914 am Stadttheater Barmen selbst. Die musikalische Leitung übernahm Otto Klemperer. Vgl. auch La Nier-Kuhnt 1983, S. 261 f. u. La Nier-Kuhnt 1970, S. 43–50. Eine statistische Aufstellung aller Parsifal-Inszenierungen, an denen Wildermann beteiligt war, findet sich in La Nier-Kuhnt 1970, S. 181. 1102 Niessen 1933, S. 34.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       339

Abb. 152: Hans Wildermann, Bühnenbildentwurf zu Parsifal, Barmen und Köln, 1914.

in der strengeren, säulenartigen Reihung der Bäume einen geschickten Hinweis auf das Folgende, das Innere der Gralsburg.1103

Es folgten eine Überarbeitung und Erweiterung der bereits gefassten Ideen für die Dortmunder Inszenierung von Johannes Maurach (1883–1951), die im Jahr 1922 aufgeführt wurde (Abb. 153).1104 Wie Carl Niessen beschreibt, versetzte Wildermann den letzten Akt einer Faust-Inszenierung in den »Wald der Anachoreten[,] der [...] sich zu einem gotischen Dom zusammen[schließt]«.1105 Um der ›mystischen‹ Feierlichkeit Ausdruck zu verleihen, verfolgte der Bühnenbildner diesen Ansatz auch in den Parsifal-Entwürfen. So sind die mittelblauen Baumstämme als glatte Säulen gefasst, die stilisierten Baumkronen wachsen zu gotischen Spitzbögen zusammen. Die felsige Landschaft mit dem Gralssee ist im Hintergrund nur schemenhaft zu erkennen. Die gotische Form wird in dem tiefblauen Rahmen, der die Waldlandschaft von der Vorbühne abgrenzt erneut aufgegriffen. Aus dem Zuschauerraum betrachtet, wird ein in sich geschlossener Raumeindruck erzeugt. Gleichzeitig rückt die Szene in eine unwirkliche Distanz. Wie das Kirchenportal in Bruno Tauts Raumkonzept für die Inszenierung der Jungfrau von Orleans blieb der abstrakte Rahmen während der gesamten Spieldauer auf der Bühne (Abb. 96). Auf diese Weise wurde

1103 Storck 1914, S. 459. Durch die Konzeption der säulenartigen Baumstämme sieht La NierKuhnt in diesem Entwurf Appias Ideen reflektiert. Allerdings weicht die Raumaufteilung von dem Entwurf des Schweizers stark ab, sodass Wildermann eine individuelle Lösung für den Bildaufbau fand. Die Entwürfe, die Wildermann für die Inszenierungen im Januar 1914 schuf, darunter auch das Szenenbild »Am Heiligen See«, waren Teil der Ausstellung im Frankfurter Kunstgewerbemuseum. Allerdings verortet Willy F. Storck diese fälschlicherweise in München. Vgl. Storck 1914, S. 463. Zu der Parsifal-Ausstellung siehe auch Kapitel 4.2.1. 1104 Die Dortmunder Inszenierung erregte die Aufmerksamkeit der internationalen Presse. So diente sie als Illustration des Artikels von E. O. H. 1922, S. 314. Wildermanns Entwürfe wurden in den Jahren 1923 und 1926 in Dortmund selbst und 1924 in Augsburg wiederverwendet. Im Jahr 1925 arbeitete Wildermann mit Maurach in Nürnberg ebenfalls für eine Inszenierung des Bühnenweihfestspiels zusammen. Vgl. hierzu auch La Nier-Kuhnt 1983, S. 261 u. La Nier-Kuhnt 1970, S. 72 f. 1105 Niessen 1944, S. 8.

340       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

Abb. 153: Hans Wildermann, Bühnenbildentwurf zu Parsifal, Dortmund, 1922.

der gotische Bogen zu einem Symbol des Heiligen, markierte er doch, wie ein Tor, den Eingang in eine mystische Sphäre. Für den Gralswald der Breslauer Inszenierung konnte Wildermann also auf ein bereits selbst erprobtes ästhetisches Prinzip zurückgreifen, das mit dem Konzept Joseph Urbans vergleichbar ist (Abb. 140), dieses jedoch zu steigern scheint. In seinen lichtdurchfluteten Entwürfen für den ersten Aufzug erfährt die Metapher des Waldes als grüner Dom und deren Umkehrung für die Kathedrale als steinerner Wald eine eindrückliche szenografische Umsetzung. Der Entwurf für die Waldlichtung suggeriert den zentralperspektivischen Blick auf eine Guckkastenbühne (Abb. 154). Indem Wildermann die Vorderbühne und das Proszenium ausführt, überträgt er die dreidimensionale Tiefenwirkung auf das Papier. Die Lichtung formiert sich aus einer engen Staffelung von stilisierten Bäumen, die dicht neben- und hintereinander platziert sind. Die einzelnen Baumstämme sind hoch aufragend und schmal in ihrem Wuchs. Ihre Oberfläche erscheint dabei außergewöhnlich glatt, während die natürlich anmutenden Wurzeln in einem angedeuteten Erdboden verankert sind. Im oberen Bilddrittel streben schmale Verästelungen seitwärts, um in ihrem Scheitelpunkt auf gegenüberliegende Äste zu treffen. Auf die Weise fügen sie sich nicht zu einer natürlich gewachsenen Baumkrone zusammen, sondern münden in einem abstrahierten Fächergewölbe, das an den charakteristischen Perpendicular Style der englischen Spätgotik erinnert (Abb. 27). Auch ist die gesamte Lichtung nicht im eigentlichen Sinne wild gewachsen, sondern das Resultat einer gezielten Platzierung. So bilden die Baumstämme zunächst Spitzbogenarkaden, die dann in ihrer Reihung an eine dreischiffige Basilika erinnern.1106 Wie sich das Mittelschiff der Kathedrale zum Altar als dem zentralen Bezugspunkt des Kirchenraums hin öffnet, so gibt die

1106 Vgl. hierzu auch La Nier-Kuhnt 1983, S. 261 u. La Nier-Kuhnt 1970, S. 116. La Nier-Kuhnt kontextualisiert die Entwürfe im Hinblick auf Wildermanns philosophisch geprägtes Kunstverständnis. Es erfolgt jedoch keine Analyse der Sakralisierungsstrategien.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       341

Abb. 154: Hans Wildermann, Bühnenbildentwurf zu Parsifal, Breslau, 1927.

Waldlichtung einen verheißungsvollen Blick auf den Gralssee und die Gebirgslandschaft frei, die auf dem Hintergrundprospekt skizzenhaft angedeutet sind. Wildermanns Komposition reflektiert bildhaft das seinerzeit beständig vorherrschende Interesse an der Verbindung von Natur, Mystik und gotischer Baukunst. In seiner zwischen 1918 und 1922 veröffentlichten programmatischen Schrift Der Untergang des Abendlandes, in der er die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf das kulturelle Leben Europas reflektierte, idealisiert der zeitgenössische Geschichtsphilosoph Oswald Spengler (1880–1936) gleichsam den geheimen Wald als Sehnsuchtsort eines entfremdeten Zeitalters und Vorbild für die abendländische Baukunst.1107 In den gotischen Kathedralen sieht er die Vorstellung von der Grenzenlosigkeit des Waldes widerhallen: In dem Wälderhaften der Dome, der mächtigen Erhöhung des Mittelschiffes über die Seitenschiffe [...], in der Verwandlung der Säulen [...] zu Pfeilern und Pfeilerbündeln, die aus dem Boden wachsen und deren Äste und Linien sich über dem Scheitel ins Unendliche verlieren und verschlingen, [...], liegt die architektonische Verwirklichung eines Weltgefühls, das im Hochwald der nordischen Ebene sein ursprünglichstes Symbol gefunden hatte.1108

Auch Hans Wildermann, der die Goldgrundmalerei der alten Kölner Meister besonders verehrte, sah im Mittelalter eine idealisierte Gegenwelt zu dem Leben in den industrialisierten Großstädten:

1107 Vgl. Spengler 1922, S. 555. 1108 Spengler 1922, S. 555. Diese Sehnsucht sah Spengler auch in Wolfram von Eschenbachs Parzival und Wagners Musikdrama Tristan und Isolde zum Ausdruck gebracht S. 17 u. 556.

342       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914 Die Architekturgebilde dieser Epoche [...] waren [...] etwas, das sich in mir, geradezu als eine Opposition und Abwehr gegen die [...] Häßlichkeit meiner Umgebung und ihren trivialen Opportunismus, lebendig erhalten hatte. Und zwar flüchtete ich sozusagen in diese fromme und sakrale Bauwelt wie in eine ehedem mir vertraute Heimat.1109

Die enge Verschränkung von Waldlandschaft und Kathedralarchitektur sowie die Stilisierung der Formen in dem Szenenentwurf für den ersten Akt des Parsifal sahen seine Zeitgenossen vornehmlich in den Skizzen und theoretischen Schriften Appias vorgebildet. Wildermanns szenografischer Impuls, »den musikalischen und dichterischen Stimmungsgehalt [...] in Farbe und Form übertragen« zu wollen,1110 verstärkte den Eindruck der Rezeption Appias: Appia [ist] auf die organische Verbindung der Bilder bedacht: ›Nach und nach werden die Stämme immer einfacher und architektonischer. Kurz vor dem Eintritt im Gralstempel stehen sie wurzellos, wie Säulen auf Felsen, die ihnen als Sockel dienen. So sind dann Stämme zu Säulen geworden.‹ Aus der gleichen Idee wie diese (bisher unveröffentlichte) Anordnung Appias ist ferner auch die Hans Wildermanns geboren.1111

Jene organische Verbindung der beiden Szenen wurde jedoch nicht allein durch die Analogien von Baumstämmen und Säulen beziehungsweise von Baumkrone und gotischem Gewölbe deutlich. Wie Appia nutzte Wildermann eine gezielte Lichtregie, die nachfolgend noch ausführlicher zu betrachten sein wird. Mehr noch ist es eine spezifische Farbwirkung, die Wildermann unabhängig von jeglichen Vorbildern bereits vor der Bühnenfreigabe des Parsifal im Januar 1914 entwickelt hatte, die die Grenze zwischen Sakralraum und Naturraum zu verwischen scheint: »[U]m den Charakter des abgeschlossenen heiligen Bezirkes, zu dem, wie es in der Dichtung heißt, kein Weg hinführt durch das Land, zu betonen«,1112 wählte Wildermann eine spezifische Farbsymbolik, die er aus Johann Wolfgang von Goethes Farbenlehre ableitete. In der dreibändigen Schrift, die erstmals 1810 veröffentlicht wurde, untersuchte Goethe das Verhältnis von Farbe und Licht in der Wahrnehmung des Menschen. Dabei stützte er sich sowohl auf naturwissenschaftliche als auch ästhetische Theorien.1113 Wildermann erläuterte seine Farbauffassung im Rahmen eines Vortrages auf dem II. Hamburger Farbe-Ton-Kongress im Jahr 1930, auf dem Forschende zusammentrafen, um neueste Erkenntnisse der Synästhesieforschung zu 1109 Wildermann 1968, S. 27. Vgl. hierzu auch La Nier-Kuhnt 1983, S. 256. 1110 Wildermann 1968, S. 96 f. 1111 Stahl 1913b, S. 10. Vgl. hierzu Niessen 1933, S. 35. Siehe auch Ashman 1992, S. 35; Appia 1991, S. 18 u. Bauer 1982, S. 274. La Nier-Kuhnt hat allerdings deutlich gemacht, dass Wildermann lediglich Appias Schriften und Reproduktionen seiner Entwürfe gekannt haben konnte. Es liegen keine Informationen darüber vor, dass Wildermann etwa Aufführungen Appias in Hellerau besucht hat. Vgl. La Nier-Kuhnt 1983, S. 256 f. 1112 Wildermann 1931, S. 557. 1113 Goethe unterscheidet hierin zwischen physiologisch, physikalisch und chemisch hervorgebrachten Farben. Außerdem untersuchte er das Verhältnis der Farben untereinander und verfolgte die Geschichte der Farbenlehre seit der Antike. Siehe hierzu weiterführend u. a. Müller 2015 u. Schimma 2014.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       343

diskutieren. Er erklärte die Symbolik seiner Farben anhand der frühen Parsifal-Entwürfe, die im Januar 1914 sowohl in Barmen als auch in Köln zum Einsatz kamen: »Die Bäume [...] waren in blauer Farbe gemalt. Indessen doch so, daß stellenweise Farbtöne angebracht waren, die anderen Lichtwirkungen zugänglich blieben.«1114 Daraufhin führt er aus, indem er eine Passage Goethes kommentiert: ›Diese Farbe macht für das Auge eine sonderbare und fast unaussprechliche Wirkung.‹ (Also dem Charakter dieses Landschaftsbildes durchaus gemäß.) ›Sie ist als Farbe eine Energie; allein sie steht auf der negativen Seite und ist in ihrer höchsten Reinheit‹ (wie es das Gralsgebiet eben sein soll) ›gleichsam ein reizendes Nichts. Es ist etwas Widersprechendes von Reiz und Ruhe im Anblick‹ (beides Eigenschaften, die der junge Parsifal, der in das Gebiet vordringt, empfindet).1115

Wildermann betont, dass seine frühen Entwürfe noch nicht unmittelbar von Goethes Farbtheorie inspiriert gewesen seien, sondern dass er diese nachträglich auf seine Arbeiten übertragen habe. 1913 bezeichnete Ernst Leopold Stahl Wildermanns frühe Parsifal-Entwürfe als »esoterisch«1116. Dieses Attribut bringt die Farbauffassung des Bühnenbildners mit den Lehren Rudolf Steiners (1861–1925) in Verbindung. Der Theosoph und Begründer der Anthroposophie hatte in den Jahren 1882 bis 1897 die naturwissenschaftlichen Studien Goethes, darunter auch die Farbenlehre, herausgegeben. Zwischen 1913 und 1922 ließ er bei Basel das erste Goetheaneum als Sitz der Anthroposophischen Gesellschaft errichten. Da Steiners Lehren auf eine enge Verbindung von Kunst, Wissenschaft und Spiritualität zielten, widmete er sich besonders Goethes Erkenntnissen über die ›sinnlich-sittliche‹ Wirkung, die die Farbe auf den Gemütszustand und die ästhetische Wahrnehmung ausübt.1117 Wildermanns Entwürfe von 1927 zeugen von einer kontinuierlichen Beschäftigung mit dieser Farbwirkung: Das Dickicht des Waldes wird durch ein sattes Mittelblau evoziert, das den Vordergrund des Entwurfs dominiert. Die symbolische Überhöhung der Landschaft im Hintergrund wird durch das leuchtende Gelb und Rot der Morgensonne verstärkt. Durch die symbolische Aufladung seiner Farben verlieh Wildermann dem Gralswald die Stimmung einer »natürlichen Feststätte«1118. Auf diese Weise gelang ihm eine nuancierte Abstimmung auf Wagners musikalische Vorlage, welche Appia 1114 Wildermann 1931, S. 557. Zur Synästhesieforschung im frühen 20. Jahrhundert siehe auch die Ausführungen zu Bruno Taut in Kapitel 3.3.1. 1115 Wohlbold 1928, S. 408 ff., zit. n. Wildermann 1931, S. 557 (Hervorh. der Goethe-Zitate S. B. Q.). An dieser Stelle wird bewusst die Literaturangabe aus Wildermanns Vortrag anstelle der Originalquelle verwendet, um den Rezeptionsprozess zu verdeutlichen. 1116 Stahl 1913b, S. 5. Siehe hierzu auch La Nier-Kuhnt 1970, S. 43–45. 1117 Diese Wirkung erläutert Goethe in der sechsten Abteilung seiner Farbenlehre. Vgl. Wildermann 1931, S. 557. Zu Steiners Farbauffassung siehe Steiner 1929–1931. Die Farbtheorien Hölzels, Ittens, Kandinskys und Marcs leiteten sich unmittelbar von Goethes Farbenlehre und Steiners Auslegung dieser ab. Zu Steiners Einfluss auf die zeitgenössische Kunst vgl. ausführlich Ausst.-Kat. Wolfsburg 2010. 1118 Pudor 1906, S. 244. Anknüpfend an die ›Farbengärten‹, die in England und zuletzt durch Joseph Maria Olbrich in Darmstadt geschaffen worden waren, entwickelte der Publizist Heinrich Pudor eine Farbästhetik des Waldes, in der er die Farbtöne der einzelnen Baumarten näher bestimmte. Das Farbenspiel der verschiedenen Bäume sollte an besonderen

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über die Lichtregie erzielen wollte.1119 Wildermanns Ansatz wurde als so innovativ eingestuft, dass die Herausgeber der Zeitschrift für Musik Auszüge seines Vortrages zur Farbwirkung abdruckten, weil »die [...] Beispiele vor allem die Farben und Lichtgestaltung des Parsifal von einer Seite zeigen, die unseres Erachtens eine wertvolle Beisteuerung zum Thema der Inszenierung dieses Sonderwerkes bilden«.1120 Über die Farbsymbolik hinaus deutet Wildermanns Entwurf auf die Verwendung eines lichtdurchlässigen Materials: So fällt ein kräftiger Lichtstrahl in das Bildzentrum, der den Bühnenboden in der Mitte gelblich aufleuchten lässt. Es scheint so, als ob das Hintergrundprospekt rückseitig von intensiven Scheinwerfern angestrahlt werden sollte. Diese Form der Transparentbeleuchtung schwebte Appia bereits als eine Möglichkeit vor, der szenischen Beleuchtung eine gestaltende Funktion zuzuweisen.1121 Allerdings lassen die Scheinwerfer nicht nur durchsichtiges Material stark aufleuchten, sondern verstärken auch eine atmosphärische Schattenbildung. In Wildermanns Entwurf dringt das Licht durch die einzelnen Baumstämme hindurch und durchbricht so das mystische Halbdunkel des Waldes. Auf diese Weise kommt dem Lichtkegel, der von hinten auf die Szene fällt, eine symbolische Funktion zu. Er soll die auffällige räumlich-architektonische Struktur der Lichtung sichtbar machen. Doch nicht nur in ihrer raumbildenden Funktion gehen das Sonnenlicht und das architektonische Referenzsystem der gotischen Kathedrale eine Verbindung ein. Vielmehr macht sich Wildermann die atmosphärisch-symbolische Funktion des »gestaltenden Lichtes«1122 in der Kathedrale zunutze: Durch das Licht wirken die räumlichen Strukturen zunehmend entmaterialisiert und die Waldlichtung erfährt somit eine sakrale Aufladung. Wildermanns visuelle Strategien deuten dabei auf ein übergeordnetes räumliches und metaphorisches Spiel mit dem Naturphänomen der Waldlichtung, das für das Raumkonzept dieser Szene von entscheidender Bedeutung ist: Das Wort ›Lichtung‹ bezeichnet eine Freifläche innerhalb eines Waldes, die nicht mit Bäumen bewachsen ist, und leitet sich von dem Verb ›lichten‹ ab. Indem ein dichter Baumbestand durch natürliche oder menschliche Einwirkungen ausgedünnt wird, taucht das Sonnen- oder Mondlicht die Freifläche in Helligkeit und entzieht sie so der Dunkelheit ihrer Umgebung.1123 Die Lichtung wird zu einem herausgehoOrten eingesetzt werden, um diese von der restlichen Umgebung abzuheben. Zu der sogenannten ›Forstästhetik‹ siehe auch Kapitel 4.3. 1119 Appia ordnete die Farbe, die er als Medium der traditionellen Dekorationsmalerei sah, dem Licht klar unter: »Mit Licht malt der Wort-Tondichter sein Bild. Die leblosen Farben, welche das Licht bloß vorgestellt hatten, sind nicht mehr vorhanden, dafür aber ist das Licht selbst da, thatsächlich und lebendig, und nimmt der Farbe alles, was sich seiner Beweglichkeit entgegenstellt.« Appia 1899, S. 93. 1120 B., Vorrede zu Wildermann 1931, S. 556. Seine Breslauer Parsifal-Entwürfe waren auf der Theaterausstellung in Magdeburg präsentiert worden. Vgl. Ausst.-Kat. Magdeburg 1928. 1121 Vgl. Appia 1899, S. 85 u. S. 87. 1122 Niessen 1944, S. 8. Mit dieser Umschreibung geht Niessen davon aus, dass Wildermann Appias Ausführungen über die gestalterische Funktion der szenischen Beleuchtung in Die Musik und die Inscenierung gelesen haben muss. Vgl. hierzu auch La Nier-Kuhnt 1983, S. 257. 1123 Diese Wortbedeutungen sind seit dem 19. Jahrhundert geläufig. Vgl. Grimm 1885, Sp. 880–882 u. Sp. 893 f. Siehe hierzu auch Böhme 2001, S. 453.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       345

benen Ort innerhalb des Dickichts des Waldes. Allgemeiner betrachtet bedeutet ›Lichten‹ auch einen Vorgang des Hellerwerdens oder Erscheinenlassens, welcher das Dunkel in einem Raum oder an einem Ort verdrängt. In seinem Aufsatz »Licht als Metapher der Wahrheit« führt der Philosoph Hans Blumenberg (1920–1996) den Modellcharakter des Lichts und den Bedeutungswandel in der Geschichte der Philosophie, Theologie, Literatur und Kunst vor Augen. Die Lichtmetapher sei unmittelbar geknüpft an die jeweiligen Vorstellungen über das Sein, das Denken, die Wahrheit und die Wahrnehmung einer Disziplin und Epoche. Auch wenn der Philosoph dies nicht als dezidiertes Beispiel aufführt, muss das Licht als ›absolute‹ Metapher im Sinne Blumenbergs begriffen werden, die übergeordnete Fragen im Zusammenhang von Wissen und Wahrheit universell beantwortet.1124 Der Kultur- und Literaturwissenschaftler Hartmut Böhme nutzt die Metapher der Lichtung, um den Prozess der Raumbildung durch das Licht zu umschreiben. Das Licht lässt Punkte erscheinen, durch die sich der Mensch erst im Raum orientieren kann: Raum ist zuerst Lichtung. In Lichträumen wohnen wir Prozessen der Raumwerdung bei. [...] [D]ie Lichtung ist ein Vorgang der Perzeption, worin man [...] die Taten des Lichtes bemerken, beobachten, spüren lernen kann: also etwas begreifen von dem, im Alltag zumeist unauffälligen oder vergessenen Zusammenhang von Licht, Raum und Wahrnehmung.1125

Besonders im Theater ist der Prozess der Lichtung unmittelbar an die szenische Beleuchtung geknüpft. In Wildermanns Entwürfen wird die Waldlichtung gleichsam zu einem gelichteten Raum. In dem Moment des Lichtens erfährt die Lichtregie eine zentrale Bedeutung, obschon alles Technische eigentlich in einem ambivalenten Verhältnis zu der Natur steht. Im Theater bedarf es jedoch des Aus- und Durchleuchtens der Bühnenaufbauten und Hintergrundprospekte, um spezifische räumliche Strukturen erkennbar und wahrnehmbar werden zu lassen. Durch den Prozess der Lichtung erfährt der Gralswald eine »räumliche Sonderung«,1126 durch die der irdische Naturraum von seiner Umgebung isoliert und zu einem sakralen Raum erhoben wird. In seinen Ausführungen zu einer Phänomenologie des Lichts hat der Philosoph Gernot Böhme die Wirkmacht solcher ›Lichträume‹ erläutert: Das Zauberische, das in dieser Erfahrung liegt, mag auch damit zusammenhängen, dass man diese Lichträume, indem man sich gewissermaßen in sie hineinversetzt, auch als potentielle gelichtete Räume erfährt und dadurch gewissermaßen aus dem Draußen, in dem man sich befindet, in ein imaginäres Innen versetzt wird.1127

1124 Vgl. Blumenberg 2001, S. 139–171. Siehe hierzu auch Hoormann 2003, S. 70 f.; Krauter 1998, S. 8 u. S. 15 u. Beierwaltes 1980. Zu Blumenbergs Bestimmung der ›absoluten‹ Metapher vgl. Blumenberg 1960. 1125 Böhme 1994, S. 4 f. 1126 Cassirer 1958, S. 128. Siehe hierzu auch Bornemann-Quecke 2018 u. Kapitel 1.2. 1127 Böhme 2001, S. 456.

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Gleichzeitig fungiert die ›Lichtung‹ als eine Denkfigur, um den Wald als Raumschwelle zu einer heiligen Sphäre zu begreifen, die sich nicht nur an die Akteure des Bühnenweihfestspiels richtet, sondern auch die Teilhabe des Publikums an der Aufführung verhandelt. Wildermanns Waldlichtung ist ein Raum, der durch ein Zwischen markiert ist – sie befindet sich in einem Status zwischen Innen- und Außenraum. Sie gibt den Ausblick in die unendliche Weite der Natur frei, während gleichzeitig das räumlich ordnende Prinzip einer Kathedrale offengelegt wird. Dadurch, dass eine eindeutige räumliche Zuordnung unmöglich ist, stellt die Lichtung einen Ort des Übergangs dar. Dieser liminale Zustand wird auch durch die flüchtige Ästhetik der Kreidezeichnung unterstrichen. Die sakral aufgeladene Lichtinszenierung markiert den Ort als eine Schwelle zu einem anderen, transzendenten RaumZeit-Gefüge, dessen Überschreiten mit Gurnemanz’ Ankündigung »Zum Raum wird hier die Zeit« in Gang gesetzt wird.1128 Dabei ist die seelische Transformation Parsifals die Voraussetzung für die Erfahrung von Heiligkeit. Der ›reine Tor‹ erkennt die Bedeutung der Gralszeremonie zunächst nicht und muss im zweiten Aufzug erst einer Reihe weltlicher Verführungen widerstehen, um nach seiner Selbstanklage im Gralswald als neuer Gralskönig das Ritual der Enthüllung selbst erneut zu initiieren.1129 Wie bereits im ersten Teilkapitel anhand der Handlung des Musikdramas aufgezeigt, findet Parsifal erst im dritten Aufzug zu seinem wahren Selbst. Die Frühlingsaue Wildermanns weist gewisse formale Übereinstimmungen mit dem Gralswald auf, wodurch auf die Ereignisse des ersten Aufzugs zurückgeblickt wird (Abb. 155). Im Vordergrund wird die Aue durch einige kubische Steinquader und eine Reihe hoch aufragender Bäume flankiert, die in Blautönen gehalten sind. Dominiert wird der Entwurf von einer dreifachen Spitzbogenarkade, wodurch die Aue ebenfalls den architektonischen Raumeindruck einer gotischen Kathedrale suggeriert. Allerdings dringt im Mittelgrund das satte Grün der wiedererwachten Natur in den Raum hinein. Als wäre der Chorbereich einer Kathedrale entfernt worden, erinnert die Aue an einen Pavillon in einer Parklandschaft und gibt das Panorama auf gelb-grünlich schimmernde Felder im Hintergrund frei. Am Horizont umfängt ein bläulicher Dunst das Gebirge. Erneut reichen die Strahlen der Sonne bis zu dem vorderen Bereich des Bühnenbodens. Durch unsichtbare Lichtquellen, die auch die Vorderseite der Baumarkade anstrahlen, wird der Eindruck der vollständigen Durchlichtung des Naturraums verstärkt. Zu der Wirkung der Farbe Gelb im ersten Szenenentwurf hatte Wildermann Goethe zitiert: »›Es führt in seiner höchsten Reinheit immer die Natur des Hellen mit sich und besitzt eine heitere, sanft reizende Eigenschaft‹.«1130 In dem späteren Entwurf, der für die Szene am Karfreitagsmorgen bestimmt ist, erfährt diese Farbwirkung, um »die Sonne zur Waldesmorgenpracht wirken zu lassen«,1131 eine Steigerung zu der durchlichteten, lieblichen Atmosphäre der Frühlingslandschaft.

1128 Wagner 1907a, S. 339. 1129 Zur inneren Wandlung Parsifals vgl. auch Voßkühler 2004, S. 191; Hartmann 1914, S. 8–12 u. Petsch 1903/04, S. 139–145. Zum Begriff der Schwelle siehe auch die Kapitel 1.3 u. 4.1. 1130 Wohlbold 1928, S. 408 ff., zit. n. Wildermann 1931, S. 558. 1131 Wildermann 1931, S. 558.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       347

Abb. 155: Hans Wildermann, Bühnenbildentwurf zu Parsifal, Breslau, 1927.

Neben der Vorankündigung und der Vollendung des persönlichen Übergangsrituals Parsifals bereiten die Waldszene und die Karfreitagsaue auch eine Schwellenerfahrung des Publikums vor. Wildermanns visuelle Strategien dieser Szene sollen also auf die sakrale Atmosphäre des Gralstempels und den feierlichen Ritus der Enthüllung des heiligen Grals einstimmen. So wie er die Farbe als »uranfängliche Naturerscheinung« begreift, die eine besondere Reizung des Sehsinns hervorzurufen vermag, welche sich wiederum auch »auf das Gemüt« auswirkt und zu affektiven Regungen der Zuschauer führt, schöpft er gleichfalls das performative Potenzial der szenischen Beleuchtung aus.1132 Es ist das Licht, das die in der Bildkomposition deutlich erkennbare Distanz zwischen dem Zuschauerraum und der eigentlichen Szene aufzuheben scheint. Die intensiven Strahlen überwinden die Vorbühne und reichen so bis in den Zuschauerraum hinein. Dabei regen sie nicht nur die Sinneswahrnehmung des Publikums an, sondern fokussieren den Blick auch auf das Zentrum, um den Betrachter, der sich in der Position des Theaterpublikums befindet, förmlich in die Waldlichtung hineinzuziehen. Da die Lichtinszenierung der Waldszene an die gotische Kathedrale angelehnt ist, referiert sie auf einen stark religiös konnotierten Symbolgehalt. Auf diese Weise wird der Betrachter angeregt, sich bereits in dieser Szene in den sakralen Raum des nachfolgend erscheinenden Tempels einzufühlen.1133 Gleichzeitig bewirkt das Zusammenspiel von Farbe und Licht eine zunehmende Entmaterialisierung der Szene, die mit Appias und Tauts Abstraktionstendenzen vergleichbar ist (Abb. 107; 110 u. 126). Wildermann erzeugte energetisch-rhythmische ›Farbenräume‹, die einen großen Anklang fanden: »[S]ein feines Gefühl für analoge Schwingungsverhältnisse in Ton und Farbe erreicht auch 1132 Wohlbold 1928, S. 404, zit. n. Wildermann 1931, S. 557. 1133 Vgl. die Ausführungen zur Lichtsituation in der gotischen Kathedrale in den Kapiteln 2.1.2 u. 4.1.

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hier die natürlichen, d. h. lebendigen Beziehungen zwischen Musik und Bild.«1134 Dieses Gestaltungsprinzip zielte auf eine starke sinnliche Affizierung, übertrug sich doch der Gleichklang von Farbe und Musik auf das Publikum: »Bei der Steigerung der Handlung steigert sich auch die Farbe, in dem Zuschauer [...] [ein – S. B. Q.] Verlangen auslösend.«1135 So zielte die theatrale Gemeinschaftsbildung auch in Wildermanns Raumkonzept weniger auf eine andächtige Gemeinde, als vielmehr auf einen kollektiven Sinnesrausch. Im Jahr 1914 hatte Wildermann sich noch an Wagners Uraufführung orientiert und in den beiden Inszenierungen in Köln und Barmen eine Wandeldekoration gewählt, um den Wald verschwinden zu lassen und den Weg der beiden Protagonisten in die Säulenhalle des Gralstempels zu suggerieren: Zwei Wandelbahnen mit einer Prospektverwandlung sieht Wildermann vor [...]; während eine der beiden Wandelbahnen die Bühne für einen Augenblick nach hinten abschließt, würden bei Wildermann die Durchblicke durch Prospekte ausgewechselt werden. Der Zweck dieses Austauschs wäre der, zeitweise eine größere Tiefe und überhaupt ein wechselvolleres Bild zu erreichen.1136

Für die Breslauer Inszenierung von 1927 griff der Bühnenbildner diesen Mechanismus der Verwandlung nicht erneut auf. Um die räumliche Transformation der Szene architektonisch vorzuarbeiten, wählte Wildermann bereits in der Waldszene den gotischen Spitzbogen. Er staffelte nicht nur die Bäume nach diesem Prinzip, sondern übernahm die Anordnung auch als visuelle Metapher für den Gralstempel. Der Entwurf für die Tempelszene zeigt einen stark vergrößerten Ausschnitt der Waldlichtung (Abb. 156). So scheint die Baumkrone ihrer tragenden Stämme beziehungsweise die Arkade ihrer tragenden Säulen beraubt. Die dicht hintereinander gestaffelten Bögen werden immer enger und kleiner, sodass eine dunkle Schneise gebildet wird. Blaue Farbnuancen dominieren den gesamten Entwurf und unterstreichen den gedrungenen, nahezu klaustrophobischen Raumeindruck einer Trutzburg.1137 Das kühle, weiß-bläuliche Licht erzeugt einen Kontrast von Hell und Dunkel, durch den nicht nur der Raum zusätzlich plastisch modelliert wird, sondern auch die mystische Atmosphäre dieses unwirklichen Ortes verstärkt wird. Einen zeitgenössischen Be1134 Adler 1927, S. 231. Zur Bezeichnung ›Farbenräume‹ siehe weiterführend Wohlbold 1922, S. 38. 1135 Wildermann 1931, S. 558. Zum Prinzip der Entmaterialisierung als Strategie der Sakralisierung vgl. ausführlich Kapitel 3. Siehe besonders Bruno Tauts Ausführungen zum ›Mitschwingen‹ der Zuschauer in Kapitel 3.3.1. In Appias Entwurf Espace rythmique: La clairière ist eine Waldlichtung nur anhand weniger abstrakter Gestaltungselemente angedeutet. Das Licht wird zum zentralen Gestaltungselement dieser Szene. Zum Projekt in Hellerau siehe auch Kapitel 3.4. 1136 Stahl 1913b, S. 9. 1137 Hans Hermann Adler, der das szenografische Konzept in seiner Rezension grundsätzlich positiv beurteilt, äußert sich kritisch gegenüber dieser geschlossenen Raumlösung: »Wildermann führt die Form konsequent durch und sperrt damit die Phantasie des Zuschauers.« Adler 1927, S. 231.

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       349

Abb. 156: Hans Wildermann, Bühnenbildentwurf zu Parsifal, Breslau, 1927.

obachter überzeugte diese symbolgeladene Bildsprache, was sicherlich auch auf die neuerliche Popularität der Gotik in der zeitgenössischen Kunst- und Kulturtheorie zurückzuführen ist, wie bereits am Beispiel Spenglers aufgezeigt werden konnte: Für [...] die Bilder des ersten und dritten Aktes [...] findet Wildermann eine überaus schöne Form der durchgeistigten Landschaft; sie ist beherrscht vom Symbol des Gralsglaubens, für dessen transzendente Stimmung als Ausdruckselement der gotische Bogen erscheint. Natur und Geist werden eins in der Identifizierung von Baum und Säule, Waldkrone und Domgewölbe. [...] [D]er gotische Bogen ist das in den Raum projizierte Gralsthema; er erscheint also folgerichtig in allen Bildern, verdichtet und alleinherrschend im Bild der Tempelszene.1138

Im Vergleich zu den in den vorangegangenen Teilkapiteln besprochenen Neuinszenierungen, die ambivalente Reaktionen unter den Kritikern auslösten, fiel das Resümee zu der Breslauer Inszenierung positiv aus. Wildermann habe »alle szenischen Funktionen auf das absolute formale und dynamische Gleichmaß gebracht [...], herausempfunden aus der hier wahrhaft Gestalt gewordenen Partitur« und auf diese Weise Wagners Idee des Gesamtkunstwerks einen angemessenen Ausdruck verliehen.1139 Mehr noch erweiterte Wildermann Wagners Konzept, indem er auf die vollkommene Synthese von Musik, künstlerischer Darstellungsmittel, theatraler Strategien, Bühnentechnik und der inhaltlichen Deutung der Spielräume setzte. Im Jahr 1933 hatte Carl Niessen eine Einführung über »Hans Wildermann als Bühnenbildner« für die von Ernst Schreyer (nicht ermittelbar) herausgegebene Werk1138 Adler 1927, S. 230. 1139 Adler 1927, S. 232.

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folge geschrieben. Anlässlich des 60. Geburtstags des Bühnenbildners veröffentlichte Niessen diesen Beitrag elf Jahre später erneut, jedoch in einer erweiterten und überarbeiteten Fassung. Hatte der Theaterwissenschaftler in dem früheren Beitrag noch von Wildermanns Wäldern als »ernste beseelte Natur, verdichtetes deutsches Waldgefühl, eine malerische Symphonie« geschwärmt,1140 so erkannte er nun in den Bühnenbildern des Breslauer Parsifal »die Weihe und Geistbezogenheit des arischen Mysteriums« und stützte damit – zumindest an der Oberfläche – die nationalsozialistische Instrumentalisierung des Bühnenweihfestspiels.1141 Während Oswald Spengler bewusst auf eine nationale Lokalisierung des Waldes und der Architektur verzichtet hatte, war bereits 1926 im Callwey-Verlag ein Sammelband unter dem Titel Vom grünen Dom. Ein deutsches Wald-Buch erschienen. Vordergründig sollten Beiträge deutscher Naturwissenschaftler und Förster zum aktuellen Stand der deutschen Forstwirtschaft zusammengebracht werden. Doch eigentlich hatte der Herausgeber Walther Schoenichen (1876–1956) diesen Titel gezielt ausgewählt, um die Analogie zu der gotischen Kathedrale für ein völkisches Denken und einer Kritik am aktuellen Zustand der Weimarer Republik zu instrumentalisieren.1142 Ohne Zweifel fügt sich die Rhetorik Niessens in dem Artikel, der 1944 in der Zeitschrift Musik im Kriege. Organ des Amtes Musik beim Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP veröffentlicht wurde, der dramatischen politischen Situation in Deutschland ein. Niessens Artikel liest sich dabei wie ein Ringen mit der Anerkennung von Wildermanns Errungenschaften für die deutsche Bühnenkunst durch den objektiven Theaterhistoriker und einem bewussten Herunterspielen dieser Leistung im Sinne des nationalsozialistischen Kunstverständnisses: Die ›descriptive‹ [sic!] Seite der Kunst, welche in unseren Tagen ungebührlich vorwaltet, geht ihn [Wildermann – S. B. Q.] am wenigsten an: das zeigen seine Bildnisse, bei deren Gestaltung er sich augenscheinlich im Joch der Gegenständlichkeit fühlt; das hindert aber nicht, daß er Bildnis-Plastiken geschaffen hat, die zu dem Besten gehören, was unseren Jahrzehnten vergönnt war.1143

1140 Niessen 1933, S. 34 f. 1141 Niessen 1944, S. 8. In Breslau fanden in der Spielzeit 1937/38 und 1942 zwei weitere Parsifal-Inszenierungen statt, für die Wildermann ein neues Bühnenbild schuf. Wie in seinen frühesten Entwürfen sind die Bäume als hoch aufragende Säulen aufgefasst, deren Kronen in der Höhe der Bühne nur zu erahnen sind. Vgl. hierzu weiterführend La Nier-Kuhnt 1970, S. 117–119. Zu der Instrumentalisierung des Bühnenweihfestspiels und des Waldes siehe Kapitels 4.3. 1142 Vgl. Imort 2005, S. 55–80. Siehe Schoenichen 1926. Zur Begriffsdefinition des Wortes ›völkisch‹ als Ersatzwort für ›national‹ siehe Hartung 1999. Siehe hierzu weiterführend Reudenbach/Steinkamp 2013. 1143 Niessen 1944, S. 7. Carl Niessens Aufsätze über Hans Wildermann können sinnbildlich für seine unbeständige Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus verstanden werden. Niessen trat niemals der NSDAP bei, dennoch ist seine völkisch durchtränkte Denk- und Weltauffassung nachweisbar. Zu Beginn profitierte er von der NSDAP, die ihn 1938 auf das Ordinariat für Theaterwissenschaft an der Universität zu Köln berief. Danach weist das Verhältnis jedoch einige Brüche auf. Sowohl die Absetzung des Thingspielgedankens, für den er eingetreten war, als auch die Absage der Aufführung des Jedermann in Köln ließen

4.2  Nach 1914: Der ›neue‹ Gralswald als Erlebnisraum des Heiligen       351

Wildermanns lange Freundschaft mit dem Verleger Gustav Bosse (1884–1943), der ab 1933 überwiegend nationalsozialistisches Gedankengut veröffentlichte, und ihm eine Reihe von Aufträgen im Umfeld der NSDAP verschaffte, zeugt von einer grundsätzlich opportunen Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus.1144 Dennoch wurde er im August 1937 selbst zu einem Opfer der radikalen Kulturpolitik, als sein Triptychon Transfiguration. Elias, Johannes der Täufer, welches in den Jahren 1923 und 1924 entstanden war, im Dortmunder Museum für Kunst- und Kulturgeschichte am Ostwall beschlagnahmt und für entartet erklärt wurde.1145 So resümierte Wildermann das Theaterverständnis der Nationalsozialisten, das seinem eigenen Ansatz der Stilisierung der Szene durch eine symbolische Farbwirkung diametral entgegengesetzt war: Mit den [...] sich hart aufdrängenden Geschehnissen der Jahre 1933 ff. setzt eine neue Zeit ein, die in ihrer Verkehrtheit jene übertrumpfte, in der ich meine Bestrebungen auf der Bühne begonnen hatte. So wurden diese Ereignisse notwendig zum Ende freier Bühnentätigkeit. Das Theater wurde Sklavin einer tyrannischen Wirklichkeit und ihren Bedürfnissen unterstellt.1146

Den monumentalen szenischen Realismus, den die Werke des sogenannten ›Reichsbühnenbildners‹ Benno von Arent (1898–1956) propagieren sollten, wertete Wildermann als einen Rückschritt in der Entwicklung der Szenografie.

Niessen seinen Unmut öffentlich bekunden. Aufgrund seines katholischen Glaubens stuften die Nationalsozialisten Niessen als ›nicht zuverlässig‹ ein. Umfassend erforscht Nora Probst diesen Sachverhalt ihm Rahmen ihres Dissertationsprojekts »Objekte, die die Welt bedeuten. Carl Niessen und die Kulturgeschichte(n) der frühen Theaterforschung in Köln« an der Universität zu Köln. 1144 Über Gustav Bosse erhielt Wildermann beispielsweise 1936 den Auftrag zu der Gestaltung der Anton-Bruckner-Medaille der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Eine Abbildung findet sich in der von Bosse herausgegebenen Neuen Zeitschrift für Musik 103.5 (1936): Abb. n. S. 544. Außerdem schuf er Illustrationen für den von Johannes Schwarz herausgegebenen Sammelband Italienische Dichtung von Dante bis Mussolini – Eine Anthologie (Gauverlag-NS-Schlesien, 1942). 1145 In Berlin wurde das Ölgemälde entweder verkauft oder zerstört. Eine Abbildung ist daher nicht auffindbar. Für eine Aufstellung der elf Gemälde, die am 23.08.1937 konfisziert wurden, vgl. Gärtner 2008, S. 23. 1146 Wildermann 1968, S. 190.

352       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

4.3 Zwischenfazit: Der heilige Wald – ein Ort der ­Erlösung? Im Rahmen dieser Fallstudie konnte aufgezeigt werden, dass in den Neuinszenierungen des Parsifal nach der Aufhebung des Urheberrechtsschutzes im Januar 1914 mit der Sakralisierung des Gralswaldes und der sich anschließenden Verwandlungsszene alternative szenografische Muster zu dem Bayreuther Vorbild etabliert wurden. Die drei Bühnenbildner Gustav Wunderwald, Joseph Urban und Hans Wildermann griffen die theoretische Vision auf, um Appias Muster weiterzudenken und einen eigenen visuellen Ausdruck zu Wagners musikalischer Vorlage zu entwickeln. Für die szenografischen Konzepte der Inszenierungen in Charlottenburg und New York spielte die Topografie des Aufführungsortes der Metropole eine entscheidende Rolle. In einer Gegenwelt zu der beschaulichen Kleinstadt Bayreuth mussten neue Strategien gefunden werden, um das an Sensationen gewöhnte Publikum zu überwältigen. Die intensiven Vorbereitungen der Theater auf die Ankunft des Parsifal waren zuvor noch für keine andere Premiere getätigt worden und bereiteten dem Bühnenweihfestspiel einen würdevollen Rahmen. Auf diese Weise initiierten die Häuser neue Gemeinschaftsrituale, welche die Zuschauer die Hektik der Metropolen für einen Augenblick vergessen ließen. Gleichzeitig artikuliert sich in der Sakralisierung des Parsifal eine Ambivalenz und Vieldeutigkeit. Schon Wagner bewegte sich seinerzeit zwischen dem Aufbruch in die Zukunft und dem Zurückfallen in bestehende Traditionen. Während er auf dem Gebiet der Theaterarchitektur und -technik wegweisende Innovationen durchsetzte, blieb das Bühnenbild des Theaterateliers Brückner der realistischen Darstellung verhaftet, obwohl dies Wagners Kunstauffassung grundsätzlich widersprach. Conrieds New Yorker Inszenierung und das Königliche Opernhaus in Berlin folgten dieser Tradition noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Im Jahr 1913 trat August Spanuth (1857–1920) für die Aufführung des Parsifal außerhalb des Bayreuther Festspielhauses ein: »Jener Bann [...] wird sich wohl da zuerst lösen, wo man ohne Bayreuther Hypnose an den ›Parsifal‹ herantritt, wo man ihn [...] als ein Theaterstück erkennt, das des Bühnenzaubers mehr als irgend ein anderes bedarf.«1147 Mit ›Bühnenzauber‹ meint Spanuth hier nicht die Ausstattungskunst des 19. Jahrhunderts, sondern die Möglichkeiten der Szenografie und der Beleuchtungstechnik, die das Theater seinerzeit bot. Während Appia und Wildermann in ihren abstrakten Szenografiekonzepten das Sakrale auf einer metaphorischen Ebene verhandelten, müssen die Arbeiten von Wunderwald und Urban als ein Bindeglied zwischen Tradition und Moderne verstanden werden. Sie übernahmen Grundstrukturen der Bayreuther Uraufführung und überführten diese in einen zeitgemäßen Darstellungsstil. Alle diese Inszenierungen verhandelten das spannungsgeladene Verhältnis von Natur, Kunst und Technik, das die zeitgenössische Kunsttheorie als ein ambivalentes charakterisierte:

1147 Spanuth 1913, S. 773. Siehe hierzu auch Steinhoff 2012, S. 387.

4.3  Zwischenfazit: Der heilige Wald – ein Ort der E­ rlösung?       353 Der Widerspruch zwischen der Welt der Naturformen und der Welt der technischen Formen wird sich mit künstlichen Mitteln nicht versöhnen lassen [...]. Die Welt der technischen Formen steht in der Natur als eine fremde Welt; wo sie auftritt, wird die Landschaft entzaubert.1148

Gerade diese Ambivalenz von Natur und Technik wurde für die Künstler zu einem kreativen Reibungspunkt. Die Inszenierung der Waldlandschaft über eine gezielte szenische Beleuchtung und eine abstrakt symbolische Farbwirkung eröffnete den Bühnenbildnern die Möglichkeit, profanen Handlungsräumen eine sakrale Atmosphäre zuzuweisen und auf diese Weise die Grenze zwischen Sakral- und Profanraum nahezu aufzuheben. Im Bühnenweihfestspiel Parsifal sollte Richard Wagners Idee des Gesamtkunstwerks einen formvollendeten Ausdruck finden. In dem Bestreben, die transzendente Sphäre des Gralswaldes ebenso sinnlich erfahrbar werden zu lassen, erweiterten Urban, Wildermann und Wunderwald das Gesamtkunstwerk um die Dimension des Technischen, die gerade das moderne Großstadtpublikum besonders ansprechen sollte.1149 Die gesteigerte Sakralisierung des Waldbildes darf keinesfalls unabhängig von der ästhetisch-wissenschaftlichen Neubewertung der Natur in dieser Zeit betrachtet werden. Bezeichnenderweise etablierte sich Ende des 19. Jahrhunderts die sogenannte ›Forstästhetik‹ als eigenständige wissenschaftliche Disziplin. 1885 umriss der schlesische Forstbesitzer Heinrich von Salisch (1846–1920) den Gegenstand der Disziplin als »die Lehre von der Schönheit des Wirtschaftswaldes«.1150 Angelehnt an die Ästhetisierung des Waldes durch die Künstler und Schriftsteller der Romantik sollten künstlerische Gestaltungselemente auch im Waldbau Anwendung finden. Von Salisch verglich den Wald mit einem Kunstwerk, dessen Bäche, Bäume und Steine als »Schmuck der Waldungen« das harmonische Gesamtbild des Waldes hervorbrachte. Die harmonischen Farbnuancen der Natur bezeichnet er als »Farbenlehre der Landschaft« und die mannigfachen Gerüche und Geräusche erzeugten den »Duft und [die] Stimmen des Waldes«.1151 Diese Vorstellung von einem »Naturgenuss als [...] Kunstgenuss«,1152 die das multisensorische Erleben des Waldes zentral setzt, greift nicht nur Grundsätze von Richard Wagners Idee des Gesamtkunstwerks auf, vielmehr gewinnt dieses Erlebnispotenzial in den neuen Inszenierungskonzepten für den Parsifal nach 1914 an Aktualität. Als Ort abseits der menschlichen Zivilisation versinnbildlicht der Wald, so konstatiert auch der Kunsthistoriker Gustav Pauli (1866–1938), seit jeher einen Rückzugsort für den »moderne[n] Grossstadt1148 Widmer 1910, S. 381. 1149 In Bayreuth fanden die neuen szenografischen Impulse erst in Wieland Wagners Inszenierung des Parsifal im Jahr 1951 eine künstlerische Beachtung. Die Festspiele lösten sich selbst folglich sehr spät von dem festgelegten Muster der Uraufführung. Siehe weiterführend u. a. Ashman 2008, S. 252–256; Carnegy 2006, S. 286–290 u. Syer 2005, S. 309–311. 1150 Salisch 1902, S. 1. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen von Heinrich Pudor zu der sogenannten ›Waldpflanzkunst‹ in Pudor 1906. 1151 Salisch 1902, S. 39, S. 58 u. S. 115. Das Buch erschien 1902 und 1911 in zweiter und dritter Auflage. 1152 Weber/Elsen-Schwedler 2011, S. 16. Siehe auch Bender 1909, S. 239 f.

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mensch mit seinen teils überfeinerten Nerven«.1153 Jene Sehnsucht bewegte Richard Wagner dazu, auf dem ›Grünen Hügel‹ einen abgeschiedenen Festspielbezirk für einen außeralltäglichen Kunstgenuss zu errichten. Aus einer ähnlichen Motivation heraus war um 1900 auf dem unberührten Gelände des Monte Monescia nahe der Stadt Ascona im Schweizer Kanton Tessin die Künstlerkolonie Monte Verità gegründet worden, die sich als integrative Lebens- und Arbeitsgemeinschaft begriff. Da an diesem Ort eine exklusive Stätte zur Huldigung einer alternativen Lebensform eingerichtet wurde, hat der Kunsthistoriker Harald Szeemann das Areal mit der Beschreibungskategorie der sakralen Topografie gefasst.1154 Eine ganzheitliche Gesundheitslehre sollte eine neue Körperkultur und Lebensweise hervorbringen. Die Bewohner wollten ein freieres und ursprünglicheres Leben im Einklang mit den Elementen Licht, Luft und Wasser führen. Als Teil dieser Bewegung wurden die sogenannten ›Licht- und Lufthütten‹ beziehungsweise ›-bäder‹ gebaut.1155 In der kulturhistorischen Forschung wird der Lebensreformbewegung häufig ein antimodernistischer, neo-romantischer Eskapismus unterstellt. Allerdings ist diese pauschalisierende Deutung zu eng gefasst: Vielmehr ging es den Bewohnern des Monte Verità darum, ein neues Naturbewusstsein und eine zukunftsweisende Lebensauffassung zu etablieren, die unserem heutigen Verständnis von Ökologie- und Umweltbewusstsein nicht fremd ist.1156 In seiner Besprechung der Erstaufführung des Parsifal im Charlottenburger Opernhaus schrieb Egbert Delpy über Wunderwalds erstes Szenenbild: »Der Waldsee im ersten Akte glich einer Grunewaldlandschaft Leistikows.«1157 Walter Leistikow (1865–1908) war Mitglied des Friedrichhagener Dichterkreises, der sich um den Journalisten und Naturforscher Wilhelm Bölsche (1861–1939) und den Prediger und Schriftsteller Bruno Wille (1860–1928) versammelte. Am Müggelsee kamen Dichter, Künstler und Wissenschaftler zusammen, um über den Naturalismus zu debattieren und ein naturnahes Leben im Sinne der Lebensreformbewegung zu führen.1158 In seinen schwermütigen Landschaftsgemälden hielt Leistikow die Kiefernwälder und Seen des Berliner Umlandes fest: »Durch die [...] Waldbilder Leistikows geht [...] ein 1153 Pauli 1906, S. 367. Siehe auch Paulsen/Sandberg 2013b u. weiterführend Rauh 1998. Zu den Naturheilmethoden zur Behandlung von Neurasthenie vgl. His 1908. Siehe weiterführend Hofer 2004. 1154 Die Bezeichnung ›sakrale Topografie‹ diente Szeemann als roter Faden durch seine Ausstellung Monte Verità – le mammelle della verità/ Die Brüste der Wahrheit. Vgl. Ausst.-Kat. Ascona 1978. Dieser Begriff lässt sich ebenso auf den Festspielhügel in Bayreuth, der in Kapitel 4.1 diskutiert wurde, und die im Rahmen der Einleitung besprochene Darmstädter Künstlerkolonie übertragen. Siehe hierzu ausführlich Kapitel 1.4. 1155 Vgl. hierzu auch Baumgartner 2001 u. Böhme 2001b. Zur neuen Körperkultur siehe weiterführend Wedemeyer-Kolwe 2004. Zum Zusammenhang der Lebensphilosophie und der Wirkung des Lichts auf den Geist und Körper des Menschen siehe die Kapitel 3.1 u. 3.3.1. 1156 Vgl. u. a. Merta 2003, besonders S. 32. 1157 Delpy 1914. Siehe weiterführend Großkinsky 2001. 1158 Zu diesem Kreis zählten auch Gerhart Hauptmann, Edvard Munch und August Strindberg. Aus der Künstlervereinigung ging auch die 1890 gegründete Zeitschrift Freie Bühne hervor. Vgl. hierzu Elias 1903, S. 348 f. Zum Friedrichshagener Dichterkreis siehe CeplKaufmann/Kauffeldt 1998, S. 112–126.

4.3  Zwischenfazit: Der heilige Wald – ein Ort der ­Erlösung?       355

Abb. 157: Walter Leistikow, Schlachtensee bei Berlin, undatiert.

starker Zauber des Geheimnisvollen, das melancholische Erschaudern vor einem Naturrätsel.«1159 Die Landschaften in stimmungsgeladener Farbgebung und starkem Hell-Dunkel-Kontrast brachten ihm seinerzeit den Beinamen ›Grunewaldmaler‹ ein (Abb. 157).1160 Es sind diese Bilder, die seine Zeitgenossen bei jedem Spaziergang durch den Grunewald in ihrem Gedächtnis heraufbeschworen. Am Stadtrand von Berlin, also in unmittelbarer Nähe zum hektischen Treiben der Großstadt, gelegen, galt der Wald als ein beliebtes touristisches Naherholungsgebiet.1161 Wie bereits aufgezeigt, ist für die 1910er und 1920er Jahre eine Welle von Publikationen in renommierten Kunstzeitschriften zu verzeichnen, die sich der Ästhetisierung der Natur widmeten.1162 Mehr noch etablierten sich der Natur- und Umweltschutz sowie eine neue Form der Pädagogik, die eine naturverbundene Erziehung beschwor. So war 1925 in der Zeitschrift Kunst und Jugend unter dem Titel »Wanderung in den Herbstwald« ein Unterrichtsbeispiel aus Alois Kunzfelds (1858–1929) Naturgemäßer Zeichen- und Kunstunterricht abgedruckt, der Eltern und Pädagogen als Wegweiser für das Studium der Natur mit Kindern dienen sollte. Kunzfeld empfiehlt regelmäßige Wanderungen durch die »heiligen Hallen«1163 des Waldes als Bildungsgrundlage. Das Wandern in den Wäldern war eine populäre Freizeitbeschäftigung der deutschen Großstädter. So hatten bereits im Jahr 1896 eine Reihe von Steglitzer Schülern und Studenten die Jugendgruppe ›Wandervogel‹ gegründet, die ausgedehnte Wanderungen, unter anderem auch in den Grunewald, unternahm.1164 Sowohl die Wandervogel-Bewegung als auch der pädagogische Ansatz Kunzfelds speisten sich 1159 Elias 1903, S. 346 f. Zur zeitgenössischen Rezeption siehe u. a. Corinth 1910 u. Rosenhagen 1905. Für eine internationale Würdigung vgl. Fred 1904. Siehe weiterführend Ausst.-Kat. Berlin 2008. 1160 Vgl. Rosenhagen 1905, S. 506 u. S. 509. 1161 Vgl. Wilson 2012; Gaethgens 2011, S. 67 f. u. Schiebelhuth 1927. 1162 Vgl. u. a. Heimann 1920 u. Schultz 1911. 1163 Kunzfeld 1925, S. 90. Siehe weiterführend Kunzfeld 1924. 1164 Die zunächst sozialdemokratisch orientierte Wandervogel-Bewegung veröffentlichte regelmäßig sogenannte ›Wandervogel‹-Liederbücher, um ihr Liedgut zu verbreiten. Im Na-

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aus dem in den vorangegangenen Kapiteln dargelegten kulturellen Bildgedächtnis des ›deutschen Waldes‹. So finden sich fortlaufend Referenzen auf die germanische Mythologie, die Volksmärchen und -sagen sowie die Architektur der Gotik. Zeitgleich zu der ästhetischen und sakralen Aufladung des Waldes durch künstlerisch und gesellschaftlich motivierte Reformbestrebungen erreichte die politische Instrumentalisierung des Waldes als Sinnbild deutscher Identität und Kultur eine neue Dimension.1165 Im Zuge der Befreiungskriege von 1813 bis 1815 suchten Künstler, Politiker und Schriftsteller ein einprägsames Gegenbild zu dem napoleonischen Frankreich, in dem das deutsche Wesen ihnen zufolge Ausdruck fand. Zu den Vertretern des 19. Jahrhunderts, die vor diesem Hintergrund eine nationale Waldideologie propagierten, zählte Wilhelm Heinrich von Riehl (1823–1897), der in seiner zwischen 1851 und 1854 veröffentlichten Schrift Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik die nationale Identität der europäischen Staaten anhand ihrer jeweiligen landestypischen Natur ableitete. So wurde die ›deutsche Eiche‹ als beständiger Baum, der sämtlichen Umwelteinflüssen zu trotzen vermag, zu dem nationalen Symbol für Dauerhaftigkeit, Einheit, Heldentum, Mut und Stärke stilisiert.1166 Die politische Bewegung wie auch die Literatur, Malerei und Musik der deutschen Romantik bezogen sich dabei nicht nur auf mittelalterliche Volkssagen, wie das Nibelungenlied, sondern insbesondere auch auf Tacitus’ Bericht über die Niederlage des römischen Feldherren Varus (47/46 v. Chr.–9 n. Chr.) gegen Hermann den Cherusker (17 v. Chr.–21 n. Chr.) im Teutoburger Wald. Darin beschreibt Tacitus den hercynischen Wald als endlosen, lebensfeindlichen »von starrenden Waldungen oder scheußlichen Sümpfen bedeckt[en]« Urwald, der aufgrund seiner Größe und Undurchdringlichkeit einen furchteinflößenden Eindruck hinterließ.1167 Peter-Klaus Schuster bezeichnet die siegreiche Schlacht der Germanen gegen die Römer, die zu einem beliebten Motiv der Historiendarstellung des 19. Jahrhunderts wurde, als »Schlüsselszene deutscher Selbstfindung«, in der sich der Wald als Erinnerungsort der deutschen Nation erstmals konstituierte.1168 Seine Sinnbildfunktion behielt der Wald auch im deutschnationalen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts. Als es nach dem Ende des Ersten Weltkrieges darum ging, die Identität Deutschlands wiederaufzubauen, erfuhr der Wald als nationales Symbol eine konsequente Radikalisierung im Sinne einer rechtspolitischen Überzeutionalsozialismus wurde sie zwangsweise der Hitlerjugend untergeordnet. Siehe weiterführend Herrmann 2006 u. Weißler 2001. 1165 In diesem Zusammenhang sei besonders auf die Forschungen von Johannes Zechner verwiesen. Vgl. u. a. Zechner 2016; Zechner 2013; Zechner 2011 u. Zechner 2009. Zur kulturellen Konnotation ›deutscher Wald‹ siehe auch Schriewer 2015; Wilson 2012 u. Lehmann 1999, S. 25–42. 1166 Siehe weiterführend Schuster 2011; Weber/Elsen-Schwedler 2011, S. 21 u. Schama 1996, S. 120–124 u. S. 130–134. Zum Wald als religiösem Sehnsuchtsort der Romantik siehe auch Kapitel 4.1. In der Auslegung der deutschen Nationalbewegung orientierte sich die gotische Bauweise an der Gestalt deutscher Bäume, weshalb die Gotik gleichfalls zum nationalen Baustil deklariert wurde. Siehe hierzu auch die Kapitel 1.4, 3.1 u. 3.3.1. 1167 Tacitus 1934, S. 167. Zur Bedeutung des Waldes für die Germanen vgl. auch Stadlober 2006, S. 131 f. 1168 Schuster 2011, S. 35. Vgl. hierzu auch Weber/Elsen-Schwedler 2011, S. 20 f.

4.3  Zwischenfazit: Der heilige Wald – ein Ort der E­ rlösung?       357

gung. Bücher, wie der von Walther Schoenichen herausgegebene Sammelband Vom grünen Dom, dienten den sogenannten ›Heimatschutz‹-Organisationen als wirksame Propagandamedien.1169 Schon hinter diesen Bestrebungen verbirgt sich eine gezielte antisemitische Argumentationsstruktur, die unweigerlich den Nährboden für die nationalsozialistische Propaganda bereitete. Sodann schreibt Schoenichen in seinem 1934 veröffentlichten Buch Urwaldwildnis in deutschen Landen: In der Wildnis reckenhafter Baumgestalten hat sich der heldenhafte Geist germanischer Krieger immer aufs Neue gestählt und gefestigt. [...] Hier will uns der deutsche Wald mit seinen kühn in den Raum sich emporreckenden Säulen, mit seinen siegfriedhaften Heldengestalten erscheinen wie ein Sinnbild für das Dritte Reich deutscher Nationen.1170

Dieses Zitat veranschaulicht, wie die germanische Mythologie sowie die mittelalterlichen Volksagen, die auch den Stoff für Richard Wagners Musikdramen lieferten, für den modernitätskritischen Rückbezug der nationalsozialistischen Propaganda zweckentfremdet wurden. Die strategische Instrumentalisierung des Waldes erfuhr eine zusätzliche Steigerung in dem 1936 im Auftrag der Nationalsozialistischen Kulturgemeinde veröffentlichten Propagandafilm Ewiger Wald, in dem die Deutschen als ›Waldvolk‹, das den Juden als ›Wüstenvolk‹ den Zutritt zu den heimischen Wäldern zu untersagen hatte, idealisiert wurden. Mit dieser Botschaft lieferte der Film eine visuell ausdrucksstarke Vorlage für die systematische Judenverfolgung, die sich in den nächsten Jahren ereignen sollte. Als Ansammlung vieler, dicht zusammenstehender und hoch aufragender Bäume wurde der Wald zu einer Metapher für die geschlossene Gemeinschaft des deutschen Volkes. Indem er ein leuchtendes Kirchenfenster von einer Baumkrone überblenden ließ, rekurrierte der Regisseur Hanns Springer (nicht ermittelbar) auf die Analogie des Waldes und der gotischen Kathedrale. Er wollte dem ›Ewigen Wald‹ auf diese Weise eine sakrale Aura verleihen, um die neue ›Waldreligion‹ des NS-Ideologen Alfred Rosenberg (1892/93– 1946) historisch zu legitimieren.1171 Eine öffentliche Legitimation erfuhr der Film durch den Reichsforstmeister, Reichsjägermeister und Reichsnaturschutzbeauftragten Hermann Göring (1893–1946), der augenscheinlich eine fortschrittliche Naturschutz- und Umweltpolitik vorantrieb. Diese äußerte sich nicht nur visionär in Görings zukunftsweisenden Plänen für den Endsieg, die die Errichtung großflächiger Forstbestände in den annektierten Ostgebieten vorsahen. Vielmehr wurden in seinem Auftrag im ganzen Land Schilder mit der Aufschrift »Juden sind in unseren deutschen Wäldern nicht erwünscht« aufgestellt.1172 In der Rückschau suchte der jü1169 Vgl. Weber/Elsen-Schwedler 2011, S. 21; Zechner 2011; Imort 2005 u. Schama 1996, S. 91– 104. 1170 Schoenichen 1934, S. 51. Siehe weiterführend Zechner 2010; Zechner 2006a u. Zechner 2006b. 1171 Vgl. u. a. Zechner 2011, S. 23 f.; Stutterheim 2008; Zechner 2006b; Lee/Wilke 2005 u. Meder 2002. 1172 Diesen Aufforstungsplänen stand jedoch eine große Belastung der Wälder durch Holzeinschlag, die Errichtung von kriegsrelevanten Fabriken und Militärgeländen sowie die Planung des Autobahnnetzes gegenüber. Vgl. Neumann 1935. Zur Naturschutzpolitik im Dritten Reich siehe Radkau/Uekötter 2003.

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dische Schriftsteller Elias Canetti (1905–1994) den Mythos des ›deutschen Waldes‹ einzufangen. Längst war der Wald auch zu einem markanten Symbol der Zerstörung und des Todes geworden. Unweigerlich ist Canettis Erinnerung geprägt durch das Trauma des Holocausts und die Erfahrung des Krieges: Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald. [...] Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude [...] Die Rinden, die einem erst wie Panzer erscheinen möchten, gleichen im Walde, wo so viele Bäume derselben Art beisammen sind, mehr den Uniformen einer Heeresabteilung. Heer und Wald waren für den Deutschen, ohne dass er sich darüber im Klaren war, auf jede Weise zusammengeflossen.1173

So wie der Wald in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts politisch umgewertet wurde, unterlag auch Richard Wagners Parsifal, wie zu Beginn dieses Kapitels bereits angedeutet, einer dezidierten ideologischen Instrumentalisierung. Eng verwoben war diese mit der Erlösungsmetaphorik, die seit der Uraufführung an dem Bühnenweihfestspiel haftete: Mit der neuerlichen Enthüllung des ›heiligen‹ Grals rettet Parsifal seine Umwelt. So führte der Schlusssatz des Bühnenweihfestspiels, »Höchsten Heiles Wunder: Erlösung dem Erlöser«,1174 dazu, dass dem Stück schon in der zeitgenössischen Rezeption messianische Qualitäten zugesprochen wurden. Schon die Uraufführung wurde als Offenbarung einer durch die Kunst gereinigten und geheiligten Gegenwelt zum eigentlichen Alltagsleben gedeutet.1175 Die deutschnationale Bewegung und die Nationalsozialisten nutzten das Bildrepertoire, aus dem die Bühnenbildner schöpften, und das Bildgedächtnis der Zuschauer, darunter sowohl die religiöse Symbolik als auch die Metaphorik des Waldes, um das Stück im Sinne ihrer Ideologie umzudeuten. Mit einem Blick auf diese historische Tatsache soll Nora Eckerts These, dass die Sakralisierung des Parsifal durch nationales Gedankengut bereits vor dem Ersten Weltkrieg einsetzte und dann zu einem zentralen Diskurs der Weimarer Republik wurde, keineswegs widersprochen werden. Allerdings ist von ihrer methodischen Herangehensweise zur Erörterung dieser These in Form eines panoramaartigen Abrisses über die Mentalitätsgeschichte dieser Jahrzehnte, in dem verschiedene zeitliche Ebenen der Rezeption ohne eine kritische Reflexion verwoben werden, Abstand zu nehmen. Einen überzeugenden Ansatz beweist Stephan Mösch mit seiner Publikation Weihe, Werkstatt, Wirklichkeit, in der er sich mit der Nationalisierung des Parsifal auseinandergesetzt und einen umfangreichen Quellenbestand analytisch ausgewer1173 Canetti 1973, S. 195 f. Vgl. hierzu auch Hergott 2011, S. 81. Als Symbol der Kapitulation ließen die alliierten Siegermächte nach dem Kriegsende 1945 einen großen Teil des deutschen Waldbestandes roden. Vgl. Schriewer 2015, S. 86. 1174 Wagner 1907a, S. 375. 1175 Vgl. Kienzle 2005, S. 225. Siehe hierzu auch Telesko 2004. Für eine ausführliche Diskussion dieser Metaphorik siehe Osthövener 2004, 162–176. Für eine Umwertung der Erlösungsmetaphorik durch die Nationalsozialisten siehe ausführlich Wagner 2004. Für einen kompakten Überblick über die Sakralisierungsstrategien der Nationalsozialisten siehe die Schlussbetrachtung dieser Arbeit.

4.3  Zwischenfazit: Der heilige Wald – ein Ort der E­ rlösung?       359

tet hat.1176 Seine Untersuchung hat klar aufgezeigt, dass Bayreuth und das für diesen Ort bestimmte Bühnenweihfestspiel Parsifal zu dem zentralen Kulminationspunkt politischer Inanspruchnahme wurden. Dies geschah – das muss an dieser Stelle besonders hervorgehoben werden – allerdings erst nach dem Tod Richard Wagners. Die öffentliche Kontroverse um die Bühnenfreigabe des Erbes ihres Mannes nutzte Cosima Wagner, unterstützt von den rechtspolitisch orientierten Publizisten Hans von Wolzogen (1848–1938) und Houston Stewart Chamberlain (1855–1927), um einen religiös aufgeladenen Gralskult zu schüren, den eine elitäre Gemeinschaft von Wagner-Anhängern ausschließlich in Bayreuth pflegen sollte.1177 Sie strebten danach, die Ästhetik des Bühnenweihfestspiels mit ihrer antisemitischen, politischen und religiösen Weltanschauung zu einem »christlich germanischen Kunstbekenntnis« zu verschränken.1178 Diese Auffassung stützend schreibt Erich Kloss (1863–1910) über den Parsifal: »Es ist eine gewaltige Predigt von deutscher Kunst und deutschem Stil, die vom Gralstempel hinausströmt in die Lande, deren Schall immer lauter anschwillt und eine immer größere, immer verständnisvollere Gemeinde versammelt.«1179 Eckerts Schlussfolgerung, die Bühnenfreigabe des Parsifal sei unmittelbar verbunden mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, resultiert, obschon sie dies nicht explizit benennt, aus den Reaktionen Bayreuths auf die politischen Ereignisse des Sommers 1914.1180 Erst nach der Parsifal-Aufführung am 1. August wurden die Festspiele offiziell beendet, obwohl das Attentat an dem österreichischen Thronfolger vom 28. Juni 1914 bereits einige Wochen zurücklag und dadurch viele, insbesondere internationale Besucher, dem Festspielzyklus ferngeblieben waren. In der Pause verbreitete sich die Nachricht über die deutsche Mobilmachung gegen Russland, sodass Hans von Wolzogen das Bühnenweihfestspiel gleichsam zur ›Waffenweihe‹ erklärte.1181 So wie der Parsifal mit der Aufhebung des Urheberrechtschutzes im Januar 1914 der nationalen und internationalen Bühnenwelt zu trotzen hatte und auf diese Weise als Nationalheiligtum stilisiert wurde, sollten sich die deutschen Soldaten dem Feind mutig entgegenstellen. Für ein siegreiches Kriegsende schwebte von Wolzogen eine neuerliche Aufführung des Parsifal als ›Siegesfeier‹ vor, die zwar bekanntermaßen nicht stattfinden sollte, dennoch etablierte sich Bayreuth nach dem Krieg 1176 Vgl. ausführlich Mösch 2009, S. 360–387. Siehe hierzu auch Lobenstein-Reichmann 2015 u. Steinhoff 2012. 1177 Vgl. hierzu Wolzogen 1909 u. Wolzogen 1911. Siehe hierzu auch Mösch 2009, S. 360–366 u. Schneller 1997, S. 300–305. Zur Verschränkung von Germanentum und Deutschtum in der Rezeption des Parsifal durch den sogenannten ›Bayreuther Kreis‹ siehe weiterführend Altgeld 1984. 1178 Mösch 2009, S. 360. 1179 Kloss 1909, S. 55. In diesem Zusammenhang wird das Festspielhaus Bayreuth als Gralsburg sakral überhöht und so zum Zentrum der völkisch-nationalen Bewegung ausgerufen. Siehe Schröder 1911, S. 211 f. Vgl. hierzu auch Steinhoff 2012, S. 379 u. Mösch 2009, S. 366. 1180 Vgl. hierzu Lichtenberger/Müller von Hausen o. J., S. 49. Mösch hat betont, dass die Autoren in ihrer Gliederung eine klare Trennung völkischer, religiöser und künstlerisch-ästhetischer Gründe vornahmen, die Beiträge jedoch immer wieder ideologisch durchdrungen seien. Vgl. Mösch 2009, S. 377. 1181 Vgl. Wolzogen 1915, S. 99 f. Unter anderem hat es musikalische Sondervorführungen für Soldaten gegeben, in denen Auszüge aus dem Parsifal gespielt wurden. Siehe hierzu weiterführend Mösch 2009, S. 381–385.

360       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914

unter der Leitung Siegfried Wagners (1869–1930) als ein wichtiges ideologisches Zentrum der Gegner der Weimarer Republik.1182 Unter den Nationalsozialisten verfestigte sich die Instrumentalisierung Bayreuths für die völkisch-nationale Ideologie, sodass sich die Verfremdung des Parsifal mit einer symbolischen Überhöhung des Gesamtwerks Richard Wagners fortsetzte. Adolf Hitlers (1889–1945) Begegnung mit Winifred Wagner (1897–1980) im Jahr 1923 war mit dem Versprechen verbunden, für den Schutz des Parsifal und eine neuerliche Einführung des Bayreuther Aufführungsmonopols einzutreten.1183 Vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges fanden zwei Parsifal-Inszenierungen in Bayreuth statt. Aus ästhetischer Perspektive zeichneten sich beide Inszenierungen durch Winifred Wagners Bestreben aus, die Uraufführung durch eine zeitgemäße Neuinszenierung zu ersetzen. Dabei lehnte sie Hitlers Empfehlung, den Reichsbühnenbildner Benno von Arent einzusetzen, ab. Diese Entscheidung deutet Katherine Syer als Hinweis, dass Bayreuth, obschon es der nationalsozialistischen Kulturpolitik unterstellt war, eine autonome Sonderstellung erlangt hatte, aus der sich durchaus gewisse künstlerische Freiräume ergaben. Daraus resultierten zunächst 1934 die Zusammenarbeit mit Alfred Roller, den auch Hitler sehr schätzte, sowie das szenografische Konzept, das Emil Preetorius (1883–1973) gemeinsam mit Wieland Wagner für Heinz Tietjens Inszenierung von 1937 entwickelte. Beide Inszenierungen wurden aufgrund der szenischen Reformbestrebungen, die sich dennoch nicht entscheidend von dem Vorbild der Uraufführung lösen konnten, mit einem gemischten Urteil von der zeitgenössischen Tagespresse aufgenommen.1184 Wie der kurze Überblick über die politische Instrumentalisierung des Parsifal veranschaulichen soll, konzentrierte sich die Nationalisierungsdebatte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in erster Linie auf die Uraufführung des Parsifal von 1882 und deren Nachfolgeinszenierungen in Bayreuth. In der Rezeption wurde die Ästhetik der Aufführung so sehr überlagert von einer rechtsideologischen Auslegung des Mythos, der kulturell tradierten Bilder sowie der Schriften Richard Wagners, dass die eigentliche Inszenierung des Bühnenweihfestspiels gänzlich in den Hintergrund trat. Im Jahr 2008 inszenierte der norwegische Regisseur Stefan Herheim (*1970) den Parsifal für die Bayreuther Festspiele, indem er unterschiedlichste Erzählebenen miteinander verschränkte: »Eine dieser Ebenen ist eine deutsche Zeitreise, die man als Identitätssuche verstehen kann. [...] In diese Zeitreise verflochten ist [...] die Rezepti-

1182 Vgl. Wolzogen 1915, S. 99 f. Siehe hierzu auch Steinhoff 2012, S. 375 f. u. Schachtsiek 2010, S. 267 f. 1183 Vgl. Lobenstein-Reichmann 2015. Allerdings hat Mösch darauf hingewiesen, dass nicht alle Mitglieder des Bayreuther Kreises die Politik der Nationalsozialisten stützten. Siehe hierzu Mösch 2009, S. 370 u. S. 381. Die ideologische Vereinnahmung von Wagners Gesamtwerk und seiner Wirkungsstätte Bayreuth ist durch die Forschung gut aufbereitet. Vgl. hierzu u. a. Michaud 2004, S. 52–64; Spotts 2002, S. 223–266 u. Friedländer/Rüsen 2000. 1184 Vgl. hierzu auch Mösch 2010, S. 239 f. u. Syer 2005, S. 299–306, hier besonders S. 301. Für eine ausführliche Diskussion des Bühnenbildes von Alfred Roller vgl. Bauer 1998. Zu Wieland Wagners frühen Arbeiten in Bayreuth vgl. Carnegy 2006, S. 280–286.

4.3  Zwischenfazit: Der heilige Wald – ein Ort der E­ rlösung?       361

onsgeschichte des PARSIFAL.«1185 Das »Mosaik der Sinnzusammenhänge« versetzte das Publikum in eben jene Momente,1186 die für die politische Instrumentalisierung des Stücks von besonderer Bedeutung waren: das Wilhelminische Kaiserreich, der Vorabend des Ersten Weltkrieges, die Ausrufung der Weimarer Republik, die Machtergreifung der Nationalsozialisten sowie das zerbombte Deutschland nach 1945. Ein Zimmer in der Villa Wahnfried wurde zum Handlungsort, an dem die fiktiven und historischen Szenen sowie die Spielräume des Bühnenweihfestspiels heraufbeschworen wurden. Über die Beweggründe für dieses Inszenierungskonzept schreibt Mark Schachtsiek, der als Assistent der Produktionsdramaturgie in die Konzeption der Aufführung eingebunden war: Wohl kein anderes Werk ist in der Musikgeschichtsschreibung derart unterschiedlich bewertet worden wie PARSIFAL[.] [...] [E]ine religiös innere Friedensbotschaft und [...] Hitlers ›Millionenmord an den europäischen Juden wurde[n] zu[] bleibenden Spur[en], die Wagners PARSIFAL in der Geschichte hinterlassen hat‹.1187

In der Fülle der sich oftmals überlagernden Lesarten wird den Inszenierungen, die außerhalb Bayreuths stattfanden, kein Raum gewährt. Dabei muss festgehalten werden, dass die ab 1914 latent vorherrschende Nationalisierung des Parsifal keineswegs Bestandteil der Produktionsästhetik der Aufführungen war, die im Rahmen dieser Fallstudie beispielhaft für die Neuinszenierung nach der Bühnenfreigabe diskutiert wurden. Die Bühnenbildner Joseph Urban, Hans Wildermann und Gustav Wunderwald strebten ausnahmslos nach neuen ästhetischen Lösungen, um sich von der Bayreuther Musterinszenierung dezidiert abzusetzen. Gewiss darf man nicht außer Acht lassen, dass das Zeitgeschehen die Rezeption einer Theateraufführung überlagert. In den vorangegangenen Kapiteln zeigte sich dies sowohl im Kontext der Gastspiele der Mirakel-Inszenierung als auch aus produktionsästhetischer Perspektive in Bruno Tauts Auseinandersetzung mit der durch Krieg zerstörten Kathedrale von Reims.1188 Was die Parsifal-Neuinszenierungen betrifft, so scheint in manchen Rezensionen der Nationalisierungsdiskurs durchaus auf. Allerdings verwebt sich das Politische erst dann mit der eigentlichen Aufführung, wenn diese mit der Bayreuther Uraufführung verglichen oder von unmittelbar erlebten, einschneidenden Ereignissen überlagert wird. Dies trifft auf Niessens Beschreibung von Wildermanns Waldbild ebenso zu wie auf eine Rezension Alfred Holzbocks (1857–1927), der die ideologische Vereinnahmung des Parsifal durch den Bayreuther Kreis dezidiert ablehnte: [D]a er allen gehört, beweist er eine Kraft, an der die Zeitereignisse machtlos zersplittern. Keine Politik, kein Schaffen gegenwärtiger Meister – und seien sie am heißesten

1185 Mösch 2010, S. 233 (Hervorh. S. M.). Siehe hierzu weiterführend Goldhammer 2011; Meier-Dörzenbach 2009 u. Meier-Dörzenbach 2008. 1186 Schachtsiek 2010, S. 259. 1187 Schachtsiek 2010, S. 265 (Hervorh. M. S.). 1188 Vgl. hierzu Kapitel 2.2 u. 3.3.1.

362       4  Der heilige Wald: Die Parsifal-Inszenierungen nach 1914 in der Mode – interessiert im Augenblick die Menschheit. Alle Welt, ohne Unterschied der Nationalität, wartet nur begierig auf die Ankunft des Herrn Parsifal aus Bayreuth.1189

Richard Wagner selbst wollte mit dem Parsifal keineswegs bewusst eine nationale Ideologie verbreiten, sondern vielmehr mit der Ästhetik des Bühnenweihfestspiels eine neue Form von Theater initiieren. In diesem Streben liegt auch einer der Gründe, warum die rechtspolitischen Bewegungen einer Aufführung des Parsifal ambivalent gegenüberstanden, obschon sie den Stoff für sich beanspruchten. Stephan Mösch hat bereits darauf hingewiesen, dass Parsifal als ›reiner Tor‹, welcher durch seine Fähigkeit des Mitleidens zum Erlöser wird, sich einer Instrumentalisierung für Propagandazwecke entzog.1190 Bezeichnenderweise nutzte der Direktor der Metropolitan Opera, Giulio Gatti-Casazza, eine pazifistische Argumentation, um die Neuinszenierung des Parsifal in New York nach dem Ersten Weltkrieg zu rechtfertigen: »[L]et us say [...] that no war, no human stupidity, no contumacy can obscure the fact that Richard Wagner created a new musical world which no force ever can destroy or depreciate.«1191 Eine ambivalente Haltung gegenüber dem Parsifal-Stoff hielt sich daher auch unter den Nationalsozialisten aufrecht, weshalb während des Krieges keine Aufführungen in den politischen Zentren Berlin und München stattfanden. Im Gegensatz zu der Untermauerung der Kriegsbegeisterung durch eine Inszenierung des Parsifal im Jahr 1914 wurde während der Bayreuther ›Kriegsfestspiele‹, zu denen zwischen 1940 und 1944 eine erlesene Gästeschar dem Führer nach Bayreuth folgte, auf eine Aufnahme des Stücks in den Spielplan gänzlich verzichtet.1192 Die ambivalente Auslegung des Parsifal als vage religiöse Überhöhung einerseits und als pazifistische Interpretation andererseits veranschaulicht nicht nur die extreme Kluft der Deutungen, die das Bühnenweihfestspiel eröffnete. Vielmehr soll abschließend auch noch einmal über das künstlerische Gestaltungselement und die Metapher der Lichtung nachgedacht werden. Anhand der »[a]n Aussagefähigkeit und subtiler Wandlungsmöglichkeit [unvergleichlichen] Lichtmetapher« hat Hans Blumenberg den Wandel des Welt- und Selbstverständnisses der Menschheit dargelegt.1193 Ausgehend von der Auslegung als universale Seinsmetapher in der griechischen Antike zeigt er den Bedeutungswandel des Lichts als eine Metapher für die Gegenwart Gottes in der christlichen Tradition zu einer Metapher für die aufklärerische Geisteshaltung auf.1194 Im Prozess der Lichtung, die zu einer der zentralen Strategien der Sakralisierung des Parsifal im frühen 20. Jahrhundert wurde, lösen sich die räumlichen Grenzen und das massive Dickicht des Waldes nach und nach auf. Das Ergebnis ist eine Waldlandschaft aus Licht und Farbe. Diese Form 1189 Holzbock 1914. 1190 Vgl. Mösch 2009, S. 383. Siehe hierzu auch Steinhoff 2012, S. 393. 1191 The New York Tribune 1920b. 1192 Der Parsifal wurde weiterhin in Dresden, Frankfurt am Main, Hamburg und Wien aufgeführt, weshalb man nicht, wie Katherine Syer herausgestellt hat, von einer konsequenten Verbannung aus dem Spielplan sprechen kann. Vgl. hierzu Syer 2005, S. 304 f. u. weiterführend Gibson 1999. 1193 Blumenberg 2001, S. 140. Zur Metapher der Lichtung siehe ausführlich Kapitel 4.2.3. 1194 Vgl. hierzu ausführlich Blumenberg 2001, S. 139–171.

4.3  Zwischenfazit: Der heilige Wald – ein Ort der E­ rlösung?       363

der Entmaterialisierung stellt einen absoluten Kontrast zu der konkreten physischen Repräsentation des ›Ewigen Waldes‹ und dessen Ausdruck von physischer Stärke und archaischer Monumentalität dar. Jene Tendenz der Auflösung der Szene ist sowohl der konstruierten historischen Fixierung durch die Topografie Bayreuths als auch der ideologischen Verdichtung von Wagners Erbe durch die deutschnationale Bewegung und die Nationalsozialisten diametral entgegengesetzt. Statt durch eine statische Waldästhetik die Rezeptionshaltung des Publikums gezielt vorzuprägen, eröffnet die Waldlichtung vielmehr einen grenzenlosen Imaginationsspielraum.

5 Schlusswort: Szenen des Heiligen – Mehrdeutigkeit und Ambivalenzen Die Inszenierung der Gralslegende in der Uraufführung von Richard Wagners Parsifal markierte im Jahr 1882 den Beginn der sakralen Aufladung von darstellender Kunst. Die Szenografiekonzepte von Norman Bel Geddes, Ernst Stern, Bruno Taut, Joseph Urban, Gustav Wunderwald und Hans Wildermann stehen beispielhaft für die Wiederbelebung des Heiligen im Theater des frühen 20. Jahrhunderts. Herausgelöst aus dem religiös-liturgischen Umfeld wurde das Heilige als Erfahrungsmoment in einen ästhetischen Kontext überführt. In der Verschränkung kunsthistorischer und theaterwissenschaftlicher Methoden hat die Untersuchung des umfangreichen Materialbestandes die Vielfalt von Erlebnisqualitäten des Heiligen aufgezeigt, die das Theater der Moderne evozieren konnte. Indem die Analysebeispiele in einem komplexen Geflecht kultureller Referenzsysteme verortet wurden, konnte die kulturhistorische Mehrdeutigkeit des Heiligen in dieser Zeit herausgestellt werden. So führte die Anwendung des Begriffs der heiligen Szene über die Sakralisierungsstrategien des Theaters weit hinaus und eröffnete eine zusätzliche Perspektive auf übergeordnete kulturelle Diskurse und Phänomene. Um eine verkürzende Sichtweise auf die Komplexität des Wechselverhältnisses von Theater, bildender Kunst und Religion im frühen 20. Jahrhundert zu vermeiden, soll diese Zusammenfassung die Ergebnisse nicht nochmals in aller Ausführlichkeit erörtern, sondern zugespitzt auf zwei zentrale Thesen diskutieren: 1. Die ästhetische Wirkungskategorie des Heiligen erwies sich als ein vielschichtiges Phänomen, das in jeder Inszenierung neu verhandelt wurde; 2. muss die Inszenierung des Heiligen im Theater als eine Bezugsfolie für die Ambivalenzen und Widersprüche fortschreitender Modernisierungsprozesse begriffen werden. Abschließend soll ein Ausblick auf weiterführende Forschungsperspektiven gegeben werden, die sich aus dem kunsthistorischen Zugriff dieser Studie ergeben können. Die Vieldeutigkeit des Heiligen im Theater der Moderne

Anhand der verschiedenen Inszenierungen des frühen 20. Jahrhunderts konnte veranschaulicht werden, dass das Heilige einem stetigen Aushandlungsprozess unterlag. Dabei erwies es sich nicht als eine feste religiöse Bedeutungszuweisung, sondern als eine ästhetische Wirkungskategorie, die auf die Hervorbringung einer sakral aufgeladenen Atmosphäre abzielte. Die im Rahmen der Fallstudien im Einzelnen erläuterten Strategien der Sakralisierung kamen auf unterschiedliche Weise zum Einsatz und wurden in jeder Inszenierung individuell anders rezipiert. So war die heilige Szene für Max Reinhardt insbesondere aus formalen Gründen von Interesse. Die Strategien der sinnlichen Affizierung und der Überwältigung, die er katholischen

366       5  Schlusswort: Szenen des Heiligen – Mehrdeutigkeit und Ambivalenzen

Festgottesdiensten und Wallfahrten entlehnte, dienten ihm als Bezugsfolie, um sein Mirakel als ein spektakuläres Theaterwunder zu inszenieren. Die abstrakt symbolische Farb- und Lichtwirkung Bruno Tauts und Hans Wildermanns hingegen zielte auf eine metaphorische Überhöhung des Heiligen. Durch die zunehmende Entmaterialisierung der Szene wurde die Sinneswahrnehmung der Zuschauer auf besondere Weise herausgefordert, um so ein außeralltägliches Erfahrungsmoment freizusetzen. Das Referenzsystem der gotischen Kathedrale diente in diesen Beispielen als eine Projektionsfläche, um abstrakte Kunstformen zu legitimieren. Joseph Urbans und Gustav Wunderwalds Raumkonzepte für die Neuinszenierung des Parsifal müssen gewissermaßen als eine Scharnierstelle zwischen der Tradition der Repräsentation des Heiligen, wie sie noch bis in das späte 19. Jahrhundert verfolgt wurde, und den Abstraktionstendenzen des frühen 20. Jahrhunderts verstanden werden. Durch die Analyse einer spezifischen Auswahl von Inszenierungsbeispielen wurde die Mehrdeutigkeit der heiligen Szene in der Moderne klar aufgezeigt. Gleichzeitig vereinten sich im Phänomen der Wiederbelebung des Heiligen zentrale ästhetische Anliegen der Künstler und Theatermacher der Moderne, die zu Beginn dieser Arbeit thesenartig formuliert wurden und die sich als übergeordnete Lesarten in allen Fallstudien wiederfinden. In der Auseinandersetzung mit aktuellen kunst-, kultur- und theaterwissenschaftlichen Theorieansätzen zur kulturellen Erinnerung und zum Bildgedächtnis wurde der Dialog zwischen der Moderne und dem Mittelalter als eine zentrale Schnittstelle herausgearbeitet. Allerdings dienten die mittelalterliche Architektur und Kunst weniger als strenge formale Vorbilder. Vielmehr bot die Auseinandersetzung mit der vergangenen Epoche eine Reibungsfläche, um künstlerische Grenzen auszuloten, Traditionen aufzubrechen und eigene Kompositionen zu erproben. Über einzelne architektonische und bildkünstlerische Versatzstücke, kulturell tradierte Symbole, habituelle Praktiken sowie sinnlich-ästhetische Assoziationen blieben die historischen Vorbilder für das Publikum weiterhin erkennbar und stützten das Weiterleben des Heiligen in der Moderne. Das Spannungsverhältnis von Mittelalter und Moderne zeichnete sich dabei durch eine Vielzahl kultureller Referenzsysteme und eine Überlagerung verschiedener zeitlicher Ebenen aus. Besonders deutlich wurde dies etwa in der Aneignung von mittelalterlichen und modernen Pilgerpraktiken, die sowohl am Beispiel von Wagners Parsifal als auch von Reinhardts Mirakel dargelegt werden konnte. Darüber hinaus zeugen die im Rahmen dieser Forschungsarbeit untersuchten Inszenierungen und künstlerischen Konzepte von einer Neudefinition des Wahrnehmungsverhaltens der Rezipienten. Die mannigfachen Experimente mit den räumlichen Dimensionen und Gegebenheiten des Theatergebäudes, wie Wagners Festspielhaus in Bayreuth, Reinhardts Arenainszenierung in der Londoner Olympia Hall, die riesige Schiebebühne im Deutschen Opernhaus in Charlottenburg sowie Tauts Pläne für einen ›grenzenlosen Theaterraum‹ veranschaulichen das Bestreben, die starre Trennung zwischen dem Bühnengeschehen und dem Zuschauerraum aufzuheben. In allen Inszenierungen war es maßgeblich das performative Potenzial des Lichts, dem die Funktion zukam, eine Einheit zwischen den Schauspielern, Zuschauern und dem sie umgebenden Raum herzustellen. Dabei erwies sich die szenische Beleuchtung als das zentrale Gestaltungselement in der Konstruktion sakraler Räu-

5  Schlusswort: Szenen des Heiligen – Mehrdeutigkeit und Ambivalenzen       367

me und der Hervorbringung von heiligen Szenen. Die Lichtregie des Avantgardetheaters orientierte sich dabei an der Lichtwirkung gotischer Kathedralen, der Materialästhetik mittelalterlicher Skulpturen oder der Lichtbrechung von Kristallen. Als Symbol des Göttlichen und Träger einer feierlichen und der Wirklichkeit entrückten Atmosphäre wurde das Licht zu dem Medium einer transzendentalen Erfahrung. So markierte die szenische Beleuchtung nicht nur die Grenzüberschreitung in eine Sphäre der Transzendenz, sondern vermochte im Zusammenspiel mit anderen medialen Strategien auch eine ästhetische Schwellenerfahrung und einen Transformationsprozess der beteiligten Akteure zu evozieren. Die Ästhetik des festlichen Spiels bot eine geeignete Form der Sakralisierung von Theater. Abseits der realen Lebenswelt wurden die Zuschauer für eine außeralltägliche Erfahrung sensibilisiert und in den Zustand einer temporären ästhetischen Gemeinschaft versetzt. Darin äußert sich ein neues performatives Verständnis vom Theater, in dem alle Beteiligten einer Aufführung als Mitspieler eines festlichen Spiels begriffen wurden. Die aktive Teilhabe war in den Inszenierungen allerdings unterschiedlich ausgeprägt. Sollte die theatrale Gemeinschaft der Mirakel-Inszenierungen an eine Kirchengemeinde erinnern, die Zeuge eines Wunders wurde, zielten Bruno Tauts und Hans Wildermanns Szenografiekonzepte auf das kollektive Erleben als eine synästhetisch-körperliche Sogwirkung. Heilige Szenen – Szenen der Ambivalenz

In den vorangegangenen Fallstudien wurde die in der Forschung geläufige Argumentation, Gemeinschaft und Religion eröffneten in Zeiten gesellschaftlicher und politischer Unruhen einen verheißungsvollen Zufluchtsort, kritisch diskutiert. Sicherlich lassen sich die künstlerischen Visionen zu Einheits- und Gesellschaftsmodellen als einen Versuch deuten, das Krisengefühl vor und nach dem Ersten Weltkrieg und die Verunsicherung des Einzelnen in der Anonymität der Großstädte zu überwinden. Jedoch plädiert diese Studie auch dafür, dass die Inszenierung des Sakralen – neben einer ästhetischen Idealisierung und sozialen Utopie – auch eine Projektionsfläche lieferte, um die aktuelle gesellschaftliche Situation zu reflektieren. So erfuhr die heilige Szene eine Aktualisierung im Sinne des Kunst- und Weltverständnisses jener Zeit, um eine Perspektive auf die eigene Welt zu bieten. Vielfach konnte aufgezeigt werden, dass das historische Zeitgeschehen den Produktions- und Rezeptionsprozess durchdringen konnte. Das kollektive Kunsterlebnis, auf das beispielsweise die Großraum- und Masseninszenierungen abzielten, konfrontierte die Zuschauer mit einem Phänomen ihrer Zeit. Darüber hinaus dienten die monumentalen Sakralräume auch deshalb als Vorbild, weil ihre Dimensionen eine geeignete Hülle für die modernste Bühnenmaschinerie und innovativste Beleuchtungstechnik boten. In den hier untersuchten Projekten gingen Architektur, Klang, Szenografie und Theater eine außergewöhnliche Synthese ein, in der Wagners Idee des Gesamtkunstwerks um das Medium der Technik erweitert wurde. Das Zusammenspiel von Raum, Beleuchtungs- und Bühnentechnik führte zu einer Dynamisierung der Wahrnehmung, einer Intensivierung der synästhetischen Wirkung und einem multisensorischen Raumerlebnis. In der Verbindung der einzelnen gestalterischen Medien brachte das Licht neue Räume hervor, die das Publikum zu unmittelbaren Affektreaktionen anregen und überwältigen sollte. Bekannte Formen der Lichtwahr-

368       5  Schlusswort: Szenen des Heiligen – Mehrdeutigkeit und Ambivalenzen

nehmung aus der alltäglichen Lebenswelt, wie etwa der Einfall des Tageslichts durch ein Kirchenfenster oder aber das Flackern der Leuchtreklame auf der Straße, wurden in die Inszenierung integriert, um so die sinnliche Affizierung der Zuschauer zu steigern. Wie auch anhand der zeitgenössischen wissenschaftlichen Untersuchungen zu Licht- und Wahrnehmungsphänomenen aufgezeigt werden konnte, reflektierten die Theaterexperimente das beschleunigte Perzeptionsverhalten und die Sinneseindrücke in den elektrifizierten Großstädten. Als ein prägnantes Beispiel für das ambivalente Verhältnis von antimodernistischem Eskapismus und einer zukunftsweisenden Erneuerung soll noch einmal der Aspekt des Topografischen aufgeführt werden. In der Sakralisierung des ›Grünen Hügels‹ in Bayreuth, der Darmstädter Mathildenhöhe, der Gartenstadt Hellerau, des Monte Verità sowie der Zusammenkünfte der Künstlerkolonien im Berliner Umland äußerte sich in der Tat ein Rückzug von elitären Gemeinschaften aus den industrialisierten Großstädten. Die Inszenierungen in den Metropolen stellten allerdings einen Gegenentwurf zu dieser eskapistischen Tendenz dar: Für die Inszenierungen des Mirakel und des Parsifal in Berlin, London und New York wurden Strategien der Sakralisierung und der Kommerzialisierung sowie technische Errungenschaften gezielt verbunden, um den modernen Großstadtbewohnern einen zeitgemäßen, aber nicht weniger feierlichen Rahmen für ein außeralltägliches Erlebnis zu bieten. Jene heiligen Szenen wurden zu ästhetischen Erfahrungsräumen für ein modernes Publikum, in denen Formen und Praktiken einer dezidiert modernen Spiritualität ausgehandelt wurden. Die im Rahmen dieser Studie vorgestellten Inszenierungen und künstlerischen Projekte knüpfen an eine langanhaltende Debatte an, die seit dem späten 19. Jahrhundert kontrovers geführt wurde und den ambivalenten Charakter der Moderne selbst offenlegt. Friedrich Nietzsche propagierte die Nivellierung des Ordnungssystems Religion und forderte zu der Erneuerung der Gesellschaft durch die Kraft der Kunst auf. Mit dieser Forderung war der Appell an eine junge Künstlergeneration gerichtet, neue Strategien zu entwickeln, um die Kunst in den Status des Sakralen zu erheben. Wagner hingegen suchte durch das ästhetische Erlebnismoment von Heiligkeit eine Kunstreligion zu schaffen, wobei er sich dabei an Symbolen und Strategien des Christentums orientierte, die Nietzsche dezidiert ablehnte. Am Beispiel der ParsifalInszenierungen konnte eine inhärente Ambiguität von Modernisierungsbestreben und gleichzeitigem Verharren in der Tradition deutlich gemacht werden. In diesem dialektischen Spannungsverhältnis bewegten sich auch die Bühnenbildner, Künstler und Theatermacher des frühen 20. Jahrhunderts. Die heiligen Szenen dienten auch als eine Projektionsfläche für Idealvorstellungen und Weltbilder der Zeit. So hat die Untersuchung aufgezeigt, dass das Streben nach Gemeinschaft, auch wenn es unterschiedlichen ästhetischen Motiven unterlag, ein wesentliches Bindeglied der Sakralisierungstendenzen im Theater der Moderne war. Nicht nur, indem sie Raum, Licht, Farbe und Klang in einen harmonischen Einklang brachten, folgten die Bühnenbildner, Künstler und Regisseure Wagners ästhetischer Vision des Gesamtkunstwerks. Vielmehr führten sie sein in der Schrift Das Kunstwerk der Zukunft manifestiertes Ideal von der Einheit der bildenden und darstellenden Künste in der Neudefinition des Verhältnisses von Kunst und Leben

5  Schlusswort: Szenen des Heiligen – Mehrdeutigkeit und Ambivalenzen       369

fort. Dabei rekurrierten Intellektuelle, Künstler und Theatermacher auf ein kulturell tradiertes Bild. In Zeiten der fortschreitenden Säkularisierung wurde die gotische Kathedrale als Modell und Sinnbild der Erneuerung der Gesellschaft im Sinne des Gesamtkunstwerks verklärt. Bruno Taut und Walter Gropius imaginierten die ›Zukunftskathedrale‹ als Symbol einer idealen Lebenswelt und erweiterten den Volkstheatergedanken, den Richard Wagner erstmals formuliert und Max Reinhardt vor dem Ersten Weltkrieg aktualisiert hatte. Inge Baxmann hat betont, dass »›Gemeinschaft‹ und ›Gesellschaft‹ [...] ein Gegensatzpaar [bilden], das in den Diskursen der Moderne stets zusammengehört, sich gegenseitig definiert«.1195 In den utopischen Gemeinschaftsentwürfen der Weimarer Republik drückte sich einerseits eine dezidierte Kritik an den bestehenden Verhältnissen und den Folgen der schonungslos fortschreitenden Modernisierung aus. Andererseits, und dies ist bezeichnend, bezogen sich die Künstler in ihrem progressiv erscheinenden Willen zur Reform nicht nur mit ihren formalen Anleihen, sondern auch mit dem Bestreben, einen neuen ›Glauben‹ zu initiieren, wieder auf die Strukturen der kirchlichen Tradition, insbesondere des Katholizismus. Die Referenzen auf die Sakralkunst des Mittelalters, die religiös aufgeladene Lichtinszenierung und die Übernahme tradierter Frömmigkeits- und Pilgerpraktiken dienten explizit der Rechtfertigung neuer künstlerischer Positionen. Gleichzeitig blieb die kirchliche Weltordnung und der damit verbundene universale Anspruch der maßgebliche Bezugsrahmen für die kulturelle Sinnproduktion und alternative Lebens- beziehungsweise Weltentwürfe. Der Historiker Thomas Nipperdey, der sich eingehend mit dem Stellenwert der Religion im frühen 20. Jahrhundert befasst und Modernisierungstendenzen in den christlichen Konfessionen untersucht hat, stellt mit einem Blick auf die künstlerischen Reflexionen dieser Prozesse die Religion als zentralen Antrieb der Reformbewegungen heraus: Weil die großen Probleme der Zeit zwischen Tradition und Modernität und den gegensätzlichen Weisen der Modernität [...] in ihren säkularen Formen konfessionell durchgeprägt waren, [...] haben die so unterschiedlichen Aufbrüche des Jahrhundertbeginns eine so starke religiöse oder metareligiöse Dimension, darum war Religion [...] ein so zentrales Stück des Lebens – des Einzelnen, der Gesellschaft, des Staates, Grund wie Ausdruck der die Zeit beherrschenden Ambivalenzen.1196

Aus diesem komplexen Wechselverhältnis zwischen Säkularisierung und Re-Sakralisierung resultierten schließlich die vielfältigen Erscheinungsformen und Neubewertungen des Religiösen durch die Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller. Dabei hat die eingehende Analyse der schriftlichen Quellen verdeutlicht, dass die künstlerischen Projekte durch die bildhafte und spirituell aufgeladene Rhetorik der ästhetischen Theorie sowie der Kunst- und Theaterkritik vorbereitet, getragen und reflektiert wurden. Schließlich ist die Wahrnehmung der Sakralisierungstendenzen in den Theaterinszenierungen des frühen 20. Jahrhunderts und des damit verbundenen ästhetischen wie 1195 Baxmann 2000, S. 7. 1196 Nipperdey 1988b, S. 615.

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Abb. 158: Albert Speer, Lichtdom, Reichsparteitagsgelände der NSDAP auf dem Zeppelinfeld, Nürnberg, 1937.

gesellschaftlichen Reformbestrebens aus der heutigen Perspektive ebenfalls durch Widersprüche gekennzeichnet. Auch wenn die Untersuchung der Produktionsästhetiken und Zielvorstellungen jener Theatermacher davon nicht überlagert werden sollten, schwingt das unbehagliche Wissen um die Ereignisse nach 1933 und die politische Inanspruchnahme des Theaters unweigerlich mit. Vom 6. bis 13. September 1937 versammelten sich die Mitglieder der NSDAP zum Reichsparteitag auf dem Zeppelinfeld in Nürnberg. Zu diesem zwischen 1932 und 1939 jährlich stattfindenden Großereignis sollte der Architekt Albert Speer (1905–1981) einen neuartigen Raum unter freiem Himmel schaffen. Speer hatte seine Ausbildung bei Heinrich Tessenow absolviert, der in Hellerau den architektonischen Rahmen für Appias und von Salzmanns Idee einer leuchtenden ›Kathedrale der Zukunft‹ errichtet hatte. Dass Speer dieses Vorbild konsequent für seine politische Manipulationsarchitektur umwertete, verdeutlicht eine historische Fotografie (Abb. 158): Zahlreiche Flakscheinwerfer, deren Lichtstrahlen in unüberschaubarer Höhe in den dunklen Nachthimmel reichen, bilden einen klar abgesteckten Bereich. In gleichmäßigem Abstand platziert, erzeugen die steil aufragenden Scheinwerfer einen in sich geschlossenen Raum, der rund 150.000 dicht an dicht gedrängte Menschen fasst. Darin sticht die Ehrentribüne, auf der Adolf Hitlers Führerrede inszeniert wurde, in gleißendem Licht heraus.1197 Speer selbst beabsichtigte, den »Eindruck eines riesigen Raumes, bei dem die einzelnen Strahlen wie gewaltige Pfeiler unendlich hoher Außenwände« erscheinen, zu erzeugen.1198 Mit der programmatischen Bezeichnung ›Lichtdom‹ sollte zielgerichtet auf die mittelalterliche Kathedrale und die christlich konnotierte Lichtsymbolik Bezug genommen werden, um eine neue visuelle Metapher des totalitären Systems zu schaffen. Neben der Lichtinszenierung des Geländes als Ort der Machtdemonstration dienten Fackelaufmärsche als weitere Illuminationsstrategie des Parteitages. So sind auch in der Fotografie kleine Flammen zu erkennen, wodurch die Anlehnung an die Lichterprozessionen katholischer Wallfahrtsorte offenkundig 1197 Vgl. u. a. Hoormann 2003, S. 292–300; James-Chakraborty 2002, S. 181–201 u. JamesChakraborty 2000, S. 87–94. Zum Lichtdom als Propagandamedium siehe Krauter 1998, S. 148–237. Zur ›Kathedrale der Zukunft‹ siehe Kapitel 3.4. 1198 Speer 1969, S. 71.

5  Schlusswort: Szenen des Heiligen – Mehrdeutigkeit und Ambivalenzen       371

wird. Es wird deutlich, wie sehr sich die Nationalsozialisten die Qualität von Licht zu Nutze machten, um hypnotisch auf die versammelten Parteianhänger einzuwirken. Die Menschen, die sich in diesem Lichtdom befanden, sollten sich als geschlossene Einheit fühlen und dieses Identitätsgefühl auch nach außen demonstrieren. Während das Publikum zu einer gleichförmigen Masse verschmolz, wurden die Auftritte des Führers als ›Erlöser‹ durch ein gezieltes Aufleuchten der Lichtsäulen in Szene gesetzt. Auf diese Weise sollte der Lichtdom die Kollektiverfahrung der feierlichen Großveranstaltungen fest im Gedächtnis der deutschen Bevölkerung verankern.1199 Die Inszenierung des Heiligen im frühen 20. Jahrhundert muss in erster Linie als ein ästhetisches Laboratorium begriffen werden, durch das die Bühnenbildner, Künstler und Regisseure neue Raumwirkungen, die Bewegung der Massen und die Erfahrungsqualitäten der szenischen Gestaltungselemente erprobten. Die Theaterform des festlichen Spiels diente dem Experimentieren mit Strategien der sinnlichen und emotionalen Affizierung sowie der Überwältigung. Am Beispiel der Instrumentalisierung des Parsifal und des ›deutschen Waldes‹ konnte bereits in der vorangegangenen Fallstudie verdeutlicht werden, dass die Nationalsozialisten die ästhetischen Strategien des Theaters für ihre Propagandazwecke auszunutzen wussten. Joseph Goebbels’ (1897–1945) Plan eines ›Theaters der Fünfzig- und Hunderttausend‹ war unmittelbar an die Ideen eines Volksfestspiels und -theaters angelehnt, die im frühen 20. Jahrhundert virulent waren. Mit der Referenz auf Max Reinhardts Masseninszenierungen verleibte sich Goebbels die rein ästhetisch gedachte Theaterform eines jüdischen Regisseurs ein, den der politische Druck gezwungen hatte, die Leitung des Deutschen Theaters in Berlin aufzugeben und nach Amerika auszuwandern.1200 Während die ästhetische Gemeinschaftsbildung, die im Rahmen der vorangegangenen Fallstudien diskutiert wurde, eine für die Dauer der Aufführung begrenzte ästhetische Erfahrung war, zielten die Inszenierungsstrategien der Nationalsozialisten auf die dauerhafte Hervorbringung der Identität einer Volksgemeinschaft des ›Tausendjährigen Reiches‹. Obschon religiöse Glaubensgemeinschaften im eigenen Land unterdrückt und politisch verfolgt wurden, verfremdeten die Nationalsozialisten religiös konnotierte Rituale und Symbole, um ihre Politik als Ersatzreligion und einzige einheitsstiftende Macht zu artikulieren.1201 Zuletzt inszenierte Speer im Jahr 1939 eine monumentale Lichtarchitektur. Sein ästhetisches Medium wurde während des Zweiten Weltkrieges von der Luftwaffe zu seinem eigentlichen Zweck, der militärischen Verteidigung, zurückgeführt. Dieselben Flakscheinwerfer ließen die Himmel der deutschen und europäischen Großstädte hell erleuchten und wurden zum Synonym tödlicher Bombenangriffe. Rückblickend hat sich somit auch Speers Lichtdom als dunkler Erinnerungsort an die utopische Allmachtsfantasie der Nationalsozialisten in das kulturelle Gedächtnis der Deutschen eingeschrieben.1202 1199 Hoormann bezeichnet diese Überwältigungsstrategie als ästhetischen Schockzustand der Masse. Vgl. Hoormann 2003, S. 296. Siehe weiterführend Telesko 2004, S. 165–169 u. James-Chakraborty 2002. 1200 Siehe weiterführend Marx 2006a, S. 191–219. 1201 Vgl. Fischer-Lichte 2005b, S. 255. Siehe hierzu umfassend u. a. Strobl 2009 u. Vondung 1971. 1202 In seinem Bühnenbildentwurf für Jürgen Flimms Inszenierung von Goethes Faust I am Schauspiel Köln im Jahr 1983 zeigt Erich Wonder den Dom als eine entmaterialisierte Ar-

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Ausblick

Constanze Schuler hat in ihrer Studie zur Kollegienkirche als Aufführungsort von Theaterinszenierungen im Rahmen der Salzburger Festspiele auf zwei grundlegende Desiderate in der theaterwissenschaftlichen Forschung verwiesen: erstens die uneinheitliche Verwendung des Begriffs ›Raum‹ in der Theaterwissenschaft und zweitens die geringe Anzahl systematischer Analysen zum Verhältnis von Raum, Inszenierung und Rezeption.1203 In ihrer Monografie erweitert sie darum die theaterwissenschaftliche Inszenierungsanalyse um eine kulturwissenschaftliche Perspektive. Dabei greift sie neben Ansätzen aus der Soziologie, Philosophie, Ethnologie, Theologie und Musikwissenschaft auch auf Methoden der Architektur- und Kunstgeschichte zurück. So widmet sie ein Kapitel der Beschreibung der Architektur der barocken Kollegienkirche als ›inszeniertem‹ Raum. Was die ästhetischen Strategien der Inszenierungen betrifft, so konzentriert sich die Theaterwissenschaftlerin insbesondere auf die Annäherung an das Raumkonzept über Regiebücher, Szenenfotografien und Theaterkritiken. Diese Herangehensweise nimmt in erster Linie die Semantisierung sakraler Räume im Theater durch den Rezipienten in den Blick. Die vorliegende Studie hat verdeutlicht, dass sich mithilfe kunstwissenschaftlicher Terminologien und Methoden ein wesentlicher Beitrag zu der Analyse von szenischen Raumkonzepten vergangener Inszenierungen leisten lässt, von dem die theaterwissenschaftliche Forschung profitieren kann. Unter Berücksichtigung der Forschungsansätze der Bildwissenschaft und der kunstwissenschaftlichen Rezeptionsästhetik konnte ein stärkerer Fokus auf die Wechselbeziehung von Produktions- und Rezeptionsebene sowie von Bildrepertoire und Bildgedächtnis gelegt werden. Erst in der Zusammenschau von Bühnenbildentwürfen, -modellen, Kostümfigurinen, Autografen und Rezeptionsdokumenten kann eine angemessene Annäherung an die Imagination, Konstruktion, Inszenierung und Rezeption heiliger Szenen erfolgen. Diese Forschungsarbeit erhebt keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern hat anhand von exemplarischen Fallstudien einen Einblick in die Komplexität des Wechselverhältnisses von Theater, bildender Kunst und Religion in der Moderne gegeben. So soll auch ein Anstoß für weiterführende Forschungen aus interdisziplinärer Perspektive geliefert werden. Anhand des Materialbestandes zu zahlreichen Inszenierungen des frühen 20. Jahrhunderts lässt sich eine Vielzahl ästhetischer Strategien der Sakralisierung und neuer Lesarten aufzeigen. In dieser Studie wurde zwar ein klarer Fokus auf Künstler des deutschen Sprachraums gelegt, diese bewegten sich allerdings in einem dynamischen kulturellen Austausch in ganz Europa und bis nach Amerika. Von Relevanz wäre demnach eine Ausweitung des Forschungsfeldes auf Inszenierungen in anderen Bühnenzentren dieser Zeit. So wurden etwa um 1900 noch zahlreiche Neubauten russisch-orthodoxer Kirchen in ganz Europa errichtet. Wie wurde Religion im russischen Theater nur wenige Jahre später vor dem Hintergrund der revolutionären Umbruchssituation im Land verhandelt? Auch wäre eine vergleichende Perspektive auf Émile Verhaerens zu Beginn erwähntes Stück Das Kloster denkbar, die Henry van de Veldes Inszenierung des Heichitektur aus einzelnen Lichtsäulen und gemahnt damit an Speers Lichtarchitektur. Siehe Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Inv.-Nr. 36076/36077. 1203 Vgl. Schuler 2007, S. 35–47.

5  Schlusswort: Szenen des Heiligen – Mehrdeutigkeit und Ambivalenzen       373

ligen im Spannungsfeld von belgischem Symbolismus, der ästhetischen Ausrichtung des Werkbundes im Allgemeinen und der Präsentation des Ars sacra-Vereins auf der Ausstellung des Jahres 1914 beleuchtet. Eine Verortung der Sakralisierungstendenzen des Theaters sollte dabei nicht ausschließlich innerhalb der Kultur einzelner Nationen, sondern mit Weitsicht auf die mannigfachen kulturellen Austauschprozesse dieser Zeit erfolgen. Sowohl die Kunstgeschichte als auch die Theaterwissenschaft hat in den letzten Jahren Impulse geliefert, die Kunst und Kultur des frühen 20. Jahrhunderts über die starren geografischen Grenzen einzelner Länder hinaus zu erforschen. Gerade das Phänomen des Heiligen, dessen Vieldeutigkeit diese Studie herausgestellt hat, eignet sich besonders für eine Geschichtsschreibung der Moderne aus transnationaler Perspektive. So ermöglicht dieser Ansatz, der Kultur als ein dynamisches und heterogenes Konstrukt auffasst, neue Blickwinkel auf künstlerische Aneignungsstrategien, gesellschaftliche Wertevorstellungen sowie Fragen von Religion und Gemeinschaft.1204

1204 Vgl. Schweitzer 2015; Rampley/Lenain 2012; Pernau 2011 u. Piotrowski 2009.

Abbildungsverzeichnis Trotz intensiver Recherchen war es nicht in allen Fällen möglich, die Rechteinhaber der Abbildungen ausfindig zu machen. Berechtigte Ansprüche werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten. B = Bühnenbild, M = Musik, P = Premierendatum, R = Regie, T = Text Abb. 1  Johan Thorn Prikker, Ecce Homo, Dreikönigenkirche, Neuss, Einzelscheibe aus dem mittleren Chorfenster, 1912, Fotografie: Stefan Johnen, Glottertal. Abb. 2  Rekonstruktion der Sonderbundkapelle anlässlich der Ausstellung 1912 – Mission Moderne im Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln, 2012, Fotografie: © Raimond Spekking/CC-BY-SA-4.0 (via Wikimedia Commons). Abb. 3  Henry van de Velde, Bühnenbildentwurf zu Émile Verhaerens Das Kloster, Werkbundtheater Köln, R: Victor Barnowsky, P: Juli 1914, Gouache und Kreide auf Karton, 35,2 × 50,5 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018. Abb. 4  Szenenfotografie zu Émile Verhaerens Das Kloster, Werkbundtheater Köln, R: Victor Barnowsky, B: Henry van de Velde, P: Juli 1914, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 5  Szenenfotografie zu Hugo von Hofmannsthals Jedermann, Domplatz Salzburg, R: Max Reinhardt, B: Alfred Roller, P: 22.08.1920, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln. Abb. 6  Wilhelm Willinger, Szenenfotografie zu Hugo von Hofmannsthals Das Salzburger Große Welttheater, Kollegienkirche Salzburg, R: Max Reinhardt, B: Alfred Roller, P: 13.08.1922, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln. Abb. 7  Carl Meyer nach einer Zeichnung von Ernst Friedrich Zwirner, Der Dom zu Cöln im Frühjahre 1851, Stahlstich, in: Kölner Domblatt. Amtliche Mittheilungen des Central-DombauVereins 75 (1851): S. 21, Dombauarchiv Köln, Fotografie: Universitätsbibliothek Heidelberg/ CC-BY-SA-3.0. Abb. 8  Christian Friedrich Traugott Duttenhofer nach einer Zeichnung von Maximilian Heinrich Fuchs, Der Kölner Dom. Aufriss der Südseite in antizipierter Vollendung, Kupferstich, 108 × 75,5 cm, in: Boisserée 1821, Tafel 4, Köln, Kölnisches Stadtmuseum, Inv.-Nr. HM 1953/221 (4), © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_d023 434. Abb. 9  Adolph Wallraf, Gruppe der I. Periode der Grundsteinlegung, Lithografie, in: Historischer Festzug zur Vollendung des Kölner Doms, 1880, Blatt 4, Köln, Kölnisches Stadtmuseum, Inv.Nr. HM 1914/230, © Rheinisches Bildarchiv Köln, 2001, rba_c015 585. Abb. 10  Tony Avenarius, Vollendung des Domes, kolorierte Lithografie, in: Historischer Festzug veranstaltet bei der Feier der Vollendung des Kölner Domes am 16. October 1880, Hamburg: Mühlmeister & Johler, 1880, Tafel 28, Köln, Kölnisches Stadtmuseum, Inv.-Nr. KSM 1973/43, R 323 a, © Rheinisches Bildarchiv Köln, Wolfgang F. Meier, vor 2001, rba_c016 600. Abb. 11  Ernst Ludwig Kirchner, Rheinbrücke in Köln, 1914, Öl auf Leinwand, 120,5 × 91 cm, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, Inv.-Nr. A II 319, © Alexander Koch – ARTOTHEK. Abb. 12  Otto Brückwald, Richard-Wagner-Festspielhaus, Bayreuth, Blick aus dem Zuschauerraum auf die Bühne mit dem Bühnenbild des Gralstempels, um 1911, Postkarte, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert.

376       Abbildungsverzeichnis Abb. 13  Atelier Brückner nach einem Entwurf von Paul von Joukowsky, Bühnenbildmodell »Gralstempel« zu Richard Wagners Parsifal, Richard-Wagner-Festspielhaus Bayreuth, R: Richard Wagner, P: 26.07.1882, 77 × 97 × 128 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Sascha Fuis Fotografie. Abb. 14  Giovanni di Cecco und Giovanni Pisano, Santa Maria Assunta, Siena, Vierung, 1215– 1263, © Raffaello Bencini – Alinari – ARTOTHEK. Abb. 15  Richard Wagner’s Parsifal. Scenische Bilder nach den für die Bayreuther Aufführung gefertigten Decorations- und Costümskizzen, Leipzig: Naumann & Schröder, 1882/83, Lichtdruck Nr. 9, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 16  Otto Brückwald, Richard-Wagner-Festspielhaus vom Bahnhof Bayreuth gesehen, 1875, Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung, Bayreuth. Abb. 17  Anzeige der Firma Heuberger, in: Georg Niehrenheim (Hrsg.), Wegweiser für Besucher der Bayreuther Festspiele, Bayreuth: Niehrenheim, 1912, Nationalarchiv der Richard-WagnerStiftung, Bayreuth. Abb. 18  Festspiel Das Zeichen vor dem Ernst Ludwig-Haus anlässlich der Eröffnung der Ausstellung der Künstlerkolonie Darmstadt, R: Peter Behrens, T: Georg Fuchs, M: Willem de Haan, P: 15.05.1901, in: Koch/Fuchs 1901, S. 61, Fotografie: Universitätsbibliothek Heidelberg, 70 C 431 RES. Abb. 19  Peter Behrens, Haus Behrens, Darmstadt, Musikzimmer, 1901, in: Deutsche Kunst und Dekoration 9 (1901/02): S. 162, Fotografie: Universitätsbibliothek Heidelberg, C 48214–4::9.1901-02. Abb. 20  Peter Behrens, Feste des Lebens und der Kunst. Eine Betrachtung des Theaters als höchsten Kultursymbols, Leipzig: Diederichs, 1900, Titelseite, Institut Mathildenhöhe, Städtische Kunstsammlung Darmstadt, Inv.-Nr. 1717 BK, Fotografie: Universitätsbibliothek Heidelberg. Abb. 21  Peter Behrens, Grundriss eines Festspielhauses, 1900, in: Die Rheinlande 1.4 (1900): S. 30, Fotografie: Universitätsbibliothek Heidelberg, C 6266::1.1900-01/CC-BY-SA-3.0. Abb. 22  Peter Behrens, Entwurf eines Festspielhauses, 1900, in: Fuchs 1905, als Vignette vorangestellt, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln. Abb. 23  Henry Edward Coe, Olympia Hall, London, Nordansicht, 1886–1895, Historic England Archive, Inv.-Nr. OP16651, Fotografie: Historic England Archive. Abb. 24  Hermann Dernburg, Modell zu Karl Gustav Vollmoellers Das Mirakel, Olympia Hall London, R: Max Reinhardt, B: Ernst Stern, P: 23.12.1911, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 25  Schematische Zeichnung zu Karl Gustav Vollmoellers Das Mirakel, Olympia Hall London, R: Max Reinhardt, B: Ernst Stern, P: 23.12.1911, in: Huesmann 1983, S. 128, Abb. 50. Abb. 26  Auguste Leisnier nach einer Zeichnung von Georg Moller, Der Kölner Dom. Antizipierte Innenansicht des vollendeten Langhauses nach Westen, Kupferstich, 108 × 76,5 cm, in: Boisserée 1828, Tafel 16, Köln, Kölnisches Stadtmuseum, Inv.-Nr. HM 1953/221 (16), © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_d023 446. Abb. 27  Kathedrale von Gloucester, Kreuzgang, um 1357–1412, © Bildarchiv Foto Marburg. Abb. 28  Ernst Stern, Bühnenbildentwurf »Kathedrale, Prozession« zu Karl Gustav Vollmoellers Das Mirakel, Olympia Hall London, R: Max Reinhardt, P: 23.12.1911, Bleistift und Kohle auf Karton, 55,1 × 76,5 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 29  G. F. Morrell, Schematische Zeichnung zu Karl Gustav Vollmoellers Das Mirakel, Olympia Hall London, R: Max Reinhardt, B: Ernst Stern, P: 23.12.1911, Max Reinhardt Archives & Library, Binghamton University Libraries’ Special Collections and University Archives, Binghamton University. Abb. 30  Abteikirche, Saint-Denis, Chor und nördliches Querhaus, 1231–1245, Rekonstruktion der Kirchenfenster um 1848, © Bednorz Images, Foto: Achim Bednorz. Abb. 31  Kathedrale Notre-Dame, Paris, Fensterrose des Südquerhauses, um 1270, Rekonstruktion der Kirchenfenster um 1840, privates Bildarchiv, Sandra Bornemann-Quecke. Abb. 32  Johan Thorn Prikker, Auferstehung Christi, Dreikönigenkirche, Neuss, Einzelscheibe aus dem rechten Chorfenster, 1912, Fotografie: Stefan Johnen, Glottertal.

Abbildungsverzeichnis       377 Abb. 33  Ernst Stern, Bühnenbildentwurf zu Karl Gustav Vollmoellers Das Mirakel, Olympia Hall London, R: Max Reinhardt, P: 23.12.1911, Aquarell, Bleistift und Kreide auf Karton, 46,5 × 32 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 34  Grotte de Massabielle, Lourdes, undatiert, © Bildarchiv Foto Marburg. Abb. 35  Ernst Stern, Kostümentwurf »Raubgraf, Ritter« zu Karl Gustav Vollmoellers Das Mirakel, Olympia Hall London, R: Max Reinhardt, P: 23.12.1911, kolorierte Federzeichnung auf Karton, 33,1 × 33,5 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 36  Hans Multscher, Heiliger Georg, 1456–1459, Lindenholz, 156 cm, Sterzing, in: Gerstenberg 1928, S. 182, Fotografie: Universitätsbibliothek Heidelberg, C 6780-80 Folio. Abb. 37  Emil Otto Hoppé, Rollenporträt, Douglas Payne als »Ritter« in Das Mirakel, London, 1911, in: The Playgoer and Society Illustrated 5.28 (Januar 1912): S. 116, Max Reinhardt Ar­ chives & Library, Binghamton University Libraries’ Special Collections and University Ar­ chives, Binghamton University, © Curatorial Assistance, Inc./E. O. Hoppé Estate Collection. Abb. 38  Ernst Stern (vmtl.), Kostümentwurf »Priest, Archbishop, Acolyte« zu Karl Gustav Vollmoellers Das Mirakel, Olympia Hall London, R: Max Reinhardt, P: 23.12.1911, in: The Pall Mall Magazine 49.225 (Januar 1912): S. 14. Abb. 39  Michael Pacher, Altar von Sankt Wolfgang, rechte Außenseite der Predella: Die heiligen Kirchenväter Augustinus und Ambrosius, 1471–1481, Öl auf Fichtenholz, 118 × 342 cm (Predella, gesamt), Sankt Wolfgang im Salzkammergut, Fotografie: Pfarre St. Wolfgang, T. Klimek. Abb. 40  Wilhelm Willinger, Szenenfotografie zu Karl Gustav Vollmoellers Das Mirakel (Detail), Postkarte, Berlin: Verlag Hermann Leiser, 1911–1914, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln. Abb. 41  Michael Pacher, Kirchenväteraltar, Rückseiten der Flügel: Die vier Kirchenväter, 1480– 1483, Tempera und Öl auf Zirbelholz, 212 × 100 cm (je Flügel), München, Alte Pinakothek, Inv.-Nr. 2597, © Blauel Gnamm – ARTOTHEK. Abb. 42  Wilhelm Willinger, Szenenfotografie zu Karl Gustav Vollmoellers Das Mirakel, Postkarte, Berlin: Verlag Hermann Leiser, 1911–1914, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln. Abb. 43  Ferdinand Schmutzer, Rollenporträt, Maria Carmi-Vollmoeller als »Madonna« in Das Mirakel, Wien, um 1912, Österreichische Nationalbibliothek, Fotografie: ÖNB/Wien, LSCH 675D. Abb. 44  Michael Pacher, Fragment der Madonna, vor 1498, Zirbelholz farbig gefasst und vergoldet, Johann Bernhard Fischer von Erlach, Gloriole, um 1710, Johann Piger, Jesuskind, um 1890, Salzburg, Franziskanerkirche, Hochaltar, FOTO HUBERT AUER-SALZBURG. Abb. 45  Michael Pacher, Altar von Sankt Wolfgang, Mittelschrein: Christus krönt Maria, 1471–1481, Holz farbig gefasst und vergoldet, 386 × 330 cm (Mittelschrein), Sankt Wolfgang im Salzkammergut, Fotografie: Pfarre St. Wolfgang, T. Klimek. Abb. 46  Sandro Botticelli, Maria mit dem Kind und singenden Engeln, um 1477, Tempera auf Pappelholz, 135 cm Durchmesser, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, Inv. 102 A, © ARTOTHEK. Abb. 47  Ernst Stern, Kostümentwurf »Hofdame, Kurtisane, Bäuerin« zu Karl Gustav Vollmoellers Das Mirakel, Olympia Hall London, R: Max Reinhardt, P: 23.12.1911, kolorierte Federzeichnung auf Karton, 33,3 × 33,5 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 48  Emil Otto Hoppé, Rollenporträt, »Hofdame« in Das Mirakel, London, 1911, in: The Playgoer and Society Illustrated 5.28 (Januar 1912): S. 120, Max Reinhardt Archives & Library, Binghamton University Libraries’ Special Collections and University Archives, Binghamton University, © Curatorial Assistance, Inc./E. O. Hoppé Estate Collection. Abb. 49  Ernst Stern, Kostümentwurf »Spielmann, Henker, Bürgersfrau« zu Karl Gustav Vollmoellers Das Mirakel, Olympia Hall London, R: Max Reinhardt, P: 23.12.1911, kolorierte Federzeichnung auf Karton, 32,9 × 33,5 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert.

378       Abbildungsverzeichnis Abb. 50  Hans Holbein d. Jüngere, Bilder des Todes: Der Altmann, um 1520–1530, Holzschnitt, © bpk. Abb. 51  Eucharistischer Kongress, Fronleichnamsprozession vor dem Kölner Dom, 1909, Köln, Rheinisches Bildarchiv, Inv.-Nr. RBA L 304/45, © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_ mfL005 304_45. Abb. 52  Underwood & Underwood, Szenenfotografie zu Karl Gustav Vollmoellers Das Mirakel, Olympia Hall London, R: Max Reinhardt, B: Ernst Stern, P: 23.12.1911, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 53  Heinrich Maria Davringhausen, Die Kathedrale von Lourdes II, 1916, Öl auf Leinwand, 98,5 × 98,5 cm, Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen, Inv.-Nr. GK 666, © Renata Davringhausen. Abb. 54  Olaf Gulbransson, Regiesitzung in Rom, Karikatur, in: Simplicissimus 19.18 (1914): Titelseite, Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, © Olaf Gulbransson/VG Bild-Kunst, Bonn 2018. Abb. 55  Carl Freiherr von Hasenauer, Rotunde, Wien, Außenansicht, 1873, Postkarte, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 56  Carrère & Hastings, Century Theatre, New York, Zuschauerraum, 1909, Library of Congress, Prints and Photographs Division, Washington, D. C. Abb. 57  George Wall, How the Century Theatre was Converted into a Cathedral for the Production of »The Miracle«, in: Scientific American 130 (April 1924): S. 228. Abb. 58  Norman Bel Geddes, Längsschnitt durch die Kathedrale zu Karl Gustav Vollmoellers Das Mirakel, Century Theatre New York, R: Max Reinhardt, P: 15.01.1924, Bleistift auf Transparentpapier, 50,8 × 75,9 cm, Harry Ransom Center, The University of Texas at Austin, Courtesy of the Edith Lutyens and Norman Bel Geddes Foundation. Abb. 59  Norman Bel Geddes, Entwurf für Requisiten zu Karl Gustav Vollmoellers Das Mirakel, Century Theatre New York, R: Max Reinhardt, P: 15.01.1924, Bleistift auf Papier, Harry Ransom Center, The University of Texas at Austin, Courtesy of the Edith Lutyens and Norman Bel Geddes Foundation. Abb. 60  Norman Bel Geddes, Entwurf für ein Maßwerkfenster zu Karl Gustav Vollmoellers Das Mirakel, Century Theatre New York, R: Max Reinhardt, P: 15.01.1924, Aquarell auf Papier, 117,8 × 40 cm, Harry Ransom Center, The University of Texas at Austin, Courtesy of the Edith Lutyens and Norman Bel Geddes Foundation. Abb. 61  Sainte-Chapelle, Paris, Oberkirche, Chor, 1239–1248, © Bildarchiv Foto Marburg/ Walter Hotz. Abb. 62  Norman Bel Geddes, Bühnenbildentwurf »The Cathedral« zu Karl Gustav Vollmoellers Das Mirakel, Century Theatre New York, R: Max Reinhardt, P: 15.01.1924, Kreide und Kohle auf Papier, 48,3 × 75,6 cm, Harry Ransom Center, The University of Texas at Austin, Courtesy of the Edith Lutyens and Norman Bel Geddes Foundation. Abb. 63  Norman Bel Geddes, Bühnenbildentwurf »The Forest Scene« zu Karl Gustav Vollmoellers Das Mirakel, Century Theatre New York, R: Max Reinhardt, P: 15.01.1924, Kohle auf Papier, 50,5 × 76 cm, Harry Ransom Center, The University of Texas at Austin, Courtesy of the Edith Lutyens and Norman Bel Geddes Foundation. Abb. 64  Szenenfotografie zu Karl Gustav Vollmoellers Das Mirakel, Century Theatre New York, R: Max Reinhardt, B: Norman Bel Geddes, P: 15.01.1924, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln. Abb. 65  Norman Bel Geddes, Kostümentwurf »Lady Guest« zu Karl Gustav Vollmoellers Das Mirakel, Century Theatre New York, R: Max Reinhardt, P: 15.01.1924, Aquarell auf Papier, 35,5 × 26,7 cm, Harry Ransom Center, The University of Texas at Austin, Courtesy of the Edith Lutyens and Norman Bel Geddes Foundation. Abb. 66  Norman Bel Geddes, Kostümentwurf »Groom’s Man« zu Karl Gustav Vollmoellers Das Mirakel, Century Theatre New York, R: Max Reinhardt, P: 15.01.1924, Aquarell auf Papier, 38 × 25,4 cm, Harry Ransom Center, The University of Texas at Austin, Courtesy of the Edith Lutyens and Norman Bel Geddes Foundation. Abb. 67  Anzeige des Parfumfabrikanten Lenthéric für das Parfum »Miracle« in: Oliver M. Sayler, Souvenirheft zu Das Mirakel, Century Theatre New York, R: Max Reinhardt, Spiel-

Abbildungsverzeichnis       379 zeit 1926/27, Harry Ransom Center, The University of Texas at Austin, Courtesy of the Edith Lutyens and Norman Bel Geddes Foundation. Abb. 68  Franz Albert Jüttner, Tres faciunt collegium, Karikatur, in: Lustige Blätter 29.20 (1914): S. 7, Fotografie: Universitätsbibliothek Heidelberg, B 2529-158 Folio::29.14. Abb. 69  Joseph Urban, Entwurf des Reinhardt Theatre, Schnitt, 1928 (Projekt), Bleistift auf Papier, 27 × 29,2 cm, Rare Book & Manuscript Library, Columbia University. Abb. 70  Joseph Urban, Entwurf des Reinhardt Theatre, Blick auf die Bühne, 1928 (Projekt), Bleistift auf Papier, 38,4 × 29,3 cm, Joseph Urban Archive, Rare Book & Manuscript Library, Columbia University. Abb. 71  Joseph Urban, Entwurf des Reinhardt Theatre, Fassade, 1928 (Projekt), kolorierte Bleistiftzeichnung auf Karton, 42,9 × 35 cm, Joseph Urban Archive, Rare Book & Manuscript Library, Columbia University. Abb. 72  Bruno Taut, Glashaus, Deutsche Werkbundausstellung Köln, 1914, © Bildarchiv Foto Marburg. Abb. 73  Owen Jones, The Great Exhibition, um 1854, Aquarell und Federzeichnung auf Papier, 29,9 × 95,6 cm, London, British Museum, Inv.-Nr. 1899,0427.1, © Trustees of the British Museum. Abb. 74  Bruno Taut, Glashaus, Deutsche Werkbundausstellung Köln, Kuppelraum, 1914, © Bildarchiv Foto Marburg/Franz Stoedtner. Abb. 75  Bruno Taut, Glashaus, Deutsche Werkbundausstellung Köln, Kaskadenraum, 1914, © Bildarchiv Foto Marburg. Abb. 76  Bruno Taut, Glashaus, Deutsche Werkbundausstellung Köln, Aufriss, Schnitt und Grundriss, 1914, © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_194 079. Abb. 77  Adolf Hölzel, Fuge über ein Auferstehungsthema, um 1916, Öl auf Leinwand, 84 × 67 cm, Oldenburg, Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, © Landesmuseum Oldenburg, S. Adelaide – ARTOTHEK. Abb. 78  Bruno Taut, Deckblatt des Bauprospekts zur Deutschen Werkbundausstellung in Köln (Detail), Juni 1914, Akademie der Künste, Berlin, Bruno-Taut-Archiv, Nr. 328. Abb. 79  Caspar David Friedrich, Kreuz im Gebirge, um 1812, Öl auf Leinwand, 45 × 38 cm, Düsseldorf, Museum Kunstpalast, Inv.-Nr. mkp.M 3, © Museum Kunstpalast – Horst Kolberg – ARTOTHEK. Abb. 80  Robert Delaunay, Die Fenster zur Stadt (Les fenêtres sur la ville), 1912, Öl auf Leinwand, 53 × 207 cm, Essen, Museum Folkwang, Inv.-Nr. G 352, © Museum Folkwang Essen – ARTOTHEK. Abb. 81  Lyonel Feininger, Titelblatt »Kathedrale« zu Walter Gropius’ Manifest und Programm des Staatlichen Bauhauses, April 1919, Zinkätzung auf Papier nach einem Holzschnitt, 32,9 × 19,8 cm, Bauhaus-Archiv Berlin, Inv.-Nr. 2548, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018. Abb. 82  Bruno Taut, Die Stadtkrone, Jena: Diederichs, 1919, S. 67, Fotografie: Universitätsbibliothek Heidelberg, 73 B 115 RES. Abb. 83  Bruno Taut, Der Weltbaumeister. Architektur-Schauspiel für symphonische Musik, Hagen: Folkwang-Verlag, 1920, Blatt 2, Fotografie: Universitätsbibliothek Heidelberg, 80 A 1842 RES. Abb. 84  Bruno Taut, Der Weltbaumeister. Architektur-Schauspiel für symphonische Musik, Hagen: Folkwang-Verlag, 1920, Blatt 3, Fotografie: Universitätsbibliothek Heidelberg, 80 A 1842 RES. Abb. 85  Bruno Taut, Der Weltbaumeister. Architektur-Schauspiel für symphonische Musik, Hagen: Folkwang-Verlag, 1920, Blatt 6, Fotografie: Universitätsbibliothek Heidelberg, 80 A 1842 RES. Abb. 86  Bruno Taut, Der Weltbaumeister. Architektur-Schauspiel für symphonische Musik, Hagen: Folkwang-Verlag, 1920, Blatt 8, Fotografie: Universitätsbibliothek Heidelberg, 80 A 1842 RES. Abb. 87  Bruno Taut, Der Weltbaumeister. Architektur-Schauspiel für symphonische Musik, Hagen: Folkwang-Verlag, 1920, Blatt 14, Fotografie: Universitätsbibliothek Heidelberg, 80 A 1842 RES.

380       Abbildungsverzeichnis Abb. 88  Bruno Taut, Der Weltbaumeister. Architektur-Schauspiel für symphonische Musik, Hagen: Folkwang-Verlag, 1920, Blatt 21, Fotografie: Universitätsbibliothek Heidelberg, 80 A 1842 RES. Abb. 89  Bruno Taut, Der Weltbaumeister. Architektur-Schauspiel für symphonische Musik, Hagen: Folkwang-Verlag, 1920, Blatt 25, Fotografie: Universitätsbibliothek Heidelberg, 80 A 1842 RES. Abb. 90  Bruno Taut, Der Weltbaumeister. Architektur-Schauspiel für symphonische Musik, Hagen: Folkwang-Verlag, 1920, Blatt 27, Fotografie: Universitätsbibliothek Heidelberg, 80 A 1842 RES. Abb. 91  Flüssige Kristalle, Farbdruck, in: Haeckel 1917, Tafel 1, Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, urn:nbn:de:hbz:061:2–22176. Abb. 92  Bruno Taut, Der Weltbaumeister. Architektur-Schauspiel für symphonische Musik, Hagen: Folkwang-Verlag, 1920, Blatt 1, Fotografie: Universitätsbibliothek Heidelberg, 80 A 1842 RES. Abb. 93  Bruno Taut, Der Weltbaumeister. Architektur-Schauspiel für symphonische Musik, Hagen: Folkwang-Verlag, 1920, Blatt 11, Fotografie: Universitätsbibliothek Heidelberg, 80 A 1842 RES. Abb. 94  COOP HIMMELB(L)AU, Der Weltbaumeister, Graz, Steirischer Herbst Festival, Oktober 1993, © Markus Pillhofer. Abb. 95  Hans Poelzig, Großes Schauspielhaus, Berlin, 1919, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 96  Bruno Taut, Bühnenbildentwurf »Prospekt für 4. Akt« zu Friedrich Schillers Die Jungfrau von Orleans, Deutsches Theater Berlin, R: Karlheinz Martin, P: 19.02.1921, kolo­rierte Federzeichnung auf Papier, 20,8 × 32,8 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 97  Johann Friedrich Jügel nach Karl Friedrich Schinkel, Getreue Nachbildung des Domes zu Rheims in dem Trauerspiel: Die Jungfrau von Orleans, kolorierte Aquatinta auf Papier, 44,7 × 57,8 cm, in: Sammlung von Theater-Decorationen, Potsdam: Riegel, 1847, [Reproduktion des Bühnenbildentwurfs zu Friedrich Schillers Die Jungfrau von Orleans, Königliches Opernhaus Berlin, R: Graf Karl von Brühl, P: 18.01.1818], Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 98  Bruno Taut, Skizze »Requisiten und Stellung der Prospekte auf der Drehbühne« zu Friedrich Schillers Die Jungfrau von Orleans, Deutsches Theater Berlin, R: Karlheinz Martin, P: 19.02.1921, Bleistift und Farbstift auf Millimeterpapier, 32,9 × 20,9 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 99  Bruno Taut, Szenenentwurf »Dem Narrenkönig gehört die Welt« zu Friedrich Schillers Die Jungfrau von Orleans, Deutsches Theater Berlin, R: Karlheinz Martin, P: 19.02.1921, Aquarell und Bleistift auf Papier, 18,2 × 26,8 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 100  Bruno Taut, Szenenentwurf »So sei Gott mir gnädig!« zu Friedrich Schillers Die Jungfrau von Orleans, Deutsches Theater Berlin, R: Karlheinz Martin, P: 19.02.1921, Aquarell und Bleistift auf Papier, 18,2 × 27,1 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 101  Bruno Taut, Entwurf der Kirche in Unterriexingen, 1908, Tempera und Gouache auf Karton, 38,5 × 49 cm, Akademie der Künste, Berlin, Bruno-Taut-Archiv, Nr. 660. Abb. 102  Olaf Gulbransson, Der Kampf um Reims, Karrikatur, in: Kriegsflugblätter des Simplicissimus 19.53 (1915): S. 29, Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, © Olaf Gulbransson/ VG Bild-Kunst, Bonn 2018. Abb. 103  Raymond Fournier-Sarlovèze, La cathédrale de Reims en flamme, linker Seitenflügel des Triptychons Les prêtres aux armées, um 1915, Öl auf Leinwand, 116 × 73 cm, Paris, Musée de l’Armée, Inv.-Nr. 681 C; Eb 1597, © bpk | RMN – Grand Palais. Abb. 104  Imi Knoebel, Glasfenster in der nördlichen Apsis der Kathedrale Notre-Dame zu Reims, 2011, Fotografie: Ivo Faber, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018. Abb. 105  Bruno Taut, Szenenentwurf »Die reine Jungfrau nur kann es vollenden« zu Friedrich Schillers Die Jungfrau von Orleans, Deutsches Theater Berlin, R: Karlheinz Martin, P:

Abbildungsverzeichnis       381 19.02.1921, Aquarell und Bleistift auf Papier, 18,4 × 26,9 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 106  Bruno Taut, Szenenentwurf »Gebrochen hab’ ich meinen Bund« zu Friedrich Schillers Die Jungfrau von Orleans, Deutsches Theater Berlin, R: Karlheinz Martin, P: 19.02.1921, Aquarell und Bleistift auf Papier, 18,4 × 26,9 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 107  Bruno Taut, Szenenentwurf »Bist Du es, wunderbares Mädchen« zu Friedrich Schillers Die Jungfrau von Orleans, Deutsches Theater Berlin, R: Karlheinz Martin, P: 19.02.1921, Aquarell und Bleistift auf Papier, 18,2 × 26,9 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 108  Bruno Taut, Szenenentwurf »Leichte Wolken heben mich« zu Friedrich Schillers Die Jungfrau von Orleans, Deutsches Theater Berlin, R: Karlheinz Martin, P: 19.02.1921, Aquarell und Bleistift auf Papier, 17,9 × 27 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 109  Ludwig Sievert, Bühnenbildentwurf zu Friedrich Schillers Die Jungfrau von Orleans, Städtische Bühnen Frankfurt am Main/Schauspiel, R: Richard Weichert, P: 13.03.1923, Tempera auf Karton, 24,5 × 24,4 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 110  Adolphe Appia, Espace rythmique: La clairière, 1909, Bleistift, Kohle und Kreide auf Papier, 52,8 × 72,7 cm, © Stiftung SAPA – Schweizer Archiv der Darstellenden Künste. Abb. 111  Erna Lendvai-Dircksen, Szenenfotografie zu Paul Claudels Die Verkündigung, Festspielhaus Hellerau, R: Paul Claudel, B: Alexander von Salzmann, P: 05.10.1913, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 112  Hans Scharoun, ohne Titel, undatiert, Bleistift und Aquarell auf Papier, 47,7 × 36 cm, Akademie der Künste Berlin, Hans-Scharoun-Archiv, Nr. 2371. Abb. 113  Peter Behrens, Dombauhütte, Abteilung für kirchliche Kunst auf der Deutschen Gewerbeschau München, 1922, in: Deutsche Kunst und Dekoration 51 (1922/23): S. 224, Fotografie: Universitätsbibliothek Heidelberg, C 4821-4–4::51.1922-23. Abb. 114  Walter Gropius, Entwurf für ein Totaltheater, Grundriss mit peripherer Spielfläche, 1926/27, Tusche und Fotocollage auf Karton, 99 × 78,5 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018. Abb. 115  Ludwig Sievert, Bühnenbildentwurf zu Richard Wagners Parsifal, 1. Aufzug, Stadttheater Freiburg im Breisgau, R: Paul Legband, P: 04.01.1914, Kreidezeichnung auf Karton, 45,9 × 49,6 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 116  Ludwig Sievert, Bühnenbildentwurf zu Richard Wagners Parsifal, 1. Aufzug, Stadttheater Freiburg im Breisgau, R: Paul Legband, P: 04.01.1914, Kreidezeichnung und Gouache auf Papier, 39 × 45,2 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 117  Ludwig Sievert, Bühnenbildentwurf zu Richard Wagners Parsifal, 1. Aufzug, Stadttheater Freiburg im Breisgau, R: Paul Legband, P: 04.01.1914, in: Die Scene 3.1 (Juli/August): 1913, S. 7, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 118  Evangelische Stadtkirche Sankt Annen, Annaberg-Buchholz, Chor, 1499–1525, © Bildarchiv Foto Marburg/Paul Haag. Abb. 119  Atelier Brückner, Bühnenbild zu Richard Wagners Parsifal, 1. Aufzug, Richard-Wagner-Festspielhaus Bayreuth, R: Richard Wagner, P: 26.07.1882, Nationalarchiv der RichardWagner-Stiftung, Bayreuth. Abb. 120  Atelier Brückner, Bühnenbild zu Richard Wagners Parsifal, 3. Aufzug, Richard-Wagner-Festspielhaus Bayreuth, R: Richard Wagner, P: 26.07.1882, Nationalarchiv der RichardWagner-Stiftung, Bayreuth. Abb. 121  Atelier Brückner, Wandeldekoration zu Richard Wagners Parsifal, Richard-WagnerFestspielhaus Bayreuth, R: Richard Wagner, P: 26.07.1882, Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung, Bayreuth.

382       Abbildungsverzeichnis Abb. 122  Atelier Brückner, Wandeldekoration zu Richard Wagners Parsifal, Richard-WagnerFestspielhaus Bayreuth, R: Richard Wagner, P: 26.07.1882, Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung, Bayreuth. Abb. 123  Schnitt durch das Panorama in der Rotunde, Leicester Square, London, 1801, handkolorierte Aquatinta, 32,1 × 46,7 cm, London, British Museum, Inv.-Nr. Mm,15.16, © Trustees of the British Museum. Abb. 124  Das Wagner-Theater in Bayreuth nach seiner Vollendung, 1873, Holzstich nach einem Gemälde von Louis Santer, in: Die Gartenlaube 32 (1873): S. 515, Fotografie: SUB – Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, 4 SVA II, 2058. Abb. 125  Arnold Böcklin, Der heilige Hain, 1882, Öl auf Leinwand, 105 × 150,6 cm, Kunstmuseum Basel, Inv.-Nr. 110, Sammlung Online, Zugriff vom 11.12.2017. Abb. 126  Adolphe Appia, Bühnenbildentwurf zu Richard Wagners Parsifal, 1. Akt, 1896 (Projekt), Bleistift, Kohle und Kreide auf Papier, 47,7 × 62,3 cm, © Stiftung SAPA – Schweizer Archiv der Darstellenden Künste. Abb. 127  Zander & Labisch, Szenenfotografie zu Richard Wagners Parsifal, Königliches Opernhaus Berlin, R: Georg Graf von Hülsen-Haeseler, B: Hans Kautsky, P: 05.01.1914, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 128  Zander & Labisch, Szenenfotografie zu Richard Wagners Parsifal, Königliches Opernhaus Berlin, R: Georg Graf von Hülsen-Haeseler, B: Hans Kautsky, P: 05.01.1914, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 129  Gustav Wunderwald, Bühnenbildentwurf »Morgengebet im schattigen Wald« zu Richard Wagners Parsifal, Deutsches Opernhaus Charlottenburg, R: Georg Hartmann, P: 01.01.1914, Kohle auf Leinwand, 68 × 86,7 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 130  Gustav Wunderwald, Bühnenbildentwurf zu Franz Grillparzers Medea (Das goldene Vlies), Schauspielhaus Düsseldorf, R: Gustav Lindemann, P: 13.02.1909, Bleistift, Kreide und Gouache auf Karton, 49 × 65,7 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 131  Johann Sadeler d. Ältere nach Maarten de Vos, Sylvae Sacrae. Der heilige Blasius von Sebaste, 1594, Kupferstich auf Papier, 16,3 × 19,8 cm, Rijksmuseum, Amsterdam. Abb. 132  John Singer Sargent, The Hermit (Il solitario), 1908, Öl auf Leinwand, 95,9 × 96,5 cm, New York, The Metropolitan Museum of Art, New York, © bpk | The Metropolitan Museum of Art. Abb. 133  Heinrich Breling, Schloss Linderhof: Die »Einsiedelei des Gurnemanz« im Ammerwald, nach dem Bühnenbild in »Parsifal«, 1882, Aquarell auf Papier, 23 × 27,7 cm, WAF Inv.Nr. B VIII 20, © Wittelsbacher Ausgleichsfonds München. Abb. 134  Gustav Wunderwald, Bühnenbildentwurf »I/2« zu Richard Wagners Parsifal, Deutsches Opernhaus Charlottenburg, R: Georg Hartmann, P: 01.01.1914, Kreide und Gouache auf Karton, 66 × 48,5 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 135  Gustav Wunderwald, Bühnenbildentwurf »I/1 Schattiger Wald vor der Gralsburg« zu Richard Wagners Parsifal, Deutsches Opernhaus Charlottenburg, R: Georg Hartmann, P: 01.01.1914, Kreide und Gouache auf Karton, 52,3 × 68,3 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 136  Heinrich Seeling, Deutsches Opernhaus Charlottenburg, Blick in den Zuschauerraum, 1911/12, Postkarte, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 137  Gustav Wunderwald, Bühnenbildentwurf »I/1 Verwandlung zum Gral, Prospekt« zu Richard Wagners Parsifal, Deutsches Opernhaus Charlottenburg, R: Georg Hartmann, P: 01.01.1914, Kreide und Gouache auf Karton, 46,5 × 64,4 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln. Abb. 138  Szenenfotografie zu Richard Wagners Parsifal, Deutsches Opernhaus Charlottenburg, R: Georg Hartmann, B: Gustav Wunderwald, P: 01.01.1914, Joseph Urban Archive, Rare Book & Manuscript Library, Columbia University.

Abbildungsverzeichnis       383 Abb. 139  C. McKnight-Smith, The New Stage of the Metropolitan Opera House for the Production of »Parsifal«, in: Scientific American 90.6 (1904): Titelseite. Abb. 140  Joseph Urban, Bühnenbildentwurf »Holy Woods« zu Richard Wagners Parsifal, Metropolitan Opera New York, R: Richard Ordynski, P: 19.02.1920, kolorierte Farb- und Bleistiftzeichnung auf Karton in Mischtechnik, Gouache und Aquarell, 30,5 × 44,6 cm, Joseph Urban Archive, Rare Book & Manuscript Library, Columbia University. Abb. 141  Joseph Urban, Bühnenbildentwurf »Temple« zu Richard Wagners Parsifal, Metropolitan Opera New York, R: Richard Ordynski, P: 19.02.1920, kolorierte Farb- und Bleistiftzeichnung auf Karton in Mischtechnik, Gouache und Aquarell, 30,6 × 44,4 cm, Wien, Theatermuseum, HZ_HU56577, © KHM-Museumsverband. Abb. 142  Joseph Urban, Bühnenbildentwurf zu Richard Wagners Parsifal, Théâtre des Champs-Élysées Paris, Gastspiel der Boston Opera Company, R: Henry Russell, P: 03.06.1914, kolorierte Fotografie, 18,5 × 26,8 cm, Joseph Urban Archive, Rare Book & Manuscript Library, Columbia University. Abb. 143  Alexander Rothaug, Heiliger Frühling, undatiert, Öl auf Leinwand, 85 × 112,5 cm, Sammlung Würth, Inv.-Nr. 9224, Fotografie: Volker Naumann, Schönaich. Abb. 144  Joseph Urban, Bühnenbildentwurf »Klingsor’s Garden« zu Richard Wagners Parsifal (Detail), Metropolitan Opera New York, R: Richard Ordynski, P: 19.02.1920, kolorierte Farbund Bleistiftzeichnung auf Karton in Mischtechnik, Gouache und Aquarell, 30,5 × 43,1 cm, Joseph Urban Archive, Rare Book & Manuscript Library, Columbia University. Abb. 145  Illustration nach einer Zeichnung von H. Burghart & Co. zu Richard Wagners Parsifal, 1. Aufzug, Metropolitan Opera New York, R: Heinrich Conried, B: Atelier Brioschi, Burghart & Kautsky, P: 24.12.1903, New York, Metropolitan Opera Archives. Abb. 146  Joseph Urban, Technischer Plan »Act I, Scene I« zu Richard Wagners Parsifal, Metropolitan Opera New York, R: Richard Ordynski, P: 19.02.1920, Bleistift- und Farbstiftzeichnung auf Millimeterpapier, 25,5 × 81,5 cm, Joseph Urban Archive, Rare Book & Manuscript Library, Columbia University. Abb. 147  Joseph Urban, Technischer Plan »Act III« zu Richard Wagners Parsifal, Metropolitan Opera New York, R: Richard Ordynski, P: 19.02.1920, Bleistift- und Federzeichnung auf Papier, 53 × 72 cm, Joseph Urban Archive, Rare Book & Manuscript Library, Columbia University. Abb. 148  Sedge LeBlang, Szenenfotografie zu Richard Wagners Parsifal, Metropolitan Opera New York, R: Richard Ordynski, B: Joseph Urban, P: 19.02.1920, New York, Metropolitan Opera Archives. Abb. 149  Sedge LeBlang, Szenenfotografie zu Richard Wagners Parsifal, Metropolitan Opera New York, R: Richard Ordynski, B: Joseph Urban, P: 19.02.1920, New York, Metropolitan Opera Archives. Abb. 150  Joseph Urban, Vorhangentwurf »Titurel’s Vision« zu Richard Wagners Parsifal, Metropolitan Opera New York, R: Richard Ordynski, P: 19.02.1920, kolorierte Farb- und Bleistiftzeichnung auf Karton in Mischtechnik, Gouache und Aquarell, 29,8 × 42,3 cm, Joseph Urban Archive, Rare Book & Manuscript Library, Columbia University. Abb. 151  Hans Wildermann, Illustration zu Richard Wagners Parsifal, 1904/05, in: Wagner 1922, S. 11, Privatbesitz, privates Bildarchiv, Sandra Bornemann-Quecke. Abb. 152  Hans Wildermann, Bühnenbildentwurf zu Richard Wagners Parsifal, Stadttheater Barmen, R: Hans Wildermann, P: 04.01.1914 u. Städtische Bühnen Köln/Oper, R: Fritz Rémond, P: 11.01.1914, in: Die Kunst 30 (1914): S. 463, Fotografie: Universitätsbibliothek Heidelberg, C 4821-9 ML::30.1914. Abb. 153  Hans Wildermann, Bühnenbildentwurf zu Richard Wagners Parsifal, Stadttheater Dortmund, R: Johannes Maurach, P: 06.05.1922, Aquarell auf Papier, 22,8 × 28,4 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 154  Hans Wildermann, Bühnenbildentwurf zu Richard Wagners Parsifal, Stadttheater Breslau, R: Josef Turnau, P: 15.04.1927, Bleistift und Kreide auf Papier, 17,8 × 29,8 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 155  Hans Wildermann, Bühnenbildentwurf zu Richard Wagners Parsifal, Stadttheater Breslau, R: Josef Turnau, P: 15.04.1927, Bleistift und Kreide auf Papier, 17,7 × 29,7 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert.

384       Abbildungsverzeichnis Abb. 156  Hans Wildermann, Bühnenbildentwurf zu Richard Wagners Parsifal, Stadttheater Breslau, R: Josef Turnau, P: 15.04.1927, Bleistift und Kreide auf Papier, 17,8 × 29,8 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotografie: Christina Vollmert. Abb. 157  Walter Leistikow, Schlachtensee bei Berlin, undatiert, Öl auf Leinwand, 66 × 80 cm, Privatbesitz, © ARTOTHEK. Abb. 158  Albert Speer, Lichtdom, Reichsparteitagsgelände der NSDAP auf dem Zeppelinfeld, Nürnberg, 1937, © Bildarchiv Foto Marburg/Lala Aufsberg.

Literaturverzeichnis Archivalien sind mit einer vollständigen Angabe in den Fußnoten erwähnt.

Rezensionen

Die Rezensionen sind nach den verschiedenen Inszenierungen in den Fallstudien geordnet. Das Mirakel, Olympia Hall London 1911, R: Max Reinhardt Berliner Tageblatt 1912: Unbekannt, »Das Londoner Mirakel«, in: Berliner Tageblatt, 15.01.1912. Brandes 1911: Brandes, Otto, »›The Miracle.‹ Uraufführung in London«, in: Berliner Tageblatt, 27.12.1911. Eyles 1912: Eyles, F. A. H., »›The Miracle.‹ Professor Max Reinhardt’s Spectacular Play at Olympia«, in: The Pall Mall Magazine 49.225 (Januar 1912): S. 3–17. Hayler 1912: Hayler, Guy Wilfrid, »Colour and Spectacle«, in: The British Architect, 02.02.1912, S. 104 f. H. V. M. 1912: H. V. M., »The Story of ›The Miracle‹«, in: The Playgoer and Society Illustrated 5.28 (Januar 1912): S. 110–129. Kommer 1912: Kommer, Rudolf, »Mirakel. Ein Irish Stew aus dem Mittelalter von Vollmoeller, Humperdinck und Reinhardt«, in: Deutsche Montags-Zeitung, 08.01.1912. Leipziger Neueste Nachrichten 1913: Unbekannt, »Uraufführung in Leipzig unter persönlicher Leitung von Max Reinhardt vom 9. bis inkl. 14. September 1913, abends 8 Uhr. ›Das Mirakel‹ von Karl Vollmoeller. – Musik von Engelbert Humperdinck. Urteile der Presse. Erstaufführung in London, 23. Dezember 1911«, in: Leipziger Neueste Nachrichten, 09.09.1913. Overmans 1912: Overmans, Jacob, »Reinhardts Mirakel in London«, in: Stimmen aus MariaLaach 82 (1912): S. 337–387 u. S. 512–519. Palmer 1912: Palmer, John, »The Miracle«, in: The Saturday Review, 06.01.1912, S. 9 f. P. C. 1911: P. C., »›The Miracle‹ at Olympia«, in: The Manchester Guardian, 26.12.1911. Rheinisch-Westfälische Zeitung 1912: Unbekannt, »›Das Wunder‹ und die Londoner Geistlichen. Eine Sonderaufführung für 7000 Seelenhirten«, in: Rheinisch-Westfälische Zeitung, 18.01.1912. Sil-Vara 1912: Sil-Vara [Pseudonym für Gustav A. »Geza« Silberer – S. B. Q.], »Reinhardts ›Mirakel‹ in London«, in: Neue Freie Presse Wien, 11.01.1912. Stead 1912: [Stead, William T. – S. B. Q.], »The Pagan and Christian Conception of God«, in: The Review of Reviews, Februar 1912, S. 147–150. The Academy and Literature 1912: Unbekannt, »The Miracle«, in: The Academy and Literature 27.1 (1912): S. 121 f. The Athenaeum 1911: Unbekannt, »›The Miracle‹«, in: The Athenaeum, 30.12.1911, S. 827 f. The New York Times 1912: Unbekannt, »Reinhardt’s New Spectacle. ›The Miracle‹ Said to be the Most Profoundly Moving Thing Ever Seen in London«, in: The New York Times, 14.01.1912. The Times 1912a: Unbekannt, »The Clergy and ›The Miracle‹«, in: The Times, 24.01.1912. The Times 1912b: Unbekannt, »The Clergy and ›The Miracle‹«, in: The Times, 20.01.1912. The Times 1911a: Unbekannt, »›The Miracle‹ at Olympia«, in: The Times, 22.12.1911. The Times 1911b: Unbekannt, »›The Miracle‹ at Olympia. Professor Reinhardt’s great spectacle«, in: The Times, 25.12.1911.

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Personenregister A

Abt Suger von Saint-Denis  13, 72 Adam of Eynsham  79 Adler, Hans Hermann  348 Alberti, Leon Battista  265 Aldrich, Richard  309–310, 325 AlienNation Company  298 Alighieri, Dante  145, 265 Ambrosius von Mailand  88–89 Anschütz, Georg  226 Appia, Adolphe  145, 154, 196, 229, 240, 245–247, 256, 280–283, 290–294, 297–298, 302, 309, 318, 326–329, 334, 339, 342–344, 347–348, 352, 370 Arent, Benno von  351, 360 Armstrong, Louis  309 Atelier Brioschi, Burghart & Kautsky  312 Atelier Brückner  32, 254, 278, 280, 293, 352 Atelier Hugo Baruch & Co.  83 Atelier Kautsky & Rottonara  254 Augustinus von Hippo  88–89 Avenarius, Ferdinand  277

B

Bab, Julius  233 Bach, Johann Sebastian  134 Bahr, Hermann  44, 318 Bakst, Léon  96 Bartning, Otto  9, 251 Baudri, Johann Anton Friedrich  28 Beardsley, Aubrey  333 Beethoven, Ludwig van  286, 314 Behne, Adolf  176, 186, 189, 191–192, 209, 211, 244, 250 Behrens, Peter  38, 40–45, 60, 65, 165, 186, 197, 244, 249–252 Bel Geddes, Norman  105, 136, 144–145, 147–162, 240, 284, 317, 327, 365 Belloc, Hilaire  163 Benedikt XV.  174 Bentley, John Francis  134 Bérain, Jean  271 Berger, Ludwig  207, 233–234 Bernhardt, Sarah  163 Bernini, Gian Lorenzo  227 Bie, Oscar  308–309

Bliven, Bruce  158 Blumenberg, Hans  71, 81, 282, 345, 362 Böcklin, Arnold  267, 278–280 Bodanzky, Artur  309 Boehn, Max von  102–104, 111 Boisserée, Sulpiz  25 Bölsche, Wilhelm  354 Boron, Robert de  35 Bosse, Gustav  351 Bossert, Helmuth  86 Botticelli, Sandro  97–98, 104 Brandes, Otto  97, 109–110, 128, 130, 170 Brandt, Carl  271–273, 289, 313 Braun, Joseph  102 Brecka, Hans  142 Breling, Heinrich  296 Brioschi, Carlo  312 Brückner, Max  278 Brückwald, Otto  31 Brüder Lumière  80 Brust, Alfred  208 Burghart, Hermann  312 Burgstaller, Alois  313 Burke, Edmund  261

C

Caesarius von Heisterbach  58, 79, 116 Canetti, Elias  358 Carée, Michel-Antoine  143 Carmi-Vollmoeller, Maria  77, 91–92, 97–99, 163 Carrère, Merven  145 Carrère & Hastings  145 Carter, Huntly  70 Cassirer, Ernst  14 Certeau, Michel de  15 Chamberlain, Houston Stewart  359 Cheney, Sheldon  326, 336 Claudel, Paul  247 Cochran, Charles B.  55, 57, 83, 105, 121, 131–132, 155, 163 Coe, Henry Edward  55 Coester, Elisabeth  251 Conried, Heinrich  310–314, 316, 323, 331–332, 334–335, 352, 387

438       Personenregister COOP HIMMELB(L)AU  207 Craig, Edward Gordon  127, 145, 326

D

Dale, Alan  160 Darwin, Charles  199 Davidson, Jo  163 Davidson, John  58 Davringhausen, Heinrich Maria  117 Dehmel, Richard  42, 218 Delaunay, Robert  185, 187–188 Delpy, Egbert  308, 354 Dernburg, Hermann  64, 136, 140–141 Dinter, Artur  129–130 Disney, Roy O.  158 Disney, Walt  158 Doebber, Johannes  302, 305 Doering, Oscar  95 Draber, Wilhelm  303, 306 Dülberg, Ewald  283 Dumont, Louise  293 Dürer, Albrecht  84, 87 Durkheim, Émile  14, 239 Dvořák, Max  100 Dworsky, Franz  137 Dworsky, Rudolf  69, 136–137

E

Einstein, Albert  225, 230 Eliade, Mircea  13–15, 18, 133, 263, 271 Elias, Norbert  195 Engel, Fritz  219–220, 233–234, 285 Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein  38 Eschenbach, Wolfram von  44, 254, 264, 295, 315, 332, 341 Eyck, Jan van  100, 103

F

Fechter, Paul  233–234 Feininger, Lyonel  185, 193–194, 244 Fidus 182 Fischer von Erlach, Johann Bernhard  95 Flimm, Jürgen  371 Fontana, Oskar Maurus  293 Fontane, Theodor  311 Forster, Georg  261 Foucault, Michel  15 Fournier-Sarlovèze, Raymond  219 Franz Joseph I.  111 Freksa, Friedrich  55 Freud, Sigmund  113, 317 Friedrich, Caspar David  185–186, 266 Friedrich Wilhelm IV.  25 Fuchs, Georg  38, 40, 42–45, 60, 65, 249, 251–252

G

Gade, Svend  283–284 Gamper, Gustav  283, 308 Gardner, Isabella Stewart  311 Gatti-Casazza, Giulio  311, 314, 316, 333–334, 362 Gebrüder Grimm  265 Gebrüder Limburg  79 Gennep, Arnold van  18–19, 118 Georg II. von Sachsen-Meinigen  101 Gest, Morris  144, 149 Goebbels, Joseph  371 Goethe, Johann Wolfgang von  25, 226, 265, 295, 337, 342–343, 346, 371 Goldschmidt, Victor  180 Göring, Hermann  357 Graf, Herbert  336 Gropius, Walter  191–193, 196, 211, 244–245, 249, 252, 369 Grunow, Gertrud  226 Gulbransson, Olaf  106, 129–130, 219

H

Haan, Willem de  38 Habich, Ludwig  38 Hablik, Wenzel  196 Haeckel, Ernst  199–202 Hamann, Richard  190–191 Hartlaub, Gustav Friedrich  5 Hartmann, Georg  286, 290–291, 300–307, 329, 334, 387 Hartwig, Georg  293 Hasak, Max  68, 266 Hasenauer, Carl Freiherr von  140 Hastings, Thomas Samuel  145 Hauptmann, Gerhart  218, 354 Hayler, Guy Wilfrid  112 Hearst, William Randolph  316, 334 Heckel, Erich  1 Heilborn, Ernst  238 Heinersdorff, Gottfried  75, 177, 180 Held, Berthold  76–77, 82, 92, 137–138 Herald, Heinz  77 Herheim, Stefan  360 Hermann der Cherusker  356 Herrmann, Max  16, 19 Hertz, Alfred  313 Hertz, Heinrich  230 Hirschfeld-Mack, Ludwig  226 Hitler, Adolf  360–361, 370 Hodler, Ferdinand  218 Hoff, August  75 Hoffmann, Josef  278 Hofmannsthal, Hugo von  7, 73, 122, 144, 167, 318

Personenregister       439 Holbein, Hans d. Jüngere  109 Hollaender, Felix  130, 208 Holz, Arno  218 Holzbock, Alfred  361 Hölzel, Adolf  181, 217, 226, 343 Holzmeister, Clemens  168 Hoppé, Emil Otto  70 Hülsen-Haeseler, Georg Graf von  286–287, 289, 387 Humperdinck, Engelbert  59, 147, 165, 314 Hütter, Eduard  168

I

Ignatius von Loyola  122 Ihering, Herbert  234 Itten, Johannes  226, 343

J

Jacobs, Monty  235–236 Jacobsohn, Siegfried  105 James, William  12 Jansen, Franz M.  5 Jantzen, Hans  217 Jaques-Dalcroze, Émile  196, 246 Jeanne d’Arc  219 Johanna von Orléans  173, 219 Jones, Robert Edmond  326–327, 336 Joseph von Arimathia  35 Joukowsky, Paul von  32, 254 Justinian I.  165 Jüttner, Franz Albert  165

K

Kahane, Arthur  130 Kahn, Otto H.  143–144, 168–169 Kandinsky, Wassily  187, 193, 226, 343 Kant, Immanuel  261 Karl VII. 212 Kästner, Peter  276 Kaufmann, Franz  133, 171 Kautsky, Hans  287–289, 312 Kautsky, Johann  312 Kearton, Cherry  143 Keller, Gottfried  58 Kensit, John  132 Kerr, Alfred  143 Kerz, Leo  336 Kiralfy, Bolossy  56 Kiralfy, Imre  56–57 Kirchner, Ernst Ludwig  1, 29 Klee, Paul  173 Klemperer, Otto  337–338 Klimt, Gustav  323 Kloss, Erich  359 Knoebel, Imi  222

Koch, Alexander  40 Kommer, Rudolf  59, 67, 159 Köppen, Franz  232, 238 Kracauer, Siegfried  113 Krauß, Werner  156–157, 238 Krehbiel, Henry Edward  314–315, 334 Kunzfeld, Alois  355

L

Landauer, Gustav  211 Lang, Fritz  203 Laue, Max von  180 Lautenschläger, Carl  214, 312–313 Lavignac, Albert  36 Le Bon, Gustave  113 Lefler, Heinrich  92, 308, 316, 333, 335, 338 Leistikow, Walter  354 Lessing, Julius  106 Lindemann, Gustav  293 Linke, Felix  180, 188 Liszt, Franz  30 Löwenfeld, Hans  283 Lucae, Richard  24–25, 259 Ludwig II. von Bayern  253, 260, 295, 297 Lukács, Georg  3 Lusztig, J. C.  303

M

Macgowan, Kenneth  144, 172, 325–326, 328, 330 Maeterlinck, Maurice  58 Makart, Hans  278 Mâle, Émile  74 Mann, Thomas  117, 218, 279 Manners, Diana  157, 163 Marc, Franz  187, 343 Martin, Karlheinz  173–174, 212, 229–230, 234–236, 238–239, 386 Maurach, Johannes  339 Meier-Graefe, Alfred Julius  279 Meister Froissart  85 Melchers, Paulus Ludolf  29 Misu, Mime  143 Moderwell, Hiram Kelly  322, 324, 326 Monahan, Michael  159 Monet, Claude  322 Mörike, Eduard  286 Morrell, G. F.  70 Mozart, Wofgang Amadeus  314 Multscher, Hans  85–87, 94, 100, 103 Munch, Edvard  354 Musil, Robert  3–5

440       Personenregister

N

Nagl, Franz Xaver  138–139 Neckam, Alexander  79 Niemann, Gottfried  278 Niessen, Carl  217–218, 255, 337–339, 344, 349–351, 361 Nietzsche, Friedrich  4, 20, 31, 40–41, 44–45, 118, 209–210, 297, 318, 368 Nilson, Einar  147 Nolde, Emil  5

O

Olbrich, Joseph Maria  38, 41, 44, 186, 343 Ordynski, Richard  309, 388 Otto, Rudolf  12–13, 15, 72, 239, 261–262, 292 Overmans, Jacob  130 Ovid  101, 157

P

Pacher, Michael  85, 87–90, 94–96, 100, 103 Pallenberg, Max  108 Palma, Jacopo il Vecchio  93 Palmer, John  70, 155 Panofsky, Erwin  199 Parker, Louis Napoleon  112 Pauli, Gustav  353 Paxton, Joseph  178, 259–260 Payne, Douglas  87 Payne, F. H.  55 Peruzzi, Baldassare  265 Petrarca, Francesco  265 Pfitzner, Hans  207 Pinchot, Rosamond  163 Piscator, Erwin  252 Pius IX.  115 Pius X.  9, 129 Planck, Max  225 Plessner, Helmuth  21 Plinius d. Ältere  185 Poel, William  126–127 Poelzig, Hans  209, 249 Poiret, Paul  96 Polgar, Alfred  165 Preetorius, Emil  360 Pudor, Heinrich  343

R

Reinhardt, Max  7, 9–10, 22, 27, 46, 53–55, 57–66, 70–74, 76–77, 80–83, 92, 98–99, 101–106, 109, 111–115, 117–131, 134–140, 142–147, 149, 155, 157–161, 163–172, 174–175, 209, 214, 220, 227, 231, 236–237, 240, 242, 247, 249, 252, 284, 292, 309, 314,

316, 318, 325–326, 365–366, 369, 371, 385–386 Riegl, Alois  199 Riehl, Wilhelm Heinrich von  356 Rimington, Alexander Wallace  226 Roessler, Arthur  323 Roller, Alfred  254, 360 Rooy, Anton van  313 Rosenberg, Alfred  357 Rothaug, Alexander  322–323 Rothaug, Leopold  323 Rothes, Walter  96 RU-IN 298 Russell, Henry  316–317, 388

S

Sabbattini, Nicola  271 Sadeler, Johann d. Ältere  295 Sadeler, Raphaël d. Ältere  295 Salisch, Heinrich von  353 Salten, Felix  143 Salzmann, Alexander von  245–246, 370 Sargent, John Singer  295 Scharoun, Hans  196, 248 Scheerbart, Paul  42, 75, 176–178, 181, 184, 188, 192, 195–198, 210–211, 229–230, 236, 242–243 Scheffler, Karl  191, 211 Schiller, Friedrich  9, 20, 173–174, 208, 212, 220, 222, 231–232, 237, 242 Schinkel, Karl Friedrich  212–213 Schirmer, Friedrich  147 Schittenhelm, Anton  272 Schlegel, Friedrich  184–185, 261 Schlemmer, Oskar  250 Schlosser, Julius von  72 Schmidt, Friedrich  140 Schmidt, Leopold  253, 306 Schmutzer, Ferdinand  92, 94 Schnütgen, Alexander  30 Schoenichen, Walther  350, 357 Schreyer, Ernst  349 Schubring, Paul  267–268, 270, 278 Schur, Ernst  42, 65 Seeling, Heinrich  302 Seidl, Arthur  36 Semper, Gottfried  199 Semper, Hans  89, 100 Servandoni, Jean-Nicolas  271 Seurat, Georges  322 Shakespeare, William  101, 233, 315, 325 Shaw, George Bernard  37, 247 Sievert, Ludwig  239–242, 254–255, 263, 283, 292–293, 308, 329, 334 Silberer, Geza  67, 77, 93, 123

Personenregister       441 Simmel, Georg  113 Simonson, Lee  327, 336 Skrjabin, Alexander  226 Soubirous, Bernadette  80 Spanuth, August  352 Speer, Albert  370–372 Spengler, Oswald  211, 341, 349–350 Springer, Hanns  357 Stadler, Franz  86 Stahl, Ernst Leopold  239, 280, 293–295, 299–300, 343 Stead, William T.  131, 134 Steiner, Rudolf  182, 226, 343 Stern, Ernst  62–64, 66–68, 70, 73, 77, 79, 82–87, 89–90, 92–99, 101–103, 105–106, 108–110, 112, 136, 138, 147, 156, 158, 231, 248, 287, 292, 365 Stieler, Georg  113 Stoedtner, Franz  179, 379 Storck, Willy F.  278, 338–339 Strindberg, August  354 Szeemann, Harald  270, 354

T

Tacitus  265, 356 Taut, Bruno  9, 46–47, 165, 173–183, 185–189, 191–192, 196–200, 202–213, 216–218, 220–223, 225, 227–249, 251–252, 255, 259, 339, 343, 347–348, 361, 365–367, 369 Taut, Hedwig  235 Ternina, Milka  313 Tessenow, Heinrich  245, 370 Thimig, Helene  157, 174, 238 Thorn Prikker, Johan  1–2, 75, 180 Tiessen, Heinz  207 Tietjen, Heinz  254, 360 Tillich, Paul  15 Tönnies, Ferdinand  21, 113 Turnau, Josef  337, 389 Turner, Victor  18–19, 118 Twain, Mark  37, 311

U

Urban, Joseph  9, 47, 144–145, 169, 284, 308–309, 316–319, 321–336, 340, 352–353, 361, 365–366

V

Varus 356 Vasari, Giorgio  265 Vechten, Carl van  326 Velde, Henry van de  7, 229, 372 Verhaeren, Émile  7, 372 Viollet-le-Duc, Eugène Emmanuel  74 Vitruv 265

Volkelt, Johannes  230 Vollmoeller, Karl Gustav  55, 57–59, 62–63, 109, 116, 124, 129–130, 137, 144, 155, 163, 165, 249

W

Wachsberger, Anton  244 Waghalter, Ignatz  286 Wagner, Cosima  253, 262, 280, 311, 313, 359 Wagner, Ludwig  241, 255 Wagner, Richard  3, 7, 9–11, 18, 24, 30–38, 44–45, 47, 59, 71, 117–118, 166, 168, 171, 187, 206, 223, 225–226, 242, 244, 248, ­253–255, 257, 260, 262–263, 266–268, ­270–275, 277–280, 282–285, 287–291, 294–295, 297–298, 300–301, 303, 305–308, 311–312, 314–315, 317–318, 321, 325, ­327–328, 331–335, 337–338, 341, 343, 348–349, 352–354, 357–363, 365–369, 387 Wagner, Siegfried  360 Wagner, Wieland  336, 353, 360 Wagner, Winifred  360 Walden, Herwarth  188 Wall, George  147 Wälterlin, Oskar  283 Wanamaker, John  164 Warburg, Aby  51 Weber, Carl Maria von  263, 272 Weber, Max  3, 14, 21 Wegener, Paul  203 Weichert, Richard  239 Weingartner, Felix  274, 284–285, 317, 321 Whiteside, Thomas  130 Wildermann, Hans  9, 47, 284, 292, 308, 337–353, 361, 365–367 Wilhelm I.  26, 28, 45 Wilhelm II.  28–30, 289–290 Wilhelm V.  296 Wille, Bruno  354 Windelband, Wilhelm  12 Winds, Adolf  234 Wolzogen, Hans von  359 Wonder, Erich  371 Woods, A. H.  143 Worringer, Wilhelm  13, 189–192, 199, 211, 218, 239, 250 Wunderwald, Gustav  9, 47, 284–285, 287, 291–295, 297–303, 307–308, 328–329, 352–354, 361, 365–366

Z

Ziegfeld, Florenz Jr.  317 Ziegler, Edward  144, 160, 169 Zola, Émile  80, 114–115

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