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Barbara Kuchler
Die soziale Seite an Wirtschaft und Wissenschaft Eine kritische Betrachtung zweier Spezialsoziologien
Die soziale Seite an Wirtschaft und Wissenschaft
Barbara Kuchler
Die soziale Seite an Wirtschaft und Wissenschaft Eine kritische Betrachtung zweier Spezialsoziologien
Barbara Kuchler Fakultät für Soziologie Universität Bielefeld Bielefeld, Nordrhein-Westfalen Deutschland
ISBN 978-3-658-23103-3 ISBN 978-3-658-23104-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-23104-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung: Das Ghetto des Sozialen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Was ist eigentlich „sozial“?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Plan des Buches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.3 David gegen Goliath: Spezialsoziologien gegen Fachdisziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.4 Entzauberung oder Anerkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.5 Die Konservierung der klassischen Begriffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2 Grenzen und Entgrenzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.1 Die offenen Landschaften des Sozialen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.2 Faktizistischer Fehlschluss: Grenzen als Schimäre in einer offenen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.3 Feindliche Welten und robuste Koexistenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.4 Instrumentalistischer Fehlschluss: Grenzen als rhetorische Waffe von Akteuren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2.5 Vom Einfachen zum Komplexen: Die elastische Ordnung von Grenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2.6 Von einfachen zu komplexen Kopplungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2.7 Von Frontalkollisionen zu aufgeklärter Koexistenz. . . . . . . . . . . . . . 96 2.8 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 3 Macht und andere Politismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 3.1 Wider naive Akteursmodelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 3.2 Macht und Mikropolitik in der Wissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3.3 Macht und Mikropolitik in der Wirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3.4 Halbierte Akteurskritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3.5 Die Überschätzung von Macht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
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Inhaltsverzeichnis
3.6 Die Überdehnung von Interessen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3.7 Die Überhöhung von Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 3.8 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 4 Netzwerke und der Charme des Konkreten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 4.1 Der Charme des Konkreten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 4.2 Die strukturelle Intuition des Netzwerkdenkens. . . . . . . . . . . . . . . . 191 4.3 Soziale Realität ist kein Faktum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 4.4 Blinder Fleck: Negatives. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 4.5 Blinder Fleck: Generalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 4.6 Blinder Fleck: Struktur als Selektionshorizont . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 4.7 Blinder Fleck: Immaterialität von Sinn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 4.8 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 5 Schlussbetrachtung: Die Autonomie der Soziologie. . . . . . . . . . . . . . . 237 5.1 Die Autonomie der Soziologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 5.2 Autonomie durch Abgrenzung: Hartnäckige Reproduktion von Disziplingrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 5.3 Autonomie durch Arroganz: „Gar nicht erst ignorieren“. . . . . . . . . . 257 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
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Einleitung: Das Ghetto des Sozialen
1.1 Was ist eigentlich „sozial“? Ausgangspunkt dieses Buches war eine Irritation. Als jemand, der in der soziologischen Theorie beheimatet ist, fühlte sich die Autorin zutiefst irritiert angesichts dessen, wie der Begriff „sozial“ in Spezialsoziologien wie der Wissenschaftssoziologie und der Wirtschaftssoziologie verwendet wird. „Sozial“ fungiert dort als Gegenbegriff zum sachlichen Kern des jeweils interessierenden Gegenstandsbereichs. Der Startpunkt wirtschaftssoziologischer Forschungen ist: Märkte haben nicht nur ökonomische, sondern auch soziale Strukturen. Der Startpunkt wissenschaftssoziologischer Forschungen ist: Wissenschaftliche Erkenntnissuche hat nicht nur eine epistemische, sondern auch eine soziale Seite. Im nächsten Schritt wird dann zwar sofort das unauflösliche Zusammenspiel beider Seiten konstatiert, ihre enge Verwobenheit und wechselseitige Durchdringung. Es wird etwa gesagt, „das Ökonomische und das Soziale sind nahtlos ineinander verflochten“ (MacKenzie 2005a: 79), oder es bestehe ein „komplexes Geflecht epistemischer, ökonomischer, ethischer und sozialer Werte in der Wissenschaft“ (Carrier/Weingart 2009: 377). Aber das kann man ja nur sagen, wenn die beiden Seiten erst einmal begrifflich unterschieden werden. Das ist nun das genaue Gegenteil dessen, was in der Allgemeinen Soziologie als Startpunkt soziologischen Denkens gilt. Hier wird gelehrt: „Sozial“ im soziologischen Gebrauch ist – anders als im Alltagsgebrauch – der Überbegriff für alle gesellschaftlichen oder zwischenmenschlichen Beziehungen überhaupt.1
1An
der Universität Bielefeld, wo die Autorin lehrt, ist dies buchstäblich Inhalt der ersten Sitzung des ersten Semesters (Kieserling 2014), und die Autorin hat dies unzähligen Soziologieanfängern beizubringen versucht.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 B. Kuchler, Die soziale Seite an Wirtschaft und Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23104-0_1
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1 Einleitung: Das Ghetto des Sozialen
Der Begriff ist kein Partialbegriff, der sich auf irgendwelche bestimmten Formationen des Tuns in Gesellschaft bezieht. Er folgt also nicht dem Schema von Alltags-Wortbildungen wie „Sozialministerium“, „Sozialversicherung“, „Sozialdemokratie“ oder „Jetzt sei doch mal sozial!“, wo er eine menschenfreundliche, solidarische, altruistische Grundeinstellung zum Ausdruck bringt; vielmehr ist soziologisch gesehen ist ein Krieg genauso ein sozialer Sachverhalt wie eine Krankenversicherung, und skrupellose Ausbeutung genauso wie betriebliche Mitbestimmung. Auch ist „sozial“ kein Synonym für interaktive kommunikative Formate wie „soziale Medien“ oder „soziale Netzwerke“; die New York Times ist nicht weniger sozial als Twitter. Bei Max Weber kann man lesen: Sozial ist alles, was eine Orientierung auf einen Anderen enthält, gleich welcher Art diese Orientierung ist (Weber 1921: 1). Bei Luhmann gilt dann: Sozial ist alles, was Kommunikation ist (Luhmann 1984: 191 ff., 1997: 78 ff.). Sinngleich heißt es bei Latour (2005): Sozial ist alles, was mit Assoziationen oder Verknüpfungen zwischen Menschen zu tun hat. Soweit man den Gesellschaftsbegriff verwendet, kann man auch sagen: Sozial ist alles, was in der Gesellschaft vorkommt. Damit verbieten sich dann achtlos gebildete Begriffspaare wie „Staat und Gesellschaft“, „Schule und Gesellschaft“ oder „Kirche und Gesellschaft“, die als abkürzende Redeweise für Praktiker nützlich sein mögen, aber soziologisch unterreflektiert und unbrauchbar sind. Akzeptiert man diesen Ausgangspunkt, dann müssten auch Formulierungen wie „ökonomische und soziale Kräfte“, „Märkte und ihre sozialen Einbettungen“, „epistemische und soziale Faktoren“ oder „Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft“ aus dem soziologischen Sprachgebrauch ausgeschlossen sein.2 Auch Wirtschaft und auch Wissenschaft sind selbstverständlich und von Anfang an soziale Sachverhalte und Teil der Gesellschaft, und sie können deshalb nicht mit der Konjunktion „und“ daran angekoppelt werden. Wer so redet, der produziert einen
2Die
Formulierung „Science, Technology and Society“ taucht gelegentlich in der Wissenschaftssoziologie auf und wird sogar als aktualisierte Dechiffrierung des Kürzels STS vorgeschlagen, anstelle des traditionellen „Science and Technology Studies“ (Hess 1997; Sismondo 2008; Lynch 2012). – Soziologische Klassiker verwenden gerne den unsauber gebildeten Titel „Wirtschaft und Gesellschaft“ (Weber 1921; Parsons/Smelser 1956). Bei Weber dürfte dies darauf zurückgehen, dass er den Gesellschaftsbegriff soziologisch generell ablehnt und mithin nicht kontrolliert verwenden kann. „Bei Parsons und Smelser ist der Titel eher“ auf die Absicht eines Dialogs zwischen Soziologie und Ökonomik bezogen als auf die Bezeichnung eines Sachproblems, wie der Untertitel deutlich macht: „A Study in the Integration of Economic and Social Theory“. Im Text lassen die Autoren keinen Zweifel daran, dass sie die Wirtschaft als ein Subsystem der Gesellschaft betrachten.
1.1 Was ist eigentlich „sozial“?
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Restbegriff des Sozialen, der sich gewissermaßen auf alles Übrige bezieht – alles, was nicht den unmittelbaren Fokuspunkt des Interesses ausmacht, aber auch relevant ist. Latour (1987: 141) spricht von einem „Ghettobegriff“ des Sozialen, man könnte auch sagen: „Mülleimerbegriff“.3 Latour bringt das in Zusammenhang mit dem Karikaturbild des Soziologen als desjenigen, der bei gleich welchem Thema immer fragt: Was hat das mit Kapitalismus, Klassen, Rassen, Geschlecht, Kultur, Lobbyismus zu tun? (ebd.: 62) Er gehört damit allerdings zu den ganz wenigen, die von der Basierung in einer Spezialsoziologie aus gegen diesen Begriffsgebrauch protestieren (s. auch Latour 2005). Kaum jemanden sonst im Feld der Wissenschaftssoziologie oder der Wirtschaftssoziologie scheint dieser Begriffsgebrauch zu stören. Wie unbefriedigend ein solcher Residualbegriff des Sozialen ist, wird schon daran deutlich, dass er in der Generalisierung über mehrere Bereiche hinweg nicht funktioniert. So gehören für die Wissenschaftssoziologie zu den „sozialen Faktoren“ unter anderem ökonomische Verwertungsinteressen, während für die Wirtschaftssoziologie harte ökonomische Größen ja gerade aus dem Bereich des Sozialen ausgeschlossen sind. Umgekehrt gehören für die Wirtschaftssoziologie zu den „sozialen Faktoren“ unter anderem kognitive Konstrukte und Deutungskonventionen, etwa wirtschafts- und finanzwissenschaftliche Theorien, die wiederum für die Wissenschaftssoziologie aus dem Bereich des Sozialen ausgeschlossen sind. Für die Rechtssoziologie wiederum würden zu den „sozialen Faktoren“ sowohl kognitive Konstrukte als auch ökonomische Interessen gehören, während der nicht-soziale Kern der Sache hier in Normen und Paragrafen bestehen würde (Peller 1985). Ein so gebildeter Begriff des Sozialen wird in der Addition über mehrere Bereiche hinweg mithin zwangsläufig inkonsistent und liefert nur unsinnige Ergebnisse. Die Alternative ist zu sagen: Wirtschaft und Wissenschaft, oder Marktgeschehen und Forschungsgeschehen, sind auch in ihrem tiefsten Inneren, auch und gerade in ihrer genuin ökonomischen oder genuin epistemischen Qualität sozial. Das Soziale muss ihnen nicht in einem zweiten Schritt hinzugefügt werden, vielmehr ist auch ihr ureigenster Sachkern nur als soziales Projekt zu verstehen. Das heißt: Auch Markttransaktionen zwischen anonym bleibenden Geschäftspartnern in Einmalkontakten sind ein soziales Geschehen. Auch wissenschaftliche Forschung, soweit sie sich an harten Daten, Experimenten und
3Den
Ausdruck „Mülleimerbegriff“ verwendet Steven Shapin (2012: 172), wenn auch mit Blick nicht auf den Sozialitätsbegriff, sondern auf den Subjektivitätsbegriff, als die zweite, vernachlässigte Seite des Duals Objektivität/Subjektivität.
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1 Einleitung: Das Ghetto des Sozialen
rgumenten orientiert, ist ein soziales Geschehen. Das Soziale ist nicht ihr AndeA res, das durch zusätzliche Faktoren – Netzwerke, Macht, Kultur usw. – hinzukommt, sondern das Soziale ist von Anfang an ihr Betriebsmodus. Es sind immer schon Varianten sozialer Ordnung, mit denen man hier zu tun hat. Gelegentlich wird denn auch – sei es von Abweichlern im Feld selbst, sei es von Autoren außerhalb des Feldes – Kritik an dieser Begriffsanlage geäußert und gibt es Vorstöße zum Umsturz oder Umstülpen des Begriffsgebrauchs, die aber den dominanten Sprachgebrauch nicht verunsichern können. So stellt beispielsweise Axel Paul fest, für das Projekt einer soziologischen Geldtheorie komme es darauf an, „wirtschaftliche Prozesse als soziale Prozesse zu verstehen“ (Paul 2002: 243), statt nur ihre Ergänzung durch oder Einbettung in soziale Prozesse und Strukturen zu untersuchen. Ebenso wendet sich Michel Callon gegen den in der Wirtschaftssoziologen dominierenden Sprachgebrauch, da dieser die Aufmerksamkeit vom Kern von Märkten ablenke: „Markets are not embedded in networks. In other words, it is not a question of adding social, interpersonal, or informal relations in order to understand their functioning. […] To understand a market it is necessary first to agree what it does seriously; that it to say, the construction of calculative agents who consider themselves to be quits once the transaction has been concluded.“ (Callon 1999b: 192 f.). Und auch Greta K rippner stellt fest, der Einbettungsbegriff sei kontraproduktiv, weil er das Soziale für das Drumherum von Märkten reserviere und die Sozialität von Märkten selbst dementiere: „[T]he concept [of embeddedness] was used to envelope and submerge the asocial market construct in social relations, all the while preserving intact the notion that somewhere there was a hard core of market behavior existing outside of social life (and hence that needed to be ‘embedded’).“ (Krippner 2001: 777). Parallel wird über eine soziologische Theorie der Wissenschaft gesagt, diese müsse, wenn man sie ernst nehme, Erkenntnis als sozial dechiffrieren. Sie müsse als soziologische Erkenntnistheorie angelegt sein, die das Erkenntnisproblem mit soziologischen Mitteln traktiere und nicht nur dekonstruiere – die eine „sociological reconstitution of questions of truth, rationality, objectivity, and value“ leiste, wie Dick Pels schreibt (1996: 42). Ebenso wirft André Kieserling der gängigen Wissenschaftssoziologie vor, sie mache es sich zu leicht, wenn sie auf die Konstruktion eines soziologischen Wahrheitsbegriffs verzichte und einfach „das gesamte epistemologische Vokabular für gegenstandslos erklärt. Wissenschaft erscheint dann als Alltagsverhalten oder als Mikropolitik. Zu ihrer Behandlung reicht die unspezifische Begrifflichkeit einer allgemeinen Sozialtheorie. Ein Begriff für die Sozialität von Erkenntnis kommt so nicht zu Papier.“ (Kieserling 2004: 33). Und ganz ähnlich fordern auch, aus dem Inneren des Feldes heraus,
1.1 Was ist eigentlich „sozial“?
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Harry Collins und Robert Evans mit der von ihnen ausgerufenen „Dritten Welle“ der Wissenschaftsforschung: „Sociologists of knowledge must be ready to build [not only: to debunk] categories having to do with knowledge“ (Collins/Evans 2002: 240). Speziell für die Wissenschaftssoziologie mag diese Forderung wie ein Déja-vu wirken, weil ja schon in der Gründungsphase der konstruktivistischen Wissenschaftssoziologie vor mittlerweile vier Jahrzehnten entschlossen die „soziale Konstitution von Wissen“ verkündet worden war. „SSK [Sociology of Scientific Knowledge] sought to show that knowledge was constitutively social, and in so doing, it raised fundamental questions about taken-for-granted divisions between ‘social versus cognitive, or natural, factors’.“ (Shapin 1995: 289). Dass man den erfolgreichen Abschluss dieses Projekts immer noch vermissen kann, liegt daran, dass es in der Durchführung nur als eine Dekonstruktion der Erkenntnisqualität von Erkenntnis verstanden wurde: Noch die scheinbar sichersten „Fakten“ und „Wahrheiten“ sind letztlich keine, sie verdienen den Namen nicht und können deshalb immer nur in Anführungszeichen stehen. Sie haben letztlich keine Erkenntnisqualität, oder keine, die beliebigen anderen Konstruktionen – der Magie der Azande, dem Wissen der Tresorknacker – überlegen wäre; ihre eventuelle Härte und Unumstößlichkeit gewinnen sie durch andere, nicht-epistemische Qualitäten wie Aushandlung, Vernetzung, Macht. Man kann sagen: Erkenntnis wurde als sozial rekonstruiert; aber es wurde nicht Erkenntnis als sozial rekonstruiert. Eine ähnliche Trajektorie lässt sich auch an der neueren Wirtschaftssoziologie feststellen. Der Anspruch ist, das Soziale im Kern von Märkten aufzuspüren, nämlich in Fragen von Wert und Preis; aber es wird gefunden nur auf Kosten ihrer Marktqualität und durch Herausstellen ihrer Konventions-, K ultur-, Macht- oder Beziehungsqualität. Dagegen eben richtet sich der Protest von Callon, der ihre genuine Marktqualität ins Zentrum stellen will. Von der begrifflichen Tiefenstruktur her bleibt „Soziales“ damit der Gegenbegriff zum genuin Epistemischen oder genuin Ökonomischen. Der Sozialitätsbegriff ist nicht ein Gottesbegriff oder Überbegriff, der Welterkenntnis und Markttransaktionen als einen Fall neben anderem einschließt – neben politischer Entscheidungsfindung, rechtlicher Konfliktlösung, religiöser Sinnstiftung, massenmedialer Aufmerksamkeitssteuerung, familialer oder freundschaftlicher Intimkommunikation. Er wird vielmehr mit den politischen, rechtlichen, religiösen, massenmedialen, familialen, freundschaftlichen Komponenten an Märkten und an Erkenntnisarrangements gleichgesetzt. So wie die Schweine in Orwells Farm der Tiere sagen: „Alle Tiere sind gleich, aber manche Tiere sind gleicher als andere“, so gilt hier: Alles ist sozial, aber manches ist sozialer als anderes.
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1 Einleitung: Das Ghetto des Sozialen
1.2 Plan des Buches Wie kann es sein, dass der dominierende Sprachgebrauch in Wissenschafts- und Wirtschaftssoziologie seit Jahrzehnten auf einem solchen Ghettobegriff des Sozialen beruht? Und welche Folgen hat es für die unter dieser Begriffsarchitektur ablaufenden Forschungen? Das sind die Fragen, die dieses Buch stellt und beantwortet. Das Ganze ist nämlich keineswegs nur ein bedeutungsloser Streit um des Kaisers Bart, eine scholastische Terminologiefrage – die eitle Diskussion darum, wie das Wörtchen „sozial“ zu verwenden sei.4 Vielmehr hängen davon weittragende Anschlussentscheidungen, wahrgenommene und verbaute Denkoptionen ab. Die in diesem Buch gegebenen Antworten seien kurz vorweg skizziert. Jener Begriffsgebrauch rührt daher, dass Wissenschafts- und Wirtschaftssoziologie sich konstitutiv gegen eine jeweils dominierende Fachdisziplin positionieren, nämlich gegen die Epistemologie beziehungsweise die Ökonomik. An dieser Front macht der Ansatz bei „epistemischen und sozialen Faktoren“ oder bei „Märkten und ihren sozialen Einbettungen“ Sinn. Auf diese Weise wird den typischen Überidealisierungen der Fachdisziplinen etwas entgegengesetzt und das Augenmerk wird auf typisch soziologische Fragen gelenkt – eben auf Fragen von Konsens und Konflikt, Kultur und Konvention, Durchsetzung und Diffusion, Macht und Netzwerken. Der Begriffsrahmen ist dann gleichzeitig ein Kampfmittel: Er liefert in eins mit einer Aussage über den Gegenstand auch die Selbstbehauptung der Disziplin gegen einen übermächtigen Gegner. „In der Wissenschaft wirken nicht nur epistemische, sondern auch soziale Kräfte“ heißt gleichzeitig: Man braucht nicht nur Wissenschaftsphilosophen und Wissenschaftshistoriker, sondern auch Wissenschaftssoziologen. Und „Märkte haben nicht nur ökonomische, sondern auch soziale Strukturen“ heißt gleichzeitig: Man braucht nicht nur Ö konomen,
4Ähnlich
sagt für einen anderen Fall auch Adorno (1972) in seinem Vortrag auf dem Soziologentag 1968: Es gehe keineswegs um einen bloßen „Nomenklaturstreit“ über die „eitle Sorge“, ob die Gesellschaft nun „Spätkapitalismus“ oder „Industriegesellschaft“ heißen solle. Dass die Fähigkeit zu hinreichend abstraktem Negieren eine Voraussetzung für wissenschaftlichen Fortschritt ist, wird in der Wissenschaftssoziologie etwa im Kontrast zur Amateurwissenschaft des 18. Jahrhunderts festgestellt, die sich durch die bloße Aneinanderreihung einer Vielzahl von Beobachtungen ohne systematische Problemexposition und ohne strategisch relevante Richtungsentscheidungen auszeichnete (Stichweh 1984: 64).
1.2 Plan des Buches
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sondern auch Wirtschaftssoziologen.5 Man verschenkt damit aber die Möglichkeit, die Sozialität von Erkenntnis oder von Märkten begrifflich tieferzulegen, nämlich einen von vornherein soziologisch gebildeten Begriff von Erkenntnis oder von Märkten zu entwickeln, der auch und gerade deren epistemische oder ökonomische Qualität als Fall sozialer Ordnung entschlüsselt. Der Ansatz bleibt letztlich sekundär und parasitär: Er setzt voraus, dass irgendjemand eine idealisierte Vorstellung von objektiver Erkenntnis oder von effizienten Märkten behauptet hatte. Dies wird im verbleibenden Teil der Einleitung weiter ausgeführt. Im Weiteren hat diese Begriffsanlage gesellschaftstheoretische Implikationen. Insbesondere führt sie zu einem gespannten Verhältnis zu einem wichtigen Strang gesellschaftstheoretischen Denkens, nämlich Theorien gesellschaftlicher Differenzierung (Kap. 2). Denn wer mit dem Satz beginnt „Wissenschaft ist auch sozial“ oder „Märkte sind auch sozial“, betont die Kontinuität zwischen Wissenschaft bzw. Wirtschaft und dem Rest der Gesellschaft. Man zeigt, dass wissenschaftliches Wissen auch nicht qualitativ anders ist als anderes Wissen, dass Forschung letztlich genauso funktioniert wie Politik oder andere Praxiskontexte, dass sie genauso durchzogen ist von Macht und „Vitamin B“, von Karriere- und Profitinteressen wie diese. Oder man zeigt, dass auf Märkten auch keine zauberhafte, allwissende „unsichtbare Hand“ wirkt, sondern dass dort ganz normale Aushandlungs- und Durchsetzungsprozesse stattfinden und allerlei politische, kulturelle, ideologische und persongebundene Kräfte ihre Spuren hinterlassen. Dagegen betonen Differenzierungstheoretiker wie Luhmann oder Bourdieu die Diskontinuität zwischen gesellschaftlichen Bereichen und die Spezifität, Selbstreferenz, Eigenlogik, Eigensinnigkeit der einzelnen Felder oder Funktionssysteme. Wissenschaft ist gerade nicht Politik, Wirtschaft ist nicht Familie, Politik ist nicht Religion, usw. usf. in allen denkbaren Querbeziehungen. Dass es auch Überschneidungen, Wechselbeziehungen, begrenzte Konvertibilitäten zwischen den Bereichen gibt, wird nicht bestritten, ist aber erst der zweite Schritt, während der erste und fundamentalere Schritt darin besteht, die jeweilige Besonderheit
5Granovetters
erklärte Absicht in dem Urtext der Neuen Wirtschaftssoziologie etwa ist „to demonstrate […] that there is a place for sociologists in the study of economic life“ (Granovetter 1985: 507). Wem muss man das demonstrieren? Wohl kaum den Soziologen, sondern den Ökonomen, hier: den Institutionenökonomen. Und noch Jahrzehnte später macht es Sinn, als Ergebnis einer langen Studie festzustellen, dass „economic valuation […] does not stand outside of society“ (Fourcade 2011) – wie wenn man Soziologen davon erst überzeugen müsste.
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1 Einleitung: Das Ghetto des Sozialen
dieser Bereiche zu begreifen.6 Deshalb werden die Grenzen zwischen unterschiedlichen Feldern, Systemen oder Sinnsphären von beiden Seiten sehr unterschiedlich gesehen. Den einen gelten Grenzen als schwach und durchlässig: Grenzen sind mehr oder weniger künstlich in eine offene Welt eingezogene Barrieren, Waffen strategisch handelnder Akteure und in jedem Fall Produkt kontingenter Grenzarbeit. Für die anderen sind Grenzen „stark“: Sie sind emergente Strukturen, die zwar historisch variieren, aber deshalb nicht durch Akteure beliebig manipuliert werden können, sondern eigenen Restriktionen und eigenen Entwicklungstrajektorien unterliegen. Der „soziale“ Charakter von Wissenschaft und Märkten wird in den Spezialsoziologien dann vorzugsweise in einer von zwei Richtungen ausbuchstabiert: in Richtung Macht oder in Richtung Netzwerke. Dies sind die Themen der nächsten beiden Kapitel. Verbreitet findet man eine Neigung zu politistischen Denkweisen, das heißt zur Betonung von Macht, von mikro- oder makropolitischen Spielen und Durchsetzungskämpfen (Kap. 3). Es gibt eine starke Tendenz, den Erfolg der vorzufindenden Arrangements aus den Interessen der Mächtigen oder der Macht der Interessierten heraus zu erklären und die Geschichte mutmaßlicher wissenschaftlicher Wahrheiten und mutmaßlich effizienter Marktstrukturen als Geschichte von aggressiven Selbstbehauptungsstrategien, strategischen Allianzen und staatlichen Regulierungen zu erzählen. Angesichts dieses Narrativs stellt sich die Frage, ob der Machtbegriff damit nicht überdehnt wird. Nicht dass Macht nicht in allen „Ecken“ der Gesellschaft irgendwie vorkommen würde. Aber wer Macht zur explanatorischen Grundkategorie macht, der läuft Gefahr, Interessen zu reifizieren, Machthaber bei Bedarf zu projizieren und im Gegenzug vielleicht Hoffnungen auf eine mögliche Demokratisierung der Verhältnisse über zu strapazieren. Die Alternative zu Macht, als grundsätzlich antagonistisch gefärbter Sozialform, sind Netzwerke als grundsätzlich kohäsiv gefärbte Beziehungen. In beiden Spezialsoziologien sind deshalb netzwerktheoretische Strömungen prominent (Kap. 4). Der Netzwerkbegriff verspricht, die konkrete, „wirklich existierende“ Schicht sozialer Realität bloß zu legen: wer wann mit wem zu tun hat, auf welchen konkreten Wegen wissenschaftliche Ideen und Innovationen sich
6Dieses
Desiderat formulieren in der Wissenschaftssoziologie auch die Autoren der „Dritten Welle“: „By emphasizing the ways in which scientific knowledge is like other forms of knowledge, sociologists have become uncertain about how to speak about what makes it different“ (Collins/Evans 2002: 239). Ähnlich wünscht sich Richard Swedberg (2005b: 233) in der Wirtschaftssoziologie mehr Analysen, die an wirtschaftsspezifischen Begriffen wie Ressource oder Profit ansetzen, statt nur an „sozialen“ Strukturen (Vgl. dazu auch unten Abschn. 3.5).
1.2 Plan des Buches
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d urchsetzen oder marktrelevante Informationen und Strategien sich verbreiten. Man kann hierbei jedoch auf das Problem stoßen, dass soziale Realität ihrer Natur nach oft eine „hintergründige“ Realität ist, die nicht immer den Charakter des Konkreten, Faktischen und Festnagelbaren hat, sondern sich in impliziten Unterstellungen, gewagten Generalisierungen und unausgesprochenen Ausschlussbereichen versteckt. Überall dort, wo solche nicht unmittelbar faktenhaften Schichten sozialer Realität involviert sind, zeigen sich die blinden Flecken des Netzwerkdenkens – beispielsweise wenn es um den Umkipppunkt zwischen privat ausgehandelten und öffentlich beobachtbaren Preisen geht oder um die Natur des Geldes als flüchtigen, ortlosen und formlosen Mediums. Ziel ist es, einige in Wissenschaftssoziologie und Wirtschaftssoziologie prominente Theoriestrategien herauszudestillieren und mit Kritik zu konfrontieren. Es geht dabei nicht darum, einzelne Autoren oder Forschungsrichtungen mit ihren Beiträgen angemessen darzustellen und zu würdigen, wie ausdrücklich betont werden soll, um keine falschen Erwartungen zu wecken. Rekonstruiert werden sollen vielmehr die oft impliziten Prämissen, die die Literatur durchziehen und bei aller Heterogenität doch so weit integrieren, dass sie als dynamisches, in sich zusammenhängendes Forschungsfeld fungieren kann. Diese Prämissen sind eben deshalb oft verstreut, sie finden sich nicht an einem Ort oder bei einem Autor konzentriert, vielmehr erfordert ihr Herauspräparieren oft gerade das Zerschneiden von Autoren, Ansätzen, Theorieschulen. In diesem Sinn wird hier gewissermaßen eine Röntgenaufnahme der theoretischen Tiefenstruktur der beiden Forschungsfelder angeboten. Sowohl die Rekonstruktion als auch die Kritik sind sicherlich an vielen Punkten überpointiert – im Interesse der Kürze und entsprechend dem Zweck, ein Nachdenken über begriffliche Grundlagen anzuregen. Um Alternativen zu den in Spezialsoziologien dominierenden Theoriestrategien zu skizzieren, wird in diesem Buch speziell auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns zurückgegriffen. Luhmann ist im deutschen Sprachraum ein naheliegender Kandidat und Gegenspieler, da er unablässig die Eigenlogik, Selbstreferenzialität und Geschlossenheit von Funktionssystemen betont und deshalb auch oft zum Ziel von Angriffen aus den Spezialsoziologien wird. Es geht aber gleichwohl nicht darum, speziell auf ein Luhmann’schen Denkuniversum hinzuführen, sondern darum, einige allgemeine Probleme herauszuarbeiten, die mit dem Fokus auf den „sozialen“ Charakter von Wissenschaft bzw. Wirtschaft verbunden sind und die im Prinzip auch von anderen Theorierichtungen aus thematisiert werden können. So wird man etwa auch von Bourdieu aus die Spezifität oder Irreduzibilität von Feldern wie Wissenschaft oder Wirtschaft betonen, die je eigenen Gesetze oder nomoi, eigene Kapitalsorten und Akkumulationsprozesse, eigene Kämpfe und Konflikte ausbilden und nicht auf die immer gleichen „Soziologismen“ reduziert werden können (Bourdieu 1991: 3). Dasselbe würde für die
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1 Einleitung: Das Ghetto des Sozialen
amerikanisch-institutionalistische Variante der Theorie funktionaler Differenzierung gelten, die jedes institutionelle Feld anhand seines eigenen Set von Rollen, Ressourcen, Konflikten, Konkurrenzen und symbolischen Medien beschreibt (Friedland/Alford 1991; Abrutyn 2009, 2014). Und auch aus der Kritischen Theorie kommen Stimmen, die beklagen, mit dem typisch wirtschaftssoziologischen Ansatz gehe ein gehaltvolles Bild der Wirtschaft und des Kapitalismus gerade verloren (Sparsam 2015a, 2015b). Das Buch ist insofern zwar ein systemtheoretischer Beitrag zur Diskussion, aber nicht ein Beitrag zu einem systemtheoretischen Problem, sondern ein Beitrag zu einem allgemeinen Problem, das sich unabhängig von bestimmten Theoriepräferenzen stellt. Das Buch will insofern die chronisch unterentwickelte Verständigung zwischen speziellen Soziologien einerseits und allgemeinen soziologischen Theorien andererseits vorantreiben (Esser 1989; Shapin 1995; Pels 1996). Es richtet sich an mehrere Lesergruppen und bietet in mehreren Richtungen Erkenntnisgewinn. Erstens will es Wissenschaftssoziologien und Wirtschaftssoziologen Gründe für mögliches theoretisches Unbehagen an ihren Forschungen nahebringen. Zweitens will es Gesellschaftstheoretikern Material und kompakte Information zu diesen beiden Teilsystemen oder Feldern liefern, um auf diese Weise vielleicht die detailgenaue theoretische Rekonstruktion der dort vorfindlichen Problemlagen anzuregen.7 Drittens schließlich bietet das Buch – als rekonstruktive Leistung, die für verschiedene Lesergruppen interessant sein kann – eine Parallelisierung der Forschungslage in den beiden behandelten Spezialsoziologien, die nicht auf den ersten Blick offensichtlich ist und oft überraschende Einsichten bietet.
7Dies
richtet sich insbesondere auch an die Autorin selbst. Die Autorin arbeitet an einer Studie zur Autonomisierung von Finanzmärkten, die im systemtheoretischen Konzept der Autonomie gegründet ist und die Entwicklung von Finanzmärkten im letzten halben Jahrhundert – Stichworte Disintermediation und Verbriefung, Aufstieg von Derivatemärkten – autonomietheoretisch zu rekonstruieren versucht (s. für eine erste Darstellung Kuchler 2018). Die Beschreibung des Wirtschaftssystems ist bei Luhmann vergleichsweise dünn geblieben und von der Tiefe und Haltbarkeit der Einsichten her nicht zu vergleichen mit seinen Analysen etwa des Politik- oder des Rechtssystems. Hier haben Systemtheoretiker noch viel Nachholarbeit zu leisten. Dies ist nur anhand einer sorgfältigen Aneignung des Forschungsstandes der Finanzsoziologie zu leisten, was dann aber auch eine leidenschaftliche Auseinandersetzung mit deren theoretischen Prämissen rechtfertigt. – Die Frage nach der Autonomisierung von Finanzmärkten ist in gewisser Weise das Opfer der wirtschaftssoziologischen Präferenz für die Einbettungsperspektive. Autonomie ist das Gegenteil von Einbettung, nämlich Entbettung. Beide Fragestellungen sind deshalb auf fundamentale Weise imkompatibel – ein Problem, das in der wirtschaftssoziologischen Diskussion bisher kaum bemerkt worden ist (s. aber Langenohl 2008a, 2008b, 2015).
1.3 David gegen Goliath: Spezialsoziologien gegen Fachdisziplinen
11
Zu begründen bleibt noch, warum so verschiedene Spezialsoziologien zusammen in einem Buch behandelt werden. Die Antwort ist, wie meist, eine Mischung aus rationalen und weniger rationalen Gründen. Mehr als eine Spezialsoziologie muss es sein, um ein allgemeines Muster zu etablieren und Parallelen in der Begriffsarchitektur zu sehen. Mehr als zwei wiederum wären aus Kapazitätsgründen nicht – oder noch schlechter als ohnehin der Fall war – zu bewältigen gewesen. Die beiden gewählten Fälle bieten sich an, weil hier der eingangs notierte Gebrauch des Begriffs „sozial“ auffällig ist. Eventuell lässt sich ähnliche Kritik aber auch an anderen Spezialsoziologien anbringen, etwa der Rechtssoziologie (zu Parallelen zwischen Wissenschaftssoziologie und Rechtssoziologie vgl. Jasanoff 2008a). Dass in der Auswahl der Fälle daneben auch berufsbiografische Zufälle eine Rolle spielen, ist mit dem eben erläuterten Interesse der Autorin an Finanzmarktsoziologie bereits festgehalten worden. Das Buch ist behaftet mit allen Schwierigkeiten der Auseinandersetzung der Theoretikerin mit Themen und Forschungsfeldern, die andere besser kennen als sie. Es ist seiner Anlage gemäß voll von Übergeneralisierungen. So ist häufig die Rede von „der“ Wissenschaftssoziologie und „der“ Wirtschaftssoziologie, was dem Vorwurf der überintegrierten Darstellung heterogener Forschungsfelder nicht entgegen kann. Auch ist nicht zu vermeiden, dass bei einem solch gewagten Zugriff auf gleich zwei Spezialsoziologien manche Literatur, manche Debatte, manch relevantes Argument mir entgangen ist. Ich möchte deshalb die heterodoxen Wissenschaftssoziologen Collins und Evans mit einer vorwegnehmenden Entschuldigung zitieren. Was sie sagen, gilt in meinem Fall wegen der größeren Distanz zwischen Kommentatorin und kommentiertem Forschungsfeld in noch viel höherem Maß. „Violence is often done when one compresses the work of many authors and thinkers into a few simple formulae […]. So we apologize to all the contributors […] whose work we caricature, and hope the violence is not too great; fortunately, the project depends not on historical or scholarly accuracy, but on sketching the broad sweep of ideas“ (Collins/Evans 2002: 237).
1.3 David gegen Goliath: Spezialsoziologien gegen Fachdisziplinen Die Soziologie ist seit jeher in Etablierungs- und Abgrenzungskämpfe verstrickt. In der Gründerzeit musste sie sich, als „Spätentwicklerin“ unter den Sozialund Geisteswissenschaften, in einem durch andere Disziplinen scheinbar schon lückenlos besetzten Feld etablieren und ihre Existenzberechtigung gegenüber älteren und besser definierten Fächern wie Nationalökonomie, Jurisprudenz oder
12
1 Einleitung: Das Ghetto des Sozialen
Theologie erweisen.8 Deshalb sprachen die Klassiker bei der Erörterung jedes Themas immer auch über die Soziologie an sich und im Allgemeinen; deshalb gibt es heute noch das Problem, dass jeder gesellschaftliche Bereich doppelt beschrieben wird – Schulen von der Pädagogik und von der Bildungssoziologie, Religion von der Theologie und von der Religionssoziologie usw. –; und deshalb hört man in der Soziologie besonders oft das Argument, Disziplinen definierten sich nicht über ihren Gegenstand, sondern über ihre Problemperspektive oder ihr Erkenntnisinteresse (Kieserling 2004; Stichweh 2007). Auch wenn die Existenzberechtigung der Soziologie als solcher heute nicht mehr infrage steht (pace Stinchcombe 1994), ist die Selbstbehauptung neben prominenteren, oft paradigmatisch reiferen und in der Öffentlichkeit stärker wahrgenommenen Disziplinen gleichwohl ein Dauerproblem. Wenn jemand in der Gesellschaft sich darüber informieren will, wie Märkte funktionieren, wird er sich primär an Ökonomen, nicht an Wirtschaftssoziologen wenden. Wenn jemand wissen will, was das Geheimnis der modernen Wissenschaft ist, wird er sich an Wissenschaftstheoretiker und erst unter „ferner liefen“ vielleicht auch an Wissenschaftssoziologen wenden. Insofern schleppt die Soziologie ihr Etablierungs- und Abgrenzungsproblem mit sich. Wissenschaftssoziologie und Wirtschaftssoziologie kämpfen diesen Kampf jeweils an ihrer Front. Sie konstituieren sich in einem Akt der Ablehnung und Auflehnung: Es ist nicht so, wie die zuständige Fachdisziplin sagt. Damit bleiben sie aber – entgegen ihrem Willen und ihrer erklärten Absicht – an bestimmte Begriffsdispositionen jener Fachdisziplinen gebunden. Es macht sich hier die Dialektik des Kampfes bemerkbar: In der Entgegensetzung ist noch ein Moment von Gebundenheit enthalten (Hegel 1807; Horkheimer/Adorno 1944). Wissenschaftssoziologen nehmen einen epistemologisch gedachten Erkenntnisbegriff und Wirtschaftssoziologen einen ökonomisch gedachten Marktbegriff zum Ausgangspunkt
8Die
Soziologie der Klassikerzeit beantwortete die Frage nach ihrem Verhältnis zu älteren sozial- oder geisteswissenschaftlichen Disziplinen mit Verweis auf ihre Wissenschaftlichkeit, während ihr jene anderen Disziplinen als unwissenschaftlich, mythisierend und idealisierend galten (Kieserling 2004). Und auch heute noch können Epistemologie und Wirtschaftswissenschaften routinemäßig als „weltfremd“, „präskriptiv“ oder „normativ“ bezeichnet werden (Woolgar 1981; Hirsch/Michaels/Friedman 1987; Fuller 1993; Hess 1997; Frankfurter/McGoun 1999; Cabantous/Gond 2011; McCloskey 2015). In der Systemtheorie wird gelegentlich festgestellt, die Reflexionstheorien seien eigentlich gar keine Wissenschaft, sondern vorrangig Teil „ihres“ jeweiligen Funktionssystems, also die Ökonomik Teil der Wirtschaft, die Politologie Teil der Politik, die Pädagogik Teil der Erziehung usw. (Luhmann 1984: 623 f.; Kieserling 2004: 46 ff.).
1.3 David gegen Goliath: Spezialsoziologien gegen Fachdisziplinen
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und sagen dann, im zweiten Schritt, dass es so nicht ist, dass die Wirklichkeit anders beschaffen ist, dass nämlich in Erkenntnisprozessen und in Märkten auch soziale Faktoren eine Rolle spielen. Damit machen sie eine a-soziale Version dessen, was Erkenntnis ist, oder dessen, was ein Markt ist, zu ihrem Ausgangspunkt. Alles Weitere ist ein Dagegen-Anrennen. Die Fachdisziplinen beginnen mit einem Sachproblem oder einer Sachunterscheidung. Epistemologen fragen nach der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt, nach der Relation zwischen einem Erkennenden und einer Welt, die zu erkennen ist, also nach einer Subjekt/Objekt-Relation. „For the epistemologist, the relationship between the knower and the known is the object of concern“ (Holmes 1986: 610). Auch wenn Erkenntnis nicht mehr realistisch als Abbildung der Welt an sich gedacht wird, so doch als irgendwie rationale, begründete, bewährte oder sonst wie besonders qualifizierte Erkenntnis. Das Subjekt wird dabei tendenziell als eine a-soziale Gegebenheit gedacht: entweder als einsames Bewusstsein oder als grandios übergeneralisiertes Kollektivsubjekt,9 etwa eine evolutionär sich entwickelnde Menschheit, aber nicht als ein in der Sozialdimension problematisches Konglomerat von Akteuren.10 Die epistemische Relation selbst ist keine soziale Relation, sondern eine sozial sterile Subjekt/ Objekt-Relation. Ökonomen interessieren sich für die Effizienz von Strukturen. Effizienz ist eine Relation von verfügbaren Ressourcen und erzielten Ergebnissen: Die Frage ist, wie viel man mit einem gegebenen Arrangement aus den vorhandenen Ressourcen, Produktionsfaktoren und Weltmöglichkeiten machen kann. Der neoklassischen Markttheorie zufolge kristallisiert sich durch anonyme Prozesse von Konkurrenz und Ausgleich von Angebot und Nachfrage dasjenige Arrangement heraus, bei dem die vorhandenen Möglichkeiten so genutzt werden, dass die Präferenzen oder Nutzenfunktionen der Individuen unter dem Strich bestmöglich bedient werden. Auch dieses Problem liegt vorrangig in der Sachdimension und
9Wirtschaftssoziologisch
versierte Leser werden hier schon Granovetters (1985) Kritik am wahlweise „untersozialisierten“ oder „übersozialisierten“ Akteur erkennen, die dieser den Wirtschaftswissenschaften vorhält – obwohl diese Diskussion sich ja auf eine andere Spezialsoziologie und eine andere Fachdisziplin bezieht. 10Ausnahme ist die Sozialepistemologie, die teils schon in Auseinandersetzung mit der Wissenschaftssoziologie entstanden ist und sich der sozialen Dimension von wissenschaftlicher Erkenntnis zuwendet. Letztlich scheint aber auch diese den epistemologischen Zugriff zentral zu setzen und soziale Fragen ihm unterzuordnen bzw. so beizuordnen, dass ersterer nicht dementiert wird. Mehr dazu mehr im Fazit am Ende dieses Buches.
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1 Einleitung: Das Ghetto des Sozialen
hat wenig soziale Komponenten. Zwar setzen Gleichgewichtsmodelle die Nutzenfunktionen vieler Individuen voraus, die anhand von Paretooptimalitäten gegeneinander verrechnet werden. Aber die Nutzenfunktionen selbst werden wiederum völlig a-sozial und „exogen“ generiert, im einsamen Bezug des Individuums auf den Nutzwert aller denkbaren Güter und Dienstleistungen; Paretooptimalität kennt keinen Neid und keinen Vergleich mit dem Nachbarn, sondern nur absolute Nutzenniveaus; und ein Gleichgewicht kommt zustande durch viele atomistische Entscheidungen in einem Markt, der so groß ist, dass jeder Teilnehmer seine Entscheidungen allein gegenüber „dem Markt“ als reiner Sachstruktur trifft, nicht gegenüber anderen Akteuren.11 Die Soziologie findet solche Zugriffe unrealistisch und überidealisiert. Sie macht sich daran, die Fragestellung zu soziologisieren, und das heißt: von Sachproblemen auf soziale Probleme umzudenken. So wird etwa der Wissensbegriff umgestellt von der Relation Erkennender/Gegenstand oder Subjekt/Objekt auf soziale Relationen, etwa auf Konsens- und Dissensfragen – unter mehr oder weniger radikaler Herauskürzung des Gegenstands. Wissen ist dann alles, was in sozialen Kontexten als Wissen prozessiert und akzeptiert wird, egal wie es um seine „objektive“ Gültigkeit bestellt ist. David Bloor schreibt: „[K]nowledge for the sociologist is whatever people take to be knowledge. It consists of those beliefs which people confidently hold to and live by.“ (Bloor 1976: 2). Für den Soziologen ist Wissen zunächst ein Problem gemeinsamer oder nicht-gemeinsamer Weltkonstruktion, weniger ein Problem zutreffender oder nicht-zutreffender Sacherkenntnis. – Und der Markt erscheint dann weniger als Effizienzproblem denn als Koordinationsproblem. Die Frage ist: Wie können überhaupt verschiedene Akteure in marktmäßigem Austausch miteinander klarkommen, wie können Komplexität oder Unsicherheit so weit reduziert werden, dass Teilnehmer handlungsfähig und Strukturen reproduktionsfähig sind? „How is it possible that economic activities can be coordinated through markets despite the heterogeneous and partly antagonistic motives and interests of the participants?“ (Beckert 2009a: 246). Statt um effiziente, bestmögliche Lösungen geht es darum, überhaupt reproduktionsfähige Lösungen zu finden: „[S]tructures exist
11Auch
hier gibt es mit der Institutionenökonomik Forschungen im Grenzbereich zur Soziologie, die sich etwa für Kontroll- und Vertrauensprobleme zwischen Akteuren interessieren und insofern Probleme in der Sozialdimension stark machen. Aber auch institutionenökonomische Ansätze kommen von der Grundfrage nach Effizienz nicht weg: von der Frage nach mehr oder weniger effizienten Arrangements und welche unter bestimmten Bedingungen zu bevorzugen sind. Hierfür sei abermals auf das Fazit verwiesen.
1.3 David gegen Goliath: Spezialsoziologien gegen Fachdisziplinen
15
and reproduce themselves in part because the information needed to pursue maximization and efficiency is not available.“ (Leifer/White 1987: 85 f., Herv.weggelassen). Bis hierhin dürfte die Soziologisierung der Fragestellung mehr oder weniger disziplinweit auf Konsens stoßen – nicht nur in den zuständigen Spezialsoziologen, sondern auch darüber hinaus. Auch wenn die Formulierungen und genauen Problemfokusse natürlich variieren, kann man davon ausgehen, dass die allermeisten Soziologen den bisher gemachten Aussagen zustimmen würden (vgl. dazu auch unten Kap. 5).12 Das Problem ist aber, dass die Spezialsoziologien diese Drehung in einer Protesthaltung, in einer Art David-gegen-Goliath-Modus vollziehen – im Ankämpfen gegen eine dominierende und weiterhin als dominant, jedenfalls als Referenzpunkt akzeptierte Sichtweise. Ihre basale Aussage ist: „Es gibt keine objektive Wahrheit, es gibt nur soziale Konstruktion“, oder: „Es gibt keine Effizienz und keine Maximierung, es gibt nur kontingente, macht-, kultur- und pfadabhängige Lösungen“. In diesem „nur“ steckt das Problem, oder gleich ein ganzes Bündel von Problemen. Darin steckt nämlich a) die Wurzel des eingangs monierten Ghettobegriffs des Sozialen, der Soziales als Gegenbegriff zu etwas anderem, eben zu Objekterkenntnis oder zu Effizienz begreift; b) eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit des betreffenden Bereichs, eine Haltung des Entzauberns und Entlarvens, die verhindert, dass die Leistungen moderner Wissenschaft oder moderner Märkte in angemessener Weise beschrieben werden können; und c) eine paradoxe Konservierung des ursprünglichen, epistemologischen oder ökonomischen Modells von Erkenntnis oder von Märkten, weil dieses als – sei es auch zu negierender – Ausgangspunkt gebraucht wird. Der erste Satz ist ein negativer, und das prägt das weitere Vorgehen.
12Bei
Luhmann beispielsweise finden sich Formulierungen, die in eine ganz ähnliche Richtung gehen. Mit Blick auf das Problem von Wissen oder Wahrheit sagt Luhmann, es gehe nicht um das „Erscheinen des Seins“ (Luhmann 1970: 233), sondern um die Übertragung von Selektionen von einem Teilnehmer auf den anderen; die erkenntnistheoretische Grundunterscheidung Erkenntnis/Gegenstand müsse abgeschafft und durch das Konzept der Beobachtung von Beobachtern ersetzt werden (Luhmann 1990b: 92). Was Märkte angeht, so läuft es wohl auf dasselbe Umdenken von Optimierungsproblemen auf Ordnungsprobleme hinaus, wenn Luhmann formuliert: „Es ist klar, daß nicht beide Vergleichsmöglichkeiten [von Sachen mit anderen Sachen und Personen mit anderen Personen, die Sachen zu bestimmten Bedingungen haben oder abgeben möchten] simultan ausgeschöpft werden können […]. Statt dessen kommt es zu nur noch individuell motivierten und zurechenbaren Reduktionen dieser unendlichen Komplexität, gegen die der Markt als System strukturell neutral gehalten werden muß, um ihre Kombinierbarkeit vermitteln zu können.“ (Luhmann 1970f: 209).
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1 Einleitung: Das Ghetto des Sozialen
Die Alternative ist, das Problem von vornherein und schon im ersten Schritt soziologisch zu bauen, es von vornherein als ein Problem in der Sozialdimension zu begreifen: als ein Ego/Alter-Problem, ein Konsens- oder Koordinationsproblem. Man muss sich nicht die Position des David aufnötigen lassen, der gegen einen übermächtigen Goliath anrennt. Man kann sich auch in ungebrochener soziologischer Begriffshoheit einen Reim auf den Sinn von Wissenschaft oder den Sinn von Wirtschaft machen und allenfalls in einem späteren Stadium kommentieren, was die Fachdisziplinen dazu zu sagen haben. Wahrheit ist dann eine Art, soziale Beziehungen zu ordnen. Märkte sind eine Art, soziale Beziehungen zu ordnen. Das nachträgliche Anrennen gegen einen zunächst a-sozial gebildeten Begriff ist aus dieser Perspektive schon eine Verkürzung und Verstümmelung des eigentlich soziologischen Zugriffs (vgl. Kap. 5). Zu dem unter a) genannten Problem ist oben schon genug gesagt worden. Zu b) und c) folgen jetzt noch kurze Erläuterungen.
1.4 Entzauberung oder Anerkennung Weil Wissenschaftssoziologen und Wirtschaftssoziologen erst als zweite, nach den „Platzhirschen“ – den Fachdisziplinen – die Bühne betreten, können sie sich darauf konzentrieren, die dort gepflegten hypostasierten Vorstellungen von wissenschaftlicher oder wirtschaftlicher Rationalität zu entzaubern und in Abrede zu stellen. Sie zeigen, dass im jeweiligen Bereich auch nur mit Wasser gekocht wird: dass in den „heiligen Tempeln“ der Wissenschaft „nichts epistemologisch Bemerkenswertes“ passiert, kein Durchblick auf absolute, universelle, transzendente Wahrheiten sich eröffnet (Latour 1983: 141; Knorr Cetina 1995: 114), und dass in den vielgelobten Märkten keine höhere Logik und höhere Weisheit am Walten ist und von der Modelllogik effizienter, selbstregulierender Gleichgewichte auf real existierenden Märkten nicht viel zu sehen ist. Die Dinge werden durch den soziologischen Barbier auf Normalmaß zurechtgestutzt, und es wird gezeigt, dass Forschungsprozesse und Marktprozesse mit den ganz normalen Mitteln sozialen Durchwurstelns auskommen müssen: mit informiertem Raten, bewährten Routinen, geschicktem Kontakteknüpfen, vorausschauendem Fädenziehen und Intrigenspinnen. Die Überidealisierungen der Fachdisziplinen werden mit dem Herunterreduzieren auf Alltagshandeln und soziologisches Alltagsgeschäft beantwortet. In eher philosophischer Terminologie könnte man sagen: Der Rationalismus der Fachdisziplinen wird mit einem extremen Voluntarismus beantwortet, mit der Haltung: Alles ist Interesse und situative Durchsetzung. Oder der Exzeptionalismus der Fachdisziplinen wird mit einem soziologischen Normalismus beantwortet, mit der Haltung: Alles ist Alltag. Dass
1.4 Entzauberung oder Anerkennung
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es überall einen Alltag gibt, ist sicherlich richtig, aber die Frage ist, wie weit man damit in der Erklärung kommt. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist eine Erklärung für die ja auch vorhandenen und auch bemerkenswerten Erfolge und Leistungen der modernen Wissenschaft bzw. der modernen Wirtschaft. Wie kommt es, dass die Wissenschaft, trotz fehlenden Zugriffs auf die Welt-an-sich und trotz fehlender Verifikations- und Falsifikationsmöglichkeiten, ja doch in irgendeiner Weise ein besseres Wissen zur Verfügung stellt als die Magie der Azande – nämlich ein umfangreicheres, detaillierteres, differenzierteres, komplexeres Wissen, das zu einem historisch präzedenzlosen Maß an Weltbeherrschung oder jedenfalls Weltbeeinflussung durch die Gesellschaft geführt hat? Wie kommt es, dass die moderne, marktbasierte Wirtschaft, obwohl von allseitigem Glück und bestmöglichen Weltzuständen weit entfernt, ja doch zu einer Explosion von Produktions- und Konsummöglichkeiten geführt hat, die die Wirtschaftsweise der vergangenen Jahrtausende ausradiert hat? Den Spezialsoziologen fehlt, in Begriffen einer normativen Sozialtheorie gesagt, ein Verhältnis der Anerkennung und positiven Würdigung ihres Gegenstandes. Sie bleiben tendenziell in einer Haltung des Demystifizierens, Desillusionierens und Dekonstruierens stehen.13 Eine Positivwürdigung ist aber auch nötig, wenn der Gegenstand vollständig beschrieben werden soll und nicht nur eine vorher schon bestehende, überzogen rationalistische Beschreibung angegriffen werden soll. Am Verständnis der modernen Wissenschaft fehlt sonst etwas Wesentliches, wie der Sozialepistemologie Robert Giere anmerkt: The main trouble with this approach [social studies of science] is that it utterly fails to explain the obvious success of science, and particularly the success of science-based technology, since the seventeenth century. […] What such an account fails to explain is how we came to be able to produce insulin in a laboratory or to send instrument-packed rockets to photograph Uranus. […] [N]o amount of social organizing could have produced those results even as recently as fifty years ago (Giere 1988: 4).
13Dass
es sich um eine Haltung des Abqualifizierens, englisch: „debunking“, handelt, wird von Wissenschaftssoziologen immer wieder bestritten (Barnes/Shapin 1979; Shapin 1995; Bloor 1997; Latour 2010), wird aber von einer wütenden Phalanx von Wissenschaftsphilosophen nicht ohne Grund so wahrgenommen (Laudan 1981; Brown 1984; Nola 1991; Fuller 1993; Kim 1994; Goldman 2006), und seit Sokal (1996) auch von einer Phalanx von Naturwissenschaftlern, die sich in den „science wars“ engagieren. Zwischen Wirtschaftssoziologen und Ökonomen ist ein solcher Schlagabtausch nicht zu beobachten, aber nicht deswegen, weil der Charakter des „debunking“ hier nicht vorhanden wäre, sondern nur deswegen, weil die Wirtschaftssoziologie durch die Ökonomik routinemäßig ignoriert wird.
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1 Einleitung: Das Ghetto des Sozialen
Es geht deshalb nicht nur darum zu zeigen, dass die Wissenschaft keinen Zugriff auf die objektive Welt und objektive Wahrheiten hat. Es müsste zusätzlich auch erklärt werden, „how it can be that though science and technology do not touch the divine they are still the best way to distill human experience of an uncertain world“ (Collins/Evans 2007: 1 f.). Die eigentliche Frage ist, wie die Wissenschaft es fertigbringt, trotz fehlenden Zugriffs auf die Welt-an-sich gleichwohl belastbares Wissen zu produzieren.14 Und weiter ist die Frage, wie sie es fertigbringt, dass trotz zunehmender Pluralisierung von Lebenswelten und Sinnkontexten in der modernen Gesellschaft kein „Krieg aller gegen alle“ um die richtige Weltkonstruktion ausbricht, was ja allenfalls recht punktuell und keineswegs flächendeckend der Fall ist; die Frage nach Wahrheit wird nicht einfach wegmodernisiert und wegpluralisiert, vielmehr werden Wahrheitsfragen in der Moderne erst so richtig entfesselt. Ebenso wenig ist es damit getan, an Märkten einfach die fehlende Deckungsgleichheit mit den Idealmodellen aus Ökonomielehrbüchern zu konstatieren. Denn wie immer imperfekt und „schmutzig“ Märkte sind, so kann man doch nicht bestreiten, dass sie zu einer enormen Steigerung von Produktion und Konsumtion, Ressourcennutzung und -erschließung, Bedürfnisbefriedigung und -entdeckung geführt haben. Auch ein widerstrebender Beobachter muss zugeben, dass die marktbasierte Wirtschaft uns „einen ungeahnten Wohlstand und eine nie dagewesene Optionenvielfalt, das Ende von Hungersnöten, die offenbar unaufhaltsame Verlängerung der Lebenserwartung und eine Dynamik permanenter technologischer Innovation“ beschert hat (Lessenich 2015: 23).15 Irgendein
14So
meint auch Thomas Kuhn, die konstruktivistische Wissenschaftssoziologie verwechsle das Problem mit der Lösung, wenn sie sich mit dem bloßen Zelebrieren des Umstands zufriedengebe, dass die Wissenschaft auch keine objektiven Wahrheiten zu bieten habe: „The question […] arose, how a process so nearly circular and so largely dependent on individual contingencies can be said to result in either true or probable conclusions about the nature of reality? I take that to be a serious question and think that inability to answer it is a grave loss in our understanding of the nature of scientific knowledge. But the question emerged during the 1960’s, when distrust of all sorts of authority was widespread, and it was then a small step to regard that loss as gain.“ (Kuhn 1992: 8). 15Stephan Lessenich (2015: 23) fühlt sich hier an eine Passage aus dem Film „Das Leben des Brian“ erinnert, in der ein kritischer Beobachter zur widerstrebenden Anerkennung der Leistung des Römischen Reiches genötigt wird: „Was haben die Römer je für uns getan? – […] – Also gut, mal abgesehen von sanitären Einrichtungen, der Medizin, dem Schulwesen, Wein, der öffentlichen Ordnung, der Bewässerung, Straßen, der Wasseraufbereitung und den allgemeinen Krankenkassen – was, frage ich Euch, haben die Römer je für uns getan?“ Im selben Sinn habe eben die moderne Marktwirtschaft nicht zustande gebracht außer Wohlstand, Optionenvielfalt, Ende von Hungersnöten usw.
1.4 Entzauberung oder Anerkennung
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Geheimnis müssen Märkte also haben, irgendwie muss der Leistungskern – um nicht zu sagen: der „Markenkern“ – von Märkten begriffen werden.16 Diese Frage wird in der Wirtschaftssoziologie manchmal anhand von Debatten um Netzwerktheorien aufgeworfen. Angesichts des verbreiteten Lobs von Netzwerken fragen manche zurück: Wenn Netzwerke so toll sind, wieso gibt es dann überhaupt noch Märkte? „If […] a dense network of personal ties does more than institutional arrangements to secure trust and useful information crucial for complex transactions, then why do economic actors routinely decouple from interpersonal ties to transact in market exchanges?“ (Nee 2005: 53).17 Das gilt aber nicht nur für Netzwerke, sondern ebenso für andere Arten von Einbettung: Wenn Märkte so wenig auf eigenen Beinen stehen, wenn sie so „schwach“ sind (Hirschman 1986; Fourcade/Healy 2007) und so sehr auf politische, kulturelle oder sonstige Stützeinrichtungen angewiesen sind, warum kann man sie dann nicht verlustlos durch staatliche Steuerung und moralisch-religiöse Unumstößlichkeiten ersetzen? Mehr Sinn für die Spezifität und die spezifische Leistungsfähigkeit des jeweiligen Bereichs wird von manchen kritischen, mehr oder weniger heterodoxen Teilnehmern der Debatte gelegentlich eingefordert. So schreiben Collins und Evans (2002: 239) für die Lage in der Wissenschaftssoziologie: „By emphasizing the ways in which scientific knowledge is like other forms of knowledge, sociologists have become uncertain about how to speak about what makes it different […]. Sociologists have become so successful at dissolving dichotomies and classes that they no longer dare to construct them.“ Es genügt ihnen nicht, wissenschaftliches Wissen einfach als auch eine Art Wissen zu charakterisieren, für die alles, gelte, was für Wissen schlechthin gelte. Das ist auch der Punkt, der Sozialepistemologen irritiert: „[that] ‘science’ no longer refers to a type of knowledge distinct from other types but to a population of knowers who know other things too“ (Fuller 2012: 431).
16Der
real existierende Sozialismus hat immerhin das Gute, dass er beweist, dass diese Explosion von Möglichkeiten nicht allein technologisch bedingt ist, sondern wesentlich in der sozialen Ordnung des Wirtschaftens begründet liegt. Denn technologisch waren die realsozialistischen Länder jedenfalls nicht allzu weit hinter den westlichen Ländern zurück, vielmehr lag ja im Nachholen der technischen Entwicklung und mindestens Aufholen, wenn nicht Überholen in Sachen militärischer Technologie und Produktionstechnologie ein hauptsächliches Zwischenziel der sozialistischen Mächte. Im wirtschaftlichen Output und in der Möglichkeitserschließung lagen sie aber um Klassen zurück. 17Ebenso fragt Alex Preda (2005a: 542): „[If] uncertainties are processed by […] networks, we cannot explain how and why markets emerge from networks. Indeed, there would be no reason for […] markets to emerge at all: apparently, networks can solve these problems much better than them.“
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1 Einleitung: Das Ghetto des Sozialen
Analog schreiben Koray Çalışkan und Michel Callon für die Wirtschaftssoziologie, es sei nicht damit getan, Märkte einfach als auch einen Fall von institutions-, konventions- und normgestützer Ordnung zu beschreiben, was zwar immer richtig, aber zu unspezifisch sei. Constructivism focuses on the mechanisms usually qualified […] as ‘social’. […] markets are analysed as a particular case of social networks, institutions, conventions, rules, legal arrangements, norms or social fields. The important limit of this approach is that in social construction, which can be applied to any object considered to be in the purview of the social sciences, the specificity of the arrangements being analysed is completely lost. The claim that sociology tends to flatten differences instead of transforming them into problems to be solved by the sociologist originates in this observation (Çalışkan/Callon 2010: 4, Herv. weggelassen).
Aus kritischer Richtung wird Ähnliches angemerkt: die Blindheit für die Spezifität wirtschaftlicher Ordnung, was gewissermaßen das – ebenso einseitige – Spiegelbild zu den Idealisierungen wirtschaftswissenschaftlicher Theorien ergebe. „Abstrahieren die Einheitsmodelle der Neoklassik auf naturalisierende Weise vollständig vom sozialen Kontext, beruhen die Theorien der NES [Neueren Wirtschaftssoziologie] auf der Abstraktion von – so paradox es zunächst anmuten mag – den ökonomischen Bedingungen ökonomischen Handelns“ (Sparsam 2015b: 173). Berücksichtigt man all diese Anforderungen, so lautet die Frage also: Wie kann man den spezifischen Charakter und die spezifische Leistungsfähigkeit von moderner Wissenschaft oder modernen Märkten fassen, ohne einen genuin soziologischen Zugang zu verlassen und in epistemologische oder ökonomische Denkweisen zurückzufallen? Das ist die Aufgabe, der die Soziologie sich stellen muss. Diese Aufgabe wird von Soziologen außerhalb der eng definierten Spezialsoziologien auch angegangen, etwa von Luhmann und Bourdieu. Beide beantworten die Frage in je verschiedener Weise, aber sie verfolgen die grundsätzlich selbe Erkenntnisstrategie. Sie setzen am Urproblem der Soziologie an: dem Problem sozialer Ordnung, und dechiffrieren dann Wissenschaft bzw. Wirtschaft als je spezifische Lösungen dieses Problems. Bei Luhmann wird das Problem sozialer Ordnung grob gesagt als Problem des Wahrscheinlichmachens unwahrscheinlicher Kommunikationen verstanden, bei Bourdieu als Problem der Positionierung in einem Raum differenzieller Positionen. Beides sind im Kern Probleme in der Sozialdimension, ansetzend an der Existenz einer Mehrheit von beteiligten Subjekten, Akteuren, Teilnehmern, und sie sind deshalb nicht in Gefahr, in idealisierende, naturalisierende, überobjektivierende Beschreibungen auszuarten. Der „Sinn“ oder der spezifische Charakter von Wissenschaft bzw. Wirtschaft, wie er sich im Luhmann’schen und Bourdieu’schen Denkhorizont darstellt, sei hier in wenigen Worten skizziert.
1.4 Entzauberung oder Anerkennung
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Bei Luhmann ist die Theorie der Kommunikationsmedien an diesem Punkt angesetzt. Deren Grundfrage ist, wie im sozialen Verkehr die Übertragung von Selektionen von einem Teilnehmer auf den anderen gelingen kann: Wie kommt es, dass Handlungen oder Aussagen Anderer akzeptiert und als Prämisse eigener Beiträge weiterprozessiert werden, und nicht etwa verworfen, verdammt, ignoriert oder mit Kampf und Gegenmaßnahmen beantwortet werden? Wahrheit und Geld sind zwei Antworten darauf (Liebe und Macht sind andere). Da sie Antworten auf dieses Problem sind, sind sie von Anfang an nicht zu messen an der Vorstellung einer Erkenntnis der Welt an sich oder der Idee einer optimalen Nutzung von Sachwerten. Sie sind zu messen an der Schwierigkeit, eine solche Gleichsinnigkeit des Erlebens und Handelns zustande zu bringen und die dabei erreichbaren Komplexitätsniveaus zu steigern. Wahrheit ist deshalb für Luhmann kein Attribut einer Subjekt-Objekt-Relation, sondern ein Modus der Organisation von Subjekt/Subjekt- oder Ego/Alter-Beziehungen (Luhmann 1970c, 1990b).18 Mit der Ausdifferenzierung des Wahrheitsmediums wird die Prozessierung von mehr und spezifischeren Erwartungen, und mehr und spezifischeren Enttäuschungen, möglich. Es ergeben sich neue Kombinationen von Sicherheiten und Unsicherheiten, Bestimmtheiten und Unbestimmtheiten im kognitiven Erwarten, die Wissensmöglichkeiten explodieren lassen.19 Damit wird die „natürliche“, psychologische Schranke überwunden, dass man unter Enttäuschungsbedingungen schlecht lernen kann, und es wird anlassunabhängiges, selbstinduziertes und deshalb extrem steigerungsfähiges Lernen etabliert (Luhmann 1969b: 36 f.). Ebenso ist das Geldmedium kein Ausdruck für reinen Sachwert und kein Mittel zur sachlichen Optimierung, etwa für Effizienzgewinne im Tausch oder im Rechnungswesen. Auch Geld ist ein Übertragungsmedium im sozialen Verkehr – Tausch einschließend, aber fundamentaler als Tausch. Geld erweitert Abnahmemöglichkeiten im sozialen Verkehr mit einem Umweg über die Zeitdimension, über die Verschiebung von Problemen zwischen Gegenwart und
18Luhmann
schreibt in aller Klarheit: „Wahrheit ist demnach keine Eigenschaft von irgendwelchen Objekten oder von Sätzen oder von Kognitionen […], sondern der Begriff bezeichnet ein Medium der Emergenz unwahrscheinlicher Kommunikation“ (Luhmann 1990b: 173). 19Auch dies im Wortlaut: „Sofern nur Erwartungen bestimmt sind, kann man unbestimmt lassen, ob sie im Einzelfalle bestätigt oder enttäuscht werden. […] [So] sind […] die theoretisch fixierten Hypothesen von einer Bestimmtheit, die es ermöglicht, Erfüllung oder Enttäuschung auszuprobieren, weil der theoretische Kontext es ermöglicht, aus beiden Erfahrungen die Konsequenzen in Bezug auf wahr bzw. unwahr zu ziehen.“ (Luhmann 1990b: 136 f.).
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1 Einleitung: Das Ghetto des Sozialen
Zukunft (Luhmann 1970f, 1988a).20 Es kommt zur Erweiterung und Flexibilisierung von Zeithorizonten, aber auch zur Vermehrung und Verschärfung von Interdependenzen zwischen Teilnehmern. Hier sind sowohl Negativinterdependenzen involviert, indem der eine dem Anderen für seine Zukunftssicherung wegnimmt, was dieser heute schon brauchen könnte,21 als auch Positivinterdependenzen, indem Sensibilitäten wachsen, woran – an welchen Dingen und welchen Geschäftspartnern – man Interesse haben könnte, und indem mit größeren Zeithorizonten auch die Chancen wachsen, mit heterogeneren Partnern zu einer Einigung zu gelangen. Geld und geldbasierte Märkte vergrößern und vervielfachen Möglichkeitsräume. Es entstehen ganz neue Möglichkeiten nicht nur für Kontakte (zwischen Personen) und Vergleiche (zwischen Dingen), sondern auch für die Kombination von Stabilitäten und Instabilitäten, von Sensibilitäten und Indifferenzen und von Spezifikation, d. h. „Ausgeben“ von Freiheiten, und Reproduktion von Freiheitsgraden. Anders, aber vom Prinzip her ähnlich würde Bourdieu den Spezifikationskern von Feldern wie Wissenschaft oder Wirtschaft beschreiben. Bourdieus Grundproblem ist die (Re-)Produktion einer Ordnung von Positionen und Privilegien in einem relationalen sozialen Raum und die Logik des Handelns, nach der
20Geld ermöglicht es einerseits, Probleme von der Gegenwart in die Zukunft zu verschieben, nämlich die „Entscheidung über die Befriedigung von Bedürfnissen zu vertagen [und] die Befriedigung trotzdem gegenwärtig schon sicherzustellen“ (Luhmann 1970f: 206 „Herv. weggelassen“), und umgekehrt Probleme von der Zukunft in die Gegenwart zu verschieben, nämlich „die Befriedigung künftiger Bedürfnisse als gegenwärtiges Problem“ zu behandeln (ebd: 207) und jetzt schon dafür Sorge zu tragen. 21Luhmann betont oft die Negativinterdependenz, anders gesagt den Gedanken, dass die Lösung des Zeitproblems Zukunftssicherung Kosten in der Sozialdimension erzeugt: „Wer gegenwärtig schon sicher sein will, etwa künftig auftretende Bedürfnisse befriedigen zu können, muss Mittel blockieren, die andere gegenwärtig zur Deckung gegenwärtiger Bedürfnisse verwenden möchten.“ (Luhmann 1981b: 394). Gleichzeitig muss, gerade wenn Geld im Spiel ist, diese Negativinterdependenz nicht unbedingt gegeben sein. Sie gilt vorrangig auf der Ebene einfacher Ressourcen: Wenn jemand sich einen Sack Reis für seine künftige Ernährung sichert, kann kein Anderer den Reis jetzt essen. Bei Geld ist das aber gerade nicht so. Abgesehen von dem Fall, dass jemand sein Geld unter der Matratze versteckt und damit dem Geldkreislauf entzieht, ist die Zukunftssicherung des einen hier gerade damit verbunden, dass das Geld Anderen zur Verfügung gestellt wird: Die Bank leiht deponiertes Geld an Andere aus – und zwar qua Geldschöpfung sogar an mehrere Andere –, und ebenso wird bei Geldanlage auf Kapitalmärkten, etwa Aktienmärkten, die mehr oder weniger große Liquidität des Anlegers mit Kapitalbereitstellung für Andere kombiniert (Luhmann 1989: 65; Paul 2002: 255).
1.4 Entzauberung oder Anerkennung
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Akteure mit bestimmten Dispositionen ihre Handlungsstrategien wählen. Das ist aber gerade in jedem Feld verschieden geregelt: Jedes verlangt dem Handelnden andere Orientierungen und einen anderen Habitus ab, jedes realisiert eine andere Kombination von Kalkül und Verleugnung von Kalkül, Interesse und Interesselosigkeit. Darin spaltet sich die ursprünglichere, traditionellere Ordnung einer familienbasierten Ökonomie des Handelns – wie etwa in der kabylischen Gesellschaft – auf, wo offenes Kalkül tabu ist, aber eine implizite ökonomische Logik allem zugrunde liegt. Das ökonomische Feld übernimmt die offene, ungetarnte Regentschaft des Interesses und des Kalküls, der Investition und der Kapitalakkumulation. All diese ansonsten impliziten Prinzipien des Handelns werden offen zur Schau getragenes Selbstverständnis, eine Dissimulation von Interessen ist nicht nötig, allenfalls eine kluge Abstimmung der Interessen von Käufer und Verkäufer, Produzenten wie Konsumenten werden zu rationaler Entscheidung und Nutzenorientierung freigesetzt und geradezu genötigt (Bourdieu 2005).22 Dagegen konstituieren sich die kulturellen Felder auf der Basis einer Logik der Interesselosigkeit. Nur durch Bruch mit dem schnöden Eigeninteresse und den niederen Gefilden der Ökonomie entsteht ein Universum für künstlerische Produktion oder wissenschaftliche Forschung, wo die Interessen der Produzenten an Pflege ihrer eigenen Position und Reputation nur indirekt mitbedient werden (Bourdieu 1983b, 1999).23 Man kann es hier nur dann zu etwas bringen, wenn man das „Allgemeinwohl“ voranbringt, wenn man die verfügbare kulturelle Leistung vermehrt, indem man etwas zum Erkenntnisfortschritt beiträgt oder mit einer künstlerischen Schöpfung beeindruckt, und dies in einer Haltung des Absorbiertseins durch die Sache und
22Bourdieu
beschreibt dies explizit als Freisetzung eines vorher unterdrückten Potenzials: „In a kind of confession to itself, capitalist society stops ‘deluding itself with dreams of disinterestedness and generosity’: registering an awareness, as it were, that it has an economy, it constitutes the acts of production, exchange or exploitation as ‘economic’, recognizing explicitly as such the economic ends by which these things have always been guided. The ethical revolution that enabled the economy eventually to be constituted as such, in the objectivity of a separate universe, governed by its own laws (the laws of self-interested calculation and unfettered competition for profit), finds its expression in ‘pure’ economic theory, which registers the social dissociation and practical abstraction that give rise to the economic cosmos by inscribing them tacitly at the heart of its construction of its object.“ (Bourdieu 2005: 6 f.). 23Das Feld der Politik und des Staates wiederum steht zwischen diesen beiden Polen: Es lebt von der Spannung zwischen universalistischer und partikularistischer Ausrichtung, zwischen dem Appell ans Gemeinwohl und der Artikulation und Verfolgung von Eigeninteressen, sei’s von Wählergruppen, Parteien oder Staatsapparaten (Bourdieu 2013).
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1 Einleitung: Das Ghetto des Sozialen
nicht in direktem Zusteuern auf die eigene Belohnung. Der Wissenschaftler etwa muss seine Anerkennung einem Publikum abringen, das gleichzeitig aus seinen Konkurrenten besteht und bei dem deshalb sichergestellt ist, dass es Anerkennung nur für unleugbare Beiträge zum kulturellen Fortschritt vergibt (Bourdieu 1975, 1991). Alle diese Theorien haben natürlich auch ihre eigenen Probleme. Es geht im Moment nur darum zu zeigen, dass durch Einbindung in eine allgemeine Theorie die Beschreibung von Feldern wie Wirtschaft oder Wissenschaft zwangsläufig mit einem Moment positiver Anerkennung angereichert wird – nicht im Sinn moralischer Wertung, sondern im Sinn eines Bewusstseins für die Ordnungs- und Steigerungsleistung, die hier vorliegt. Im Kontext von den Spezialsoziologien wird eine solche Positivwürdigung gemieden, weil man fürchtet, dann wieder mit der jeweiligen Fachdisziplin zusammenzufallen, ihren Idealisierungen auf den Leim zu gehen.24 Eine Positivwürdigung auf genuin soziologischem Boden gilt als unmöglich; diese Denkmöglichkeit wird im Spannungsfeld zwischen überidealisierender Fachdisziplin und demystifizierender, dekonstruierender Soziologie zerrieben. Zwar wird auch innerhalb von Spezialsoziologien gelegentlich das Problem sozialer Ordnung thematisiert, in der Wirtschaftssoziologie etwa von Jens Beckert (1997, 2007). Beckert stellt explizit Ordnungsprobleme in den Mittelpunkt, verstanden als Unsicherheitsprobleme und doppelte-Kontingenz-Probleme. Aber ihm geht es um Ordnungsprobleme auf Märkten, d. h. Märkte sind in seiner Analyse schon vorausgesetzt. Märkte sind für Beckert nicht eine Antwort auf das Problem sozialer Ordnung, sondern sie sind die Quelle des Problems: Märkte ergeben nicht genug Orientierung für die Teilnehmer, sodass diese sich an weiteren Faktoren orientieren müssen, wie Traditionen, Normen, Netzwerke. Das ist eine typische Denklage in den Spezialsoziologien, die hier nur besonders deutlich wird, und das ist auch der Grund dafür, warum – wie jetzt zu zeigen ist – die „klassischen“ Begriffe von Markt und Wahrheit in spezialsoziologischen Ansätzen latent konserviert werden.
24Callon
beispielsweise wird, wenn er statt über die Einbettung von Märkten wieder über ihre Entbettung reden will („disentangling“), sofort mit dem Vorwurf konfrontiert, er würde einfach nur die abstrakten Modelle der Ökonomen und das klassische Bild des homo oeconomicus re-installieren (Miller 2002).
1.5 Die Konservierung der klassischen Begriffe
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1.5 Die Konservierung der klassischen Begriffe Theorien wie die von Luhmann oder Bourdieu fangen an mit dem Problem sozialer Ordnung, mithin potenziell bei Chaos, Anomie, Zerfall.25 Felder wie Wissenschaft und Wirtschaft mit ihrem jeweiligen „nomos“, oder Code, oder Kommunikationsmedium, stehen dann immer auch als Lösung für das Problem sozialer Ordnung im Blick – genauer als Teil einer solchen Lösung, als ein Segment in einem Strauß system- oder feldspezifisch aufgesplitteter Lösungen. Dagegen tauchen sie im Diskurs von Spezialsoziologien typischerweise als offenes Problem sozialer Ordnung auf. Der Wahrheitscode kann eben gerade nichts zur Konsensfindung zwischen Teilnehmern oder zur Klärung ihrer Fronten beitragen, denn er entscheidet ja gerade nicht über die richtige Weltkonstruktion; jede „Wahrheit“ und jedes „Faktum“ kann hinterfragt und dekonstruiert werden, wenn man es scharf genug ansieht und lange genug in seine Voraussetzungen aufdröselt. Das Wahrheitsprinzip erzeugt deshalb seine eigenen Abstimmungs- und Einigungsprobleme, die mit anderen Mitteln – etwa durch Aushandlung, soziale Schließung, überlegene Autorität – gelöst werden müssen. Ebenso stellt der Markt gerade nicht genug Orientierungspunkte für das Finden richtiger Lösungen bereit. Weder bietet er Marktakteuren ausreichende Anhaltspunkte für rationales, geschweige denn optimierendes Handeln, noch liefert er eindeutige Antworten auf die Frage, was die besten, nämlich effizientesten Marktstrukturen sind. Vielmehr verweist er in all diesen Fragen auf Zusatzgesichtspunkte wie Beziehungen, Netzwerke, Machtverteilungen, kulturelle Konventionen und historische Pfadverläufe. Wenn man sich in dieser Weise auf Ordnungslücken, Kontingenzen, Offenheiten kapriziert, setzt man aber implizit eine große Menge Ordnung schon voraus, da die Welt als ein einziger Haufen Unordnung nicht denkbar ist, oder nur
25Letztlich
gilt dies für alle großen soziologischen Theorien, für jede auf ihre Weise. Es gilt natürlich für Parsons, aber auch für Parsons-Gegenspieler wie Goffman oder Berger/ Luckmann: Der Goffman’schen Selbstdarstellungstheorie liegt das Problem des immer naheliegenden Misstrauens in unbekannte Gegenüber und die Notwendigkeit der Signalisierung von Vertrauenswürdigkeit zugrunde. Berger/Luckmann beginnen mit der anthropologischen Überforderung des Menschen angesichts unreduzierter Weltmöglichkeiten und der Notwendigkeit des Sich-Einspielens von Routinen und Erwartungen. Bourdieu will die subtilen Mechanismen der Reproduktion von Ordnung angesichts der immer gegebenen Möglichkeit des Ausbrechens aus symbolischen Zwängen und des Ablegens der zugrunde liegenden „illusio“ verstehen. Bei Luhmann ist die radikalste Formulierung die ab der „autopoietischen Wende“ verkündete radikale Verzeitlichung alles Sozialen, die Auflösung aller Bestände in die laufende Reproduktion von Elementen von Moment zu Moment.
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1 Einleitung: Das Ghetto des Sozialen
als Entropie. Diese Ordnung wird durch Import des – wie immer abgelehnten – Bildes perfekter oder perfektionierbarer Rationalität aus der jeweiligen Fachdisziplin gewonnen. Da man mit diesem Bild beginnt, kann man sich in der eigenen Beschreibung auf sein Dementi, auf das Herausarbeiten von Imperfektionen und Rationalitätsdefiziten konzentrieren. Könnte man nicht dieses Bild als Ausgangspunkt voraussetzen, würde man nicht darum herumkommen, einen eigenen Vorschlag zum Verständnis des Ordnungsmodus des jeweiligen Bereichs zu machen. So aber kann man sich auf das Dementieren und Demontieren eines vorgefundenen, überidealisierten und überrationalisierten Bildes spezialisieren. Theoriekonstruktiv gesehen bleibt deshalb ein klassischer Wissensbegriff oder ein klassischer Marktbegriff als denkerischer Ausgangspunkt noch vorausgesetzt. Man wird ihn nicht völlig los, weil man ihn zur Negation braucht und weil man keine eigene, positiv-anerkennende und spezifität-rekonstruierende Konstruktion dagegensetzt. Der Ordnungswert wissenschaftlicher Theorien wird weiterhin am Maßstab objektiver Gegenstandserkenntnis gemessen, und der Ordnungswert von Märkten am Maßstab von effizienter Allokation, Optimierung und Maximierung. Und deshalb bedeuten eben – wie eingangs bemerkt – die reinen Worte oder Begriffe weiterhin dasselbe: „Epistemisch“ heißt weiterhin die Beziehung des Erkennenden auf den Gegenstand, „ökonomisch“ heißt weiterhin die Orientierung auf sachlich bestimmte Wert- und Nutzengrößen, und deshalb können diese Begriffe als Gegenbegriff zum Begriff „sozial“ verwendet werden. Das ungewollte Verhaftetbleiben in alten Kategorien wird von aufmerksamen Beobachtern gelegentlich notiert. So bemerkt Kuhn, die Wissenschaftssoziologie attackiere nur deshalb so heftig die Vorstellung der Wissenschaft als Wahrheitsprozentin, weil sie implizit den klassischen Wissens- oder Wahrheitsbegriff weiterverwende. „The authors of microsociological studies are […] taking the traditional view of scientific knowledge too much for granted. They seem […] to feel that traditional philosophy of science was correct in its understanding of what knowledge must be. Facts must come first, and inescapable conclusions […] must be based upon them. If science doesn’t produce knowledge in that sense, they conclude, it cannot be producing knowledge at all“ (Kuhn 1992: 9). Und für die Wirtschaftssoziologie stellt Krippner in aller Deutlichkeit – und mit ebenso großer Wirkungslosigkeit – fest, die Wirtschaftssoziologie lasse sich durch das Einbettungskonzept im Dunstkreis klassischer ökonomischer Denkmodelle festhalten: „Quite paradoxically, the basic intuition that markets are socially embedded […] has led economic sociologists to take the market itself for granted. As a result, economic sociology has done scarcely better than economics in elaborating the concept of the market as a theoretical object in its own right.“ – „[E] conomic sociology will find itself in the paradoxical position of propping up the
1.5 Die Konservierung der klassischen Begriffe
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asocial market model of neoclassical economics“ (Krippner 2001: 776, 802). Die herausisolierten, a-sozialen Projektionen und Abstraktionen der Fachdisziplinen stecken tief in den Fundamenten des eigenen theoretischen Zugriffs noch drin. Um die alten Konzepte ganz hinter sich zu lassen, muss man sie auch in ihrer positiven Funktion ersetzen, nämlich in ihrem Ordnungswert ersetzen, wie das eben Luhmann und Bourdieu je auf ihre Weise tun.26 Dafür muss die Ordnungsleistung des jeweiligen Teilbereichs rekonstruiert werden. Es muss aber keineswegs nur Ordnung postuliert werden, oder eine perfekte, unangreifbare, voll rationalisierbare, voll formalisierbare oder auch nur voll formulierbare Ordnung. Sonst wäre in der Tat nicht mehr zu erkennen, worin dieser Theorietyp sich von typisch fachdisziplinären Zugriffen mit ihrer Idealisierungsneigung und Überschätzung von Rationalitätschancen unterscheidet. Das ist aber in Theorien vom Typ Bourdieu oder Luhmann auch keineswegs der Fall. Es wird dort durchaus mitgesehen, dass der Wahrheitscode oder der ökonomische Code auch eigene Ordnungsprobleme schafft, etwa Komplexitäts- und Legitimitätsprobleme, die nicht auf „sauberem“, rational korrektem Weg gelöst werden können. Das Wiederauftauchen von Ordnungsproblemen wird mit eingebaut, aber erst an späterer, kontrollierter Stelle in einer tiefer ansetzenden Konstruktion.27
26Das
ist ein sehr allgemeines theoriebautechnisches Problem: Irgendwo muss ein Ordnungsprinzip herkommen, woran Befunde geordnet werden können. Hier liegt eine operative Notwendigkeit, deren man durch reinen guten Willen und verbale Absichtserklärungen nicht Herr wird. Dasselbe Problem ist etwa zu beobachten am Funktionalismus und seiner asymmetrischer Gewichtung von Funktionen und Dysfunktionen. Funktionalisten betonen gern – um sich gegen den Vorwurf der unkritischen Affirmation des Bestehenden zu wehren –, sie würden nicht nur Funktionen, sondern ebenso Dysfunktionen untersuchen und könnten deshalb Kritik ebenso wie Rechtfertigung der bestehenden Ordnung liefern (Merton 1957; Luhmann 1970a, 1970b). Das geht aber in der Durchführung nicht auf. Denn nur Funktionen haben Ordnungswert, Dysfunktionen nicht. Man kann sich eine Gesellschaft entlang von Funktionen geordnet vorstellen, nicht aber entlang von Dysfunktionen; es würde keinen Sinn machen, von einer „dysfunktional differenzierten Gesellschaft“ zu sprechen. 27Bei Luhmann geschieht dies typisch in einem Dreischritt aus Reduktion – Steigerung – Reduktion von Komplexität. So wird gesagt, dass die moderne Wissenschaft mit ihrer Explosion von Wahrheitsansprüchen ein eigenes Selektions- und Überkomplexitätsproblem erzeugt, ein Übermaß an Publikationen, das nicht allein durch Orientierung an „offiziellen“ Kriterien wie explanatorische Kraft, Einfachheit, Eleganz, Relevanz bewältigt werden kann, sondern informelle, nie voll sachlich gedeckte und nie ganz legitime Kriterien wie Prominenz oder Reputation als abkürzende Selektionshilfe nach oben bringt (Luhmann 1970c). Ebenso ist klar, dass das moderne Wirtschaftssystem mit seiner
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1 Einleitung: Das Ghetto des Sozialen
Wenn es stimmt, dass man mit dem typisch spezialsoziologischen Zugriff die klassischen Begriffe aus den Fachdisziplinen nicht ganz los wird, scheint man in gewisser Weise auf den Ausgangspunkt wissenschaftssoziologischer und wirtschaftssoziologischer Debatten in den 1970 und 1980er Jahren zurückgeworfen. Damals wurde gesagt, die alten, strukturfunktionalistischen Ansätze hätten sich mit Randaspekten des Geschehens abspeisen lassen – mit Normen wissenschaftlichen Arbeitens oder wissenschaftlicher Stratifikation, mit Interdependenzen zwischen Wirtschaft und anderen sozialen Strukturen – und hätten den „Kern“ der jeweiligen Sache den Fachdisziplinen überlassen. Demgegenüber ist der Anspruch nun, soziologisch auf den Kern loszugehen – auf den Kern der Wissenschaft, auf hartes naturwissenschaftliches Wissen, und auf den Kern der Wirtschaft, auf Märkte und Preise. Wenn es aber stimmt, dass in dem dominierenden Einbettungs- und Verflechtungsdiskurs ein gedankliches Sanktuarium für die reine a-soziale Gegenstandsbeziehung oder die reine sachliche Wertmaximierung noch enthalten ist, findet man sich in gewisser Weise auf Start zurückversetzt. Der Sache nach hat die Bewegung auf den Kern zu enorme Erfolge und Ausweitungen gebracht, ganz neue Fragen sind in den Fokus wissenschaftssoziologischer und wirtschaftssoziologischer Forschungen gerückt. Aber begrifflich scheint es ein hartes Brett zu sein, das hier zu bohren ist; vielleicht braucht man mehrere Anläufe, um den heißen Kern der Sache dingfest zu machen.
zeitlich-sozial-sachlichen Möglichkeitsexplosion einen Überschuss an Auswahlmöglichkeiten erzeugt, der nicht mehr auf „rationale“ Weise bewältigt werden kann, sondern allerlei Hilfs-, Ausweich- und Ablenkstrategien erfordert und zulässt, wie Personalisierungen, wohlplatzierte oder auch erratische Indifferenzen usw. (Luhmann 1970f: 209 f.). Für das Wirtschaftssystem ist dieser Punkt bei Luhmann allerdings nicht gut ausgearbeitet. Es könnte hier möglicherweise eine Parallele zum Doppelkreislauf im politischen System angesetzt werden – mit Doppelung in formale und informale, legitime und nicht-voll-legitime, darstellbare und nicht-darstellbare Strukturen, die in gegenläufigen Richtungen zusammenwirken (Luhmann 1994a; Luhmann 2010) –, wozu Luhmann ansetzt, was er aber nicht konsequent durchführt (Luhmann 1988a: 131 ff.).
2
Grenzen und Entgrenzungen
2.1 Die offenen Landschaften des Sozialen Die Stimmung in der Wissenschafts- und Wirtschaftssoziologie erinnert ein bisschen an die Stimmung in Deutschland 1989: Grenzen sind ungern gesehen, der allgemeine Ruf geht auf das Auflösen von Grenzen und Einreißen von Mauern, Grenzregimes sind ein Gegenstand kollektiver Empörung. Grenzen gelten als künstlich hochgezogene Barrieren zwischen dem, das eigentlich zusammengehört. Mit Jubel entgegengenommen wird die Verkündung offener Landschaften, frei fließender Ströme und einschmelzender Unterschiede. Kategoriale Unterschiede gelten als passé. „Demarkationslinie“ ist ein Wort, das einem das Blut in den Adern gefrieren lässt und an hoffnungslos widernatürliche ideologische Visionen gemahnt. Wer Grenzen für sinnvoll und unverzichtbar hält, gilt als reaktionär, im Bund mit dem Bösen, auf einer Linie mit den Herren der Finsternis (hier: den Epistemologen und Ökonomen). An 1989 kann man aber auch sehen, dass die Begeisterung der Grenzstürmer vielleicht in manchem voreilig war. Vielleicht lassen sich doch nicht alle Grenzen so leicht und problemlos nivellieren, vielleicht erweisen sich dass manche Differenzen als hartnäckiger, als es im Überschwang des Moments scheint. Auch in der soziologischen Diskussion könnte sich diese Erfahrung abzeichnen. Das Verhältnis von Bereichen wie Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Recht, Familie u. a. wird nach wie vor vorrangig im Paradigma von „verfließenden Grenzen“, „nahtlosen Netzen“, „Vernetzung“, „Übersetzung“, „Überschreitung“ und „Einbettung“ gedacht, aber mittlerweile wird durch manche auch Skepsis geäußert und teilweise zurückgerudert. In der Wissenschaftssoziologie gibt es offene Reaktionäre wie Harry Collins und Robert Evans, die eine „Dritten Welle“ der Wissenschaftsforschung ausrufen und die Anerkennung einer unhintergehbaren
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 B. Kuchler, Die soziale Seite an Wirtschaft und Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23104-0_2
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2 Grenzen und Entgrenzungen
Differenz zwischen Wissenschaft und Politik fordern (Collins/Evans 2002, 2007). Die systemtheoretisch informierten Autoren in der Debatte haben sich ohnehin nie von den dominierenden Entgrenzungs- und Hybridisierungsdiagnosen überzeugen lassen (Bora 1996; van den Daele 1996; Bora 2010). In der Wirtschaftssoziologie bleibt offener Widerspruch gegen das Einbettungsparadigma eher am Rande der Diskussion: Gelegentlich löst der Einbettungsbegriff Kritik oder Irritationen aus, ohne dass das aber auf viel Resonanz stoßen würde (Callon 1999b; Krippner 2001; Langenohl 2008a, 2015). Eher unauffällig und nicht als solche ausgeflaggt lassen sich aber auch hier Ansätze zu einer einfühlsamen differenzierungstheoretischen Argumentation finden, die die Robustheit der Grenzen zwischen Wirtschaft und anderen sozialen Kontexten demonstriert (Zelizer 2005). Woraus speist sich die Überzeugung, dass Grenzen nicht vorhanden oder, wenn vorhanden, bestenfalls kontingent und konstruiert, prekär und permeabel sind? In der Literatur lassen sich zwei verbreitete Denkweisen ausmachen. Zum einen wird beobachtet, dass faktisch häufig Austauschprozesse über Grenzen hinweg stattfinden, dass Grenzen nicht jede Art von Kontakt und Interdependenz stoppen. Daraus wird geschlossen, dass es eigentlich gar keine Grenzen gibt, sondern nur offene Landschaften und fließende Ströme. Ich nenne diese Schlusslogik den faktizistischen Fehlschluss, weil sie aus der Faktizität von Grenzüberschreitungen auf die Nichtigkeit von Grenzen schließt. Zum anderen wird beobachtet, dass Grenzen nicht historisch invariant fixiert und entlang von absolut eindeutigen Kriterien gezogen sind, sondern sich je nach Zeit, Ort und Situation verschieben können. Daraus wird geschlossen, dass Grenzen nur als rhetorische Waffen interessierter Akteure zitiert und konstruiert werden, soweit jemand etwas davon zu gewinnen hat. Ich nenne diese zweite Schlusslogik den instrumentalistischen Fehlschluss, weil sie aus der Variabilität von Grenzen auf deren rein instrumentelles Fungieren schließt. Greift man noch einmal auf die Analogie der nationalen Grenzen zurück, würde das heißen: Im einen Fall wird alles nach dem Modell der Grenze zwischen der BRD und der DDR gedacht, also nach dem Modell von Isoliertrakten, die nach Möglichkeit jeden Kontakt unterbinden. Wenn man so denkt, kann man eine Grenze wie sagen wir die zwischen Deutschland und Frankreich, die problemlose tägliche Kontakte zulässt, nicht mehr als Grenze begreifen; denn sie hält ja gar nicht dicht. Im anderen Fall wird beobachtet, dass der genaue Verlauf von Grenzen nicht über Jahrhunderte unverändert bleibt, sondern sich öfter verschiebt und sich nicht an absoluten, naturhaften Kriterien orientieren kann – dass etwa Elsass-Lothringen mal zu Deutschland und mal zu Frankreich gehört hat oder dass Liechtenstein statt ein unabhängiger Staat ebenso gut ein Teil Ö sterreichs
2.2 Faktizistischer Fehlschluss …
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sein könnte. Aus diesem Umstand wird dann geschlossen, dass das Staatsgrenzen „an sich“ gar nicht existieren, sondern nur von Präsidenten, Polizisten oder wem immer zur Sicherung eigener Interessen rhetorisch ins Feld geführt werden. Diese beiden Argumentationsmuster werden in den Abschn. 2.2 und 2.4 rekonstruiert. In den übrigen Abschnitten werden sie kritisch hinterfragt und mit Gegendarstellungen konfrontiert. Gegen den ersten Schluss kann eingewandt werden, dass das tägliche Überschreiten von Grenzen nicht unbedingt mit deren Aufweichung einhergehen muss, sondern ebenso gut mit ihrer Bestätigung und Bekräftigung – ähnlich wie Durkheims Verbrecher im Verstoß gegen die Norm diese unwillentlich stärkt. Grenzen verhindern nicht, sie konditionieren nur Grenzüberschreitungen. Grenzübertritte machen gleichzeitig die Grenze besonders pointiert erlebbar, und Teilnehmer können sich gerade aus diesem Anlass zur Entzerrung und Entmischung verschiedener Sinnhorizonte genötigt sehen (Abschn. 2.3). Gegen den zweiten Schluss ist zu sagen, dass Grenzen zwischen gesellschaftlichen Sinnsphären zwar historisch variabel sind, aber durchaus nicht so wild und ungeordnet, wie zu erwarten wäre, wenn sie nur das Produkt kontingenter Interessen und strategischer Schachzüge von Akteuren wären. In Wahrheit zeigen sich wiederkehrende Muster in der historischen Entwicklung von Grenzen, die über sehr verschiedene Fälle hinweg parallel gelagert sind und die dem üblichen Schema des Aufbaus komplexer Ordnung entsprechen: von geringer zu höherer Komplexität (Abschn. 2.6 und 2.7). Grenzen weisen eigene Entwicklungstrajektorien auf und sind nicht nur Spielball in der Hand interessierter Akteure. In ihrem Interesse für grenzüberschreitende Prozesse haben Wissenschaftssoziologen und Wirtschaftssoziologen einen Schatz wertvoller Erkenntnisse zusammengetragen. Was sie nicht getan haben, ist zu zeigen, dass es sich beim Gegenstand ihres Interesses nicht um Grenzen handelt.
2.2 Faktizistischer Fehlschluss: Grenzen als Schimäre in einer offenen Welt Kontextualisierungen der Wissenschaft Über weite Strecken der Literatur scheint die schiere Existenz und Häufigkeit von Außenkontakten als Beleg dafür genommen zu werden, dass die Wissenschaft nicht eine soziale Entität mit Grenzen ist, sondern allenfalls eine diffus markierte Zone in einer sozialen Landschaft, die im Prinzip offen, barrierefrei und frei von kategorialen Unterscheidungen ist. Was fasziniert, sind Interdependenzen, Kooperationen und „Koproduktionen“, in denen wissenschaftliche Daten und
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2 Grenzen und Entgrenzungen
Erkenntnisse eng mit anderen Sachverhalten verquickt sind, etwa mit politischer und rechtlicher Entscheidungsfindung oder mit industrieller und medizinischer Nutzbarmachung. Anstelle des klassischen, weltentrückten Wissenschaftlers rücken andere, weltoffenere Figuren in den Mittelpunkt des Interesses, die diverse Rollenmischungen wie Wissenschaftler-Unternehmer, Wissenschaftler-Journalist, Wissenschaftler-Experte oder Wissenschaftler-Regulierer verkörpern (Ravetz 1990: XI). Die Vorstellung, Wissenschaft sei klar von anderen Bereichen der Gesellschaft zu unterscheiden, wird als Illusion und Schimäre enttarnt: „[W]e are living in a world where the distinction between ‘science’ and ‘society’ has become blurred“ (Irwin/Michael 2003: 109). Mit am häufigsten wird dabei die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik thematisiert, die insbesondere anhand von riskanten Technologien und Technikfolgen akut wird. Wissenschaftlich-technologische Innovationen wie Atomkraft, Gentechnik oder Robotik stehen immer wieder im Zentrum politischer Konflikte und kontroverser Nutzen- und Risikoeinschätzugen. Politische Entscheidungen und wissenschaftliche Wahrheiten lassen sich dann nicht säuberlich auf zwei Seiten einer Scheidelinie sortieren, sondern greifen aufs Engste ineinander: Politik wird „verwissenschaftlicht“ und Wissenschaft „politisiert“ (Weingart 1983, 2001; Carrier/Weingart 2009). Alle klassischen Unterscheidungskriterien versagen. Man kann etwa nicht sagen: Wissenschaft ist für Faktenfragen zuständig, für Fragen vom Typ „Was ist der Fall?“, Politik für Wertfragen, Fragen vom Typ „Was ist richtig?“ oder „Wie wollen wir leben?“. Vielmehr sind in solchen Situationen alle verfügbaren Faktenaussagen zutiefst aufgeladen mit Wertungen und Entscheidungen – worüber und wie zu forschen sei, welche Ergebnisse zu akzeptieren seien, wer mitreden dürfe usw. –, und umgekehrt sichert sich jedes Werturteil in Fakten ab, beruft sich auf seine Studien, Gutachten und Experten (Wynne 1991; Jasanoff 2004, 2008a). Man kann auch nicht sagen: Wissenschaft ist Sache von Spezialisten, Politik ist Sache von allen und deshalb auf Demokratie, Bürgerbeteiligung, Mehrheitsprinzip gebaut. Denn die Experten sind untereinander uneins, sodass man auch hier allenfalls nach Mehrheiten suchen kann (Yearley 1992), und umgekehrt haben manche Laien eine so gute Kenntnis der Sachfragen, dass man sie aus der Diskussion – und eventuell aus der Produktion – wissenschaftlicher Befunde nicht ausschließen kann (Callon 1999a; Fischer 2000; Irwin 2001; Bucchi/Neresini 2008; Cornwell/ Campbell 2012). Wissenschaft wird dann in Form von Beratern und Beiräten, Gutachtern und Grenzwertsetzern zur „fünften Gewalt“ im Staat, sie dient der wissenschaftlichen Legitimierung und Flankierung von Politik; und umgekehrt sehen sich wissenschaftliche Disziplinen oder Forschungsgemeinschaften veranlasst, sich selbst Ethikkodizes und der Forschung eine politisch-ethische
2.2 Faktizistischer Fehlschluss …
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Flankierung zu geben (Weingart 1983; Jasanoff 1990; Briggle 2009). Und Wissenschaftssoziologie hat dann die Aufgabe, die versteckte „politische Ökonomie der Wissenschaft“ aufzudecken und Wissenschaft als „unpolitische Politik“ zu erweisen (Wynne 1992a; Wright 1993: 82; Wynne 1996, 2003). Ähnlich wird die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Recht beschrieben. Rechtliche Entscheidungspraxis findet sich immer wieder auf Wissenschaft verwiesen: Sie fordert wissenschaftliche Faktenfeststellungen an, etwa zur genetischen Identifizierung von Personen, von Tätern oder Vätern – um die wichtigsten Anwendungsfälle im Strafrecht respektive Zivilrecht zu nennen –, oder zur Beurteilung behaupteter Kausalitäten, etwa was die Gesundheitsschädlichkeit bestimmter Substanzen, Konsumgüter oder Medizinprodukte betrifft (Jasanoff 1995; Lynch/Jasanoff 1999; Irwin 2001). Die dafür nötigen wissenschaftliche „Fakten“ werden aber ihrerseits oft erst im Rahmen von Gerichtsverfahren erarbeitet und damit in den Strudel des Streits und des Kreuzverhörs hineingezogen: Was und wer als wissenschaftlicher Beleg, als wissenschaftliche Methode oder wissenschaftlicher Experte durchgeht, muss durch überzeugende Auftritte vor Gericht und letztlich durch richterliche Entscheidung festgelegt werden (Yearley 1989; Jasanoff 1995, 2004; Lynch/Cole 2005; Jasanoff 2008a). Es kann sich ein Überschneidungsbereich von „Prozesswissenschaft“ herausbilden: Studien, die allein zu dem Zweck angefertigt und in einschlägigen Zeitschriften untergebracht werden, um in Gerichtsprozessen als Beweismaterial vorgelegt zu werden, mit der Folge, dass sich ein dauerpräsenter Verdacht bei Gerichtspersonen entwickelt, vorgelegtes Beweismaterial könne zu dieser Kategorie gehören (Jasanoff 1995, 2008b).1 Ein weiteres großes Thema sind Überschneidungszonen zwischen wissenschaftlicher Forschung und kommerziellen Anwendungen. Mittlerweile fließt ein erheblicher Anteil der insgesamt aufgebrachten Forschungsmittel in Industriestaaten in „Research & Development“ in Unternehmen, und unternehmensbasierte Forschung kann in manchen Zweigen – wie den Lebenswissenschaften und der Medizin- und Pharmaforschung – hoch innovativ und
1Prozesswissenschaft
(„litigation science“) kommt deshalb auf, weil in einem einflussreichen US-amerikanischen Präzedenzfall (Daubert vs. Merrell Dow Pharmaceuticals) das zuständige Gericht urteilte, dass Studien, die nicht veröffentlicht sind und kein „peer review“-Verfahren durchlaufen haben, sondern nur für den Kläger selbst und für Zwecke des Gerichtsverfahrens angefertigt wurden, nicht als wissenschaftliches Beweismaterial gelten Solomon/Hackett (1996). Dies führt nachvollziehbarerweise dazu, dass spätere Kläger versuchen, ihr Beweismaterial publiziert zu bekommen, bevor sie es vor Gericht vorlegen.
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2 Grenzen und Entgrenzungen
auch qualitativ hochwertig sein. Die Grenze zwischen universitärer und kommerzieller Forschung wird dann zunehmend fließend: Unternehmen haben ihre eigenen Forschungsabteilungen oder Forscher ihre eigenen Unternehmen, Universitäten kooperieren mit Unternehmen und werden an Gewinnen aus lukrativen Forschungsprojekten beteiligt, und der Fortgang der Forschung hängt stark von privaten Geldflüssen und Anreizen im Patentrecht ab (Powell/Owen-Smith 1998; Berman 2008; Croissant/Smith-Doerr 2008; Lam 2010). Die saubere Trennung in „reine Forschung“ und „bloße Anwendung“, wie es das Elfenbeinturm-Konzept der Wissenschaft vorsieht, greift in solchen Lagen nicht. Vielmehr sind Grundlagenforschung und Anwendungsinteressen von Anfang an miteinander verquickt, die angeblich zweckfreie Naturerkenntnis wird durch Nützlichkeitserwägungen überformt, Erkenntnisinteressen mischen sich mit Vermarktungsinteressen. Unter Wissenschaftssoziologen strittig ist dann vor allem die Frage, ob das immer schon so war (Mirowski/Sent 2008) oder ob das eine neue Entwicklung ist, die die Ausrufung einer „Mode 2“ Wissenschaft rechtfertigt (Gibbons et al. 1994; Nowotny/Scott/Gibbons 2001). Ähnlich wird schließlich auch die Grenze – oder Nicht-Grenze – zwischen wissenschaftlichem und massenmedialem Wissen, und wissenschaftlichen und massenmedialen Publikationen, beschrieben. Es gibt so gesehen keine kategoriale Differenz zwischen exklusivem, nur für Spezialisten zugänglichem wissenschaftlichen Wissen und für die allgemeine Öffentlichkeit aufbereitetem Populärwissen, allenfalls lassen sich graduelle Unterschiede ausmachen (Hilgartner 1990; Lewenstein 1995; Bucchi 1996; Irwin/Michael 2003). Es gibt auch keinen einseitigen Prozess, in dem die kostbaren Früchte der Wissenschaft in die niederen Gefilde der Massenmedien hinabgereicht würden – nachträglich und verzerrt, als minderwertiger Abklatsch der „eigentlichen“ Forschung. Vielmehr greifen Wissenschaftler selbst im Forschungsalltag routinemäßig auf Massenmedien zu: Sie benutzen sie sowohl als Informationsquelle als auch als Transmissionsriemen, um relevante Teile ihres Publikums zu erreichen, ihre Prominenz im eigenen Fach zu steigern oder Forschungsgelder in ihre Richtung zu lenken. Massenmediale Verbreitungsprozesse sind der Wissenschaft deshalb nicht äußerlich, sondern sind Teil eines allgemeinen Netzes von Informationsflüssen, das keine scharfe Grenzen und Segmentierungen kennt. Anstelle einer klaren Scheidelinie zwischen den „objektiven“ und „kontextfreien“ Aussagen der Wissenschaft und den kontextgebundenen, zielgruppenorientierten Botschaften der Massenmedien findet man fließende Übergänge und überall gleiche Probleme: Hier wie dort müssen Aufmerksamkeitseffekte bedient werden, hier wie dort müssen Moden, Schlagwörter und Stars kreiert werden, hier wie dort müssen Zielgruppen angepeilt und Inhalte attraktiv verpackt werden (Law/Williams, R. J. 1982; Shinn/Whitley 1985).
2.2 Faktizistischer Fehlschluss …
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Insgesamt ergibt sich ein Gegenbild zum klassischen Elfenbeinturm-Konzept der Wissenschaft, das sich Forschung als einsames und interessefreies Streben nach der reinen Wahrheit vorstellt – unbestechlich, nur eigenen Gesetzen folgend, nur auf Argumente oder neue Datenbits reagierend. Statt dessen wird wissenschaftliche Forschung als vielfältig vernetztes Geschehen mit lauter offenen Anschlüssen gesehen. Es macht sich hier derselbe grundsätzliche Anti-Realismus und Anti-Essentialismus bemerkbar, den die konstruktivistische Wissenschaftssoziologie mit Blick auf das Problem der Welterkenntnis verficht: Ebenso wie ein essenzialistisches Verständnis von Fakten, Wahrheiten und Welterkenntnis abgelehnt wird, wird auch eine essenzialistische Vorstellung von „der Wissenschaft“ als einer an und für sich existierenden Größe abgelehnt. „Die“ Wissenschaft als kategorial abgegrenzte Entität gibt es nicht, und letztlich gibt es nicht einmal wissenschaftliche Disziplinen wie „die“ Biologie oder „die“ Physik. Alles, was es gibt, sind komplexe Gemengelagen aus Verflechtungen und Kontextualisierungen: eine Vielzahl von oft inter- und transdisziplinären Forschungszusammenhängen mit vielfältigen Anschlüssen an andere Kontexte und oftmals engeren Beziehungen nach „außen“ als nach „innen“, zu anderen wissenschaftlichen (Sub-)Disziplinen und Forschungskontexten. Diese Sichtweise ist so dominant, dass abweichende Stimmen, die mehr Konturiertheit sehen, konstitutiv in der Defensive bleiben. Collins und Evans als Protagonisten der „Dritten Welle“ etwa stoßen auf wütenden Protest, wenn sie eine wechselseitige Irreduzibilität von Wissenschaft und Politik behaupten oder die Existenz eines „substanziellen“ Unterschieds zwischen Expertise und Nicht-Expertise.2 Solche Aussagen gelten der Mehrheitsmeinung im Feld als Ketzerei und lösen heftigen Widerspruch aus (Jasanoff 2003; Rip 2003; Wynne 2003). Einbettungen von Märkten Für die neuere Wirtschaftssoziologie sind Märkte nicht eine nach außen abgeschlossene Welt für sich. Der größte und erste Fehler der Ökonomen sei es, Märkte als geschlossene, selbstreferenzielle, selbstgenügsame Einrichtungen zu betrachten – „the mistaken assumption […] that modern markets are autonomous, self-subsistent institutions, undisturbed by extra-economic cultural and social factors“ (Zelizer 1988: 617). Das Interessante seien vielmehr gerade die Einbettungen, 2Sie
stellen etwa fest: „Democracy cannot dominate every domain – that would destroy expertise – and expertise cannot dominate every domain – that would destroy democracy.“ Collins/Evans (2007: 8). Und: „We will have to treat expertise as ‘real’“ – „as something more than the judgement of history, or the outcome of the play of competing attributions“ Collins/Evans (2002: 236 f.).
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2 Grenzen und Entgrenzungen
das „Übergreifen“, „Überlaufen“ und „Überschwappen“ von Problemen von einem Kontext in den anderen, das allenfalls durch künstliche und immer mühsame Abzirkelungs- und Rahmungsarbeit eingehegt werden könne (Callon 1998a). Das Zusammenspiel von Marktkräften und anderen sozialen Kräften bildet je nach Zeit, Kultur, politischen Rahmenbedingungen und historischen Pfadabhängigkeiten ganz unterschiedliche Formen aus, universell gültige Strukturen und Gesetze lassen sich nicht identifizieren. „Die Wirtschaft“ gibt es deshalb im Sprachgebrauch der meisten Wirtschaftssoziologen ebenso wenig wie „die Wissenschaft“ im Sprachgebrauch der meisten Wissenschaftssoziologen; statt dessen ist von Märkten die Rede, im Plural und in offener Vielzahl. Auch gebe es nicht „das“ Geld als ein einheitliches Medium, in dem jeder Dollar mit jedem anderen identisch sei; statt dessen finde man bei genauem Hinsehen viele verschiedene Gelder, die je in ihren eigenen Kreisläufen zirkulierten (Zelizer 1994, 1998). Und auch hier stützt sich die Überzeugung von der konstitutiven Offenheit von Markt- und Geldkontexten auf die Existenz einer Vielzahl von Wechselwirkungen und grenzüberschreitenden Einflüssen. Unter den relevanten Einflussfaktoren sind auch hier politische und rechtliche Rahmenbedingungen zentral. Märkte beruhen bis in ihre Konstitution hinein auf staatlichen Ordnungsleistungen. Auf der allgemeinsten Ebene gilt, dass es keine Märkte geben könnte ohne staatliche Garantie des Eigentums, also ohne wirksamen Schutz wirtschaftlicher Verfügungsmöglichkeiten ungeachtet von Fragen gewaltförmiger oder sonstiger Durchsetzungsfähigkeit (Campbell/Lindberg 1990). Auf einer spezifischeren Ebenen lässt sich etwa sagen, dass kaum jemand ein unternehmerisches Risiko eingehen würde – ein Unternehmen gründen oder mittels Aktienkauf in ein Unternehmen investieren würde – ohne das rechtlich garantierte Prinzip begrenzter Haftung, das den Verlust auch der persönlichen Vermögenswerte bei Scheitern des Unternehmens ausschließt. Weiter muss der Wettbewerb als Grundprinzip des Marktes laufend durch den Staat und das Recht geschützt werden: Ohne wettbewerbsrechtliche Beschränkungen wären viele Märkte schon längst in Monopole und raubtierhafte Auffressprozesse gekippt, und die viel gelobte Konkurrenz hätte sich selbst abgeschafft. Das jeweils geltende Wettbewerbsrecht prägt zutiefst die Innovations- und Expansionsstrategien von Unternehmen: Durch wettbewerbsrechtliche Regeln können wahlweise horizontale Expansion (Übernahme von Konkurrenten), vertikale Expansion (Einverleibung von Zuliefer- und Vertriebsketten) oder unrelationierte Expansion (Mischkonzerne mit sehr verschiedenartigen Geschäftsfeldern) erschwert oder aber umgekehrt erleichtert und nahegelegt werden, was jeweils recht unterschiedlich strukturierte Unternehmen hervorbringt (Hirsch 1986; Fligstein 1990; Davis/Diekmann/Tinsley 1994; Zorn et al. 2005). Weiter sind praktisch
2.2 Faktizistischer Fehlschluss …
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alle Einzelmärkte für bestimmte Produkte und Dienstleistungen durch staatliche Regulierungs- und Deregulierungsmaßnahmen mitgeformt. Lebensmittelmärkte und sonstige Konsumgütermärkte sind durchsetzt von Verbraucherschutz- und Umweltschutzbestimmungen; Märkte für Eisenbahn- und Flugverkehr, Strom, Wasser und Telekommunikation sind geprägt durch die Frage, ob „natürliche Monopole“ einzelner Anbieter akzeptiert werden oder ob die Freigabe von einmal vorhandenen Verkehrswegen und Leitungsnetzen auch für konkurrierende Anbieter erzwungen wird; und Finanzmärkte sind zutiefst abhängig von der Frage, welche Finanzprodukte, Handelstechniken und Bankenzuschnitte erlaubt sind und in welcher Weise sie durch Aufsichtsbehörden eingeschränkt werden (Campbell/Lindberg 1990; Dobbin 1994; Fligstein 1996, 2001b; MacKenzie/ Millo 2003; Davis 2009b; Krippner 2011; Avent-Holt 2012). Angesichts dieser Fülle von Abhängigkeiten ist es nicht unplausibel zu schließen: „the state constitutes, rather than intervenes in, the economy“ (Callon 1998b: 41). Viele Märkte sind weiter zutiefst verwickelt mit wissenschaftlichen Innovationen. Produktmärkte können durch eine durchschlagende technologische Innovation revolutioniert werden, wie beispielsweise durch die Halbleiterrevolution, die der Ausrüstung unzähliger Produkte mit elektronischen Bauteilen und der Entwicklung völlig neuer Kommunikationsgeräte und -plattformen den Weg ebnete. Im Bereich von Finanzmärkten hat die Entwicklung der neoklassischen Optionspreistheorie eine ähnliche Rolle gespielt, indem sie Finanzderivate für „rationalen“ oder jedenfalls mathematisch kalkulierbaren Handel zugänglich machte und damit die Erfindung unzähliger neuer Finanzprodukte und die Explosion der globalen Derivatemärkte einleitete (MacKenzie 2003; Smith 2007). Märkte und ebenso Unternehmen können in Teilen als performatives Produkt wirtschafts- oder finanzwissenschaftlicher Modelle verstanden werden, die die Welt „nach ihrem Bilde formen“. So liefern Wirtschaftsprüfer und Analysten mit ihren Kennziffern nicht nur nachträgliche Beschreibungen von Unternehmen, sondern Blaupausen, an denen Strukturen, Strategien und Gewinnziele von Unternehmen ausgerichtet werden (Carruthers/Espeland 1991; Vollmer 2004; Zorn et al. 2005; Kalthoff 2007; Muniesa/Millo/Callon 2007; Pollock/Williams 2010). Und hochgeneralisierte Paradigmen wirtschaftswissenschaftlicher Beobachtung, wie Keynesianismus und Neoklassik, werden auf dem Umweg über staatliche oder zentralbankliche Entscheidungen in höchst weitreichender – sei’s selbsterfüllender, sei’s selbstwiderlegender – Weise in realen Märkten wirksam (Campbell 1998; Abolafia 2005; Aspers 2007; Krippner 2007; Fourcade 2009). Schließlich können sich Märkte aber auch niemals ablösen von stärker traditionalen Strukturen, insbesondere von religiös, moralisch und familial verankerten Normen und Plausibilitäten. Ob, in welcher Form und unter welchen
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2 Grenzen und Entgrenzungen
Kontrollen es Märkte für Land, Lebensversicherungen, menschliche Organe, Spermien, Eizellen, Ehefrauen, Adoptivkinder, Gene und genveränderte Organismen geben darf, hängt von solchen kulturellen Akzeptabilitätsbedingungen ab (Zelizer 1979, 1985; Carruthers/Ariovich 2004; Healy 2006; Almeling 2007). Ein Markt für Lebensversicherungen beispielsweise kann sich erst etablieren, wenn die Religion diese Art von Zukunftsvorsorge theologisch-moralisch freigibt und vom Stigma der Zockens mit den eigenen Tod oder des Hineinpfuschens in Gottes Vorsehung befreit (Zelizer 1979; Quinn 2008; Chan 2009). Weiter können sich Nischenmärkte für Teilnehmer mit besonderen religiösen oder moralischen Bedürfnissen und Präferenzen ausbilden, etwa „islamische Banken“ für Geldanleger, die dem Zinsverbot des Islam genügen und trotzdem an Kapitalmärkten teilnehmen wollen, oder Märkte für „fairen Kaffee“ oder „CO2-neutrale Flüge“ für Konsumenten, die an den Segnungen der Konsumgesellschaft teilhaben und doch ein gutes ökologisches oder soziales Gewissen haben wollen (Micheletti 2003; Stehr 2008; Glickman 2010; Bassens/Derudder/Witlox 2011; Kettell 2011). Freundschafts-, verwandtschafts- oder ethnizitätsbasierte Netzwerke können der Ausbildung von Transaktionsnetzen auf Konsumgütermärkten, auf Import/ Export-Märkten und Arbeitsmärkten zugrunde liegen (Portes 1994; D iMaggio/ Louch 1998; Portes/Guarnizo/Haller 2002). Familien, als die wichtigsten Konsumeinheiten, können eigene Präferenzen und Prioritäten dafür bilden, wofür Geld auszugeben ist: Geld kann für bestimmte Verwendungen oder bestimmte Verwender „vorgestanzt“ werden, sodass es in der familialen Praxis in eine Vielzahl von gesonderten Geldsorten und Geldkreisläufen auseinanderfällt – Eiergeld, Feriengeld, Taschengeld usw. –, die mit allerlei Tricks markiert und für die vorgesehene Verwendung reserviert werden (Zelizer 1994, 1998). Wenn das alles so ist, dann sind Märkte eben, entgegen dem verbreiteten Missverständnis oder der weit propagierten Ideologie, keine nur in sich gegründete, sich selbst regulierende Ordnung, die am besten funktioniert, wenn man die Finger von ihr lässt. Märkte, wie sie konkret in irgendwelchen Auktionshäusern und Auftragsbüchern, Ladengeschäften und Börsen zu finden sind, sind nicht identisch mit dem Markt aus Ökonomielehrbüchern, der rein ökonomischen Gesetzen folgt – Angebot/Nachfrage, Gleichgewicht usw. – und allenfalls gelegentlich „externe Schocks“ absorbiert. Den Markt in diesem Sinn gibt es nicht, und wirkliche Märkte sind immer schon aufs Engste verwoben mit den kulturellen und institutionellen Bedingungen, unter denen sie sich ausbilden. Die Wirtschaftssoziologie will deshalb konkrete „Marktplätze“, nicht „den Markt“ untersuchen, den Begriff von der Sache selbst unterscheidend (Callon 1998b: 1).
2.3 Feindliche Welten und robuste Koexistenzen
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2.3 Feindliche Welten und robuste Koexistenzen Das Denken in „feindlichen Welten“ Das alles ist der Sache nach plausibel, in der Masse der Befunde erdrückend und in seinem kumulierten Erkenntniswert beeindruckend. Gleichwohl ist es von seiner Begriffsanlage her mit einem Fehler behaftet. Der Fehler liegt in der Annahme, dass dort, wo Kontakte sind, keine Grenzen sein können. Aus der „Omnipräsenz von Kontakten mit der Außenwelt“ (Callon 1998a: 250) wird auf die Offenheit einer sozialen Landschaft ohne Diskontinuitäten und ohne distinkte Eigenlogiken geschlossen. Wer so denkt, legt eine Sichtweise an, die Viviana Zelizer (2005) als Modell „feindlicher Welten“ bezeichnet und ablehnt. Die Annahme ist: Differenzierte Sphären müssen scharf und berührungsfrei voneinander getrennt sein, und wenn sie das nicht sind, bricht die Differenzierung zusammen. Das ist indes ein Missverständnis oder eine Karikatur von Differenzierungstheorie. In Wahrheit ist Differenzierung sehr wohl kompatibel mit einem hohen Maß an grenzüberschreitenden Kontakten. Die ganze Tradition der soziologischen Differenzierungstheorie spricht dafür, sich Differenzierung nicht als Abbrechen von Kontakten vorzustellen, sondern als eine Ordnung, die Kontakte und Querbezüge zwischen dem Differenzierten gerade ermöglicht und erfordert. Das klassische Modell, um Differenzierung zu denken, ist nicht der Isoliertrakt, sondern die Arbeitsteilung, und Arbeitsteilung setzt Interdependenz und Austausch zwischen dem Differenzierten voraus. Differenzierung heißt also nicht Kontaktverbot, sondern heißt „nur“, dass die Kontaktstellen unter das Regime der funktionalen Spezifikation beider Seiten geraten und nur verstanden werden können, wenn man deren jeweilige Eigenlogik berücksichtigt. Durch Differenzierung wird das Differenzierte nicht hermetisch voneinander getrennt, sondern gerade aufeinander bezogen und aufeinander verwiesen; und umgekehrt wird durch Kontakte und Kopplungen das Gekoppelte nicht unentwirrbar ineinander verschlungen, sondern bleibt auch und gerade hier in seinem Eigensinn erhalten. „Grenzen […] haben […] die Doppelfunktion der Trennung und Verbindung von System und Umwelt“, heißt es bei Luhmann (1984: 52). Rudolf Stichweh formuliert ausführlicher, hier für das Verhältnis von Wissenschaft und Staat: „Jemand, der bei jemandem anderen eine Leistung nachfragt, artikuliert ja gleichzeitig eine Differenz. Diese Differenz liegt darin, daß er die Leistung, die er nachfragt, offensichtlich nicht selbst erbringen kann […]. Er muß der leistungserbringenden Instanz künftig auch die erforderlichen Ressourcen zuweisen [oder: die erforderliche Autonomie zugestehen], und er hat ein Eigeninteresse daran, daß sie möglichst leistungsfähig ist.“ (Stichweh 1987: 146).
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2 Grenzen und Entgrenzungen
Zwar ist die Intuition, die dem faktizistischen Fehlschluss zugrunde liegt, auch nicht ganz falsch: Prinzipiell gehört Interdependenzunterbrechung in der Tat zu den wesentlichen Merkmalen von Systembildung. Nur wenn flächendeckende Abhängigkeiten von allem mit allem aufgelöst werden, interne Interdependenzen dichter sind als Interdependenzen mit der Umwelt und das System nicht mehr von allen Umweltvariationen eins zu eins betroffen ist, kann man von einem System sprechen; andernfalls wäre das System eben nicht von seiner Umwelt zu unterscheiden (Luhmann 1984: 45 ff.). Aber das ist als Globalbefund zu verstehen, nicht punktuell und auf jeden Einzelaspekt bezogen. Das System insgesamt muss gegenüber seiner Umwelt insgesamt relativ isoliert sein und Interdependenzunterbrechungen einrichten, nicht aber müssen an allen Einzelstellen Austauschbeziehungen und Abhängigkeiten unterbrochen werden. Letztere können sogar ausgebaut und intensiviert werden: Spezifische Abhängigkeiten auf bestimmten, ausgewählten Kanälen können verstärkt werden, wenn dafür diffuse Abhängigkeiten an allen möglichen, unkontrollierbaren Stellen abgebaut werden (Luhmann 1970e, 1981a: 40 ff., 1984: 275 ff.). So wird beispielsweise das moderne Rechtssystem mit seiner Schließung – nämlich: Positivierung – hochgradig abhängig von Inputs aus dem politischen System, nämlich der parlamentarischen Gesetzgebung; dafür nimmt es keine Direktiven aus anderen Kanälen mehr entgegen, weder aus der Religion noch aus der Familie noch von anderen politischen Instanzen, etwa der Exekutive (Luhmann 1993a: 407 ff.). Das ist auch der Sinn des rätselhaften Satzes von Luhmann, Autonomie heiße, „wählen können in den Aspekten, in denen man sich auf Abhängigkeit von der Umwelt einläßt“ (Luhmann 1984: 279). „Wählen“ heißt hier nicht willkürliches Herauspicken; „wählen“ heißt, dass nur spezifische Abhängigkeitskanäle bedient werden, auf die die internen Strukturen eingestellt sind und die diesen deshalb keine Gewalt antun. Gleichzeitig sorgt die Spezifikation und damit die Pluralisierung von Abhängigkeiten, damit die Differenzierung von relevanten Umweltsektoren, dafür, dass das System keinem einzelnen von ihnen wehrlos ausgeliefert ist, sondern jedem einzelnen gegenüber wieder Freiheitsgrade hat (Luhmann 1970e: 156 ff.; Schimank 1994; Stichweh 2009a). Es geht nicht um die Vermeidung, sondern um die Vermehrung und damit Relativierung von Abhängigkeiten. In diesem Sinn sind spezialisierte Teilsysteme oder Sinnsphären eben keine „feindlichen Welten“, die nicht miteinander in Kontakt kommen dürfen, wenn sie ihre Spezifität nicht verlieren sollen. Genau das hat Zelizer (2005) in einer Studie zum Verhältnis von Intimität und Geld herausgearbeitet, wenn auch nicht in makrosoziologisch-gesellschaftstheoretischer Absicht, sondern vielmehr mit mikro- oder kultursoziologischen Interessen. Zelizer spricht nicht von
2.3 Feindliche Welten und robuste Koexistenzen
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eilsystemen, wohl aber von unterschiedlichen symbolischen Sphären und kultuT rellen Codes, und sie zeigt, dass verschiedene dieser Sinnwelten gleichzeitig, in derselben Situation und durch dieselben Teilnehmer aktualisiert werden können, ohne ihre Unterscheidbarkeit und Eigensinnigkeit zu verlieren. Zelizers Thema ist das Verhältnis von Familien und anderen Intimbeziehungen zur Sphäre der Wirtschaft und des Geldes,3 und ihre Botschaft ist der Einspruch gegen Kommodifizierungsdiagnosen, also gegen die Vorstellung, alle zwischenmenschlichen Beziehungen würden durch den Kapitalismus und die Welt des Geldes vereinnahmt und dem Regime der „gefühllosen baren Zahlung“ unterworfen. Demgegenüber zeigt sie, dass intime Beziehungen den Kontakt mit der Geldsphäre normalerweise unbeschadet überstehen und sich gerade darin in ihrer Eigenlogik bewähren können.4 Im Familienalltag seien zwar Geldfragen ein Dauerthema: Geschenke und andere Zuwendungen würden zugemessen, die Finanzierbarkeit von Wohnungen und Urlauben werde diskutiert, familiale Haushaltsarbeit, Kinderbetreuung oder Sexualität werde durch zugekaufte Dienstleistungen ersetzt oder ergänzt. Die Differenz der Sphären sei dadurch aber nicht gefährdet, da die Teilnehmer die Differenz als solche zu handhaben wüssten. Sie könnten sehr gut zwischen intimen und monetarisierten Beziehungen unterscheiden und legten Wert darauf, den Unterschied bei Bedarf durch entsprechende Selbstdarstellung zu markieren – etwa den Unterschied zwischen bezahltem Sex und Sex
3Zelizer
hat einen sehr breiten Begriff von Intimität oder intimen Beziehungen. Dieser schließt alle Beziehungen ein, in denen etwas geteilt wird, was mit Dritten nicht geteilt wird – wenn etwa zwischen Vorgesetztem und Untergebenem Dienstgeheimnisse geteilt werden, oder zwischen Arzt und Patient Details des physischen und psychischen Befindens. Paarbeziehungen und Familien sind im Feld von intimen Beziehungen jedoch prominent; ich greife hier die Befunde heraus, die sich darauf beziehen. 4An diesem Punkt entspannt sich etwa eine Debatte zwischen Zelizer und Eva Illouz. Letzter diagnostiziert eine „Verschmelzung von Kultur und Warenwelt“ im Allgemeinen und eine „Einheit von romantischer Liebe und Warenwelt“ im Besonderen (Illouz 2003: 74 f.) und stellt deshalb den Antipoden zu Zelizers Auffassung dar (Illouz 2008). Ihr zufolge werden Liebesbeziehungen im Kapitalismus zunehmend einer Logik des Konsums, der Werbung, der geldwerten Geschenke unterworfen, sie gleichen sich an Konsumpraktiken an oder sind unauflöslich mit diesen verstrickt, und sie verlieren so ihre Reinheit, die sie in früheren Phasen – etwa im ländlichen Amerika vor dem Ankommen der Konsumgesellschaft – jedenfalls potenziell hatten, als zwei Menschen ohne große ökonomische Ressourcen und Konsummöglichkeiten einander einfach aufgrund persönlicher Sympathie wählen konnten.
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2 Grenzen und Entgrenzungen
in Paarbeziehungen, oder zwischen bezahltem Babysitting und Babysitting durch Verwandte.5 Die Kommodizierungsdiagnose verdankt sich Zelizer zufolge dem Denken in einem unterkomplexen Modell feindlicher Welten. In diesem Modell müssen symbolische Sinnsphären hermetisch gegeneinander abgeschottet sein und werden andernfalls kontaminiert und in ihrer Eigenlogik zerstört. Dieses Modell lehnt Zelizer entschieden ab. Sinnsphären seien robust genug, um Berührungen auszuhalten und gleichwohl in ihrem Eigensinn intakt zu bleiben. Das Gegenmodell zum Modell feindlicher Welten nennt sie, etwas poetisch, „verbundene Leben“.6 Etwas sachlicher könnte man auch sagen, es geht um robuste Koexistenzen: Die Integrität sozialer Sinnwelten geht nicht verloren, wenn sie in derselben Gesellschaft und derselben Alltagswelt nebeneinander bestehen und sich auf vielfältige Weise berühren. Zelizer erläutert die beiden gegensätzlichen Modelle folgendermaßen: „The doctrine of hostile worlds rests […] on the doctrine of separate spheres. Intimacy only thrives, accordingly, if people erect effective barriers around it. Thus emerges a view of the separate spheres as dangerously hostile worlds […]. It condemns any intersection of money and intimacy as dangerously corrupting.“ (Zelizer 2005: 22). [But in fact,] people create connected lives by differentiating their multiple social ties from each other, marking boundaries between those different ties by means of everyday practices, […] differentiating sharply among the rights, obligations, transactions, and meanings that belong to different ties. […] [W]e mark differences between ties with distinctive names, symbols, practices, and media of exchange; despite similarities in emotional intensities and significance to our lives, we establish sharp distinctions among our personal ties to physicians, parents, friends, siblings, children, spouses, lovers, and close collaborateurs (Ebd.: 32 f.).
5Ähnliche
Beobachtungen finden sich schon bei Tyrell (1976: 412): Man könne Familienmitglieder für geleistetes Babysitting oder ähnliche Dienste nicht bezahlen, selbst wenn die Zielperson Geld bräuchte und man ihr das gern würde zukommen lassen; es müssen dann andere Formen für ökonomische Transfers gefunden werden, etwa großzügige Einladungen oder Geschenke. Ebenso werden Eltern oder Großeltern, die ihre dem Jugendalter entwachsenen Kinder oder Enkel alimentieren wollen, dies typischerweise in Geschenken verstecken, um den Eindruck direkter ökonomischer Abhängigkeit zu vermeiden. 6Im englischen Original heißt es: „connected lives“. – Genau genommen richtet sie sich mit dem „verbundene Leben“-Modell sogar gegen zwei andere Denkmodelle: nicht nur gegen das „feindliche Welten“-Modell, sondern auch gegen ein Denken, das sie „nothing but“ nennt. Gemeint sind reduktionistische, speziell ökonomistische Denkweisen, für die das ganze soziale Leben immer schon nach dem Prinzip der Nutzenmaximierung geordnet ist und von vornherein nichts anderes infrage kommt (Zelizer 2005: 29 ff.; vgl. Zelizer 1988: 615).
2.3 Feindliche Welten und robuste Koexistenzen
43
Sinnmäßige Inkommensurabilität von Wertordnungen bedeutet also nicht Kontaktunfähigkeit und Abschottungszwang. Für Zelizer kann es Kontaktängste und Darstellungen von Feindlichkeit oder Inkompatibilität zwar auf Teilnehmerebene geben, indem die Teilnehmer Zugehörigkeiten klarzustellen und Verwechslungen zu vermeiden suchten. Das sei aber gerade keine Rechtfertigung für den Soziologen, eine feindliche-Welten-Sicht der Dinge zu vertreten. Denn solche Darstellungen nach dem Motto „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps“ dienten ja gerade der Abwicklung von Kontakten zwischen den Sinnsphären und gehörten mithin gerade in eine Welt, die verschiedene Sinnsphären mit ihrer jeweiligen Eigenlogik nebeneinander enthalte. Hierzu noch einmal Zelizer: In their strong advocacy of separate spheres, […] people regularly invoke hostile worlds doctrines when they are trying to establish or maintain boundaries between intimate relations that might easily be confused, for example, when a father employs a daughter in his firm, or when a lawyer handles his old friend’s divorce. In such circumstances, participants often employ hostile worlds practices, using forms of speech, body language, clothing, uniforms, and spatial locations to signify whether the relationship […] is boss-secretary, husband-wife, patron-prostitute, lover-mistress, father-daughter, customer-waitress or something else. They thus prevent confusion with the ‘wrong’ relationship (Ebd.: 28 f.).
Man kann also mit Zelizer so gut wie mit Luhmann den faktizistischen Fehlschluss als Fehlschluss entlarven. Der faktizistische Fehlschluss besagt: Wo Kontakte sind, können keine Grenzen sein. Zelizer wie Luhmann zeigen: Grenzen zwischen Sinnwelten gehen immer mit Kontakten einher, und sie halten sie aus, ohne dass die in Kontakt gebrachten Seiten dadurch ihre Spezifität und ihre Inkommensurabilität verlieren.7 Etwas technischer kann man auch formulieren: Es herrscht kein Summenkonstanzverhältnis zwischen Autonomie und
7Natürlich
gibt es keine schlechthinnige Garantie dafür, dass ein einmal erreichtes Differenzierungsniveau intakt bleibt. Es kann reale Entdifferenzierungsprozesse geben, wie sie etwa in totalitären Staaten oder auch während großer Kriege zu beobachten sind (Pollack 1990; Misheva 1993; Kruse 2009, 2015; Kuchler 2013b, 2013a). Aber die Schwellen dafür liegen hoch; um von Entdifferenzierung sprechen zu können, muss gezeigt werden, dass äußere Faktoren im internen Operieren eines Sinnfeldes nicht nur irgendeine Rolle spielen, sondern dass sie die selbstreferenzielle Handlungslogik des jeweiligen „Zielfeldes“ außer Kraft setzen Gerhards (1991). Wie immer unscharf dieses Kriterium ist, so klar ist doch, dass nicht jede staatliche Regulierung eines Marktes, nicht jede wissenschaftliche Beirat in einem Politikfeld, nicht jede Expertenanhörung in einem Gerichtsverfahren als Entdifferenzierung und Autonomieeinschränkung qualifiziert – sonst hat man keine Steigerung für die drastischeren Formen mehr übrig.
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2 Grenzen und Entgrenzungen
ußenkontakten, oder zwischen Unabhängigkeit und Abhängigkeit von SysteA men. Beide können gleichzeitig wachsen, sie sind miteinander kompatibel und sogar miteinander steigerungsfähig (Luhmann 1970e, 1981a: 40 ff., 1984: 275 ff.; Stichweh 1984; Kaldewey 2013). Was Zelizer angeht, so schreibt sie diese These leider in einem Buch, das von Wirtschaftssoziologen kaum gelesen wird und sich eher als Beitrag zur Soziologie der Familie und der Intimbeziehung versteht. Und auch sie selbst hält diesen Gedanke nicht in allen ihren Büchern durch; viele ihrer Bücher fügen sich vielmehr nahtlos in den wirtschaftssoziologischen Mainstream ein und liegen klar auf der Linie des Einbettungsparadigmas. Darauf komme ich noch zurück. Das Einbettungsparadigma aber ist – so paradox das klingt – ein Kind des feindliche-Welten-Denkens.8 Die Annahme ist: Wenn es wechselseitige Einflüsse gibt zwischen Wirtschaft (oder Wissenschaft) und anderen gesellschaftlichen Bereichen, dann hat man es nicht mit eigenlogischen, selbstreferenziellen Systemen zu tun, sondern mit nahtlosen Netzen und grenzenlosen Räumen. Wirtschaftssoziologische (und wissenschaftssoziologische) Forschungen sind noch nicht auf das robuste-Welten-Modell eingestellt, das Offenheit und Geschlossenheit, Umweltkontakt und ungebrochene Eigensinnigkeit zusammendenken kann. Anders als in Zelizer Familienstudie geht es zwar in den meisten wirtschaftsund wissenschaftssoziologischen Studien nicht um den Fall, dass eine mutmaßlich gefährdete Sphäre sich gegen ein übermächtiges Gegenüber zu behaupten hat. Aber ob Übermacht oder nicht – die theoretische Grundsatzentscheidung ist die, ob man faktisch stattfindende Kontakte und sinnmäßige Geschlossenheit zusammendenken kann und will oder nicht. Kann oder will man dies nicht, dann wird man über Kommodifizierung (anderer Bereiche durch Wirtschaft) oder über Einbettung (der Wirtschaft in andere Bereiche) reden, über Kontextualisierung, Vernetzung und Verflechtung. Kann und will man es, dann wird man sehr viel ambivalenter immer auch die Brechungen, Deformationen und
8Dass
das Modell der verbundenen Leben dem Einbettungsparadigma der Wirtschaftssoziologie zuwiderläuft, sagt Zelizer explizit in einem späteren Kommentar zu Kommentaren zum Buch (Zelizer 2007). Sie habe diesen Hinweis im Buch weggelassen, um Polemik zu vermeiden und Leser nicht zu überlasten mit Dingen, die sie möglicherweise nicht interessieren. „[Commentators] say, rightly, that the connected-lives perspective strongly challenges the embeddedness approach. Why doesn’t the book say so? […] I deliberately compressed my discussion of economic sociology for two reasons: first, because I didn’t want the book to come across primarily as a polemic within a relatively limited field. […] Second, I thought, and still think, the connected-lives perspective […] speak to a much larger public that is not much concerned about the relations between economics and other disciplines“ (ebd.: 613 f.).
2.3 Feindliche Welten und robuste Koexistenzen
45
robusten E igensinnigkeiten betonen, die an grenzüberschreitendem Austausch zu beobachten sind. Dazu seien nun einige Argumente skizziert, die von Autoren aus dem Minderheitslager vorgetragen werden oder die sich aus der Mehrheitsliteratur bei einer Lektüre „gegen den Strich“ entwickeln lassen. Robuste Grenzen der Wissenschaft Für die Wissenschaft ist wiederholt argumentiert worden, dass Ausdifferenzierung und Andockbarkeit an äußere Kontexte kein Widerspruch ist, sondern dass die Spezifität wissenschaftlicher Wissensprozessierung sich auch und gerade in Austauschprozessen mit der Umwelt zur Geltung bringt. So hat Stichweh (1984, 2007) für die Ausdifferenzierungsphase im 18. und 19. Jahrhundert gezeigt, dass Anwendungsbezüge gerade als eine Kraft wirken konnten, die die einmal begonnene Ausdifferenzierung der Wissenschaft und einzelner wissenschaftlicher Disziplinen vorantrieb. Denn die im Außenkontakt massenhaft anfallenden Informationen setzten Wachstumsimpulse, die nur durch erhöhte Selektivität, und das heißt: durch verstärkte Ausdifferenzierung disziplinspezifischer Perspektiven und Techniken aufgefangen werden konnten. Außerdem sahen die einzelnen Disziplinen sich durch konzertierte Leistungsanforderungen von außen auch zu verstärkter eigener Profilierung aufgefordert, sowohl gegenüber Anwendungskontexten als auch gegenüber anderen Disziplinen, die in ähnlichen Leistungsbeziehungen standen. Im selben Sinn wird auch für die heutige Lage gesagt, dass Wahrheitsorientierung und Nützlichkeit von Wissenschaft kein Widerspruch seien und nicht in einem Nullsummenverhältnis zueinander stünden; es könnten vielmehr gerade die autonomsten Disziplinen gleichzeitig diejenigen sein, die aus Sicht des Staates am nützlichsten seien und am meisten staatliche Finanzierung erhielten (Brown/ Malone 2004; Kaldewey 2013).9 Anwendungsbezüge per se sind noch kein Argument für Hybridisierung, vielmehr kann der Austausch von Wissenselementen zwischen verschiedenen Sinnkontexten die Autokatalyse von Autonomisierungsprozessen antreiben. Auch das Problem von riskanten Technologien und Technikfolgen kann ebenso gut im Denkmodell robuster Welten wie im Modell nahtloser Netze beschrieben werden. Risikodebatten implizieren zwar die gleichzeitige Aktualisierung von wissenschaftlichen, politischen, rechtlichen und moralischen Fragen, aber das muss nicht zwingend deren unauflösliche Vermischung und Verwischung
9Brown
und Malone (2004) nennen – vor Bourdieu’schem Theoriehintergrund – als die jeweils autonomsten Disziplinen im Bereich der Naturwissenschaften die Physik und im Bereich der Sozialwissenschaften die Wirtschaftswissenschaften, ohne diese Wahl näher zu begründen.
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2 Grenzen und Entgrenzungen
bedeuten. Vielmehr macht sich, wie Autoren jenseits des Mainstream argumentieren, auch und gerade hier die hartnäckige Differenz der Sinnsphären bemerkbar. So hat Wolfgang van den Daele an Debatten zu Gentechnik gezeigt, dass die Teilnehmer zur Klärung ihrer Fronten genötigt sind, die verschiedenen Stränge des Problembündels gerade wieder auseinanderzuziehen (van den Daele 1996). Im Diskurs müssten die Beteiligten sich darüber verständigen, wie weit der sichere oder konsensuelle Wissensstand reicht und wo die Zone des unsicheren oder umstrittenen Wissens beginnt, um daran die Frage anknüpfen zu können, ob das Pendel zugunsten dessen ausschlagen soll, der die Technologie angesichts von nicht bewiesenen Risiken einsetzen will, oder zugunsten dessen, der angesichts von nicht bewiesener Sicherheit darauf verzichten will. Dies sei im Kern eine Beweislastfrage, und darin trennten sich nicht nur die Wege der Befürworter und der Gegner einer Technologie, sondern auch politische und wissenschaftliche Sinnhorizonte: „An diesem Punkt [der Beweislastfrage] wird die wissenschaftliche Diskussion durch eine politisch-normative abgelöst und nicht etwa auf geheimnisvolle Weise mit ihr verschmolzen.“ – „Im Diskurs stellen Experten und Gegenexperten gemeinsam die Differenzierungen wieder her, die in der Expertenkritik eingerissen werden (zwischen Wissen und Interessen, zwischen Tatsachen und Werten) […]. Im Ergebnis rehabilitiert der Diskurs sowohl die Idee der objektiven Erkenntnis als auch die Zuständigkeit der Wissenschaft als Kontrollinstanz für empirische Behauptungen“ (van den Daele 1996: 308, 301). Die Beweislastfrage ist zunächst eine klassische Rechtstechnik für den Fall, dass Wissenslücken irgendwelcher Art zu bewältigen sind – seien es unklare Indizien, widersprüchliche Zeugenaussagen oder eben fehlende oder nicht belastbare wissenschaftliche „Fakten“.10 Sie kann in politische Debatten und
10Im
Strafrecht gilt das althergebrachte Prinzip „in dubio pro reo“, d. h. die Schuld des Angeklagten muss über jeden vernünftigen Zweifel hinaus erwiesen sein. Im Zivilrecht gibt es mehr Variationsmöglichkeiten, statt 99-prozentiger Sicherheit mag hier nur über-50-prozentige Sicherheit gefordert sein – ein Überwiegen der Indizien in der einen oder anderen Richtung –, und es ist immer möglich, dass die Rechtslage in diesem Punkt geändert wird, dass qua Gesetzgebung oder richterlicher Entscheidungspraxis die Beweislast eindeutiger der einen oder anderen Seite zugewiesen wird. Im US-amerikanischen Recht lag hier eine wichtige Änderung in der Verschiebung von dem Präzedenzfall „Frye vs. United States“ von 1923, wonach eine wissenschaftliche Methode oder ein wissenschaftlicher Befund durch die vorherrschende Meinung im einschlägigen Forschungsfeld gedeckt sein musste, zu dem Fall „Daubert vs. Merrell Dow Pharmaceuticals“ von 1993, wonach weichere und pluralere Kriterien bei der Beurteilung von Wissenschaftlichkeit anzulegen sind und dem Gericht mehr eigener Spielraum dabei zugestanden wird (Jasanoff 1995, 2008b, 2008a; Solomon/Hackett 1996).
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ntscheidungen übernommen werden, hat aber in der Wissenschaft nichts verE loren, wo auf Wissenslücken anders reagiert werden muss. Deshalb werden in Debatten oder Rechtsverfahren zu riskanten Technologien kognitive und normative Fragen nicht unentwirrbar ineinander verschlungen, wie es etwa Jasanoffs These der Ko-Produktion normativer und kognitiver Ordnung behauptet (Jasanoff 1995, 2008a). Vielmehr ist die Beweislastfrage eine Technik zur kontrollierten Relationierung des Getrennten. Es geht um Entscheidungsregeln für den Fall: Wenn kein sicheres Wissen über die strittige Frage zur Verfügung steht, wie soll dann entschieden werden? Entsprechend sind die beiden Abstraktionsrichtungen – Änderung der Wissenslage und Verschiebung der Beweislast – für jeden kompetenten Teilnehmer klar unterscheidbar. Jasanoffs Studien selbst lassen sich wichtige Hinweise darauf entnehmen, wenn sie gegen den Strich gelesen werden. Sie bieten eine Fülle interessanter Befunde, die, je nachdem, wie man sie ansieht, ebenso viele Anhaltspunkte für die unhintergehbare Inkommensurabilität der Sinnhorizonte liefern wie für deren Vermischung und Verflechtung. Für Jasanoff wird das Recht unauflöslich in Wahrheitsproduktion verstrickt, wenn die Gegner oder mutmaßlichen Opfer einer Technologie vor Gericht deren Schädlichkeit zu beweisen suchen und umgekehrt die Befürworter oder Betreiber ihre Unbedenklichkeit zu beweisen suchen. Es müsse dann letztlich das Gericht entscheiden, wie belastbar, vertrauenswürdig, seriös der eine oder der andere „wissenschaftliche Beweis“ sei: welche Gutachter und Experten überhaupt zum Prozess zugelassen würden, welche der zugelassenen Experten wie einschlägig und wie glaubwürdig seien und welche wissenschaftliche Auffassung hinreichend etabliert, konsensuell, ernst zu nehmen sei, um als Wissenschaft und nicht als Scharlatanerie oder Manipulation gelten zu können. „[T]he law actively constructs the scientific facts that it presumes to ‘find’“ (Jasanoff 2008a: 776). Sieht man genau hin, zeigt sich allerdings auch hier die schnelle Wieder-Entzerrung, das Wieder-Auseinanderlaufen der beiden Kontexte. Wissenschaftliche Forschungs- und rechtliche Entscheidungskontexte können nicht synchronisiert werden und können einander nicht binden. Denn das richterliche Urteil über die wissenschaftliche Seriosität eines Experten oder einer Studie gilt ja wiederum nur für den Hausgebrauch des Gerichts: für die Entscheidung über die Zulässigkeit der fraglichen Technologie oder über zu leistende Entschädigungszahlungen. Es bindet nicht die Wissenschaft: Schon am nächsten Tag kann die wissenschaftliche Datenlage sich ändern, mögen neue Studien, neue Ergebnisse, neue Daten vorgelegt werden, die andere Einschätzungen nahelegen oder andere, bisher unberücksichtigte Aspekte des Problems aufwerfen. Eine solche Änderung der Forschungslage verpflichtet dann aber wiederum nur das Forschungshandeln, nicht das Recht. Forscher im einschlägigen Forschungsfeld müssen die
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neuen Studien bei Strafe des Inkompetenzerweises berücksichtigen, während das Rechtsurteil unverändert weiter gilt. Wurde beispielsweise entschieden, dass ein Pharmahersteller seinen Kunden Schadensersatz leisten muss für mutmaßlich durch ein Medikament verursachte Schäden, so gilt dieses Urteil auch dann, wenn sich bald darauf starke Hinweise darauf ergeben, dass die fragliche Substanz vermutlich doch unschädlich war (Jasanoff 1995: 50 f.). Es ist zwar im Prinzip möglich, ein Verfahren wiederaufzunehmen wegen geänderter Beweislage, aber die Schwellen dafür liegen hoch und sind wiederum rechtsintern gesetzt, und jedenfalls wird das Urteil nicht automatisch mit Änderung des Forschungsstandes ungültig.11 Auch suggeriert der Begriff „Beweis“ mehr Kontinuität zwischen den beiden Kontexten, als tatsächlich vorhanden ist. In wissenschaftlichen und rechtlichen Kontexten wird unter einem Beweis recht Verschiedenes verstanden. So hat das Recht eine Präferenz für einzelfallbezogene Beweise; Arztberichte über die Beeinträchtigung des individuellen Gesundheitszustandes eines Klägers können deshalb in einem Gerichtsverfahren mehr Beweiswert haben als statistisches Material mit großen Fallzahlen, auch wenn der Beweiswert in einem wissenschaftlichen Kontext umgekehrt verteilt sein mag (Jasanoff 1995: 123 ff.; Solomon/Hackett 1996: 149). Weiter schätzt das Recht visuelle Beweise, die dem Schema des „rauchenden Colts“ oder des hinterlassenen Fingerabdrucks entsprechen, und das Gewicht wissenschaftlichen Beweismaterials kann davon abhängen, wie gut es darstellerisch an diese Wahrnehmungsroutinen angepasst werden kann. Es mag dann vorkommen, dass Ergebnisse zum DNA-Abgleich, die an sich gar nichts Visuelles an sich haben, so aufbereitet werden, dass Richter und Jury den Eindruck haben, die Identität von DNA-Material am Tatort und DNA-Material des Tatverdächtigem „mit eigenen Augen gesehen zu haben“, auch wenn das mit der tatsächlichen wissenschaftlichen Analysemethode wenig zu tun hat (Jasanoff 1995: 128 f., 1998). Generell kann sich das Recht von Interaktionsdarstellungen – von der Glattheit des Auftretens und der seriösen Erscheinung eines Zeugen oder Experten – nicht im selben Maß freimachen wie die Wissenschaft, die weniger interaktionsbasiert und stärker textbasiert arbeitet. Es gibt
11Ebenso
ist die Frage des Ermessensspielraums der Verwaltung bei der Interpretation der Formel „nach dem Stand von Wissenschaft und Technik“ und bei der richterlichen Überprüfung solcher Verwaltungsentscheidungen ein Problem, das im Recht diskutiert und geklärt werden muss und nicht automatisch aus Unsicherheiten im wissenschaftlichen Wissen folgt (Schulte 2004).
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mithin keine Eins-zu-eins-Importe und direkten Äquivalenzen zwischen wissenschaftlichen und rechtlichen Beweisen, vielmehr muss alles erst im eigenen Sprachspiel und nach eigenen Standards rekonstruiert und re-inszeniert werden. Etwa in diesem Sinn ist das Verhältnis von Wissenschaft und Recht als fortlaufendes „produktives Missverständnis“ beschrieben worden (Bora 2010: 15): als wechselseitige Irritation, die beiden Seiten Anstöße geben, aber keine der Seiten binden kann. Beide sind geschlossene Informationsverarbeitungssysteme (ebd.) – „geschlossen“ nicht im Sinn von „feindlichen Welten“, die kontaktfrei und gegeneinander abgeschottet bleiben müssen, sondern „geschlossen“ in dem Sinn, dass sie trotz Kontakt und trotz wechselseitiger Irritation ihren je eigenen Sinnverarbeitungsmechanismen nicht entraten können. Deshalb kann auch das Recht, in einem wichtigen Präzedenzurteil zum Umgang mit wissenschaftlichem Beweismaterial, sich eine Definition von Wissenschaft erlauben, die wild durcheinander Merkmale aus „eigentlich“ inkompatiblen Wissenschaftsverständnissen zitiert, nämlich rationalistisch-Popperianische Elemente – Falsifizierbarkeit – und konstruktivistisch-soziologische Elemente – soziale Konsensbildung – einfach nebeneinander benennt (Jasanoff 1995: 63).12 Ein solcher Wissenschaftsbegriff wäre in einem wissenschaftlichen Kontext hoffnungslos eklektizistisch und unsinnig; in einem Rechtskontext mag er gleichwohl eine brauchbare Hilfestellung für richterliche Abwägung geben. Aufgrund der informationalen Geschlossenheit des Rechts kann dieses nicht nur keine wissenschaftlichen, sondern auch keine moralischen oder religiösen Argumente unmittelbar in seine Entscheidungspraxis übernehmen. Wird etwa in einem Gerichtsverfahren zum Streitfall Gentechnik auf den „Erhalt von Gottes Schöpfung“ verwiesen, so prallt dieses Argument an rechtlichen Informationsverarbeitungsroutinen ab, was daran
12Das bezieht sich auf ein Präzedenzurteil des US Supreme Court zu dem bereits erwähnten Fall „Daubert vs. Merrell Dow Pharmaceuticals“. Hier werden vier Kriterien für Wissenschaftlichkeit genannt: 1. Falsifizierbarkeit, 2. Peer Review und Publikation, 3. Fehlerquote, 4. allgemeine Akzeptanz. Es fällt auch auf, dass das Recht noch für diese Kriterien – also für die Definition eines fremden Funktionssystems oder eines fremden Sinnprozessierungsmodus – seine eigenen „standard operating procedures“ als Orientierungsgröße zu nehmen scheint: Es erkannt an, dass wissenschaftliches Wissen in den Ergebnissen kontrovers sein kann, aber es hält an der Vorstellung fest, es gebe richtige Verfahren, Procederes, Methoden, um zu verlässlichen Ergebnissen zu kommen (Solomon/Hackett 1996: 152). Hierin spiegelt sich die lange Beschäftigung des Rechts mit prozeduralen Fragen wider.
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zu erkennen ist, dass die Interaktion darauf nicht oder nur mit Schweigen reagiert (Bora 1996).13 Wie hart die operative Grenze zwischen Recht und Wissenschaft ist, erfahren Wissenschaftssoziologen am eigenen Leib, wenn sie in die Lage geraten, in einem einschlägigen Gerichtsverfahren selbst als Experte auszusagen (Lynch/ Cole 2005; Jasanoff 2008a: 777). Sie treten dort typischerweise mit der Absicht an, die Sicherheit angeblicher Fakten und Wahrheiten zu erschüttern und die Fehlbarkeit auch wissenschaftlicher Urteile zu bezeugen. Sie lernen indes schnell, dass sie sich vor Gericht selbst als Vertreter von „gesichertem Wissen“, „breit geteilten Expertenmeinungen“ oder gar von „Wahrheit“ stilisieren müssen, wenn sie irgendeine Chance haben wollen, vom Richter ernst genommen zu werden und im Kreuzverhör zu bestehen. Die in ihrem Herkunftskontext, der Wissenschaftssoziologie, problemlos kommunizierbare Grundsatzskepsis gegenüber Wahrheits- und Faktenbehauptungen im Allgemeinen erweist sich im Rechtskontext als nicht anschlussfähig. Dort sind nur spezifische Zweifel an spezifischen Faktenbehauptungen mit Fallbezug gefragt, nicht Grundsatzzweifel an Wahrheit an und für sich. Der Soziologe stellt fest, dass die operative Eigenlogik des Gerichtsverfahrens ihm Aussagen abnötigt, die er hinterher, in der soziologischen Reflexion, nur bestaunen kann (Lynch/Cole 2005) – ein erstrangiger Beleg für die Differenz und Inkommensurabilität der beiden Kontexte. Für andere Grenzflächen der Wissenschaft gilt Analoges, etwa für die Grenze zwischen wissenschaftlicher Forschung und kommerzieller Verwertung. Wenn technologieintensive Wirtschaftsbranchen bereitwillig neue Forschungserkenntnisse aufnehmen oder anstoßen, wenn Unternehmen Forschungsaktivitäten unter ihrem eigenen Dach oder in Kooperationen mit Universitäten finanzieren, bleiben – bei allen punktuellen Konvergenzen und Synergieeffekten – die jeweiligen Sinnhorizonte deutlich unterschieden und die Beteiligten oft genug in Zielkonflikten befangen. Alle Forschung über universitär-industrielle Zusammenarbeit bestätigt die Stärke dieses Spannungsfeldes, wie immer sie den Umstand der Hybridisierung betont (Krücken 2003; Heinze 2005). So können universitär basierte Forscher mehr oder weniger schmerzhafte Rollenkonflikte erleben oder Fassaden errichten, hinter denen sie ihre eigenen Zwecke verfolgen
13Dies
gilt bereits für explizit geöffnete und ent-professionalisierte Verfahrenselemente vom Typ „Öffentlichkeitsbeteiligung“. Öffentlichkeitsbeteiligung ist deshalb kein Heilmittel gegen die informative Geschlossenheit des Rechts, vielmehr kann das Rechtssystem u. U. gerade darauf mit verstärker Schließung reagieren: „Democratization […] occurs as politicization of the legal field, a politicization to which the law reacts with closure.“(Bora 2010: 10).
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(Owen-Smith/Powell 2001; Croissant/Smith-Doerr 2008; Jones 2009; Lam 2010). Das Selbstverständnis mag dann zu sein, reichlich sprudelnde private Geldquellen anzuzapfen, um die eigene Forschung voranzutreiben: „I think I’ve found a way to do research without writing grants“ oder „[to] wring money for research out of some heaven known as venture capitalists“ (Jones 2009: 835). Im R&D von Unternehmen wiederum scheint vorrangig die Handlungsform der Wissenschaft übernommen zu werden – Forschungshandeln –, nicht aber das komplette Sprachspiel oder die Wissensform, nämlich der Anspruch auf Beitrag zu wissenschaftlichen Erlebensketten (Stichweh 2006b: 106). Die Anschlüsse laufen auf beiden Seiten in verschiedene Richtungen, wie sich im ewigen Konflikt von Publikation vs. exklusiver Nutzung von Innovationen manifestiert, oder auch in der Dualität der Publikationssysteme: wissenschaftliche Publikation vs. Patentanmeldung (Stichweh 1984, 2006b).14 Ähnliches lässt sich an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und massenmedialer Öffentlichkeit beobachten, wo Sinnelemente nur sehr selektiv hin- und herdriften, es wechselseitige Instrumentalisierungen oder Ritualisierungen geben mag,15 aber auch dann die Anschlusskontexte schnell wieder in zwei Richtungen auseinanderlaufen. Wenn etwa ein Mathematiker ein neues Verfahren zur Primzahlbestimmung noch vor dem Erscheinen der Fachpublikation in der Tagespresse bekannt gibt und sich mithin in ein und demselben Akt an die allgemeine Öffentlichkeit und an seine Fachkollegen wendet, so werden darin die beiden
14Finanzwissenschaftliche
Innovationen scheinen hier in gewissem Maß eine Ausnahme zu sein. Das Publikwerden einer Innovation kann hier unter Umständen auch für Anwendungsinteressen förderlich sein, weil sie in einem performativ konstituierten Handlungsfeld nach Art einer selbsterfüllenden Prophezeiung wirken kann, sodass der geldwerte Nutzen einer Innovation mit ihrer Publikation und allgemeinen Bekanntheit steigt. Dies ist für die neoklassische Theorie der Optionspreisbildung durch Donald MacKenzie gezeigt worden (MacKenzie/Millo 2003; MacKenzie 2005a, 2006). Aber auch bei sonstigen finanztechnischen „Entdeckungen“ und „Theorien“ kann es für die Entdecker gut sein, wenn auch andere Akteure im Feld sie kennen und nach ihnen handeln – bei Arbitrage deswegen, weil Arbitrageure auf das Verschwinden von Anomalien, d. h. unerwartbaren Kursabweichungen setzen und diese umso schneller verschwinden, je mehr andere Akteure dasselbe erwarten und auf dasselbe setzen (Beunza/Hardie/MacKenzie 2006). 15Ritualisierungen beobachtet Georg Krücken (2003: 239): „[D]ie öffentliche Figur des wissenschaftlichen Experten, der zunehmend massenmediale Diskussionsrunden, Wissensshows und Beratungssendungen bevölkert, […] [deutet] gerade nicht auf sich auflösende Grenzen […] hin. Im Gegenteil: Autorität kraft Wissen, Sicherheit der Expertenmeinung und die damit einhergehende Notwendigkeit klarer Grenzen zur uninformierten Laienöffentlichkeit werden hier als modernes Ritual aufgeführt“.
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Sinnhorizonte nicht ununterscheidbar ineinander geblendet und miteinander verschmolzen (Miller 2009). Der Pressebericht betont die mögliche praktische Relevanz der Entdeckung – in diesem Fall für die Sicherheit elektronischer Verschlüsselungsverfahren –, während die mit angesprochenen Mathematiker diesen Aspekt sofort wieder ausblenden und in ihren Diskussionskreisen nur auf den theoretisch-mathematischen Gehalt der Entdeckung reagieren. Dabei geht diese Wieder-Schließung fachwissenschaftlicher Diskussionskreise paradoxerweise umso leichter, je stärker der massenmediale Bericht „verzerrt“, oder neutral formuliert: je stärker die beiden Relevanzrahmen voneinander abweichen, weil die Fachwissenschaftler dann umso leichter Teile des gelieferten Informationspaketes als irrelevant herausdividieren und von den für sie relevanten Teilen trennen können (Miller 2009). Wissenschaft und allgemeine Öffentlichkeit können in einem Akt bespielt werden, aber nicht deshalb, weil sie unentwirrbar vermischt und verschmolzen sind, sondern deshalb, weil sie von den Teilnehmern – jedenfalls auf einer Seite – zuverlässig unterschieden werden können. Ein und dieselbe Kommunikation kann gewissermaßen auf zwei verschiedenen Wellenlängen empfangen und gelesen werden. Collins und Evans (2007: 113 ff.) greifen auf den Wittgenstein’schen Begriff des Sprachspiels zurück, um die Spezifität von Bereichen wie Wissenschaft und Politik, Massenmedien und Kunst zu fassen. Sprachspiele sind in sich schlüssige, aber nicht geschlossene Verständigungssysteme. Unterschiedliche Sprachspiele können teils dieselben Begriffe verwenden, die dann aber je nach Kontext in ihrer Bedeutung und den Regeln ihres Gebrauchs changieren. In diesem Sinn herrschen für Collins und Evans in unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären, auch wenn sie teils überschneidende Elemente verwenden, je unterschiedliche Ordnungen von Relevanz und Irrelevanz, Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit, Selbstverständlichkeit und Gewagtheit, Legitimität und Illegitimität. Sie illustrieren dies mit Verweis auf einige klassische wissenschaftssoziologische Studien. So können auch in Wissenschaftskontexte politische Interessen einfließen, dies gelte dann aber als Problem und nicht als Erfolgsrezept: Wenn frühe Gehirnforscher oder Schädelkundler ihre Theorien in Anlehnung an lokalpolitische und schichtmäßige Interessen entwickelt hätten (Shapin 1979), so schließe man daraus nicht, dass der beste Weg, um Gehirnforschung voranzubringen, ihre möglichst enge Verflechtung mit Lokalpolitik sei (Collins/Evans 2002: 245 f., 2007: 125 f.). Oder: Auch in Wissenschaftskontexten könnten Laien sich als wertvolle Mitdiskutanten erweisen, etwa im Bereich der Pharmaforschung (Epstein 1995), aber das sei unwahrscheinlich und setze Sonderbedingungen voraus, etwa eine tödliche Krankheit beim Patienten (AIDS) mit entsprechend starken Engagementbereitschaften, in Kombination mit einer
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fachwissenschaftlich untervorbereiteten, weil überraschend schnell sich entwickelnden Lage. Sprachspiele sind nicht durch scharfe Grenzen voneinander getrennt, sondern sind – ein weiterer Wittgenstein-Begriff – durch Familienähnlichkeiten identifiziert. Dies ist eine Form von Identität, die nicht an einem Einzelkriterium festgemacht werden kann, nicht die Form einer sauberen mengentheoretischen Definition vom Typ „alle Elemente mit Prädikat p“ hat. Vielmehr ist es eine „weiche“ Form von Identität, die nur partielle Konformität mit überlappenden Merkmalen kennt, aber trotzdem hinreichende Anhaltspunkte an die Hand gibt, damit kompetente Teilnehmer sich darüber verständigen können.16 Collins und Evans (2007: 116 ff.) schlagen hier auch den Begriff der „formative intention“ vor, auf Deutsch vielleicht am besten wiederzugeben mit „Ankerintention“. Ankerintentionen sind im weitesten Sinn Intentionen, aber nicht individuelle, sondern kollektive Intentionen, die in Institutionen, Normen und Erwartbarkeiten verkörpert sind. Solche kollektiven Intentionen formen die Art und Weise, wie Sinnelemente aufgenommen und weiterverarbeitet werden, sie geben eine Art mitschwingenden Hintergrundsinn an die Hand, der „dasselbe“ Sinnelement mit ganz unterschiedlichen Bedeutungen, Färbungen, Verwendungsmöglichkeiten ausstattet je nach dem, in welchem Kontext es vorkommt. So lassen sich für Collins und Evans wissenschaftliche und literarische Texte an ihren Ankerintentionen unterscheiden, selbst wenn es kein einfaches Prüfkriterium gibt, anhand dessen etwa ein Computerprogramm Texte in diese beiden Typen sortieren könnte. „Wahrheit“ und „Schönheit“ beispielsweise können keine solche Prüfkriterien sein, da ja auch literarische Texte wahre Informationen vermitteln können und auch wissenschaftliche Texte ihre eigene Schönheit haben können. Gleichwohl ist aber nach Collins und Evans die grundsätzliche Richtung oder Intention eines Textes unterscheidbar: In wissenschaftlichen Texten komme es auf die möglichst klare, eindeutige, unmissverständliche Übermittlung von Information an, während in literarischen Texten Interpretierbarkeit und Offenheit für subjektive Sinngebung zentral seien und hundertprozentige Eindeutigkeit eher
16Wittgenstein
entwickelt diesen Begriff anhand der Frage, was ein Spiel ist. Es lässt sich kein Einzelkriterium finden, das ein Spiel als Spiel identifiziert. Jedes Merkmal, das man nennen könnte – etwa: ein Spiel hat Regeln; ein Spiel hat Gewinner und Verlierer; ein Spiel wird in nicht-ernsthafter, spielerischer Haltung betrieben; usw. –, führt zwar auf viele Fälle von Spielen, die dieses Merkmal haben, aber auch auf einige, die es nicht haben und trotzdem dem allgemeinen Sprachgebrauch nach Spiele sind.
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als Mangel an Tiefe und Zeichen von Primitivität gelte (ebd.: 117 f.).17 Ebenso sind auch Wissenschaft und Politik zwar nicht an einem simplen Kriterium wie Fakten vs. Normen, Tatsachenaussagen vs. Werturteile, Was-ist-der-Fall-Sätze vs. Was-soll-sein-Sätze, voneinander zu scheiden, da natürlich in der Wissenschaft auch Normen und in der Politik auch Fakten vorkommen. Trotzdem laufen ihre Ankerintentionen erkennbar auseinander, was sich etwa darin ausdrückt, wie zentral Expertise – also Beiträge speziell qualifizierter Teilnehmer – für Urteilsbildung und Meinungsbildung ist, und umgekehrt: wie unverzichtbar Mitsprache aller und Offenheit für Beiträge von allen Seiten ist (ebd.: 125 ff.). Luhmann würde an diesem Punkt von Anschlussfähigkeit sprechen. Auch dies ist ein weicher Begriff, der nicht in die Form eines einfachen Kriteriums gegossen werden kann, gewissermaßen eines Lackmustest, mit dem ein Außenbeobachter klar und eindeutig feststellen kann, welche Elemente zu welchem System gehören. Vielmehr kann nur im System selbst festgestellt werden, was verwendet werden kann, wie es verwendet werden kann und wie es gegebenenfalls gedreht werden muss, um anschlussfähig zu sein. Es besteht hier eine erhebliche Dehnbarkeit, Offenheit, „Lebendigkeit“, aber trotzdem keine Beliebigkeit. Auch können Elemente unter Umständen in mehreren Systemen gleichzeitig verwendet werden, ohne dass die Grenzen zwischen den Systemen verwischen, da eben die Anschlusskontexte verschiedene sind und damit auch das Element im strengen Sinn nicht „dasselbe“ ist. Elemente sind rekursive Produkte des Operierens des Systems (Luhmann 1984: 57 ff.). Es ist schade, dass Collins und Evans diesen Begriff nicht kennen und nur Wittgenstein als Gewährsmann für ihre Überlegungen heranziehen können, der in Zeit und Disziplinkontext viel weiter
17Auch
diese Unterscheidung von Klarheit vs. Interpretationsoffenheit ist natürlich nicht im Sinn eines eindeutigen Testkriteriums zu verstehen und würde sonst an Collins’ und Evans’ Betonung von Familienähnlichkeit gerade vorbeigehen. Auch dies ist eine „weiche“ Unterscheidung – und immer, wenn man eine „weiche“ Qualität zu hart und zu scharf zu fassen versucht, wird es falsch. Auch wissenschaftliche Texte sind ja manchmal uneindeutig und interpretierbar, auch sie können durchaus anders gelesen und gewendet werden, als sie vom Autor gemeint waren – wie man ja beispielsweise einen Re-Read von Parsons mit Foucault anfertigen kann, oder einen Re-Read von Jasanoff mit Luhmann, und damit zu punkten versuchen kann. Es handelt sich aber deshalb noch nicht um Kunst, denn auch solche kreativen Re-Interpretationen funktionieren nur, wenn sie sich auf ein hinreichend klares Verständnis des interpretierten Autors stützen, und ergeben andernfalls nur Unsinn. Wie immer bei „weichen“ Identitäten muss die Zugehörigkeitsprüfung mit Sinn und Verstand, mit Augenmaß und Situationssensibilität durchgeführt werden, nicht im Stil eines Abhakens von Testkriterien.
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entfernt ist. Offensichtlich kann die Identität sozialer Sinnsphären nur mit solchen weichen, nicht-kriterienhaften Begriffen gefasst werden, die auf Verweisungsstrukturen und nicht auf Einzelmerkmale abstellen. Solche Begriffe erlauben es dann auch, partielle Überlappungen zwischen Systemen zu sehen, ohne deren konstitutive Unverwechselbarkeit und Getrenntheit in Zweifel ziehen zu müssen. Nur wenn man die Differenz von Sinnsphären in der Form von mechanisch abhakbaren Kriterien denkt, kommt man zu dem Schluss, dass diese Differenz allenthalben verwischt und verfließt und alles mit allem verknüpfbar und verflechtbar ist. Robuste Grenzen der Wirtschaft Für unseren zweiten Fall – Wirtschaft – wird der Streit zwischen dem Einbettungs- und dem Differenzierungsparadigma nicht gleichermaßen kontrovers ausdiskutiert. Es lohnt sich aber, ihn zu explizieren und auf den Tisch zu legen. Denn auch hier ist die richtige Deutung von Befunden offen: Auch hier kann man, statt auf die Existenz von Verknüpfungen zwischen wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen, religiösen, familialen Kontexten, immer auch auf das Wieder-Auseinanderziehen, auf die hartnäckige Nonkongruenz der Sinnsphären abstellen. Man muss dafür nur bereit sein, Zelizers Modell der robusten Koexistenzen auch auf die Robustheit der Wirtschaft selbst anwenden, statt nur auf die Robustheit anderer, stärker „kultureller“ Bereiche gegen den Durchgriff der Wirtschaft oder des Geldes. Tut man dies, dann wendet sich dieses Modell paradoxerweise letztlich gegen Zelizer selbst, nämlich gegen ihre Theorie der „vielen Gelder“, wie am Ende dieses Abschnitts gezeigt wird. Zunächst ist jedoch wieder das Verhältnis von Wirtschaft und Politik, sowie Wirtschaft und Recht, zu betrachten. Ein guter Ansatzpunkt hierfür sind unbeabsichtigte Nebenfolgen der Regulierung von Märkten, an denen die Brechungsqualität beider Seiten sichtbar wird, die Übersetzung von Außenimpulsen in einen eigenen inneren Raum von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, Freiheiten und Zwängen. Ungewollte Effekte von Regulierung werden in der wirtschaftssoziologischen Literatur oft beschrieben (etwa bei Fligstein 1990; Davis/Diekmann/ Tinsley 1994; Fligstein 2001b; Davis 2005; Krippner 2011). Sie werden aber von den meisten Autoren nur im Sinn des allgemeinen akteurstheoretischen Topos der Unbeherrschbarkeit von Wirkungsketten in einer Welt mit vielen Akteuren gelesen und gelten ansonsten – nicht anders als gewollte, angepeilte Folgen – einfach als Beleg für die große Reichweite und Wirkungstiefe von Außeneinflüssen,
56
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also für Einbettung.18 Das Problem der Deformation individueller Absichten durch Kollision mit den Absichten Anderer ist natürlich nicht von der Hand zu weisen. Gleichwohl sind ungewollte Nebenfolgen auch eine typische Erscheinung an Systemgrenzen, ein Symptom der Robustheit systemspezifischer Eigenrationalitäten. Natürlich treten ungewollte Nebenfolgen nicht nur an Systemgrenzen auf, aber dort besonders typisch und erwartbar, weil Systemgrenzen Berechenbarkeiten und Abschätzbarkeiten untergraben, disparate Rationalitäten aufeinanderprallen und Bedeutungsdifferenzen explodieren lassen (hierzu allgemein die Diskussion zu politischer Gesellschaftssteuerung: Teubner/Willke 1984; Willke 1987; Göbel 2000; Lange 2002). Dass Märkte nicht in „laissez-faire“-Manier völlig autark und unbeirrbar vor sich hin operieren, heißt noch lange nicht, dass sie so operieren, wie es den Absichten irgendwelcher Regulierungsinstanzen entspricht. Vielmehr sind sie immer für Überraschungen, neue Wendungen, Krisen und Katastrophen gut, die Absichten der Regulierer werden regelmäßig untergraben oder deformiert. Intervention in Märkte, wie auch in andere gesellschaftliche Bereiche, ist nicht zwingend erfolglos, aber effektunsicher. Ich nenne nur einige mehr oder weniger zufällig herausgegriffene (oft US-amerikanische) Beispiele, die in der Literatur oft behandelt werden. Man betrachte etwa die Geschichte des amerikanischen Wettbewerbsrechts. Ende des 19. Jahrhunderts wurde das sogenannte Anti-Trust-Recht geschaffen in der Absicht, den kleinen Mann – den Konsumenten, Bürger und Wähler – vor der Macht der „großen Konzerne“ zu schützen, wie man heute sagen würde, konkret vor überhöhten Preisen. Verboten wurden deshalb „Verschwörungen“ zwischen Unternehmen, also explizite oder implizite Absprachen zur Preispolitik.19 In der Folge gingen viele Unternehmen zu anderen Wegen der Konkurrenzeindämmung
18Man
kann auch formulieren, Regulierung sei mehr negativ als positiv bestimmt: Es sei nicht so, dass durch Regulierung eine bestimmte, erwünschte Struktur implementiert oder erzwungen werde, vielmehr werde eine bestimmte unerwünschte Struktur verboten, ohne festzulegen, wodurch sie ersetzt werde; letzteres kristallisiere sich dann durch Kreativität, Eigeninitiative und Durchsetzungsgeschick vonseiten der Marktteilnehmer heraus (Dobbin/ Dowd 2000). 19Hier lag und liegt ein gern gegangener Weg, um Preise in die Höhe zu treiben und Profite zu steigern. Siehe schon Adam Smith, der in einer vielzitierten Passage feststellt: „People of the same trade seldom meet together, even for merriment and diversion, but the conversation ends in a conspiracy against the public, or in some contrivance to raise prices.“ (Smith 1776: 105 f.).
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und Profitsteigerung über, insbesondere zum Zusammenschluss zu Riesenkonzernen. Letztere blieben vom Anti-Trust-Recht unberührt, das nur Absprachen zwischen Unternehmen erfasste, nicht aber die Zusammenarbeit unter dem Dach eines einheitlichen Konzerns, und das auch nicht die schiere Größe von Unternehmen und das zulässige Maß an Marktkonzentration beschränkte (Fligstein 1990; Dobbin/Dowd 2000). Damit trug das Wettbewerbsrecht zur Entstehung des Wettbewerbsschutzproblems und Regulierungsproblems auf der nächsten Stufe bei, wo es dann darum ging, nicht nur Absprachen zwischen Unternehmen, sondern vor allem auch die Marktmacht einzelner Unternehmen oder Konzerne zu begrenzen. Dieser Fall illustriert nicht nur komplexe Effektketten, sondern auch das Auseinanderlaufen von Bedeutungen und Sinnanschlüssen an „derselben“ Sache, je nach dem, in welchem Systemzusammenhang – oder in welchem Sprachspiel – sie vorkommen. Politisch gesehen ist es ungefähr dasselbe, ob Otto Normalverbraucher unter Preisabsprachen zwischen Unternehmen oder unter der Existenz einzelner Marktgiganten leidet – wer gegen die „Macht der Konzerne“ ist, wird beides gleichermaßen kritisch sehen. Wirtschaftlich ist es etwas durchaus Verschiedenes, Marktstrukturen und Unternehmenskonturen können in beiden Fällen recht unterschiedlich aussehen. Und auch in der rechtlichen Kodifizierung sind dies zwei unterschiedliche Sachverhalte – Kartellbildung oder Verschwörung auf der einen Seite, marktbeherrschende Stellung auf der anderen –, was dann u. a. das Folgeproblem aufwirft, ob die Formel „Verbot von Verschwörungen“ auch Gewerkschaften erfasst, als Kartelle von Arbeitskraftanbietern, was dann wiederum politisch etwas ganz anderes ist. Unerwartete Effekte treten deshalb auch nicht nur bei restriktiven Maßnahmen auf, die den Handlungsspielraum von Unternehmen einschränken und insofern zu Sabotage und Umgehungsstrategien einladen, sondern ebenso auch bei ausdrücklich unternehmensfreundlichen Maßnahmen, die etwa durch neoliberal gesonnene Regierungen ins Werk gesetzt werden. So wurde die Welle von Fusionen und Unternehmensübernahmen in den 1980er Jahren unter anderem durch eine unternehmensfreundliche Steuerpolitik der US-Regierung angestoßen, die eigentlich etwas anderes bezweckt hatte: „The Reagan Administration passed a huge tax cut that produced windfalls for corporate America in 1981. The Administration expected firms to reinvest that capital in new plants and equipment, but instead firms bought other firms.“ (Fligstein 1996: 670). Zwar wurde die Entstehung eines heißen Marktes für Unternehmensübernahmen oder „Unternehmenskontrolle“ durch die Reagan-Regierung auch gezielt gefördert, qua Lockerung von Regulierung und laxe Rechtsdurchsetzung im Bereich des Wettbewerbsrechts, da man an Effizienzgewinne durch erhöhten Druck der
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igentümer auf die Unternehmen glaubte.20 Und auch hier zeigt sich das gleiE che Bild: Weitreichende Effekte stellen sich ein, darunter aber nur teils die angestrebten Effekte und zum größeren Teil andere. So pflegen Unternehmen oft eine nur zeremonielle Konformität mit Eigentümeranforderungen, bis hin zu Betrug und Bilanzskandalen, und inwieweit die erhofften Effizienzsteigerungen und Profitabilitätssteigerungen wirklich stattgefunden haben, ist hochgradig fraglich (Davis/Stout 1992; Useem 1996; Davis 2005; Zorn et al. 2005; Fligstein/ Shin 2007). Die Geschichte von Finanzmärkten ist reich an ähnlichen Dynamiken. Beispielsweise wurde nach dem Börsencrash 1929 und der darauf folgenden Weltwirtschaftskrise eine staatliche Einlagensicherung für Banken eingeführt, um die gefürchteten Anstürme auf Banken zu vermeiden und die Stabilität des Finanzsystems zu erhöhen. Seither wird immer wieder gefragt, ob die Einlagensicherung möglicherweise kontraproduktive Effekte hat und Instabilität auch vermehrt, indem sie Banken – nach dem Schema des „moral hazard“ – zu risikoreicheren Geschäften verleitet: Die Banken wissen, dass die Einleger ihre Gelder auch dann nicht zurückziehen, wenn die Bank risikoreich agiert (Baecker 1991: 168; Chatterjee 2011). Auch wurde in den USA nach 1929 eine Deckelung für Zinsen auf Bankeinlagen eingeführt, um das Bankgeschäft zu beruhigen, die Konkurrenzintensität und Riskanz des Bankgeschäfts zu dämpfen. Dies trug jedoch langfristig zum Aufstieg von Schattenbanken bei, d. h. informalen Konkurrenten der Banken, die heute als Risikotreiber gelten und ein Sorgenkind der Regulierungsbehörden sind (Krippner 2011; Ricks 2016).21 Schließlich hatte auch die erstmalig 1988 eingeführte gesetzliche Regelung von Eigenkapitalquoten für Banken teils kontraintentionale Wirkung. Intendiert war wiederum die Erhöhung der Stabilität des Finanzsystems und die Verhütung von Bankenkrisen. Faktisch
20Grundlage
dafür ist die Theorie des Unternehmens als „Nexus von Verträgen“, in dem die Eigentümer als obersten Prinzipale sind und die Manager ihre Agenten sind (Jensen/ Meckling 1976; Fama/Jensen 1983a, 1983b). Es kommt hier also ein weiteres Dreieck ins Spiel, mit einer wirtschaftswissenschaftlichen Theorie als drittem Faktor. 21Schattenbanken, wie etwa Geldmarktfonds, bieten ihren Kunden bankähnliche Geldanlage- und Finanzierungsinstrumente an, sie sind jedoch technisch gesehen keine Banken und unterliegen nicht der Bankregulierung (Ricks 2016). Im erwähnten US-amerikanischen Fall konnten Geldmarktfonds, da die Zinsdeckelung für sie nicht galt, Banken in der Konkurrenz um Einlegergelder ausstechen (Krippner 2011).
2.3 Feindliche Welten und robuste Koexistenzen
59
wurde damit jedoch die Verlagerung des Bankgeschäfts in derivative – mithin intransparente und krisenanfällige – Finanzgeschäfte mit befördert (Strulik 2000: 173 ff.), die dann im Zentrum der nächsten Finanz- und Bankenkrise standen (Langley 2008; Fligstein/Goldstein 2010; Deutschmann 2011; MacKenzie 2011b).22 All dies sind gut etablierte Themen in der Wirtschaftssoziologie, die nur nicht in Richtung auf divergierende Systemrationalitäten gelesen werden, sondern in andere Richtungen – etwa in Richtung auf die fatale Macht von Finanzmärkten, die ideologische Einseitigkeit der Politik oder die Falschheit der neoklassischen Markttheorie oder der Prinzipal-Agent-Theorie. All dies heißt natürlich auch nicht, dass Regulierung unsinnig, unnötig oder zwingend erfolglos wäre, und Regulierung hat, neben den hier bösartig herausgegriffenen kontra-intentionalen Effekten, natürlich auch viele „gute“ und heilsame Effekte. Der Punkt ist nur, dass Regulierungsmaßnahmen in der Wirtschaft immer erst einmal in deren eigene Sprache übersetzt werden und dort unerwartete Bedeutung haben oder unerwartete Dynamiken auslösen können. Die Regulierungsproblematik weist also eine grundsätzliche theoretische Zweischneidigkeit auf: Es ist keineswegs ausgemacht, inwiefern sich darin eher die Offenheit und Eingebettetheit oder eher die Geschlossenheit und Eigensinnigkeit von Politik und Wirtschaft zum Ausdruck bringt (oder beides). Für das Verhältnis speziell zwischen Finanzmärkten und akademischer Finanzwissenschaft gilt Ähnliches. Die Literatur bietet auch hier reiche Befunde. Sie betont Performativität, d. h. enge Kopplung und Wirkdichte, führt aber immer auch die andere Seite mit: Grenzen von Performativität oder Grenzen der Übereinstimmung und Kongruentführung. So können finanzwissenschaftliche Theorien, wie die Optionspreistheorie von Black-Scholes-Merton, performativ wirken, aber ebenso gut auch kontra-performativ, sie können sich durch Anwendung selbst widerlegen oder gerade gegenläufige oder abweichende Verläufe in realen
22Eigenkapitalquoten
werden relativ zur Bilanzsumme der Bank berechnet. Banken entwickelten deshalb eine Vorliebe für bilanzunwirksame Geschäfte: Sie entwickelten oder perfektionierten Techniken, um Kredite und Kreditrisiken aus ihren Büchern zu entfernen, etwa Verbriefungstechniken, und engagierten sich in diversen hoch gehebelten Derivategeschäften. Strulik formuliert: Eigenkapitalquoten „bedeutete[n] […] aus der ‘Perspektive’ und in der ‘Sprache’ der Banken doch vor allem auch, daß die Kosten für Eigenkapital in Zukunft steigen würden […] [so dass] die bilanzunwirksamen Finanzinnovationen eine größere Bedeutung im Rahmen des bankinternen Ertragsmanagements gewannen“ (Strulik 2000: 176).
60
2 Grenzen und Entgrenzungen
ursentwicklungen hervorbringen (MacKenzie/Millo 2003; MacKenzie 2005a, K 2006). Umgekehrt können auch wissenschaftlich hundertfach widerlegte Theorien wie die Chartanalyse – also der Versuch, den künftigen Verlauf von Börsenkursen aus ihrem bisherigen Verlauf vorherzusagen – in der Praxis weiterhin erfolgreich sein und können ebenfalls performative Effekte haben, auch wenn sie nach Meinung aller seriösen Finanzwissenschaftler nichts als Mumpitz, Aberglaube und Astrologie sind (MacKenzie 2005b; Preda 2007). Angesichts dieser lockeren Kopplung wird denn auch betont, dass Finanzmarktpraktiker kein blindes Vertrauen in wissenschaftliche Modelle und Formeln setzen, dass sie keine „Modellidioten“ sind, sondern gesunde Vorsicht walten lassen und Modelle eher als Werkzeug zum Ausprobieren alternativer Verläufe denn als gültige Auskunft betrachten (MacKenzie 2005a; Vormbusch 2012; MacKenzie/Spears 2014). Auf Akteursebene gesehen ist das ein praxisgesättigter, „bauchgefühlgesättigter“, kreativer Umgang mit Ressourcen – und gleichzeitig ist es auf Systemebene Indiz einer Systemgrenze, wo Eins-zu-eins-Übertragungen nicht möglich sind. Auch hier zeigt sich, dass Wirtschaft und Wissenschaft einander nur irritieren, aber nicht informieren können. Eine ähnliche Zweischneidigkeit zeigt sich schließlich auch an Schnittstellen zwischen Wirtschaft einerseits und Moral, Religion, Familie andererseits. Die „Markt und Moral“-Schule betont, dass die Gestalt von Märkten durch moralische Normen und Wertvorstellungen mitgeformt wird und dass historisch die Entwicklung von Märkten durch moralische Umwertungen vorangetrieben oder blockiert werden kann. (Einige Fälle solcher moralischen Konditionierung, etwa am Markt für Lebensversicherungen, werden unten (Abschn. 2.7) unter dem Gesichtspunkt komplexer historischer Entwicklungsmuster noch einmal näher beleuchtet.) Im Moment kommt es darauf an zu sehen, dass es neben solchen moralisch konditionierten Märkten auch – und vermutlich zahlreicher – Fälle von moralisch offensichtlich unkonditionierbaren Märkten gibt, die, trotz mehr oder weniger intensiver Versuche, sich als gegen moralischen Zugriff immun erweisen. Man denke etwa an politischen Konsum – den man auch „moralischen Konsum“ nennen könnte, da es hier zwar um politische Ziele und Motivationen geht, aber, anders als bei Regulierung, nicht per staatlich erzwungenem Zugriff, sondern per graswurzelartigem, vorrangig durch individuelles Gewissen und moralische Appelle getragenem Zugriff. Hier findet man, dass der Versuch der politisch-moralischen Überformung von Märkten etwa mit Blick auf ökologische oder faire Produktionsstandards sich regelmäßig am Eigensinn von Märkten und Markthandeln bricht. Eine ernsthafte Änderung des Konsumverhaltens zugunsten ökologischer oder sozialer Ziele ist nach wie vor ein Nischenphänomen mit begrenzter Reichweite und hohen Mobilisierungskosten (Preisendörfer 2000;
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Holzer 2006b; Chatzidakis/Hibbert/Smith 2007). Wirkungsvolle Aktionen, wie der Boykott von besonders krassen ökologischen oder sozialen „Sündern“ unter den Unternehmen, gelingen vor allem dann, wenn sie keinen persönlichen Konsumverzicht erfordern – wenn etwa ein Ölkonzern boykottiert wird, man aber problemlos woanders tanken kann (Beck 1997). Sogar in Bio-Supermärkten setzt sich oft das Interesse an persönlicher Konsumoptimierung – frische Produkte in großer Auswahl – gegen das politisch-altruistische Motiv des Umweltschutzes durch, nämlich gegen das Ziel der CO2-Vermeidung und Reduzierung von Flugkilometern (Johnston 2008). Wenn die Achtung vor der Natur und die Rettung des Planeten sich in der konkreten Einkaufssituation in das Ergebnis „keine frischen Tomaten im Januar“ übersetzt, scheint das nur für eine Minderheit der Bio- Einkäufer tragbar zu sein. Die Konsumentenrolle lässt sich in ihrem Eigensinn nicht so leicht überformen, sie lässt außerwirtschaftliche Impulse oft teflonartig von sich abgleiten. Der Verdacht auf Tefloneffekte, oder teflonartige Effektlosigkeit, besteht auch bei der religiös motivierten Marktnische der islamischen Banken. Bei genauem Hinsehen scheinen islamische Bankprodukte über weite Strecken eine Sache von Schaufensterdekoration zu sein – eine Fassade, unter der letztlich dieselben Finanzgeschäfte angeboten werden wie auch von anderen Banken, nur unter anderen Namen und mit leicht abweichenden juristischen Konstruktionen. Anleger erhalten dann eben keine „Zinsen“, sondern schwankende „Gewinnanteile“, und Kreditnehmer zahlen keine „Zinsen“, sondern von der Bank gesetzte „Gebühren“ und „Aufschläge“ – die aber in der Praxis ziemlich genau den sonst üblichen Zinssätzen folgen (Kuran 1995; Kettell 2011). Den Zins faktisch abzuschaffen, ist nirgends gelungen; das religiös begründete Missfallen an arbeitsfreien und risikofreien Einkünften, an „sich selbst vermehrendem Geld“, kann in real existierenden Kapitalmärkten nur fassadenmäßig bedient werden. Und noch ein weiterer stark moralisch aufgeladener Markt scheint innerhalb kurzer Zeit von der Gravitationskraft des Wirtschaftssystems und seiner Eigenmotive aufgesaugt worden zu sein, nämlich der Markt für Mikrokredite. Ursprünglich als idealistisch motivierte, entwicklungspolitisch getragene Maßnahme gestartet, ist der Markt für Mikrokredite in kurzer Zeit zu einem Mainstream-Markt mutiert, der Banken und anderen Investoren ein hochprofitables Geschäftsfeld bietet und unter politisch-moralischen Gesichtspunkten bestenfalls noch durchschnittlich abschneidet (Hiß 2012; Grimpe 2014; Klas/Mader 2014). Auf die Spitze treiben lassen sich die Auffassungsdifferenzen zwischen dem Einbettungs- und dem Differenzierungsparadigma mit Blick auf die Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Familie, wo Zelizers Theorem der vielfältigen Geldkreisläufe ansetzt (Zelizer 1994, 1998). Zelizer zufolge ist das angeblich
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so einheitliche, abstrakte und universale Geld in der Praxis gar nicht so einheitlich, sondern fällt in eine Vielzahl von Sonder-Geldern und Sonder-Kreisläufen auseinander. Familien und staatliche Alimentierungsstellen hätten ihre eigenen Techniken, um bestimmte Geldmengen für bestimmten Verwendungen vorzumerken, etwa Aufbewahrung in speziellen Dosen, Auslagerung in Sparvereine, Auszahlung als Gutschein statt in bar. Anstelle des eines uniformen Geldkreislaufs finde man deshalb viele verschiedene und teils inkonvertible Geldkreisläufe, die faktische Zirkulation des Geldes sei durch außerwirtschaftliche Prämissen geprägt und segmentiert. Hier ist nun aus Sicht des Differenzierungsparadigmas zu widersprechen und Zelizer gegen Zelizer, nämlich die Zelizer der „robusten Koexistenzen“ gegen die Zelizer der „vielen Gelder“ in Stellung zu bringen. Dafür muss man nur Zelizers Argument der Robustheit gesellschaftlicher Sinnsphären symmetrisieren und auch auf die Geldsphäre selbst anwenden. Wenn die Familie ihre Integrität bewahrt trotz routinemäßiger Berührung mit der Geldsphäre, warum sollte dann nicht auch der Geldkreislauf seine Integrität, d. h. seine Universalität und Uniformität bewahren trotz Offenheit für familiale oder staatliche Verwendungsentscheidungen? Denn der Geldkreislauf absorbiert und neutralisiert solche Verwendungsentscheidungen in der nächsten oder spätestens übernächsten Runde. Familien mögen bestimmte Geldsummen als „Eiergeld“ oder „Feriengeld“ beiseitelegen, aber sobald das Geld ausgegeben ist, ist es wieder „frei“: In der Kasse des Empfängers ist es einfach nur Geld. Staatliche Gutscheine, etwa für Lebensmittel oder Bildung, sind in der übernächsten Runde einfach wieder Geld: noch nicht in der Hand des unmittelbaren Abnehmers, wohl aber beim Staat selbst, wo alles wieder in ein Budget zusammenfließt und alle Zwecke mit allen anderen um dieselben Geldsummen konkurrieren. Der Geldkreislauf an sich bleibt ebenso unbeeindruckt oder unbeeinträchtigt durch solche Zweckbindungen, wie die Familie unbeeindruckt bleibt durch die Konfrontation mit Geldpreisen und geldvermittelten Beziehungen. Die Familie wird nicht kommodifiziert und kolonisiert, aber ebenso wenig wird der Geldkreislauf „familialisiert“, „politisiert“ oder segmentiert. Es ist deshalb eine öfter geäußerte Kritik an Zelizers Theorem der vielen Gelder, dass ihre Befunde letztlich gar nicht gegen die Einheit des Geldkreislaufs und die universelle Verwendbarkeit von Geld sprächen, sondern gerade dafür: Nur weil Geld prinzipiell für alles verwendbar ist, weil die Versuchung und die objektive Möglichkeit dazu da ist, muss es so sorgfältig markiert und speziellen Aufbewahrorten anvertraut werden (Steiner 2009: 100). Zelizers Befunde gehören deshalb eigentlich gar nicht in eine Soziologie des Geldes, sondern in eine Soziologie des Geldverwendung oder des Konsums.
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Wie kann Zelizer mit sich selbst so uneins sein? Sie schreibt zwei Bücher zum Schnittpunkt Familie und Geld und betont auf der einen Seite die Intaktheit der Familien- und Intimsphäre gegenüber Überformungen durch das Geld, aber auf der anderen Seite nicht die Intaktheit der Geldsphäre gegenüber Überformungen durch die Familie. Warum? Dies geht auf eine grundlegende Asymmetrie in Zelizers Denken zurück. Ihr Grundanliegen ist der Einspruch gegen Kommodifizierungsthesen: gegen die Auffassung, die ganze Welt werde durch die Wirtschaft, durch die Geldsphäre kolonisiert oder kommodifiziert, oder gegen die Vorstellung „grenzenloser Märkte“, die unersättlich alles in sich hineinschlingen (Zelizer 1988; Steiner 2009). Deshalb verteidigt sie vehement die Robustheit anderer sozialer Sphären, etwa intimer Beziehungen, gegenüber mutmaßlichen Vereinnahmungen durch das Geld und den Markt. Ihr ist nicht gleichermaßen daran gelegen, die Robustheit der Geldsphäre gegenüber Vereinnahmungen aus anderen Bereichen zu demonstrieren. Vielmehr liegt es ebenso auf der Linie einer Anti-Kommodifizierungs-Theorie zu zeigen, dass die Markt- und Geldsphäre durch kulturelle Einflüsse allerlei Art mitgeformt wird, dass Familie, Staat, Moral, Religion dieser ihre eigenen Prioritätensetzungen aufprägen können. Deshalb schreibt Zelizer an einer Stelle an einer Einbettungstheorie der Wirtschaft und an anderer Stelle an einer Autonomietheorie von Intimbeziehungen mit. Deshalb schreibt sie eine Theorie der „tough intimacies and tender economies“ (Horowitz 2011). Von ihrem Standpunkt aus ist das konsequent, da sowohl die Robustheit der Intimsphäre gegenüber der Wirtschaft als auch die Offenheit der Wirtschaft für Einflüsse anderswoher Punkte gegen die Allmacht der Wirtschaft setzen. Vom Standpunkt einer allgemeinen Gesellschaftstheorie aus ist es inkonsequent und müsste man entweder auf eine symmetrisch angelegte Einbettungstheorie (dann aber auch der Intimsphäre) oder auf eine symmetrisch angelegte Differenzierungs- und Autonomietheorie (dann aber auch der Geldsphäre) umschalten.23
23Diese
Einseitigkeit teilt Zelizer mit einem Großteil der Wirtschaftssoziologie, die – in einer Art anti-marxistischem Grundimpuls – nicht symmetrisch ist in ihrem Blick auf die Gesellschaftsbezüge der Wirtschaft. Dies fällt speziell im Kontrast zur Wissenschaftssoziologie auf: Während dort gern wechselseitige Verflechtungsverhältnisse herausgearbeitet werden (nach dem Muster „Politisierung der Wissenschaft und Verwissenschaftlichung der Politik“), dominiert in der Wirtschaftssoziologie stets die eine Richtung: die Abhängigkeit der Wirtschaft oder des Marktes von anderen, „sozialen“ Faktoren. Die der klassischen marxistischen Basis/Überbau-These entsprechende Gegenrichtung: die Abhängigkeit aller möglichen sonstigen gesellschaftlichen Größen von der Wirtschaft, hat keineswegs
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Die Frage kann auch so formuliert werden, ob man die Wirtschaft als kulturelle Sphäre akzeptiert. Zelizers Robustheitstheorem zielt auf die Widerstandsfähigkeit kulturelle Codes gegen Überformung von außen. Für eine symmetrisch angelegte Differenzierungstheorie ist die Wirtschaft ebenso eine soziale Sphäre – oder wenn man terminologisch so optiert: eine kulturelle Sphäre – wie alle anderen auch, sie müsste deshalb ebenso die Vermutung auf Robustheit, Autonomie, Widerstandsfähigkeit gegen Überformungsversuche für sich haben. Im wirtschaftssoziologischen Denken dominiert dagegen die Schematisierung in „harte ökonomische Kräfte“ auf der einen Seite und „soziale“ oder „kulturelle Kräfte“ auf der anderen Seite. Dann ist es in der Tat unsinnig, das Theorem der Robustheit kultureller Sphären auf die Wirtschaft anzuwenden. Symmetrisiert man die Begriffsanlage, dann ist dagegen die Robustheit auch der Wirtschaftssphäre offensichtlich und findet eben auch in der Literatur – gegen den Strich gelesen – genug Bestätigung. In einer differenzierten Gesellschaft ist nicht nur ein Übergreifen und Überschwappen von einem Kontext auf den anderen normal, sondern ebenso ein Brechen und Umbiegen, ein Ignorieren und Abgleitenlassen.
2.4 Instrumentalistischer Fehlschluss: Grenzen als rhetorische Waffe von Akteuren Grenzen sind nicht in Stein gemeißelt. Sie sind nicht wie die Tafeln, die Abraham auf dem Berg Sinai empfing, auf ewig und unabänderlich fixiert, sondern sind offen für allerlei historische und situative Variationen. Was Wissenschaft ist und was bloßer Glaube, ob man Schöpfungstheorien, Schädellehren und Gensequenzierungen mit wissenschaftlichem Anspruch vertreten kann oder nicht,
dasselbe Gewicht für das Selbstverständnis und das Erkenntnisinteresse der Wirtschaftssoziologie. In der Sprache von Hirschman entspricht das einer Semantik der Wirtschaft als „schwach“, im Unterschied zu Semantiken von Wirtschaft als „stark“, sei’s im guten, sei’s im schlechten Sinn: als „doux commerce“, der die Menschen zivilisiert, oder als „böser Kapitalismus“, der sie dem Geld- und Profitmotiv unterwirft (Hirschman 1982; Fourcade/ Healy 2007). Es gibt allenfalls zarte Ansätze zu Wechselseitigkeit, etwa wenn Fligstein (1996) Markt und Staat als Zwillingsinstitutionen beschreibt und nicht nur die Bedeutung des Staates für die Konstitution von Märkten betont, sondern auch umgekehrt, oder wenn darauf hingewiesen wird, dass die jüngsten globalen Finanzkrisen die fundamentale Abhängigkeit des Staates von Kapitalmärkten gezeigt hätten (Du Gay/Millo/Tuck 2012). Dergleichen ist aber, verglichen mit der Breite und Tiefe von Überlegungen in der anderen Richtung, kaum mehr als ein Tropfen auf einem heißen Stein.
2.4 Instrumentalistischer Fehlschluss …
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darauf gibt es keine überzeitlich richtige Auskunft, sondern die Antworten darauf werden zu verschiedenen Zeiten und Orten verschieden ausfallen. Was auf Märkten gehandelt werden darf und was durch marktferne Institutionen verteilt wird, was etwa in staatlicher Hoheit, familialer Unantastbarkeit oder gar göttlicher Kontrolle liegt, wird im 18. Jahrhundert anders definiert sein als im 20. und in Deutschland anders als in Indien. Es gibt hier keine Naturgesetze, keine historischen Allgemeinheiten und ewigen Wesenheiten. Unter Wissenschafts- und Wirtschaftssoziologen herrscht deshalb die Neigung vor, Grenzziehungen als Teil des strategischen Arsenals von Akteuren zu betrachten und ihnen jede objektive oder wirkliche Existenz absprechen. Es sei naiver Essenzialismus sich vorzustellen, dass Grenzen „an sich“ existieren und die Welt in säuberlich getrennte Seinsbereiche zerlegen, die kategorial voneinander geschieden sind, etwa qua Codes von Funktionssystemen. Vielmehr seien Grenzen das Produkt ihrer performativen Hervorbringung durch Akteure. Grenzen gibt es nur insoweit, als hinreichend geschickte Akteure sie konstruieren und propagieren, und als hinreichend gutgläubige oder einflusslose Andere sie ihnen abnehmen. Diese zweite Argumentationslinie nenne ich den instrumentalistischen Fehlschluss: Weil Grenzen historisch variabel sind, können sie nur Mittel zu Zwecken von Akteuren sein, oder bestenfalls Nebenprodukt komplexer institutioneller Konstellationen. Diese Argumentationslinie ergänzt und flankiert die erste. Sie kann beispielsweise erklären, warum, wenn die soziale Welt „eigentlich“ eine grenzenlose Landschaft ist, Teilnehmer trotzdem immer wieder verschiedene Sinnsphären zu entmischen und zu entflechten versuchen, sodass Grenzen wie Phoenix aus der Asche immer wieder auferstehen.24 Sie tun das, weil sie davon zu gewinnen haben: weil sie auf diese Weise Ressourcen an Land ziehen, Rivalen draußen halten, Monopole beanspruchen, Statusgewinne einfahren oder Legitimationsprobleme lösen können. Wissenschaftler können etwa durch solche
24Dies
wird insbesondere in der Wissenschaftssoziologie manchmal mit einer gewissen Irritation notiert: Die Gesellschaft hört nicht auf, zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft zu unterscheiden, obwohl doch die Wissenschaftssoziologie gezeigt hat, dass es keine verlässlichen und sachlich gerechtfertigten Grenzen dazwischen gibt. „[T]he traditional boundaries between experts and nonexperts remain strong in the wider society even though they have been shown to be permeable by STS“ (Evans/Collins 2008: 610). – „Continuing debates over the possibility or desirability of demarcating science from non-science are, in one sense, ironic. Even as sociologists and philosophers argue over the uniqueness of science among intellectual activities, demarcation is routinely accomplished in practical, everyday settings“ (Gieryn 1983: 781).
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Grenzarbeit ihre epistemische Autorität oder ihre Geldzuflüsse steigern; Unternehmen können ihre Marktmacht verteidigen oder neue lukrative Geschäftsfelder erschließen; und Politiker, Staaten, Gerichte können durch Berufung auf die unanfechtbaren Erkenntnisse „der Wissenschaft“ oder die unantastbare Freiheit „der Märkte“ die eigene Entscheidungspraxis entlasten. „[W]hat demarcates science from nonscience [or markets from non-markets] is not some set of essential or transcendent characteristics […] but rather an array of contingent circumstances and strategic behavior“ (Guston 2001: 399). Man mag daran eher die unmittelbaren Interessen und Durchsetzungsstrategien von Akteuren betonen oder eher die im Hintergrund mitwirkenden institutionellen und kulturellen Bedingungen. Aber in jedem Fall gilt die Definition von Grenzen als eine immer prekäre und temporäre, lokale und situative Angelegenheit – ohne innere Notwendigkeit und sachliche Begründung, letztlich immer willkürlich und dezisionistisch. Das Wort „Demarkationist“ ist dann ein Schimpfwort (Doing 2008: 281), das Wissenschaftstheoretiker und Wirtschaftswissenschaftler trifft – etwa Popper und Friedman –, aber auch Soziologen wie Parsons, Merton und Luhmann. Es meint alle, die an Grenzen „glauben“, die eine bestimmbare Eigenrationalität von Bereichen wie Wissenschaft oder Wirtschaft und die Existenz von Grenzen dazwischen für real halten; alle, die von Grenzen im „first order“-Modus sprechen und nicht nur in indirekter Rede, im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung, mit der Konnotation des Angeblichen und Behaupteten. In gewisser Weise liegt hier die Neuauflage einer alten Debatte, die zwischen Funktionalisten wie Émile Durkheim und Kulturalisten wie Mary Douglas schon lange geführt worden ist, zunächst mit Blick auf symbolische Kategorienordnungen in archaischen Gesellschaften. Für Durkheim ist das Weltbild der „Wilden“ ein Abbild ihrer Sozialstruktur. Die Kategorien, die aus dem Leben in der Gesellschaft bekannt sind, werden dann auch auf den Rest der Welt projiziert; die Gesellschaft sieht in der kosmologischen Ordnung von Tieren und Pflanzen, von heiligen und unheiligen Elementen immer wieder sich selbst (Durkheim 1912). Dagegen hält Douglas gewissermaßen die „Kreativität des Handelns“ hoch, wie man mit Joas (1996) sagen könnte. Symbolische Kategorien wie Reinheit und Unreinheit werden von Akteuren als Waffe im Kampf um knappe soziale Güter eingesetzt. Die Kategorienordnung einer Gesellschaft ist kein schablonenhafter und alternativloser Reflex, vielmehr ist sie unter Akteuren umstritten und wird von ihnen gezielt manipuliert. Sie ist weniger eine strukturelle Beschränkung als eine kreativ einsetzbare Ressource des Handelns. „People are living in the middle of their cosmology, down in amongst it; they are energetically manipulating it, evading its implications in their own lives if they can
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but using it for hitting each other and forcing them to conform to something they have in mind. […] People are using everything they can […] to influence one another“ (Douglas 1975: 60 f.). In ähnlicher Weise kann man auch für die moderne Gesellschaft fragen, wie viel unausweichliche oder gar funktional gerechtfertigte Ordnung in der gültigen symbolischen Kategorienordnung liegt und inwiefern sie nur auf Selbstbehauptungsinteressen irgendwelcher gesellschaftlicher Gruppen zurückgeht. Schon Berger und Luckmann (1969) hatten ja die Aufzählung funktionaler Sphären mit angeblichen funktionalen Notwendigkeiten für den zentralen Legitimationsmythos der modernen Gesellschaft erklärt. So sind dann eben alle vordergründig selbstverständlichen und unantastbaren Grenzen nur das Produkt kontingenter Aushandlungsprozesse und Propagierungsbemühungen – Grenzen zwischen Wissenschaft und Aberglaube, Wissenschaft und Politik, Wirtschaft und Moral, Wirtschaft und Politik, Wirtschaft und Familie usw. Sie sind nichts als „rhetorische Waffen und momentane diskursive Durchsetzungserfolge“ (Gieryn 1999: 25). Wer an ihre objektive Existenz und ihren substanziellen Gehalt glaubt, geht den Akteuren auf den Leim, die dieses Feld nach ihrem Gusto zu definieren versuchen. Er ist ein „Essenzialist“ oder eben „Demarkationist“, der sich der soziologischen Umstellung auf eine konstruktivistische Sicht der Dinge verweigert. Kämpfe um Wissenschaftsfreiheit und Pseudowissenschaft Für die Wissenschaftssoziologie hat dieses Grenzverständnis in paradigmatischer Weise Thomas Gieryn mit dem Theorem der Grenzarbeit formuliert (Gieryn 1983, 1999). Alle Versuche zu definieren, was Wissenschaft wirklich „ist“, seien gescheitert. Das gelte für Poppers Versuch, Wissenschaft durch das Kriterium der Falsifizierbarkeit zu definieren, ebenso wie für Mertons Versuch, Wissenschaft durch die vier Normen Universalismus, Kommunismus, Uneigennützigkeit und organisierten Skeptizismus zu bestimmen, und ebenso gilt es natürlich auch für Luhmanns Versuch, Wissenschaft über den Wahrheitscode abzugrenzen. Da es ein solches absolutes und universelles Kriterium nicht gebe, könne der Soziologe nur im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung beobachten, wie verschiedene Akteure diese Grenze zu ziehen versuchten, mit welchen rhetorischen Mitteln und welchem Erfolg. Die essenzialistische Frage „Wo verläuft die Grenze?“ müsse durch die klassische Frage der Ideologiekritik ersetzt werden: „Wem nützt es, die Grenze so oder so zu ziehen?“. Dies ist auch ein Echo des erkenntnistheoretischen Anti-Realismus und Konstruktivismus, der für die Wissenschaftssoziologie fundamental ist. So wie die
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Welt an sich nicht erkennbar ist und wir immer nur mit unseren eigenen Konstruktionen der Welt zu tun haben, so gibt es auch in der sozialen Welt keine „an sich“ bestehenden Strukturen, Sinngrenzen, Sinnprovinzen, die den Akteuren einfach vorgegeben und für sie unverfügbar wären. Nichts kann nach dem Schema der Repräsentation, des Abbilds einer objektiven Realität gedacht werden, alles ist kontingentes Produkt der Konstruktionsarbeit von Teilnehmern.25 Die Einheit der Wissenschaft wird dann zu einer Frage sozialer Schließung – wie das ja nach breit geteilter Auffassung auch für die Einheit von Nationen, Rassen, Klassen, Professionen und sonstigen kollektiven Identitäten gilt (Abbott 1988; Lamont/ Molnár 2002; Abbott 2005). „Boundary-work is strategic practical action. As such, the borders and territories of science will be drawn to pursue immediate goals and interests […] [of participants] and to appeal to the goals and interests of audiences and stakeholders“ (Gieryn 1999: 23). Gieryn zeigt an Wissenschaftsdiskursen vom 19. Jahrhundert bis heute, dass die Abgrenzungsmerkmale und Alleinstellungsmerkmale von Wissenschaft opportunistisch mal so und mal so formuliert werden, je nach Situation und Publikum, je nach den gerade dominierenden Interessen und Bedürfnissen (Gieryn 1983, 1999). So erklärt ein bekannter Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts, wenn er die Bedeutung von Wissenschaft gegenüber bloßer „Mechanik“ herausstellen will, also gegenüber Technologieanwendungen in der Praxis, Wissenschaft sei allgemein, abstrakt und theoretisch, nicht nur praktisch und nützlich. Geht es gegen Religion, betont er dagegen fast umgekehrt, Wissenschaft sei empirisch, praktisch und nützlich, nicht nur metaphysisch und spekulativ. Und heutige Wissenschaftsvertretungsorgane sind nicht weniger flexibel in ihren kommunizierten Selbstbeschreibungen. Je nach dem, ob sie gerade in der Mission unterwegs sind, Forschungsgelder zu akquirieren, oder in der Mission, Forschungsfreiheit zu verteidigen und Einflussnahmen von außen abzuwehren, betonen sie wahlweise entweder die „Reinheit“ und Selbstzweckhaftigkeit der Forschung, die jeder Zielsetzung von außen abhold sei, oder aber die Nützlichkeit und Anwendungsnähe der Forschung, deren Früchte allen zugute kämen.
25Die Ablehnung repräsentationalistischen Denkens kann dann auch auf das Politikverständnis und Demokratieverständnis übertragen werden: Das Problem der Repräsentation von Wählerinteressen durch Abgeordnete oder Parteien wird mit dem Problem der Abbildung der Welt in wissenschaftlichen Theorien analogisiert, und Politiktheoretiker, die für repräsentative Demokratie eintreten, müssen sich gegen den Vorwurf eines naiven Repräsentationalismus zur Wehr setzen (Moore 2010).
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[I]f the stakes are autonomy over scientists’ ability to define problems and select procedures for investigating them, then science gets ‘purified,’ carefully demarcated from all political and economic concerns, wich are said to pollute truth; but if the stakes are material resources for scientific instruments, research materials, or personnel, science gets ‘impurified,’ erasing the borders or spaces between truth and policy relevance or technological panaceas. The sociological question is not whether science is really pure or impure or both, but rather how its borders and territories are flexibly and discursively mapped out in pursuit of some observed or inferred ambition – and with what consequences, and for whom? (Gieryn 1999: 23).
Gieryn unterscheidet dann drei Typen von Abgrenzungskämpfen oder, wie er sie auch nennt, Glaubwürdigkeitskämpfen. Im ersten Typ, den schon angerissenen Autonomiekämpfen, suchen Wissenschaftler sich gegenüber staatlichen oder privaten Geldgebern zu behaupten: Sie verteidigen ihre alleinige Definitionshoheit über Forschungsfragen und Forschungsmethoden, versuchen gleichzeitig aber auch, Ressourcenzuflüsse zu maximieren, und reichlich zur Verfügung stehende Ressourcen kommen ja letztlich auch der Autonomie einer Disziplin oder eines Forschungsfeldes zugute. Beim zweiten Typ, den Expansionskämpfen, geht es darum, das Terrain auszuweiten, über das Wissenschaftler die Definitionshoheit haben, also den Anspruch wissenschaftlicher Welterklärung im sozialen Raum hinauszuschieben. Solche Kämpfe können etwa gegenüber der Religion ausgetragen werden, beispielsweise in Bezug auf die Frage, wer in welchem Umfang die Inhalte schulischer Lehrpläne bestimmt. Ein aktuelles Beispiel dafür bietet die Kreationismus-Debatte in den USA, der Kampf um die so genannte „Schöpfungswissenschaft“ (Gould 1997; Cole 2006). Beim dritten Typ, den Ausstoßungskämpfen, geht es schließlich darum, manchen Teilnehmern das Recht zu entziehen oder vorzuenthalten, sich das Etikett „Wissenschaft“ anzuheften. So gelten Wissensfelder wie Astrologie, Parapsychologie, Schädelkunde oder eben Schöpfungswissenschaft weithin als Scharlatanerie, Aberglaube oder Pseudowissenschaft, obwohl sie über weite Strecken mit denselben Methoden arbeiten wie „echte“ Wissenschaft – etwa systematische und dokumentierte Beobachtung, statistische Auswertung – und obwohl sie zeitweise von Inhabern universitärer Lehrstühle vertreten wurden (dazu auch Wallis 1979). Nach Gieryn und vielen anderen liegt hier weniger ein „wirklicher“ Unterschied in der Qualität des Wissens vor als ein Unterschied im Durchsetzungs- und Anerkennungserfolg, der manche Kandidaten auf der Strecke bleiben lässt und auf Stehplätze oder Pariahstatus verweist. Das von Gieryn paradigmatisch formulierte Grenzarbeitstheorem durchzieht explizit oder implizit weite Teile der wissenschaftssoziologischen Literatur. Wo immer Verflechtungen zwischen wissenschaftlichen, politischen, rechtlichen,
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wirtschaftlichen, massenmedialen Handlungskontexten thematisiert werden, tauchen dann auch symbolische Abgrenzungen und Monopolansprüche auf, gibt es Versuche der Schließung, Abzirkelung und Zutrittsbegrenzung, oder umgekehrt Versuche der Ausweitung von Ansprüchen. Akteure treffen Feststellungen wie: „Das ist jetzt eine wissenschaftliche, keine politische Frage“, „Das müssen die Experten entscheiden“, „Das ist bloße Populärwissenschaft“, „Wir lassen uns nicht kommerzialisieren“ usw. In Ermangelung einer differentia specifica können solche Feststellungen nur in letztlich haltloser und allenfalls situativ überzeugender Weise getroffen werden. Fließende Grenzen und opportunistische Grenzziehungen gehen Hand in Hand. „[W]ithout epistemic ‘gold standards’ for evaluating scientific knowledge, the process of determining what is ‘genuine’ science and what is not becomes political.“ (Miller 2009: 262; Herv. weggelassen) Gieryns pointierter Instrumentalismus, die Betonung auf unmittelbare Interessen und strategische Durchsetzung, kann dabei durch andere theoretische Konzepte abgewandelt und ergänzt werden. Man kann stärker auf institutionelle Verankerungen und prekäre Ausbalancierungen achten, wie es etwa Jasanoff tut (1995, 2008b), wenn sie die Rolle von Richtern und Gerichten als Grenzwächtern beschreibt. Diese müssen nolens volens zur Entscheidung strittiger Fälle ein Urteil über die Wissenschaftlichkeit vorgelegter Beweise fällen; sie tun dies nicht unbedingt strategisch und interessenorientiert, sondern nach bestem Wissen und Gewissen, aber gleichwohl auf schwankendem Grund und ohne feste Anhaltspunkte in der Sache. Ähnlich würde Jasanoff (1990) auch die Rolle wissenschaftlicher Apparate in Umweltministerien, Technologie- und Verbraucherschutzbehörden beschreiben, die etwa an der Festlegung von Grenzwerten beteiligt sind und die wissenschaftliche Basis dafür liefern. Sie müssen dabei eine heikle Balance zwischen verschiedenen Seiten und verschiedenen Anforderungen halten: zwischen den Machtpotenzialen von Exekutive, Legislative und Judikative, aber auch zwischen wissenschaftlicher Fundiertheit und interaktivem Geschick als Berater, Vermittler oder Verhandlungsführer. Das Ergebnis all dessen ist dann die vorgeblich saubere „wissenschaftliche Begründung“ staatlicher Entscheidungen. An diesem Punkt wird auch das Konzept der Grenzorganisation angeboten (Guston 1999, 2001). Institutionen wie Umweltschutzbehörden und industrielle Forschungseinrichtungen werden hier als Agenten gesehen, die zwischen zwei Prinzipalen aufgehängt sind. Diese Position zwingt sie, die Interessen beider Seiten in hinreichendem Maß zu bedienen, sie sichert ihnen aber – als „Dienern zweier Herren“ – auch ein gewisses Maß an Autonomie und eigenem Handlungsspielraum. Oder man kann von Grenzobjekten sprechen, als von Entitäten, die mit verschiedenen Seiten an verschiedene Akteure appellieren und doch eine Art
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Objektidentität bewahren (Star/Griesemer 1989). So bezeichnet etwa die Entität „Kalifornien“ für Naturwissenschaftler ein natürliches Habitat mit erforschbarer Flora und Fauna, für Naturschützer eine eventuell bedrohte, schützens- und pflegenswerte Größe, für Politiker und Staatsbeamte eine Verwaltungseinheit und damit einen Appell an ihren Mandatsbereich und das Abrufen von Finanzmitteln.26 Grenzobjekte eignen sich mit dieser mehrfachen Anschlussfähigkeit zum Schmieden von Koalitionen zwischen heterogenen Akteuren. All diese Konzepte treffen sich in dem Grundkonsens, dass die Grenzen zwischen symbolischen Sphären nicht an und für sich und in der Natur der Sache gegeben sind, sondern von den beteiligten Akteuren unter situativ wechselnden Bedingungen immer wieder neu gezogen und verhandelt werden. Die Kategorie „Wissenschaft“, die sich gern so rein und unantastbar darstellt, ist das Produkt eines mehr oder weniger schmutzigen, jedenfalls dezisionistischen Aushandlungsprozesses. Konsequent zu Ende gedacht schließt das Grenzarbeitstheorem es dabei aus, etwa wissenschaftliche Politikberatung als „parteiisch“, „verzerrt“ und „durch politische Primate verseucht“ zu beschreiben (Jasanoff 1990; Ravetz 1990; Wynne 1992a), oder Pharmaforschung als „korrupt“, „kommerzialisiert“, „unseriös“ und „manipulativ“ (McHenry 2009; Sismondo 2009a, 2009b), oder auflagenstarke Physikbücher als „nur populärwissenschaftlich“ und „für ein Massenpublikum heruntergekocht“ (Mellor 2003). Denn ein solches Abqualifizieren würde ja voraussetzen, dass man selbst die Linie zwischen „richtiger Wissenschaft“ und sonstigen Wissensangeboten ziehen kann und dafür verlässliche, nicht-beliebige Kriterien zur Verfügung hat, und eben das ist nach dem Grenzarbeitstheorem nicht möglich. Man würde mit solchen Qualifizierungen und Abqualifizierungen nur die Grenzarbeit von Akteuren im Feld übernehmen und auf soziologischer Basis reproduzieren, man würde manche Protagonisten stärken und andere schwächen, statt das ganze Problemfeld mit soziologischer Distanz und Neutralität zu beschreiben. So weit sind indes nicht alle Wissenschaftssoziologen bereit zu gehen. Es gibt auch Autoren, die der Wissenschaftssoziologie eine normative Qualität erhalten oder zurückgeben wollen, was eben solche kritischen Urteile erfordert (Rip 2003; Lynch 2006; Webster 2007). Es stehen hier zwei kritische Impulse gegeneinander und finden sich, vielleicht unerwartet, zu einem Zielkonflikt zugespitzt.
26Ein
anderes Grenzobjekt kann etwa „Unsicherheit“ sein. Dieses Konzept ist im Kontext der Klimawandelproblematik wichtig, wo die Unsicherheit von Forschungsergebnissen angesprochen werden kann in einer Weise, die zu politischen Entscheidungskontexten hin anschlussfähig ist (Shackley/Wynne 1996).
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Auf der einen Seite steht der grundsätzliche herrschaftskritische Impuls, den dominierenden, durchsetzungsstarken und ressourcenstarken Akteuren – etwa Pharmakonzernen oder staatlichen Entscheidungsinstanzen – etwas entgegenzusetzen und andere Akteure gegen sie zu ermächtigen. Auf der anderen Seite steht der ebenso grundsätzliche radikal-konstruktivistische oder anti-essenzialistische Impuls, keine Definition dessen, was „die“ Wissenschaft ausmacht, als gültig zu akzeptieren, jede angeblich unumstößliche kategoriale Identität zu dekonstruieren und das Feld für alternative Wissensformen und Wissensanbieter zu öffnen. Diese beiden kritischen Impulse können nicht an allen Sachfragen gemeinsam verfolgt werden. So notieren auch Collins und Evans: Those who engage in the social studies of science […] proclaim on the one hand that science is invested with politics, [but] they insist on the other hand that the testing of drugs is ‘unduly influenced’ by the power of the drug companies, or that studies of the effects of smoking are ‘distorted’ by powerful tobacco interests, or that genetics in the Soviet Union was ‘damaged,’ rather than ‘energized’ by the political backing given to ‘the ideas of Trofim Lysenko (Collins/Evans 2007: 126).
Hier besteht in gewissem Maß eine offene Frage oder ein unaufgelöster Widerspruch. Kämpfe um Marktregulierung und Marktexpansion Grenzen um Märkte zu ziehen, ist eine noch attraktivere, weil lukrativere Sache, als Grenzen um die Wissenschaft zu ziehen. Wer definiert, wo Märkte bestehen, kann daraus nicht nur Legitimation oder epistemische Autorität, sondern bares Geld ziehen. Fragen, die mit der Abgrenzung von Märkten zu tun haben, ziehen deshalb in der Wirtschaftssoziologie weite Kreise, auch wenn das nicht unbedingt unter dem Stichwort „Grenzen“ oder „Grenzarbeit“ verhandelt wird. Explizit spricht etwa Callon (1998a) von der Grenzziehungs- und Rahmungsarbeit, die nötig ist, wenn Überlaufsperren zwischen der Marktsphäre und anderen Weltbereichen eingerichtet werden sollen. Ansonsten kommen Grenzprobleme häufig auch unter Titeln wie „Kommodifizierung“ oder „Markt und Moral“ vor. Fragen wie diese sind allgegenwärtig: Was kann auf Märkten gehandelt werden und was nicht, zu welchen Zeiten, in welchen Ländern, unter welchen kulturellen Bedingungen? Wovon hängt das ab, und wie geht es zu, dass nicht selbstverständlich marktgängige Dinge oder Entitäten marktfähig und bewertungsfähig gemacht werden? Wer hat Zutritt zu Märkten, und wie wird die Grenze zwischen der Zone heiliger Marktautonomie und dem Bereich legitimen staatlichen Eingreifens gezogen? Auf diese Fragen gibt es keine einfachen und universellen Antworten, vielmehr wird der Verlauf von Grenzen ständig neu ausgehandelt, und die
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v erschiedensten Akteure können dabei mitreden: Unternehmen und Konsumenten, Parlamente und Nichtregierungsorganisationen, Gerichte und Patentämter. In diesem Sinn wird der Wirtschaftssoziologie auch die Aufgabe zugeschrieben, „die Herstellung einer (immer prekären) Abgeschlossenheit des ökonomischen ‘Systems’ bzw. von Märkten nachzuzeichnen, anstatt sie theoretisch vorauszusetzen“ (Langenohl/Wetzel 2014: 11). Sie hat sich gegen das demarkationistische Denken von Ökonomen und essenzialistisch verdorbenen Soziologen zu positionieren. In den Marktmodellen neoklassischer Ökonomen herrscht eine klare Trennung von Innen und Außen: Hier die Welt des Marktes, dort „exogene Schocks“ und positive oder negative „Externalitäten“ (Callon 1998a; Hirsch 2000). Und Soziologen wie Luhmann oder Bourdieu meinen, das Wirtschaftssystem anhand von einfachen, universellen Merkmalen wie Geldmedium oder Geldcode identifizieren zu können (Luhmann 1970f, 1988a), oder das ökonomische Feld anhand eines nomos beschreiben zu können, der sich auf die Devise reduziert: „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps“, oder: „Geschäft ist Geschäft“ (Bourdieu 2002: 167). Entgegen solchen kategorialen Abgrenzungen soll vielmehr die laufende Grenzarbeit von Teilnehmern untersucht werden: ihre Definitionsversuche, Expansionsversuche oder auch – seltener – Einhegungsversuche. Mit Gieryns Terminologie kann man auch hier Autonomiekämpfe, Expansionskämpfe und Ausstoßungskämpfe unterscheiden. Diese Begriffe sind in wirtschaftssoziologischen Diskussionen nicht gebräuchlich, können aber ohne Sinnverzerrung darauf angewandt werden und können dann helfen, Befunde zu systematisieren. Autonomiekämpfe sind hier Bemühungen von Marktteilnehmern, Eingriffe in freie Märkte abzuwehren, oder auch: nur diejenigen zuzulassen, die ihnen in den Kram passen – mit oftmal kreativer Definition dessen, was ein „freier Markt“ ist. Ausstoßungskämpfe sind Versuche, unliebsame Teilnehmer aus Märkten draußen zu halten. Und Expansionskämpfe sind Gefechte um die Ausweitung von Märkten auf immer mehr Dinge und Aspekte menschlichen Lebens, um die „Vermarktlichung“ oder Kommodifizierung vordem marktfern organisierter Bereiche. Autonomiekämpfe drehen sich um die Frage, was sakrosanktes, unantastbares Inneres von Märkten ist, das von äußeren Kräften nicht angerührt werden darf, und wo Eingriffe von außen nötig, sinnvoll oder zulässig sind, etwa im Interesse von Umweltschutz oder Verbraucherschutz, Umverteilung oder Krisenmanagement. Hier ist also wieder vorrangig die Grenze zu Politik und Recht im Spiel, es geht um Regulierung und Deregulierung. Marktakteure wie Unternehmen und Banken verteidigen oft erbittert ihre Autonomie, sie loben die Weisheit und Effizienz der freien Märkte, sie fordern mehr Freiheit von staatlicher
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Regulierung, ein Ende des „Erstickens“ durch staatliche Bürokratie und des „Abwürgens“ unternehmerischer Initiative. Ihr Eintreten für freie Marktkräfte geht aber typischerweise nur so weit, wie es ihren Interessen dient, und sie sind ansonsten gerne bereit, den Ruf nach Freiheit gegen den Ruf nach staatlicher Regulierung und Rückendeckung auszutauschen. Marktakteure sind hier nicht weniger opportunistisch wie Gieryns Wissenschaftler. Nach Fligstein (1996, 2001b) sind es oft die „großen“ Spieler – die aktuellen Marktführer –, die durch Regulierung ihre Marktposition zu schützen versuchen, etwa konkurrierende Billiganbieter durch restriktive Gesundheits-, Sicherheitsoder Umweltschutzvorschriften abzuwehren versuchen. Autonomiekämpfe gehen dann in Ausstoßungskämpfe über – in den Versuch, bestimmte Akteure aus dem Spiel fernzuhalten. Auch in diesem Fall spricht sich aber natürlich niemand direkt gegen freie Märkte aus, vielmehr ist dann von der „Sicherung von Qualitätsstandards“ oder von „unfairen Dumpingpreisen“ die Rede.27 Regulierung kann aber auch von kleinen Spielern – von „Herausforderern“ – angestoßen werden und kann dann umgekehrt darauf abzielen, Monopolpositionen aufzubrechen und den Markt für neue Anbieter zu öffnen. Das wäre das Gegenteil eines Ausstoßungskampfes, oder ein Gegenzug in einem Ausstoßungskampf. Wie immer die Spielzüge hier variieren mögen: Es ist ein verlässlicher Befund wirtschaftssoziologischer Forschungen, dass die Spieler in solchen Aushandlungsprozessen sich nicht an der abstrakten Idee „des“ Marktes orientieren, sondern an handfesten Interessen, an Marktpositionierungen und Profitzahlen (Abolafia 1996;
27Als
Idealergebnis für einen großen Spieler kann es gelten, wenn seine dominante Marktposition von staatlicher Seite als „natürliches Monopol“ akzeptiert und ratifiziert wird, wie es etwa in Wasser- und Strommärkten, Eisenbahn- und Flugverkehrsmärkten der Fall sein kann (Dobbin/Dowd 2000; Avent-Holt 2012) – dann ist der regulatorische Schutz seiner Marktposition mit einem Autonomiestempel – der Anerkennung als „natürliches“ Ergebnis freien Marktoperierens – verbunden. Auch auf Finanzmärkten gibt es interessante Kombinationen aus dem Lob des freien Marktes und der Etablierung von Monopolen, etwa wenn Börsenhändler nach innen harte Konkurrenz beim Kauf und Verkauf von Wertpapieren pflegen, gleichzeitig aber fixe Kommissionen von Dritten verlangen, die Kauf- und Verkaufaufträge über sie abwickeln – wenn die Börse sich mithin als Kartell von Börsenhändlern gegenüber Nicht-Börsenmitgliedern konstituiert (Abolafia 1996: 55 f.; MacKenzie 2006: 166 ff.). Man kann auch sagen: Es herrscht dann freie Konkurrenz nur auf dem Markt für Wertpapiere, nicht aber auf dem Markt für Finanzdienstleistungen – zwei Märkte, die im Zuge von Abgrenzungs- und Definitionsprozessen erst aufgedröselt und voneinander getrennt werden mussten.
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Granovetter/McGuire 1998; Avent-Holt 2012).28 Dazu passend berichtet der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz aus seiner Zeit in der aktiven Politik: Er habe in etlichen Jahren Regierungserfahrung noch nie einen Wirtschaftsvertreter getroffen, der nicht sage, mehr Wettbewerb sei gut, außer in seinem Fall; Subventionen sei schlecht, außer in seinem Fall; und Transparenz und Kontrolle seien gut, außer in seinem Fall (Stiglitz 2003: 124 f.). Eine heiß umkämpfte Frage ist auch, wer im Verhältnis zwischen Unternehmen und Kapitalgebern oder Eigentümern – speziell Aktionären – wie viel zu sagen hat, wer hier wie viel Autonomie, Verfügungsgewalt, Entscheidungsgewalt hat (Hirsch 1986; Useem 1990, 1993, 1996; Davis 2005; Windolf 2005a; Zorn et al. 2005; Davis 2009a, 2009b; Dörre 2012). Wie weit soll die Macht von Kapitalmärkten und Kapitalmarktakteuren reichen, wie aggressiv dürfen sie ihre Interessen vertreten? Wo sollen ihr Grenzen gesetzt werden, wo beginnt die legitime Verteidigung von Unternehmensinteressen, von Autonomie des Managements oder von Erhaltung gesunder Grundlagen des Unternehmensoperierens? Auch hier können sich Autonomiekämpfe mit Ausstoßungskämpfen mischen: Wenn Aktionäre, Banken und Investmentfonds rücksichtslos ihre Druckmittel ausspielen und ihre Renditevorstellungen durchsetzen, kann dies in einen harten Ausscheidungs- oder Ausstoßungskampf zwischen Unternehmen münden, in dem diejenigen Unternehmen, die nicht gut genug abschneiden, in Übernahmeschlachten angegriffen, aufgekauft, umstrukturiert, zerschlagen oder erfolgreicheren Konkurrenten einverleibt werden. Neben Autonomie- und Ausstoßungskämpfen sind Expansionskämpfe prominent, also Versuche zur Ausweitung von Märkten und Erschließung neuer Märkte. Neue Marktfelder können etlichen anderen gesellschaftlichen Bereichen abgerungen werden, etwa der Bildung, Medizin, Familie, Religion oder Moral, die die Hand auf bestimmte materielle oder nicht-materielle Dinge halten. Marktakteure, die hier Profitchancen sehen, können versuchen, Zugang zu solchen Feldern zu gewinnen, eine marktmäßige Verteilung der entsprechenden
28Und
selbst wenn die Idee des perfekten Marktes nach neoklassischem Idealmodell – mit Walras’schem Auktionator, der Angebot und Nachfrage gegeneinander abgleicht – als Blaupause für die Einrichtung eines realen Marktes und Marktgebäudes dient, hier eines südfranzösischen Erdbeerauktionshauses, wird das Arrangement durch die beteiligen Akteure sofort wieder auf eigene Vor- oder Nachteile hin durchleuchtet und gedreht. Der Markt operiert in der Praxis nicht so, wie er es dem Modell nach sollte, vielmehr gibt es Absprachen und andere Abweichungen vonseiten sowohl der Anbieter, der Erdbeerbauern, als auch der Nachfrager, der Großhändler (Garcia-Parpet 2007).
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Güter durchzusetzen und staatliche oder moralische Blockaden dagegen aufzubrechen. Marxisten sprechen schon lange von einem unaufhaltsamen Trend zur Kommodifizierung – von dem Zwang, dass Märkte sich immer mehr von der Welt einverleiben und dem Verwertungsimperativ des Kapitals unterwerfen müssen (Burawoy 2007; Fourcade/Healy 2007; Cooper 2008; Crouch 2011). In der neueren Wirtschaftssoziologie wird dieses Problem meist ohne normative oder kritische Vorzeichen behandelt, wie diese sich generell nicht nur gegen den Strukturfunktionalismus, sondern auch gegen den Marxismus positioniert und kapitalismuskritische Töne allenfalls leise zu hören sind (Convert/Heilbron 2007). Bei den meisten Autoren dominiert eine offene, kulturalistisch oder institutionalistisch gefärbte Neugier für die Frage, wie Kommodifizierungsprozesse ablaufen: welche Interpretations- und Implementationsprobleme dabei auftreten, welche historischen oder kulturellen Kontingenzen dabei zu beobachten sind und wie der Prozess der Schaffung, Veränderung oder Beerdigung von Institutionen zu begreifen ist. Kommodifizierung kann dann als wertneutraler Begriff in rein deskriptiver Absicht verwendet werden, wie z. B. bei Beckert (2013), der Kommodifizierung im Sinn von „Wertmanagement“ einfach als eins von vier grundlegenden Problemen führt, die für die Konstitution von Märkten gelöst werden müssen. Heftige Expansions- und Einhegungskämpfe werden berichtet bei allem, was im Zusammenhang mit Urproblemen der menschlichen Existenz steht, also mit menschlichem Leben und Sterben, menschlicher Fortpflanzung, Gesundheit und Krankheit. Darf es Märkte für Blut, Organe, Samenzellen, Eizellen, Leihmutterschaften und Adoptivkinder geben, oder verstößt das gegen die Würde des Menschen und die Unantastbarkeit der Familie (Zelizer 1985; Healy 2006; Almeling 2007)? Aber auch so abstrakte und blutleere Dinge wie Lebensversicherungen und Finanzderivate können in dieselbe Zwielichtzone fallen: Es kann strittig sein, ob Lebensversicherungen ein Sakrileg und eine verdammenswerte Spekulation auf den eigenen Tod darstellen oder aber einen rationalen Akt finanzieller wie familialer Vorsorge (Zelizer 1979), und ob es sich beim Handel mit Finanzderivaten um Glücksspiel und kaltblütiges Zocken auf Kosten anderer handelt oder aber um einen integralen Bestandteil einer rational durchkalkulierten Geschäftswelt (MacKenzie/Millo 2003; MacKenzie 2006: 143ff.; Preda 2009; Goede 2014). Mit Blick auf die Natur- und Ökologieproblematik stellt sich die Frage, ob und wie der Wert eines natürlichen Biotops – oder umgekehrt: der Schadwert einer Umweltkatastrophe – sich in Geldsummen beziffern lässt und
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wie Märkte für Umweltverschmutzungsrechte funktionieren können (Thévenot/ Moody/Lafaye 2000; Levin/Espeland 2002; Fourcade 2011; Knoll 2012).29 Und auch im Bereich kultureller oder geistiger Güter – etwa bildender Kunst und Literatur – treten Kommodifizierungsprobleme auf: Ihre Eingliederung in Marktprozesse kann mit grundsätzlicher Skepsis gesehen werden, und Fragen der Marktplatzierung und Preisfindung werfen hier besondere Probleme auf (Weber 2000; Velthuis 2003, 2005).30 Der Staat ist bei all dem ein wichtiger Grenzwächter. Er kommt nicht darum herum, in solchen Kämpfen Partei zu ergreifen oder aber heikle Balancen und Gratwanderungen zu versuchen; er muss, sei’s sehenden Auges, sei’s blind und tastend, immer wieder Grenzziehungen und Grenzverschiebungen vornehmen. Er lässt sich dabei sowohl durch den Druck mächtiger Akteure beeinflussen als auch durch die Überzeugungskraft akademischer Theorien, etwa qua Propagierung einer neoklassischen Marktgläubigkeit, und meist durch beides in Verwicklung
29Im
ersten Fall geht es dann noch nicht um Marktbildung, sondern „nur“ um die monetäre Bewertung von ökologischen Schätzen oder Schäden. Diese Bewertung findet nicht auf Märkten, sondern etwa in Gerichtsverfahren statt, wo über zu zahlende Entschädigungen entschieden wird. Der Wert eines zerstörten Biotops kann dabei sehr unterschiedlich beziffert werden, in Abhängigkeit etwa von der Frage, ob Rechtsansprüche im Rahmen des Wirtschaftsrechts oder des Seerechts geltend gemacht werden, oder in Abhängigkeit von der Frage, ob Natur traditionell als Kollektivgut und gemeinsam zu nutzende Ressource verstanden wird oder aber als Wildnis und anzueignendes Eigentum (Thévenot/Moody/ Lafaye 2000; Fourcade 2011). 30Aber auch profanere Formen geistigen Eigentums wie Formeln, Algorithmen und Aktienindizes können komplizierte Fragen mit Blick auf die Exklusivität von Eigentum und die Möglichkeit marktlicher Verwertung aufwerfen. So stellt sich etwa die Frage, ob der Dow Jones, der wichtigste Aktienindex der New Yorker Börse, dieser Börse „gehört“, sodass die aktuellen Preisdaten deren Privateigentum sind und für externe Bekanntgabe und Verwendung gesperrt werden dürfen, oder ob diese Daten öffentlich verfügbares Wissen sind, das auch an anderen Orten – anderen Börsen oder börsenähnlichen Handelsplätzen – als Grundlage für den Handel mit Aktienoptionen und Aktienfutures benutzt werden darf (Abolafia 1996: 56 ff.; MacKenzie 2006: 170 ff.). In diesem Zusammenhang wird der interessante Fall eines Teilnehmers berichtet, der sich durch Zahlung eines Preises für ein vordem öffentlich verfügbares Gut die exklusiven Nutzungsrechte dafür sicherte: Der Chef der Chicagoer Terminbörse wollte Futures auf den Börsenindex S&P 500 anbieten und fragte bei Standard & Poors an, ob er dies gegen Zahlung einer Gebühr dürfe. Der Präsident von S&P fragte ungläubig zurück: „You want to pay me for something we’re giving away for free?“. Im Endeffekt war dies jedoch ein guter Deal, da er sich damit für längere Zeit das exklusive Recht sicherte, Futures auf diesen wichtigen Index zu handeln (MacKenzie 2006: 170 ff.).
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miteinander (Campbell 1998; Centeno/Cohen 2012). Auch scheinen staatliche Entscheider gern den Weg des geringsten Widerstands zu gehen: Sie wählen diejenige Theorie, die am leichtesten zu implementieren ist, oder diejenigen Maßnahmen, mit denen schmerzhafte Verteilungsentscheidungen auf „den Markt“ abgewälzt werden können. In diesem Sinn wird etwa gesagt, die US-Regierung habe die Regulierung von Kreditmärkten zurückgefahren und die US-Zentralbank von Geldmengensteuerung auf Zinssteuerung umgestellt, weil die Entscheider nicht die Verantwortung für unangenehme und unpopuläre Entscheidungen über den Zugang zu knappem Kapital auf sich nehmen wollten (Krippner 2011). Ähnlich wie Jasanoff und andere in der wissenschaftssoziologischen Diskussion sagen, Staaten und Gerichte würden in ihrer Entscheidungspraxis gern auf „objektive“, unanfechtbare wissenschaftliche Erkenntnisse verweisen, so stellt Krippner fest, dass Staaten und Zentralbanken sich ihre Entscheidungspraxis erleichtern, indem sie auf das Operieren des Marktes verweisen – und zwar mit demselben Zirkularitätsproblem, dass der Staat die „freien Märkte“, auf die er verweist, ja selbst mit definiert. Bei der Frage, wie viel an sozialer Ordnungsbildung dem Markt überlassen werden soll, darf oder kann, lauert im Hintergrund dieselbe Ambivalenz oder derselbe Zielkonflikt, der oben bei der Wissenschaftssoziologie angesprochen wurde. Auf der einen Seite steht der Impuls, bestimmte Entwicklungen der Sache nach kritisch zu sehen (Stichwort Neoliberalismus). Auf der anderen Seite steht der Impuls, theoretisch agnostisch zu sein in der Frage, was Märkte sind und tun; und von hier aus wäre Kritik an überschießender Kommodifizierung oder Vermarktlichung in unangebrachter Weise „essenzialistisch“, da sie ja ein eigenes Urteil in der Frage voraussetzt, was auf Märkte gehört und was nicht. Ein Ausweg kann in der Formulierung liegen, es sei ein Fehler anzunehmen, Marktförmigkeit sei immer die beste Lösung für Verteilungs- oder Bewertungsprobleme, der Markt sei per se die effizienteste Form. Diese Formulierung kombiniert eine vorsichtige Kritik an der Expansion von Märkten mit der konstruktivistischen Haltung, dass es keine einzig-richtige Lösung und keine absolut richtige Antwort auf diese Frage gibt. Und generell gibt ja die primär negativ bestimmte Auffassung, dass es nicht Effizienz ist, die für das Geschehen in Märkten und Unternehmen entscheidend ist, die Grundierung vieler wirtschaftssoziologischer Forschungen ab (siehe Kap. 1). In jedem Fall aber gilt, dass nichts falscher wäre als die Annahme, die Reichweite und Operationsweise „des Marktes“ sei irgendwie kategorial und im Wesen der Dinge festgelegt, etwa durch die Formel von der Allokation knapper Güter. Entgegen der Scheinklarheit dieser Formel liegt hier heiß umstrittenes Terrain, dessen Grenzen permanent neu gezogen und befestigt, verteidigt und verschoben
2.5 Vom Einfachen zum Komplexen: Die elastische Ordnung von Grenzen
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werden. Die Aufgabe des Wirtschaftssoziologen ist es, einen kühlen Blick auf dieses Schlachtfeld zu bewahren – und das kann eben nicht durch Berufung auf nur scheinbar ewige Universalformeln geschehen, sondern nur durch theoretische Zurückhaltung und ergebnisoffene Beschreibung der hin und her wogenden Kämpfe und prekären Gleichgewichte, die hier zu beobachten sind.
2.5 Vom Einfachen zum Komplexen: Die elastische Ordnung von Grenzen Die Anhänger des Theorems der Grenzarbeit und die Anhänger des Theorems der Grenzen –Systemtheoretiker – werfen sich gegenseitig fehlenden Sinn für Komplexität vor. Die einen sagen, die Systemtheorie habe ein hoffnungslos unterkomplexes, schematisches Bild von Grenzen (Knorr Cetina 1992; Callon 1998a). Sie überziehe die Welt mit ihrem Kästchendenken, dem gemäß alles klar auf die eine oder andere Seite falle: etwa all das Wissenschaft sei, wo es um Wahrheit gehe, all das Politik, wo es um Macht gehe, und all das Wirtschaft, wo es um Geld gehe. Denn die interessanten Fragen stellten sich ja genau dort, wo es Überschreitungen, Überschneidungen und umstrittenes Terrain gebe. Die Systemtheorie aber lebe in einer Entweder/Oder-Welt. Sie denke schematisch, essenzialistisch und kategorial und verdunkle damit gerade die interessanten Fragen. Die Systemtheorie kann aber auf ihre Weise ebenfalls sagen, der Gegenseite fehle der Sinn für Komplexität. Denn systemtheoretisch gesehen sind Grenzen – wie Systeme überhaupt – gerade Einrichtungen, die dazu da sind, mit der unendlichen Komplexität der Welt zurechtzukommen. Ohne Grenzen wäre jeder Sinnprozessor überfordert und überflutet angesichts der auf ihn einströmenden Eindrücke und Anforderungen. Es wäre kein geordnetes Leben möglich, und schon gar nicht kommunikativen Höchstleistungen, wie sie in der modernen Gesellschaft normal geworden sind; diese können sich nur in geschützten Sinnnischen entwickeln. Grenzen sind nicht – oder erst an später Stelle auch – strategisches Instrument zur Durchsetzung von Interessen oder zur Lösung von Legitimationsproblemen. Vielmehr sind Grenzen vorgängig nötig, um überhaupt so etwas wie Identitäten, Interessen, Strategien und Legitimationsprobleme entwickeln zu können. Ohne die Ordnungsleistung von Grenzen wären die Möglichkeiten sinnhaften Handelns sehr begrenzt. Man könnte zwar leben und überleben, aber man könnte keine Profitziele anpeilen, nationale Identitäten entwickeln oder Forschungsprojekte durchführen, und man würde überhaupt mit seinen Zielen, Erwartungen und Möglichkeitsprojektionen nicht sehr weit kommen. Unreduzierte Komplexität wäre nur weißes Rauschen; Komplexität kann
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nur durch Komplexitätsreduktion operationsfähig und steigerungsfähig gemacht werden.31 Und Grenzen gehören zu den wirkungsvollen Komplexitätsreduktionsund -steigerungsmitteln, da sie Filterfunktionen nach außen und Selbstordnungszwänge im Inneren verbinden. Die Klarheit und Sortierleistung der Grenze ist somit gerade nicht apriori und kategorial gegeben, sie muss erst erarbeitet und einer an sich offenen, überkomplexen Welt abgerungen werden. Wenn man so formuliert, scheint sich eine Art gemeinsamer Grund, ein Minimalkonsens aufzutun zwischen der Systemtheorie und dem Grenzarbeitstheorem: In beiden Fällen geht es um das Einziehen von Grenzen in eine Welt, die das nicht von sich aus erzwingt. Allerdings sind die Aufhängungspunkte oder Reduktionsgesichtspunkte für das Genzenziehen in beiden Theorieperspektiven recht verschieden. Kurz gesagt geht es im einen Fall um Notwendigkeiten des Sinnmediums, im anderen Fall um Interessen von Akteuren. Im einen Fall gibt es strukturelle Restriktionen und Eigendynamiken, ist im anderen Fall jede Rede von Sachzwängen bestenfalls geronnenes Ergebnis der letzten Aushandlungsrunde und schlimmstenfalls ein rhetorischer Trick zur Überlistung des Gegners. Weil Komplexitätsbearbeitung die „raison d’être“ von Systemgrenzen ist, sind diese auch für die Systemtheorie nicht wie mit dem Lineal und nicht für die Ewigkeit gezogen. Sie sind vielmehr selbst komplexe, voraussetzungsvolle, sinnförmige und deshalb immer weiche Gegebenheiten. Grenzen sind zwar Teil einer objektiven oder emergenten sozialen Realität und insofern „harte“ Gegebenheiten im Durkheim’schen Sinn.32 Sie sind aber nicht „hart“ im Sinn von historisch invariant, unwandelbar, ewig und wesenhaft. Ansonsten könnten sie ihre
31Alle
sozialen Ordnungsinstrumente gründen letztlich in der Notwendigkeit der Komplexitätsreduktion. Der Letztgrund der Geltung von Normen ist nicht deren Richtigkeit oder Begründetheit, sondern die Unmöglichkeit, fallweise und momenthaft die Erwartungen und Erwartungserwartungen der Beteiligten aufeinander abzustimmen (Luhmann 1972: 38 f.). Der Letztgrund des Erweises von Vertrauen ist nicht die Vertrauenswürdigkeit des Adressaten, sondern die Unmöglichkeit, mit einer offenen, möglichkeitsreichen Zukunft anders als im Modus des ungerechtfertigten Überziehens von Informationen zurechtzukommen (Luhmann 1989: 26 ff.). 32Härte heißt: Man kann mit ihnen zusammenstoßen und sich daran wehtun. Ein Beispiel dafür wäre die oben angesprochene Situation, dass Wissenschaftssoziologen sich als Zeugen oder Experten in einem Gerichtsverfahren wiederfinden und dann den strukturellen und situativen Zwängen des Rechtssystems ausgesetzt sind (Lynch/Cole 2005). Die operative Härte der Grenze zu den Massenmedien kann jeder Wissenschaftler leicht dadurch am eigenen Leib erfahren, dass er sich zu einem Radio- oder Fernsehinterview bereit erklärt und sich dem Zwang des minutengetakteten Sprechens unterwirft.
2.5 Vom Einfachen zum Komplexen: Die elastische Ordnung von Grenzen
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Aufgabe nicht erfüllen, eine unbegrenzt komplexe Welt bewältigbar zu machen. Die Komplexität der Welt kann durch sie nicht letztgültig abgeschnitten und gebändigt werden, diese kann vielmehr jederzeit „zurückschlagen“ und sich mit unverhofft auftretenden Entwicklungen bemerkbar machen.33 Die Grenze muss dies auffangen können, sie muss für geänderte Bedingungen, Ereignisse und Reflexionslagen offen bleiben. Genauso wie im Bereich der Physik ein hartes, sprödes Material unter Belastung leicht bricht und ein weiches, biegsames Material hohen Belastungen besser standhält, so gilt auch im Bereich des Sozialen, dass Grenzen weich und anpassungsfähig sein müssen, aufnahmefähig für neue Umstände und unvorhergesehene Problemlagen, für Anreicherung mit Nuancen und historischen Erfahrungen. „[B]oundaries pulse with energy“, formuliert Roger Friedland (2002: 384). Oder, weniger metaphorisch formuliert: Grenzen können nur in Systemen gezogen werden, und Systeme reagieren dabei immer auch auf ihren eigenen historischen Zustand, auf angesammelte Erfahrungen und akute Problemlagen. Ein System ist keine Trivialmaschine, sondern allenfalls eine historische Maschine. „Grenzen können als hinreichend bestimmt gelten, wenn offen bleibende Probleme des Grenzverlaufs oder der Zuordnung von Ereignissen nach innen und außen mit systemeigenen Mitteln behandelt werden können“, schreibt Luhmann (1984: 54).34 Das System tut dies nach Maßgabe seiner eigenen Komplexität und der Komplexität seiner Umwelt, es entwickelt Strategien, um mit seiner Umweltlage zurechtzukommen. Für die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft heißt das, dass sie sich auf die Existenz anderer Funktionssysteme einstellen müssen. Sie müssen lernen, mit ihrer nur sektoralen Existenz zurechtzukommen, nach dem historischen Bruch gegenüber früheren Gesellschaftsordnungen, wo alle Strukturen vielseitig relevant und in einer kosmischen Ordnung gehalten waren (Luhmann 1977: 242 ff.). Sie sind jetzt nur noch
33„In
gewissem Sinne beruht demnach alle Struktur auf Täuschung – auf Täuschung über die wahre Komplexität der Welt“, schreibt Luhmann (1970d: 120). (Vgl. Luhmann 1984: 390 f.; vgl. auch Knight 1921: 205 ff.). 34Luhmann illustriert dies am Beispiel von Grenzen der Gesellschaft im Ganzen. Gesellschaft ist alles, was Kommunikation ist; aber dafür ist es nicht notwendig, dass in einem absoluten Sinn und für einen Außenbeobachten fraglos eindeutig festgelegt ist, was nun Kommunikation ist und was nicht – ob das Bellen von Hunden, der Flug von Vögeln, das Augenverdrehen von Komapatienten oder misslaunigen Familienmitgliedern darunter fällt oder nicht. Vielmehr genügt es, wenn diese Fragen in der Kommunikation selbst geklärt werden können – wenn „das Gesellschaftssystem […] durch Kommunikation entscheiden kann, ob etwas Kommunikation ist oder nicht“ (Luhmann 1984: 54).
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ein Schnitt durch die Welt, die andere Schnitte kennt und zulässt. Das bedeutet Freiheit ebenso wie Beschränkung, nämlich Beschränkung auf die eigene Kompetenzsphäre und Freisetzung zu eigener Bestimmung und Raffinesse.35 Was die Haltung gegenüber anderen Funktionssystemen angeht, so stellt sich eine Mischung ein aus Ignoranz im Allgemeinen, Toleranz für Wunderlichkeiten außerhalb der eigenen Tore und punktueller Aufnahme von Anregungen und Irritationen. Sich hier einzurangieren, wird historisch immer besser gelingen, mit der zunehmenden Erfahrung, die man mit dieser neuen Welt gesellschaftlicher Ordnung macht. Vor diesem Hintergrund muss es verstanden werden, wenn die Systemtheorie die Identität von Funktionssystemen anhand von Codes oder Kommunikationsmedien angibt. Codes sind nicht, wie in der Kreuzworträtselvariante von Systemtheorie, absolut eindeutige und klinisch saubere „Schubladen“, in die die Welt zerfällt; vielmehr sind sie nur eine Abkürzung für ständig ablaufende Prozesse der Grenzjustierung.36 Codes sind Insofern-Abstraktionen: Etwas ist im System
35Im
Wechselverhältnis verschiedener Seiten fallen (Selbst-)Beschränkung und Freisetzung zusammen: „Freiräume entstehen zunächst durch die Tendenz zur Selbstrestriktion, die dem Prozeß der Ausdifferenzierung eines jeden der gesellschaftlichen Funktionssysteme […] eigen ist. Selbstrestriktion heißt, daß zunehmend die Umwelt nur noch in sehr spezifischen, durch den Bezug auf die eigene Funktion bestimmten Hinsichten interessiert und damit Indifferenz die Regel wird. Diese Indifferenz wird andernorts als Freiheit erfahren und als Gelegenheit zur Ausgrenzung der eigenen Funktion.“ (Stichweh 1984: 42). 36An der Verbreitung der Kreuzworträtselvariante oder Erstsemestervariante ist Luhmann indes nicht ganz unschuldig, da er in der Tat deutlich mehr Wert auf das Ausbuchstabieren systeminterner Logiken und Prozesse gelegt hat als auf das Nachzeichnen von ZwischenSystem-Beziehungen. Das ist zwar mehr eine Frage der Blicksteuerung als eine Frage des Prinzips, ist aber gemessen an der Zahl der verwendeten Buchseiten doch ein drastisches Ungleichgewicht. In „Die Wissenschaft der Gesellschaft“ beispielsweise hängt Luhmann zwar anwendungsbezogene Forschung – mithin Leistungsbeziehungen zwischen Wissenschaft und anderen Funktionssystemen – einerseits sehr hochrangig auf, er rangiert sie gewissermaßen als die eine Hälfte der Wissenschaft ein, neben Grundlagenforschung, die nicht minderwertig oder sekundär sei gegenüber dieser und auf dem Reputationsmarkt und in der Reflexionstheorie zu Unrecht abgewertet werde (640 ff.). Andererseits wird das aber nur verbal postuliert und ansonsten in dem Buch nicht eingelöst. Luhmann schreibt dazu etwa zwölf Seiten (in einem Buch mit 600 Seiten) und rezipiert keine wissenschaftssoziologische Forschung zur Problematik von Anwendungsforschung und Anwendungsfeldern. In der Sekundärliteratur kann dieses Ungleichgewicht allerdings korrigiert werden, indem „Wahrheit“ und „Nützlichkeit“ von Wissenschaft, oder Funktion und Leistung, gleichrangig nebeneinandergestellt werden (Kaldewey 2013).
2.5 Vom Einfachen zum Komplexen: Die elastische Ordnung von Grenzen
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relevant, insofern es unter dem Code wahr/unwahr, Zahlen/Nichtzahlen, Recht/ Unrecht, immanent/transzendent usw. auftaucht (Luhmann 1986: 79 f.). Aber ob und in welchem Sinn das der Fall ist, liegt eben nicht immer sofort auf der Hand, sondern muss oft genug erst herausgearbeitet werden, und zwar nicht schematisch anhand eines idiotensicheren Kriteriums, sondern mit Verstand, Vernunft und Situationssensibilität. Codes sind Sinngrenzen und ebenso weich und plastisch wie das Sinnmedium selbst. Sie müssen sich auch dann noch bewähren, wenn Lagen zu unberechenbar, verzweigungsreich und historisch wandelhaft sind, als dass sie in ein einzelnes, glasklares Kriterium gepackt werden könnten. Und das war ja auch der Grund, warum Collins und Evans den Begriff der Ankerintention eingeführt haben – mithin einen weichen, dehnbaren, nicht-kriterienhaften Begriff –, um Politik von Wissenschaft und Kunst von Kommerz unterscheiden zu können. Betrachten wir eine Stelle von Luhmann, in der es um das Verhältnis von Wirtschaft und anderen Funktionssystemen geht. Luhmann stellt fest, dass mit der Durchsetzung der modernen Geldwirtschaft die Zahl der käuflichen Dinge steige, aber gleichzeitig auch vermehrt Dinge der Käuflichkeit entzogen würden, indem „andere Funktionssysteme […] ihre eigenen Funktionen der Preiskalkulation entziehen, etwa Seelenheil oder Eheglück oder politische Ämter“. Dies gelte „sehr im Unterschied zu Gesellschaften mit nicht voll ausdifferenzierter Ökonomie, wo man für Geld so gut wie alles kaufen kann: auch Freunde und Frauen, auch Seelenheil und politischen Einfluß und sogar Staaten, auch Steuereinnahmen, Kanzleitaxen, Adelstitel usw.“ (Luhmann 1988a: 111, 239). Abgekürzt gesehen ist das ein formelhaftes und schematisches Sortieren: Wirtschaft in das eine Töpfchen, Religion in ein anderes, Politik in ein wieder anderes. Bei näherer Betrachtung tut sich hier indes ein ganzer Strauß von Fragen auf. Es ist keineswegs selbstverständlich und kategorial vorentschieden, warum gerade diese Dinge dem geld- und marktmäßigen Zugriff entzogen werden. Warum darf etwa Seelenheil nicht käuflich sein, aber Bibeln und Monstranzen, Baugrund und Marmor für den Kirchenbau dürfen es? Man könnte ja ebenso gut sagen: Dem Wort Gottes wird Gewalt angetan, wenn es in die Hand und die Druckmaschinen profitorientierter Verlage gelegt und von profitorientierten Buchhändlern verkauft wird; das Wort Gottes muss – wie seine Liebe – kostenlos und frei für alle verfügbar sein. Oder man könnte ein Problem darin sehen, wenn kirchlicher Grund der Welt der Immobilienspekulation anheimfällt, und könnte statt dessen darauf warten, dass Gott einem den Bauplatz für Kirchen anweist und Marmor vom Himmel herabregnen lässt. Codes dienen also nicht einem schematischen und blinden Sortieren und wären dafür gar nicht trennscharf genug. Vielmehr leiten sie einen Prozess des
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Abtastens von Relevanzen und Justierens von Toleranzen an, in dem herausgearbeitet wird, welche Berührungen zwischen verschiedenen Sinnsphären tragbar sind und welche nicht, was unverhandelbare Kernbestände eines Funktionssystems und was hinreichend äußerliche Zutaten sind, die das Fungieren in anderen Codebereichen verkraften. Diese Diskriminierungsleistung muss in jedem Funktionssystem selbst erbracht werden, sie muss Rücksicht auf Kontextbedingungen und situationsspezifische Sensibilitäten nehmen und kann deshalb nur zu historisch indexierten Antworten führen. Was geht und was nicht geht, ist gerade nicht „kategorial“ festgelegt, sondern kann nur in historischen Prozessen und in Reaktion auf gegebene Umstände geklärt werden – so weit hat das Grenzarbeitstheorem mit seiner Betonung auf Kontingenz und Situiertheit Recht. Grenzen hören deswegen aber nicht auf, emergente Strukturen zu sein, eine „harte“ Realitätsschicht mit eigenen Restriktionen und Entwicklungslinien. Sie können nicht auf die interessierte Grenzarbeit von Akteuren reduziert werden, obwohl sie diese zweifellos mit umfassen und ermutigen. Man würde dem Verlauf der Grenze zwischen Wirtschaft und Religion nicht gerecht werden, wenn man feststellen würde, dass irgendwann einmal ein Bischof mit einem Verlag oder einem Immobilienhai gekungelt hat. Denn sicher hätte er auch mit einem Anbieter von Online-Ablasshandel kungeln können, wenn dies durch seine religiöse Sinngebung nahegelegt worden wäre.37
37Es
ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass Randall Collins von ganz anderen gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen aus zu einer recht ähnlichen Liste von Dingen kommt, die der Käuflichkeit entzogen sind. Nach Collins ist das kapitalistische System eine „Marktgesellschaft“, („omni-market society“), die prinzipiell alles zur Ware macht, abgesehen von Folgendem: Liebe/sexuelles Eigentum; Ämter und hoheitliche Befugnisse; Menschen/Sklaven. Collins interpretiert dies als eine Art dialektische Negationsnotwendigkeit: Es handle sich um die zentralen Güter der historisch vorhergehenden Gesellschaftsformen, die deshalb in der späteren Formen einen Sonderstatus hätten. „It is striking that in modern capitalism everything is commodified except the central commodities of the previous systems. The elaborate exchanges of sexual property, which constituted the center of kinship-exchange systems, now are taboo within our own market system. […] Slavery too, once the central commodity of a large-scale system of exchange, is now very strongly prohibited. […] Also taboo have become the typical forms of superordinate structure in agrarian-coercive politics: the venality of office, the sale of military commissions, tax farming, and the like. As if the Hegelian logic of negation applies, the main form of property of previous systems becomes negated and is superseded by a later form“ (Collins 1990: 132 f.). Im Vergleich dazu wirkt der schiere Verweis auf kulturelle Kontingenz und Faktorenvielfalt, wie er im wirtschaftssoziologischen Diskurs üblich ist, doch etwas dünn: „What can be owned? Different societies give different answers, but none permits everything to be owned. The inclusion of new objects or the exclusion of old ones is a process variably shaped by political, cultural, economic, and technological factors.“ (Carruthers/Ariovich 2004: 25).
2.5 Vom Einfachen zum Komplexen: Die elastische Ordnung von Grenzen
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Wenn Systemtheorie eine Theorie für eine unordentliche Welt ist, die sich selbst ordnen muss, dann ist der naheliegende nächste Gedanke: Das braucht Zeit. Grenzen bauen – wie alles anderes auch – ihr Komplexitätsbewältigungspotenzial erst mit der Zeit auf. Sie fallen nicht mit einem Schlag vom Himmel, sondern bilden sich in einem langen historischen Prozess heraus. Das gilt schon für Grenzziehungsprinzipien vormoderner Gesellschaften, etwa für die Entwicklung von Abstammungsgruppen zu symbolisch unterschiedenen Clans oder für die Herausbildung diffiziler Status- und Privilegienordnungen zwischen Schichten. Es gilt ebenso für den hier interessierenden Fall des Auseinanderziehens verschiedener funktionaler Sphären in der modernen Gesellschaft. Dabei fallen zwei Entwicklungsmuster auf, die in den letzten zwei bis drei Jahrhunderten mehr oder weniger parallel – wenn auch natürlich mit dem üblichen hohen Maß an Ungleichzeitigkeit – an vielen Inter-Funktionssystem-Grenzen zu beobachten sind. Erstens kommt es zur Auflösung allzu einfacher, direkter, unbefangener Verbindungsformen oder Zwischenformen und zu ihrer Ersetzung durch komplexere, vermitteltere und zerrissenere Formen des Leistungstransfers. So verschwindet im Zwischenbereich zwischen Wissenschaft und Wirtschaft der freie Erfinder des 19. Jahrhunderts und wird durch den institutionellen Riesenkomplex des R&D mit all seinen Spannungen, Loyalitäts- und Zielkonflikten ersetzt. Ebenso verschwinden politisch-ökonomische Zwittereinrichtungen wie Kolonialgesellschaften und machen Platz für sehr viel verschlungenere, intransparentere und wirkunsicherere Formen der globalen Unternehmensförderung durch Staaten oder der globalen Kriegführung mit wirtschaftlichen Nebeninteressen. Zweitens kommt es zur Abschwächung allzu direkter, plumper Kollisionen und zur Steigerung von Koexistenzfähigkeit, indem Funktionssysteme sich auf eine polykontexturale Welt mit einer Vielzahl divergenter Sinnsphären einzustellen lernen. Wo etwa in der Frühmoderne Wissenschaft und Religion über Welterklärungsfragen heftig aneinandergeraten konnten, hat sich heute über weite Strecken ein Verhältnis freundlicher Indifferenz eingespielt. Und wo die moderne Geldwirtschaft zunächst als Gefahr und ultimative Herausforderung für intime oder uneigennützige Beziehungen, nämlich Freundschafts- und Liebesbeziehungen galt, besteht heute ein selbstverständliches Nebeneinander dieser beiden Beziehungsmodi, die kaum mehr durch Auslöschungsfurcht getrübt ist. Beide Entwicklungsmuster entsprechen dem allgemeinen morphologischen Gesetz des Aufbaus von Komplexität: vom Einfachen zum Komplexen. Es gibt mithin eine strukturelle Drift in der Entwicklung von Grenzen; es herrscht keineswegs einfach quirlige, situative Kontingenz, sodass man sich stets nur in die Umstände des Einzelfalls vertiefen muss, wie Gieryn sagt: „One must look into the contingencies of each local and episodic contest […] in order to find out what
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science [or markets] becomes then and there“ (Gieryn 1999: 25). Vielmehr gibt es ein hohes Maß an Ordnung und Intelligibilität in der historischen Entwicklung von Grenzlinien. Das wird im Folgenden anhand von mehr oder weniger selektiv herausgegriffenen Beispielen aus der Geschichte der modernen Wissenschaft und der modernen Geldwirtschaft illustriert. Das Grenzarbeitstheorem verweist auf Geschichte, um zu zeigen: Alles ist kontingent, nichts ist notwendig und universell, alles war zu anderen Zeiten anders und könnte auch jetzt anders sein. Im Gegensatz dazu soll hier der Blick auf Geschichte verwendet werden, um zu zeigen: Es gibt Ordnung in der Kontingenz. Wären Grenzen nur die Resultante des Handelns interessierter Akteure und des Zusammenwirkens situativer Einflussfaktoren, dann wäre ein viel höheres Maß an Unordnung in der historischen Entwicklung von Grenzen zu erwarten, als tatsächlich zu beobachten ist.38 Im Diskurs der Spezialsoziologien wird das Denkmögliche explizit oder implizit auf zwei konträre Pole aufgeteilt. Entweder man geht von quasi ontologisch fixierten, nach „absoluten“, „universellen“, „transzendenten“ Kriterien gezogenen Grenzen aus – eine Position, die den Fachdisziplinen und eben auch der Systemtheorie zugerechnet wird. Oder man stellt die Grenze ganz dem strategischen Agieren und Manövrieren von Akteuren und den Unwägbarkeiten situativer Konstellationen anheim. Es gibt aber etwas zwischen diesen beiden Polen. Man kann sagen: Grenzen sind elastisch und doch real. Jede vernünftige Differenzierungstheorie, die nicht ihre eigene Karikatur sein will, wird sich Grenzen als elastisch, kontextsensibel und historisch variabel vorstellen. Damit Grenzen ihre Aufgabe erfüllen können – Weltbewältigung durch Komplexitätsreduktion –, dürfen sie nicht auf allzu drastische Vereinfachungen zusammengezogen werden. Nur wenn man dem Trugschluss aufsitzt, Grenzen müssten die Form eines einfachen, idiotensicheren Kriteriums haben, kommt man zu dem Schluss, dass Grenzen eigentlich gar nicht existieren.
38Dies
ist dieselbe Argumentationslogik, mit der der Neoinstitutionalismus der Stanforder Schule die Existenz einer Strukturebene namens „Weltkultur“ begründet: Wenn ausschließlich Akteure, Interessen und lokale Bedingungen am Werk wären, wäre eine sehr viel größere Diversität in den Strukturen von Staaten rund um den Globus zu erwarten und wäre die enorme Isomorphie, die an diesem Punkt zu beobachten ist, nicht zu erklären (Thomas et al. 1987; Meyer 2005).
2.6 Von einfachen zu komplexen Kopplungen
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2.6 Von einfachen zu komplexen Kopplungen Vom Erfinder zum R&D – vom Gelehrten Rat zur Politikberatung Grenzen ohne grenzüberschreitende Austauschprozesse sind in einer funktional differenzierten Ordnung nicht denkbar. An manchen Grenzen ist dieser Austausch stärker und unverzichtbarer als an anderen, da manche Funktionsbereiche durch besonders intensive Leistungsbeziehungen aneinander gekoppelt sind – wie beispielsweise Bildung enger an Familie gekoppelt ist als an Recht, oder Wissenschaft enger an Wirtschaft gekoppelt ist als an Kunst. An solchen Stellen bilden sich schon früh im Ausdifferenzierungsprozess Einrichtungen für den Leistungstransfer heraus, oder es werden alte, aus früheren Gesellschaftsformen ererbte Formen übernommen und weiterentwickelt. Solche Einrichtungen sind zunächst oft ganz einfach und direkt, etwa auf die Fassungskraft einer Einzelperson zugeschnitten. Diese frühen Formen zerfallen dann unter dem Druck der zunehmenden Separierung und Eigenrationalisierung der Funktionssysteme. Sie geraten in den Sog hochgetriebener Eigenrationalitäten von zwei oder mehr Seiten, und an die Stelle individueller Vermittlungsleistungen treten komplexere, institutionell vermittelte und stärker dual aufgehängte Schnittstelleneinrichtungen. Vom Fokussystem Wissenschaft aus lässt sich dieser Trend vor allem an den Schnittstellen zu Wirtschaft und Politik beobachten. Ein plastisches Beispiel liefert die Figur des Erfinders, die im Zeitalter der Industrialisierung, also im 18. und 19. Jahrhundert, prominent war. Der Erfinder übersetzte die durch die moderne Naturwissenschaft erschlossenen Möglichkeiten der Weltbeherrschung in kommerziell verwertbare Technologien, und er führte dabei als „geniale“ oder jedenfalls innovative Einzelperson gewissermaßen eine autonome Existenz zwischen Wissenschaft und Praxis. Es wird häufig notiert, dass viele erfolgreiche „Mechaniker“ dieser Zeit Männer der Praxis waren, die keine akademische Ausbildung hatten und ihre Erfindungen ohne Ankopplung an wissenschaftliche Forschungskontexte machten – während umgekehrt die akademische, noch durch die Form der adligen Muße inspirierte Wissenschaft sich vornehm von allem fernhielt, was einem industriellen Produktionskontext hätte ähnlich sehen können (Fuller 1997: 29; Gieryn 1999: 51 ff.). „Zwischen industrieller Innovation und Wissenschaft stand mit dem Erfinder eine eigenständige Figur, die ihre Legitimität nicht der Wissenschaft verdankte“ (Stichweh 2003a: 19). Praktisch gesehen war der Erfinder weniger an einer Überlappungsstelle zwischen zwei Systemkontexten angesiedelt als in einer Art fruchtbarem Niemandsland dazwischen – weniger in einem überdeterminierten Überschneidungsraum als in einem unterdeterminierten Freiraum.
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Ab etwa 1900 wurde das Problem der Generierung kommerziell verwertbarer technologischer Innovationen dann zunehmend angesaugt von den Kraftfeldern der sich konsolidierenden Funktionssysteme Wissenschaft und Wirtschaft, sowie von ihren Organisationen, Universitäten und Unternehmen. Nach der Übergangsform der Beratung von Industrieunternehmen durch universitäre Fachleute bildete sich die heute prominente Form des R&D heraus: Unternehmen unterhalten eigene Forschungseinrichtungen und rekrutieren dafür universitär ausgebildetes Personal, gehen aber in Programmierung und Kommunikationskreisläufen eigene Wege, indem sie sich etwa stärker auf das System von Patentanmeldungen als auf das System wissenschaftlicher Veröffentlichungen orientieren (Stichweh 1984, 2006b).39 Der ursprünglich mit sich selbst identische Erfinder wird aufgespalten in eine komplexe Gemengelage aus Karrieren, Kooperationsbeziehungen, Rollen- und Zielkonflikten. Der Leistungsaustausch wird auf die Form Organisation umgestellt. Die Form Person genügt nicht mehr, um die Spannungen zu vermitteln, die Austauschprozesse werden auf Ebenen mit mehr Komplexitätsfassungskraft – Organisationen und Programme – verlagert (Heinze 2005). Man kann auch sagen: Hybridformen wie R&D werden überhaupt erst im starken Sinn zu Hybridformen, indem sie ihre ursprüngliche, „unschuldige“ Einheit verlieren und als Mischungen oder Überlappungszonen von zwei divergierenden Funktionslogiken wiedergeboren werden. Das mag generell für manche Phänomene die bessere Beschreibung sein. Nicht: Etwas, was vorher getrennt war, wird vermischt oder hybridisiert. Sondern: Etwas, was vorher einfach da war und mit sich selbst eins war, gerät in den Sog verschiedener, je für sich rationalisierter Systeme und wird dadurch zum Hybridwesen oder Zwischenwesen. Dieses Phänomen des Einsaugens vordem „freier“ Sozialformen in das Gravitationsfeld von
39Auch
die Dualität dieser beiden Dokumentations- und Publikationssysteme – wissenschaftliche Publikationen vs. Patente – entwickelte sich erst mit der Zeit, während in früheren Phasen andere Möglichkeiten bestanden, den hier involvierten Zielkonflikt zwischen Veröffentlichung und Geheimhaltung, zwischen der „Kommunismus“norm der Wissenschaft und der Privateigentumsnorm der Wirtschaft zu lösen. So konnten im 17. und 18. Jahrhundert Forscher ihre Ergebnisse bei Wissenschaftsakademien dokumentieren lassen, um die Priorität ihrer Entdeckung zu etablieren, ohne sie aber zu veröffentlichen. „It was common at this period for the scientist to establish his priority, whilst keeping vital knowledge secret; this could be done by the deposition of sealed notes, or publication in code, or as an anagram. One example is the deposition by Lavoisier of a sealed note with the secretary of the French Academy in 1772. His early thoughts on the nature of combustion could thus gain priority without any advantage being yielded to the rival English“ (Barnes/Dolby, R. G. A. 1970: 15).
2.6 Von einfachen zu komplexen Kopplungen
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Funktionssystemen lässt sich wiederholt aufzeigen, auch über die Fälle Wissenschaft und Wirtschaft hinaus. Ein gutes Beispiel ist Sexualität. Während es in vielen vormodernen Gesellschaften sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe als unproblematische und moralisch unstigmatisierte Praxis gibt, gerät Sexualität mit der Herausbildung des modernen Komplexes romantischer Liebe – d. h. mit der Ausdifferenzierung eines Funktionsbereichs für Intimbeziehungen – in dessen Einzugsbereich (Luhmann 1982, 2008). Freie Sexualität verschwindet oder wird prekarisiert, sie erhält einen dubiosen, anrüchigen, marginalen Status, von dem sie sich nicht wieder erholt hat.40 Dasselbe gilt, mutatis mutandis, für traditionelles Erfahrungswissen wie das von Kräuterweiblein oder Hebammen. Dies sind Rollen, die es vor dem Heraufziehen der modernen Gesellschaft einfach gab, die einen offensichtlichen Bedarf befriedigten und deren Existenz und Status unproblematisch war. Mit der Ausdifferenzierung der modernen Wissenschaft und der wissenschaftsbasierten Medizin geraten sie in deren Gravitationsbereich und mutieren zu minderwertigen, nicht voll legitimen Zweitausgaben von Medizinspezialisten, nämlich Ärzten (Abbott 2005: 256). Traditionsheiler erhalten einen Geschmack des Unseriösen und Esoterischen, sie werden zu Pseudo-Wissenschaft degradiert und mögen zum Ausgleich an Religion andocken, um sich wenigstens für ein Nischenpublikum wieder attraktiv zu machen. Hebammen wiederum sind zwar als Berufsgruppe anerkannt, haben aber einen eigentümlichen Neben-, Zweit- und Defizit-Status neben Gynäkologen, die allein als vollwertige medizinische Betreuung geburtshilflicher Probleme gelten, und nehmen in der Krankenhaushierarchie eine eigentümliche Zwischenstellung zwischen Ärzten und Krankenschwestern ein. Aber auch die Profession der Mediziner selbst stellt, wenn man weit genug zurückgeht, einen Fall von „Eingemeindung“ ins moderne Wissenschaftssystem dar, ebenso
40Zur
Vielfalt der historisch bekannten Formen außerehelicher Sexualität gehören etwa die Hetären des antiken Griechenland, die Orgien des antiken Rom oder die Konkubinen des frühmodernen Europa Schenk (1987). In der Jetztzeit gibt zwar immer wieder Ansätze zur „Befreiung“ der Sexualität, etwa das Konzept der offenen Beziehung aus den 1970er Jahren oder heute diskutierte Äquivalente wie Polyamorie oder „friends with benefits“ (Leupold 1983; Hughes/Morrison/Asada, Kelli Jean K. 2005; Bisson/Levine 2006). Diese führen aber eher eine Nischenexistenz und kommen gegen das dominante Konzept von romantischer Liebe-cum-Sexualität nicht an. Eher ist umgekehrt zu beobachten, dass auch im Bereich homosexueller Liebe, wo wegen der Schatten- und Szenenexistenz freie, bindungslose Sexualität lange Zeit relativ verbreitet war, mit zunehmender Normalisierung und Legalisierung auch die üblichen Beziehungsmuster und Beziehungsverläufe sich einschleifen (Giddens 1992: 50 f.).
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wie die anderen klassischen Professionen Jura und Theologie (Stichweh 2005). Im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit waren die Professionen als freie Formen der Gelehrsamkeit und als eigenständige Korporationen etabliert – deutlich früher als die moderne empirische Wissenschaft und unabhängig von ihr. Mit der Entwicklung der Universitäten zu Horten der Wissenschaft wurden sie letzterer anverwandelt: Sie waren genötigt, sich als Wissenschaften zu formieren, und zwar auch hier um den Preis, dass sie nun als so genannte „Praxiswissenschaften“ – wieder eine Art nachträgliche Hybridform – eine eher nachrangige Stellung haben, während sie in der frühmodernen Universität eine führende Stellung einnahmen und den paradigmatischen Fall gelehrten Wissens abgaben. Im Verhältnis von Wissenschaft und Politik läuft ein analoger Prozess des Zurücktretens einfacher, direkter Kopplungsformen ab. Das frühmoderne Europa, bis zum Absolutismus des 18. Jahrhunderts, kannte Vorläufer heutiger Politikberatung unter dem Titel des „gelehrten Rates“ (Stichweh 2006b). Der Fürst umgab sich mit kundigen Personen und suchte an deren Wissen teilzuhaben, wobei dieses Wissen teils in allgemeiner Lebenserfahrung, teils aber auch in universitärer Bildung bestand. Solche Beratung war gleichzeitig ein Akt des Einfließens akademischen Wissens in den politischen Entscheidungsprozess und ein Akt ständischer Interessenvertretung, da die Ratgeber nicht nur ihr Wissen, sondern auch ihre standes- und standpunktabhängige Meinung kundtaten und zwischen beidem nicht scharf unterschieden wurde. „Im Rat werden Interessen repräsentiert […] [und darin] verwirklicht sich die einzig zeitgenössisch legitime Form von politischer Partizipation. Auf diese Weise wird zugleich Wissen […] in den politischen Prozess eingebracht“ (Stichweh 2006b: 101). Diese unmittelbare Einheit des Einbringens von Wissen und Interessen wird später aufgespalten in zwei strukturell getrennte und nur noch auf prekäre Weise gekoppelte Inputprozesse des politischen Systems. Interessenartikulation nimmt jetzt den Weg über Wahlen, Parteien, Verbände und soziale Bewegungen, während Wissensinput über wissenschaftliche Stäbe, Beiräte, Experten und Gutachten läuft. Nicht dass Vermischungen zu hundert Prozent verschwinden, aber sie verwandeln sich in eine Problem- und Dunkelzone. Sie werden in gewisser Weise wiederum zu nachträglichen und misstrauisch beäugten Vermischungen von etwas, was in früheren Phasen selbstverständlich zusammengehörte. Dass Experten kaum je völlig unparteisch sind, ist jetzt ein Dauerproblem, und Expertenkommissionen müssen wenigstens ansatzweise mit in dieser Hinsicht heterogenen Personen besetzt werden und verlieren sonst ihre Legitimität und epistemische Autorität (Briggle 2009). Umgekehrt ist die verbreitetste Sichtweise
2.6 Von einfachen zu komplexen Kopplungen
91
auf lobbyistische Aktivitäten in der Demokratietheorie wie in der demokratischen Praxis die, dass Lobbyismus nichts Schlimmes ist, soweit Interessen klar als solche formuliert und nicht in gebiasten Sachinformationen versteckt werden. Die wissenschaftssoziologische Dauerkritik an der nur scheinbaren Objektivität und Neutralität der Wissenschaft, an der Komplizenschaft zwischen Wissen(schaft) und Macht, kann als ein Teil dieses Sortierprozesses betrachtet werden. Experten können nur dann „Komplizen“ der Macht sein, wenn beides erst einmal getrennt ist, sodass Mischungen als eine Art Korruption gesehen werden – wie es ja auch nur dann „Hochstapler“ geben kann, wenn echte Kompetenz und bloße Zuschreibung von Kompetenz samt Akzeptanz durch ein gutgläubiges Publikum zwei verschiedene Dinge sind und nicht unmittelbar zusammenfallen (Collins/ Evans 2007: 54 ff.). Im 19. Jahrhundert fand sich als Übergangsform der Kopplung von politischen Überzeugungen und akademischen Wissensschätzen weiter die Spezies des „politischen Professors“ (Schwabe 1969: 10 f.). Der Professor wurde, in seiner Eigenschaft als hochgebildeter und statushoher Zeitgenosse, dann auch als Autorität in politischen Fragen gesehen und nahm eine herausgehobene Stellung im Kreis der Bürger in Anspruch. Solche Rollenkopplungen und Statusübertragungen sind heute gleichfalls stark abgeschwächt. Punktuell kann man mit dem Professorentitel in der politischen Arena Eindruck zu machen versuchen, etwa beim Unterzeichnen von Petitionen, aber jedenfalls gibt es keinen automatischen Zusammenhang zwischen akademischem Titel und politischer Urteilsfähigkeit mehr. Auch gibt es für die Anfang des 20. Jahrhunderts prominente Bewegung der Kathedersozialisten kein heutiges Äquivalent. Speziell für Sozialwissenschaftler gab es hier eine Rollenkopplung dergestalt, dass aus der wissenschaftlichen Kenntnis der Gesellschaft dann auch politischer Änderungswille und Parteigängertum abgeleitet wurden (Stichweh 2006b: 107 f.). Davon ist allenfalls noch eine diffuse Neigung vieler Sozial- und Geisteswissenschaftler nach links geblieben, ohne dass aber nennenswerte politische Bewegungen auszumachen wären. Bei Naturwissenschaftlern sind Bezüge zwischen wissenschaftlichen und politischen Engagements ohnehin unwahrscheinlicher. Aber auch wo es sie gibt – etwa wenn es um Rüstungsforschung geht –, wird die individuelle Kleinarbeitung des Problems, die individuelle Verweigerung der Mitarbeit an entsprechenden Forschungsprojekten als ungenügend und dem Problem nicht gerecht werdend gesehen: „Der Appell an die Moral des einzelnen Wissenschaftlers ist häufig eine Verlegenheit oder ein Ausdruck der Verzweiflung, an den institutionellen
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Bedingungen der Wissenschaftsentwicklung nichts ändern zu können.“ (Böhme 2004: 15).41 Ein Zurücktreten von direkten, griffigen Kopplungen lässt sich schließlich auch an der Schnittstelle der Wissenschaft zu Massenmedien und allgemeiner Öffentlichkeit beobachten. Bis zum 18. Jahrhundert war es üblich, dass Wissenschaftsakademien öffentlich Preisfragen auslobten, die Fragen von allgemeinem Interesse ansprachen und vorwiegend an Amateurforscher gerichtet waren, aber gleichzeitig relevante Forschungsfragen an der „Forschungsfront“ formulierten (Stichweh 2003b, 2009b). Die Auszeichnung eines Preisträgers diente dann gleichzeitig der Publikation von dessen Thesen in Wissenschaftsjournalen und der Diskussion dieser Thesen in einer breiteren, nicht exklusiv akademischen Öffentlichkeit. Diese Simultanbedienung zweier Seiten ist heute stark gelockert. Wissenschaftspreise wie der Nobelpreis führen zwar auch heute noch zu kurzlebiger massenmedialer Prominenz, sind aber ansonsten ganz anders organisiert: Sie zeichnen Forschungen aus, die an völlig autonom gewählten, esoterischen Problemen entlang und in rein wissenschaftsinternen Kontexten entstanden sind, und sie zeichnen diese Forschungen im Nachhinein aus und zielen nicht etwa darauf ab, Forschungsaktivitäten zu steuern und auf bestimmte Fragen von besonderer öffentlicher Relevanz hin zu orientieren (Stichweh 2009b). Umgekehrt bleibt dann die Popularisierung wissenschaftlichen Wissens für die allgemeine Öffentlichkeit als ein Spezialproblem übrig, das von Spitzenstatus in der Forschung abgekoppelt ist und in der Regel gerade nicht durch dieselben Personen bedient wird.42
41Böhme
(2004) berichtet auch den interessanten Versuch, solche Prämissen auf der Ebene von Organisationen festzulegen und bindend zu machen. Die Fachhochschule Hamburg verabschiedete 1983 einen Beschluss, sich nicht an Forschung für militärische Zwecke zu beteiligen. Der Beschluss wurde indes für nichtig erklärt mit der Begründung, er verstoße gegen das Grundrecht der Freiheit von Forschung und Lehre und sei deshalb grundgesetzwidrig. 42Stichweh (2003b) formuliert die These einer U-Förmigkeit der Öffentlichkeits-Offenheit von Wissenschaft. Während im 18. Jahrhundert eben noch keine scharfe Trennung zwischen wissenschaftlicher und allgemeiner Öffentlichkeit und keine scharfe Abgrenzung gegenüber Amateuren bestand, kam es im 19. Jahrhundert zu einer verstärkten Schließung, zu einer Praktizierung von Wissenschaft im „Elfenbeinturm“, durch zunehmende Esoterik und Unverständlichkeit nach außen. Im 20. Jahrhundert wird die Esoterik zwar nicht zurückgenommen, gleichzeitig findet man aber Bemühungen um Popularisierung auf vier Ebenen: 1) innerwissenschaftlich bzw. interdisziplinär, getrieben durch die immer schärfere Disziplinendifferenzierung; 2) pädagogisch, getrieben durch die Notwendigkeit, Studenten Inhalte nahezubringen; 3) politisch, gerichtet an Geldgeber und institutionelle Unterstützer; 4) allgemein, gegenüber einer abstrakt konstituierten Öffentlichkeit, etwa durch Wissenschaftsjournalismus und populärwissenschaftliche Bücher.
2.6 Von einfachen zu komplexen Kopplungen
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Speziell für die Soziologie lässt sich ein ähnliches Auseinanderdriften von wissenschaftlicher und öffentlicher Relevanz komprimiert auf einen kürzeren Zeitraum feststellen. In der Klassikerphase des Faches bestand eine Einheit von Forschungsfront bzw. anspruchsvoller Theoriebildung einerseits und Zeitdiagnose andererseits – Zeitdiagnose verstanden als das Herunterbrechen oder Hochrechnen soziologischer Befunde zu Gesellschaftsbeschreibungen, die so spektakulär sind, dass sie auch den nicht-soziologisch gebildeten Zeitgenossen ansprechen. Bei den Klassikern fiel beides selbstverständlich zusammen. Heute fallen diesen beiden Teilleistungen viel deutlicher auseinander, in Paare wie etwa Parsons (Theorie) und Mills (Zeitdiagnose), oder Luhmann (Theorie) und Beck (Zeitdiagnose): Der eine macht die esoterische Begriffsarbeit, erreicht aber nicht mehr die breite Öffentlichkeit; der andere prägt die steilen Thesen und schrillen Begriffe, gilt aber als theoretisch nicht voll satisfaktionsfähig feststellen (Kieserling 2004: 36 ff.). Von Kolonialgesellschaften zu Freihandelsabkommen – von profitablen zu ruinösen Kriegen Wechseln wir zum Fall der Wirtschaft, so finden wir denselben Trend der Auflösung allzu einfacher, geradliniger Kopplungsformen und ihrer Ersetzung durch umwegigere und weniger wirkungssichere Formen. Ich konzentriere mich hier auf die Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Politik, die eine besonders intensiv bewirtschaftete Grenze ist.43 In der frühen Moderne, im Zeitalter des Kolonialismus und Imperialismus, waren an dieser Stelle etwa die Kolonialgesellschaften zu finden. Diese waren politisch-ökonomische Zwitter: Sie waren einerseits Handelsgesellschaften und als Privatunternehmen verfasst, waren andererseits aber oft auch Träger hoheitlicher Funktionen. Sie nahmen Verwaltungs- und Polizeiaufgaben in den Kolonialgebieten wahr, und sie konnten bei Bedarf auf Unterstützung durch das Militär des Mutterlandes rechnen, auf den Meeren zur Sicherung von Handelswegen, auf dem Land zur Niederschlagung von Aufständen und teils auch zur Eroberung neuer Gebiete (Mann 1987: 37). Kolonialgesellschaften bedienten somit beide Funktionsbezüge wenn nicht in Personalunion, so doch in „Organisationalunion“.
43Bereits
eine beiläufig gegebene Liste wichtiger Kopplungsphänomene folgende Punkte: Garantie von Eigentum; Erhebung von Steuern; Regulierung von Märkten; Umgang mit Verteilungsproblemen; Abschwächung von Konjunkturzyklen; Bereitstellung von Infrastruktur; staatliche Segmentierung von Geld in Währungen; Geldpolitik (Turner 2004: 235 f.).
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Solche gewissermaßen paradiesisch ungetrennte Kopplungsformen sind mittlerweile zerfallen. Heutige global agierende Unternehmen verzichten dankend auf die Übernahme hoheitlicher Funktionen, sie konzentrieren sich aufs Geschäftemachen und verlassen sich für ein hinreichend gesichertes Umfeld auf den jeweiligen lokalen Staat oder, wenn der nicht ausreichend zur Stelle ist, auf private Sicherheitsdienstleister. Zwar haben Unternehmen deshalb keineswegs aufgehört, „ihre“ Staaten um Hilfe anzugehen, und Staaten haben nicht aufgehört, Aktivitäten „ihrer“ Unternehmen in aller Welt zu fördern. Solche protektionistische Verzahnung läuft aber heute über sehr viel diffizilere und indirektere Maßnahmen, etwa im Bereich der Handels-, Steuer- und Währungspolitik (Gallagher/ Robinson 1953; Steinmetz 2005; Münch 2011b). Ob weltwirtschaftliche Strukturen dadurch weniger ungleich und weniger ausbeuterisch geworden sind, ist ungewiss, aber in jedem Fall ist die unmittelbare Einheit von politischen und wirtschaftlichen Funktionen in ein und derselben Organisation aufgebrochen und durch ein Minenfeld von Maßnahmen und Schlupflöchern, von Abstimmungsund Darstellungszwängen in nationalen wie internationalen politischen Arenen ersetzt worden. Die Organisationen, die hier aktiv sind – wie etwa die Welthandelsorganisation –, sind Grenzorganisationen, nicht Zwitterorganisationen, die ein hohes Maß an Getrenntheit politischer und wirtschaftlicher Handlungskontexte voraussetzen.44 Ein ähnlicher Entkopplungsprozess lässt sich, für noch längere historische Zeitstrecken, am Zusammenhang zwischen Kriegen und ökonomischen Profiten aufzeigen. Über Jahrtausende hinweg waren siegreich geführte Kriege in der Regel auch ökonomisch lukrativ: Der Sieger konnte mehr oder weniger fetter Beute abtransportieren und vom Unterlegenen Tribute kassieren. Das Abschöpfen von Reichtümern gehörte zu den offen verfolgten und fraglos legitimen Zielen
44So
sagt auch Luhmann über die staatliche Absicherung wirtschaftlicher Risiken, etwa in Form von Arbeitslosenunterstützung oder Konjunkturförderprogrammen: „Politische Abdeckung spezifisch wirtschaftlicher Risiken ist nicht zu verwechseln mit älteren Formen einer undifferenzierten Verquickung von Politik und Wirtschaft. Politische und wirtschaftliche Fragen lassen sich trennen; sie werden in unterscheidbaren Sinnhorizonten perzipiert. Gerade darauf beruht ja der Reiz und die taktische Vorteilhaftigkeit einer Problemverschiebung zwischen beiden Bereichen. Politische Risikoübernahme setzt voraus, daß Wirtschaft ausdifferenziert und zu relativ hoher Systemautonomie gelangt ist und daß wirtschaftseigene Strukturen und Prozesse Risiken steigern und ihnen eine Form geben, die sie politisch greifbar machen.“ (Luhmann 1970f: 219).
2.6 Von einfachen zu komplexen Kopplungen
95
von Kriegführung. Dieses Arrangement beginnt mit dem Übergang zur modernen Gesellschaft zu bröckeln und sich ins Gegenteil zu verkehren. Ab dem 20. Jahrhundert tritt vielmehr die Situation ein, dass Kriege für alle Beteiligten horrend teuer sind, auch für den Sieger (Ferguson 2003: 367 ff.; Münkler 2005: 239, 2006: 140). Moderne Militärtechnologien und Militärorganisationen verschlingen so große Summen, dass die Vorstellung, sie durch ökonomische Gewinne irgendeiner Art aufzuwiegen, zunehmend illusorisch wird. Unmittelbares Beutemachen ist heute kriegsrechtlich gebannt; das Sich-unschädlich-Halten durch Reparationen ist durch das Interesse an Wiederaufbau und nachhaltiger Entwicklung ersetzt worden; und indirekte Profite – etwa via Zugang zu Rohstoffen oder lukrativen Kontrakten für heimische Unternehmen – sind zwar möglich, wiegen aber die Kosten des Krieges in der Regel nicht auf und können allenfalls als magere Kompensation dafür gesehen werden. Das schließt nicht aus, dass einzelne Unternehmen dabei sehr gute Geschäfte machen. Aber soweit solche Partikularinteressen nicht nur ein Nebeneffekt, sondern eine Triebkraft für die Kriegsentscheidung selbst sind, gilt dies – wie am Fall des Zweiten Irakkriegs abzulesen – als politischer Fehlgriff, der vorher mit Legitimationsrhetorik getarnt werden muss und hinterher, bei Aufdeckung, das Ansehen der beteiligten Personen und Staaten massiv beschädigt (Kuchler 2013b: 109 f.). Für Weltmächte stellt sich deshalb heute weniger die Frage, wie viel ökonomischen Nutzen sie aus ihrer militärischen Überlegenheit ziehen können, als die umgekehrte Frage, wie lange sie die „Kosten des Imperiums“ tragen können (Galbraith 2002).45 Ein weiterer Zerfallsprozess im Grenzbereich zwischen Wirtschaft und Politik betrifft Zentralbanken. Die ersten Notenbanken dienten bei ihrer Gründung offen und direkt dem Zweck der Staatsfinanzierung: Sie erhielten das Recht zur Ausgabe von Banknoten gegen die Bereitschaft, dem Staat Kredit zu gewähren, meist für Kriegszwecke (Carruthers 1996; Lütz 2008: 344 f.). Sie haben dann aber bis zur Jetztzeit einen enormen Funktionswandel durchgemacht. Heutige Notenbanken haben zwar ein politisch definiertes Mandat – mit unterschiedlich möglichen Schwerpunkten auf Geldwertstabilität und/oder Konjunkturpolitik –, sie sind aber ausdrücklich unabhängig und keinen politischen Weisungen unterworfen, und die Staatsfinanzierung ist ihnen gerade verboten. (Dass Notenbanken
45Und
auch für den Kolonialismus/Imperialismus stellt sich ja die Frage, ob er sich unter dem Strich ökonomisch überhaupt gelohnt hat oder ob er nicht in Wahrheit ein riesiges Verlustgeschäft war, das im Wesentlichen als politisches Großmacht- und Prestigeprojekt verstanden werden muss (Aron 1958; Münkler 2005; Steinmetz 2005).
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2 Grenzen und Entgrenzungen
nach den jüngsten Finanzkrisen dann doch indirekt Staatsfinanzierung betreiben, setzt dieses institutionelle Arrangement noch nicht außer Kraft, da dies im Zuge von akuter Krisenreaktion und -prävention geschieht, im Kontext eines durcheinandergewirbelten und undurchschaubar werdenden Geld- und Zinsmechanismus, und unter zwar weiter, aber nicht abwegiger Dehnung des offiziellen geldpolitischen Mandates.) Das Zeitalter der unproblematischen Kongruentführung wirtschaftlicher und politischer Interessen ist somit vorbei. Politische Intervention in wirtschaftliche Zusammenhänge – und umgekehrt: wirtschaftliche Abdeckung, also Finanzierung, politischer Projekte – wird nicht weniger wichtig, sie wird sogar vielleicht immer wichtiger, aber sie muss einen zunehmend breiten Graben überwinden. Es müssen komplexe Eigenlogiken auf beiden Seiten in Rechnung gestellt werden, und jede allzu direkte und umstandslose Kopplung von Zielen, Zwecken, Akteuren verfällt der Kritik, dem Korruptionsverdacht oder dem Dilettantismusvorwurf. Funktionssysteme sind nicht unzugänglich für Einflüsse von außen und Abstimmungen mit außen; sie sind nicht autark, sondern nur autonom, nicht abgeschottet, sondern nur eigensinnig. Aber sie können solche Außenabstimmungen nur in Abstimmung mit ihren eigenen Strukturen, mit ihrem eigenen inneren Raum von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten vornehmen, und deshalb nur mit Puffern und Überleitungseinrichtungen. Dass die Restriktionen zweier Systeme sich in der unmittelbaren, spontanen Einheit personaler oder organisationaler Identitäten treffen, ist zu unwahrscheinlich, und solche Kopplungsformen werden deshalb historisch vom Normalfall zum Ausnahmefall.
2.7 Von Frontalkollisionen zu aufgeklärter Koexistenz Funktionssysteme stehen nicht nur in Leistungsbeziehungen miteinander und sind damit in eine Ordnung der Komplementarität eingebunden, sie können mit ihren Sinn- und Ordnungsansprüchen auch aneinander geraten und sich gegenseitig in die Quere kommen. Sie sind immer auch rivalisierende Ordnungszusammenhänge, von denen keiner seine Ansprüche unbegrenzt ausdehnen, seine Ordnungsprojektionen unumschränkt ausleben kann, weil andere Funktionssysteme mit ihren Ansprüchen dem im Wege stehen (Luhmann 1977: 245, 2010: 43).46
46Luhmann
formuliert: „Die Systemtheorie […] geht davon aus, daß jedes System, das sich in einer sehr komplexen Welt erhalten will, eine Vielzahl von Problemen lösen muß, die
2.7 Von Frontalkollisionen zu aufgeklärter Koexistenz
97
Es scheint nun, dass an Grenzflächen mit hohem Kollisionspotenzial ebenfalls ein Trend der Entwicklung vom Einfachen zum Komplexen greift. In den Frühphasen der Ausdifferenzierung findet man oft relativ plumpe, frontale Zusammenstöße, ein Aufeinanderprallen von als unvereinbar und unversöhnlich erlebten Perspektiven. Es kann zu drastischen Selbstbehauptungs- und Abwehrreaktionen kommen, zu wildwestartigen „Du oder Ich“-Situationen, die von heute aus überzogen scheinen. Mit der Zeit geben solche allzu schroffen und unvermittelten Konfrontationen einem aufgeklärteren Verständnis Raum, indem Funktionssysteme auf die Existenz anderer Prinzipien des sozialen Zusammenlebens eingestellt sind und sich nicht so leicht in ihrer eigenen Sinngebung verletzen lassen. Das führt uns noch einmal zurück auf Zelizers Theorem der „verbundenen Leben“ oder „robusten Koexistenzen“ – verschiedene Sinnsphären können miteinander in Kontakt kommen, ohne ihre Spezifität und Eigensinnigkeit zu verlieren –, jetzt aber gewendet in ein historisches Entwicklungsmuster. Die Fähigkeit zur Koexistenz inkommensurabler Sinnsphären in ein und denselben Welt muss sich erst herausbilden, sie ist eine historische Errungenschaft und nicht eine selbstverständlich gegebene Qualität des sozialen Lebens. Sie setzt voraus, dass kein Einheitsanspruch mehr gestellt wird, dass keine einheitliche Klammer mehr das ganze Leben zusammenhält,47 und sie setzt voraus, dass die jeweiligen Domänen in ihren Konturen einigermaßen bekannt sind, sodass maßlose Übergriffe nicht befürchtet werden müssen. Die Inkommensurabilität verschiedener sozialer Felder, Systeme oder Sphären kann dann weniger als Unversöhnlichkeit und Feindschaft denn als Auseinanderziehen und Indifferenz erlebt werden.
nicht allesamt zugleich optimal bewältigt werden können. Jede Problemlösung hat vielmehr ‘dysfunktionale’ Rückwirkungen auf andere Systembedürfnisse. Einem funktional spezifisch angesetzten Teilsystem kann deshalb vom Gesamtsystem aus kein unbegrenztes Wuchern, ja zumeist nicht einmal ein optimales Sicheinbalancieren auf seine Umwelt erlaubt werden, weil dadurch andere Funktionen beeinträchtigt werden würden. Man muß, mit anderen Worten, das Konvergieren funktionaler Leistungen in einem System […] als Problem und nicht als Prämisse voraussetzen.“ (Luhmann 2010: 43). 47Die Auflösung des Einheitsanspruches der mittelalterlichen Welt ist überhaupt ein Kennzeichen der entstehenden Moderne. Sie drückt sich in der religiös-politisch-militärischen Sphäre auch im Zerfall territorialen Einheitsvorstellungen aus. So wurde noch während des Dreißigjährigen Krieges Europa der Idee nach als einheitlicher Herrschaftsraum begriffen, der von einer Monarchie aus zu beherrschen wäre – einer „Generalmonarchie“ oder „Universalmonarchie“ –, und diese wahrgenommene Einheit Europas war ein wichtiger Grund für den Krieg, nämlich dafür, dass die einzelnen Monarchien aneinander gerieten (Burkhardt 2000).
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2 Grenzen und Entgrenzungen
Impfen oder Beten? Lange Zeit war die Grenze zwischen Wissenschaft und Religion eine „heiße“ Grenze. Im Zeitalter der Aufklärung und bis ins 19. Jahrhundert hinein war es eine gängige Auffassung, dass die Religion verschwinden müsse, wenn die moderne, empirische Wissenschaft sich durchsetzen solle. Beide galten als unversöhnliche Gegenspieler, von denen auf der Welt nur für einen Platz war. Auguste Comte etwa hat das so gesehen und eine entsprechende Abfolge von Zeitaltern postuliert: Auf das religiöse Zeitalter sollte das metaphysische und dann das wissenschaftliche Zeitalter folgen, in dem die Religion dann abgemeldet wäre. Dies war indes – wie man hinterher sehen kann – nur eine überzogene Gegenreaktion auf den „letzten Kontroll- und Zensuranspruch“ der Religion (Stichweh 1984: 52), den diese an die Gesellschaft und die Theologie an andere Wissenschaften zu stellen gewohnt war und erst nach langen Rückzugsgefechten aufgab.48 Aus dieser konfliktintensiven Gemengelange heraus entwickelt sich dann allmählich ein Sinn dafür, dass beide – Religion und Wissenschaft – in derselben Gesellschaft koexistieren können: Religion muss nicht verschwinden, damit die Wissenschaft nach ihren eigenen Maßstäben die empirische Welt erforschen kann, und umgekehrt muss Wissenschaft nicht verschwinden, damit die Religion ihre eigenen Sinnansprüche pflegen und Sinnbedarfe befriedigen kann. Beide liegen gewissermaßen windschief zueinander, sie besetzen „überschneidungsfreie Welten“ (Gould 1997), die nebeneinander bestehen können, ohne einander zu verletzen. Statt Abschaffung von Religion genügt dann Säkularisierung, d. h. Umstellung auf ein Gesellschaftsmodell, in dem Religion sich auf die Interpretation einer mehr oder weniger transzendenten Welt und ansonsten auf private Sinnstiftung zurückzieht, Glaubensentscheidungen in die Verantwortung des Individuums gelegt und andere Bereiche zu eigener, „weltlicher“ Bestimmung freigesetzt werden (Luhmann 1977: 225 ff.; Kieserling
48Nach
Stichweh beginnt dieser Kontrollanspruch im Feld der entstehenden wissenschaftlichen Disziplinen mit dem Ende des 17. Jahrhunderts zu erodieren. Seit dieser Zeit erscheinen theologische Argumente den Vertretern anderer Disziplinen nicht mehr als hilfreiche Führung und Sinngebung, sondern als Hineintragen externer, wissenschaftsfremder Gesichtspunkte. Kontrollversuche vonseiten der Theologie müssen seither […] „auf entschiedenen Widerspruch rechnen, der […] trotz gelegentlicher fundamentalistischer Episoden […] nicht mehr stillgestellt werden kann […] [so] daß die Theologie, die einst als letzter Einheitsgesichtspunkt menschlichen Wissens und Wollens überzeugte, vielfach primär als Auslöser von unerwünschtem Dissens gesehen wird“ (Stichweh 1984: 52).
2.7 Von Frontalkollisionen zu aufgeklärter Koexistenz
99
2004: 152 ff.). Religion kann dann noch vorkommen, im Leben des Einzelnen und sogar in der Politik, soweit sie nicht mit absolutistischen, dogmatischen Ansprüchen auftritt, sondern sich auf einen pluralistischen, demokratischen Stil der Auseinandersetzung einlässt (Walzer 1998). Gieryn (1999: 43 ff.) berichtet hierzu einen interessanten Fall aus dem 19. Jahrhundert. Anlässlich eines Choleraausbruchs wurde unter Zeitgenossen die Frage diskutiert, ob Impfen oder Beten das bessere Mittel zur Krankheitsbekämpfung sei. Im Zuge dieser Kontroverse wetterten Naturwissenschaftlern gegen Religion an sich und überhaupt und forderten ihre Abschaffung: Wer so schädliche Empfehlungen mache und dem Wohlergehen der Menschheit so im Weg stehe, der müsse vom Erdboden getilgt werden, um den Weg frei zu machen für rationale Problemlösungen. Dieser einst so heftige Zusammenstoß zwischen Wissenschaft und Religion hat sich heute in Wohlgefallen aufgelöst. Niemand, auch nicht die hartgesottensten Kirchenvertreter, würde heute noch empfehlen, gegen Tetanus oder Ebola zu beten statt zu impfen; vielmehr führen auch kirchliche Krankenhäuser Impfungen durch, kirchliche Hilfsorganisationen beteiligen sich an Impfkampagnen in Entwicklungsländern. Die Religion erkannt an, dass in diesem Punkt die Wissenschaft die bessere Lösung hat, und sieht das nicht als Verletzung ihrer Sinnsphäre und ihrer spezifischen Kompetenz. Im Gegenteil kann sie etwa im Sammeln von Spenden für den Impfschutz afrikanischer Kinder ihre eigene Mission der Nächstenliebe erfüllen. Wenn sich Religion solchermaßen aufgeklärt gibt, dann entfällt auch der Grund für Wissenschaftsanhänger, Religion in toto abzulehnen; sie schadet dann immerhin nicht mehr. Dazu passend wird denn ja auch immer wieder festgestellt, dass gerade Naturwissenschaftler in ihrem privaten Leben oft religiös sind, dass für sie mithin kein Widerspruch zwischen empirischer Welterforschung und religiöser Sinngebung besteht (Shapin 2008). Dasselbe Abschleifen der Kollisionsflächen lässt sich auch an der Zusammenstellung von Curricula von Schulen und Universitäten beobachten. Im 19. Jahrhundert wurden wissenschaftliche und religiöse Lehrinhalte gelegentlich als inkompatibel oder als Alternative betrachtet, und manche kirchlichen Bildungseinrichtungen weigerten sich, naturwissenschaftliche Inhalte auf den Lehrplan zu setzen (Gieryn 1983: 784). Dagegen wird heute auch an kirchlichen Schulen selbstverständlich Physik, Chemie und Biologie unterrichtet, ebenso wie umgekehrt – jedenfalls in Deutschland – auch an prinzipiell wissenschaftlich ausgerichteten staatlichen Schulen Religion unterrichtet wird. Die Ausnahme von diesem Trend, die die Regel bestätigt, ist natürlich die Kreationismusdebatte in den USA, wo religiöse und naturwissenschaftliche Auffassungen in verhärteten Fronten gegeneinander stehen (Gould 1997; Cole 2006). Auch mag es
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Einrichtungen wie Konkordatslehrstühle an Universitäten geben, die kirchlich angebunden und finanziert sind, aber ihre Inhaber nicht am Betreiben ernstzunehmender Wissenschaft hindern, sondern allenfalls der Kirche ein Einspruchsrecht bei Berufungen geben. In diesem Sinn können verschiedene Sinnsphären mit zunehmender Erfahrung, die sie miteinander und mit sich selbst machen, die Grenzen ihrer jeweiligen Hoheitsgebiete so einregulieren, dass sie weniger Anlass zu Zusammenstößen finden und doch in ihrem Eigenrecht nicht beschnitten werden. Bildlich kann man sich das vorstellen wie aneinander angrenzende Flächen, die durch fraktale Verwirbelung von Grenzlinien sich zunehmend ineinander verschlingen, harte Kontraste in filigrane Linien auflösen und dadurch in gewissem Sinn mehr Raum gewinnen, aber auch mehr Raum für anderes gewähren. Begrifflich müsste man sagen, dass die Teilsysteme einer funktional differenzierten Gesellschaft einen Sinn für die Existenzberechtigung anderer Systeme entwickeln und sich selbst zu relativieren lernen müssen: Sie müssen anerkennen, dass, da sie selbst nur eine spezifische Funktion bedienen, andere Funktionen anderswo und in dafür angemessener Weise erfüllt werden. Sie müssen einen Stil des Auftretens entwickeln, der gewissermaßen ihren natürlichen Egozentrismus aufgibt, sodass Geschehnisse und Sinnvorschläge nicht reflexhaft mit Bezug auf das eigene Weltbild und als Verletzung eigener Prinzipien gelesen werden, sondern in ihrem Eigensinn für andere Kontexte gesehen werden. Dadurch können Kollisionen oder Nullsummensituationen aufgelöst und in Konstellationen überführt werden, wo beide Seiten sich entfalten können, ohne durch die andere beschränkt oder verletzt zu werden. Für die Religion ist dies unter den Begriffen Säkularisierung und Säkularismus formuliert worden. Eine Religion dann tauglich ist für die moderne Gesellschaft, wenn sie in sich ein positives Verhältnis zur Autonomie anderer Bereiche – etwa der Wissenschaft oder des Staates – entwickeln kann (Kieserling 2004: 152 ff.; Zielcke 2011).49 Für das politische System und das Rechtssystem stehen an dieser Stelle die Grundrechtskataloge moderner Verfassungen, in denen
49Das
Christentum hat diese Entwicklung in den vergangenen Jahrhunderten durchgemacht; für den Islam stellt sich derzeit die Frage, ob er es ebenso kann (Zielcke 2011). Immerhin lässt sich feststellen, dass sogar islamisch-fundamentalistische Bewegungen, auch wenn sie keinen säkularen Staat akzeptieren, so doch die Früchte der modernen Wissenschaft und Technologie gerne entgegennehmen, etwa Militärtechnologie und Telekommunikation. Sie sind insofern keineswegs reine Traditionalisten, sondern Ausdruck einer „halbierten Moderne“ (Lawrence 1989; Tibi 2002; Riesebrodt 2004).
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die Unverletzlichkeiten anderer Systeme ausdrücklich kodifiziert und respektiert werden (Luhmann 1965a; Thornhill 2008). Ähnliches gilt aber, mit weniger pointierter Ausdrucksformen, auch für das moderne Wissenschaftssystem und Wirtschaftssystem, die sich ebenfalls nur als „nicht-totalitäre“ Gebilde in ihrer modernen Form entfalten können: nur wenn sie nicht das Ganze zu sein beanspruchen, sondern sich auf je spezifische Operations- und Abstraktionsrichtungen konzentrieren. Die moderne Wissenschaft hat nicht den Anspruch, Lebenssinn zu stiften, sondern konzentriert sich auf „sinnentleerte“, aber dafür unendlich auflösestarke Erforschung von Einzelfragen. Und die moderne Wirtschaft muss nicht als Adressat für alle Lebensprobleme zur Verfügung stehen, sondern sich auf Geld-, Profit- und Refinanzierungsfragen konzentrieren können. Müsste Wirtschaft alles sein, müsste sie auch Familie, Fortpflanzung, Moral, Religion, Politik, Recht und alles andere mit betreuen (und nicht nur: mit Gütern beliefern), dann wäre sie keine Wirtschaft mehr, wie man an archaischen Formen des Wirtschaftens in ungetrennter Einheit mit Verwandtschafts-, Moral- und Machtangelegenheiten ablesen kann (Bourdieu 2005). Dies ist eine Form von (Selbst-)Beschränkung, die auch im jeweiligen System selbst gutgeheißen werden kann – im Unterschied zur Begrenzung der Wachstumstendenz des Systems von außen. Der Standardfall in der funktional differenzierten Gesellschaft ist der, dass jedes Funktionssystem von sich aus nach unbegrenzter Expansion strebt – mehr Forschung, mehr Bildung, mehr Gesundheit, mehr Reformen usw. – und in seinem Expansionsdrang nur von außen, durch Abschneiden der Energiezufuhr, etwa der Finanzierung, gebremst werden kann. Dagegen ist die Beschränkung entlang von funktionalen Spezifikationsrichtungen etwas, was auch im System selbst und von dessen Leistungsträgern nachvollzogen und vertreten werden kann: Sie entlastet das System ja auch von lästigen, unverarbeitbaren Problemen, und sie steht seinem eigenen inneren Sinn nicht im Weg, beschneidet nicht den Anspruch auf bestmögliche Funktionserfüllung, sondern formuliert und implementiert ihn. Die Wirtschaft ist der nächste interessierende Fall, für den jetzt zu fragen ist, inwiefern hier analoge Entzerrungs- und Entspannungsprozesse stattgefunden haben. Hierfür sind wiederum, ein letztes Mal, Befunde aus Zelizers „Markt und Moral“-Schule relevant. Geld als korrumpierende Kraft? Zelizer hat an Fällen wie Lebensversicherungen und Entschädigungszahlungen für zu Tode gekommene Kinder gezeigt, dass zunächst schwer vermittelbare Fronten zwischen der Geldsphäre und den Sphären Moral, Religion, Familie sich in einer Weise entwickeln können, dass beide Seiten zu ihrem Recht kommen und Spannungen zwischen zunächst als inkompatibel begriffenen Wertordnungen
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abgebaut werden. Es können Verständnisse und Arrangements gefunden werden, die beide Wertsphären je auf ihre Weise zum Zug kommen lassen, ohne dass die andere ausgeschlossen und abgewehrt werden muss. Die Bereiche Religion und Familie/Freundschaft sind naheliegende Kandidaten für Fundamentalkollisionen mit dem Wirtschaftssystem, weil hier grundsätzlich andere Vorstellungen von zwischenmenschlichen Beziehungen gepflegt werden, als es dem u npersönlich-sachlich-nutzenorientierten Modus – dem herz- und seelenlosen Modus – des Wirtschaftslebens entspricht. Es liegen hier besonders harte Kontraste vor: Nächstenliebe und Gottgefälligkeit auf der einen, Profitstreben auf der anderen Seite, oder: intime Nähe und Aufopferung auf der einen, kühle Kalkulation auf der anderen Seite. Zelizer (1979) zeigt, dass im 18. und frühen 19. Jahrhundert Lebensversicherungen als eine Art Frevel und Beweis für mangelndes Gottvertrauen gesehen wurden. Menschliches Leben und Sterben galt als Geschehen in Gottes Hand und Gottes Zuständigkeit, und die Idee, dieses Problem durch Abschluss von Vertragswerken und Zahlung von Geldprämien anzugehen, erschien den meisten zeitgenössischen Beobachtern als anstößig. Erst als die Religion dieses Terrain freigab, die Theologie liberaler wurde und sich aus Detailfragen des Lebens weiter zurückzog, konnte sich – ab etwa 1840 – ein Markt für Lebensversicherungen entwickeln. Versicherungsgeschäfte welcher Art auch immer wurden der rationalen wirtschaftlichen Kalkulation anheimgestellt, und der Abschluss einer Lebensversicherung konnte jetzt sogar umgekehrt propagiert werden als eine Maßnahme, um für seine Lieben vorzusorgen, worin ja auch ein religiöses Gebot liegt. Man könnte sagen: Lebensversicherungen waren vorher unmoralisch und danach amoralisch – ein Unterschied ums Ganze, denn damit wurde ein vorher bestehendes Nullsummenverhältnis oder eine unversöhnliche Kollision zwischen den beiden Welten aufgelöst und in ein unproblematisches Nebeneinander von überschneidungsfreien Weltsektoren überführt. Der Glaube, dass wir alle in Gottes Hand sind, wurde nicht mehr so verstanden, dass er andere, profanere Arten des Umgangs mit Zukunft ausschloss.50
50Mit
Richard Münch (1980) könnte man auch von der Sprengung von Summenkonstanzverhältnissen oder „Limitationalitäten“ im Verhältnis zwischen Teilsystemen sprechen. Er schreibt: „Interpenetration ist eine besondere Form der Beziehung zwischen Subsystemen […], durch welche die Grenzen der Entfaltung eines Subsystems überschritten werden, die sonst durch die Entfaltung anderer Subsysteme gesetzt würden. Die Interpenetration von Gemeinschaft und Wirtschaft ermöglicht die Ausdehnung der Solidarität und die Ausbreitung der ökonomischen Rationalität zugleich, ohne dass das eine zu Lasten des anderen ginge. Das Handeln kann in diesem Sinn zugleich moralischer, solidarischer und ökonomisch rationaler werden“. (ebd.: 38 f.).
2.7 Von Frontalkollisionen zu aufgeklärter Koexistenz
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Einer anderen Studie von Zelizer (1985) kann man ähnliche Entwicklungslinien im Verhältnis von Familien- und Wirtschaftssphäre entnehmen, hier an der heiklen Frage des „Preises“ von Kindern, nämlich Entschädigungszahlungen beim schuldhaft verursachten Tod eines Kindes. Vor der Herausbildung einer gesonderten Privat- und Intimsphäre wurden Entschädigungssummen einfach am Wert des Kindes als Arbeitskraft und am zu ersetzenden Arbeitseinkommen bemessen. Mit der Intimisierung der Familie und der Erfindung der Kindheit im 19. Jahrhundert wird die ökonomische Bewertung des Kindes problematisch: Das Kind stellt jetzt vor allem einen emotionalen Wert dar, es ist ein geliebtes Familienmitglied, sein Leben ist unbezahlbar und sein Tod mit keiner Summe aufzuwiegen. Es bringt sich jetzt eine fundamentale Unvereinbarkeit zweier Sphären mit inkommensurablen Wertordnungen zur Geltung. Allerdings kann – wie Espeland und Stevens notieren (1998: 327) – das Hochhalten eines schlechthin inkommensurablen Wertes manchmal auch ein Verhandlungstrick zum Hochtreiben des Preises sein. Oder, wie man näher an Zelizer und dem hier diskutierten Problem sagen müsste: Die fundamentale Inkommensurabilität der beiden Wertsphären muss nicht ihre praktische Unvermittelbarkeit bedeuten. Gerade der „unmessbare“ Wert des Kindes und der „unersetzliche“ Verlust der Familie drückt sich dann sehr wohl wieder in Entschädigungssummen aus, nur jetzt in deutlich höheren Summen.51 Hier besteht zwar kein Markt, aber doch eine in Gerichtsentscheidungen kodifizierte monetäre Bewertung eines Familiengutes – und zwar eben gerade eines als solchen anerkannten, in seinem „unvergleichlichen“ und „unersetzlichen“ Wert gewürdigten Familiengutes. Zelizer spricht vom symmetrischen Auftreten eines Kommodifizierungseffekts des Geldes einerseits und eines Sakralisierungseffekts – man könnte auch sagen: Intimisierungseffekt – der Familie andererseits, die auf komplexe Weise ineinander verschlungen seien (Zelizer 1985: 212).52 Eingeordnet in den Kontext der hier geführten Diskussion kann man Zelizers Studien somit einen neuen Dreh abgewinnen. Sie zeigen dann nicht nur
51Dasselbe
gilt im Übrigen für Entschädigungszahlungen für erlittene Gesundheitsschäden, die ebenfalls enorme Höhe erreichen können – wieder gerade wegen der Inkommensurabilität, wegen des unersetzlichen Werts der Gesundheit, der dann doch in Kompensationssummen übersetzt wird. 52Hier die Zusammenfassung in Zelizers Worten: „The pricing of the twentieth-century economically worthless child is thus a test case of the ‘sacralization effect’ of values as a counterpart to the ‘commercialization effect’ of money. It shows the reduction of the most precious and intangible values to their money equivalent, but it also demonstrates how economic rationality and the quantification process are themselves modified.“ (Zelizer 1985: 212).
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die ubiquitäre Verwobenheit ökonomischer und kultureller Werte, wie Zelizer selbst sie versteht, sondern sie zeigen auch historische Entwicklungsprozesse, in deren Zuge die Vermittelbarkeit und Koexistenzfähigkeit von zunächst inkommensurabel scheinenden Wertordnungen steigt. Die Koexistenzfähigkeit von Geldwirtschaft, Religion, Familie (verstanden als moderne, intimisierte Kleinfamilie) ist nicht von Anfang an gegeben, sie muss in einem historischen Prozess erst entwickelt werden. Man kann dann überlegen, ob sich weitere Fälle nennen lassen, die demselben Schema entsprechen. Denn nicht nur der Wert des Kindes, auch der Wert von Liebesbeziehungen und Freundschaften kann in schroffer Unvereinbarkeit mit der ökonomischen Sphäre gesehen werden. Auch hier wurden – jedenfalls auf semantischer Ebene – zeitweise harte Inkompatibilitäten zelebriert, die sich dann mit der Zeit abschleifen und einem ungerührteren Nebeneinander Raum geben. In der Frühzeit des Kapitalismus galt dieser vielen Beobachtern als als zerstörerische, zersetzende, korrumpierende Kraft. Man befürchtete, dass freundschaftliche, uneigennützige Beziehungen zwischen Menschen dadurch unterminiert würden, indem das Prinzip der rationalen Kalkulation alle anderen Prinzipien menschlichen Zusammenlebens verdrängen würde. Persönliche Freundschaft und Nutzenorientierung konnten als so absolut unvereinbar gesehen werden, dass jede Nutzenorientierung in persönlichen Beziehungen verteufelt wurde: Wenn man aus einer persönlichen Beziehung Nutzen ziehe, sei es eben keine persönliche Beziehung mehr (Hirschman 1986; Silver 1990). Auch diese gefühlte Inkompatibilität und Entweder-Oder-Situation verblasst aber mit der Zeit. Das Thema verschwindet aus dem gesellschaftlichen Diskurs, da sich erweist, dass Wirtschaftsbeziehungen und Freundschaftsbeziehungen weitgehend untangiert nebeneinander bestehen können.53 Es ist dann auch nicht notwendig, Nutzenelemente in Freundschaftsbeziehungen, etwa wechselseitige Hilfe oder großzügiges Einbringen von verfügbarem Geld, um jeden Preis zu vermeiden. Dergleichen dementiert den Freundschaftscharakter nicht, es bringt die Differenz
53Manche
Beobachter, etwa die schottischen Aufklärer, hatten dies allerdings schon um 1800 gesagt. Ihre Auffassung (die eine heutige soziologische Analyse bestätigen würde) war, dass persönliche Freundschaften als nur auf Sympathie gegründete Beziehungen sich gerade als die andere Seite der Geldwirtschaft ausbilden könnten, weil diese zu einer scharfen Separierung der Typen persönlich/unpersönlich zwinge. Die Marktwirtschaft setze zwischenmenschliche Verhältnisse aus der traditionellen Alternative von Freund und Feind frei, mache eine neutrale Position des Gegenübers denkbar und schaffe damit erst den Freiraum für eine aus freien Stücken eingegangene, nur auf Sympathie basierte und von praktischen Notwendigkeiten befreite Beziehungen (Silver 1990).
2.7 Von Frontalkollisionen zu aufgeklärter Koexistenz
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der Typen nicht zum Kollabieren, weil man sich darauf verlassen kann, dass die Teilnehmer – ganz im Sinn von Zelizers Theorem der „verbundenen Leben“ – sie gut unterscheiden können.54 Was romantische Liebe angeht, war im 19. Jahrhundert zwar nicht ein Auslöschungs-, wohl aber ein Herausforderungsnarrativ prominent. In der Liebesliteratur jener Zeit findet sich häufig der Topos, dass „wahre Liebe“ die ist, die sich gegen alle Vernunft, gegen allen Rat, gegen alle sozioökonomische Passung oder standesgemäße Wahl durchsetzt, die die ökonomische Kalkulation und das Prinzip der Kalkulation überhaupt in den Wind schlägt und nicht selten dann auch im ökonomischen und/oder statusmäßigen Ruin ihrer Protagonisten endet. Auch wenn Liebesbeziehungen dieses Typs in der Realität sicher nicht allzu häufig waren, haben sie in der literarischen Reflexion und Propagierung der romantischen Liebe doch große Bedeutung. Denn diese Helden oder „Märtyrer“ der Liebe demonstrieren, was Liebe ist und was sie vermag, wie immer klein ihre Zahl sein selten mag – was ebenso ja auch für die Märtyrer der Religion gilt (Aubert 1965: 216 ff.). Und diese semantisch aufgeladene Opposition wird wiederum gerade in der Zeit formuliert, an der man soziologisch gerade die gleichzeitige und komplementäre Herausbildung des Prinzips der romantischen Liebe und der modernen Geldwirtschaft betonen würde (Tyrell 1976, 1979). Sie verliert später an Faszination in dem Maß, in dem Liebesheiraten auf breiter Front durchgesetzt sind und arrangierte oder ökonomisch motivierte Ehen zurücktreten. Im 20. Jahrhundert wendet sich der Liebesdiskurs – in Romanen, Filmen, Ratgebern – verstärkt anderen Themen zu, etwa dem Scheitern und Altern von Liebesbeziehungen, der Veralltäglichung und Vergleichgültigung von Liebe, der Exklusivität oder Offenheit von Beziehungen oder auch dem prekären Verhältnis von Paarbeziehung und Elternschaft (Elliott/Merrill 1934; Leupold 1983; Tyrell/ Herlth 1994). Sozioökonomische Passung kann angesichts dessen vielleicht eher als Lösung denn als Problem erscheinen, und es können pragmatische, beide Seiten kombinierende Ratschläge formuliert werden wie: „Don’t marry for money. Go where the money is and marry for love.“ (Collins/Coltrane 1991: 291).
54In
tauschtheoretischer Terminologie kann man auch sagen: Es gibt ökonomischen Tausch und es gibt sozialen Tausch; beides kann, wenn man so will, als nutzenorientiert und quidpro-quo-orientiert dargestellt werden, es ist aber doch nicht dasselbe (Blau 1968; Priddat 2013). Dies gilt jedenfalls für Gesellschaften, die keine Mangelgesellschaften sind, während in letzteren Freundschaften oder „Beziehungen“ immer auch mit praktischen Unterstützungs- und Beschaffungsleistungen verwoben sind – mit fließenden Übergängen zu Korruption – und beides nicht klar voneinander zu trennen ist (Lomnitz 1988; Ledeneva 1997, 1998).
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Eine interessante, aber den Rahmen dieser Arbeit sprengende Frage ist, ob sich ähnliche Trends einer zunehmenden Kompossibilisierung und Kompatibilisierung auch im Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik, oder Markt und Staat, feststellen lassen.55 Es gibt Beschreibungen, etwa bei Karl Polanyi (1944), die sich so lesen lassen, dass auch hier eine anfänglich gefühlte Inkompatibilität einem Arrangement weicht, in dem beide Seiten mehr Raum haben, in dem freie Märkte und staatliche Regulierung gleichzeitig und miteinander wachsen, mit ihren jeweiligen Eigenrationalitäten stärker zum Zuge kommen, ohne deshalb die andere einzuschränken.56 Das gleichzeitige Wachstum beider – moderner Märkte und staatlicher Regulierung – ist als Faktenbefund unbestreitbar, es könnten hier aber theoretische Deutungsunterschiede ausgearbeitet werden zwischen dem Einbettungstheorem und dem alternativen Gedanken einer historisch sich herausbildenden Kompossibilität von Eigenlogiken auf mehreren Seiten. Regulierung
55Diese
Zwischen-System-Grenze ist oben unter dem Gesichtspunkt von engen Kopplungen oder Leistungsbeziehungen schon vorgekommen (Abschn. 2.6). Sie ist aber gleichzeitig auch eine Grenze mit großen Rivalitäts- und Kollisionspotenzialen, da es ja eine kritische Frage ist, wer in welchem Maß über die Verteilung von geschätzten Dingen, Gütern, Lebenschancen bestimmt. Vermutlich hat die besondere Problematizität gerade dieser Grenzstelle u. a. damit zu tun, dass hier diese beiden Modi von Zwischen-SystemBeziehungen gleichzeitig involviert sind, in unübersichtlichen Misch- und Überlagerungsverhältnissen. 56Polanyi schreibt: „The road to the free market was opened and kept open by an enormous increase in continuous, centrally organized and controlled interventionism. […] Just as, contrary to expectation, the invention of labor-saving machinery had not diminished but actually increased the uses of human labor, the introduction of free markets, far from doing away with the need for control, regulation, and intervention, enormously increased their range.“ (Polanyi 1944: 146 f.) Dieses Doppelwachstum überwindet die vorherrschende Wahrnehmung, als Zeitgenossen aus ersten, fehlgeschlagenen Experimenten mit Lohnzuschüssen für Arbeiter (in Großbritannien um 1800) geschlossen hätten, die Institution des Arbeitsmarktes und das Prinzip staatlicher Existenzsicherung seien prinzipiell inkompatibel (ebd.: 84 ff.). – Donald MacKenzie sagt in praktisch identischer Weise über amerikanische Finanzmärkte um das Jahr 2000, diese seien gleichzeitig mit die „freiesten“, nämlich am stärksten deregulierten, und die am stärksten regulierten Märkte, die er kenne: „It is tempting to think of states and markets as somehow opposed, and to conceive of the changes in the global financial system since the early 1970s as ‘deregulation’, the withdrawal of the state. This is a view that cannot survive serious study of the regulation of financial markets. The modern American financial markets are almost certainly the most highly regulated markets in history, if regulation is measured by volume (number of pages) of rules, probably also if measured by extent of surveillance, and possibly even by vigor of enforcement.“ (MacKenzie 2005b: 569).
2.7 Von Frontalkollisionen zu aufgeklärter Koexistenz
107
wäre dann nicht (nur) eine einschränkende, sondern (auch) eine ermöglichende Bedingung von freien Märkten, es wäre von Summenkonstanzverhältnissen auf Steigerungsverhältnisse umdenken. Und auch Polanyi bestätigt, dass die Entwicklung von Kompossibilitätsverhältnissen (oder Einbettungsverhältnissen) vor allem Zeit braucht – passend zur hier vertretenen These, dass Systemgrenzen Komplexität erst mit der Zeit aufbauen.57 Hier gibt es mehr Fragen als Antworten. Zu klären wäre insbesondere, wie weit solche (praktischen) Kompossibilitätsverhältnisse oder (theoretischen) Kompossibilitätsannahmen gehen und wo sie enden; sicherlich können nicht alle Probleme, Konflikte, Reibungen, die es an dieser Front gibt, einfach in ungetrübte Harmonie aufgelöst werden. Immerhin lässt sich aber feststellen, dass die düsteren Befürchtungen, die die Herausbildung der modernen Geldwirtschaft vor zweihundert Jahren begleiteten, sich in dieser Form nicht bewahrheitet haben. Eine weit verbreitete Annahme war, dass alle anderen sozialen Strukturen – Staat, Religion, Moral, Familie usw. – unters Rad geraten würden, durch den sich herausbildenden Kapitalismus erodiert und korrumpiert würden. „[C]apitalism was viewed as an all-conquering, irresistable force, […] all spheres of social life, from the family to the state, from traditional hierarchy to longtime cooperative arrangements, would be vitally affected […] [by this] ‘erosion,’ ‘corrosion,’ ‘contamination,’ ‘penetration,’ and ‘intrusion’ by what Karl Polanyi was to call the ‘juggernaut market.’“ (Hirschman 1982: 112 f.). Diese extremen Befürchtungen waren von Nullsummenannahmen aus gedacht und schlossen deshalb aus der beobachtbaren Expansion von Märkten, dass andere Bereiche an die Wand gedrückt würden. Dies jedenfalls ist offensichtlich nicht eingetreten, vielmehr haben sich manche dieser Bereiche seither erst so richtig entwickelt und entfaltet, etwa die intimisierte Familie, aber auch das Bildungs- und Gesundheitswesen. So viel muss man zugeben, bei allen Kämpfen, die heute unter dem Stichwort Neoliberalismus darum ausgefochten werden (Satz 2010; Crouch 2011; Münch 2011a; Sandel 2012). Ich breche die Suche nach Anwendungsfällen für historische Entwicklungstrends an Grenzlinien zwischen Funktionssystemen hier ab. Angesichts der genannten Fälle kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier sehr viel
57„Polanyi
writes that, when it comes to processes of commodification, ‘The rate of change is often of no less importance than the direction of change itself’ […]. In other words, the market is most destructive when it causes changes in society more quickly than society can re-embed the market in social relations.“ (Reich 2014: 1621).
108
2 Grenzen und Entgrenzungen
Ordnung am Wirken ist. Es zeigt sich ein allgemeines Muster – oder zwei allgemeine Muster: die Komplexifizierung von Kopplungen und die Entschärfung von Kollisionen –, die an vielen verschiedenen Grenzen in ungefähr derselben Form auftreten. Damit relativiert sich die instrumentalistische oder situationistische Sicht, dass Grenzen stets nur das Produkt strategischen Handelns und situativer Kräfteverhältnisse sind. So viel Parallelität in der Entwicklung ist auf der Grundlage dieser Annahme nicht zu erklären. Dass es strategisches Handeln auch gibt, ist natürlich nicht zu bestreiten. Aber die Frage ist nicht, was es alles gibt, sondern wie weit man mit einer Erklärung kommt – wie viel man mit einem bestimmten explanatorischen Zugriff sehen kann, wie große Datenmengen man damit ordnen kann. Der bloße Verweis auf Interessen, strategisches Agieren und Manövrieren bleibt hier im Endeffekt dünn. Aus dem unendlichen Spiel von Aktionen und Gegenaktionen, Interessen und Gegeninteressen emergieren Muster, die nur aus höheren, strukturellen Ordnungsebenen – oder wahlweise: aus tieferen, unter der Oberfläche liegenden Ordnungsebenen – erklärt werden können. Es gibt große Bögen der Entwicklung über historisch lange Zeiträume und über heterogene Anwendungsfälle hinweg. Der Jetztzustand kann, cum grano salis, als Produkt eines jahrhundertelangen, jedenfalls grob gerichteten Prozesses verständlich gemacht werden.
2.8 Fazit Im Konstruktivismus liegt eine Art Grundbekenntnis oder Minimalkonsens der Soziologie. Kein Soziologe kann widersprechen, wenn gesagt wird, dass es keine natürliche Ordnung gibt, die ist, wie sie ist, dass vielmehr alle Ordnung konstruiert, kontingent und relativ ist. Das trägt den Protest gegen die Vorstellung, Grenzen zwischen gesellschaftlichen Teilbereichen seien in irgendeinem Sinn „real“ – in einem anderen Sinn, als dass Akteure sie in mühevoller Konstruktionsarbeit postulieren, propagieren und performativ ins Werk setzen. Aber andererseits ist der Erz-Differenzierungstheoretiker Luhmann ja auch Konstruktivist; man kann ihm nicht ernsthaft vorwerfen, Naturalist oder Ontologe zu sein.58 Nur heißt Konstruktivismus offenbar für beide Seiten etwas recht Verschiedenes.
58Hierzu
nur ein unmissverständliches Statement von Luhmann: „Die Theorie behandelt eine freischwebend konsolidierte Realität, ein sich selbst gründendes Unternehmen […] Sie kann die Haltbarkeit sozialer Ordnung weder auf Natur gründen noch auf apriori geltende Normen oder Werte.“ (Luhmann 1984: 173).
2.8 Fazit
109
Für die einen heißt Konstruktivismus: Alles ist lokal, episodisch und situativ, alles Abzirkeln von Territorien und Abdestillieren von Kategorien könnte morgen auch anders aussehen, wenn nur die Machtverhältnisse und Interessenkonstellationen anders ausfallen würden. Soziale Ordnung wird letztlich in einem voluntaristischen Modus gedacht, nämlich auf den Willen und die Kraftanstrengung von Akteuren zurückgeführt. Ob Schädelkunde oder Schöpfungslehre Mythos oder Wissenschaft „ist“, ob der Kauf von Aktienoptionen oder Lebensversicherungen Glücksspiel oder rational kalkuliertes Geschäft „ist“ – auf solche Fragen gibt es keine Antwort, für die es irgendwelche objektiven Beschränkungen gäbe, man kann hier nur auf wechselnde Umstände, auf das Kriegsglück oder Legitimationsgeschick der Beteiligten verweisen. Deshalb ist Konstruktivismus für viele Soziologen gleichbedeutend mit Anti-Differenzierungstheorie, und Differenzierungstheorien fallen schon unter den Bannspruch des Essenzialismus. Für die anderen heißt Konstruktivismus der Rückbezug auf die Frage, wie überhaupt sinnhaftes Operieren in einer überkomplexen Welt möglich ist. Als Bedingung dafür muss vereinfacht werden, muss reduziert werden, andernfalls geht alles in weißem Rauschen unter. Reduktionen aber – etwa Unterscheidungen, an denen entlang beobachtet werden kann – können nicht beliebig gemacht werden. Sie müssen hinreichend oft wiederholt, müssen konfirmiert und kondensiert werden; sie müssen widersprechende Ereignisse absorbieren können, ein sinnvolles Verhältnis von Subsumptionskraft und Abweichungstoleranz finden; und sie müssen mit anderen Reduktionen abgestimmt werden, die im selben System in Gebrauch sind. Beim Zuschnitt von Selektionen oder Reduktionen ist deshalb keinesfalls Beliebiges möglich. Auch Neuerungen, Innovationen, Revolutionen müssen angeschlossen werden; auch das Erschließen neuer Möglichkeiten, auch Offenheit, Freiheit, Wandel, ist nur möglich, wenn sie mit schon gemachten Reduktionen abgestimmt werden, andernfalls würde alles in unendliche Varietät und Unverständlichkeit auseinanderfallen. Man kann auch sagen: Sinnverarbeitung ist nur in Systemen, nämlich in Netzwerken rekursiver Operationen möglich; und umgekehrt: Systeme sind das Korrelat des immanenten Reduktionsund Selbstvereinfachungszwanges von Sinnverarbeitung (Luhmann 1984: 34 ff., 92 ff., 1990a). Generell kann man davon ausgehen, dass es für sinnvolles Operieren mehr als eine, aber nicht sehr viele Möglichkeiten gibt – wie Harrison White sagen würde: eine Handvoll. Es gibt deshalb etwa nur eine begrenzte Zahl von Differenzierungsformen für komplette Gesellschaften. Gesellschaften können segmentär, stratifikatorisch, funktional und vielleicht nach Zentrum/Peripherie differenziert sein, aber damit endet die Liste auch schon – eine ziemlich kurze Liste angesichts einer grundsätzlich offenen Welt und einer enormen Vielfalt von
110
2 Grenzen und Entgrenzungen
Lebensbedingungen auf dem Planeten. Ebenso gibt es in der modernen Gesellschaft, wenn sie sich einmal auf das Strukturprinzip funktionaler Differenzierung eingeschossen hat, scharfe Restriktionen in dem, was möglich und anschließbar ist, synchron wie diachron, in historischen Abfolgen wie im momentanen Agieren. Die moderne Gesellschaft ist eine sehr offene, neuerungsintensive, wandlungsbereite Gesellschaft, und natürlich gibt es nicht den einen unabänderlichen Entwicklungspfad, die eine richtige Lösung für auftretende Probleme, das eine fix und fertig gelieferte Strukturset. Es gibt aber auch nicht einfach ein offenes Feld, in das man nach Lust und Laune beliebige Formen einprägen könnte. Vielmehr werden Grenzen des Möglichen durch Bedingungen der Kompossibilität mit anderen Strukturen gesetzt. Im Sinnmedium gebildete Formen müssen sich aneinander bestätigen und aneinander fortbilden, gerade weil es keine andere Stabilitätsgrundlage gibt. Es sind deshalb auch keineswegs nur die Macht, die Interessen und die eingegrabenen Ansprüche von Akteuren, die Restriktionen setzen: „Selbst wenn alles erlaubt wäre, so wäre deshalb noch lange nicht alles möglich.“ (Luhmann 1969b: 30). Auf diese Weise kann man zu einem zwar ur-konstruktivistischen, aber anti-voluntaristischen Verständnis sozialer Ordnung kommen.59 Der Konstruktivismus im Stil der Interessengruppensoziologie ist dann auch nur eine Art Essenzialismus – nämlich einer, der die Akteure reifiziert und essenzialisiert. (Siehe dazu auch das folgende Kap. 3). Konstruktivistisch sind also beide Ansätze, jeder auf seine Weise. Nur ist es der eine auf eine Weise, die die Rede von Grenzen erzwingt – als unverzichtbaren Reduktionen und Sinnverarbeitungshilfen –, und der andere auf eine Weise, die jede vorgebliche Grenze der Dekonstruktion anheimgibt und in situative Behauptung und interessierte Grenzarbeit auflöst. Immerhin ist in diesem Kapitel gezeigt worden, dass auch, wenn man Grenzen als objektiv, strukturell und emergent versteht, sie deshalb nicht als ewige, unwandelbare Substanz oder historische
59Luhmann
schreibt hierzu (1990a: 66): „Oft geht man ungeprüft davon aus, daß höhere Selektivität im Sinne eines Ausschließens von mehr anderen Möglichkeiten höhere Willkür oder Beliebigkeit der Selektion bedeute. Das Gegenteil trifft zu. Je schärfer (informationsreicher) die Selektion, desto geringer die Beliebigkeit; denn desto unwahrscheinlicher wird die Chance, überhaupt noch stabile Formen zu finden. Man darf sich nicht durch die Gewohnheit täuschen lassen, Selektion als Handlung und damit als Effekt eines Willens zu denken. […] Komplexe Systeme sind […] immanent historische, durch ihre eigene Selektionsgeschichte konditionierte Systeme. Sie bewähren sich in dem Maße, als sie Freiheitsgrade für weitere Selektion seligieren.“
2.8 Fazit
111
Konstante zu sehen sind, sondern als Strukturen mit hoher Elastizität und hoher Fähigkeit zu historischer Komplexitätsanreicherung. Die historische Variabilität von Grenzen allein kann mithin noch nicht als Beleg für die instrumentalistische Sicht der Dinge angeführt werden. Grenzen sind nicht für die Ewigkeit gezogen und auch nicht anhand eines einzigen, fixen Kriteriums abzustecken. Das liegt aber nicht daran, dass es sie „eigentlich“ gar nicht gibt, sondern daran, dass es Grenzen zwischen Systemen sind – Systemen, die zu komplex sind, als dass sie auf ein einziges, glasklares Kriterium herunterreduziert werden k önnten. Wenn Grenzen auf Beobachter den Eindruck opportunistischer Wandelhaftigkeit und Wendehalsigkeit machen, so kann das zum einen an ihrer historischen Schmiegsamkeit liegen, zum anderen aber auch an dem weiteren Umstand, dass jedes Funktionssystem Grenzen nicht nur gegenüber einem anderen System hat, sondern gegenüber vielen. Es wird deshalb – als sensibles und vernünftiges System – seine Grenze anders akzentuieren und inszenieren je nach dem, welches Zwischen-System-Verhältnis gerade akut ist. Die Grenze zwischen Wissenschaft und Wirtschaft ist in der Tat nicht dieselbe Grenze wie die zwischen Wissenschaft und Politik, oder Wissenschaft und Massenmedien, oder Wissenschaft und Religion – obwohl es sehr wohl dasselbe System ist, das all diese Grenzen zieht und handhaben muss. Man braucht sich also nicht zu wundern, wenn – wie Gieryn feststellt – Wissenschaftler die „Essenz“ von Wissenschaft gegenüber Religionsvertretern anders formulieren als gegenüber Vertretern des Politik- oder Wirtschaftssystems. Das heißt nicht, dass es die Einheit der Wissenschaft gar nicht gibt, sondern nur, dass man zwischen System und Selbstbeschreibung unterscheiden muss, und weiter, dass die Situierung in einer komplexen Umweltlage besondere Umsichten und Einfühlungsbereitschaften erfordert und gerade deshalb hohe Eigenleistung und Autonomie des Systems erzwingt. Grundsätzlich ist jede Formulierung der Systemgrenze eine Vereinfachung – wie auch jede sonstige Struktur, jede Erwartung, jede Selbstbeschreibung – und geht damit in gewisser Weise an der Realität vorbei, nämlich an der operativen Realität des Systems, die immer sehr viel bunter, momenthafter, wilder, unintegrierbarer ist, als es im Selbstzugriff des Systems gefasst werden kann. Kein System bekommt sich in seiner Selbstbeschreibung je voll zu Gesicht. Das System ist operativ immer mehr als seine Strukturen und mehr als seine Selbstbeschreibung (Luhmann 1984: 377 ff., 488 ff.). Dasselbe Problem wiederholt sich also auf mehreren Ebenen: Erst muss es Grenzen geben (und basal immer: zwischen verschiedenen Teilsystemen der Gesellschaft), um die notwendigen Vereinfachungen zu machen; dann, wenn es Grenzen gibt, im operativen Vollzug, können nur vereinfachte, „verzerrte“, „opportunistische“ Selbst- oder Fremdbeschreibungen der Grenze angeboten werden. Gerade die Wiederholung bestätigt die Richtigkeit des Prinzips.
3
Macht und andere Politismen
3.1 Wider naive Akteursmodelle Eine zentrale Leistung von Wissenschafts- und Wirtschaftssoziologie ist es, unrealistische Vorstellungen vom epistemischen Subjekt und vom ökonomischen Akteur aus der Welt zu schaffen. Forschung wird nicht gemacht von interesselosen Naturbetrachtern, die sich ausschließlich von Fakten und Evidenzen beeindrucken lassen und als neutrales Gefäß für die langsam sich offenbarende Wahrheit dienen. Märkte werden nicht betrieben von egoistisch-atomistischen Akteuren, als unentwegt kalkulieren, Marktdaten taxieren und Profite maximieren. Solche Akteure gibt es in der Realität nicht, so lehren Wissenschafts- und Wirtschaftssoziologie, sie sind schlimmstenfalls eine ideologische Fiktion und bestenfalls eine normative Projektion. Den Angriff auf allzu naive Vorstellungen von Akteuren und ihren Rationalitäten führen sie zwar nicht allein. Auch heterodoxe Strömungen der jeweiligen Reflexionstheorie ziehen am selben Strang – etwa pragmatistische oder evolutionistische Epistemologien, für die Erkenntnissubjekte stets in praktische Brauchbarkeitszusammenhänge oder Überlebenszusammenhänge eingebunden sind, oder Institutionenökonomik und Verhaltensökonomik, die begrenzte Ratio nalität und „Opportunismus“ postulieren und empirisch beobachtbares Entscheidungsverhalten untersuchen. Aber Soziologen sind hier typisch radikaler, sie setzen weniger mit punktuellen Korrekturen als mit einem Rundumschlag an und können dabei aus einem tiefen Fundus von Einsichten in das Handeln individueller und kollektiver Akteure schöpfen. Die Zurückweisung falscher oder überidealisierter Modelle ist indes nur ein erster Schritt. An ihre Stelle muss etwas anderes gesetzt werden, und an diesem Punkt ist die häufigste Strategie die Ersetzung des perfekten epistemischen oder ökonomischen Akteurs durch den in irgendeiner Weise politischen
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 B. Kuchler, Die soziale Seite an Wirtschaft und Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23104-0_3
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114
3 Macht und andere Politismen
Akteur. Der Akteur, wie er in den Texten der Wissenschafts- und Wirtschaftssoziologie vorkommt, ist ein machtbewusster, strategisch denkender Geselle, der in Durchsetzungs- und Legitimationskämpfe verstrickt ist, mikro- oder makropolitische Schachzüge ausheckt, Verbündete sammelt und Gegner gegeneinander ausspielt. „Scientists are ‘rational actors,’ but in the political sense that they seek to maximize their own utilities: power, status, wealth, and so forth“ (Brown/Malone 2004: 108). Und dasselbe gilt für Marktteilnehmer, die zwar zur Maximierung ihres Nutzens auch der offiziellen Rationalität nach befugt sind, aber nicht zur Anwendung all der Tricks und Kniffe, auf die sie dabei routinemäßig verfallen. Beschreibungen mit diesem Tenor sind in unbegrenzter Zahl zu finden und genießen im Feld eine hohe Spontanplausibilität. Wo die Erklärung „It’s nature“ oder „It’s the market“ nicht überzeugt, da überzeugt die Erklärung „It’s power“. In letzter Konsequenz ist alle Wissenschaft nur getarnte Politik, „‘unpolitical’politics“, und alle Wirtschaft eine „kryptopolitische Vettern- und Granovetternwirtschaft“.1 In diesem Austausch von Denkmodellen kommt der ursoziologische Impuls zum Ausdruck, sich nichts vormachen zu lassen, hinter die Kulissen zu schauen und keinen geschönten Darstellungen auf den Leim zu gehen. Soziologen sehen all die kleinen Tricks und Kniffe, die Menschen anwenden, sie durchschauen den Schein der angeblich universellen Sachlogiken und erkennen deren schmutzigen, subpolitischen Unterbau. Wissenschaftssoziologen zeigen „science […] [as] a refreshingly human, flesh and blood enterprise“ (Jasanoff 2012: 438), sie enthüllen „the human face beneath science’s rationalist mask“ (Guston 1999: 89), und Wirtschaftssoziologen suchen hinter abstrakten Marktgrößen „real people with real purposes“ (Fligstein 2008: 241). Nun wissen natürlich auch die orthodoxesten Epistemologen und Ökonomen, dass die Idealmodelle von Erkenntnis und und rationalem Handeln keine Realitätsbeschreibung, sondern eben Modellannahmen sind, dass echte Menschen nicht so ticken und die empirische Realität wesentlich bunter und schmutziger ist. Sie beharren aber darauf, dass es gleichwohl gute Erklärungsmodelle seien, die in jedem Fall so lange v erwendet werden müssten, bis bessere Modelle verfügbar seien (so für die Ökonomik
1Die
Formulierung „unpolitical politics“ stammt von Brian Wynne (2008: 23). Die Wortschöpfung „Granovetternwirtschaft“ entnehme ich einer persönlichen Kommunikation von André Kieserling; sie findet sich daneben auch bei Jürgen Kaube (2000: 256).
3.1 Wider naive Akteursmodelle
115
etwa Friedman 1953; und ironisch McGoun 1993).2 Streng genommen geht es mithin zwischen den Reflexionstheorien und der Soziologie weniger um die Frage, ob solche Akteursmodelle eine gute Realitätsbeschreibung oder gar ein angemessenes „Menschenbild“ abgeben – das tun sie nicht –, sondern ob sie als explanatorische Grundlage taugen. Und Soziologen würden ihnen auch und gerade diesen zweiten Status bestreiten und argumentieren, dass diese Annahmen in die falsche Richtung führen und von den entscheidenden Fragen gerade ablenken. Wenn das die Situation ist – was ist das Problem damit? Die Falle, die sich an diesem Punkt auftut, ist, dass unter der Hand ein überstilisiertes Akteursmodell gegen ein anderes eingetauscht wird. Anstelle der epistemischen oder ökonomischen Logik soll es jetzt eben eine politische oder para-politische Logik sein, die das Handeln von Menschen bestimmt, womit letztlich nur eine funktionssystemspezifische Abstraktion durch eine andere ersetzt wird. Es greift eine „politistische“ Denkweise – wie man sagen kann in Analogie zu Wortbildungen wie „ökonomistisch“, „szientistisch“ „normativistisch“ oder „fundamentalistisch“, mit denen Weltsichten bezeichnet werden, die die Werte und Orientierungen eines Funktionsbereichs zum Maßstab aller anderen machen (Kieserling 2004: 170 ff.). Dieser Austausch erzeugt über gewisse Strecken überraschende Einsichten, weil eben ein Funktionssystem mit der inkongruenten, verfremdenden Brille eines anderen traktiert wird. Er führt aber nur bis zu einem bestimmten Punkt, und er führt auch leicht in eigene Überziehungen und Naivitäten. Wenn der Mensch kein interesselos-kontemplativer Weltbetrachter ist und kein rational-egoistischer Kalkulierer und Maximierer, warum sollte er dann ausgerechnet ein politischer Stratege und Strippenzieher sein? Das ist letztlich eine ebenso starke und einseitige Stilisierung, die nur gegenüber den Stilisierungen der Reflexionstheorien verschoben ist. Die Soziologie hat ansonsten gut
2In
der Sicht der Reflexionstheorien werden die „kontaminierenden“ Faktoren der empirischen Realität oft durch Selbstreinigungsprozeduren des entsprechenden Systems wieder wegneutralisiert. Dazu dient etwa die klassische epistemologische Unterscheidung von Entdeckungskontext und Geltungskontext, die die wilden, unkontrollierten Zufälle und Motivlagen empirischer Forschungsprozesse gleichzeitig eingesteht und in ihrer epistemischen Bedeutung neutralisiert. Die ökonomische Theorie ist mittlerweile weit fortgeschritten in der Kunst, Marktmechanismen zu beschreiben, die irrationales Handeln einzelner (oder auch aller) Teilnehmer wegneutralisieren und auch bei teilweise oder komplett irrationalen Akteuren noch funktionieren, sodass Märkte ebenso gut von Idioten, Gorillas, Zufallsgeneratoren oder „zero-intelligence actors“ betrieben werden können (Becker 1962; Gode/ Sunder 1993).
116
3 Macht und andere Politismen
entwickelte Abwehrreflexe gegen „-ismen“ jeder Art, also gegen Hypostasierungen einzelnen Funktionssystemlogiken. Ökonomistische oder szientistische Beschreibungen der Gesellschaft sind der Mehrheit der Soziologen suspekt, und sie werden mit eben diesen Abwehrbegriffen abgelehnt (Kieserling 2004: ebd.). Nur gegen politistische Beschreibungen scheinen ihr die Antikörper zu fehlen. Dieses Kapitel soll zeigen, dass man damit letztlich in einer Überlastung politischer Begriffe landet, insbesondere in einer Überschätzung der Erklärungskraft von Macht und Interessen sowie einer Überschätzung der Möglichkeiten von Demokratie. Ich zeichne zunächst einige verbreitete politistische Denkmuster in wissenschaftssoziologischen und wirtschaftssoziologischen Debatten nach (Abschn. 3.2 und 3.3). Dann zeige ich, dass zentrale politische Kategorien damit überlastet werden, gemessen an dem, was man mit einem kritischen Blick auf diese Kategorien selbst – statt mit einem Ausweichen auf diese Kategorien nach einem kritischen Verabschieden anderer – sagen kann (Abschn. 3.4). Der Machtbegriff wird überdehnt, Interessen werden reifiziert und Demokratie wird idealisiert, wenn sie als Zentralbegriffe für das Verständnis anderer Funktionsbereiche herhalten müssen (Abschn. 3.4–3.7).
3.2 Macht und Mikropolitik in der Wissenschaft Die Entscheidung wissenschaftlicher Kontroversen Die klassische Frage der konstruktivistischen Wissenschaftssoziologie lautet: Wie, wenn nicht mit Durchblick auf die Welt selbst, mit Objektivität und Wahrheit, ist das Zustandekommen wissenschaftlicher Fakten zu erklären? Und der Tenor der Antwort über weite Strecken der Debatte ist: Es ist zu erklären durch Verweis auf politische oder subpolitische Prozesse des Verhandelns und Entscheidens, des Einfädelns und Koalitionierens, des Interessenabwägens und Interessendurchsetzens. Hier trennt sich die Wissenschaftssoziologie von der Kuhn’schen Wissenschaftsgeschichte und -philosophie, die an dieser Stelle sagen würde: Wenn Wahrheiten nicht auf den Gegenstand zurückgeführt werden können, dann müssen sie auf bestimmte kognitive Formationen – Paradigmen – zurückgeführt werden. Der soziologische Zugang dreht sich dagegen zentral um die politische Qualität von Wissen, „the political status of solutions to problems of knowledge“ (Shapin/ Schaffer 1985: 341). Das klassische, passiv-kontemplative Wissenschaftsbildes soll durch ein stärker aktivisches, instrumentalistisches, konstruktivistisches Bild ersetzt werden, und dies ist die Form, die diese Ersetzung vorzugsweise annimmt. Man achtet auf Interessen, Manöver und Machtpotenziale, sei’s in Mikro- oder in Makro-Horizonten, im täglichen Kleinklein des Forschungsbetriebs oder in
3.2 Macht und Mikropolitik in der Wissenschaft
117
weitergespannten gesellschaftlichen Kontexten. Immer ist die Annahme, dass, wo die Entscheidung zwischen rivalisierenden Deutungsangeboten oder rivalisierenden Forschungsfragen nicht auf epistemischer Basis getroffen werden kann, eine in irgendeinem Sinn politische Logik dafür einspringt. Zu Beginn, im Strong Programme, stehen vor allem makropolitische oder gesellschaftliche Interessenlagen im Zentrum. Postuliert wird, dass auch in scheinbar esoterischen naturwissenschaftlichen Kontroversen letztlich Interessen sozialer Gruppen sich gegenüberstehen, etwa Interessen von Adel und Bürgertum, von aufund absteigenden Schichten, und dass Wissenschaftler bewusst oder unbewusst diejenige Auffassung vertreten, die den Interessen ihrer Herkunftsgruppe entspricht. Im Interessenbegriff und in der Vorstellung sozialer Standorte liegt eine lockere Anknüpfung an die Tradition der Ideologiekritik (Marx, Lukács, Gramsci) und die klassische Wissenssoziologie (Mannheim), die Wissen auf Trägergruppen zurückführte. Diese Kontinuität trägt die Radikalität des ersten soziologischen Ansatzes, sich an die Inhalte der „harten“ Naturwissenschaften soziologisch heranzuwagen; und gleichzeitig ist der Begriff „Interesse“ der unmittelbarste, direkteste Angriff auf das epistemologisch idealisierte Bild von Forschung als reinem Erleben, reiner Kontemplation, passiver, interesseloser Betrachtung der Welt-wie-sie-ist.3 In diesem Sinn werden dann eine Reihe von wissenschaftlichen Kontroversen aus verschiedenen historischen Phasen interpretiert. So stehe die unter Physikern des 17. Jahrhunderts geführte Kontroverse über die Natur der Materie in Zusammenhang mit den Interessenlagen verschiedener Schichten in dem damals sich abzeichnenden Bröckeln der alten Ständeordnung (Bloor 1982; Shapin/Schaffer 1985). Die Frage, ob Materie von innen heraus bewegt und mit Ziel und Richtung ausgestattet ist, wie nach der Aristotelischen Lehre, oder ob sie aus rein mechanischen Bausteinen, aus trägen und willenlosen Teilchen besteht, wie in der Newton’schen Physik, habe Implikationen für die Frage, ob die Gesellschaft als aus freien und gleichen Individuen bestehend gedacht wird, die gleichermaßen ihr Gewicht geltend machen können. Deshalb waren die Kontrahenten der Debatte, wie Thomas Hobbes und Robert Boyle, gleichzeitig als Physiker und als politische Theoretiker oder Propagandisten unterwegs. Ähnliches wird für die im 19. Jahrhundert ausgetragene Kontroverse um die Schädelkunde gesagt
3Der
Unterschied zwischen Mannheim und dem Strong Programme liegt dann „nur“ darin, dass bei ersterem naturwissenschaftliches Wissen explizit aus dem Anwendungsbereich von Interessen- und Standorterklärungen ausgenommen war, was letzteres mit einem großen Knall revidierte (Bloor 1976; Barnes 1977). Das Verhältnis zwischen Mannheim und dem Strong Programme kommentiert mit interessanten Beobachtungen auch Pels (1996).
118
3 Macht und andere Politismen
(Shapin 1979): Schädelkundler seien meist Personen aus disprivilegierten Schichten gewesen, denen die meritokratischen Implikationen dieser Lehre – Vermessung individueller Fähigkeiten – zupass kamen. Ihre Gegner waren dagegen meist Personen aus dem Adel und der etablierten Elite, die für Meritokratie nichts übrig hatten und darüber hinaus den alten Dualismus von Geist/Körper oder Kopf/ Hand intakt halten wollten, der ihre Position in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung rechtfertigte – ein Dualismus, den die Schädelkunde mit dem engen Zusammenhang von Körperform und geistigen Fähigkeiten aufzulösen drohte. Für manche Fälle wird mithin eine direkte Korrespondenz von Interessenlagen, ein Abbildverhältnis zwischen naturwissenschaftlichen Theorien und gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien postuliert. Man geht davon aus, dass Vorstellungen von natürlicher und sozialer Ordnung oft analog gebildet werden: dass Gesellschaftsmitglieder analog zu Materieteilchen und Gesellschaftsschichten analog zu Körperorganen gedacht werden, sodass die Lösung von Wissensproblemen gleichzeitig die Lösung von Problemen sozialer Ordnung ist (Shapin/ Schaffer 1985: 332). Das Theorem des Zusammenhangs von natürlicher und sozialer Ordnung, der „Ko-Produktion“ von Wissenschaft und sozialer Ordnung (Jasanoff 2004), bleibt der Wissenschaftssoziologie bis heute erhalten, auch wenn später andere Anwendungen und andere Transmissionsriemen im Zentrum stehen. Mit Abbildverhältnissen kommt man denn auch nur begrenzt weit, und man kann statt dessen, um auch spezialistische wissenschaftliche Debatten einbeziehen zu können, auf indirektere Zusammenhänge zwischen wissenschaftlichen Konzepten und breiteren gesellschaftlichen Interessen abstellen. So können etwa an einer um 1900 geführten Kontroverse um die Entwicklung statistischer Korrelationsmaße schichtbezogene Interessenlagen herausgearbeitet werden, nämlich mit Blick auf die damals strittige Eugenikfrage (MacKenzie 1978; Barnes/MacKenzie 1979; MacKenzie/Barnes 1979). Es stand damals zur Debatte, ob Korrelationsmaße auf der Grundlage intervallskalierter Daten oder anspruchsloserer nominalskalierter Daten gebildet werden sollten. Für Intervallskalierung plädierte ein Forscher aus der aufsteigenden Mittelschicht, der individuelle Leistung hochhielt und mit Eugenikprogrammen sympathisierte; denn die Eugenik arbeitete oft mit Korrelationen intervallskalierter Daten, etwa zwischen der Körpergröße von Eltern und ihren Nachkommen. Für Nominalskalierung trat dagegen ein Forscher aus der alten Elite und ohne Interessen an Eugenik ein, dessen praktische Anwendungsinteressen – etwa an Gesundheitsprogrammen wie Massenimpfungen – auch mit nominalskalierten Daten bedient werden konnten, etwa durch Vergleich der Sterberaten geimpfter und nicht-geimpfter Personen. Außer auf gesellschaftliche Makrointeressen verweist das Strong Programme aber auch auf engere forschungspolitische Interessen. Wissenschaftler wählen
3.2 Macht und Mikropolitik in der Wissenschaft
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aus konkurrierenden Deutungsangeboten im Zweifel das für sie bequemere aus: dasjenige, das am besten in die von ihnen bevorzugte Forschungsrichtung passt und dort den größte Fortschritt verspricht, und/oder dasjenige, das ihnen die größten Chancen zur Platzierung ihrer Arbeiten und zur Erlangung von Prominenz bietet (MacKenzie 1978; MacKenzie/Barnes 1979; Pickering 1981a). So wird festgestellt, dass sich in der Teilchenphysik des 20. Jahrhunderts von zwei rivalisierenden Theorien über Quarks diejenige durchgesetzt habe, die die Mehrheit der Forscher leichter verständlich und besser operationalisierbar fand und die die rückwirkende „Rechtfertigung“ bisheriger Arbeiten und den Anschluss einer Reihe von weiteren Experimenten mit weiteren Publikationschancen erlaubte (Pickering 1981b, 1984). Die Bedeutung von Forschungs- und Laborpolitik in einem breiteren, nicht nur auf Interessen fokussierten Sinn wird dann insbesondere von ethnografischen und netzwerktheoretischen Ansätzen herausgestellt. Die Laborstudien wenden das aktivistische Paradigma der Wissenschaftssoziologie so, dass sie die tägliche physische und soziale Bastelarbeit untersuchen, die den Alltag des Forschungshandelns prägt, aber in den veröffentlichten Endprodukten verschwiegen wird (Latour/ Woolgar 1979; Knorr Cetina 1980, 1984, 1988). Hier finden sich allerlei mikropolitische Strategien und Schachzüge etwa mit Blick darauf, wie man sich Zugang zu Ressourcen aller Art verschafft (Gelder, Stellen, Vortragseinladungen); wie man die Bedeutung der eigenen Forschergruppe, oder auch die eigene Bedeutung in der Gruppe, erhöht; wie man Forschungsideen mit möglichst hohen oder möglichst schnell zu realisierenden Erfolgschancen herausfiltert; wie man Publikationsorte anhand von vermuteten Annahmechancen oder Gutachterzusammensetzungen taxiert; oder wie man Titelgebung und Co-Autorschaft von Texten mit Blick auf deren Aufmerksamkeitswert oder auf die eigene Prominenz frisiert. Solche Handlungsstrategien können nicht mit einer Wahrheitslogik beschrieben werden, sondern nur mit einer instrumentalistischen und „opportunistischen“ Logik: Im Umgang mit der physischen Welt geht es darum, „Dinge zum Laufen zu bringen“, und im Umgang mit der sozialen Welt geht es darum, Gelegenheiten (oder Hindernisse) zu erkennen und zu ergreifen (oder zu überwinden) (Knorr Cetina 1984: 24, 110). Forschungen anderer werden weniger als Transporteur von Wahrheit denn als Chance oder Erschwernis für die Platzierung eigener Arbeiten wahrgenommen. Den schärfsten politistischen Ton schlägt die aus den Laborstudien hervorgegangene Akteur-Netzwerk-Theorie an. Der Wissenschaftler wird hier offen als Stratege, Bündnisbauer, Fädenzieher, Truppenrekrutierer und Truppenführer beschrieben, und die Sphäre der Wissenschaft wird mit der Sphäre von Politik und Krieg parallelisiert. „Who will win in an agonistic encounter between two authors […]? Answer: the one able to muster on the spot the largest number of
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well aligned and faithful allies. This definition of victory is common to war, politics, law, and, I shall now show, to science and technology“ (Latour 1990: 23, Herv. wegg.). Latours Beschreibung des Forschungsprozesses liest sich streckenweise wie ein Manual der Mikropolitik.4 Er identifiziert „byzantinische politische Muster“ (ebd.: 37) bei der Produktion von Texten und der Praxis des Zitierens: Textschreiben ist für ihn vorrangig eine Frage des Rekrutierens (oder Verratens) von Verbündeten, das Schmiedens von Bündnissen, des Schwächens von Gegnern und des Ersinnens strategischer Schachzüge. „The rules are simple enough: weaken your enemies, paralyse those you cannot weaken […], help your allies if they are attacked, […] oblige your enemies to fight one another; if you are not sure of winning, be humble and understated. These are simple rules indeed: the rules of the oldest politics“ (Latour 1987: 37 f.). Latour ist denn auch als der „Machiavellist“ unter den Wissenschaftssoziologen bezeichnet worden und als jemand, der die Wissenschaft mit einer militaristischen Metaphorik beschreibt, in der Blut fließt und Gegner erledigt werden (Shapin 1988; Collins/Evans 2003). In weniger militanten Momenten arbeitet die Akteur-Netzwerk-Theorie aber auch mit Analogien aus dem Bereich der Demokratie. Der Kampf um Publikationsplatz in Zeitschriften wird mit dem Kampf um Wählerstimmen verglichen: Beide Kämpfe seien durch Appell an die mutmaßlichen Interessen von Lesern bzw. Wählern zu gewinnen, und in diesem Kampf zählten vor allem Appellqualität, Rhetorik, Aufmerksamkeitswert, nicht Wahrheit (Callon/Law 1982). Demokratieanspielungen finden sich auch auf tieferen Theorieebenen, insbesondere in der eigenwilligen „flachen“ oder symmetrischen Ontologie, der gemäß nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und Artefakte den Status von Akteuren oder Aktanten haben und gleichermaßen in den Netzen und Koalitionen der sozialen Welt auftauchen. Das gilt etwa für Muscheln im Atlantik, deren „Kooperation“ für eine wissenschaftlich kontrollierte Muschelaufzucht nötig ist, oder für die Mikroben, die von dem Mikrobiologen Pasteur als „Alliierte“ rekrutiert und seiner „Herrschaft“ unterworfen werden müssen (Callon 1986; Latour 1988, 1993). Die Welt soll ein „ebenes Spielfeld“ für menschliche und nicht-menschliche Akteure sein (Latour 2005: 63). Es herrscht das Prinzip der „freien Assoziation“, nach dem alle Akteure sich in unbeschränkter, immer wieder überraschender Weise miteinander verbinden und verbünden können und der Soziologe keine Vorannahmen über mögliche und unmögliche Mitspieler treffen darf. Es kann deshalb auch ein „Parlament der Dinge“ postuliert werden, in dem
4Auffällig
sind etwa die praktisch eins zu eins zu ziehenden Parallelen zwischen der S tudie von Latour (1987) und einer Studie über Mikropolitik im Regierungsapparat (Halperin 1974): Es finden sich fast Punkt für Punkt dieselben empfohlenen Strategien.
3.2 Macht und Mikropolitik in der Wissenschaft
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Entitäten jeder Art – Tiere, Pflanzen, Ozonlöcher usw. – eine Stimme und einen Sprecher haben und ihre Anliegen zu Gehör bringen können (Latour 1993, 1999).5 Hier scheint sich eine Art Demokratiesehnsucht auf sozialtheoretischer Ebene zu artikulieren – eine Sehnsucht nach Aufweichung von Herrschaft oder asymmetrischen Relationen überhaupt, nach Symmetrisierung von Mitspracherechten für alle. Und Demokratie ist generell ein Punkt, auf den die Imaginationsfähigkeit der Wissenschaftssoziologie sich richtet. Politisierung der Wissenschaft und Verwissenschaftlichung der Politik Fragen von Demokratie und Demokratisierung sind der Dreh- und Angelpunkt in den Debatten um die breitere gesellschaftliche Anwendung von, die Betroffenheit durch oder auch den Widerstand gegen Wissenschaft. Während die Entscheidung wissenschaftlicher Kontroversen und die Härtung wissenschaftlicher Fakten mit dem zu tun haben, was in klassischer Terminologie „Entdeckungskontext“ und „Rechtfertigungskontext“ heißt, geht es hier um die „Relevanzkontexte“ der Wissenschaft, in systemtheoretischer Terminologie: um Kopplungen an andere Funktionsbereiche. Hier fällt schon auf der Ebene der Themenwahl eine starke Affinität zum Politischen auf. Fragen politischer Entscheidung, rechtlicher Regulierung, öffentlicher Debatte und moralisch-ethischer Erwägung – also alles, was mit kollektiv bindendem Entscheiden zu tun hat – stehen ganz oben auf der Hitliste der Forschungsthemen und hängen andere Relevanzkontexte in der Intensität des Beforschtwerdens weit ab.6 Schnittstellen zu anderen Funktionsbereichen
5Das
Theorem der nicht-menschlichen Aktanten ist stark umstritten. Latour räumt zwar den Unterschied ein, dass nicht-menschliche Aktanten nicht für sich selbst sprechen können, sondern durch Sprecher repräsentiert werden müssen – aber andererseits gilt das ja ebenso für menschliche Akteure (Bürger), die sich in der politischen Arena ebenfalls repräsentieren lassen, sodass es letztlich nur ein Repräsentationsproblem in zwei Ausführungen gibt: einmal als Problem politischer Repräsentation, einmal als Problem wissenschaftlicher Repräsentation (Latour 1993, 1999). Pickering schlägt vor, die Parallele zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren dahin gehend zu relativieren, dass letzteren die Fähigkeit zur Intentionalität abgehe (Pickering 1993, 1995). – Das Theorem des Akteurs- oder Agentstatus von technischen Systemen (etwa des Börsentickers) und der zwischen Menschen und Nicht-Menschen verteilten Akteursqualitäten wird mittlerweile auch in der Wirtschaftssoziologie, speziell der Finanzsoziologie, ausprobiert (Preda 2006; Hardie/MacKenzie 2007). 6Themen mit besonderer politischer Brisanz und hohem Aktualitätswert – phasenweise etwa Atomkraft, Rinderwahn, Klimawandel, Gentechnik, Humangenetik – sind tendenziell überforscht. Allein die Diskussion über diese Themen füllt Bibliotheken; s. nur als Überblicksartikel zu Klimawandel und Gentechnik, ohne Humangenetik, Yearley (2008), und als Überblicksartikel zu Humangenetik, Hedgecoe/Martin (2008). Die Differenzierung der soziologischen Themenwahl von Themenkarrieren in der politisch-massenmedialen Debatte ist nicht voll gelungen.
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3 Macht und andere Politismen
werden zwar auch untersucht, etwa zu Industrie und Unternehmen (Stichwort Research & Development), zu Medizin (Stichwort Pharmaforschung), zu Massenmedien (Stichwort Popularisierung), oder zu Recht bzw. zum Dreieck Wissenschaft – Recht – Wirtschaft (Stichwort Patentrecht). Aber es liegt doch ein deutlicher Schwerpunkt auf politischen Fragen, und auch Forschungen zu anderen Kopplungsstellen haben oft eine politische Dimension. Das zentrale Faszinosum ist die „Politisierung der Wissenschaft“ und die korrespondierende „Verwissenschaftlichung der Politik“ (Weingart 1983, 2001; Brown 2015). Allein solche Begriffsbildungen in der charakteristischen sprachlichen Doppelung gibt es in großer Vielzahl, etwa als „Demokratisierung der Expertise und Expertisierung der Demokratie“ (Liberatore/Funtowicz 2003; Bader 2014) oder „Demokratisierung der Technologie und Technologisierung der Demokratie“ (Levidow 1998). Der Grundbefund einer wachsenden wechselseitigen Durchdringung von Wissenschaft und Politik kann theoretisch verschieden kontextiert werden. Man kann darin ein Problem eines umfassender werdenden Herrschaftszusammenhangs sehen: Da Wissenschaft prinzipiell für externe Zwecksetzungen offen sei, könne sie – jedenfalls in bestimmten Phasen paradigmatischer Entwicklung – durch dominierende Gruppen und Ziele vereinnahmt werden und von einem emanzipatorischen Projekt zu einem Dienstleister von Herrschaft mutieren (Böhme/van den Daele/Krohn 1973). Man kann auf Webers Rationalisierungsund Entzauberungsthese zurückgreifen und die Politisierung der Wissenschaft als Echo der vorhergehenden Verwissenschaftlichung der Gesellschaft sehen: In dem Maß, in dem andere Gesellschaftsbereiche auf wissenschaftlich-rationale Grundlagen gestellt werden, werden sie auch de-institutionalisiert und verunsichert, verlieren einen Teil ihrer traditionalen Orientierungsfunktion, und die Wissenschaft wird im Gegenzug mit den entsprechenden Selektions- und Entscheidungsfunktionen belastet und damit „politisiert“, mit politischem Gehalt aufgeladen (Weingart 1983). Man kann von Douglas’ Theorem des Zusammenhangs zwischen der Ordnung des Weltwissens und der Ordnung sozialer Beziehungen ausgehen: Dann steht Wissensproduktion immer auf der Kippe zwischen einem Erkenntnisakt und einem Machtakt oder Normierungsakt, Sein und Sollen lassen sich nicht trennen, und beide Seiten finden sich in unzähligen Expertenurteilen, Beraterkommissionen, Gesetzgebungsentscheidungen und Gerichtsurteilen immer wieder in schwer entflechtbarer Weise ineinander verflochten (Jasanoff 1990, 1995). Oder man kann – am einfachsten und mit allen theoretischen Positionen kombinierbar – die Politisierung der Wissenschaft als Effekt von technologisch bedingten Unsicherheits- und Risikoproblemen sehen: Technische Innovationen und immer weitergehende Eingriffe in biologische, chemische und physikalische Prozesse (etwa in atomare Spaltungen oder genetische Rekombination) bringen
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neue und präzedenzlos große Risiken und ethische Fragwürdigkeiten mit sich, für die die Wissenschaft zwar in gewissem Sinn verantwortlich ist, die sie aber nicht in hinreichendem Maß zu erkennen, zu berechnen und zu bewerten erlaubt. In der Folge entspinnen sich Debatten, Kontroversen und Proteste, in die die Wissenschaft hineingezogen ist, ohne sie entscheiden zu können. Am Verhältnis von Wissenschaft und Politik fasziniert dabei vor allem die Gleichzeitigkeit einer enger Verbindung und einer konstitutiven Spannung. Es gibt eine „tension between scientific expertise and democratic governance“ (Fischer 2000: viii), weil Wissenschaft ihrer Natur nach zunächst etwas Undemokratisches ist, nämlich ein Unterfangen, bei dem nicht jeder mitreden kann, keine Mehrheitsentscheidungen möglich sind und nur wenige Spezialisten die notwendige Kompetenz haben, um überhaupt die debattierten Fragen zu verstehen.7 Gleichzeitig gibt es aber auch eine enge Angewiesenheit der Politik auf Wissenschaft und wissenschaftliche Expertise: Moderne politische Systeme sind immer mehr auf wissenschaftlich abgesichertes Wissen angewiesen – für das Treffen von Entscheidungen, aber auch für die „Legitimierung, […] Verzögerung oder Vermeidung von Entscheidungen“ (Weingart 2001: 142). Politik braucht Wahrheit oder jedenfalls Expertise, aber gleichzeitig funktioniert das einfache Modell des „speaking truth to power“ immer weniger (Jasanoff 1990: 236; Carrier/Weingart 2009: 376). Die Stützung auf wissenschaftlichen Beistand wird für die Politik immer nötiger und zugleich immer schwieriger. Es kommt zu einer „Inflationierung wissenschaftlicher Expertise“, zu einer Proliferation von Experten und Gegenexperten, sodass beide Seiten einer Kontroversen ihre eigenen Experten ins Rennen schicken und auch Protestbewegungen kein einfach ablehnendes, sondern ein zutiefst ambivalentes Verhältnis zu Wissenschaft haben (Beck 1986; Yearley 1992; van den Daele 1996; Fischer 2000: 109 ff.). Die Debatte dreht sich dann um die Gefahren und Chancen dieser Entwicklung. Die Gefahr liegt in der Herausbildung von Technokratie und Aushöhlung von Demokratie; die Chance liegt – spiegelbildlich – in einer Vertiefung der Demokratie, wenn diese Entwicklung entsprechend reflektiert
7Es
können aber auch eigentümliche Mischungen aus demokratischer und spezialistischer Logik auftreten, wie aus einer Auseinandersetzung über Klimawandel berichtet wird: „Greenpeace […] printed a declaration […] signed by ‘100 of the country’s leading scientists, doctors, and engineers’. […] [T]here is something curious about the logic of this move: although Greenpeace seems to be invoking scientific authority, there is a majoritarian appeal also. Their argument seems to be not just that ‘scientific opinion’ is with them, but that a lot of scientists think this way.“ (Yearley 1992: 523).
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und mit institutionellen Neuerungen aufgefangen wird. An Fällen umstrittener wissenschaftlich-technologischer Innovationen wird zunächst eine Tendenz zur Technokratie oder „Expertokratie“ (Fischer 2000: 14), zur Kolonisierung politisch-öffentlicher Auseinandersetzungen durch wissenschaftlich-technische Rationalität diagnostiziert. Es bestehe die Gefahr der „overapplication of scientific rationality to public policy making“ (ebd: viii). Dadurch sei Demokratie gefährdet, und zwar – wie man mit Luhmann sagen könnte – in zwei Hinsichten, in der Sozial- und in der Sachdimensionen. In der Sozialdimension liegt die Gefahr darin, dass bei Entscheidungen über komplexe Technologien und Technologiefolgen nur die mitreden können, die über die entsprechende Expertise verfügen, während Nicht-Sachkundige aus der Debatte ausgeschlossen oder marginalisiert würden. „[T]echnocratic politics […] shields the elites from political pressure from below […] Not only are experts socially situated between the elites and the public, but their technical languages provide an intimidating barrier for lay citizens seeking to express their disagreements“ (ebd.: 23). In der Sachdimension sei die Gefahr, dass Fragen einseitig als Faktenfragen gerahmt würden, als Fragen vom Typ „Was ist der Fall?“, während andere Dimensionen des Problems, Fragen vom Typ „Wie wollen wir leben?“ von der Agenda verdrängt würden (Wynne 1992a, 1996, 2003; Jasanoff 2005). Harte, wissenschaftlich-technische Argumente hätten gegenüber „weichen“, praktischen, moralisch-ethischen Argumenten einen Durchsetzungsvorteil: „Often […] what gets defined ‘out’ are wider social and ethical commentaries, while a narrower form of technical expertise gets defined ‘in’.“ (Horst/Irwin 2010: 110). Diagnostiziert wird die Gefahr einer schleichenden De-Demokratisierung der Demokratie, oder auch einer schleichenden De-Politisierung von Politik. Wissenschaft usurpiere die politische Sphäre, sie sei „unpolitical politics“ (Wynne 2008: 23), Politik im Tarnkleid der wertfreien Faktenaussage, und die eigentliche Politik werde dadurch entleert oder beraubt. Ebenso sei Technologie inhärent politisch und keineswegs neutral, weil durch Technologiedesign unauffällig und unter Umgehung von Diskussion bestimmte Ziele durchgesetzt werden können – beispielsweise Schwarze von bestimmten Stränden ferngehalten werden können, indem Brücken für öffentliche Busse zu niedrig gebaut werden (Winner 1980). Auch hätten bestimmte Technologien eine innere Affinität zu bestimmten politischen oder wirtschaftlichen Organisationsformen. So habe Atomenergie eine Affinität zu autoritativen, hierarchischen Strukturen, weil sie in großen und straff organisierten Anlagen erzeugt werde; und Gentechnik habe eine Affinität zu Monopol und Großindustrie, weil sie Landwirtschaft in Agroindustrie mit hohem Kapitaleinsatz und rein instrumentellem Verhältnis zu Organismen als ihrem Rohmaterial verwandle (Winner 1980; Levidow 1998).
3.2 Macht und Mikropolitik in der Wissenschaft
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Als Heilmittel gegen diese Gefahren gilt eine Ausweitung von Partizipation und Deliberation. Wissenschaft wird an ihre demokratische Verantwortung erinnert, der sie sich ebenso zu stellen habe wie andere Institutionen in einem demokratischen Gemeinwesen auch (Fuller 2000). Die Ermöglichung von Öffentlichkeitsbeteiligung oder Bürgerbeteiligung, „demokratischer Technikkontrolle“ oder „partizipativer Technikfolgenabschätzung“ könne die Kolonisierung der Politik durch Wissenschaft und Technologie abwenden und an ihrer Stelle eine vertiefte Demokratie schaffen. Die bunte Vielfalt von Partizipationsformen – öffentliche Anhörungen, Runde Tische, Dialogverfahren, Bürgerjuries, Konsenskonferenzen – wird fleißig beforscht und klassifiziert (Joss 1999; Bucchi/Neresini 2008). Klassifikationen können etwa daran ansetzen, welche Politiktheorien dabei Modell stehen: pluralistische, partizipative oder deliberative Theorien (Bora/Abels 2004), welche Kommunikationsrichtung oder Initiativrichtung dominiert: von oben nach unten oder von unten nach oben (Rowe/Frewer 2005; Bucchi/Neresini 2008), oder wie die anvisierte „Öffentlichkeit“ operationalisiert wird: über Meinungsumfragen, über Diskussion unter engagierten und mehr oder weniger gut informierten Bürgern oder über Interessenvertretung von Betroffenen (Braun/Schultz 2010). Damit sollen Fragen von öffentlicher Bedeutung repolitisiert und soll das Verhältnis von Wissenschaftlern und Nicht-Wissenschaftlern, Experten und Laien, neu geordnet werden. Das hierarchische Verhältnis zwischen überlegenem wissenschaftlichem Wissen oder Expertenwissen einerseits und Laienwissen andererseits soll aufgebrochen werden, und ein stärker demokratisches, pluralistisches und kooperatives Verhältnis zwischen verschiedenen Wissensformen soll an seine Stelle treten. Gefordert wird eine Bereitschaft zum Dialog und zur hybriden Produktion von Wissen durch Experten und Laien – so beispielsweise bei der Beurteilung der radioaktiven Belastung von Schafweiden in zeitlicher oder räumlicher Nähe zu Atomanlagen und Atomkatastrophen, oder bei der Frage der Gesundheitsschädlichkeit von Kohlenstaub in Bergarbeiterlungen oder von Silikon in Frauenkörpern (Jasanoff 1995; Wynne 1996; Irwin 2001). Das Defizitmodell der Öffentlichkeit, wonach Laien allenfalls zweitklassiges, verzerrtes oder bruchstückhaftes Wissen hätten, dessen Quelle letztlich die Wissenschaft sei, soll überwunden werden. Die behauptete kategoriale Grenzziehung zwischen wissenschaftlichen und sonstigem Wissen, wonach ersteres universell, neutral und objektiv und zweiteres kontextabhängig, zielgruppenspezifisch und rhetorisch sei, sei nicht durchhaltbar; vielmehr sei alles Wissen in bestimmten Kontexten verankert, für bestimmte Publika geschrieben und nach bestimmten rhetorischen Regeln aufbereitet (Wynne 1991; Irwin 1995; Callon 1999a). Das Ziel ist eine wissenschaftliche Mündigkeit aller Bürger, der Aufbruch zu einer allgemeinen „scientific citizenship“ (Irwin/Michael 2003: 123) oder „technological citizenship“ (Frankenfeld 1992), sowie eine „offene
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Wissenschaft“, eine Laienbeteiligung willkommen heißende und in vielfältige Anwendungskontexte ausfließende „science 2.0“ (Gibbons et al. 1994; Nowotny/ Scott/Gibbons 2001). In solche Öffnungen und Demokratisierungen werden große Hoffnungen gesetzt, auch wenn die Realisierung bisher noch zu wünschen übrig lasse. Eher selten sind skeptische Stimmen zu hören, die auf die Grenzen der Demokratisierbarkeit von Wissenschaft hinweisen. Manche sehen etwa in Bürgerbeteiligung weniger einen Hoffnungsträger denn einen Lückenbüßer: So wird über Gerichtsverfahren zu strittigen Technologieprojekten gesagt, der Rückgriff auf Öffentlichkeitsbeteiligung sei eine Notlösung, die mangels besserer Alternativen gewählt werde, nämlich dann, wenn das Recht für angeforderte Entscheidungen weder von der Wissenschaft hinreichend sichere Erkenntnisse geliefert bekomme noch von der Politik hinreichend klare Gesetzesgrundlagen. „Wo Leistungsbeziehungen versagen, soll Inklusionsvertiefung als funktionales Äquivalent eintreten“ (Bora 1996: 394). Zu Skepsis kann auch ein Vergleich der relativen Inklusionspotenziale verschiedener Funktionsbereiche Anlass geben, wo die Wissenschaft – trotz aller Ansätze zu „Bürgerwissenschaft“ – allenfalls mittelmäßig abschneidet. Wissenschaft ist strukturell ein eher inklusionsaverses System und bleibt in Sachen Laienbeteiligung erwartbar zurück etwa gegenüber der Kunst, wo es immer auch auf das Urteil breiterer Kreise von Kunstbetrachtern oder -hörern ankommt; dem Recht, das routinemäßig Schöffen für Gerichtsverfahren heranzieht; der Religion, die gerne auch Laienprediger unters Volk schickt; oder der Medizin, wo Selbsthilfegruppen respektable Erfolge erzielen können (Collins/Evans 2002, 2007; Renda 2014). Vor diesem Horizont kann man der Laienbeteiligung an Wissenschaft – auch bei Ausschöpfung aller Partizipationsmöglichkeiten – bestenfalls durchschnittlichen Umfang bescheinigen, und man müsste mithin, wenn eine „science 2.0“, dann ebenso sehr auch ein „art 2.0“, „law 2.0“, „religion 2.0“ und „medicine 2.0“ ausrufen. Wer solche demokratieskeptischen Urteile äußert, ist entweder von vornherein ein Außenseiter oder katapultiert sich eben damit in Außenseiterposition. Die Mehrheitsauffassung, die das Feld prägt, ist, dass Demokratie ein gutes Modell oder eine gute Messlatte für den Umgang mit Wissenschaft und Technologie abgibt. Man kann etwa an die griechische „agora“ erinnern als an einen öffentlichen Marktplatz, wo kritische Bürger Fragen von allgemeinen Interesse diskutieren und entscheiden (Nowotny/Scott/Gibbons 2001). Konstruktivismus verweist auf Demokratie: Wenn Wissenschaft nicht mehr in Objektivität, Transzendenz und Universalität abgesichert ist, dann wird sowohl die Erarbeitung wissenschaftlichen Wissen an der Forschungsfront als auch seine Übersetzung in breitere soziale Relevanzen zu einem Problem von Macht und Gegenmacht,
3.3 Macht und Mikropolitik in der Wirtschaft
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einem Problem der Wahl der richtigen Entscheidungs- und Mitspracheformen. Eine solche politistische Sicht auf Wissenschaft ist gegenüber dem klassischen Wissenschaftsverständnis eine Provokation – innerhalb der Wissenschaftssoziologie ist sie der Standard. Hier hat es dann vielmehr hohen Provokationswert, wenn Politik und Wissenschaft, oder Demokratie und Expertise, als grundsätzlich getrennte und nicht ko-extensive soziale Domänen bezeichnet werden, wie etwa Collins und Evans (2007: 8) feststellen: „Democracy cannot dominate every domain – that would destroy expertise – and expertise cannot dominate every domain – that would destroy democracy.“ Solche Aussagen gelten ihren wissenschaftssoziologischen Kollegen als Revisionismus, der empörte Reaktionen auslöst (Jasanoff 2003; Rip 2003; Wynne 2003).
3.3 Macht und Mikropolitik in der Wirtschaft Die Macher von Märkten Die neuere Wirtschaftssoziologie nimmt sich den von der Neoklassik propagierten Mythos des kalkulierenden und maximierenden Akteurs vor. Folgt man ihren Beschreibungen, so sind real existierende Marktteilnehmer mit dieser Rolle sowohl über- als auch unterfordert. Überfordert sind sie insofern, als sie nicht mit transitiven Präferenzen, perfekter Information und mathematischer Kalkulationsgabe aufwarten können und statt dessen nur über begrenzte Rationalität verfügen. Unterfordert sind sie aber insofern, als sie sehr viel mehr Fantasie, strategisches Geschick und auch Durchtriebenheit zu bieten haben (im Jargon gesagt: eine breitere, vielseitigere Rationalität; Engels/Knoll 2012) und sich keineswegs nur als stupide Rechenmaschinen betätigen. Sie nutzen nicht nur Chancen innerhalb einer gegebenen, wohldefinierten Marktordnung, vielmehr sind sie zunächst einmal und immer wieder mit der Gestaltung von Märkten befasst. Mit Bourdieu könnte man sagen: Märkte sind ein Spiel, in dem nicht nur der Erfolg im Spiel, sondern die Regel des Spiels zur Disposition stehen (z. B. Bourdieu 1998b: 25). Die Energie der Spieler richtet sich nicht nur darauf, innerhalb des Spiels gut abzuschneiden, sondern die Spielregeln so einzurichten, wie es ihnen am meisten nutzt. Mit Durkheim kann man auch sagen: Es geht um die nicht-marktlichen Grundlagen des Marktes, um die Schaffung von Institutionen, die Markthandeln überhaupt erst ermöglichen. Dieses Meta-Spiel kann nicht mit ökonomischer Marktrationalität bestritten werden, weil es dort ja eben um die Definition des Marktes geht, um das Aushandeln und Festzurren der im Marktspiel geltenden Bedingungen – etwa des Kreises möglicher Marktteilnehmer, des Zuschnitts des gehandelten Produkts und
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der Bedingungen staatlicher Regulierung und Kontrolle. Dieses Spiel kann deshalb nur mit einer politischen (mikro- oder makro-, para- oder krypto-politischen) Rationalität bestritten werden. Es setzt sich derjenige durch, der mehr Macht hat, mehr Unterstützer oder stabilere Allianzen mobilisieren kann, über die elegantere Legitimationsrhetorik verfügt, der versierteste Stratege ist und am erfolgreichsten staatliche Regulierer für sich einspannen kann.8 Die Gestaltung von Märkten ist eine Frage von Macht und Machtkämpfen, von „power“ und „power struggles“ (s. nur statt anderer Fligstein 1996, 2001b). Erfolgreiche Marktakteure müssen nicht nur Markt-, sondern auch Machtchancen jonglieren können, sie müssen nicht nur Konkurrenz-, sondern auch Konfliktdynamiken beherrschen, und sie müssen nicht nur in Produktions-, sondern auch in Propagandadingen Bescheid wissen. Dabei können die beteiligten Spieler und ihre Fronten ganz verschieden angeordnet sein. Manchmal geht es um Marktteilnehmer auf den beiden Seiten des Marktes, also Käufer und Verkäufer, Anbieter und Nachfrager;9 manchmal geht es um verschiedene Spieler auf derselben Seite des Marktes, etwa große und
8Es
kommt deshalb auch zu einer charakteristischen Umkonnotierung des Begriffs von Strategie und strategischem Handeln zwischen den Wirtschaftswissenschaften und der Wirtschaftssoziologie (Jasper/Abolafia/Dobbin 2005: 479 f.). Rational-Choice-Theorien und insbesondere Spieltheorien, wie sie in der Ökonomik stark sind, untersuchen ebenfalls strategisches Handeln, aber die strategischen Optionen sind dort in charakteristischer Weise begrenzt: Der Spieler kann nur vorgesehene Spielzüge wählen (wenn auch mit hohen Ansprüchen an Vorausdenken von Zügen oder mit mathematischen Unbestimmtheiten der Wahl), aber er kann nicht das Spiel selbst umdefinieren, Spielregeln ändern, neue Spielzüge einführen. Dagegen geht es bei strategischem Handeln in der Wirtschaftssoziologie gerade um überraschende, kreative, über Bande gespielte Spielzüge, mithin um ein breiteres Strategieverständnis, das den Akteur als fantasievoller denkt und einen größeren Radius von Handlungsoptionen mit einbezieht.
9Beispielsweise
ist es im schwedischen Lebensmittelmarkt einer Großhandelskette gelungen, die Machtbalance zwischen Groß- und Einzelhändlern zu ihren Gunsten zu verschieben: Das traditionelle Arrangement von autonomen Einzelhändlern, die nach Belieben bei verschiedenen Großhändlern bestellen, wurde durch eine geschickte Kombination von Interaktionsdruck und finanziellen Anreizen erodiert zugunsten einer exklusiven Zuordnung, unter der Einzelhändler ihren kompletten Bedarf vom selben Großhändler beziehen müssen (Kjellberg 2007). An der New Yorker Börse wurde 1975 die fixe Kommission von einem Vierteldollar pro ausgeführter Transaktion abgeschafft, was Konkurrenz zwischen Börsenmaklern schuf und ihre Dienstleistung für die Kunden billiger machte (MacKenzie 2006: 166 f.). Ebenso macht es im Markt für Maklerleistungen im Immobiliengeschäft einen riesigen Unterschied, ob die Maklergebühr durch den Mieter bzw. Käufer, oder durch den Vermieter bzw. Verkäufer einer Wohnung zu zahlen ist und dafür gesetzliche Regelungen geschaffen werden.
3.3 Macht und Mikropolitik in der Wirtschaft
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kleine, etablierte und neue Anbieter im selben Markt;10 manchmal geht es einfach um Spieler mit verschiedenen Nutzungsinteressen, etwa Hedger und Spekulanten auf Finanzmärkten.11 Ebenso breit ist das Spektrum der umstrittenen Fragen, der gültigen Spielregeln des Marktes. Hier muss etwa entschieden werden, ob Handel auf zentralen Handelsplätzen oder in dezentralen, bilateralen Transaktionen stattfindet;12 wie Preise bestimmt werden, ob im Festpreis-, Verhandlungs- oder Auktionssystem, und umgesetzt mit welchen interaktionellen, schriftlichen oder elektronischen Verfahren;13 welche Produktstandards und Qualitätsstandards gelten und in welchen Quantitäten gehandelt werden kann;14 welche Handelspraktiken
10Hier
geht es insbesondere um Fragen von Marktführerschaft, um Monopol- oder Konzentrationstendenzen und um die Chancen kleiner oder neu hinzukommender Anbieter. In der Anfangszeit des Luftverkehrsmarktes beispielsweise rangierten sich US-amerikanische Regulierer auf einen Kompromiss ein, der zwar nicht auf ein direktes Monopol, aber auch nicht auf zu viel – für ruinös gehaltene – Konkurrenz hinauslief (Avent-Holt 2012). 11Hedger benutzen Finanzmärkte, insbesondere Derivatemärkte, um Risiken abzusichern, die bei sonstigen Geschäften auftreten. So wollen sich etwa Unternehmen gegen Währungsschwankungen oder Zinsänderungen absichern, Bauern gegen Wetterrisiken, und Versicherungen oder sonstige institutionelle Investoren gegen einen Wertverfall ihres Wertpapierportfolios. Spekulanten benutzen Finanzmärkte, um durch Antizipation von Kursbewegungen oder durch Ausnutzen von „Ineffizienzen“ und „Anomalien“ in der Preisbildung (Arbitrage) Profit zu erzielen. Die Grenze ist aber nicht eindeutig zu ziehen (Hickey 2011; Engel 2013). 12Wenn zentrale Handelsplätze eingerichtet werden (etwa Erdbeerauktionshäuser oder Wertpapierbörsen), stellt sich als nächstes die Frage, ob deren Mitglieder exklusiv nur dort handeln dürfen oder dieselben Waren oder Wertpapiere auch außerhalb, im Direktkontakt mit Interessenten handeln dürfen: ob etwa Erdbeerbauern auch noch direkt an Großhändler verkaufen dürfen (Garcia-Parpet 2007) oder Börsenhändler Terminkontrakte auf Aktienindizes – wie Dow Jones Futures, S&P 500 Futures – auch außerbörslich handeln dürfen, und wenn ja, dann eventuell nur bei anderer Kontraktgröße (MacKenzie 2015). 13In Auktionsverfahren gibt es etwa die Möglichkeit auf- oder absteigender Auktion sowie einoder zweiseitiger Auktion. Bei elektronischen Auktionsverfahren stellt sich weiter die Frage, mit welchen Algorithmen sie implementiert werden (Muniesa 2007; MacKenzie 2015). Eine perfekte Umsetzung des fiktiven Walrasianischen Auktionators ist nicht gefunden (MacKenzie 1998: 249 f.; White 2002: 13; Ganßmann 2007). Zur Alternative dreier Arten von Preisfestlegung: Festpreis, bilaterale Verhandlung/Vertrag, Auktion, s. grundsätzlich Smith (1989: 51 ff.). 14Bei Produktstandard geht es nicht nur um technische Details, sondern auch um den Zuschnitt oder die Identität des gehandelten Produkts überhaupt, etwa um die Frage, ob Hardware und Software als ein integriertes Produkt (wie bei Apple) oder als getrennte Produkte (wie bei IBM/Microsoft) entwickelt und angeboten werden (Fligstein 2001b: 72 f.). Eine Standardisierung von Qualitätsklassen ist etwa für den Handel mit Agrarprodukten wie Weizen nötig (Bühler/Werron 2014). Die Quantität muss etwa beim Handel mit Wertpapierderivaten festgelegt werden, wo das Volumen eines Options- oder Futureskontraktes spezifiziert werden muss (MacKenzie 2015).
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erlaubt und welche verboten sind;15 und wie das Handelsgeschehen überwacht und sanktioniert wird.16 All dies sind keineswegs nur akzidentelle Bestimmungen und oberflächliche Feinheiten, sondern jedes davon ist eine konsequenzenreiche Strukturentscheidung, die den Interessen mancher Gruppen mehr entgegenkommt als denen anderer – die etwa die Marktmacht großer Unternehmen zementiert oder erschüttert, die das Preisniveau zugunsten der einen oder der anderen Seite des Marktes verschiebt, die über Profitchancen und Freiheitsgrade von Marktteilnehmern bestimmt. Märkte enthalten mehr Kontingenz und weniger Automatismus, als für einen schnellen Blick erkennbar ist. In diesem Sinn wird in der Wirtschaftssoziologie immer wieder betont, es gebe nicht das eine, universelle Modell des Marktes, das man nur „sein lassen“ müsse („laissez faire“), damit sich eine optimale Ordnung von Angebot und Nachfrage einstelle. Es gebe nicht die „unsichtbare Hand“ des Marktes, sondern statt dessen viele sichtbare Hände – und sichtbare oder unsichtbare Interessen – von Teilnehmern. Man müsse umdenken „from the invisible hand of market efficiency to the visible hands of those who construct market arrangements“ (Abolafia 1996: 12). Märkte für die verschiedensten Dinge – von Erdbeeren bis
15Ein
Klassiker ist hier die Frage nach Absprachen oder impliziten Einverständnissen zur Konkurrenzunterdrückung, also (formalen oder informalen) Kartellen. Während formale Kartelle meist verboten und/oder staatlich überwacht sind, sind informale Absprachepraktiken nicht immer leicht zu identifizieren oder zu unterbinden: Wie weit darf der Verzicht auf allzu aggressive Konkurrenz gehen, um eine „Absprache“ zu sein? So etwa, wenn Börsenhändler einander nicht allzu eifrig in den verlangten Kommissionen zu unterbieten versuchen (MacKenzie 2007: 364). – Eine weitere Frage betrifft die noch akzeptable Aggressivität von Handelspraktiken. So gibt es auf Fischmärkten etwa Konventionen, die festlegen, dass bei knappem Fang kein Einzelbieter allzu große Mengen für sich reklamieren sollte (Weisbuch/Kirman/Herreiner 2000), und auf Wertpapiermärkten Konventionen, die umreißen, in welchem Maß einem Handelspartner ein Wertpapier wider besseres Wissen als „guter Kauf“ angepriesen werden darf (Abolafia 1996; Zaloom 2006). 16Soweit Handel in Interaktionskontexten betrieben wird, können Verstöße oft durch interaktionelle Ächtung von deviant Handelnden sanktioniert werden. Diese Möglichkeit besteht bei schriftlich oder elektronisch vermittelten Handelsabläufen weniger, dafür ist hier die Dokumentation und spätere Identifizierbarkeit von Verstößen entsprechend b esser (Zaloom 2003, 2006; MacKenzie 2015). Eine weitere wichtige Alternative ist die z wischen zentraler staatlicher Regulierung und dezentraler Selbstregulierung, etwa in Statuten und organisationalen Regelwerken der einschlägigen Handelsplätze. Beide Ebenen sind getrennt, aber auch interdependent: Da externe Regulierung generell gefürchtet wird, haben lokale Institutionen einen Anreiz, sich halbwegs zufriedenstellend selbst zu regulieren und die Empfindlichkeiten externer Regulatoren wenigstens ansatzweise vorwegnehmend zu berücksichtigen (Abolafia 1996).
3.3 Macht und Mikropolitik in der Wirtschaft
131
Finanzderivaten – werden nach diesem Muster beschrieben. Hier der Fall einer Wertpapierbörse: „[M]arkets are not spontaneously generated by the exchange activity of buyers and sellers. Rather skilled actors produce institutional arrangements […] [that] reflect the efforts of powerful market actors to shape and control their environment“. – „Shifts in the balance of power among […] groups determine who may design or redesign these arrangements to their own benefit“ (Abolafia 1996: 9, 8). Ganz analog wird über Erdbeerauktionen im ländlichen Frankreich gesagt: Der Markt sei kein naturgegebenes Ordnungsprinzip, sondern eine „continuous creation“ und ein „object of perpetual vigilance on the part of its organizers“ (Garcia-Parpet 2007: 37, 39). The ‘perfect’ functioning of the market is due not to market mechanisms or to an ‘invisible hand’ […]. Instead, it is the result of the work of a number of individuals with an interest in the market, together with acceptance by others who have also found it to their advantage to obey to the rules of the game. Thus the market is better conceived as a field of struggle than as the product of mechanical and necessary laws inscribed in the nature of social reality (ebd.: 45 f.).
Solche Kämpfe und Definitionsfragen können mehr oder weniger antagonistisch strukturiert sein, sie können Kompromisse zulassen oder auch nur durch Durchsetzung einer Seite entscheidbar sein. So wird beispielsweise für die Etablierung eines Marktes für Finanzderivate – genauer Währungsfutures – gesagt, die Festlegung der Marktspezifikationen müsse in halbwegs ausgewogener Weise die Interessen verschiedener Gruppen berücksichtigen, da der Markt andernfalls mangels Handelsbeteiligung eingehen würde. Successful choice of the specifications of derivatives contracts involves careful attention to sometimes-conflicting interests: of hedgers and speculators; of exchange members and external customers; and of the ‘longs’ who have bought a derivative and the ‘shorts’ who have sold it. […] The potential for interests to conflict […] makes contract design […] an inherently political problem […] [that] requires balance and compromise (MacKenzie 2007: 361).
Dagegen liefert die Etablierung eines Marktes für elektrischen Strom ein Beispiel dafür, dass zunächst einmal eine Grundsatzentscheidung zwischen gegensätzlichen und inkompatiblen Strukturmodellen getroffen werden muss, die von verschiedenen Akteuren präferiert werden. In diesem Fall musste entschieden werden, ob Strom in kleinen, in einzelnen Haushalten angesiedelten Anlagen oder aber in Großanlagen mit angeschlossenem Verteilernetz produziert werden sollte; und die Entscheidung zugunsten von Letzterem bevorzugte naturgemäß denjenigen Spieler, der sich dafür eingesetzt und seine Produktentwicklung darauf ausgerichtet hatte (Granovetter/McGuire 1998).
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3 Macht und andere Politismen
Eine typische Struktur von Märkten ist nach Fligstein die Unterscheidung von Marktführern und kleineren Anbietern, von dominierenden und nachrangigen Spielern (und Fligstein selbst ist gewissermaßen der Marktführer in Sachen „politistische Beschreibung von Märkten“).17 Diese beiden Gruppen von Spielern nennt Fligstein in einer deutlich ans politische System angelehnten Terminologie „Amtsinhaber“ und „Herausforderer“ („incumbent“ und „challenger“). Die Marktführer sind typischerweise größer, statushöher und fahren höhere Profite ein; sie versuchen mit allen erdenklichen Mitteln – von Absprachen und Kartellen über Preiskriege bis zum Erwirken staatlicher Regulierung – ihre privilegierte Stellung zu erhalten, während auf der anderen Seite die Herausforderer versuchen – mit demselben Spektrum von Mitteln, aber in entgegengesetzter Richtung –, diese Ordnung zu erschüttern. „[D]ominant and dominated […] are locked in a ‘game’ in which the goal of dominant actors is to reproduce their advantage and the goal of the dominated is to either directy challenge the dominant or accept a lesser role“ (Fligstein 2001b: 68). In diesem Spiel sind oft zirkuläre Kausalitäten zu beobachten: Dank ihrer dominierenden Stellung können große Spieler Marktregeln nach ihrem Geschmack durchsetzen, und dank der Durchsetzung von ihnen genehmen Marktregeln können sie ihre Vormachtstellung zementieren. Es gibt ausgeprägte Pfadabhängigkeiten, interessant etwa auf dem Markt für Personalcomputer: Während der Pionier (Apple) das Konzept der integrierten Entwicklung von Hard- und Software verfolgte, setzen die dann hochkommenden Marktführer (IBM/Microsoft) – ohne Absicht und einfach aus Tempogründen – einen Marktzuschnitt durch, in dem Hard- und Software getrennte und (im Prinzip) frei kombinierbare Produkte sind, was dann für längere Zeit den Marktstandard definierte (ebd.: 72 f.).18 Die institutionelle Ordnung eines Marktes, wie sie zu
17Fligstein
firmiert unter dem Label „politisch-kultureller Ansatz“, er beschreibt „markets als politics“ (Fligstein 1996) und untersucht Machtverhältnisse und Machtkämpfe auf allen Ebenen: a) der unternehmensinternen Ebene, mit der Frage, welche Unternehmensstrategie und welche Gruppe von Akteuren (etwa Manager mit Branchenkenntnissen oder mit Finanzkenntnissen) sich durchsetzt; b) der Ebene des Marktes, mit der Frage der Machtverhältnisse zwischen Marktführern und Herausforderern; und c) der Ebene des Staates, der auf alle anderen Ebenen Einfluss hat, sodass Markt und Staat als Zwillingsinstitutionen und „the formation of markets as part of state-building“ zu betrachten sind (ebd.: 657). 18Pfadabhängigkeiten wurden zunächst in der Wissenschafts- und Technikforschung diskutiert und wurden dann auch in der Wirtschaftssoziologie prominent (MacKenzie 2007). In manchen Märkten – etwa bei „sozialen Netzwerken“ und Partneragenturen, aber auch Börsen – haben diejenigen Anbieter einen reellen Vorteil zu bieten, die als erste präsent waren, bereits viele Kunden angezogen haben und diesen deshalb besonders breite Kontaktchancen oder besonders hohe Liquidität bieten können. Ansonsten kann der Vorsprung
3.3 Macht und Mikropolitik in der Wirtschaft
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einem bestimmten Zeitpunkt zu finden ist, ist nur das geronnene Produkt solcher Definitions- und Durchsetzungskämpfe. In nahezu allen Märkten ist der Staat ein entscheidender Faktor. Er setzt auf vielfältige Weise Rahmenbedingungen von Märkten, etwa mittels Wettbewerbsrecht und speziell Kartellrecht, Eigentumsrecht und speziell Patentrecht, Steuerrecht, Verbraucherschutz usw., und kann dadurch bestehende Marktordnungen ratifizieren oder erschüttern.19 Dass die Gestalt von Märkten von regulatorischen – gesetzgeberischen oder auch gerichtlichen – Entscheidungen abhängt, ist für eine Vielzahl von Märkten gezeigt worden, etwa für den Stahlmarkt (Roy 1997), den Markt für Eisenbahnverkehr (Dobbin 1994; Dobbin/Dowd 2000), den Markt für Flugverkehr (Avent-Holt 2012), den Telekommunikationsmarkt (Campbell/Lindberg 1990) und den Markt für Immobilienkredite und -kreditverbriefungen (Campbell 2010; Fligstein/Goldstein 2010; Krippner 2011).20 Staatliche R egulierungs- und Deregulierungsentscheidungen sind zentral, und Marktakteure umlagern deshalb den Staat und bombardieren ihn mit Argumenten, Klagereden, Drohungen, Versprechungen und sonstigen Einflussversuchen aller Art. – Märkte sind somit in einem doppelten Sinn politisch: zum einen, weil die Marktteilnehmer selbst in einem permanenten politischen oder quasipolitischen Kampf um die Definition von Regeln, das Gewinnen von Startvorteilen und das Z ementieren von Vormachtpositionen stehen, und zum zweiten, weil der
von „first movern“ zum einen in Prestige- und Bekanntheitsvorteilen liegen und wird zum anderen durch das Patentrecht abgesichert, das Innovatoren schützt und Kopieren verbietet. Außerdem haben die frühen Spieler oftmals die Chance, den Regulatoren ihre Sicht der Dinge nahezubringen, etwa in der Frage, ob ein gegebener Markt ein Markt mit „natürlichem“, und das heißt: legitimem Monopol ist oder nicht (Avent-Holt 2012). 19Das Wettbewerbsrecht beschränkt sowohl allzu freundliches, allzu kooperatives Verhalten zwischen (mutmaßlichen) Konkurrenten, insbesondere Preisabsprachen und sonstige Absprachen, aber auch allzu unfreundliches, aggressives Verhalten, insbesondere „unfaire“ Preiskriege, sowie die Bildung von Monopolen. – Das Eigentumsrecht, speziell Patentrecht, soll den Anreiz zu Innovation erhalten, und die Frage, welche Arten von Produkten, Prozessen, Algorithmen, Gedanken patentierbar sind und welche nicht, ist immer wieder heiß umstritten. – Das Steuerrecht wirkt sich vielfach aus durch Privilegierung bestimmter Produkt-, Unternehmens-, Beschäftigungs- oder Finanzierungsformen. 20Hierzu etwa folgende kontrafaktische Überlegung zum Eisenbahnmarkt in den USA: „How different American economic history might be if the Supreme Court had, in 1897, done what 15 of its decisions over the previous decade suggested it would do: [be soft on anti-trust law,] strike down the Interstate Commerce Act and the Sherman Act. Would cartels have been revived? Would the merger wave in manufacturing and interstate railroading have been avoided? It seems possible. […] How different the world might be today if the largest and most prosperous economy […] had completed its industrial revolution with cartels and trusts intact.“ (Dobbin/Dowd 2000: 653).
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3 Macht und andere Politismen
Staat und staatliche Instanzen immer mitgedacht sind. „Markets are inherently political, both because of their ties to the regulatory functions of the state and because markets are c ontested by actors who are dissatisfied with market outcomes and who use the market as a platform for social change“ (King/Pearce 2010: 249). Bei all dem liegt es nahe, die Macht der Mächtigen zu betonen: der Staaten, der großen Konzerne, der gerade „amtierenden“ Marktführer. Man kann aber auch umgekehrt gerade auf die Gestaltungskraft von kleinen, opponierenden, widerständigen Spielern hinweisen: von Konsumenten, Kleinbauern, sozialen Bewegungen und anderen „anti-corporate forces“, die sich der Macht der großen Konzerne entgegenstellen. Man kann deren Chance zum Aufbrechen von Strukturen und Initiieren von Regulierungen betonen und anregen, von einem Dominanzmodell auf ein Pluralismusmodell mit grundsätzlicher Umstrittenheit von Fragen und vielseitiger Artikulation von Interessen umzudenken (Schneiberg/Bartley 2001; Lounsbury/Ventresca/Hirsch 2003; Holzer 2007; King/Pearce 2010). Ebenso kann man versuchen, neben den siegreichen, sich durchsetzenden Pfaden auch die nicht-beschrittenen Pfade, die ausgeschlossenen, nicht realisierten, aber auch nie ganz ausgemerzten Optionen im Blick zu behalten und sich dadurch ein Bewusstsein eines breiteren Kontingenzraums zu erhalten (Schneiberg 2007; Schneiberg/ King/Smith 2008). Soziologische Marktanalysen können an verschiedenen Punkten des grundlagentheoretischen Spektrums angesiedelt sein. Man kann konsequent akteurstheoretisch argumentieren und Märkte allein aus den Eigeninteressen, Strategien und Wechselwirkungen der beteiligten Akteure heraus erklären. Man kann auch stärker institutionalistisch oder Durkheimianisch ansetzen und Märkte als historisch gewachsene und in politisch-rechtlich-kulturellen Rahmungen verankerte Institutionen verstehen. Am einen Pol werden dann alle angeblich allgemeingültigen institutionellen Standards und alle angeblich funktionalen Notwendigkeiten ausschließlich in ihrer Instrumentalität für Akteure gesehen: Alle Marktinstitutionen seien nur der verlängerte Art von Akteuren, „vessel“ für ihre „vested interests“, „Werkzeug“ und „Waffe“ in ihrem „strategischen Arsenal“ oder „rhetorische Munition“ zur Verteidigung ihrer Interessen (Jasper/Abolafia/ Dobbin 2005: 475 ff.). Am anderen Pol wird bestritten, dass alles auf Macht und Strategie reduziert werden könne, dass „strategy is everything“ (ebd.: 483) oder dass die „position in the ‚power structure“ alles erklärt (Fligstein 1995: 501), und es wird dagegen das Eigengewicht von Institutionen betont: „Economic policies and conventions were indeed made by someone acting somehow (Strategically? Perhaps), but they were not made, for the most part, by anyone who is still in the game. So to that extent they have a reality that is above and beyond the strategic action of individuals.“ (Jasper/Abolafia/Dobbin 2005: 484).
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Es gibt aber auch viel gemeinsamen Grund zwischen beiden Seiten. Kurz gesagt stellt die eine die Bedeutung von Kämpfen um Institutionen heraus, die andere die Bedeutung von Kämpfen um Institutionen. Im Zentrum steht die Gerinnung von kontingenten, historisch-kulturell-politisch gefärbten Situationen und Kräfteverhältnissen zu Marktformationen, die dann als universell und effizient präsentiert werden. Und immer gilt die in irgendeinem Sinn politische Qualität des Geschehens als etwas, was mehr Realitätswert hat als die ökonomische. Marktmechanismen sind nur eine fragile Oberfläche, das Politische aber – die darunter brodelnden Kämpfe, Querelen, Aushandlungen, Entscheidungen – ist das „ens realissimum“, das den Ökonomen verborgen bleibt und nur den Soziologen sich offenbart. Die Macht über die Unternehmen Neben Märkten gehören Unternehmen zu den beiden zentralen Interessensgebieten der Wirtschaftssoziologie (Carruthers/Uzzi 2000; Beckert 2009b: 182).21 Beide Ebenen sind auf reziproke Weise ineinander verschachtelt: So wie jeder Markt mehrere Unternehmen zueinander in Beziehung setzt, vor allem als Konkurrenten, so setzt jedes Unternehmen mehrere Märkte zueinander in Beziehung, mindestens Märkte für das Endprodukt, Märkte für Rohstoffe und Vorprodukte, Arbeitsmärkte und Kapitalmärkte. Große Unternehmen – etwa große Aktiengesellschaften, wie sie im Folgenden relevant sind – sind zudem nicht nur in einem Absatzmarkt unterwegs, sondern in vielen, und die Frage des Einstiegs in oder Ausstiegs aus einzelnen Märkten, die Festlegung des Mix von Produkten ist ein großes Thema (Stichwort Diversifizierung und Dediversifizierung, Mischkonzern vs. fokussiertes Unternehmen). In der Diskussion über Unternehmen fällt wiederum ein Themenstrang mit deutlich politistischer Färbung auf, nämlich die Diskussion zu der Frage, unter wessen Kontrolle Unternehmen (speziell Aktiengesellschaften) stehen und wem sie vorrangig dienen. Seit Jahrzehnten wird mit Leidenschaft die Frage diskutiert: „Who controls the corporation?“ Diese Frage hat es mit der Schnittstelle zwischen Unternehmen und Kapitalmärkten zu tun – zwischen Managern und (nachrangig) auch sonstigen Angestellten
21Die
Unterscheidung Markt/Unternehmen oder Markt/Organisation schließt, in der Wirtschaftssoziologie wie in der Institutionenökonomik, ein Interesse am Problem der Entscheidung zwischen beiden Formen ein (Williamson 1975, 1985), an Fragen des In- und Outsourcing, ebenso an Misch- und Zwischenformen zwischen beiden Extremen, wie „unternehmensinternen Märkten“ in Unternehmen mit Profit-Center-Struktur (Eccles/White 1988), oder auch an Netzwerken als eigenständiger dritter Form zwischen den beiden Polen (Powell 1990).
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3 Macht und andere Politismen
des Unternehmens auf der einen Seite und ihren Aktionären oder sonstigen Kapitalgebern – etwa Banken als Kreditgebern – auf der anderen. Sie steht an der Stelle, wo in der neoklassischen Ökonomik die Frage nach Unternehmensfinanzierung steht: Wie können Unternehmen ihren Kapitalbedarf decken? In welchen Formen, aus welchen Quellen, zu welchen Kosten?22 Soziologen – aber auch heterodoxe Ökonomen wie Prinzipal-Agent-Theoretiker – drehen das Problem so, dass daraus die Frage der Unternehmenskontrolle wird: Wer hat wie viel Macht und wie viel Entscheidungsgewalt über das Unternehmen? Wer bestimmt seine Strategien und Prioritäten? Wer setzt sich in welchem Maß mit seinen Interessen durch?23 Die Debatte beginnt, lange vor der Ausdifferenzierung einer spezialisierten Wirtschaftssoziologie, mit der These der Trennung von Eigentum und Kontrolle. Als Anfangspunkt in grauer Vorzeit, sagen wir im 19. Jahrhundert, dürfen wir uns Unternehmen denken, in denen die Eigentümer das Sagen haben – seien es Einzelpersonen, Familienunternehmer, seien es eventuell auch Banken und andere Finanziers, das „Finanzkapital“ (Hilferding 1910). Dann wird an amerikanischen Aktiengesellschaften die immer breitere Streuung von Aktienbesitz beobachtet (Berle/Means 1932) mit der Folge, damit die Eigentümer in ihrer Bedeutung für die Unternehmensführung zurücktreten und eine wachsende Rolle durch die Manager gespielt wird, ein „Managerialismus“ sich herausbildet (Burnham 1941).
22Bei
Formen ist die grundsätzliche Alternative die von Eigenkapital vs. Fremdkapital, d. h. Aktienkapital vs. Anleihen oder Kredite. Für Kosten gilt die neoklassische Vermutung, dass Kosten von Eigen- und Fremdkapital sich gleichgewichtsmäßig einregulieren werden (Modigliani-Miller-Theorem). Quellen von Finanzierung spalten sich insbesondere auf in die Alternative Banken vs. Kapitalmärkte: Nimmt man Kredite bei Geschäftsbanken auf, oder beschafft man sich Kapital „direkt“ bei Investoren, das über Investmentbanken nur noch vermittelt wird? (Stichwort Disintermediation). 23Für die Neoklassik stellt sich die Frage nach der Unternehmenskontrolle („corporate governance“) nicht, weil das Unternehmen dort als „unitary actor“ begriffen wird, das als ganzes auf Marktbedingungen reagiert (Mizruchi 2004: 584; Ho 2009: 169 ff.). Heterodoxe Richtungen, wie Transaktionskostentheorie und Prinzipal-Agent-Theorie, stellen das Problem mehr oder weniger zentral, unter dem Gesichtspunkt des „Opportunismus“ der Manager Williamson (1988), oder der Verselbstständigung des Agenten – der Manager –, der sich selbst anstelle des Prinzipals als Systemreferenz für Optimierung einsetzt, sodass der Prinzipal – der Eigentümer – vor Überwachungs- und Anreizproblemen steht Fama/Jensen (1983a, 1983b). Speziell die Prinzipal-Agent-Theorie setzt mithin genau wie die Soziologie am Kontrollproblem an, macht sich aber anders als diese klar den Standpunkt der Eigentümer zu eigen, während die Soziologie meist mit den Unternehmen sympathisiert und die striktere Kontrolle durch die Eigentümer als Problem beschreibt.
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Dieser Verschiebung liegt eine klassische Teile-und-herrsche-Logik zugrunde: Wenn die Eigentümer zersplittert sind und in Form vieler unabgestimmter (Klein-)Aktionäre vorliegen, können sie die ihnen formal zustehende Kontrolle nicht mehr ausüben, und die faktische Entscheidungsgewalt geht auf die Manager über. Das Management ist konzentriert, hat Zugang zu allen Informationen und zieht deshalb die relevanten Entscheidungen an sich; es emanzipiert sich gewissermaßen von den Eigentümern, die nur noch eine Hintergrundgröße darstellen, an die gelegentlich maßvolle Profite abgeführt werden müssen. Die Manager haben – anders als die Aktionäre – der Managerialismusthese zufolge kein Interesse an der Maximierung von Profiten, die ohnehin nicht in ihre Taschen fließen würden. Statt dessen richten sich ihre Bemühungen auf Wachstum und Diversifizierung: Je größer das Unternehmen, über das sie gebieten, desto höher ihr Gehalt und ihr Prestige; und je mehr verschiedene Märkte bespielt werden, desto besser sind sie gegen konjunkturelle Schwankungen und sonstige Marktrisiken abgesichert. Seither wird die Frage, wer eigentlich das Unternehmen „kontrolliert“, wessen Interessen es vorrangig bedient und wo wie viel Entscheidungsgewalt liegt, viel beforscht und heiß diskutiert (als Überblick Mizruchi 2004). Wie steht es um die Machtbalance zwischen verschiedenen Gruppen, wie ändert sich das zu welcher Zeit, und wie lässt es sich mit empirischen Daten untermauern? Stimmt es überhaupt, dass managergeführte Unternehmen geringere Profite machen als eigentümergeführte Unternehmen? Welche Rolle spielen die Aufsichtsräte, sind sie die eigentliche Steuerzentrale oder sind sie nur Abnicker und Galionsfiguren, und in welchem Maß stehen auf der Seite der Eigentümer, die sie formal vertreten, und in welchem auf der Seite der Manager, von denen sie vorgeschlagen werden (Zald 1969; Mariolis 1975; Mizruchi 1982, 1983; Lorsch/MacIver 1989)? Sind doch die Banken der versteckte Ort der Kontrolle, wo Kapitalflüsse kontrolliert werden und der Kapitalismus seine geheime Schaltzentrale hat (Kotz 1978; Mintz/Schwartz 1985)? Oder sind Banken auch nur eine Ressourcenquelle neben anderen, die in Aufsichtsräte eher hineinkooptiert werden, als sie zu beherrschen, und deren Bedeutung zudem in jüngerer Zeit rapide abnimmt (Burt 1983; Mizruchi/Stearns 1988; Davis/Mizruchi 1999)? Gibt es bei all noch eine Verbindung zu einer „herrschenden Klasse“, die nicht nur über formale Posten, sondern auch über informale Verflechtungen zusammenhängt und auch in politische Entscheidungszentralen hineinreicht (Zeitlin 1974; Useem 1978, 1980, 1982, 1983, 1984; Sklair 2001)? Oder ist die herrschende Klasse inzwischen eine reine Schimäre, statistisch kaum mehr nachweisbar und an erodierender Fähigkeit
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zu gemeinsamem politischem Handeln krankend (Stinchcombe 1990; Mizruchi 2004, 2010)?24 Zu all diesen Fragen gibt es seit geraumer Zeit umfangreiche Kontroversen, in denen theoretische Auffassungsunterschiede und historische Phasenunterschiede nicht immer leicht auseinanderzuhalten sind.25 Für die Zeit seit den 1980er Jahren – aber eventuell schon wieder bröckelnd nach 2000 – wird vergleichsweise breit eine Rückeroberung der Kontrolle durch die Eigentümer diagnostiziert (Hirsch 1986; Davis/Stout 1992; Useem 1993; Deutschmann 2005; Windolf 2005b; Davis 2009a). Unter der Dokrin des „shareholder value“ zwingen die Aktionäre die Unternehmen zur Erwirtschaftung und Ablieferung hoher Profite, mit der expliziten oder impliziten Drohung des Kapitalabzugs, des Sinkens des Aktienkurses und schlimmstenfalls der feindlichen Übernahme. Das ist gleichermaßen eine Weiterführung und eine Umkehrung des ursprünglichen Argumentes von Berle und Means. Während die relative Machtlosigkeit der Eigentümer bei Berle und Means eine Folge ihrer Zersplitterung ist, geht die neue Machtfülle der Eigentümer auf ihre neu erreichte Konzentration und Koordination zurück, die sie insbesondere in Gestalt von institutionellen Investoren erlangen – also von Einrichtungen wie Versicherungen, Pensionskassen, Investmentfonds, als Sammelstellen des zunehmend akkumulierten und professionell verwalteten privaten
24Hier
Stinchcombes schonungsloser Kommentar zu dem Versuch, anhand von Daten zu Aufsichtsratposten und Familienzugehörigkeit die Existenz eines „inneren Zirkel “ einer herrschenden Klasse nachzuweisen: „[T]he great majority of directorships, and even a majority of multiple directorships, are not held by finance capitalists or members of the Social Register, and […] most families in the Social Register or banking corporations do not hold directorships, much less multiple directorships, in industrial corporations. Naming those who do hold them the ‘inner group’ of the capitalist class avoids having to compute the correlation, which would be so small as to be considered trivial in the rest of sociology.“ (Stinchcombe 1990: 380). 25Das geht nicht nur dem Außenseiter so, der sich die in Jahrzehnten aufgelaufene Diskussion anzueignen versucht, auch zwischen den Diskutanten selbst gibt es Verwirrungspotenzial: „A study […] [of] a major commercial bank revealed the typical bank/ non-financial relation to be a far cry from anything described by [the bank hegemony theory of] Mintz and Schwartz. […] [H]owever, the fact that the proliferation of alternative sources of capital corresponded with the sharp decline of bank centrality suggests that Mintz and Schwartz may have been correct about the period in which they were writing. Critics cannot have it both ways. Either the banks were in fact powerful into the early 1980s, or the declines that we observe over the past twenty years are not really significant.“ (Mizruchi 2004: 602).
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Vermögens – und die ihnen ein neues Gewicht, eine starke Stimme und ein glaubwürdiges Drohpotenzial verlieht.26 Die Eigentümer in dieser neuen Gestalt erscheinen als präzedenzlos aggressiv. Sie können die Machtbalance so verschieben, dass sie den Unternehmen die von ihnen gewünschte Rendite mehr oder weniger diktieren können, jedes Unternehmen bis hin zu den größten vor sich hertreiben und bei Bedarf zu massiven Umstrukturierungen nötigen können, vom Abstoßen weniger profitabler Geschäftszweige bis zu Entlassungen und sonstigen Einsparmaßnahmen. Für die Disziplinierung der Unternehmen hat sich ein eigener Markt ausgebildet, der „Markt für Unternehmenskontrolle“, mit eigenen Finanzierungsinstrumenten wie Junk-Bonds, eigenen, darauf spezialisierten Unternehmen – sogenannten Übernahmefirmen, in Deutschland auch als „Heuschrecken“ bekannt – und der ständigen Drohkulisse für Manager, nach einer feindlichen Übernahme ihres Jobs enthoben zu werden. Die Manager sind in dieser Lage nicht mehr die Herren, sie werden selbst zu Gejagten und „Getriebenen“ (Deutschmann 2005: 67). Der Kapitalismus wird in Richtung auf einen „Investorenkapitalismus“ umgebaut (Useem 1996), es findet eine „Kopernikanische Revolution“ statt, in deren Zuge sich die Unternehmen um die Finanzmärkte drehen statt umgekehrt (Davis 2009b). Auch dieses Arrangement gilt indes seit den Bilanzskandalen und Finanzkrisen der 2000er als angezählt. Letztere sind auch zu einer Krise der Neoklassik und des Neoliberalismus geworden (Fligstein 2005; Orr 2007; Campbell 2010; Fligstein/Goldstein 2010; Centeno/Cohen 2012). Es herrscht allgemeine Skepsis gegenüber Finanzmärkten und Finanzinstitutionen, die „Gier der Banker“ wird allgemein beklagt, und niemand glaubt mehr an die benevolente Selbstregulierung der Märkte – ohne dass sich die Realität oder die sozialwissenschaftliche Deutung schon auf eine neue Lage eingependelt hätte. Die Frage, wer die Unternehmen kontrolliert, ist wieder ebenso offen wie die Frage, wie die globalen Finanzmärkte unter Kontrolle gebracht werden können.
26Traditionell
reagieren Aktionäre auf Entwicklungen in Unternehmen, die ihnen nicht passen, mit „exit“ statt mit „voice“ – sie verkaufen ihre Aktien. Unter der Dominanz der institutionellen Investoren hat sich dies teils geändert, aus zwei Gründen: Erstens sind diese konzentriert genug und oft genug mit einem Sitz im Aufsichtsrat oder anderen ernst zu nehmenden Mitsprachemöglichkeiten ausgestattet, um ihre Stimme hörbar zu machen; zweitens halten sie oftmals so große Anteile an einem Unternehmen, dass ein Verkauf, die Ausübung der Exitoption, nicht ohne weiteres möglich ist, weil der Markt so große Mengen von Aktien nicht ohne spürbare Kursverluste absorbiert (Useem 1996: 23 ff.; Zorn et al. 2005: 274 f.).
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Man kann die ganze Geschichte übrigens auch unter dem Begriff der Demokratie erzählen. Berle und Means sehen als gute Amerikaner im Trend zur Managerkontrolle eine Gefahr für die Demokratie: So wie die Gründerväter der USA sich Sorgen machten über eine zu hohe Machtkonzentration in den Händen der Bundesregierung, so machen sich Berle und Means Sorgen über die Machtkonzentration bei den Managern der großen Unternehmen, die dem Staat in Sachen Machtpotenzial das Wasser reichen oder ihn sogar übertreffen können, aber in keiner Weise demokratisch verfasst und kontrolliert sind (vgl. Mizruchi 2004: 581 f.). Dagegen sehen manche Soziologen der Nachkriegszeit – jetzt im Kontext von Diskussionen um Ungleichheits- und Klassenstrukturen – in derselben Entwicklung eine Chance für die Demokratie im weitesten Sinn, nämlich für den Abbau von sozialen Spaltungen und die zunehmende Egalisierung der Gesellschaft. Der Trend zum Managerialismus und zur breiten Streuung von Aktienbesitz sabotiere die Marx’sche Polarität von Kapitalisten und Arbeitern, indem jetzt auf der einen Seite die Kontrolle über die Produktionsmittel bei den Managern, mithin bei bezahlten Angestellten des Unternehmens und „Verkäufern von Arbeitskraft“ liege, und auf der anderen Seite Kapitaleigentum, in Form von Aktieneigentum, für immer breitere Kreise der Bevölkerung zugänglich werde. Autoren wie Bell und Dahrendorf sehen deshalb das Ende der „herrschenden Klasse“ nahen oder gar das Ende des Kapitalismus selbst, den Übergang zu einer „postkapitalistischen Gesellschaft“ oder mindestens einem „Volkskapitalismus“ (Dahrendorf 1957; Bell 1960), in dem Kapital sich von einer sozial exklusiven, auf eine Klasse zuzurechnenden Größe in eine sozial inklusive, dispers verteilte Größe verwandelt. In der späteren Diskussion werden Demokratiehoffnungen indes verabschiedet, jedenfalls unter Soziologen. Es spuken zwar noch Demokratieanspielungen herum, etwa wenn angesichts von allseits beliebten Aktien – wie etwa TelekomAktien – von „Volksaktien“ gesprochen wird oder wenn George W. Bush die „Eigentümergesellschaft“ ausruft, in der jeder (Amerikaner) durch Immobilienbesitz oder sonstigen Kapitalbesitz in die Gesellschaft eingebunden sein solle. Solche Parolen werden aber in der Soziologie eher kritisch aufgenommen. Man sieht darin keine Chance auf die Überwindung des Kapitalismus mehr, sondern eher seine ideologische Stabilisierung und einen Auswuchs des Neoliberalismus, und in jedem Fall eine eher problematische und kritisch zu beleuchtende Entwicklung. Der Begriff „Demokratisierung“ wird zwar auch in der sozialwissenschaftlichen Diskussion gelegentlich verwendet, um die zunehmende Beteiligung an Finanzmärkten und Finanzgeschäften aller Art zu beschreiben, aber er wird
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nur in Ermangelung des Inklusionsbegriff und ohne jede Emphase verwendet.27 Eventuellen Demokratiediagnosen werden sofort Relativierungen beigefügt, wie dass diese Demokratie offensichtlich eine stark repräsentative Demokratie sei, in der die Kleinanleger kaum etwas und die mächtigen institutionellen Investoren fast alles zu sagen hätten, und dass dieses Eigentümertum keine Sache von Selbstbestimmung und persönlicher Sicherheit sei, sondern in eine durch Finanzinstitutionen und unkontrollierbare Finanzmarktdynamiken dominierte „Portfoliogesellschaft“ führe (Davis 2009a, 2009b, 2010). Die ganze Diskussion um Macht- und Kontrollverhältnisse zehrt dabei auch von der Doppelung in die Ebenen „Markt“ und „Unternehmen“. Betrachtet man die Debatte über längere Zeiträume und aus der Vogelperspektive, so scheinen Kommentierungen hin- und herzupendeln in der Frage, was schlimmer ist: mächtige Märkte oder mächtige Einzelspieler. Zunächst stechen meist große Organisationen als Problem ins Auge: Traditionell warnt man vor der Macht der großen Konzerne oder „trusts“, vor der Übermacht der Banken oder später der institutionellen Investoren. Ab einer gewissen Größe drohten starke Einzelspieler die anderen zu erdrücken, und bei einer kleinen Zahl solcher Spieler sei die Tendenz zu Absprachen und Kungeleien groß. Als Heilmittel dagegen bieten sich funktionierende und staatlich gewährleistete Märkte an – die Eindämmung von Monopolen und Kartellen. – Ebenso kann man aber auch die „Macht der Märkte“ als Problem sehen, die noch gnadenloser und unausweichlicher sei als die Macht irgendwelcher Einzelspieler. So stünden die Unternehmen im Zeitalter des „shareholder value“
27Eine
solche „Demokratisierung“ gibt es auf der Seite sowohl der Kapitalanleger als auch der Kapitalaufnehmer, der „surplus pockets“ und der „deficit pockets“ der globalen Kapitalmärkte (diese Formulierung bei Patil 2001: 251). So besitzen nicht nur zunehmend viele Menschen Aktien und wird Aktienspekulation gelegentlich zum Volkssport, sondern es gewinnen auch andere Anlageprodukte, von Investmentfonds über Renten- oder Lebensversicherungen bis hin zu allerlei exotischen „Finanzzertifikaten“ – der für Kleinanleger heruntergebrochenen Form der Spekulation an Derivatemärkten – an Verbreitung (Stäheli 2004, 2007; Preda 2005b; Schimank 2011). Ebenso deutliche Inklusionsschübe gibt es aber auf der Seite der Kreditnehmer, vom Siegeszug der Kreditkarte bis hin zum Boom der Mikrokredite in Entwicklungsländern. Der wichtigste, berühmt-berüchtigte Fall ist der Markt für US-Subprime-Immobilienkredite, dessen Crash 2007 die jüngste Kette von Finanzkrisen ausgelöst hat. Hier wurde gezielt auch vormals ausgeschlossenen Gruppen Zugang zu Immobilienkrediten ermöglicht – Schwarzen und sonstigen ethnischen Minderheiten, Geringverdienern, Arbeislosen, Personen mit beschädigter Kreditgeschichte –, und dieser Inklusionsboom führte zu einer Verschlechterung der durchschnittlichen Kreditqualität, zu einem Boom des Immobilienmarktes und des daran gekoppelten globalen Verbriefungsmarktes, und zu einem entsprechend großen Potenzial auf Vertrauensverlust und Implosion (Polillo 2009; Fligstein/Goldstein 2010; Deutschmann 2011).
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unter der „diffuse[n] Macht marktzentrierter Kontrolle“ (Dörre/Brinkmann 2005: 107). Es gebe zwar keine dominierenden Einzelspieler: „The increasing importance of finance […] did not lead to the dominance of particular financial institutions.“ (Davis 2009b: 35). Das mache die „Tyrannei der Finanzmärkte“ aber nicht besser, sondern eher schlimmer: „[T]here is no longer a single, identifiable group of dominant economic actors in the U.S. economy. Rather, pressures for both firms and the state to conform emanate directly from the capital market […]. [C]orporate managers face pressure from an amorphous, but no less real, source. … [T]his may leave them in an even more precarious situation than during the periods of family or bank control.“ (Mizruchi 2004: 605 f.). Es kann zur nachträglichen Romantisierung von Zuständen kommen, die vorher beklagt worden waren. Die alten Formen von Kapital und Kontrolle – Kapital von Kleinaktionären ohnehin, aber auch Bankkapital – erscheinen dann in nahezu idyllischem Licht, nämlich als vergleichsweise freundliches, „geduldiges“ und einfühlsames Kapital (Windolf 2005b: 23), das den Unternehmen noch Luft zum Atmen gelassen habe, während sie jetzt unter dem Druck der Kapitalmärkte stranguliert würden. Dieselbe rückblickende Verklärung von etwas, was man vordem gar nicht geliebt hatte, gibt es auch mit Blick auf die „herrschende Klasse“. Die lange gescholtene Klassen- oder Elitenherrschaft wird nachträglich zum „golden age of the moderate orientation of the American elite“ (Mizruchi 2010: 114), als diese Elite wenigstens noch inneren Zusammenhalt, allgemein-gesellschaftliche Ziele und staatsbürgerliches Verantwortungsbewusstsein gehabt habe. Dagegen gebe es heute nur noch die hemmungslose Verfolgung unmittelbarer Eigeninteressen durch einzelne Unternehmen, ohne jeden Blick für das Ganze. „[Still,] connections to the inner circle within Wall Street provided the key to enormous riches. But these connections were used as instruments for very specific goals, and not as the basis for institutional or societal leadership, as the corporate elite of the postwar period had done“ (ebd.: 127).28 28Es
gibt eine interessante Parallele zur Wissens- und Wissenschaftssoziologie in dem Phänomen, dass etwas nachträglich in milderem Licht betrachtet wird, was vorher als Problemherd gegolten hatte. So referiert jedenfalls Gieryn (1983: 782) die jahrzehnte- oder jahrhundertelange Diskussion zum Verhältnis von Wissenschaft und Ideologie. Lange Zeit sei Ideologie als etwas Gefährliches betrachtet worden und habe man auf ein Entkommen aus Ideologie durch Wissenschaft gehofft (so etwa Comte und Bell). Später gelte dann Wissenschaft als etwas Gefährliches, oder auch selbst als Erscheinungsform von Ideologie (so bei Marcuse und Habermas), und im Extremfall werde als auf ein Gegenmittel gegen die Übermacht der Wissenschaft wiederum auf Ideologie gesetzt: „Finally, to come full circle from Comte’s positivist faith in the ability of science to separate truth from politically motivated distortion, ideology becomes a source of liberation from science: ‘it is one of ideology’s essential social functions […] to stand outside of science, and to reject the idea of science as self-sufficient,’ and to expose ‘the egoism, the barbarism and the limits of science’ (Gouldner, 1976 [The Dialectic of Ideology and Technology]: 36)“ .
3.4 Halbierte Akteurskritik
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Trotz oder gerade wegen stark wechselnder Auffassungen hält das Feld sich im Fokus auf Fragen von Macht, Vorherrschaft und Kontrolle fest. So sehr die Diagnosen und Bewertungen sich unterscheiden – dass das Problem überhaupt in diesen Begriffen formuliert werden muss, scheint unstrittig. Die Diagnose, dass die Macht bei den Banken liege, kann mit anderen, widersprechenden Diagnosen konfrontiert werden – aber anderen Diagnosen der Lokalisierung von Macht. Die Rede von der Demokratisierung von Aktienbesitz oder Kapitalmarktteilnahme wird, wenn sie abgelehnt wird, nicht als Kategorienfehler abgelehnt, sondern als Überoptimismus und ideologische Parole. Dass die Frage so richtig gestellt ist, scheint selbstverständlich; darüber wird im Feld nicht diskutiert. Das kann nur außerhalb geschehen.
3.4 Halbierte Akteurskritik Wenn die Spezialsoziologien von politistischen Begriffen wie Macht, Herrschaft, Hegemonie, Demokratie, Konflikt, Interesse durchzogen sind – was ist das Problem damit? Differenzierungstheoretisch ist das Problem, dass damit ein Funktionssystem in der Sprache eines anderen beschrieben wird. Handlungstheoretisch ist das Problem, dass damit eine eigentümlich halbierte Akteurs- und Rationalitätskritik gemacht wird. Der interesselose „homo scientificus“ und der kalkulierende „homo oeconomicus“ wird abgelehnt, aber der strategisch-machtbewusste „homo politicus“ genießt unmittelbare Plausibilität. Dass Machtspiele, Interessendurchsetzung, Konflikteausfechten, Koalitionenschmieden, Fädenziehen der Stoff sind, aus dem die soziale Realität gemacht ist, wird in keinem Moment bezweifelt. Die Kritik an eindimensionalen Akteursmodellen bleibt an der Grenze des jeweils betrachteten Teilsystems stehen und wird sofort vergessen, sobald es nicht um den epistemisch oder ökonomisch, sondern um den politisch stilisierten Akteur geht. So wie Geheimdiensten gern nachgesagt wird, auf einem Auge blind zu sein, so ist auch die Akteurskritik gewissermaßen nach einer Seite hin blind. Die (para-)politische Handlungsrationalität wird nicht durchleuchtet und durchlöchert, sie gilt vielmehr als das selbstverständlich gegebene Explanans, auf das das Explanandum der wissenschaftlichen Faktenfindung oder der Abwicklung von Markttransaktionen zurückgeführt werden kann. Nun ist natürlich die politische Rationalität eine weniger exakte, weniger saubere, wenn man so will: eine weniger rationale Rationalität als die epistemische Rationalität des idealen Forschers oder die ökonomische Rationalität des idealen Unternehmers. Sie ist eine immer irgendwie kühne, nicht-formalisierbare, oft auch „schmutzige“ Rationalität, die nicht in exakten Kriterien und sauberen
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Prozeduren gefasst werden kann (siehe zum Topos der Schmutzigkeit Deutsch (1963: 217 ff.); Bailey 1988, 2001). Aber nichtsdestotrotz ist sie eine bestimmte Form von Handlungsrationalität, die vorrangig einem Teilsystem der modernen Gesellschaft zugehört, in anderen nur relative Bedeutung hat und nicht einfach als Urzustand der Welt und ihrer Akteure vorausgesetzt werden darf. Auch politische Kategorien wie Macht und Herrschaft, Demokratie und Deliberation bezeichnen keinen Naturzustand der sozialen Welt, auch sie dürfen nicht absolut gesetzt werden, auch sie müssen auf Bedingungen und Grenzen ihrer Entfaltung hin reflektiert werden. Politische Rationalität ist nicht der jederzeit voraussetzbare feste Grund, auf den man stößt, wenn man der postulierten ökonomischen oder epistemischen Rationalität nicht traut. Wer das annimmt, der überlastet politische Kategorien und mutet ihnen mehr zu, als man mit einem soziologisch kontrollierten Blick darauf vertreten kann. Knorr Cetina zitiert mit Blick auf epistemische Rationalität und Faktenerkenntnis den schönen Satz von Dorothy L. Sayers: „Mein Herr, Fakten sind wie Kühe. Wenn man sie nur scharf genug ansieht, laufen sie im Allgemeinen weg.“ (Knorr Cetina 1984: 17) Wenn man politische Akteure und politische Rationalitäten einem ebenso scharfen Blick aussetzt, wie Wissenschafts- und Wirtschaftssoziologen das für „ihre“ jeweilige Funktionslogik tun, lösen sie sich ebenso auf wie diese, oder besser: sie erweisen sich als ebenso voraussetzungsvolle Konstrukte wie diese. Was Macht überhaupt ist, woher Akteure ihre Interessen nehmen und wie sie sie kennen können, wie weit das Demokratieprinzip trägt – all dies ist ebenso offen für soziologische Fundamentalkritik wie die Existenz von Fakten und die Effizienz von Marktergebnissen, all dies kann ebenso in institutionelle Voraussetzungen und kulturelle Einbettungen aufgelöst werden. Das lässt sich mit einem Blick in die politische Soziologie leicht feststellen. Konstruktivistische Ansätze in der politischen Soziologie arbeiten schon lange daran, die Interessen und sogar die Existenz politischer Akteure ihres angenommenen Letztstatus zu entkleiden. Sie zeigen, dass Akteure in der politischen Arena oft mehr symbolisch, rituell und zeremoniell handeln als zweckgerichtet und interessenorientiert. Der Neoinstitutionalismus Stanforder Schule etwa erklärt die sogenannten Akteure der modernen Welt – Individuen, Organisationen und Staaten – pauschal zu Konstrukten der modernen Weltkultur: Ihnen würde Akteursstatus von außen zugeschrieben und abverlangt, sie müssten entsprechende Rationalität zeigen und bestimmte Ziele und Zwecke verfolgen, oder dies wenigstens sichtbar inszenieren. Wie weit sie dem auf der Ebene wirklichen Handelns entsprechen können und wollen, ist eine zweite Frage (Meyer/ Boli/Thomas 1987; Meyer/Jepperson 2000). Auch sonst wird an politischem Handeln oft die symbolische und rituelle Qualität betont. Politische Akte wie
3.4 Halbierte Akteurskritik
145
Wahlen, parlamentarische Verhandlungen und administrative Verfügungen könnten nicht im Schema von Zweck/Mittel-Relationen begriffen werden. Solche Akte erreichen ihre offiziellen Zwecke nicht oder nur in beklagenswertem Ausmaß – als da wären: Kontrolle der Regierenden und Durchsetzung bevorzugter Politiklinien; argumentative Klärung der Sachlage und gemeinsame Deliberation; klare Kommunikation geltender Regelungen –; sie müssten deshalb vorrangig als expressive Vollzüge und symbolische Bekundungen gesehen werden (Edelman 1976). Ähnlich wird für den Status des Staates als Mitglied der internationalen Ordnung gesagt, dass dieser weniger mit faktischer Handlungsfähigkeit und handfesten Akteursqualitäten zu tun habe – etwa Gewaltmonopol und Kontrolle der Bevölkerung – als mit symbolisch-juridischen Qualitäten und der symbolischen Unverletzlichkeit des Staatensystems (Jackson/Rosberg 1982; Jackson 1990). Das Modell des zweck- und interessenorientierten Handelns ist so gesehen nur Oberfläche, während in der Tiefe ein Modell theaterartiger Inszenierung oder gläubiger Gefolgschaft greift: Hier werden Skripte aufgeführt und Rituale vollzogen. Die Weltkultur ist gewissermaßen die säkulare Religion der modernen Gesellschaft, die die sogenannten Akteure durchaus opferbereit praktizieren: Sie sind bereit, erhebliche Mühen und Kosten auf sich zu nehmen, um dem Skript des modernen, rationalen Akteurs einigermaßen zu entsprechen (Meyer/Rowan 1977; Meyer et al. 1997). Entsprechend werden in konstruktivistischer Perspektive eher die Interessen von Akteuren auf die politische Ordnung der Welt zurückgeführt als umgekehrt. So wird gesagt, das „nationale Interesse“ von Staaten dürfe nicht als Urgrund internationaler Politik verstanden werden, als ein Faktor, der sich aus Lage, Größe und Ressourcenausstattung eines Staates von selbst ergibt und sein Handeln auf der internationalen Bühne bestimmt. Vielmehr seien Interessen das Produkt von komplexen Interaktions- und Definitionsprozessen, Konflikt- und Konkurrenzdynamiken (Wendt 1992; Werron 2012). Selbstverständnisse und Situationsdefinitionen können so oder so ausfallen; die objektive Lage lässt immer erheblichen Spielraum. So mag sich ein Staat in einer gegebenen Situation wahlweise als „souveräner Staat“, als „westlicher Staat“, als „Staat mit nach Sezession strebenden Minderheiten“, als „exportabhängiger Staat“ oder als „absteigende Großmacht“ definieren. Auf welches Selbstverständnis und folglich welche Interessen man sich schließlich einschießt, hängt zum einen von zwischenstaatlichen Interaktionsprozessen ab, seien sie friedlicher oder kriegerischer Art (Wendt 1992; Hall 1999; Smith 2005; Werron 2012), und zum anderen von innerstaatlichen Abstimmungsprozessen, an denen Ministerien, Parlamente, Präsidenten mit je eigenen Standpunkten und Sichtweisen, Routinen und Ressourcen beteiligt sind (Halperin 1974; Finer 1988).
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Für Akteure und Interessen in der binnenstaatlichen Arena gilt dasselbe. Politische Gemeinwesen sind nicht – wie im Hobbes’schen Gesellschaftsvertrag – das Produkt der rationalen Interessenverfolgung von Individuen, sondern umgekehrt setzen politische Rationalitäten und Präferenzen ein hoch organisiertes politisches System schon voraus. In englischer Terminologie formuliert: Die so genannten „constituents“ konstituieren nicht den politischen Prozess, sie sind mehr „constituees“ denn „constituents“.29 Der „Wählerwille“ ist nicht das Letztfundament des politischen Prozesses, sondern seinerseits ein Konstrukt und teils eine Suggestion des politischen Prozesses selbst (Parsons 1967; Luhmann 1970e; Lipset/Rokkan 1985; Luhmann 2010). Der Wähler kann nicht ungefiltert seine „wirklichen Interessen“ artikulieren, vielmehr muss er aus vielfältigen und oft überschneidenden Identitäten und Loyalitäten – als Arbeitnehmer, Autofahrer, Sparer, Elternteil, Niedersachse und Europäer – bestimmte auswählen und mit dem angebotenen Spektrum von Parteien abgleichen. Bein Festzurren seiner Interessen wird er durch allerlei massenmediale und interaktive – etwa stammtischförmige – Interpretationsprozesse beeinflusst, nicht weniger durch Einflüsterungen seitens der wählbaren Parteien und Politiker selbst. Und er muss hinnehmen, dass andere Interessen, die er als Person durchaus haben mag, als prozesswidrig oder verfassungswidrig ausgeschlossen werden – beispielsweise das Interesse daran, lieber durch Verkauf der Wählerstimme eine sofortige Gegenleistung zu erhalten, als auf vage Fernwirkungen des politischen Prozesses zu warten (Fackler/Lin 1995; Schaffer/Schedler 2007; Kusche 2011). Weiter ist auch Macht kein natürliches Attribut von Akteuren, keine ihnen innewohnende und unter allen Umständen gleich relevante Qualität. Vielmehr hängt die verfügbare Macht von komplexen Strukturbedingungen ab. Zunächst und grundlegend kann es Macht nur geben, wenn ein hinreichendes Maß an Freiheit und Handlungsspielräumen besteht; wo es keine Alternativen gibt, gibt es auch keine Macht (Luhmann 2012: 96 f.). Im Weiteren erfordert die Steigerung von Machtpotenzialen über punktuelle, situative, persongebundene Pressionen hinaus die Ausdifferenzierung einer Ämterordnung, die Zentralisierung von Gewaltmitteln und die Etablierung hinreichend generalisierter Rollen, Ansprüche und Loyalitäten (Luhmann 1988b, 2012). Der Aufbau einer hinreichenden Menge von Macht kann deshalb ein Engpass politischer Entwicklung sein, und in Entwicklungsländern
29Der
Begriff „constituee“ ist noch nicht in Gebrauch, könnte aber – im Zuge der Gewohnheit, den passiven Beteiligten an Prozessen jeder Art nach dem Muster von „trainee“, „coachee“ oder auch „fuckee“ (Collins 2004: 247) zu bezeichnen – ohne weiteres salonfähig sein.
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liegt das Problem oft weniger in der – in westlicher Optik zentralen – Kontrolle von Macht, etwa mittels Verfassung, Gewaltenteilung und „good governance“, als vielmehr zunächst in der Schaffung von Macht (Huntington 1968).30 Die Steuerung sozialer Prozesse über Macht ist eine evolutionär voraussetzungsvolle Errungenschaft, nicht der Urzustand der sozialen Welt schlechthin. Zwar gibt es Macht in einem gewissen, anspruchslosen Sinn tatsächlich praktisch überall, nämlich überall dort, wo es Scheu vor „Vermeidungsalternativen“ gibt und damit gedroht werden kann – also etwa in Familien, Schulklassen, Freundesgruppen oder Gangsterbanden (Luhmann 1988b, 1994b; Kieserling 2003). Wie dominant oder wie nachrangig und nur mitlaufend dieses Moment aber ist, hängt von den weiteren Strukturen des jeweiligen Kontextes ab, es wird in Mafiabanden anders ausfallen als in Familien, je nach dem, welche anderen Strukturprinzipien relativierend eingreifen.31 Schließlich kann auch das Prinzip der Demokratie soziologisch relativiert und durchleuchtet werden. Allzu strahlende Visionen, wie sie anfangs von manchen Theoretikern oder Praktikern gehegt wurden, haben den Realitätstest nicht
30Huntington
notiert mit scharfer Beobachtungsgabe: „When an American thinks about the problem of government-building, he directs himself not to the creation of authority and the accumulation of power but rather to the limitation of authority and the division of power. Asked to design a government, he comes up with a written constitution, bill of rights, separation of powers, checks and balances, federalism, regular elections, competitive parties – all excellent devices for limiting government. The Lockean American is so fundamentally anti-governmental that he identifies government with restrictions on government. Confronted with the need to design a political system which will maximize power and authority, he has no ready answer. His general formula is that governments should be based on free and fair elections. – In many modernizing societies this formula is irrelevant. Elections to be meaningful presuppose a certain level of political organization. The problem is not to hold elections but to create organizations. In many, if not most, modernizing countries elections serve only to enhance the power of disruptive and often reactionary social forces and to tear down the structure of public authority.“ (Huntington 1968: 7). 31Man kann sagen: Macht in Rohform verhält sich zu ausdifferenzierter politischer Macht so, wie die sporadische Verwendung von Münzgeld etwa für Fernhandel in einer Gesellschaft mit ansonsten naturalwirtschaftlicher Produktionsweise sich zu einer ausdifferenzierten Geldwirtschaft verhält (Polanyi 1944, 1979; Luhmann 1988a: 245 f.). Macht als Drohmacht oder „Rohmacht“ ist ein Moment sozialen Lebens wie andere auch, wie Liebe, Freundschaft, Hass, Krankheit, Knappheit, Überfluss – gelegentlich auftretend, nicht eliminierbar, aber auch nicht das alles bestimmende Ordnungsprinzip. So wenig mithin eine Entleerung anderer Gesellschaftsbereiche von Macht und eine Konzentration aller Macht aufs politische System möglich ist, so wenig ist auch eine durchgreifende Strukturierung aller Bereiche über Macht möglich.
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bestanden – etwa die Vorstellung, dass Demokratie es erlaube, dass das Volk sich selbst regiert, oder dass Demokratie die „volonté générale“, Allgemeinheit und Vernunft zum Vorschein bringe. Solche Vorstellungen sind aus historischer Erfahrung und soziologischer Analyse deutlich abgekühlt und „nachgedunkelt“ hervorgegangen (Luhmann 1986: 236). Man weiß inzwischen, dass das Volk sich aus Gründen der Größe und Komplexität nicht selbst regieren kann und dass eine Übertragung der praktischen Führungsgeschäfte an eine kleine und dann nicht mehr repräsentative Elite unumgänglich ist (Michels 1910; Sartori 1978). Man weiß, dass die „volonté générale“ nur ein Fluchtpunkt des Denkens ist und dass in der Realität robustere Prinzipien genügen müssen, etwa das Mehrheitsprinzip und die Konkurrenz von Parteien, die zwar nicht den „Volkswillen“ kennen, aber immerhin bei allzu großer Anhäufung von Unzufriedenheit ausgetauscht und abgewählt werden können (Schumpeter 1947; Luhmann 1971a, 2010). Man weiß, dass die gleichberechtigte Mitsprache aller Bürger in Angelegenheiten des Gemeinwesens nur ein formales Recht ist, dessen praktische Einlösung an der ungleichen Artikulations- und Organisationsfähigkeit von Gruppen scheitert (Offe 1972; Sanders 1997; Bourdieu 2001). Man weiß, dass Deliberation und öffentlicher Vernunftgebrauch nicht zu Konsens und Einsicht der Unvernünftigen führen, sondern sei’s zu ergebnislosen Endlosdebatten, sei’s zur Absorption von Protestenergien und zur Kooptation oder Erschöpfung der Protestierer. Demokratie gilt zwar immer noch als die beste – oder: die für eine komplexe Gesellschaft adäquateste – Regierungsform, mit Churchill als die am wenigsten schlechte aller bekannten Alternativen. Aber sie muss vom Himmel politischer Visionen herunter- und auf den Boden soziologischer Tatsachen zurückgeholt werden. Nach dieser „tour de force“ durch einige Einsichten der politischen Soziologie ist deutlich, dass auch zentrale politische Kategorien soziologisch relativiert und auf ihre sozialen Konstitutionsbedingungen befragt werden müssen – ebenso wie dies für Objektivität und Fakten, für Effizienz und Maximierung gilt. Akteure und Interessen sind nicht irreal, aber sozial konstruiert. Macht ist nicht unwichtig, aber auch nicht der Urgrund aller sozialen Dinge. Demokratie ist nicht gering zu schätzen, aber auch nicht das Heilmittel für alle Pathologien sozialer oder politischer Ordnung. In wissenschaftssoziologischen und wirtschaftssoziologischen Debatten scheinen solche Relativierungen nur mit erheblicher Verspätung und Verdünnung anzukommen. Es werden politische Kategorien in den Bereich von Wissenschafts- oder Wirtschaftsforschung übernommen, aber die Grenzen politischer Begriffe werden dabei nicht mitimportiert. Zwar würde vermutlich kein Wissenschafts- oder Wirtschaftssoziologe grundsätzlich bestreiten, dass auch Akteure, Interessen, Identitäten, Machtrelationen konstruiert sind. Aber das hat keine Konsequenzen für die Durchführung der Argumentation, einfach deshalb,
3.5 Die Überschätzung von Macht
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weil der Rekurs auf politische Kategorien als Erklärungsressource dient und man irgendeine Erklärungsressource braucht, um erklären zu können. „[S]ome aspect of explanation must always remain unexplicated. […] [E]xplanation […] cannot proceed without assuming the pre-given status of one or other entity.“ (Woolgar 1981: 371) Man kann alles problematisieren, aber nicht alles zugleich. Die Folge ist dann eine Überlastung politischer Begriffe: eine Überschätzung der Möglichkeiten von Demokratie, ein gelegentliches Leerlaufen von Frageroutinen, die um Macht und Interessen kreisen, und eine Unterausnutzung von Fragemöglichkeiten, die nicht an der politistischen Achse aufgehängt sind. Das zeige ich im Folgenden an geeigneten Ausschnitten aus der oben dargestellten Literatur. Ich beginne mit Macht.
3.5 Die Überschätzung von Macht Die machiavellistische Qualitäten des Forschers Dass Macht als Grundkategorie soziologischen Denkens verwendet wird, ist eine verbreitete Strategie, und einem Klischeebild nach ist der Soziologe derjenige, der als erstes immer fragt: „Was hat das mit Macht zu tun?“, oder auch: „mit Kapitalismus, Lobbyismus, Klasse, Rasse, Geschlecht“ (Latour 1987: 62). In der Wissenschaftssoziologie gilt die Durchsetzung bestimmter Versionen wissenschaftlicher Wahrheit weithin als Frage von Machtspielen und strategischem Strippenziehen. In der Wirtschaftssoziologie wird die vorherrschende Form von Märkten oder Unternehmen gern als Oktroy der gerade überlegenen Akteure gesehen. „Bringing Power Back In“ ist die Devise (Wright 1993). Inwiefern ist das nun aber eine Überschätzung der Machtkategorie? Vertreter solcher Ansätze werden im Brustton der Überzeugung sagen: Aber es gibt doch auch überall Mikropolitik, es gibt überall Machtspiele und strategisches Manövrieren, und wer das nicht sieht, der ist naiv. Das ist so richtig wie kurzschlüssig. In der Tat gibt es – wie gesagt – überall in der Gesellschaft Machtbildung, und gibt es insbesondere in allen Organisationen Macht und Mikropolitik. Die strittige Frage ist aber nicht, ob es dergleichen gibt oder nicht, sondern ob das der richtige Ansatzpunkt für das Verständnis des betreffenden Systems ist. So ist ja auch an der Front zwischen Spezialsoziologen und Reflexionstheorien nicht so sehr umstritten, ob es den interesselosen, unvoreingenommen Hypothesen prüfenden Forscher wirklich gibt (das glauben weder Wissenschaftstheoretiker noch Wissenschaftssoziologen), oder ob es den perfekt rationalen, allzeit maximierenden Marktteilnehmer wirklich gibt (das glauben weder Ökonomen noch
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3 Macht und andere Politismen
Wirtschaftssoziologen).32 Strittig ist vielmehr, ob das eine gute Basis für Theoriebildung ist, wie weit das als Erklärungsressource trägt. In eben diesem Sinn geht es auch bei der Beurteilung machtbasierter Ansätze nicht so sehr darum, ob es im fraglichen Bereich Machtphänomene gibt – das zu bestreiten hätte keinen Sinn –, sondern darum, welcher theoretische Stellenwert dem zukommt. Und das ist dann nicht mehr mit einem einfachen Verweis auf die empirische Realität zu klären.33 In Beschreibungen von Wissenschaft, die bei der Machtfrage ansetzen, fallen deshalb größere oder kleinere Teile des Gegenstandes aus dem Bild. So wird im Laborkonstruktivismus Wissenschaft auf das tägliche Hickhack der Kollegen und die Konkurrenz der Kostenstellen reduziert, technisch gesagt auf die Ebenen der Interaktion und Organisation, obwohl Wissenschaft ein Funktionsbereich ist, der im Vergleich zu anderen an Organisation vergleichsweise locker gekoppelt ist (Luhmann 1990b: 672 ff.; Stichweh 1999a, 1999b).34 Das ist teils natürlich methodisch bedingt, durch den ethnografisch-mikrologischen Zugriff, geht aber
32Oder
auch umgekehrt: Streckenweise mögen sich Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftssoziologen auch darin einig sein, dass es den homo oeconomicus in bestimmten Kontexten durchaus gibt, und immer noch uneinig in der Frage, ob das das richtige Denkmodell ist. So wird gesagt, dass, wenn es den „homo oeconomicus“ gebe, dann als performatives Produkt der Wirtschaftswissenschaften (Callon 1998b, 1999b; Cabantous/Gond 2011) oder als Phänomen eines spezifischen kulturell-institutionellen Kontextes, etwa des Anleihemarktes im New York der 1980er Jahre (Abolafia 1996, 1998), aber nicht als natürliche, universelle Disposition des Menschen. Das Modell des homo oeconomicus mag dann zwar streckenweise für empirische Beschreibungen taugen, aber immer noch nicht als Erklärungsmodell.
33Eine
Neigung zur naiv-empiristischen Rechtfertigung des eigenen Ansatzes, zu einer Haltung des „Sieh hin, so ist es doch“ ist auch in der Wissenschaftssoziologie gelegentlich zu finden, obwohl sie dem Kuhn-Fleck’schen Theorem der Unmöglichkeit theoriefreier Beobachtung widerspricht. Der Sozialepistemologe Fuller notiert (1993: 165): Frage man einen Wissenschaftssoziologen, warum der soziologisch-konstruktivistische Zugriff auf Wissenschaft besser oder „adäquater“ sei als der klassisch rationalistische, erhalte man zur Antwort einen schlichten Verweis auf die empirische Realität: „[M]ost STS practitioners […] turn conventionalist at this point, deferring to the actions that happen to pass as displays of an ‘empirically adequate understanding’“. 34Andere Fälle von Funktionssystemen mit nur lockerer oder jedenfalls spannungsbehafteten Kopplung an Organisation sind etwa Religion und Kunst (Luhmann 1977: 272 ff.; Müller-Jentsch 2005). Wegen der Diskrepanz von Organisations- und Funktionssystemebene kann es denn auch sein, dass Universitäten nach wie vor auffällig lokale und standortgebundene Einrichtungen sind, obwohl die Wissenschaft selbst global ist (Stichweh 1999a, 1999b). Und es ist denn auch ein relativ junges und erfolgsungewisses Vorhaben, Universitäten überhaupt zu handlungsfähigen Akteure zu machen (Krücken/Meier 2006).
3.5 Die Überschätzung von Macht
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weit über einen forschungspragmatisch gewählten Fokus hinaus und greift in das Verständnis der Sache selbst aus. Die überlokale Existenz von Wissenschaft wird als bloße Verlängerung und Vervielfachung des lokalen Geschehens gesehen – nicht ein Labor, sondern viele –, aber ihr wird keine eigene Ordnungsleistung zugetraut. Wissenschaft wird mit der „kontingenten, schmutzigen Lebenswelt des Labors“ (Doing 2008: 283) identifiziert, und die klassische epistemische Handlungslogik wird durch die mikropolitische Logik des Labors ersetzt, nicht ergänzt. Das ist den Laborkonstruktivisten nicht nur eine Ebene, ein Gesicht, das Wissenschaft zeigt, wenn man sie so ansieht, sondern die Realität von Wissenschaft. Kritiker protestieren seit langem gegen diese reduktionistische Sicht der Dinge: gegen die Reduktion von Wissenschaft auf unmittelbare Interaktion, unter Vernachlässigung von Feldynamiken (Bourdieu 1975); gegen die Reduktion von Wissenschaft auf Handeln statt Erleben (Luhmann 1990b: 146, FN 32); gegen die Reduktion auf Mikrokontexte, die letztlich auch nicht besser sei als die klassischen Idealisierungen von Wissenschaftstheoretikern à la Popper. „This pronounced microfocus has largely driven out comparative studies of the larger structural and organizational settings of scientific work. Not all science is the same however, and it is as misleading to speak of the ‘contextual’ and ‘local’ nature of science as it is to portray all science as rational and driven by some universal logic, as did the conventional philosophers“ (Fuchs 1993: 936 f.). Opfer dieses Ansatzes sind diejenigen Ebenen von Wissenschaft, die ihrer Natur nach nicht lokal und konkret sind. So stellt Stephan Fuchs (1993) fest, das Verständnis für Wandel und Prozesse wissenschaftlicher Innovation gehe verloren, weil diese durch überlokale Dynamiken wie Spezialisierung-, Fragmentierungs- und Konkurrenzprozesse getrieben seien. Andere stellen fest, das Verständnis für Mehrfachentdeckungen gehe verloren (Zuckerman 1988; Shapin 1995). Aus lokalistischer Perspektive werde unbegreiflich, wie überhaupt festgestellt werden kann, dass an zwei Orten, in zwei Kontexten, zu zwei Zeiten dasselbe entdeckt worden ist, wenn doch alles Wissen lokal und konkret ist, und wenn überdies die je für sich gemachten Entdeckungen sich in erheblichen Aspekten – Kontextierungen, Formulierungen, Instrumentierungen – unterscheiden (Zuckerman 1988: 346 f.). Laborkonstruktivisten können dann zwar noch strategisches Manövrieren mit Blick auf – mögliche, antizipierte, gefürchtete – Mehrfachentdeckungen beschreiben, aber nicht mehr das Phänomen selbst begreifen. Mikropolitische Ansätze verwechseln auf kurzschlüssige Weise den Befund der Ubiquität von Macht und Mikropolitik mit der Eignung von Macht als Zentralkategorie der Beschreibung von Wissenschaft. Es verhält sich aber umgekehrt: Gerade weil Macht etwas ist, was an allen „Ecken“ der Gesellschaft
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immer auch vorkommt, muss man einen zweiten Blick werfen, um die Bedeutung von Macht in einem bestimmten Bereich vergleichend einzuschätzen. Die Akteur-Netzwerk-Theorie beseitigt das Problem der Mikrofokussierung, indem sie sich weigert, zwischen Mikro und Makro überhaupt zu unterscheiden, aber sie erbt das Problem der Hypostasierung von Macht. Um dies zu sehen, muss man kurz andere Varianten von Netzwerktheorie mit in den Blick nehmen, wie sie anderswo in der Soziologie – u. a. in der Wirtschaftssoziologie – verbreitet sind. Dort werden Netzwerke nicht in erster Linie als Problem von Macht, sondern als Kanal für Informationsflüsse gesehen. Je nach ihrer S tellung in Netzwerken haben Akteure bessere oder schlechtere Chancen für das Erlangen wertvoller Information (siehe dazu Kap. 4). Das ist sogar der bei weitem dominierende Ansatz in der soziologischen Netzwerkforschung insgesamt. Der Akteur-Netzwerk-Theorie dagegen gilt Netzwerkknüpfen per se als eine Art Krypto-Politik: Verknüpfungen bedeuten Stärkung und Rückendeckung; Kontaktpartner sind Alliierte, nicht Informationsquellen. Dafür, wie fundamental diese Annahme ist, wird sie auffallend wenig – soweit ich sehe: gar nicht – begründet. Hier liegt vielmehr eine axiomatische Setzung der Theorie, die sie mitbringt, ohne sie argumentativ einholen zu können. Die Folge dieser machiavellistischen Anlage der Theorie ist die Überbetonung der strategischen Fähigkeiten von Akteuren. Um in einer Latour’schen Welt erfolgreich zu sein, müssen Akteure über erhebliche Fähigkeiten zu Planung, Vorausschau und Kalkulation weitreichender Wirkungen verfügen. Kritiker zeigen sich verwundert angesichts von „Latour’s fundamental ascription to the technoscientific actor of maximizing behaviour and the ability to calculate likely consequences of his behaviour“ (Shapin 1988: 545; vgl. Barnes 2001: 343 f.). Damit werden ironischerweise wieder die Rationalitätspotenziale von Akteuren überschätzt – nur jetzt nicht mit Blick auf wissenschaftlich-epistemische, sondern auf politisch-strategische Rationalität. Das kontrastiert auffällig etwa mit dem Prinzip der „Serendipität“, der Nichtplanbarkeit und Zufallsabhängigkeit wissenschaftlichen Fortschritts, das seit langem als zentral für Wissenschaft bekannt und anerkannt ist (Merton 1948; Menzel 1968; Merton/Barber 2004). Man kommt relativ weit, wenn man die Entwicklung wissenschaftlichen Wissens als Abfolge ungeplanter und unplanbarer Schritte beschreibt, wo Dinge durch Zufall entdeckt werden – in der Folge von Fehlern, Irrtümern und Irrwegen, beim wilden Experimentieren oder beim erratischen Durchblättern von Zeitschriften –, und wo erst recht für breitere, transepistemische Kontexte gilt, dass sich aus wissenschaftlichen Entdeckungen Anwendungen ergeben, von denen man vorher niemand zu träumen wagte. Wissenschaft kann deshalb auch evolutionstheoretisch beschrieben werden, als Ergebnis von blinder Variation und Selektion,
3.5 Die Überschätzung von Macht
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oder als Unterbrechung des Zusammenhangs zwischen Variation, Selektion und Restabilisierung (Campbell 1960; Luhmann 1990b: 549 ff.; Stichweh 1996). So hat denn auch Latours Lieblingswissenschaftler Pasteur nicht nur strategisch Chancen abgeschätzt, Fäden gezogen und Kontakte geknüpft, sondern auch das Prinzip der ungeplanten Entdeckung gewürdigt (van Andel 1994: 634 f.). Die Neigung zur Überschätzung der strategischen, politischen oder para- politischen Rationalität von Akteuren ist interessanterweise auch an anderen Varianten von Wissenschaftssoziologie kritisiert worden. Was Shapin an Latour moniert, wird ganz gleichsinnig auch zu Shapins eigener Forschung zu Physik und Gesellschaftslehre des 17. Jahrhunderts gesagt (Shapin/Schaffer 1985). Die Darstellung von Hobbes’ Position in der Debatte traue diesem eine fast übermenschliche Fähigkeit zur Abstimmung sehr heterogener Kontingenzfelder – physikalischer Theorie und absolutistischer Politik – zu: „To suggest a natural affinity between all aspects of Hobbes’ […] writings, down to the level of concrete application, would require a level of super-rationality akin to that demanded by the logical positivists.“ (Lynch 1991: 319). Dasselbe Argument findet sich auch in der Diskussion zur Politisierung von Wissenschaft und Technologie, hier mit Bezug auf Winner: „Note that in both [of Winner’s] stories, the motivations of the designer [of a technology] are rendered consistent with the effects of the design. […] [Tthe appeal of these stories lies in part in the display of a ‘rational’ connection between the revealed […] consequences.“ (Woolgar 1991: 34). – Wenn das verschiedene Autoren je aneinander kritisieren, aber selbst leicht in dieselbe Falle tappen, dann liegt der Schluss nahe, dass hier ein Problem der allgemeinen, feldtypischen Erklärungsstrategie berührt ist, das von innen noch gesehen, aber nicht überwunden werden kann. Der geheime Ort der Macht über Unternehmen Wenn in der Wissenschaftssoziologie mitunter Wiedergänger von Machiavelli zu finden sind, so hat man in der Wirtschaftssoziologie manchmal den Eindruck, dass Sherlock Holmes am Werk ist. Die Debatte über die Folgen der Trennung von Eigentum und Kontrolle liest sich wie ein Krimi um die Frage: Wer kontrolliert die Unternehmen?, so wie der Kriminalist fragt: Who done it? In diesem Fall scheint es allerdings, dass der Krimi am Schluss unaufgelöst bleibt und es trotz aller Bemühungen nicht gelingt, einen Täter zu überführen. Der geheime „Ort der Macht“ (Mizruchi 2004: 605) oder der „Ort der Unternehmenskontrolle“ (Zeitlin 1974: 1100) lässt sich nicht überzeugend identifizieren – oder so kann man jedenfalls, mit ein bisschen Fantasie, aber ohne Sinnverzerrung, den Literaturbericht von Mizruchi (2004) lesen. In jahrzehntelangen Ermittlungen werden eine Reihe von Verdächtigen durchgeprüft, denen man zutraut, die Kontrolle über die Unternehmen zu haben oder
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zu einer bestimmten Zeit gehabt zu haben – die Aktionäre, die Banken, die institutionellen Investoren, die Aufsichtsräte, die Verflechtungen zwischen diesen, nationale oder globale Klassen, die globalen Kapitalmärkte. Man sucht den Verantwortlichen an immer versteckteren, hintergründigeren Stellen, ohne zu wirklich belastbaren Ergebnissen zu kommen. Jede vorgeschlagene Hypothese wird schnell mit widersprechenden empirischen Befunden oder einer neuen Runde historischer Verschiebungen konfrontiert, die sie obsolet machen. Es mehren sich Diagnosen, die eine gewisse Frustration mit der Fragestellung erkennen lassen. Ab einem gewissen Punkt wird die „So what?“-Frage gestellt (Mizruchi 1996: 280), etwa mit Blick auf Aufsichtsratverflechtungen: Was wissen wir eigentlich, wenn wir wissen, welche Unternehmen mit welchen anderen Aufsichtsräte teilen? Was sonst hängt davon ab? Unzählige Studien hätten das Ausmaß personeller Verflechtung zwischen den Aufsichtsräten großer Unternehmen erwiesen, aber wessen Macht damit indiziert sei, sei unklar geblieben: „it was unclear whether the connections among the firms reflected the cohesion of the business community, the power of financial institutions, or neither“ (Mizruchi 2004: 594). Und auch zur Eigentümerfrage insgesamt sind kritische Stimmen zu hören, die feststellen, letztlich seien die Eigentümer für alle wichtigen Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem Schicksal von Unternehmen stellen, irrelevant: für eingeschlagene Strategien, für eingefahrene Profite und für die Wahrscheinlichkeit, zum Ziel feindlicher Übernahmen zu werden. The question of who controls the large modern corporation is one of the most enduring of modern social science. […] [However,] the evidence for the effects of owner versus management versus bank control and the composition of boards of directors on the financial performance of corporations is mixed or negative […]. Our major substantive conclusion is that differential ownership and the presence of bank interlocks are not important determinants of the strategic and financial outcomes of large firms (Fligstein/Brantley 1992: 280 f.)35.
35Fligsteins Antwort wäre an diesem Punkt sagen: Das Verhalten von Unternehmen wird gesteuert durch institutionelle Regimes oder Modelle, die in bestimmten organisationalen Feldern zu bestimmten Zeiten etabliert sind, mithin durch diffus lokalisierte, aus dem Hintergrund wirkende Größen, sodass sich kein einzelner „Täter“ dingfest machen lässt und es nicht so sehr darauf ankommt, welche konkreten Eigentümer, Aufsichtsräte und Aufsichtsratverflechtungen ein Unternehmen hat. „[T]he actors who control corporations use what occurs in their organizations and organizational fields as cues to guide their behavior. Family owners, bank owners, managers, and bank directors behave according to the dictates of the organizational field in which the firm is embedded and the internal dynamics of their organizations“ (Fligstein/Brantley 1992: 281). Auf Fligstein komme ich noch zurück.
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Es macht sich eine gewisse Ratlosigkeit über den Sinn der gestellten Frage breit: „Who controls, and who cares?“ (Mizruchi 2004: 602), ohne dass aber die Frage ausgetauscht, der Ermittlungsauftrag zurückgegeben würde. Manchmal wird die Antwort im Modus des Negativen gesucht. Mizruchi zieht zeitweise elitistische Machttheorien heran, die Macht als etwas Latentes und Unsichtbares begreifen, das sich vor allem in Nicht-Entscheidungen und Nicht-Thematisierungen manifestiert (Bachrach/Baratz 1962; Lukes 1974), um an der Macht der Aufsichtsräte festzuhalten. Aufsichtsräte seien, auch wenn sie faktisch wenig in Erscheinung treten, das „ultimative Zentrum der Kontrolle“ (Mizruchi 1983: 433), da sie in letzter Instanz über die Kompetenz zur Auswechslung des Managements verfügten und ihre Präferenzen im Hintergrund deshalb stets beachtet werden müssten. Eine subtile Negativverschiebung liegt auch darin, dass Mizruchi in seinem Literaturbericht (2004) die ganze Geschichte mit der Ausgangsintuition eines zu füllenden Vakuums erzählt. Dies schließt zwanglos an die ursprüngliche Diagnose von Berle und Means an, die Eigentümer verlören bei breiter Streuung von Aktienbesitz der Fähigkeit zu effektiver Kontrolle und müssten darin ersetzt werden. Aber auch für alles Weitere folgt seine Darstellung weniger der Intuition eines Machtzentrums, das ausstrahlt, als der eines Machtvakuums, das gefüllt werden muss. Die Frage ist immer wieder: „who filled this vacuum“ (ebd.: 590)? Und die historisch wechselnden Antworten folgen dem Schema einer Usurpation der Macht durch Übrigbleiben oder „by default“ (ebd.: 581) – also durch denjenigen, der gerade relativ am wenigsten unfähig ist, Macht oder Kontrolle auszuüben. Die Diagnose, dass niemand die Kontrolle über die Unternehmen hat, liegt in der Luft und wird von Mizruchi schließlich auch ausgesprochen. Für die Jetztzeit stellt er das Fehlen einer Kontrollinstanz und die Existenz eines unausgefüllten Machtvakuums fest: „A power vacuum thus exists at the top of the U.S. business community“ (ebd.: 608). Alle „üblichen Verdächtigen“ seien als entlastet zu betrachtet, da sie in den letzten Jahrzehnten massiv an Bedeutung verloren hätten und ihnen die Kontrolle der großen Unternehmen nicht zuzutrauen sei: Banken und ihre „Hegemonie“, Klassen und ihre „inneren Zirkel“, ebenso Korporationen und korporative Arrangements. In einer an Marx und Engels (1852) angelehnten Weise beschreibt er eine Situation, in der starke Einzelspieler ihre partikularen Interessen mehr oder weniger unbeschränkt durchsetzen können, weil es keine größere Instanz gebe, die die Interessen der Klasse oder der Wirtschaftselite insgesamt im Auge habe. „[A] paradoxical situation has emerged, in which individual firms have an increasing ability to pursue their narrow self-interest […] while the business community as a whole is less able to act collectively, even when such coordination would be beneficial to the vast majority of firms“ (Mizruchi 2004: 606).
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Mizruchi lässt sich auch nicht von der Diagnose überzeugen, die etliche Diskutanten vertreten: Die Kontrollmacht über die Unternehmen sei seit einigen Jahrzehnten bei den institutionellen Investoren zu suchen, die über präzedenzlos große Mengen Kapital verfügten und präzedenzlosen Druck auf die Unternehmen ausübten (z. B. Useem 1993, 1996; Windolf 2005b). Dies ist eine naheliegende Vermutung, die einen vorübergehenden Zwischenstand der Ermittlungen im Fall „Corporate Control“ ergeben kann, und es gibt einige unübersehbare Indizien, die dafür sprechen, etwa Übernahmeschlachten mit oft deutlichen Blutspuren, einer durch und durch martialischen Rhetorik und einer breiten Palette von Angriffsund Verteidigungsmaßnahmen, von geheimem Anschleichen über offene Drohungen bis zum Einmauern hinter Barrikaden und Zusammenbrauen von „Giftpillen“ (Hirsch 1986; Davis 1991; Useem 1993, 1996). Auch diese Vermutung führt allerdings sofort auf weitere Ermittlungsrunden, da – um im Bild zu bleiben – nicht sicher ist, ob mit den institutionellen Investoren der eigentliche Täter gefunden ist oder aber nur ein vorgeschickter „Killer“, während der Auftraggeber im Hintergrund bleibt. Denn die institutionellen Investoren stehen ja selbst unter Druck, sie sind getrieben vom Konkurrenzkampf auf dem Markt für Kapitalanlagen, ihre Renditegier ist nur ein Ausdruck derselben Gier ihrer Kunden – neutral ausgedrückt: des systematischen Vergleichs von Renditen auch durch den Letztanleger, der aus einem großen Angebot von Anlagemöglichkeiten auswählt. Die institutionellen Investoren sind deshalb nur Ausführende, sie „aktualisieren und verstärken […] nur ein Problem, das auch ohne sie virulent wäre“ (Deutschmann 2005: 81). Letztlich als Täter festzuhalten wären dann „die globalen Kapitalmärkte“, die diese neue Beweglichkeit und Aggressivität des K apitals ermöglichen (wie oben anhand der Frage, ob starke Märkte oder starke Einzelspieler schlimmer sind, schon angesprochen). Andererseits ist aber auch dies noch nicht der Letztstand der Ermittlungen, da die globalen Kapitalmärkte ja wiederum auf Regulierungs- und Deregulierungsentscheidungen von Staaten zurückverfolgt werden können, und diese teils wiederum auf den Einfluss derjenigen Interessenund Lobbygruppen, die davon zu profitieren hoffen, also wiederum der Banken und Investmentfonds. Die Aussicht, in dieses neuerliche Karussell der Weiterreichung der Verantwortung einsteigen zu müssen, hält Mizruchi vermutlich davon ab, dieser Spur zu folgen, und lässt ihn statt dessen auf die Vakuumdiagnose umschalten. Angesichts dieses Diskussionsstandes mag es Sinn machen, für einen Moment innehalten und die Beobachterebene wechseln. Die Frage lautet dann nicht: Wer hat die Macht über die Unternehmen?, sondern: Warum wird das Problem als ein Machtproblem formuliert? Und mit welchem Erfolg? Und was wären die Alternativen? Denn es ist zwar nicht zu bestreiten, dass im Verhältnis von Unternehmen und Investoren ausgeprägte Machtasymmetrien und historische Machtverschiebungen zu beobachten sind. Aber daraus folgt nicht automatisch – hier so
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wenig wie oben –, dass der Machtbegriff deshalb auch die beste explanatorische Kategorie, der richtige Schlüssel zur soziologischen Analyse ist. Dass es prinzipiell durchaus Alternativen gibt, sei hier in aller Kürze mit drei Stichworten andiskutiert: der Frage nach Knappheit, der Frage nach Konkurrenz, und der Frage nach Autonomie. Zwei dieser Nennungen sind klassische Begriffe ökonomischer Theoriebildung (der dritte ein klassischer Begriff soziologischer Gesellschaftstheorie), wobei es aber keineswegs einfach um eine Rückkehr zu ökonomischen Denkweisen geht, sondern vielmehr darum, diese Begriffe kreativ zu wenden und in ihren soziologische Analysemöglichkeiten auszuschöpfen.36 Eine erste Möglichkeit könnte sein, bei Knappheit anzusetzen, genauer beim Verhältnis von Knappheit und Überschuss. Fragt man so, ergibt sich ein Paradox. Auf der einen Seite ist Kapital ein knappes Gut, und darin gründet die Macht von Kapitalgebern und sonstigen Finanzmarktakteuren: Unternehmen – und zwar alle Unternehmen – brauchen dieses Gut, und wer darüber verfügt, kann sich rar machen, mit Abzug drohen, eine „Tyrannei der Finanz“ ausüben, er kann Vorteil daraus schlagen, dass Geldkapital mobiler und liquider ist als investiv angelegtes Kapital. Auf der anderen Seite leben wir in einer Zeit präzendenzlosen Kapitalüberschusses: Kapital ist seit einigen Jahrzehnten im Überfluss vorhanden, es findet nicht mehr genug rentable Anlagemöglichkeiten, treibt Blasen und weicht auf derivative Marktsegmente aus, die Zinssätze – die „Preise“ für Kapital – liegen knapp über oder auch knapp unter Null, und es wird diskutiert, ob wir einem Zeitalter mit dauerhaft real-negativen Zinsen entgegengehen (Summers 2014). Christoph Deutschmann (2005) wirft deshalb die gut gestellte Frage auf, wie eigentlich Knappheit und Überschuss von Kapital gleichzeitig zu denken seien. Wenn Kapital in einem schleichenden Prozess seine Knappheitsqualität teils verloren hat, wird die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts vielleicht eher unter überschüssigem Kapital oder „überschüssiger Liquidität“ leiden (ebd.: 78).37 Was das historisch präzendenzlose Wachstum von 36Beispiele
dafür, wie wirtschaftswissenschaftliche Begriffe kreativ und unerwartet gewendet werden können, lassen sich etwa Albert Hirschmans früher Studie zu Entwicklungshilfeprojekten entnehmen (Hirschman 1967). Er setzt dort jeweils an klassischen Begriffen ökonomischer Analyse an und gibt ihnen jeweils einen unerwarteten „Dreh“, der zu originellen und soziologisch interessanten Analysen führt. 37Die historischen Entstehungsbedingungen dieses Umstands können in einer möglicherweise historisch universalen Asymmetrie zwischen der Höhe von Kapitalrenditen und der Höhe des Wirtschaftswachstums gesucht werden (r > g, laut Piketty 2014). Kurzfristiger und konkreter spielen Faktoren eine Rolle wie eine allgemeine Wohlstandssteigerung im letzten Jahrhundert, das Ausbleiben größerer Kriege und größerer Inflationen mit vermögensvernichtender Wirkung, sowie eine immer älter werdende Bevölkerung mit zunehmenden Ersparnissen und zunehmender Angewiesenheit auf kapitalgedeckte Altersvorsorge, statt traditionell: Altersvorsorge durch Kinder, oder sozialstaatlich: Altersvorsorge mit Umlagefinanzierung (Deutschmann 2005: 80 f.; Davis 2009a, 2009b).
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Kapitalvermögen relativ zu anderen Vermögensformen und relativ zur Größe von Volkswirtschaften für die Wirtschaft und für die Gesellschaft insgesamt bedeutet, ist völlig ungeklärt – vor allem wenn die Vermögen der einen immer die Schulden der anderen sind, wenn also im selben Maß wie Kapitalvermögen irgendwo auch Verbindlichkeiten angehäuft werden und eine starke Kreditexpansion routinemäßig als Problem, als Risiko- und Instabilitätsfaktor gesehen wird (Deutschmann 2009: 80; Kohl 2014: 351 ff.). Eine zweite Möglichkeit könnte die Frage nach Konkurrenz, genauer etwa die Frage, ob es ein „Zuviel“ an Konkurrenz geben kann. Konkurrenz ist ein zentrales Strukturprinzip von Märkten, das aber ungedämpft auch zerstörerisch, problematisch, pathologisch werden kann. Die problematische Seite von Konkurrenz taucht in der Wirtschaftssoziologie mit einer partiellen Ansicht auf, nämlich mit der Frage, wie Unternehmen sich der Konkurrenz entziehen oder zu entziehen versuchen. Konkurrenz ist aus der Sicht des einzelnen Unternehmens natürlich ein Problem und eine unangenehme Umweltbedingung, und sie führt zu vielfältigen Strategien der Konkurrenzvermeidung oder -abmilderung: etwa „Auffressen“ und Monopolbildung, oder Absprachen und Kartellbildung, oder Nischenbildung und Statusdifferenzierung, oder Ausschließung und Errichtung von Zutrittsbarrieren. Das Problem wird hier also mit einem Wechsel der Systemreferenz angegangen, was einen wichtigen Teilaspekt liefert, es aber nicht erschöpft.38 Zu überlegen wäre, ob man die Frage nach einem Zuviel an Konkurrenz festhalten kann, ohne die Strukturebene oder Marktebene zu verlassen – ob man am Markt selbst Umkipppunkte identifizieren kann, an denen ein an sich „richtiges“, wichtiges, schätzenswertes und unverzichtbares Strukturprinzip in ein Zuviel kippt. Soziologisch gibt es durchaus Vorlagen für diese Figur. In vielen Bereichen der Gesellschaft können geschätzte Strukturformen bei übermäßigem
38Das
ist im Übrigen auch die Perspektive der Literatur zu „hypercompetition“, als eines Strangs der ökonomischen Literatur zu Unternehmensstrategien (D’Aveni 1994; Gimeno 1996; Thomas 1996). Es geht hier um Strategien, die Unternehmen einschlagen können, um in wechselhaften Umwelten zu bestehen und den Konkurrenten eine Nase voraus zu sein. „Hypercompetition“ bezeichnet dabei – wie man mit Anklang an Simmel sagen könnte – eine Einstellung der direkten Rivalität gegenüber anderen Unternehmen, als abgesetzt von indirekter Konkurrenz, nämlich Preiskonkurrenz (Simmel 1903; Werron 2010, 2011). Zu Preiskonkurrenz kursiert in der ökonomischen Literatur das Stichwort der „exzessiven Konkurrenz“, das Marktsituationen mit harter Konkurrenz, hohem Angebot und sinkenden Preisen bezeichnet. Preise können so weit sinken, dass Hersteller Verluste machen, mit der Folge, dass sie zu irregulären Praktiken übergehen, angefangen von Einsparungen beim Material und Qualitätseinbußen beim Produkt bis zu hin betrügerischen Praktiken (Brahm 1995; Owen/Sun/Zheng 2008; Claessens 2009; Stucke 2013).
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oder „falschem“ Einsatz zu ihrer eigenen Pathologie werden: So kann Demokratie als Orientierung der politischen Entscheider am „Volk“ oder am Wähler in Populismus kippen, was dann ein Problem und ein Schimpfwort ist – die billige Neigung, dem Volk nach dem Munde reden (Wejnert 2014). Oder romantische Liebe als Grundlage moderner Paarbeziehungen kann zum Urquell ihres eigenen Scheiterns werden, indem sie überzogenen Erwartungen, unvermeidlichen Enttäuschungen und einer Dynamik „romantischer Scheidungen“ Auftrieb gibt (Elliott/Merrill 1934; Leupold 1983; Beck/Beck-Gernsheim 1990). Die Herausforderung wäre, für Konkurrenz auf Märkten solche Punkte eines immanenten Potenzials zum Kippen in pathologische Formen zu identifizieren.39 Eine dritte Möglichkeit könnte schließlich sein, systematisch nach der Autonomisierung von Finanzmärkten zu fragen. Über deren „Abkopplung“, „Entfesselung“ und „durchdrehende Selbstreferenz“ wird routinemäßig geklagt (Kalthoff/Vormbusch 2012; Mayntz 2014), ohne dass ein kontrollierter Autonomiebegriff angelegt würde. Eine Antwort könnte in der wachsenden Kommensurierungsfähigkeit von Finanzmärkten gesucht werden, also in der Fähigkeit, unterschiedliche Arten von Wertpapieren und sonstigen Kapitalgeschäften systematisch miteinander zu vergleichen und „auf einen Nenner zu bringen“.40 Viele
39Die
Frage, wo Grenzen eines sinnvollen Anlegen des Konkurrenzprinzips liegen, hat schon Simmel gestellt (1903). Er denkt dabei allerdings an Konkurrenz in anderen Bereichen als Wirtschaft, wo sich dann als Gegenprinzipien und Limitationen des Konkurrenzprinzips andersartige, formunähnliche Prinzipien nennen lassen, etwa für Religion das Prinzip unbegrenzter Gottesliebe und die Überzeugung, dass „in Gottes Haus für alle Platz ist“, oder für Familien das dort geltende „Friedensprinzip“ oder die Basierung in wechselseitiger Zuneigung und Solidarität. 40Das Kommensurierungstheorem (Espeland/Stevens 1998) ist in der Wirtschaftssoziologie gebräuchlich, wird aber nicht mit der Frage nach der Autonomisierung von Finanzmärkten in Zusammenhang gebracht. Es dominieren zwei Einsatzweisen des Kommensurierungsbegriffs, von denen die eine für Zwecke dieser Frage zu eng, die andere zu weit ist. Zum einen wird festgestellt, dass einzelne Produkte (Aktien, Autos, Mikrowellenherde, …) bestimmten Produktkategorien zugeordnet werden müssen (Branchen, Automobilklassen, „männlichen“ oder „weiblichen“ Produkten, …), um bewertbar und handelbar zu sein (Zuckerman 1999, 2004a; Lounsbury/Rao 2004). Hier steht die Ebene des Einzelmarktes im Blick, und dies ist eine für die Frage der Autonomisierung von Finanzmärkten zu kleine Ebene. Zum anderen wird gefragt, ob und wie bestimmte, nicht selbstverständlich marktgängige Dinge (menschliche Organe, Eizellen, Organismen und ihre Gencodes, Umweltschäden und Umweltbiotope, …) überhaupt an die Welt des Geldes und des ökonomischen Wertes herangeführt und dieser kommensurabel gemacht werden können (Healy 2006; Almeling 2007; Thévenot/Moody/Lafaye 2000; Fourcade 2011). Das zielt auf die Ebene von Wirtschaft und Geldförmigkeit überhaupt, und dies ist eine für Zwecke der genannten Frage „zu große“ Ebene.
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Finanzwerte und Finanzgeschäfte existieren schon seit Hunderten oder Tausenden von Jahren, sie waren aber die meiste Zeit ganz disparate soziale „Dinge“, die verschiedenen Zwecken und Personengruppen dienten und nicht systematisch miteinander verglichen wurden. Sie werden dann Teil eines gemeinsamen Universums namens „die Finanzmärkte“, indem Techniken entwickelt werden, mit denen immer heterogenere Arten von Kapitalgeschäften als Ausprägungsformen ein- und derselben Sache – nämlich der Kanalisierung von Kapital von „surplus pockets“ in „deficit pockets“ (Patil 2001) – begriffen und gehandhabt werden können. Damit steigen die internen Interdependenzen und Zwänge im Finanzsystem und lockern sich Zusammenhänge nach außen – die Autonomie des Finanzsystems gegenüber der „Realwirtschaft“ und gegenüber dem Rest der Gesellschaft steigt.41 Bei aller Kürze dieser Andeutungen ist klar, dass es viele interessante Möglichkeiten gäbe, das Verhältnis von Unternehmen und Kapitalgebern zu untersuchen, ohne bei der Kategorie der Macht anzusetzen. Im Endeffekt mag man Machtdifferenzen und Machtverschiebungen dann „von hinten her“ durchaus wieder in den Blick bekommen – etwa als Effekt gesteigerter Autonomie von Finanzmärkten oder als Effekt übermäßiger Konkurrenz im Kapitalmarktsektor –, aber angereichert um neue Schichten von Komplexität. Solche alternativen F ragen bleiben in der wirtschaftssoziologischen Diskussion unterentwickelt, weil eben der Fokus auf Macht und Interessen so eindeutig dominiert. „Bringing Markets Back In“ könnte also die Devise sein, etwa auf dem Weg über „Bringing Competition Back In“, oder „Bringing Scarcity Back In“, oder „Bringing Autonomy Back In“. Solche näher an wirtschaftsspezifischen Problemen liegende Ansätze,
41Es lassen sich drei Schübe einer solchen gesteigerten Kommensurierungsfähigkeit identifizieren. Ein erster Anwendungsfall ist das Näher-Aneinanderrücken von Aktienmärkten und Optionsmärkten, oder allgemeiner: Märkten für Basiswerte und Derivatemärkten, die ab einem bestimmten Punkt mithilfe mathematischer Modelle – speziell des Black-ScholesMerton-Modells – exakt relativ zueinander bepreist und ineinander umgerechnet werden können (MacKenzie/Millo 2003; MacKenzie 2006). Ein zweiter Fall ist die Umwälzung des Bankgeschäfts durch den Doppeltrend der Disintermediation und Verbriefung, der nichts anderes bedeutet als die verstärkte Vergleichbarkeit und Ersetzbarkeit von Bankprodukten einerseits und nicht-bankvermittelten, kapitalmarktbasierten Finanzprodukten andererseits. Ein dritter Fall ist das Aufkommen der „shareholder value“-Doktrin und der verschärfte Druck von Kapitalgebern auf Unternehmen, die voraussetzen, dass das Operieren von Unternehmen und das Operieren von Kapitalmärkten, speziell Aktienmärkten, tagesaktuell aufeinander bezogen und aneinander gemessen werden, womit die traditionell lockere Kopplung dieser beider Welten aufgelöst und in eine gnadenlos enge Kopplung überführt wird (Ho 2009).
3.6 Die Überdehnung von Interessen
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gewissermaßen Ansätze mittlerer Radikalität, könnten in der Wirtschaftssoziologie deutlich ausgebaut werden.42
3.6 Die Überdehnung von Interessen Interessen als factum brutum In der Soziologie wird die Welt oftmals nach einer Formel gedacht, die zunächst eine gute Blaupause für Prozesse in der politischen Arena abgibt: Artikulation von Interessen und mehr oder weniger erfolgreiche Durchsetzung dieser Interessen durch Schmieden von Koalition, Schließen von Kompromissen und Entscheiden von Konflikten zwischen Gruppen. In der Wissenschaftssoziologie geht man davon aus, dass unser Bild von der physischen Welt ebenso durch Aushandlung und differenzielle Durchsetzung zustande kommt wie Gesetze über Mindestlöhne und Mehrwertsteuersätze. In der Wirtschaftssoziologie geht man davon aus, dass die Strukturen von Märkten sich ebenso den Einflüssen und Einflüsterungen interessierter Gruppen verdanken wie Energiesubventionen und Verkehrswegeausbau. Die Plausibilität des Interessengruppenmodells ist getragen durch die Ablehnung der Vorstellung universaler Strukturgesetze und objektiver Sachzwänge. Statt dessen soll möglichst viel von der sozialen Ordnung einem wenn nicht demokratischen, so doch prinzipiell voluntaristischen, ergebnisoffenen Gestaltungsprozess unterworfen sein. Die Gefahr, die an der Rede von Strukturzwängen gesehen wird, ist die der ideologischen Verblendung und des Hereinfallens auf die Apologeten der herrschenden Ordnung. Die umgekehrte Gefahr, die sich bei der politistischen Umrüstung des Bildes auftut, ist indes die einer Überschätzung und Überdehnung von Interessen. Interessen sind ja oftmals auch nur ein mitlaufendes, mitkonstituiertes Element sozialer Ordnung – selbst schwankend, interpretierbar, situations- und suggestionsabhängig, über- oder unterdeterminiert. Das Interessenmodell des Denkens aber macht sie zum festen, unverrückbaren Pfosten in der
42Das
merkt auch Richard Swedberg an, wobei er nicht Knappheit und Konkurrenz, sondern Ressourcen und Profite als wirtschaftsnäher gewählte und in der Wirtschaftssoziologie vernachlässigte Aspekte nennt: „One strength of economic sociology in the analysis of markets is that sociologists are skillful at uncovering the social structure of a phenomenon. […] [S]ociologists have suggested new ways of conceptualizing how markets operate in social terms. But […] new problems have emerged. This is especially true for the attempt to view markets exclusively in social terms. […] While it is possible to find references […] to resources and profits, not enough attention is paid to them.“ (Swedberg 2005b: 233).
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Welt, zum Ausgangspunkt von Ordnungsbildung statt zu einem Ergebnis davon. Interessen werden tendenziell hypostasiert und reifiziert. In der Wissenschaftssoziologie ist das schon früh diskutiert worden, in einer eigenen kleinen Kontroverse zwischen dem Strong Programme mit seinem Fokus auf Interessenerklärungen und alternativen Ansätzen wie Ethnomethodologie und Akteur-Netzwerk-Netzwerktheorie. Die eine Position geht davon aus, dass die Wahl zwischen konkurrierenden Erklärungsangeboten an der Forschungsfront davon abhängt, welche Interessen der jeweilige Wissenschaftler qua Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppen oder Schichten oder auch qua Positionierung im Forschungsbetrieb selbst hat. Physiker, Mathematiker oder Biologen bevorzugen diejenige physikalische, mathematische, biologische Theorie, die der Position ihrer Herkunftsgruppe im gesellschaftlichen Gefüge entspricht oder die Position ihrer bisherigen und künftigen Arbeiten im Publikations- und Reputationsraum ihres Forschungsfeldes optimiert. Die Kritik daran lautet, dass damit Interessen eine Determinationskraft und letztinstanzliche „Härte“ zugewiesen wird, die schlecht abgestimmt ist mit dem konstruktivistischen Tenor der Wissenschaftssoziologie insgesamt. Alles soll konstruiert sein, nichts ist fix und durch die Welt selbst determiniert, alle harten Daten und Experimente sind in Wahrheit weich und interpretierbar, alles kann durch Aufbohren der künstlich abgeschlossenen Konstruktionsarbeit verunsichert und re-kontingentisiert werden – nur Interessen sind ein factum brutum, sie sind der feste, nicht nachgebende Grund, das Fundament, das die vielfältigen Konstruktionen der sozialen Welt trägt. [This] version of naturalism is essentially two-tone. […] Interests are not to be treated as ‘actively constructed assemblages of conventions […]’, even though this is precisely the formula which […] [the strong programme] says has to be applied to ‘all representations, pictorial or verbal, realistic or abstract’. […] [K]nowledge products and scientific events of all kinds fall under the rubric of socially constructed representations, but interests do not (Woolgar 1981: 370).
In der Wissenschaftssoziologie laufen Interessenerklärungen mithin in ein Reflexivitäts- oder Selbstanwendungsproblem: Der Relativismus und das Umden ken von linearer Determination auf kontingente Konstruktion, die gegen die „normale“, klassische Forschungslogik in Anschlag gebracht werden, werden für Interessen suspendiert. „[A] picture of scientists as interest-dopes is […] substituted for their previous portrayal as rationality-dopes“ (ebd.: 379). Damit sei letztlich nichts gewonnen, es werde nur eine lineare Determinationsvorstellung durch eine andere – und zwar eine politistische – ersetzt. Ausgeblendet werde die Konstruiertheit auch von Interessen, die den Kritikern zufolge sogar auf zwei Ebenen gilt: Zum einen könne der soziologische Beobachter Interessen nicht e infach empirisch
3.6 Die Überdehnung von Interessen
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ablesen, sondern müsse sie aus stets lückenhaften Daten (Biografien, Briefen usw.) erschließen, was eine ebenso große Konstruktionsleistung sei wie die Interpretation von Labordaten durch den Naturwissenschaftler. Zum anderen würden auch die Teilnehmer selbst permanent Interessenkonstruktion an sich und anderen betreiben: Es gehöre zum Alltagsgeschäft der Forschung, über mutmaßliche Interessen anderer zu spekulieren sowie eigene Interessen zu identifizieren und zu priorisieren (Woolgar 1981; Callon/Law 1982; Latour 1987).43 Interessen eigneten sich deshalb nicht als Letztelement der Analyse, das andere Elemente erklären kann und selbst unverrückbar feststeht; vielmehr müssten sie ebenso problematisiert und als Ergebnis von Konstruktionsarbeit betrachtet werden wie alles andere auch. Die Kritisierten wehren sich zwar gegen den Vorwurf, sie würden Interessen nicht ausreichend problematisieren, und betonen vielmehr, sie würden Interessen ja gerade ins Zentrum der soziologischen Aufmerksamkeit rücken (Barnes 1981; MacKenzie 1981). Andererseits beharren sie aber darauf, dass Interessen „hart“ seien, dass sie nicht reines Gerede, bloße Diskurse, beliebig zu modelnde soziale Fiktionen seien, sondern wirklich. So eine Gegenkritik: Interests […], Latour says, cannot be used as causal items because they are the consequences of negotiation and the effects of the settlement of disputes. […] Latour is evidently equating interests with accounts of interests: […] verbal manoeuvring […] and interest-talk […]. But, as interest-theorists like Barnes have repeatedly explained, their ‘work refers to interests, not to agents’ accounts of interests, and the two cannot be assumed to be the same, any more than cream-cakes and accounts of cream-cakes can be assumed to be the same. […]’ (Shapin 1988: 543).
43Daraus
wird die Schlussfolgerung gezogen, dass der Wissenschaftssoziologie den Interessenbegriff gar nicht mehr in der Perspektive erster Ordnung, sondern nur noch als Beobachter zweiter Ordnung verwenden dürfe, also nur noch beobachten könne, wie Wissenschaftler die Interessen anderer oder ihrer selbst beobachten (Woolgar 1981; Callon/Law 1982; Latour 1987). Dies ist ein Anwendungsfall einer Strategie, die man als „resource to topic“ oder auch „background frame to content“ (Doran 1989) bezeichnen kann und die in der konstruktivistischen Wissenschaftssoziologie oft zu finden ist: Alle Konzepte, die von Teilnehmern verwendet werden, dürfen vom Soziologen nicht mehr als eigene verwendet werden, sondern nur als Teil des Gegenstandes beschrieben werden. Diese Strategie führt allerdings auf die Dauer zu einer Entleerung von Begriffen, da sie nicht nur auf Interessen, sondern auch auf Gesellschaft, auf Grenzen, auf Unterscheidungen wie kognitiv/sozial, kognitiv/politisch, internal/external usw. angewandt wird. Es bleibt dann irgendwann nichts mehr übrig, womit der Soziologe als mit eigenen Begriffen arbeiten kann, und man landet in der „explanatory impotence“ (Frickel 1996: 29). Die Protagonisten dieser Strategie erklären zwar auch offen den Verzicht auf jeden Erklärungsanspruch (Woolgar 1981, 1982; Latour 1987), was aber auch von vielen als unbefriedigend empfunden wird (Shapin 1988; Wynne 1992c; Kim 1994; Doing 2008; Turner 2012).
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3 Macht und andere Politismen
Damit wird eben doch eine qualitative Differenz behauptet zwischen der Sphäre der Erkenntnis und der wissenschaftlichen „Fakten“, die sehr wohl in Diskurse, Beobachtungen, Zuschreibungen aufgelöst werden, und der Sphäre des Politischen oder Para-Politischen, für die das nicht gilt. Interessen sollen einer härteren Realitätsschicht angehören als wissenschaftliche Erkenntnisleistungen. Während die Beschreibung des „homo scientificus“ und seiner angeblichen Fakten immer nur im weichen Grund von Diskurs, Konstruktion und Gerede stochert, trifft die Beschreibung des hinter ihm stehenden „homo politicus“ und seiner Interessen auf harten Grund.44 Die Überlastung der Interessenkategorie lässt sich auch noch an einem weiteren Zug des Strong Programme ablesen. Es fällt auf, dass der Fokus von breiten, gesellschaftlich-politischen Interessen schnell wieder auf engere, forschungspolitische Interessen zusammenschrumpft, im Jargon des Feldes: von „sozialen“ auf „kognitive“ Interessen. Für manche Fälle gelingt es, wissenschaftliche Kontroversen mit gesellschaftlich-politischen Makroproblemen zu parallelisieren, etwa – in dem berühmten Hobbes-Fall – physikalische Theoriebildung mit dem Bröckeln der Ständeordnung im Absolutismus. Für die Vielfalt und Esoterik wissenschaftlicher Kontroversen im 20. und 21. Jahrhundert wird das aber zunehmend unplausibel oder einfach schwer durchzuführen. Wie sollte etwa die Polymer-Forschung in der Chemie oder die Einzeller-Forschung in der Biologie mit gesellschaftlichen Positionen bestimmter Gruppen zusammenhängen? Solche Zusammenhänge mögen in Einzelfällen zu finden sein, können aber schwerlich
44So
verweist auch Bloor auf Interessen an einem Punkt, wo es darum geht, einen harten, nicht auflösbaren Bezugspunkt der Analyse zu finden. Er kommentiert den Vorwurf, die konstruktivistische Soziologie lande in einer Art absurden Idealismus – sie denke die Welt als etwas, was unseren Vorstellungen folge, was beliebig im Modus der selbsterfüllenden Prophezeiung zu modeln sei, nach dem Motto: Wenn alle denken, dass es so ist, ist es so. Diesem Vorwurf begegnet er mit dem Verweis auf Interessen als die externe Größe, die die Beliebigkeit der selbstreferenziellen Konstitution sozialer Wirklichkeit beschränke. „One superficially disturbing feature of the self-referential analysis is that it looks logically circular. If we make someone a member, by knowing they are a member, what is it that we know? How can we have knowledge of something, if the knowing creates the something? […] [A] way out was to argue that […] we must find a theory showing how […] [institutions] are conventions constructed from our interests and natural, inductive inclinations. These underlie the entire, self-referring system […] [A]ny complete account of an institution must try to show how the self-referring system can be set in motion by something outside itself, some set of dispositions and inclinations that can be characterized without using the concepts internal to the institution.“ (Bloor 1996: 834).
3.6 Die Überdehnung von Interessen
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für die unzähligen offenen Forschungsfragen in Tausenden von Spezialgebieten behauptet werden. An solchen Punkten wird dann auf forschungspolitische Interessen umgeschaltet: Wissenschaftler seien daran interessiert, ihren eigenen Forschungsschwerpunkt prominent zu machen und ihre eigene Arbeit nicht durch die weitere theoretische oder experimentelle Entwicklung entwertet zu sehen. Sie wählten deshalb im Zweifelsfall diejenige Theorie, die besser zu den bisher gepflegten Theorien oder Forschungsinteressen passe, die mehr von den bisher gemachten Experimenten eingemeinden könne und den Weg für möglichst viele künftige Experimente vorzeichne (MacKenzie 1978; MacKenzie/Barnes 1979; Pickering 1981a, 1981b, 1984). Wenn das aber das leitende Interesse ist: Theorien zu entwickeln und Experimente anzuleiten – was ist dann noch der Unterschied dieser „Interessen“erklärung zu einem mehr oder weniger klassischen, rationalistischen Wissenschaftsverständnis? Inhaltlich ist die erzählte Geschichte sehr nah an einer einfachen Forschungslogik der Sache, die nur mit dem Interessenbegriff garniert wird. Der Interessenbegriff ist dann letztlich nur eine komplizierte Art, die epistemische Qualität einer Theorie zu bezeichnen (Cole 1997: 279).45 So wird denn auch gesagt, Pickerings Buch über die Quarkforschung sei im Wesentlichen eine solide Wissenschaftsgeschichte des Feldes, die auch von Wissenschaftshistorikern mit Gewinn gelesen werden könne, sofern die soziologischen Erklärungsangebote weggelassen würden: „For historians and philosophers of science, the way to make this into the best history of the subject was to razor out the pages in the introductory chapter about social construction.“ (Turner 2012: 477). Wenn aber die Interessenerklärung so schnell wieder in eine Forschungslogik der Sache kollabiert, dann liegt die Vermutung nahe, dass der Begriff überbeansprucht wurde wurde und deshalb leerläuft. Die Überlastung des Interessenbegriffs rächt sich darin, dass seine Reichweite und Verfremdungskraft zusammenschrumpft. Akteure und Institutionen als Letztbausteine sozialer Realität In der Wirtschaftssoziologie sind Interessenerklärungen weniger die S pezialität eines klar konturierten und kontrovers diskutierten Strangs als eine allgemein
45Ganz
ähnlich bestimmt beispielsweise der Wissenschaftsphilosoph Hacking (1988) von einer gemäßigt-realistischen Position aus die epistemische Qualität von Theorien oder Hypothesen: Diese liege darin, einen möglichst großen und vorher unzugänglichen Bereich neuer Hypothesen, Präzisierungen und Denkmöglichkeiten zu erschließen (wenn auch nicht: die Welt-an-sich abzubilden).
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verbreitete Plausibilität. Niemand im Feld wird widersprechen, wenn Marktformationen oder Unternehmensstrategien auf die Interessen durchsetzungsstarker Akteure zurückgeführt werden. Allenfalls werden weitere Faktoren ins Feld geführt, die ebenfalls eine Rolle spielen, wie kulturelle Traditionen oder kognitive, etwa finanzwissenschaftliche Innovationen. Solche alternativen Foki laufen dem Fokus auf Interessen aber auch nicht direkt zuwider, sondern können zwanglos damit kombiniert werden.46 Das Interessendenken ist hier die mehr oder weniger feldweit verbreitete Gegenreaktion oder Immunreaktion gegen das Gottvertrauen der Wirtschaftswissenschaft darein, dass Märkte sich nach universellen Gesetzen verhalten und zu allseits optimalen Ergebnissen führen. Statt dessen wird eben auf die Abhängigkeit von partikularen Interessenlagen oder kulturellen Konventionen hingewiesen. Alles ist willkommen, was sich gegen die Annahme ins Feld führen lässt, diejenigen Formen, die sich am Ende durchsetzen, seien eben deshalb auch die effizientesten. Hier tut sich allerdings das Problem auf, dass diese Abgrenzungslinie nicht völlig abgestimmt ist – und in gewissem Sinn frontal kollidiert – mit der Linie, die zu Beginn dieses Kapitels skizziert worden ist: der Ablehnung des egoistischen, kalkulierenden Akteurs. Letztere richtet die Wirtschaftssoziologie gegen Rational Choice aus, gegen Individualismus, Nutzenorientierung und Strategizität, und mithin tendenziell in die Richtung, die im Wegweisersystem der Soziologie mit dem Namen „Durkheim“ beschildert ist: in Richtung auf Normativität,
46Es
kann dann etwa gesagt werden, dass Marktformationen nicht nur von Machtkämpfen und strategischem Agieren abhängen, sondern auch von kulturellen Rahmungen (Avent-Holt 2012). Kontroversen sehen anders aus. – Kulturelle Konventionen können etwa im Sinn einer informalen Ebene der Marktregulierung verstanden werden, die die formale, rechtlich-regulatorische Ebene ergänzt und die – wie alle informalen Normen – weniger gut sichtbar und änderbar ist, aber gewitzten Spielern ebenso die Chance bietet, geschickt darauf zu surfen. Diese Doppelung in formale und informale Normierung lässt sich auf unzählige Befunde zur kulturellen Prägung von Märkten anwenden: von lokalen Handelskontexten wie dem Fischmarkt von Marseille oder der Börse von Chicago (Weisbuch/Kirman/Herreiner 2000; Abolafia 1996; Zaloom 2003, 2006; MacKenzie 2007) bis zu nationalen oder überregionalen Wirtschaftsräumen, etwa mit Blick auf asiatische vs. westliche oder angelsächsische vs. kontinentaleuropäische Varianten des Kapitalismus (Dore 1983, 1997; Lincoln/Gerlach/Takahashi 1992; Berger/Dore 1996; Hall/ Soskice 2001; Hall/Gingerich 2004). – Für kognitive Innovationen gilt, dass diese sich nicht aus eigener Kraft durchsetzen, sondern nur aufgrund des mehr oder weniger energievollen und interessenbewussten Handelns von Akteuren (MacKenzie/Millo 2003; MacKenzie 2006; Dobbin/Jung 2010, 2011).
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Konformität, Kollektivität, Institutionen.47 Dagegen führt das hier erwähnte Misstrauen gegen Effizienz und Selbstregulierung, gegen die unübertreffliche Weisheit der unsichtbaren Hand, in die umgekehrte Richtung: Sie führt weg von Durkheim, nämlich weg von Funktion, Institution, Evolution, Sozialordnung sui generis, und hin auf Interessengruppen, Interessenkonflikte und kontingente Kräfteverhältnisse. Für die Ökonomen gehen deren beiden Teilannahmen wunderbar zusammen: die perfekt egoistische Rationalität der Einzelakteure soll gleichzeitig auch zum strukturlogisch perfekten Gesamtergebnis führen. Für die Wirtschaftssoziologie aber ergeben sich daraus, grob abgebildet auf die soziologische Theorielandschaft, zwei Abgrenzungsimpulse, die das Feld in entgegengesetzte Richtungen ziehen. Man sieht daran das Problem davon, sich in den eigenen Theorieoptionen von einer „Gegnerdisziplin“ leiten zu lassen (siehe Kap. 1). Die Spannungen, die sich daraus ergeben, werden vorzugsweise wiederum auf der politistischen Schiene aufgelöst. Auf politistischem Grund lässt sich eine Kompromissposition formulieren, die in sich mehr oder weniger widerspruchsfrei ist, aber beiden Seiten genüge tut: Anstelle von kühl kalkulierenden Akteuren gibt es dann eben politisch-strategische Akteure, und anstelle von Strukturlogiken und institutionellen Ordnungen sui generis gibt es Interessenkonflikte und Durchsetzungskämpfe. Auch wenn dies nur eine sehr grob formulierte Position ist, scheint es mir nicht sinnverzerrend zu sagen, dass sie den theoretischen Konsens in weiten Teilen der Wirtschaftssoziologie widerspiegelt und dass eventuell ausgetragene Kontroversen und Theoriedifferenzen sich in nicht allzu weitem Radius um dieses Verständnis herum bewegen. Eine Folge davon ist, dass institutionalistisches, strukturtheoretisches Denken nicht konsequent entfaltet werden
47Ausbuchstabiert lautet diese Logik folgendermaßen: Die Argumentation der Wirtschaftssoziologen sei oft „designed to carve out a distinctive niche for sociologists in the study of markets, another aspect of Durkheim’s legacy that has a professional goal alongside its intellectual one. I suspect that this defense of a distinctive sociological vision is stronger in economic and political sociology, which border on rival disciplines dominated by game theory. Since game theory claims to be the only serious social-scientific approach to strategy, carving out a sociological turf is thought to require the discovery of the importance of nonstrategic considerations and entities. […] The debate between economics and sociology was traditionally over the importance of market forces of supply and demand versus cultural and institutional factors. Game theory helped substitute individual decision makers for supply and demand, but it did not incorporate sufficiently the cognitive, normative, and emotional richness of culture or the defining importance of institutional constraints.“ (Jasper/Abolafia/ Dobbin 2005: 479 f.).
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kann, weil dann die eine Seite dieser Aufhängung reißen würde. Interessenpolitik muss im Zweifel stärker sein als institutionelle Notwendigkeiten. Radikal nicht- akteurstheoretische, nicht-interessenbasierte Denkmöglichkeiten können nicht so recht hochkommen. Das werde ich im Folgenden an den Institutionalisten in der Debatte – also an Autoren wie Fligstein, Dobbin, Davis – zeigen. Institutionalisten gehen zunächst einmal von Durkheimianischen Grundlagen sozialer Realität aus. Sie fragen nach politischen, regulatorischen und kulturellen Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns, sie gehen historischen Trägheiten und Pfadabhängigkeiten nach und beschreiben Diffusions- und Imitationsdynamiken in institutionellen Feldern. Das Handeln von Akteuren ist nicht selbstgenügsam, sondern ist von der jeweils gültigen Vorstellung richtigen Handelns und den Grenzen zulässigen Handelns geprägt, die durch solche institutionelle Ordnung definiert werden. In diesem Sinn werden Marktformationen und Unternehmensstrategien auf Änderungen regulatorischer Regimes, etwa im Kartellrecht oder in der Regulierung des Kapitalmärkte, zurückverfolgt, und es wird die Diversität von Marktformen in Ländern mit unterschiedlichen kulturellen Traditionen, etwa zentralistischem vs. föderalistischem Staatsverständnis, herausgearbeitet (z. B. Fligstein 1990; Dobbin 1994; Davis 2009a). Interessanterweise schwenken aber auch die entschiedensten Institutionalisten letztlich wieder auf ein politistisch gefärbtes Interessendenken ein. Sie führen die Institutionen, die das Handeln von Akteuren prägen, dann wiederum auf die Vorherrschaft interessen- und durchsetzungsstarker Akteursgruppen zurück. Konfrontiert mit der theoretischen Gretchenfrage, ob alle soziale Realität das Produkt des Handelns von Akteuren ist oder ob es andere Realitätsebenen mit eigener, irreduzibler Ordnungskraft gibt, nehmen sie letztlich Partei für die Seite der Akteure und Interessen. Ihr Vertrauen in institutionelle Ordnungsebenen reicht nicht so weit, dass diese als Letztpunkt der Analyse stehen bleiben könnten; vielmehr werden alle Strukturen und alle Institutionen letztlich wieder als geronnenes Produkt von Interessendurchsetzung dechiffriert. „[T]he better institutionalists […] trace every legal shift and every change in business conventions to the strategic action of individuals“ (Jasper/Abolafia/Dobbin 2005: 484). Ein prinzipiell anderes Realitätsformat als interessenorientiertes Handeln ist nicht vorgesehen. Bevorzugt werden deshalb Formulierungen von der Art, dass Akteure institutionell geprägt und gerahmt sein, dass sie kulturell eingefärbt und eingebettet sind, oder dass sie durch Institutionen „befähigt und beschränkt“ werden (Fligstein/ Mara-Drita 1996: 4) – nicht aber, dass Akteure durch Institutionen überhaupt erst konstituiert werden. Letzteres ist die Position von Meyer: Die Form des Akteurs überhaupt, und die Form des ziel- oder interessenorientierten Handelns, geht auf
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ein kulturelles Skript zurück.48 Die Meyer’sche Version institutionalistischen Denkens scheint in der Wirtschaftssoziologie indes nicht angekommen zu sein. Die prominenten Institutionalisten dort sind alle „gemäßigte“ Institutionalisten, die – mit Eigennamen formuliert – der DiMaggio-Schule, nicht der Meyer-Schule des Institutionalismus folgen. An der Gretchenfrage des Verhältnisses von Akteur und Struktur greift hier das Konzept des „Institutionenunternehmers“ (DiMaggio 1988), also des Akteurs, der Institutionen nach seinem Geschmack erschafft, die dann vielleicht viele Generationen lang Bestand haben. Institutionenbau findet statt in Momenten hinreichender Offenheit, etwa nach Krisen, die die bestehende institutionelle Ordnung erschüttern, oder beim Erschließen von Neuland, das sich etwa durch Deregulierung oder durch technologische Innovation und Geburt neuer Produktklassen eröffnet; er findet statt in weitblickender Absicht oder auch eher zufällig als Nebenfolge momentan eingeschlagener Handlungskurse. Immer aber gilt, dass sich hinter allen Institutionen wieder Akteure, Interessen, Macht und Durchsetzungsgeschick finden – statt dass sich, wie bei Meyer, hinter allen Akteuren und Interessen immer wieder institutionelle Skripts finden. Das Konzept des Institutionenunternehmens ist dazu da, den Institutionalismus wieder auf eine akteurstheoretische Grundlage zu stellen: „Institutional entrepreneurship is […] a concept that reintroduces agency, interests and power into institutional analyses“ (Garud/Hardy/Maguire 2007: 957).49
48In
anderer Weise ist dies natürlich auch die Position der Systemtheorie, die Akteure ebenfalls nicht für eine primordiale Gegebenheit der Welt hält, sondern für ein Produkt von Systembildung und kommunikativ etablierten Attributionsroutinen (Luhmann 1984: 191 ff.). Da Systemtheorien und Funktionalismen in der Wirtschaftssoziologie aber generell abgemeldet sind, der Strukturfunktionalismus konstitutiv abgelehnt wird und dies geradezu den Startpunkt der Neuen Wirtschaftssoziologie (und der neueren Wissenschaftssoziologie) markiert, ist das Fehlen solcher Positionen nicht weiter bemerkenswert und aussagekräftig. Um die Theorielandschaft zu durchleuchten, eignet sich deshalb als Vertreter radikaler nicht-akteurstheoretischer Positionen der Meyer’sche Institutionalismus, der in der angelsächsischen Soziologie prinzipiell salonfähig ist. 49Anders als die Meyer-Schule denkt die DiMaggio-Schule, und damit die Institutionalisten in der Wirtschaftssoziologie, mithin letztlich nicht „top down“, sondern „bottom up“. Die einen fragen, wie Akteure „von oben“, aus einer institutionellen Ordnung heraus konstituiert werden (Meyer/Jepperson 2000); die anderen fragen, wie Akteure „von unten“ her Institutionen schaffen (Fligstein 2001a). Auf der einen Seite wird unermüdlich die Isomorphie, die Konvergenz von Strukturformen rund um den Globus herausgearbeitet, während auf der anderen gerade die Divergenz von Strukturen in verschiedenen Ländern betont wird. Meyer fragt: Warum finden sich in allen Staaten der Welt dieselben institutionellen Formen, obwohl die lokalen Bedingungen ganz verschieden sind? (Thomas et al. 1987; Meyer 2005) Dobbin fragt: Warum gibt es in verschiedenen Ländern verschiedene S trukturen
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Dieser Charakter eines gemäßigten, letztlich wieder in Akteursfundierung kippenden Institutionalismus prägt etwa Fligsteins Begriff des institutionellen oder organisationalen Feldes. Für Fligstein bewegen sich ökonomische Akteure in institutionellen Feldern mit zu bestimmten Zeiten vorherrschenden Regeln und Definitionen (Fligstein 1990, 2001b, 2005). Er identifiziert fünf verschiedene, jeweils für eine Phase von zwanzig bis dreißig Jahren vorherrschende Unternehmensstrategien, in denen – systemtheoretisch formuliert – jeweils die Ausrichtung auf einen bestimmten Umweltsektor des Unternehmens dominiert: auf Konkurrenten; auf Zuliefer- und Vertriebsketten; auf Konsumenten; auf Erwerben und Abstoßen von Unternehmensteilen; und auf Eigentümer. Eine zentrale Stellschraube hierfür ist das Kartellrecht, das festlegt, wer mit wem kooperieren und fusionieren darf und wer nicht, und welche Zuschnitte von Unternehmen sowie welche Wachstumsstrategien folglich möglich sind und welche nicht. Das Feld selbst, an dem Unternehmen sich orientieren und in dem sich die jeweiligen Strategien durch Diffusion und Imitation verbreiten, kann je nach Phase ganz verschieden zugeschnitten sein: Es kann sich um Märkte für bestimmte, einzelne Produkte handeln, oder um breitere Branchen, oder auch um die Gruppe der großen Unternehmen – insbesondere der großen Aktiengesellschaften – insgesamt, unabhängig von den Produkten und Märkten, in denen sie aktiv sind. Da das Verhalten von Unternehmen für Fligstein vorrangig durch ihr institutionelles Umfeld geleitet ist, treten die unmittelbaren Macht-, Eigentums- und „Kontroll“ verhältnisse in den zweiten Rang zurück: Wer konkret ein Unternehmens besitzt oder in seinem Aufsichtsrat sitzt, ist gar nicht so wichtig, weil sich ohnehin alle Akteure an den geltenden institutionellen Regeln und Definitionen orientieren (Fligstein/Brantley 1992; Fligstein 1995). Dieses Zurückschrauben der Bedeutung von Akteuren und Interessen gilt aber nur für die erste Runde der Analyse. Fragt man Fligstein nämlich, woher denn die einander ablösenden Institutionen und Felddefinitionen kommen, so antwortet er
und v erschiedene Marktinstitutionen? Wie erklärt sich die Trägheit national oder regional etablierter Traditionen, obwohl doch den Ökonomen zufolge die effizienteste Struktur sich überall durchsetzen müsste? (Dobbin 1994) – Beide Argumentationslinien können als Angriff auf Effizienzannahmen gelesen werden und darin liegt die prekäre Einheit des Neoinstitutionalismus: Man kann entweder die Annahme eines „one best way“, der einzig effizienten Lösung in Zweifel ziehen und statt dessen auf die real existierende Vielfalt von Formen verweisen; oder man kann argumentieren, dass unter Effizienzgesichtspunkten bei verschiedenen lokalen Bedingungen gerade verschiedene Lösungen gewählt werden müssten und die real beobachtbare Konvergenz der Formen dem zuwiderläuft (vgl. Convert/ Heilbron 2007: 42).
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wiederum mit dem Verweis auf Akteure, die die geschaffen hätten, und zwar zu ihrem Nutzen und gemäß ihren Interessen. Hier spielen feldinterne Kämpfe eine Rolle, insbesondere zwischen großen und kleinen, führenden und nachrangigen Spielern; ebenso Machtkämpfe innerhalb von Unternehmen, etwa um die Frage, ob Manager mit Finanz- oder mit Branchenkenntnissen die Oberhand haben; und eben Regulierungs- und Deregulierungsentscheidungen staatlicher Akteure. In jedem Fall will Fligstein gerade weg von funktionalistischen oder evolutionären Theorien von Märkten, denen gemäß sich einfach die strukturell überlegene oder evolutionär fortgeschrittenste Form durchsetzt (Chandler 1977), und will die Abfolge von Strukturformen vielmehr als Ergebnis von Durchsetzungskämpfen, von kontingenten Machtfragen und Machtlagen begreifen. Fligsteins Theorie ist damit ein theoretischer Zwitter: Die zentrale Stellung von Akteuren und Interessen wird bezweifelt, nur um ein Theoriegeschoss weiter unten wieder eingeführt zu werden. Fligstein führt deshalb gegen einen theoretischen Zwei-FrontenKrieg, auf der einen Seite gegen zu simple Akteurs- und Machttheorien, auf der anderen Seite gegen zu radikale Institutionalismen50 – was, typisch für solche Kriege, die Chance auf einen doppelten Sieg mit sich bringt, aber auch die Gefahr des Zerriebenwerdens. Eine ähnliche Ambivalenz, wie sie bei Fligstein auf der Ebene der Grundlagentheorie ausgetragen wird, findet sich bei Dobbin in der Nennung und relativen Gewichtung von Wirkfaktoren. Er erklärt die Herausbildung bestimmter Marktkonstellationen – etwa im amerikanischen Eisenbahnmarkt an der Schwelle zum 20. Jahrhundert und im zunehmend weltweiten „shareholder value“ Regime an der Schwelle zum 21. – typischerweise aus einem Mix von Faktoren. Zu diesen gehören einerseits „weiche“, typisch neoinstitutionalistische Mechanismen wie Imitation, Diffusion und Fassadendekoration, andererseits aber – und für Dobbin an letztlich entscheidender Stelle – die „harten“ Mechanismen der Macht und Interessenpolitik. Dass etwa frühe Eisenbahnunternehmen keinen aggressiven
50Mitunter
macht Fligstein harte Front gegen Akteurstheoretiker und wirft ihnen vor, sie hätten keinen Sinn für Institutionen und würden allzu leicht der Oberfläche konkreter Akteurskonstellationen – der Eigentümerstruktur konkreter Unternehmen, der Verflechtungsstruktur ihrer Aufsichtsräte – auf den Leim gehen, auf die es gar nicht so sehr ankomme (Fligstein 1995, 2001b: 123 ff.). Mitunter wendet er sich aber ebenso entschieden gegen die radikaleren Institutionalisten in der Organisationstheorie und wirft ihnen vor, ihnen fehle der Sinn für Handlung, Akteure und Macht: „Institutional theory in the organizational literature is concerned with the construction of rules, but it lacks a theory of politics and agency.“ (Fligstein 1996: 657).
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„Raubtierkapitalismus“ mit Preiskriegen und tödlicher Konkurrenz praktiziert haben, sondern einen vergleichsweise freundlichen Umgang mit allenfalls einvernehmlichen Fusionen, gehe auf die Interessen einer mächtigen Gruppe von Akteuren, nämlich der Banken und sonstigen Aktionäre zurück. Diese hätten oftmals Anteile an vielen verschiedenen Eisenbahngesellschaften gehalten, sie hätten deshalb von allzu aggressiver Konkurrenz mit Zugrundekonkurrieren der Schwächeren nur zu verlieren gehabt, und hätten ihre Präferenzen qua Drohung mit Kapitalabzug durchgesetzt. „[F]inanciers used their clout to impose their preferred model, which called for amicable mergers when conditions encouraged ruinous competition.“ To be sure, rhetoric and imitation helped to diffuse the finance model. As Meyer and Rowan (1977) might have predicted, industry leaders […] enumerated the benefits of the financier strategy and the dangers of predation. Imitation was at the heart of the process, as minor firms followed industry leaders […]. But […] inter-industry power, in the form of an explicit threat, appears to have been the deciding factor in the struggle between two new business models. (Dobbin/Dowd 2000: 632, 652).
Ähnliches stellt die Gruppe um Dobbin zur Durchsetzung der „shareholder value“Doktrin und des dazugehörigen Unternehmensmodells (Fokussierung, Dediversifizierung, Konzentration auf „Kernkompetenz“) fest. Auch hier werden Mechanismen wie Imitation, Fassadendarstellung und zeremonielle Normbefolgung erwähnt; beispielsweise hätten manche Unternehmen Managementposten ohne faktische Funktion eingerichtet, als reines Signal nach außen oder bloßes „Amulett“ für glückliches Bestehen.51 Die entscheidende Rolle wird aber wieder der Macht dreier Akteursgruppen zugewiesen: nämlich wiederum der Eigentümer, jetzt in Gestalt institutioneller Investoren, sowie weiter der Übernahmefirmen und der Analysten
51Es
geht um die Position des „Chief Financial Officer“ (CFO), als eines auf zweitoberster Ebene angesiedelten und für Finanzfragen zuständigen Managers. Diese Position signalisiert, dass der oberste Manager, der CEO, selbst kein Finanzexperte, sondern ein Branchenexperte ist und als solcher für die Fokussierung des Unternehmens und die Konzentration auf seine „Kernkompetenz“ einsteht. Die umgekehrte Konstellation, die in der Phase davor populär war, ist die, dass der CEO selbst ein Finanzexperte ist, der einen stark diversifizierten, über Finanzkennziffern gesteuerten Mischkonzern führt, und durch einen „Chief Operating Officer“ (COO) als obersten Kopf der Branchenexpertise ergänzt wird. Durch die Kombination CEO + COO oder CEO + CFO konnten damit Unternehmen Investoren ihre Strategie signalisieren, und entsprechende Posten wurden teils auch dann eingerichtet, wenn es wenig faktische Notwendigkeit dafür gab.
3.6 Die Überdehnung von Interessen
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(Zorn et al. 2005). Investoren hätten ein Interesse an fokussierten und mutmaßlich profitableren Unternehmen gehabt; Übernahmefirmen hätten das Geschäftsmodell verfolgt, Mischkonzerne aufzukaufen, aufzuspalten und die Einzelteile mit Gewinn wieder zu verkaufen; und Analysten hätten fokussierte Unternehmen leichter zu bewerten gefunden, weil sie sich dann nur auf eine Branche konzentrieren konnten. So wenig es Sinn machen würde zu bestreiten, dass jene Gruppen jene Interessen hatten, so sehr zeichnet sich hier doch die Gefahr ab, dass Interessen leerlaufend und tautologisch attribuiert werden – ähnlich, wie wenn in der Wissenschaftssoziologie Wissenschaftlern ein Interesse an der theoretischen und experimentellen Entwicklung ihres Forschungsfeldes zugeschrieben wird. Sicherlich konnten etwa die auf der „shareholder value“-Welle reitenden Übernahmefirmen satte Profite machen. Aber woher kommen Übernahmefirmen und ihre Interessen? Das sind ja nicht urzeitliche Akteure, die immer schon in den Startlöchern stehen und darauf warten, ihre Interessen anzubringen. Vielmehr entstehen Übernahmefirmen mit einer strukturellen Innovation, dem Markt für Unternehmensübernahmen, und es müssten also mindestens ebenso sehr die strukturellen Bedingungen dieses Marktes geklärt werden (etwa als Steigerung der Kommensurierungsfähigkeit) wie die Interessen der Akteure, die er konstituiert. – Sicherlich bevorzugen Investoren diejenigen Unternehmen, die dem aktuellen Trend entsprechen und hohe Profite und steigende Aktienkurse versprechen. Aber welche das sind, ist ja wiederum hochgradig unterbestimmt und nur begrenzt in „harten“ Interessen begründet. Ob Unternehmen mit typischen „shareholder value“-Strategien wirklich höhere Profite machen als andere, ist umstritten (Davis/Diekmann/Tinsley 1994; Fligstein/Shin 2007); und überdies können hier zirkuläre, selbstverstärkende Kausalitäten greifen, sodass höhere Profite und/oder schnelleres Wachstum in selbstreferenzieller Weise durch den Status als „Liebling der Kapitalmärkte“ und den dadurch ausgelösten Kapitalzufluss erzeugt werden (Soros 1988, 2003). – Schließlich können Analysten zwar auf „schwer zu bewertende“ Mischkonzerne mit Bewertungsabschlägen reagieren, etwa um die größere Unsicherheit der Bewertung auszudrücken (Davis/ Diekmann/Tinsley 1994; Zuckerman 2000); sie können aber ebenso gut, wenn Mischkonzerne gerade angesagt sind – wie es in den 1960ern der Fall war –, allein auf das Merkmal „Mischkonzern“ mit einem Aufschlag, einer besonders positiven Bewertung reagieren (Soros 1988: 86 ff.). Einem Akteur, der handelt, wie er handelt, kann man dann immer ein Interesse an seinem Handeln zuschreiben, ohne dass damit viel erklärt ist. „The problem with interests is that they can always be inferred, so you can never lose by arguing self-interest“ (Jasper/Abolafia/Dobbin 2005: 480). Dasselbe gilt auch
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3 Macht und andere Politismen
für die Fähigkeit von Akteursgruppen, ihre Interessen durchzusetzen. Da es ja immer auch anderen Gruppen mit anderen Interessen gibt, die sich aber nicht durchsetzen, führt der schiere Verweis auf die Interessen bestimmter Gruppe nur begrenzt weit. Man geht dann davon aus, dass diejenigen Akteure, die sich mit ihren Interessen letztlich durchsetzen, mehr Macht oder sonstiges Durchsetzungsgeschick gehabt haben; denn sie haben sich ja durchgesetzt. Da die Machtmengen der Beteiligten nicht unabhängig von ihrem Durchsetzungserfolg gemessen und verglichen werden können, kann man damit nie falsch liegen.52 Natürlich wird in institutionalistischen Analysen auch der historische Ursprung solcher Akteure und ihrer Machtpotenziale untersucht, allerdings nur in historisch-deskriptiver, nicht in theoretisch-konstitutionslogischer Absicht. So wird etwa die Geschichte von Übernahmemarkt und Übernahmefirmen nachgezeichnet, indem die frühen akademischen Formulierungen der dazugehörigen Theorie oder die entsprechenden regulatorischen Änderungen neoliberal denkender Regierungen identifiziert werden (Hirsch 1986; Davis/Stout 1992; Davis 2005; Zorn et al. 2005). Ebenso wird der Aufstieg der institutionellen Investoren zurückverfolgt auf den Wandel des Bankgeschäfts, den Siegeszug von Verbriefungen, das Wachstum der privaten Vermögen und die zunehmende Privatisierung der Altersvorsorge, all dies wiederum flankiert durch staatliche Deregulierungsentscheidungen, etwa zur Liberalisierung des Bankgeschäfts und der nationalen und globalen Kapitalmärkte, die wiederum auf den Druck von Lobbygruppen, Wirtschaftsverbänden und sonstigen Predigern des Neoliberalismus reagieren (Davis 2009a, 2009b). Es gibt mithin eine große Tiefe von historischen Informationen, aber es fehlt eine theoretische Tiefendimension. Akteure werden nur historisch, nicht aber konstitutionslogisch zurückverfolgt und relativiert. Die Analyse folgt dem Diktum von Marx, die Menschen machten ihre Geschichte selbst, aber nicht unter selbstgewählten Umständen (Jasper/ Abolafia/Dobbin 2005: 484). Am Ende der Analyse warten mehr Akteure und mehr Interessen. Damit ausgeschlossen sind radikalere Theorieoptionen, etwa eine radikale Akteurs- und Rationalitätsskepsis im Stil von John W. Meyer, die eher von einem (religioiden) Modell des Glaubens als von einem ein (politistischen) Modell der Interessenverfolgung ausgeht. Meyer entwickelt diese Perspektive vorrangig an
52Das
Problem ist formal analog zu dem Problem von Rational-Choice-Theorien, die alles, was ein Akteur tut, eben darum für rational und nutzenmaximierend erklären (Stichweh 1995; Green/Shapiro 1999).
3.6 Die Überdehnung von Interessen
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Staaten.53 Würde man sie konsequent auf Wirtschaftsakteure wie Unternehmen, speziell börsengehandelte Unternehmen, anwenden, könnte man diese ebenso als Entitäten beschreiben, die gläubig und hingebungsvoll Skripts inszenieren und Rituale abhalten. In der Literatur wird zwar, wie angesprochen, durchaus die mehr symbolische als reale Verneigung vor den Aktionären herausgestellt, etwa mittels öffentlichkeitswirksamer, aber oberflächlich bleibender Einrichtung bestimmter Managementposten und „shareholder“-orientierter Anreizstrukturen für Manager; mittels angekündigter, aber nicht implementierter Aktienrückkäufe; oder mittels Berufung von prominenten und gut vernetzten, aber für die Leistungsbilanz irrelevanten Aufsichtsräten (Westphal/Zajac 1994, 1998, 2001; Zajac/Westphal 2004b; Davis 2005; Davis/Robbins 2005; Zorn et al. 2005). Aber all dies sprengt aber letztlich nicht das Modell zweckrationalen, interesseorientierten Handelns und betont nur den Aspekt des Legitimitätsgewinns gegenüber relevanten und für handfeste Zwecke (Kapitalzufluss) benötigten Umweltsektoren. Überdies stammen die radikalsten Stimmen in dieser Richtung nicht aus der Wirtschaftssoziologie, sondern aus der Organisationssoziologie,54 wo dann etwa auch von „radikaler Entkopplung“ gesprochen wird, also inverser Kopplung zwischen der fassadenmäßigen Huldigung an Aktionärsinteressen und der faktischen Einrichtung entsprechender Unternehmensstrukturen (Fiss/Zajac 2006). Es fehlt an Texten, die die Religionsanalogie konsequent durchziehen und etwa die Form des börsengehandelten Unternehmens überhaupt als eine „heilige“, hoch angesehene, aber entsagungsvolle Daseinsform beschreiben, die denjenigen, die sie praktizieren, hohe Opfer abverlangt. Aktiengesellschaften wären dann fromme Anhänger eines Kultes, der Börsengang wäre ein Opfer, eine Unterwerfung unter einen willkürlich strafenden, aber auch mit paradiesischem Glanz lockenden Gott.55 53In
der politischen Soziologie liegen die Provokationschancen möglicherweise umgekehrt wie in der Wirtschaftssoziologie. Da in der Politik die Macht und Gestaltungskraft von Akteuren die offen herausgestellte, von allen offiziellen Selbstbeschreibern betonte Funktionsweise des Systems sind, kann der Soziologe provozieren mit Analysen, die den Akteur auflösen und seine Akteursqualitäten weganalysieren. 54Gemeint ist das Autorenpaar James Westphal und Edward Zajac, die sich in einer einschlägigen Debatte selbst als Organisationssoziologen bezeichnen und die Subsumierung unter Wirtschaftssoziologie zurückweisen (Zajac/Westphal 2004a). 55In der organisationssoziologischen Literatur findet sich für den Börsengang eines jungen Unternehmens (Netscape) die These, es habe sich hierbei mehr um einen Werbegag als um eine relevante Kapitaleinwerbungsmaßnahme gehandelt (Kühl 2003: 73 ff.). Die These, es handle sich um ein Opfer und eine Unterwerfungsgeste, findet sich meines Wissens noch nicht. – Gerade große Unternehmen scheinen Zonen mit hohem eigenem Religions- und Sinngebungsbedarf zu sein, wie man aus den Heilslehren des Managementdiskurses mit ihren stark esoterisch angehauchten Elementen und ausgeprägten Tiefe- und Ganzheitlichkeitsbedürfnissen schließen kann.
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3 Macht und andere Politismen
Dass es bei all dem auch um viel Geld und finanzielle Gewinnmöglichkeiten geht, wäre dann nur der Glanz, das Gold am goldenen Kalb dieses Kults, aber es wäre nicht der Kern der Sache; im Kern stünde vielmehr ein opferbereites und kostenindifferentes Verhältnis zur Sache. Nicht umsonst haben vor hundert Jahren viele Unternehmen diese Form gescheut, haben lieber mit kleineren Kapitalstöcken oder längeren Zeitfristen zum Ansammeln von Kapital gearbeitet, als ihre Autonomie an diese Kultgemeinde zu verlieren (Ho 2009: 178 f.). Auf diese Weise wäre eine radikal inkongruente Perspektive zu gewinnen, die sicherlich nicht nur Provokations-, sondern auch Erkenntniswert hätte. Es scheint eine tief verwurzelte Affinität zwischen akteurstheoretischem Denken und politistischem Denken zu geben (Kieserling 2004: 187 ff.), oder auch zwischen akteurstheoretischem Denken und einer linken politischen Einstellung (Collins 1992). Woher kommt diese Affinität? Man kann das von beiden Seiten dieser Wahlverwandtschaft aus zu verstehen suchen. Von einem politistischen Weltbild aus ist es naheliegend, die Unterscheidung Akteur/Struktur oder Akteur/ System nach dem Muster von Selbstbestimmung/Fremdbestimmung oder Freiheit/Oktroy zu lesen – und dann ist die Option für die Seite des Akteurs und der Selbstbestimmung praktisch unausweichlich (Kieserling 2004: 187 f.). „The question of agency and structure is not an explanatory question but an ideological one. It is an argument to show that human beings control their own destinies; it is a defence of free will“ (Collins 1992: 77).56 In umgekehrter Richtung gilt aber Ähnliches. Wenn man mit akteurstheoretischen Prämissen anfängt, den Akteur als Letztinstanz sozialer Prozesse sieht und keine davon unabhängige Strukturebene sui generis zulässt, dann wird eben die Frage, was geschieht, zu einer Frage der Durchsetzung mächtiger oder geschickter Akteure gegen weniger mächtige und geschickte. Macht wird zu einer Grundkategorie des Sozialen schlechthin. Das ist schön an einer Stelle bei Fligstein zu beobachten, wo er sein Institutionsverständnis expliziert:
56Damit
wird dann auch die Idee der Demokratie grundbegrifflich relevant, „ein Teil der Handlungstheorie selbst, und zwar derjenige Teil, der erklären soll, wie das wahrhaft selbstbestimmte, das unentfremdet autonome Handeln innerhalb der Gesellschaft überhaupt möglich ist“ (Kieserling 2004: 188). Man kann dann etwa die „Demokratisierung der Differenzierungsfrage“ fordern (Joas 1990) und damit unterstellen, dass die allerbasalste Struktur der Gesellschaft mit den Mitteln eines Teilsystems zur Disposition gestellt werden könnte.
3.7 Die Überhöhung von Demokratie
177
Institutions are rules and shared meanings […] that define social relationships, help define who occupies what position […], and guide interaction by giving actors cognitive frames or sets of meanings to interpret the behavior of others. […] Why do actors want to produce stable patterns of interaction? My position is that the process of institution building takes place in the context of powerful actors attempting to produce rules of interaction to stabilize their situation vis-a-vis other powerful and less powerful actors. […] Institution building moments […] are inherently political and concern struggles over scarce resources by groups with differing amounts of power (Fligstein 2001a: 108).
3.7 Die Überhöhung von Demokratie Schließlich ist zu beobachten, dass jedenfalls in der Wissenschaftssoziologie nicht nur den Kategorien Macht und Interesse bemerkenswert viel zugetraut wird, sondern auch der Kategorie der Demokratie. Dabei geht es hier weniger um deren Erklärungspotenzial als um die Hoffnungen, die in sie gesetzt werden.57 Die Debatten über die Politisierung der Wissenschaft und die Verwissenschaftlichung der Politik lassen deutliche Neigungen zur Idealisierung oder Romantisierung von Demokratie, Partizipation und Deliberation erkennen. In bester aufklärerischer Tradition geht man davon aus, dass mehr Teilhabe der Bürger und mehr öffentliche Deliberation eine bessere Gesellschaft, im besten Fall ein Durchbrechen oder Aufweichen von Herrschaftsverhältnissen möglich machen würde: „civic participation […] is viewed as an opportunity for challenging a hidden amalgamation of science, power and vested interests“ (Braun/ Schultz 2010: 405). Hochgesteckte Rationalitätshoffnungen, die mit Blick auf die Logik der Forschung aufgegeben wurden, werden mit Blick auf Demokratie und Deliberation reaktiviert. Man hat den Eindruck, dass hier zwar nicht Erklärungslasten, wohl aber Rationalitätserwartungen von der Wissenschaft auf die Politik
57Die
Wirtschaftssoziologie zeigt keine solche Überschätzung von Demokratie, oder sie hat sie hinter sich. Wie oben bei der Debatte zur Unternehmenskontrolle notiert (Abschn. 3.3), gab es in der Frühzeit dieser Debatte, vor der Entstehung der Neuen Wirtschaftssoziologie, eine Neigung, in breit gestreutem Aktienbesitz eine Tendenz zur „Demokratisierung“ des Kapitalismus und zur Entwicklung eines „Volkskapitalismus“ zu sehen. Solche Hoffnungen haben indes nicht lange gehalten und haben der Suche nach dem weiterhin wirksamen, aber versteckten Ort der Kontrolle von Unternehmen Platz gemacht, sowie dem Hinweis auf problematische und krisenträchtige Inklusionstendenzen der globalen Finanzmärkte. Ein naives Verhältnis zur Denkwelt von Demokratie kann man Wirtschaftssoziologen also nicht vorwerfen.
178
3 Macht und andere Politismen
verschoben werden. „STS studies have often encouraged the idea that deliberation will lead to policy decisions that are both better and more widely accepted in society […] reflecting the classic enlightenment notion that, if only we could think things through openly, properly and thoroughly, then a rational solution will be found“ (Horst/Irwin 2010: 109). Und auch hier gilt – um noch einmal auf die Metapher von Knorr Cetina zurückzugreifen –, dass diese Hoffnungen nur so lange tragen, wie man keinen allzu scharfen Blick auf die „Kuh“ Demokratie wirft. Dieser Kuh kommt in weiten Teilen der Wissenschafts- und Techniksoziologie der Status einer heiligen Kuh zu. Im Feld herrscht eine linke, herrschaftskritische Grundstimmung, für die das Hochhalten von Demokratie zur politischen Korrektheit gehört. Skeptische Stimmen, die eine „nüchternere, realistischere Betrachtung der Stärken, Schwächen und Ambivalenzen von Partizipation“ fordern (Braun/Schultz 2010: 405), besetzen eher die Position des ungeliebten Mahners und Warners und werden schnell als reaktionär und illiberal verdächtigt (Durant 2011). Die Skeptiker wiederum fühlen sich durch den Stand der Debatte in der politischen Soziologie und politischen Theorie gedeckt und monieren ein Ausbleiben von deren Rezeption in der Wissenschafts- und Technikforschung. „[T]here has been a remarkable absence of theoretical and political controversy on its value [= the value of participation] […] [although] in political science, concepts such as participatory democracy or deliberative democracy have been subject to strong criticism“ (Braun/Schultz 2010: 405). Die Probleme und Grenzen von Demokratie, wie sie unter Demokratietheoretikern gut bekannt seien, würden im Feld nicht ernst genommen. „Wenngleich in der Literatur zu partizipativer TA [Technikfolgenabschätzung] immer wieder auf demokratiepolitische Prinzipien rekurriert wird, so lässt doch deren demokratietheoretische Fundierung bislang noch viele Wünsche offen“ (Bora/Abels 2004: 22). In dieser Literatur wird die Beteiligung möglichst vieler Menschen an Debatten und Entscheidungen über umstrittene Technologien gefordert. Allgemeine Partizipation steigere die Qualität und Akzeptabilität von Entscheidungen; je mehr Menschen mitreden können, desto besser. Das seit Lippman (1922) bekannte Argument, dass demokratische Entscheidungsfindung ihre Grenzen finde an der Informationsverarbeitungskapazität des Einzelnen, an dem Umstand, dass die meisten Bürger zwangsläufig über die meisten Fragen uninformiert und überdies anfällig für Irrationalitäten, Stereotypen und Panikmache seien, gilt in der Wissenschaftssoziologie nicht viel. Denn solche Zweifel entsprechen ja dem, was als reaktionäres, illiberales „Defizitmodell“ des Verhältnisses von Wissenschaft und Öffentlichkeit bezeichnet und von der einschlägigen Literatur gerade bekämpft wird (Hilgartner 1990; Wynne 1992b, 1995; Bucchi 1996; Bucchi/Neresini 2008). Es sei ein Fehler, ein prinzipielles Gefälle an Wissen und U rteilsfähigkeit
3.7 Die Überhöhung von Demokratie
179
zwischen Experten und allgemeiner Öffentlichkeit zu unterstellen, sodass die Wissenschaft die Quelle des Wissens sei, das höchstens langsam auf die breite Masse von wissenschaftlichen Analphabeten herabtröpfle. Vielmehr müsse man sich die Öffentlichkeit – oder jedenfalls relevante Teilöffentlichkeiten – als hochgradig informiert und urteilsfähig, und überhaupt den Bürger und wissenschaftlichen Laien als auf seine Art höchst intelligent vorstellen. Manchmal habe der Normalbürger sogar reflektiertere und gesündere Urteile als die zuständigen Experten, die durch ihren Scheuklappenblick beschränkt und überdies ja selbst in fast allen Fragen Laien seien. Und wenn die faktische Beteiligung an derartigen Debatten bisher vergleichsweise niedrig ist, dann liege das nicht an prinzipiellen Schranken des Möglichen, sondern daran, dass der politische Wille und geeignete institutionelle Strukturen fehlten (Wynne 1991; Irwin 1995; Wynne 1996; Callon 1999a; Fischer 1999, 2000; Irwin/Michael 2003). Neben dem Problem der Informationsverarbeitungskapazität wird in der demokratietheoretischen Literatur noch eine weitere Grenze von Demokratie diskutiert. Auch bei völliger formaler Gleichheit seien die faktischen Mitsprachemöglichkeiten und Aussichten auf Gehörtwerden in einer Demokratie niemals gleich verteilt. Vielmehr hätten die gebildeteren, eloquenteren, selbstbewussteren Gruppen zwangsläufig einen Vorteil gegenüber den weniger gebildeten, sprachloseren, ohnehin benachteiligten Gruppen, weil sie besser zur Artikulation ihrer Belange und zur rationalen Argumentation in der Lage seien. Deshalb operiere das Prinzip der Demokratie und Deliberation paradoxerweise selbst undemokratisch: „Some citizens are better than others at articulating their arguments in rational, reasonable terms. […] In this way, […] deliberation […] paradoxically works undemocratically, discrediting on seemingly democratic grounds the views of those who are less likely to present their arguments“. (Sanders 1997: 348 f.). Die Wissenschafts- und Techniksoziologie hat zu diesem Argument kein Verhältnis gefunden. Sie ist tief verwurzelt in einer anti-elitistischen Grundhaltung, die sich gegen die Koalition der Mächtigen mit den Wissenden, der Inhaber politischer Autorität mit den Inhabern epistemischer Autorität richtet. Deliberation soll das Heilmittel dagegen sein. Dass Deliberation selbst auch elitistische Implikationen haben kann, passt von hier aus nicht ins Bild. Das Problem des ungleichen Stimmgewichts wird in der Wissenschafts- und Techniksoziologie routinemäßig entlang der Scheidelinie Experte/Laie gesehen. Es handelt sich so gesehen um ein Problem des Umgangs mit der epistemischen Autorität von Experten und kann durch Bewusstseins- und Strukturänderungen an diesem Punkt geheilt werden. Es handelt sich nicht um ein Strukturproblem von Demokratie als solcher, das auch nach der Lösung dieses Problems noch bestehen könnte.
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3 Macht und andere Politismen
Schließlich gilt es in der Demokratietheorie und politischen Soziologie mittlerweile als naiv sich vorzustellen, dass Konflikte sich durch Partizipation und Deliberation in vernünftigen Konsensen auflösen ließen. Verschiedene Gruppen mit verschiedener Geschichte und Identität haben irreduzibel verschiedene Auffassungen und Präferenzen, manche Konflikte seien deshalb entweder unlösbar oder nur durch Macht zu entscheiden. Alles andere sei eine übertrieben harmonistische Vorstellung des Politischen, die dessen unauflöslich antagonistische Dimension ausblende (Mouffe 2000, 2007), und eine übertrieben holistische Vorstellung von Öffentlichkeit, die die empirische Vielfalt von Teil- und Gegenöffentlichkeiten auf ein Korrelat eines imaginierten Vernunftuniversalismus zu reduzieren versuche (Fraser 1990). Für die Wissenschafts- und Techniksoziologie scheint dagegen der zwanglos erreichbare Konsens ein notwendiger Fluchtpunkt des Denkens zu sein. So ist etwa zu Wynnes Studien zu Atomkraft und ihren Folgen gesagt worden, sie würden ein romantisiertes Bild der lokalen „communitites“ von Betroffenen – etwa von nordenglischen Schafzüchtern – zeichnen, diese als ursprüngliche Einheit porträtieren und die auch dort vorhandenen Interessengegensätze vernachlässigen. „The danger […] is that […] of romanticizing the ‘lay local.’ […] [O]ne is often left with the impression that the ‘lay local’ is the site of a happy common and coherent consent […], a place devoid of internal conflicts“ (Michael 1998: 314 f.). Die Erwartung eines letztlich erreichbaren Konsenses gilt aber auch für die „große“ überlokale Öffentlichkeit, in der verschiedene Gruppen, Interessen, Perspektiven aufeinanderprallen. Man reagiert deshalb mit Überraschung und Enttäuschung, wenn es auch nach der Durchführung von Partizipationsverfahren noch fundamentalen Dissens gibt, wenn immer noch abweichende Meinungen bestehen, die von den Entscheidern dann übergangen werden – oder umgekehrt: wenn entschieden wird, ohne dass alle Meinungsverschiedenheiten durch Partizipation ausgeräumt sind. Die in der Politiktheorie bekannte Spannung zwischen Deliberation und Entscheidung, oder zwischen Legitimität und Effektivität, wird nicht in voller Härte akzeptiert (Bora/Abels 2004: 31 f.; Durant 2011). Es wird dann enttäuscht festgestellt, dass Partizipationsverfahren oft nur als demokratisches Feigenblatt verwendet werden, als billige Konsensmaschine mit dem Ziel des Beruhigens der Öffentlichkeit, des Vermeidens von Protesten und des Weg-Kooptierens oder Erschöpfens von Gegnern (Rayner 2003; Wynne 2006; Chilvers 2007; Horst/Irwin 2010). Man ist enttäuscht, wenn politische Institutionen auf der Ebene des talk ein innigeres Verhältnis zu Bürgerbeteiligung finden als auf der Ebene der tatsächlichen Entscheidungsprozesse (Irwin 2008), wenn Partizipation in der Praxis vor allem als „managerial discourse“ oder sogar als „crisis management discourse masquerading as a theory of democracy“ gehandhabt wird
3.7 Die Überhöhung von Demokratie
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(Rayner 2003: 169) und wenn trotz verbaler Verneigungen der politische Prozess noch nicht vollständig in Richtung auf einen „new social contract of dialogue, transparency and consultation“ umgebaut wurde (Irwin 2006: 302).58 In all dem drückt sich ein unerschütterliches Vertrauen in die Möglichkeiten und Reichweite von Demokratie aus. Wer soziologische Selbstverständlichkeiten ausspricht – wie dass Wissenschaft nicht vollständig demokratisierbar sei und dass Wissenschaft und Demokratie niemals deckungsgleich sein könnten –, wird „dämonisiert“ und sieht sich zu der Frage veranlasst, ob die Wissenschafts- und Techniksoziologie inzwischen zu einer politischen Bewegung geworden sei: „Has it become a political movement rather than an academic discipline?“ (Collins/ Evans 2003: 435, 436)59 Demokratie ist für die Wissenschaftssoziologie nicht nur eine spezifische – und imperfekte – Strukturform des politischen Systems, sondern ein Fluchtpunkt ihres eigenen Denkens. So, wie in ihren Augen keine Entscheidung über die problematischen Produkte der modernen Wissenschaft ohne
58Irwin
(2006) stößt sich in diesem Zusammenhang an der Doppelzüngigkeit, mit der in politischen Verlautbarungen einerseits den „Bürgern“ und der „Öffentlichkeit“ gehuldigt wird, andererseits aber auch die Notwendigkeit von „solider Wissenschaft“ und „Expertise“ als Basis für Entscheidungen betont wird. Politische Soziologen mögen hier einen ganz normalen Formelkompromiss sehen, ein Unterbringen von Appellen an verschiedene Zielgruppen im selben Papier, und einen Niederschlag des Auseinanderlaufens der Legitimitäts- und der Effektivitätsdimension. Irwin scheint es vor dem Hintergrund der Erwartung zu lesen, dass das Modell der Bürgerbeteiligung abzugsfrei implementiert werden sollte und die Asymmetrie im Verhältnis zwischen Experten und Laien – nach allem, was die „Science and Technology Studies“ dazu gesagt haben – sich aufgelöst haben müsste. 59Symptomatisch für die politische Ausrichtung des Feldes ist, dass der Ton der internen Auseinandersetzung – dem auch Collins und Evans sich mitunter anpassen – auf einen Wettstreit darüber hinausläuft, wer der radikalere Demokrat ist. So bietet Irwin sein Konzept des „situierten Wissens“ – d. h. verteilter Wissensproduktion mit gleichberechtigten Beiträgen von allen Seiten, Experten wie Laien – mit dem Argument an, dies sei die radikalere Variante im Vergleich zu der Auffassung, Laien seien nur als Bürger und politische Entscheider relevant: „[What are] the kinds of contribution ‘engaged citizens’ are (or should be) able to make within scientific governance processes: as political actors only or as legitimate sources of knowledge and understanding?“ (Irwin 2008: 594, Herv. hinzugefügt). Auf der anderen Seite präsentieren Collins und Evans ihre Sicht ebenfalls als radikaler, da sie die Normalbürger nicht nur in ihrer Rolle als Wissenssubjekte ernst nehme – wo sie zwangsläufig nur die zweite Geige spielten –, sondern in ihrer politischen Rolle, wo sie vollwertige Entscheidungssubjekte seien: Diese Auffassung „challenge[s] both the science itself and the motives, values, and assumptions that lie beneath it – the whole worldview“ (Evans/Collins 2008: 611).
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3 Macht und andere Politismen
volle Partizipation der Betroffenen legitimiert werden kann, so kann die Wissenschaftssoziologie selbst keine Abweichung von demokratischem Denken legitimieren. Sie wird zum soziologischen Populismus.60
3.8 Fazit Es bleibt die Frage, warum es gerade politische Kategorien sind, die so viel Plausibilität auf sich ziehen, wenn es doch zehn oder zwölf verschiedene Funktionssysteme gibt, die jeweils eine eigene und im Quergebrauch verfremdend wirkende Logik haben. Wenn man sich die Gesellschaft als aus einem Dutzend gleichrangiger Funktionssysteme bestehend vorstellt, ist das zunächst überhaupt nicht zwingend. Andererseits kann man bei näherem Hinsehen mit einer differenzierungstheoretischen Vergleichsoptik gerade auch die besondere Attraktivität der politischen Begriffswelt verständlich machen. Jedes Funktionssystem steht vor der Aufgabe, sich selbst zu beschreiben, seinen eigenen Sinn und seine eigenen Prozesse zu reflektieren und dafür Reflexionsbegriffe zu entwickeln. Jede Reflexionstheorie wird dabei „ihr“ System mit einer rosaroten Brille sehen, also in einem freundlicheren, positiveren, weniger kritischen Licht, als dies Beobachter von außen tun. Selbstbeschreibungen müssen in diesem Sinn affirmativ sein, sie können nicht den grundsätzlichen Sinn des Systems in Zweifel ziehen (Kieserling 2004). Weiter neigen viele Reflexionstheorien dazu, die Operationsweise „ihres“ Systems in Richtung auf eine übermenschliche oder außermenschliche, außerweltliche, universell-transzendente Rationalität zu überhöhen. Theologen reden von einem unerreichbaren Gott und unergründlichen Ratschlüssen; Rechtstheoretiker reden von Naturrecht oder Menschenrecht und haben Schwierigkeiten, auf überpositive Grundlagen des Rechts komplett zu verzichten; Erkenntnistheoretiker reden vom transzendentalen Subjekt und wenigstens asymptotisch anpeilbarer Objektivität; Wirtschaftswissenschaftler glauben an das magische Zusammenfügen der Präferenzen aller zu einem nur von unsichtbarer Hand erreichbaren Optimum. Die höchsten Symbole der Reflexionstheorie werden damit den Niederungen und Unwägbarkeiten der Menschenwelt entzogen und als eine außersoziale Perfektionslogik
60Diese
Formulierung stammt wiederum von Collins und Evans (2007: 1 f.): „[T]he scales upon which science is weighed sometimes tip to the point where ordinary people are said to have a more profound grasp of technology than do scientists. […] [We are heading towards] an age of technological populism.“
3.8 Fazit
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stilisiert. Genau das ist es, was die Soziologie – und insbesondere die jeweilige Spezialsoziologie – an den Reflexionstheorien ablehnt. Anstelle von solchen entsozialisierenden Idealisierungen will sie wieder das Menschliche und Irdische an der Sache herausstreichen, und anstelle von transzendenter Notwendigkeit wieder Kontingenz und Gestaltbarkeit. Damit sollen die entsprechenden Bereiche ins Reich des Sozialen zurückgeholt werden und soll die Zuständigkeit der Soziologen für ihre Beschreibung wiederhergestellt werden. Es fällt nun auf, dass die Reflexionstheorie der Politik genau diesen Zug nicht hat. Sie hat keine in Richtung auf Außerweltliches, Außermenschliches, Außergesellschaftliches stilisierten Symbole hervorgebracht. Politik wird nicht als universaler Sachzwang beschrieben, sondern gerade umgekehrt mit Betonung auf Offenheit, auf Entscheidungs- und Gestaltungscharakter, auch auf Unvollkommenheit und Vorläufigkeit. Politik ist immer etwas „Irdisches und Innerweltliches, etwas Mundanes und Humanes“.61 Das hängt wiederum mit der Funktion der Politik zusammen: Diese liegt im Treffen kollektiv bindender Entscheidungen, sodass hier das Moment der Entscheidbarkeit und Kontingenz nicht zu eliminieren ist. Deshalb üben die Reflexionsbegriffe der Politik eine solche Anziehungskraft auf Soziologen aus: Sie kommen durch ihre eigene Anlage der soziologischen Neigung zur Demontage anderer Reflexionstheorien und zur Re-Deskription anderer Funktionssysteme entgegen. Dafür müssen angeblich außermenschliche Sachzwänge aus dem Weg geräumt werden, denn „Sachzwanghaftigkeit [ist] für die meisten Soziologen mit der Vermutung des ‘Unsozialen’ und damit der soziologischen Unzuständigkeit verbunden“. Nur was nicht durch Sachzwang feststeht, kann sozial entschieden werden. Wenn man so denkt, kann man kein symmetrisches Verhältnis zu den Reflexionstheorien aller Teilsysteme herstellen, sondern wird die Begriffe der politischen Welt als natürliche Verbündete sehen. Beschreibungen in der Sprache der Politik haben in der wissenschaftsund wirtschaftssoziologischen Diskussion zwar kein völliges Monopol, aber Alternativen können nicht so recht hochkommen. Gelegentlich finden sich Anlehnungen an die Begriffswelten zweier anderer Funktionssysteme, der Religion einerseits und der Wirtschaft andererseits (letzteres naturgemäß nicht in der
61Dieses
und das nächste Zitat entnehme ich einer persönlichen Kommunikation von André Kieserling. Die gesamte Überlegung zum asymmetrischen Verhältnis der Reflexionstheorien zu den Spezialsoziologien entstammt einer nicht-publizierten Überlegung von Kieserling (Siehe aber zum Verhältnis von Soziologie und Reflexionstheorien Kieserling 2004).
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Wirtschaftssoziologie, sondern nur in der Wissenschaftssoziologie). So ist es in der konstruktivistischen Wissenschaftssoziologie ein geläufiger Topos, dass der moderne Mensch oder die moderne Gesellschaft an Wissenschaft glaubt wie die Azande an Magie, und dass es nicht rationaler ist, die Existenz von Bakterien und Atomen zu unterstellen als die von Hexen und Dämonen (Bloor 1976; Latour 1987; Fuller 1997). Abgesehen von dem grundsätzlichen Relativismus und Konstruktivismus, der damit zum Ausdruck gebracht wird, ist diese Schiene aber nicht weiter verfolgt worden; es sind keine konsequent „religioiden“ Ansätze in der Wissenschaftssoziologie entwickelt worden. Es wird zwar durchaus betont, dass Wissenschaftler als Individuen an ihre jeweiligen Theorien und Paradigmen glauben, dass sie sich gegen ihre Widerlegung wehren, sie so lange wie möglich vor Zweifel und Gegenevidenzen zu retten versuchen, und dass sie mithin auf der individuellen Ebene keineswegs dem Modell ubiquitärer Skepsis und Falsifikationsbereitschaft entsprechen, dass Popper als Merkmal des wissenschaftlichen Prozesses herausstellt (Barnes/Dolby, R. G. A. 1970; Zuckerman 1988). Aber das bleibt eben eine Aussage über die Disposition von Individuen, die nicht zu einem allgemeinen Strukturmodell von Wissenschaft ausgebaut wird. In der Wirtschaftssoziologie kommt am ehesten das Performativitätstheorem an Glaubensmodelle heran: Wirtschafts- oder finanzwissenschaftliche Theorien können sich selbst wahr machen – Modelle der Buch- und Bilanzführung in Unternehmen; Theorien der Kontrolle von Unternehmen durch Aktionäre; Optionspreistheorien; makroökonomische Theorien wie Keynesianismus oder Neoklassik –, indem Akteure in Märkten oder Unternehmen sie übernehmen und in der Praxis einsetzen, oder indem Staaten sie sich zu eigen machen und in Regulierung und Intervention umsetzen (Callon 1998b; MacKenzie/Millo 2003; MacKenzie 2005a, 2006). Allerdings sind Anklänge an das Religionsmodell im engeren Sinn hier nicht besonders stark. Bei MacKenzie ist die theoretische Grundlage eher das Thomas-Theorem, also die allgemeine Wissensbasiertheit sozialer Realität, die für alle sozialen Bereiche gleichermaßen gilt und keine besondere Nähe zu Religion hat – etwa zu Zeremonie, Ritual, Opferbereitschaft. Bei anderen scheint die letzte Bezugsgröße eher die Macht von Akteuren zu sein, die ihnen genehme Realitätsdeutungen durchsetzen je nach dem Einfluss, den sie mobilisieren können; Theorien sind dann eher Waffe im Durchsetzungskampf als genuine Glaubensartikel (Dobbin/Jung 2010, 2011). Nur Deutschmann versucht in seiner Variante des Performativitätstheorems das Religionsmodell oder Glaubensmodell fruchtbar zu machen, indem er Geld als einen Wert beschreibt, der auf dem allgemein institutionalisierten Glauben an ihn beruht (Deutschmann 2012). Eine stärker religioide Beschreibung von Unternehmen und sonstigen Marktakteuren könnte – wie diskutiert – der Stanforder Schule des Neoinstitutionalismus nachempfunden werden, in deren Augen die sogenannten Akteure nur
3.8 Fazit
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Quasi-Akteure sind, die gläubig und opferbereit die Rituale der modernen QuasiReligion aufführen und sich bereitwillig von den Priestern der Moderne – der „rationalisierten Anderen“ – predigen lassen (Meyer et al. 1997; Meyer/Jepperson 2000). Dieses Denkmodell hat aber eben in der Wirtschaftssoziologie nicht Fuß gefasst; neoinstitutionalistische Überlegungen werden dort nur so weit verfolgt, wie die Vorstellung von Unternehmen als prinzipiell zielorientierten, mehr oder weniger rationalen Akteuren nicht angekratzt wird. Weiter finden sich in der Wissenschaftssoziologie zeitweise Ansätze zu einer ökonomistischen Beschreibung von Wissenschaft. So beschreiben etwa Latour und Woolgar (1979) den Wissenschaftler mit Analogien aus dem Bereich der Wirtschaft: als jemanden, der Investitionen macht, Renditen erwartet und sein Engagement in bestimmten Forschungsfeldern mit Blick auf die maximale Ausbeute an Papers und Prestige kalkuliert. Diese Deutung nimmt Latour aber später ausdrücklich zurück, er bezeichnet den ökonomistischen Denkansatz als verfehlt, als „doomed from the start“ (Latour 1990: 60), und ersetzt ihn durch den diskutierten politistisch-antagonistischen Ansatz. Generell fällt an der jüngeren Wissens- und Wissenschaftssoziologie, im Vergleich zur älteren Wissenssoziologie Mannheims, eine Abwendung von ökonomischen und Hinwendung zu politischen Kategorien auf (Pels 1996). Mannheim (1928) verwendet in seiner Analyse der Konkurrenz im Geistesleben noch symmetrisch ökonomistische Begriffe wie Konkurrenz, Monopol, Konzentration, und politistische Begriffe wie Demokratie, Kampf, Wille, und er pflegt eine bewusste Äquidistanz zu beiden Begriffswelten.62 Das wird später eingezogen, und mit Autoren wie Knorr Cetina oder Latour führt die Entwicklung weg von einem gleichberechtigen Nebeneinander von „metaphors of a ‘politics’ and an ‘economics’ of knowledge“ und „toward a quasi-political or power model of science“ (Pels 1996: 42, 36). Derjenige Autor, der mit der Beschreibung von Wissenschaft in ökonomistischen Begriffen – wie Kapital, Akkumulation, Investition, Profit, Kredit – ernst macht, ist Bourdieu (1975, 1998b), mithin ein Autor, der nicht in der entsprechenden Spezialsoziologie verwurzelt ist und der von dort aus, eben wegen seines Ökonomismus, kritisch kommentiert wird (Knorr Cetina 1984: 130 ff.). Auch die Figur der „kognitiven Arbeitsteilung“, die sich ebenfalls einer Anlehnung an die Wirtschaftswelt verdankt, wird zwar bei Merton, Bourdieu und
62Mannheim
stellt explizit klar, dass er solche Begriffe im Sinn von allgemeinen Sozialformen versteht und damit nicht das Geistige sei es an die Sphäre der Ökonomie, sei es an die Sphäre der Politik angleichen will (ebd.: 332, 351).
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von Sozialepistemologen angesprochen, spielt aber im Feld der konstruktivistischen Wissenschaftssoziologie kaum eine Rolle (Solomon 2008: 244 ff.). Mit dieser Figur sollen die Karriereambitionen, Prestigeprätentionen und strategischen Winkelzüge individueller Wissenschaftler mit dem Fortschritt der Wissenschaft im Ganzen zusammengedacht werden: Dergleichen individuelle Motive seien nicht nur nicht schädlich, sondern sogar funktional, weil sie dafür sorgten, dass die Anstrengungen vieler Individuen sich sinnvoll auf mögliche Forschungsnischen verteilten und alle möglichen Theorienischen – auch riskante, aber im Erfolgsfall viel Reputationsertrag bringende Nischen – besetzt würden. Die konstruktivistische Wissenschaftssoziologie kann mit diesem Gedanken wenig anfangen, da sie ja anstelle der Neutralisierung von Karriereinteressen und sonstigen Interessen gerade umgekehrt deren kausale Bedeutung und epistemische Nicht-Neutralität betont. André Kieserling hat einmal gesagt, ein Erzeugungsprinzip für Beleidigungen in der modernen Gesellschaft bestehe darin, das Personal eines Funktionssystems mit Bezeichnungen aus einem anderen zu belegen – einem Politiker „lehrerhaftes Auftreten“ zu bescheinigen, einem Journalisten die Haltung eines „Predigers“ oder einem Arzt Qualitäten als „Verkaufsagent“ oder „Umsatzmaximierer“. Die Spezialsoziologien bedienen sich desselben Prinzips bei der Erzeugung verfremdender, soziologisierender Beschreibungen von Wissenschaft oder Wirtschaft – allerdings mit einem sehr asymmetrischen Zugriff auf die Verfremdungspotenziale anderer Funktionssysteme. Politik hat hier mit weitem Abstand die Nase vorn. Der Abstand ist so groß, dass er eine Erklärung erfordert. Der tiefere Grund für die Wahl dieser Begriffsstrategie scheint die unterschiedliche Stilisierung von Reflexionsbegriffen der Politik und Reflexionsbegriffen anderer Funktionssysteme zu sein. Ihr Problem ist die Überdehnung politischer Kategorien und die Unabgestimmtheit mit Einsichten der politischen Soziologie, die man sich damit einkauft. Die Alternative wäre eine Theorie, die sich mittels genuin soziologischer Begriffstiefe zu den Funktionssystemen und ihren Begriffswelten symmetrisch verhalten kann.
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Netzwerke und der Charme des Konkreten
4.1 Der Charme des Konkreten Der Begriff des Netzwerks zieht in den Sozialwissenschaften viel Interesse auf sich, und Theoriebildung wie empirische Forschung kristallisieren um ihn herum an (Watts 2004; Rivera/Soderstrom/Uzzi 2010). Die Anziehungskraft des Netzwerkbegriffs scheint in seinem seltenen Doppeltalent zu liegen: Er erlaubt die Formulierung von allgemeinen Theorien und gleichzeitig wunderbar konkret. Die Konkretion ist ja geradezu seine basale Botschaft. Diese lautet: Soziales spielt sich nicht in abstrakten, ätherischen Sphären ab, sondern in konkreten Beziehungen zwischen Menschen oder auch Organisationen. Obwohl die soziale Welt groß, komplex und unübersichtlich ist, materialisiert sie sich doch immer in greifbaren, nachverfolgbaren und oft genug persönlichen Beziehungen. Damit eignet sich der Netzwerkbegriff auch als Waffe im Kampf des Soziologen gegen die unrealistischen Abstraktionen von Epistemologen und Ökonomen (s. Kap. 1). Wenn man überidealisierte Konstrukte wie „universelle Wahrheit“ oder „Allokationseffizienz“ zurückweisen will und zeigen will, wie es in der Forschung oder auf Märkten wirklich zugeht, bieten sich Netzwerke als paradigmatische „wirkliche“ Realität an. Wahrheit ist dann keineswegs eine universelle Kraft, die sich nach Gießkannenprinzip überallhin ergießt, vielmehr verbreiten sich Wahrheitsansprüche vorzugsweise entlang von vorgebahnten Schneisen: entlang dem Bekanntschaftsnetz von Forschern, entsprechend der Strahlkraft von reputierten oder weniger reputierten Zeitschriften oder auf Schnellstraßen hin zu lukrativen Anwendungsmöglichkeiten. Und Märkte bestehen keineswegs nur aus anonymen Angebot/Nachfrage-Strukturen, vielmehr trotten Marktteilnehmer bevorzugt auf ausgetretenen Pfaden, pflegen Beziehungen zu bestimmten Geschäftspartnern oder behalten bestimmte Konkurrenten besonders im Auge, und das Fehlen solcher
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 B. Kuchler, Die soziale Seite an Wirtschaft und Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23104-0_4
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Sonderbeziehungen wird eher als Anomie denn als Idealzustand des Marktes erlebt. Die Front zwischen Soziologie einerseits und Epistemologie und Ökonomik andererseits verläuft hier also entlang der Schiene abstrakt/konkret. Entgegen dem überabstrahierten, blutleeren und menschenleeren Ansatz der jeweiligen Fachdisziplin deckt der Soziologe die menschliche, persönliche, greifbare, unmittelbar erlebbare Seite der Sache auf. Während bei der im vorigen Kapitel diskutierten Tendenz zu Politismen die Front entlang dem Rationalitätsverständnis verläuft – keine perfekte epistemische oder ökonomische Rationalität, sondern eine „wildere“, buntere, politischere Rationalität –, verläuft sie hier entlang der Unterscheidung von Abstraktheit und Konkretheit: Netzwerktheoretikern ist das, was die Fachdisziplinen sagen, weniger zu rational als zu abstrakt. Das Interesse richtet sich auf „real existierende Verknüpfungen“, „konkret beobachtbare Interaktionen“ und „konkrete Netze sozialer Beziehungen“ (White/Boorman/Breiger 1976: 731; Mizruchi 1994: 330). Manifeste netzwerktheoretischen Denkens proklamieren, alles Abstrakte sei ins Konkrete aufzulösen: In letzter Instanz gebe es nur Konkretes, alles scheinbar Abstrakte und Platonische könne auf konkrete, in Ort und Zeit lokalisierte Netzwerkarbeit zurückgeführt werden. „Everything that happens happens locally, at a certain place and time. All that exists exists empirically, and only until further notice. […] Transcendence and universality are innerworldly, temporary, and variable outcomes of expanding networks. […] They require the painstaking work of network“ (Fuchs 2001a: 337). Es ist eine Bewegung wie die der Aufklärer gegen den Aberglauben: Die Aufklärer, die Empiristen der wissenschaftlichen Revolution, glaubten nur, was sie mit eigenen Augen sahen. Netzwerktheoretiker glauben nur, was sie mit eigenen methodischen Instrumenten nachweisen können, nämlich Verknüpfungen zwischen Elementen. Wissenschaftssoziologen erheben, wer mit wem in welcher Weise zu tun hat: wie weit Kooperations- und Bekanntschaftsnetzwerke von Wissenschaftlern reichen, welche Texte durch welche anderen zitiert werden, welche Zeitschriften in welcher Verweisdichte miteinander verkoppelt sind und in welchen Koalitionen Forscher und Praktiker, Wissenschaftler und Regulierungsbehörden miteinander zu tun bekommen. Wirtschaftssoziologen erheben, welche Unternehmen miteinander Geschäfte machen oder Aufsichtsratsmitglieder miteinander teilen, welche Börsenhändler einander Papiere abkaufen und in welchen Kollegialitätsnetzwerken die Mitarbeiter von Unternehmen miteinander kommunizieren. Alles, was nicht auf der Ebene von konkret bestehenden Verknüpfungen nachgewiesen werden kann, gilt bestenfalls als ideologische Überhöhung und schlimmstenfalls als Schimäre, Phantasma und Mystizismus.
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So überzeugend das klingt, so sehr kann man auf der anderen Seite – genauso überzeugend – an altbekannte soziologische Gedanken erinnern, die das Gegenteil besagen: die nämlich die Selbstabstraktionsfähigkeit sozialer Realität betonen. Soziale Realität ist ihrer eigenen Natur nach nicht nur konkret. Es gibt Abstraktes in der Realität. Dafür steht bei Marx der Begriff der Realabstraktion, dort bezogen auf abstrakte Arbeit und abstrakten Wert, worauf alle menschliche Tätigkeit reduziert werde, sodass ihr konkreter Inhalt nur noch subjektives Accessoire und Lokalkolorit ist, bedeutungslos gegenüber dem gesellschaftlich einzig relevanten Wertkern. Tauschwert ist ein Strukturprinzip, das per definitionem niemals konkret-empirisch aufgefunden werden kann und doch das „das Allerwirklichste“ ist (Adorno 1972: 209), was die Gesellschaft zu bieten hat.1 Dasselbe gilt aber auch für ureigene soziologische Begriffe wie Konsens oder Status. Konsens ist in fast allen Fällen etwas, was in gewissem Maß unterstellt und in vereinfachender Abkürzung in Anspruch genommen wird, was gerade nicht konkret überprüft und mit tatsächlichen Meinungen tatsächlicher Leute abgeglichen wird. Man kann dann etwa sagen: „Die Fakultät hat einen Konsens über xy“, auch wenn keineswegs alle Fakultätsmitglieder einverstanden sind, sondern nur gerade niemand die Energie oder den Mut hat zu widersprechen (Luhmann 1972: 69 f.). Und Status ist etwas, was gerade nicht rückstandslos in wirklich vorhandene Kompetenz oder wirklich erbrachte Leistung aufgelöst werden kann und was auch nicht sauber auf rollenspezifische, leistungsbezogene Situationen beschränkt werden kann. Vielmehr wird Status in der Sachdimension pauschal und überziehend und in der Sozialdimension streuend in Rechnung gestellt, sodass dem Professor dann auch in Sachen politischer Meinung mehr Gehör geschenkt wird als dem Bauarbeiter und auch auf die Ehegattin des Professors ein Teil seines Statusglanzes abfällt. In diesem Sinn enthalten viele Arrangements sozialer Ordnung ein Moment von Abstraktion, von Übergeneralisierung und Überziehen des faktisch Vorhandenen. Ordnungsbildung in einer komplexen Welt würde permanent an sich selbst scheitern, wenn sie nicht auf solche abkürzenden und vereinfachenden Verfahren zugreifen könnte. Realitätsebenen jenseits des unmittelbar Greifbaren und Nachweisbaren sind deshalb nicht nur Fiktion, Ideologie und Mystizismus,
1Marx
mokiert sich über die Vorstellung, dem Wert durch Sezieren der Waren irgendwann auf die Spur kommen zu können: „Bisher hat noch kein Chemiker Tauschwert in Perle oder Diamant entdeckt. Die ökonomischen Entdecker dieser chemischen Substanz, die besondren Anspruch auf kritische Tiefe machen, finden aber, daß der […] Wert [der Sachen] ihnen als Sachen zukommt.“ (Marx 1867: 98).
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die vom Soziologen schnellstmöglich auf die „wirkliche“ Ebene des „wirklichen“ Geschehens zurückgeführt werden müssen. Vielmehr geht es gerade darum, die Wirklichkeit der Abstraktion zu verstehen. Natürlich kann und muss man diese immer auch auf ihren „handfesten“, krisenresistenten, für Rückfalloptionen zur Verfügung stehenden Unterbau hin abklopfen, aber das ist immer nur die eine Hälfte der Geschichte; die andere Hälfte besteht in der Anerkennung der Realitättrotz-Abstraktion, oder Realität in der Abstraktion. Man darf also nicht vorschnell der Faszination des Konkreten und Faktischen erliegen und mit einem gewissermaßen konkretistischen Bias an die Welt herangehen. Man ist sonst in Gefahr, die aufklärerische Bewegung hin zum Wirklichen und Nachweisbaren zu überziehen, über das hinaus, was für den Gegenstandsbereich angemessen ist – so wie wenn die Empiristen der Frühmoderne nicht an die Schwerkraft, sondern nur an fallende Äpfel geglaubt hätten. Der strukturellen Netzwerkanalyse wird von kritischen oder selbstkritischen Beobachten oft ein formalistischer Bias attestiert: die Neigung, sich zu sehr auf die formale Seite der Sache, die formalen Eigenschaften von Verknüpfungen zu kaprizieren – Ketten und Zentralitätsmaße, Cluster und Cliquen, strukturelle Äquivalenzen und strukturelle Löcher – und ihre Sinngehalte zu vernachlässigen (White 1992; Emirbayer/Goodwin 1994; Powell/Smith-Doerr 1994; Holzer 2006a). Arthur Stinchcombe beispielsweise wettert unverhohlen gegen die Sterilität dieser Methode und Amputation aller wesentlichen Inhalte: [U]sing a method that starts with a dichotomy of present or absent as a descriptor of a link […] condemns us to sterility of structural theory and irrelevance of the data. Network data and analysis have not destroyed anthropology […] because even network anthropologists still want to know a lot about the substance of, say, a kinship link: does it mean the people so joined live together? inherit from each other? pay one another’s bride-price? join one another’s feuds? (Stinchcombe 1990: 381).
Der hier zu diskutierende konkretistische Bias ist damit verwandt, aber nicht identisch. Netzwerktheoretiker sind Empiristen. Nun ist soziale Realität zwar empirische Realität, aber doch eine komplexe, hintergründige, „voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken“ steckende Realität (Marx 1867: 85). Das wird von Netzwerktheoretikern leicht übersehen oder leichterhand weginterpretiert. Netzwerktheoretiker beginnen als Aufklärer, aber sie produzieren ihre eigenen blinden Flecken, die eben dort liegen, wo soziale Realität den Charakter des Faktenhaften sprengt. Und auch wenn die Kritik der formalistisch-methodischen Verkürzung nur auf bestimmte Varianten von Netzwerktheorie zutrifft – nämlich auf die strukturelle Netzwerkanalyse, nicht aber auf die Akteur-Netzwerk-Theorie –, so trifft die demgegenüber leicht verschobene Kritik
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der konkretistischen Verkürzung auch diese letztere, „weichere“ Variante des Netzwerkdenkens. Im Folgenden werden zunächst einige wichtige Stränge netzwerktheoretischen Denkens in Wissenschaftssoziologie und Wirtschaftssoziologie kurz skizziert (Abschn. 4.2). Dann stelle ich eine unvollständige Sammlung von Aspekten an, in denen soziale Realität kein Faktum ist, sondern sich selbst transzendierende Realität – etwa in ihren Generalisierungsleistungen, in ihren Negativaspekten und ihren Latenzbereichen (Abschn. 4.3). Das weitere Kapitel soll dann zeigen, dass Netzwerktheorien gerade an diesen Stellen oft blinde Flecken haben (Abschn. 4.4–4.7) Dabei drehe ich in diesem Kapitel oft die gewohnte Reihenfolge der Spezialsoziologen um und gehe zuerst auf die Diskussionslage in der Wirtschaftssoziologie und dann auf die in der Wissenschaftssoziologie ein, weil die in der Wissenschaftssoziologie prominente Variante des Netzwerkansatzes, die Akteur-Netzwerk-Theorie, die eigenwilligere und weniger „typische“ Variante ist.
4.2 Die strukturelle Intuition des Netzwerkdenkens Netzwerktheorien in Wirtschafts- und Wissenschaftssoziologie sind sehr ungleiche Schwestern, und ihre Protagonisten – etwa Burt und Granovetter auf der einen, Latour und Callon auf der anderen Seite – könnten vermutlich herzlich wenig miteinander anfangen. In der Wirtschaftssoziologie dominiert eine mathematisch-formale Netzwerkanalyse, die mit exakten Methoden, Graphen, Matrizen und quantitativen Daten arbeitet und auf dieser Grundlage Hypothesen formuliert und überprüft. In der Wissenschaftssoziologie ist die eher im Stil einer großen Erzählung – und als Zurückweisung aller großen Erzählungen – auftretende Akteur-Netzwerk-Theorie prominent, die keine formalisierte Methode kennt, nur Empfehlungen wie: nah an den Gegenstand herangehen, keine theoretischen Vorurteile pflegen, „den Akteuren folgen“ und die „heißen“, unverfestigten Phasen sozialer Ordnungsbildung untersuchen.2 Trotzdem sind beide
2Die
Zuordnung der strukturellen Netzwerkanalyse zur Wirtschaftssoziologie und der Akteur-Netzwerk-Theorie zur Wissenschaftssoziologie als je dominierende Theorierichtung vereinfacht stark, da sich die Linien natürlich auch kreuzen. Netzwerkanalyse als Methode ist ohnehin überall verbreitet, unabhängig von einer bestimmten Spezialsoziologie. Sie findet sich in der Wissenschaftssoziologie etwa in Form von Zitationsanalysen (z. B. Baldi 1998; Hargens 2000), oder als Analyse von Ko-Autorschaften oder persönlichen Netzwerken, dem „Sozialkapital“ von Forschern (Moody 2004; Klenk/ Gordon M. Hickey/MacLellan 2010). Die Akteur-Netzwerk-Theorie ist ansatzweise auch
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in ihrem Grundanliegen parallel gebaut und als Spielarten desselben Paradigmas erkennbar. Beide setzen die „strukturelle Intuition“ (Freeman 2004) des Netzwerkdenkens um, der gemäß an erster Stelle Strukturen, d. h. Verknüpfungen zwischen Elementen, zu betrachten sind – und nicht: Akteure und ihre Attribute, und auch nicht: Systeme und sonstige Holismen. Beide nehmen an, dass die Form solcher Verknüpfungen, und die Position von Teilnehmern im Netz der Verknüpfungen, den Erfolg oder Misserfolg von Projekten, die Genese und Diffusion von Innovationen erklärt. Und beide interessieren sich speziell für Stellen, wo Verknüpfung nicht selbstverständlich und das Gelingen einer Verknüpfung eine besondere Leistung ist: Die strukturelle Netzwerkanalyse interessiert sich für „strukturelle Löcher“ und „Maklerpositionen“, die Akteur-Netzwerk-Theorie für „Übersetzungen“ und unwahrscheinliche, heterogene Koalitionsbildungen. Das Netzwerkparadigma basiert auf der symmetrischen Ablehnung von Akteurstheorien einerseits und Systemtheorien andererseits (White 1992: 9; Mizruchi 1994). Das Akteursparadigma überschätzt so gesehen die Bedeutung von Attributen auf Elementebene – beispielsweise Rationalität, Intelligenz, Effizienz – und vernachlässigt den Umstand, dass Akteure immer nur eingebunden in Relationen existierten. Ein Sklave ist kein Sklave ohne die Relation zum Herrn, und deshalb ist das Entscheidende am Slavesein nicht das Attribut einer Person, sondern eine Relation (Wendt 1987: 346). In diesem Sinn wird in der Wissenschaftssoziologie etwa gesagt, man müsse von „great man“-Erklärungen wissenschaftlichen Fortschritts auf strukturelle Beschreibungen umschalten: Eine durchschlagende Innovation wie die Entdeckung der Bazillen und die Erfindung des Prinzips der Impfung sei nicht auf die individuelle Genialität eines Louis Pasteur zurückzuführen, sondern auf erfolgreiche Verknüpfungsprozesse, in denen unterschiedliche Orte – etwa Labors und Bauernhöfe – und unterschiedliche Interessen – etwa von Forschern, Tierärzten, Bauern – aufeinander bezogen und ineinander übersetzbar gemacht wurden (Latour 1988; Schaffer 1991). In der Wirtschaftssoziologie wird gesagt, der Erfolg von Individuen und Unternehmen auf Märkten – seien es Arbeitsmärkte, Produktmärkte oder Kapitalmärkte – habe weniger mit ihren intrinsischen Qualitäten, etwa ihrer effizienteren oder
in die Wirtschaftssoziologie, speziell die Finanzsoziologie hinüberdiffundiert (Bockman/ Eyal 2002; Du Gay/Millo/Tuck 2012) und hat Ableger wie die Theorie des „agencement“ geboren (Preda 2006; Hardie/MacKenzie 2007), teils auf dem Weg über den Grenzgänger Callon, der in beiden Feldern aktiv war. In der Wirtschaftssoziologie gibt es überdies mit Harrison White eine weitere, sehr eigenwillige Variante von Netzwerktheorie, die sich keinem üblichen Schema einordnen lässt.
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weniger effizienten Organisation zu tun als mit ihrer besseren oder schlechteren Vernetzung mit anderen Marktteilnehmern. Durch Verfechter des Netzwerkparadigmas wird deshalb auch ein „anti-kategorischer Imperativ“ ausgerufen (Emirbayer/Goodwin 1994: 1414), der es verbietet, mit kategorialen Attributen zu arbeiten, und gebietet, alles in Relationen aufzulösen. Wenn der Sklave aber nicht aufgrund individueller Attribute ein Sklave ist, so ist er es ebenso wenig aufgrund einer abstrakten Kraft oder Entität namens „Sklaverei“. Das Netzwerkparadigma richtet sich deshalb ebenso sehr gegen Systemtheorien, gegen „Holismen“ und „Essenzialismen“ jeder Art (Fuchs 2001a, 2001b). Abgelehnt werden alle Pauschal- und Großbegriffe wie „Kapitalismus“, „Imperialismus“, „Staat“, „Markt“, „Kultur“ (Latour 1990: 38, 55 f.), und damit natürlich auch der Gesellschaftsbegriff (Latour 2005: 4 f.). Begriffe dieser Art erklärten nicht mehr als der Verweis auf individuelle Genialität oder überdurchschnittliche Effizienz – sie seien allenfalls tautologische Reformulierungen des Problems und verdunkelten die Frage nach den wirklichen Bedingungen sozialen Geschehens. Es gibt kein „großes Ganzes“, das irgendetwas erklärt, keine Systeme und funktionalen Notwendigkeiten, und auch keine Klassen und historischen Entwicklungsgesetze. Wenn jemand so redet, dann ist es ein Teilnehmer, der mit diesen rhetorischen Mitteln Gefolgsleute an sich ziehen will, seine Position verbessern will, Gegenspieler ausstechen will. Systeme und Funktionen existieren nicht, sie sind nur Legitimationsrhetorik sozialer Akteure. Und Klassen, soweit es sie gibt, bestehen nicht in irgendeiner wabernden Gemeinsamkeit – weder Durkheim’scher noch Marx’scher Machart: weder gemeinsamen Normen noch gemeinsamen Interessen –, sondern allenfalls in empirisch aufweisbaren Verknüpfungsmustern zwischen konkreten Personen (Mizruchi 1990). Zwischen dem Akteurs- und dem Systemparadigma wird dann das strukturelle Paradigma oder relationistische Paradigma ausgerufen (Emirbayer/Goodwin 1994; Mizruchi 1994). Dieses kann ontologisch unterschiedlich radikal verstanden werden: Radikale Varianten lösen den Akteur ganz in seine Vernetzungen auf, in seinen Charakter als Knotenpunkt, und sehen eher den Akteur durch das Netzwerk konstituiert als umgekehrt (etwa Burt 1992; White 1992). Moderatere Varianten, wie sie auch in stärker empirisch orientierten Netzwerkforschungen verbreitet sind, lassen den Akteur als solchen intakt und verstehen Verknüpfungen eher als Ressource von Akteuren. Soweit ein ontologischer Primat des Netzwerks über den Akteur behauptet wird, muss dann die eigene, irreduzible Kausalität von Netzwerkpositionen nachgewiesen und gezeigt werden, dass differenzielle Netzwerkpositionen nicht etwa wiederum ein Effekt von Attributen auf Elementebene sind, indem etwa klügere, initiativstärkere, stärker unternehmerisch veranlagte
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Personen größere Kontaktnetze haben oder erfolgreichere, profitablere Unternehmen prominentere Aufsichtsräte haben, die dann mit größerer Wahrscheinlichkeit auch anderswo noch Aufsichtsratsposten haben (Burt 1992: 34 ff., 181 ff.; Davis/Robbins 2005; Burt 2012). Als Mittelposition wird auch eine symmetrische „Schaukel-Ontologie“ vorgeschlagen (Callon 1998b: 10), in der beide Seiten – Akteure und Relationen – gleich primordial sind und sich gegenseitig konstituieren. Es gilt dann: „actors make relations but relations make actors“ (Padgett/ Powell 2012: 492). Netzwerke als Informationskanäle auf Märkten Wenn das Netzwerkdenken beschrieben werden kann als „a paradigm for the study of how resources, goods, and even positions flow through particular figurations of social ties“ (Emirbayer 1997: 297), stellt sich als nächstes die Frage: Was fließt? In diesem Punkt gehen die in der Wirtschaftssoziologie und in der Wissenschaftssoziologie prominenten Varianten in verschiedene Richtungen. In der Wirtschaftssoziologie spielt die strukturelle Netzwerkanalyse in der Tradition von Mark Granovetter und Ronald Burt eine prägende Rolle, die Verknüpfungen als Kanal für die Übertragung von Informationen sieht. Von der Position eines Akteurs im Netzwerk, genauer von Grad und Typik seiner Vernetzung, hängen seine Informationschancen ab – und „Typik“ heißt dann insbesondere die jeweilige Mischung aus engen und lockeren, redundanten und nicht-redundanten Verknüpfungen. In der Fokussierung auf Information als prozessiertes „Gut“ liegt eine tragende Theorieentscheidung, die dafür, wie fundamental sie ist, vergleichsweise selten reflektiert wird.3 Dieser Zugang wird dann gegen das neoklassische Verständnis von Informationsprozessierung auf Märkten in Stellung gebracht (Burt 2007). Neoklassische Ökonomen gehen davon aus, dass Information allen Marktteilnehmern gleichmäßig und unproblematisch zur Verfügung steht, dass Märkte „transparent“ sind und Marktteilnehmer prinzipiell über alle relevanten Informationen verfügen. Im Gegensatz dazu arbeitet die Netzwerkanalyse mit dem Axiom, dass Information immer in gewissem Maß privat, lokal oder jedenfalls ein Sondergut ist. Der Markt stellt eben nicht alle relevanten Informationen
3Burt
(2002) notiert fast erstaunt, dass Netzwerkbeziehungen von manchen Autoren nicht als Kanal für Information, sondern als Ersatz für Information gesehen würden, nämlich als Zugang zu Kontaktpartnern qua Verfügbarkeit oder qua Prominenz. Dies als „Ersatz für Information“ zu bezeichnen, bringt natürlich schon eine charakteristische Perspektivzentrierung zum Ausdruck, der gemäß Information das „Eigentliche“ ist.
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bereit – Informationen über neue Chancen und zu beachtende Risiken, über Strategien von Konkurrenten, Vertrauenswürdigkeit von Geschäftspartnern, relevante technologische Innovationen, verfügbare Finanzierungstechniken usw. –, vielmehr fließen gehaltvolle, verlässliche und schnelle Informationen vorzugsweise über mehr oder weniger private Kanäle oder „Beziehungen“, die wahlweise auf persönlichen Kontaktnetzen beruhen können, auf langjährig gewachsenem Vertrauen zu Geschäftspartnern oder auf überlappenden Aufsichtsräten zwischen Unternehmen (Granovetter 1973; Burt 1982; Uzzi 1996, 1999; Ingram/Roberts 2000; Uzzi/Lancaster 2003, 2004; Mizruchi/Stearns/Marquis 2006). Gut informiert zu sein ist der Schlüssel zum Erfolg, und gut vernetzt zu sein der Schlüssel zum Informiertsein. Als zentrales Theoriestück fungiert im Weiteren die Unterscheidung von engen und lockeren Verknüpfungen, oder auch redundanten und non-redundanten Verknüpfungen. Der Gedanke stammt aus Granovetters früher Studie zur Jobsuche, die zum Befund der besonderen Vorteilhaftigkeit von lockeren Verknüpfungen geführt hat (strength of weak ties; Granovetter 1973, 1974). Viele lockere Kontakte sind für die Informationsbeschaffung nützlicher als wenige enge, weil sie im sozialen Raum weiter reichen und deshalb mehr neue Informationen zutage fördern, während enge Kontakte meist redundant sind, d. h. immer wieder in dieselben Cluster zurücklaufen und deshalb auch nur redundante Informationen vermitteln. Das daraus abgeleitete Theorem, prägend für ein ganzes Forschungsprogramm, lautet: „Nonredundant ties bring unique information, whereas cohesive ties bring redundant information.“ (Ingram/Roberts 2000: 396 f.). Diese Einsicht ist von Burt zu einer kompletten Sozialtheorie ausgebaut worden, der Theorie struktureller Löcher (Burt 1992, 2007). Eine optimale Netzwerkposition ist Burt zufolge eine, die möglichst viele und möglichst weit gestreute, im Idealfall anderweitig unverbundene Elemente oder Cluster von Elementen miteinander verbindet, die mithin möglichst viele strukturelle Löcher überspannt. Wer an solchen Stellen sitzt, hat eine privilegierte Stellung im Informationsfluss inne: Er erhält vielfältigere und schnellere Informationen als andere, er kann damit Andere gegeneinander auszuspielen oder als „Informationsmakler“ tätig werden, d. h. für Andere nützliche Informationen weiterleiten und dabei gewissermaßen Kommissionen einheimsen, den Lohn für seine Vermittlungsdienste einstreichen, etwa in Form von Prestige oder Reziprozitätsverpflichtungen. Man kann auch sagen: Wer an einem oder mehreren strukturellen Löchern sitzt, der hat besonders viel Sozialkapital und kann als „Netzwerkunternehmer“ Gewinne einfahren (Burt 1992, 1997; Portes 1998; Lin 2001; Burt 2002).
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Die beiden Unterscheidungen enge/lockere und redundante/non-redundante Verknüpfungen werden dabei eng aneinander geführt. Sie sind nicht deckungsgleich, sondern zunächst zwei unabhängige Unterscheidungen, die kreuztabelliert werden können (Burt 1992: 29). Die Variable eng/locker bezeichnet den Charakter der einzelnen Verknüpfung, die Variable redundant/non-redundant ihre Lage im Netzwerk, entweder in einem Cluster von dichten Vernetzungen oder außerhalb solcher Cluster. Aber die Annahme ist, dass sie in der Realität über wichtige Strecken parallel liegen: dass enge Verknüpfungen tendenziell auch redundant sind und lockere tendenziell non-redundant (Granovetter 1973: 1362) – oder umgekehrt: dass redundante Verknüpfungen tendenziell eng sind und non-redundante tendenziell locker (Burt 1992: 25 ff.). In dieser Umkehrung, die auf den ersten Blick trivial wirkt, liegt ein entscheidender methodischer Fortschritt. Granovetter, der mit der Unterscheidung eng/locker beginnt, muss dafür zunächst jede einzelne Verknüpfung qualifizieren – mit Blick auf miteinander verbrachte Zeit, emotionale Intensität usw. –, um dann der Vermutung nachzugehen, dass enge Verknüpfungen tendenziell redundant sind und zu redundanten Informationen führen. Burt dreht das um und spart damit den Schritt der Charakterisierung der Einzelverknüpfung ein. Er braucht nur noch zu erheben, zwischen welchen Elementen überhaupt Verknüpfungen bestehen und zwischen welchen nicht, und schließt dann aus dem Muster von redundanten und non-redundanten Verknüpfungen auf ihren Charakter als eng und intensiv, oder als locker und unverbindlich. Neben strukturellen Löchern sind strukturelle Äquivalenzen ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt für die Analyse von Märkten und Marktpositionen. Hier werden Elemente nicht auf ihre Verknüpfung miteinander, sondern auf ihre Verknüpfung mit Dritten hin untersucht (White/Boorman/Breiger 1976). Strukturell äquivalente Positionen sind solche, die Zugang zu denselben Regionen eines Netzwerks vermitteln, egal ob sie miteinander verknüpft sind oder nicht. Kombiniert man die Unterscheidungen Redundanz/Non-Redundanz und Äquivalenz/Non-Äquivalenz, kommt man zu einem weiteren wichtigen Teiltheorem, dem Theorem der strukturellen Autonomie (Burt 1980, 1982: 265 ff.; Ingram/ Roberts 2000). Angewandt auf die Stellung eines Unternehmens im Marktgeschehen besagt das Theorem, dass diejenige Position die meisten Vorteile mit sich bringt, die eine redundante, möglichst vollständige Verknüpfung zu gleichartigen oder äquivalenten Akteuren – d. h. anderen Anbietern derselben Branche – aufweist, während die relevanten nicht-äquivalenten Akteure – Zulieferer und Abnehmer – im Idealfall untereinander nicht oder schlecht vernetzt sind, sich also nicht miteinander absprechen können. Damit kann netzwerktheoretisch eine Oligopolposition oder auch Kartellposition mit den damit verbundenen Vorteilen abgebildet werden: Unternehmen einer Branche können sich untereinander
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v erständigen und damit Extraprofite einstreichen, sie können ihre weniger gut vernetzte Umwelt der angrenzenden Märkte ausbeuten.4 Die Branche sitzt dann gewissermaßen kollektiv an der Stelle eines strukturellen Loch; man kann Kunden und Zulieferer jeweils gegeneinander ausspielen, kann von ersteren hohe Preise verlangen und gegenüber zweiteren die Preise drücken, und kann gleichzeitig durch Absprache untereinander verhindern, gegen andere Anbieter derselben Branche ausgespielt zu werden. Ein weiterer Strang wirtschaftssoziologischer Netzwerktheorie ist der von Harrison White. Auch hier geht es letztlich um die Lösung von Informationsproblemen, wenn auch in einem etwas anderen Sinn. Whites Frage ist: Wie kann überhaupt ein Markt als Schnittstelle von Produzenten und Konsumenten zustande kommen, wenn die Produzenten sich zeitlich vor dem Verkaufspunkt auf eine bestimmte Positionierung, nämlich eine Kombination von Produktionsmenge und Produktqualität festlegen müssen, den Konsumenten dabei aber keine hinreichende Information über ihre Kaufbereitschaft entnehmen können? Die Konsumenten bleiben letztlich eine „black box“, da man zwar weiß, wie viel sie zu der gegebenen Qualität und dem gegebenen Preis kaufen, aber nicht, wie sie auf Änderungen in Qualität, Preis oder Menge reagieren würden.5 White Antwort ist: In dieser Lage orientieren sich die Produzenten vorrangig aneinander. Sie positionieren sich weniger relativ zu den Konsumenten als relativ zueinander, indem sie sich in einem überschaubaren Raum von Marktpositionen anordnen,
4Ingram
und Roberts (2000) bestreiten, dass es sich bei den von ihnen untersuchten Kontaktnetzen zwischen Hotelbesitzern am selben Ort um ein Kartell handelt, aber mit recht schwachen Argumenten. Ihr Einspruch gegen die Qualifizierung als „Kartell“ scheint hauptsächlich auf ihre Sympathie für die untersuchten Hoteliers und ihre Probleme zurückzugehen, nicht auf einen sachlichen Unterschied zwischen einer Kartellstruktur und dem beobachteten Austausch von Informationen über Auslastung, Gästeanfragen und unverhandelbare Preisgrenzen, womit Hotelgäste am Herunterhandeln von Preisen in unterausgelasteten Hotels gehindert werden sollen. 5Die Theorie ist primär für Konsumgütermärkte mit verstreuten und nicht artikulationsfähigen Käufern geschrieben – deshalb der Charakter der Konsumenten als „black box“. Sie ist, soweit ich sehe, nur eingeschränkt übertragbar auf Märkte weiter vorne in der Wertschöpfungskette („upstream“), wo oftmals die Abnehmer selbst große Unternehmen und sehr artikulationsfähig sind, und wo Produktion oft auf Vertragsbasis erfolgt und nicht auf gut Glück in einen unbekannten Markt hinein, also das Problem der zeitlich früheren Positionierung der Produzenten angesichts einer unbekannten Zukunft nicht oder nicht in derselben Form auftritt. In einem späteren Text arbeitet White seine Theorie auch für lange Upstream-Downstream-Ketten aus, ohne sich aber ganz vom Paradigma des Massenkonsumgütermarktes zu lösen (White 2002: 6 ff., 177 ff.).
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das er „Marktprofil“ nennt („market schedule“ oder „market profile“). Jeder Produzent besetzt durch die von ihm gewählte Kombination von Menge und Preis eine bestimmte Nische und einen bestimmten Punkt in einer Rang- oder Statusordnung. Jeder Produzent kann die Position aller Produzenten im Marktprofil beobachten, und er kann zusätzlich an sich selbst – aber nicht an anderen – die Produktqualität und die dahinterstehende Kostenstruktur beobachten (wie ändern sich die Kosten, wenn die Menge steigt/sinkt, bzw. wenn die Qualität steigt/ sinkt?). Die Wertschätzungsstruktur der Konsumenten bleibt dagegen immer unbeobachtbar und ihre Reaktion auf Änderungen im Markt unvorhersehbar; man kann also nicht wissen, ob, wenn eine gegebene Menge Geld in die Steigerung der Produktqualität oder die Steigerung der Produktionsmenge gesteckt wird, die Konsumenten dies im selben Maß, in einem höheren oder in einem geringeren Maß honorieren werden. In dieser Situation begrenzter Beobachtbarkeit wirkt das Marktprofil selbstreproduzierend oder selbststabilisierend; es lädt die Produzenten dazu ein, immer wieder dieselbe Nische zu besetzen, weil diese aller Erwartbarkeit nach die höchsten Profite für sie abwirft. Auch Whites Markttheorie ist dezidiert gegen die Neoklassik gesetzt (White 1993, 2002: 12 f.). Während diese von homogenen Gütern und einer im Prinzip unendlich großen Zahl von Anbietern auf einem Markt ausgeht, betont White – ähnlich wie die Theorie monopolistischer Konkurrenz – gerade die Differenzierung von Produkten und Positionen und die Überschaubarkeit der Gruppe oder „Clique“ von Anbietern. Es gebe typischerweise nur wenige, nur eine „Handvoll“ Produzenten in einem Markt, die einander wechselseitig im Blick hätten; und es sei gerade diese statusmäßige Unterscheidung, die Rangordnung von statushöheren und statusniedrigeren Produzenten, die Ordnung und Orientierung biete. Die Ordnung eines Marktes beruhe nicht auf Aggregaten und Durchschnitten, wie in der neoklassischen Rede von „dem Angebot“, „der Nachfrage“ und „dem Preis“, sondern auf Abständen und Verteilungen (White schreibt: „spreads“ und „distributions“). Insofern handelt es sich, wenn man so will, um eine sehr Bourdieu’sche Markttheorie, mit vielen Anklängen an Gedanken wie sozialer Raum, Positionen und Abstände im sozialen Raum – auch wenn White sich nicht explizit auf Bourdieu bezieht. Der Burt-Granovetter’sche und der White’s Strang von Netzwerktheorie sind nicht nur unabhängig voneinander entstanden, sondern auch in wichtigen Punkten gegensätzlich. Den wichtigsten Unterschied sehe ich darin, dass White den Markt als Lösung für das Problem sozialer Ordnungsbildung – das Hobbes-Problem – konzipiert, während bei Burt und Granovetter der Markt eher die Quelle dieses Problems zu sein scheint, nämlich die Quelle von Unsicherheits- und Erwartungsproblemen, dessen Lösung dann in Netzwerken liegt. White fragt: Wie
4.2 Die strukturelle Intuition des Netzwerkdenkens
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ist ein Markt möglich? („Where do markets come from?“). Burt und Granovetter fragen: Wie ist erfolgreiches Handeln auf Märkten möglich? (Vgl. dazu unten Abschn. 4.6) Das sind keineswegs dieselben Fragen, auch wenn man den Unterschied nicht unbedingt so scharf und unversöhnlich formulieren muss. Netzwerke als Koalitionen von Akteuren und Aktanten Auch die in der Wissenschaftssoziologie prominente Akteur-Netzwerk-Theorie geht davon aus, dass die Erfolgsbedingungen sozialen Handelns in Netzwerken liegen, aber sie beantwortet die Frage nach dem in Netzwerken zirkulierenden „Gut“ grundlegend anders. Netzwerkbeziehungen sind hier weniger Transmissionsriemen für Information als Stärkung oder Rückendeckung. Das Grundtheorem ist: Jede Position im sozialen Raum ist so stark, wie die Alliierten sind, die sie für sich mobilisieren kann. Jede wissenschaftliche Theorie ist so stark wie ihre Verknüpfung zu anderen Theorien, Methoden oder Anwendungsfeldern, die bereits im sozialen Raum etabliert sind und ihre Unterstützer haben, sodass die gesammelte Stärke dieser Positionen auch dem neuen Element zugute kommt. Damit ergibt sich die in gewisser Weise paradoxe Situation, dass gerade diejenige Strömung der Netzwerktheorie, die Wissenschaft als paradigmatisch kognitiv ausgerichtetes Feld beschreibt, nicht mit einem kognitivistischen, informationsbezogenen Verständnis von Netzwerk arbeitet, sondern – wie man mit dem Begriff aus dem vorigen Kapitel sagen kann – mit einem politistischen Verständnis. Die Akteur-Netzwerk-Theorie denkt in Kategorien von Macht und Beherrschung, Sieg und Niederlage, Durchsetzung und Untergang. Das kann als symptomatisch für die in den Spezialsoziologien betriebene „Sozialverschiebung“ gelesen werden:6 Man erklärt das Geschehen im betrachteten Feld aus „sozialen Faktoren“, d. h. aus Faktoren, die zunächst einmal außerhalb des unmittelbaren Sachkerns dieses Feldes stehen (vgl. oben Kap. 1). Das Schicksal von wissenschaftlichen Ideen und technologischen Innovationen wird nicht aus ihrem kognitiven Wert – ihrer Wahrheit oder Welterschließungskraft – erklärt, sondern aus dem mehr oder weniger erfolgreichen Zusammenbasteln von Koalitionen, von Unterstützungs- und Herrschaftsnetzwerken im innerwissenschaftlichen wie im transwissenschaftlichen Raum. So beschreibt Bruno Latour (1987) etwa das Verhältnis zwischen dem Autor und dem Leser wissenschaftlicher Texte: Der Autor versucht, seinen Text mit
6Den
Ausdruck „Sozialverschiebung“ bilde ich in lockerer Analogie zur Rotverschiebung in der Physik, bei der Licht aller Wellenlängen sich in Richtung auf das rote Ende des Farbspektrums verschiebt, wenn der Beobachter hohe Geschwindigkeiten erreicht.
200
4 Netzwerke und der Charme des Konkreten
einem möglichst dichten Netz von Verweisen auf andere Texte, Autoren, Methoden zu spicken, um diese als Zeugen für sich auftreten zu lassen oder als Verbündete für sich einzuspannen. Der Leser soll sich gegenüber dieser geballten Macht von Verknüpfungen isoliert finden und es schwer haben, die Behauptungen des Autors anzuzweifeln. Auf der anderen Seite gilt umgekehrt auch, dass, sobald eine Publikation den Schreibtisch oder Computer des Autors verlassen hat, dieser potenziell isoliert und wehrlos gegenüber den Lesern, die sich zusammentun können, um seine Aussagen zu zerpflücken, zu verdrehen oder mit vom Autor ungewollten Verknüpfungen zu versehen. Der Text wird in ein Netz von weiteren Verknüpfungen und Verweisungen eingespeist, das der Autor nicht mehr unter Kontrolle hat. Das Schlimmste dabei ist, gar nicht eingespeist, d. h. gar nicht rezipiert zu werden – dann ist der Text nichts, nichtig, wie immer wertvoll sein Inhalt ansonsten sein mag. Die Qualität von Netzwerkverknüpfungen als Informationskanal wird dabei gerade heruntergespielt. Die Zitation eines anderen Autors stärkt einen wissenschaftlichen Text auch dann, wenn über diesen Link faktisch gar keine Information geflossen ist – wenn beispielsweise jemand nur zu Dekorationszwecken zitiert wird, oder wenn jemand für etwas zitiert wird, was er gar nicht gesagt hat, oder gar für das Gegenteil dessen, was er sagt. Die Stärkung ist unabhängig vom Informationsfluss. Die erfolgreichsten Verknüpfungsnetze reichen weit über das Feld der Wissenschaft hinaus. Ideen und neu entdeckte „Fakten“ entfalten Wirkung in dem Maß, in dem es ihren Sprechern gelingt, sich mit interessierten Akteuren in möglichst weit gezogenen Netzen zu verknüpfen – etwa mit Praktikern, Geldgebern und Regulierungsbehörden, aber auch mit „Aktanten“ aus der physischen Welt, wie Muscheln, Mikroben oder Quarks, deren Kooperation in den Augen der AkteurNetzwerk-Theorie ebenfalls erforderlich ist. Die angeblich intrinsische Wahrheits- oder Faktenqualität einer wissenschaftlichen Aussage ist das Ergebnis dessen, das sie einen solchen Verknüpfungsprozess erfolgreich durchlaufen hat. Dabei ist ein Netz umso stärker, je heterogener die Akteure und Aktanten sind, die es umfasst. Deshalb sind Techniken wichtig, die gewissermaßen Identität und Differenz verbinden – die in der Lage sind, sowohl der Einheit des Netzes wie der Diversität der darin tätigen Akteure Rechnung zu tragen. Zentral sind deshalb die „Übersetzung“ von Interessen ineinander (Latour 1983; Callon 1986; Latour 1988), die Etablierung von „Grenzobjekten“, die für verschiedene Akteure Verschiedenes bedeuten und doch eine Objektidentität kristallisieren lassen (Star/ Griesemer 1989), sowie die Möglichkeit des unveränderten Weiterreichens und Weiterreisens von Sinnelementen von einer Netzwerkregion in die andere (immutable mobiles; Latour 1990). Optimal ist eine Netzwerkposition, mit der es einem Akteur gelingt, Andere für seine Interessen einzuspannen, ohne umgekehrt
4.3 Soziale Realität ist kein Faktum
201
im Übermaß für deren Interessen eingespannt zu werden. So mag es einem geschickten Akteur gelingen, sich als „verpflichtende Durchgangsstation“ zu etablieren, wo andere hindurch müssen, um ihre Probleme zu lösen – eine Position, die durchaus ähnlich ist der Position des Burt’schen Netzwerkunternehmers. In diesem Sinn wurde etwa im 19. Jahrhundert Pasteurs Labor zur verpflichtenden Durchgangsstation für alle, die Probleme mit ansteckenden Krankheiten lösen wollten (Latour 1988). In der Frage, welche Elemente der sozialen Welt mit welchen anderen Verknüpfungen eingehen, dürfen keine Vorannahmen gemacht werden. Die faktisch ablaufenden Verknüpfungsprozesse folgen nicht kategorialen Grenzziehungen, etwa zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, vielmehr durchqueren und durchkreuzen sie gerade solche mutmaßlichen Grenzen. Sie stellen immer wieder unerwartete Verbindungen und hybride Konstellationen her, sie lassen – etwa wenn es um risikobehaftete Technologien geht – laufend neue Koalitionen aus wissenschaftlichen, politischen, administrativen, medizinischen, wirtschaftlichen Spielern und Interessen entstehen. Die methodische Regel lautet deshalb, die Akteure als Führer zu betrachten und ihnen auf ihren windungsreichen Wegen durch die soziale Welt zu folgen, statt kategoriale Vorannahmen über die Einteilung der Welt zu machen (Latour 1987, 1988, 2005). Soziologisch-theoretische Aussagen über die Einteilung der Welt sind tabu: „The task of defining and ordering the social should be left to the actors themselves, not taken up by the a nalyst.“ (Latour 2005: 23). Auf diese Weise will die Akteur-Netzwerk-Theorie sich offenhalten für die unendliche Variabilität des Sozialen. Das Problem sozialer Ordnung wird methodisch wie ontologisch verflüssigt und in die Hände je konkreter Akteure gelegt, bzw. als Produkt der je von Moment zu Moment konkret geleisteten Netzwerkarbeit dechiffriert.
4.3 Soziale Realität ist kein Faktum Nach Durkheim ist soziale Realität als Faktum zu behandeln. Ohne dem in irgendeiner Weise zu widersprechen, sei im Folgenden eine unvollständige Liste mit Aspekten genannt, in denen soziale Realität kein unmittelbares Faktum ist – in denen sie vielmehr flüchtig, ungreifbar, schwebend, versteckt und hintergründig bleibt und deshalb dem faktenhaschenden Blick „entwisch[t] wie spirits der parapsychologischen Versuchsanordnung“ (Adorno 1972: 197). Das ist kein Widerspruch zu Durkheim, weil es in keiner Weise darum geht, Soziales auf Subjektives, Psychisches, nur Gedachtes zu reduzieren. Die Objektivität
202
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und „Härte“ sozialer Realität in Durkheims Sinn nicht bezweifelt, also ihr Vorhandensein außerhalb des einzelnen Handelnden und auf einer Emergenzebene sui generis. Aber es ist zu zeigen, dass genau diese objektive Realität Facetten hat, die sich dem Festklopfen auf die Form des Faktums und der Erfassung durch exakte empirische Methoden entziehen. Sie sind auf den Schutz des Ungefähren, Uneindeutigen oder Unausgesprochenen angewiesen. Würde man versuchen, solche Sinnmomente auf die Eindeutigkeit empirischer Erhebungsmethoden festzunageln – auf ein „Ja“ oder „Nein“, „Trifft zu“ oder „Trifft nicht zu“ – würde man ihre Natur gerade verfehlen. Sie sind deshalb aber nicht weniger real, sondern oft gerade darin zentral für die Konstitution sozialer Strukturen. 1. Sinn. – Soziale Realität konstituiert sich im Sinnmedium, mithin nicht in einem physikalisch exakten Medium, sondern in einem weichen, immateriellen, horizonthaften Medium, das sich an vielen Punkten der Fixierbarkeit und Faktenhaftigkeit entzieht. Zwar müssen alle sinnverarbeitenden Prozesse irgendwelche bestimmten Sinnmomente herausgreifen, aber sie operieren oft mit einem nicht zu genauen Fixieren, einem Offenlassen von Spielräumen und Deutungsmöglichkeiten. Man denke nur an das Beispiel Formelkompromiss: Hier ist gerade die Unkonkretheit dessen, worauf man sich einigt, tragend, und das ganze Arrangement würde zusammenbrechen, wenn man versuchen würde, es auf Konkretes festzunageln. Und dies kann nicht nur für den Inhalt von Kommunikationen gelten, sondern manchmal auch für die Frage der Kontaktaufnahme als solcher. So ist die soziale Form des Flirtens darauf gebaut, dass man in der Schwebe lässt, ob man mit einer Person kommuniziert oder nicht und welche Bedeutung einzelne Blicke, Gesten und Sätze genau haben (Davis 1973: 59 ff.). Ein Netzwerkforscher, der an eine Flirtsituation mit der Frage „Besteht ein Kontakt oder nicht?“ herangehen würde, würde das feine Geflecht der Situation gerade zerstören oder übersehen. Auch in späteren Stadien einer Paarbeziehung kann es nützlich sein, im Unklaren zu lassen, ob man etwas Bestimmtes gesagt oder gemeint hat oder nicht – etwa um atmosphärische Störungen zum Ausdruck zu bringen und Botschaften rüberzubringen, ohne sie kommunikativ festnagelbar zu machen (Kieserling 1999: 147 ff.). Im Bereich politischer Kommunikation kann Ähnliches gelten für die Strategien, mit denen populistische Parteien Wählergruppen anzusprechen versuchen. In diesem Sinn gibt es viele Momente sozialer Realität, die konstitutiv – und nicht nur zufällig oder weil unsere Erfassungsinstrumente nicht reichen – unterhalb der Schwelle des Faktums bleiben. So warnt auch White, der „weichste“ und „phänomenologischste“ unter den Netzwerktheoretikern, seine Theoriekollegen vor einer methodisch bedingten Verkürzung oder Verflachung des Untersuchungsgegenstandes: „[S]ocial skill […] consists exactly in keeping the state of interaction hard to assess through being pregnant with very many possible evaluations. […] [T]ies are stable only through
4.3 Soziale Realität ist kein Faktum
203
being ambivalent and ambiguous at any particular instant and in any tangible action“ (White 1992: 86). 2. Negatives. – In Sinnzusammenhängen kann Negatives positive Bedeutung haben und kausal wirksam werden (Luhmann 1981c; Geser 1986). Dies transzendiert den Ansatz bei Fakten, weil Negatives ja eben nicht vorhanden und gerade kein Faktum ist. Gleichwohl können in sozialen Kontexten reine Unterlassungen, mithin reine Nicht-Handlungen, Ereignisketten auslösen: etwa Gerichtsverfahren wegen unterlassener Hilfeleistung im Rechtssystem, oder auch die Zementierung oder Erschütterung von Machtpositionen im politischen Raum.7 Zu einer Party oder einer Konferenz nicht eingeladen zu werden, kann das Selbstvertrauen einer Person oder die freundschaftliche Verbindung zwischen Personen nachhaltig stören. Auch kann im zwischenmenschlichen Verkehr eine sehr spezifische, positive Bedeutung darin liegen, mit bestimmten Personen keinen Kontakt zu haben. Es mag sich etwa aus Gründen des Taktes oder der Komplikationsvermeidung empfehlen, den Kontakt mit dem Ex-Partner der eigenen Partnerin zu meiden, oder – eine Stufe weiter – die Ex-Partnerin des aktuellen Partners der eigenen Ex-Partnerin zu meiden und jedenfalls aus dem Radius der eigenen Partnersuche ausschließen, weil dies auf einen Partnertausch zwischen Personen mit zu starken indirekten Verbindungen hinauslaufen würde (Bearman/Moody/ Stovel 2004). Wissenschaftler, Politiker, Künstler können Anlass sehen, sich von bestimmten Kontaktpersonen fernzuhalten, um inopportune Bilder und sonstige unerwünschte Kontaminierungen zu vermeiden. Ein solcher gezielter Verzicht auf Kontakte ist denn auch sinnmäßig keineswegs dasselbe wie ein einfach zufälliges, faktisches Nicht-Zustandekommen derselben Kontakte, und dies auch dann, wenn beide Fälle in einem Netzwerkdiagramm gar nicht zu unterscheiden wären.8
7Im
internationalen Raum können insbesondere Großmächte durch reines Unterlassen wirken, nämlich durch Nicht-Intervention in bestimmten Situationen und bestimmten Regionen, sodass man etwa sagen kann: „Throughout the 20th century, social revolutions in Central and Latin America […] have been affected by the actions and inactions of the United States as the hegemonic power in the hemisphere.“ (Skocpol 1988: 158). Oder Nicht-Interventionen können das Bröckeln von Großmachtpositionen einleiten, indem sie von Dritten als Schwäche gedeutet und als Anlass zu weiteren Machttests genutzt werden (Münkler 2005; Brzezinski 2007). 8Auch der Umstand, dass zwei Personen einander auf der Straße oder auf dem Flur nicht grüßen oder nur mit einem stummen Nicken grüßen, kann entweder bedeuten, dass sie einander nicht oder kaum kennen, oder aber, dass sie ihre Beziehung auf eine Stufe nahe dem Gefrierpunkt heruntergefahren haben. Siehe zu diesem Anwendungsfall Granovetter (1973: 1361), der das nur als methodisches oder definitorisches Problem notiert: Zählt eine reine „Nickbeziehung“ zwischen Nachbarn als Verknüpfung oder nicht?
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icht-Handlungen, Nicht-Kontakte und Nicht-Thematisierungen können tragende N Elemente sozialer Ordnung sein, wie unter dem Stichwort Latenz seit langem diskutiert wird: Bestimmte Dinge können im Rahmen einer bestimmten sozialen Ordnung nicht gesehen, nicht gewusst oder nicht ausgesprochen werden, sind deshalb aber nicht inexistent, sondern geben gerade darin der Ordnung Halt und Stabilität. 3. Generalisierung. – Soziale Realität hat oft mit Ebenen der Sinnbildung zu tun, die das konkret Gegebene in gewissem Maß überziehen, über Differentes hinweggeneralisieren oder über Fehlendes hinwegextrapolieren. Beispielsweise muss jede Unterrichtsstunde verschiedene Schüler und verschiedene Wissensstände gleich behandeln, muss Nichtvorhandenes unterstellen, über momentan klaffende Lücken hinweggehen und Prozesse weiterlaufen lassen, obwohl nicht alle darin mitgeführten Voraussetzungen tatsächlich in vollem Umfang gegeben sind. Unzählige soziale Prozesse würden ins Stocken kommen, wenn ein solches Überziehen nicht möglich wäre und täglich erfolgreich praktiziert würde – wenn der Lehrer nur auf das kommunikativ rekurrieren könnte, was in den Köpfen der Schüler tatsächlich vorhanden ist, der Arbeitnehmer nur für das bezahlt würde, was er faktisch von Minute zu Minute leistet, und die Regierung nur die Gesetze beschließen könnte, die eine Mehrheit ihrer Wähler wirklich deckt und unterstützt. In Wahrheit können Organisationen überhaupt nur aufgrund von generalisierenden Vereinbarungen und Indifferenzzonen existieren (Barnard 1938; Luhmann 1964), und politische Systeme können ihre Legitimität nur auf der Ebene eines diffusen Unterstellens einer diffusen Unterstützungsoder Indifferenzbereitschaft etablieren (Luhmann 1969a, 1972, 2010). Auch entwickeln soziale Systeme Selbstbeschreibungen oder Selbstverständnisse, die sich über die Mannigfaltigkeit des täglichen Geschehens mit einer gewissen Großzügigkeit hinwegsetzen und ihnen einen Sinn oder eine Färbung geben, die nicht an der Einzelsituation abgelesen werden könnte. Ein Paar mag sich als „etabliertes, aber glückliches Paar“ definieren oder als „Paar in der Krise“, und einzelne Situationen von Streit oder Nähe haben dann eine ganz unterschiedliche Bedeutung, je nach dem, vor welchem Hintergrund eines generalisierten Selbstverständnisses sie vorkommen. Solche generalisierenden, überintegrierenden Strukturebenen sind konstitutiv für soziale Realität. Ohne sie würde das Leben in eine unbewältigbare Vielfalt von Einzelereignissen und Einzeleindrücken zerfallen, und jede weittragende Strukturbildung – etwa Normierung oder Vertrauen – enthält ein solches Generalisierungspotenzial, das den Umgang mit abweichenden, widersprechenden, unpassenden Einzelelementen mit erfasst und mit regelt (Luhmann 1972, 1989). 4. Selektionshorizonte. – Im Bereich des Sozialen dienen Strukturen oft nicht der endgültigen Auswahl bestimmter Ereignisse, sondern der Bereitstellung
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205
eines Raums von Möglichkeiten, aus dem dann im Einzelfall etwas Bestimmtes gewählt werden kann. Beispielsweise ist der Habitus eines Menschen ein Pool an Dispositionen oder ein handlungsgenerierendes Prinzip, das Handlungen nicht in deterministischer Weise festlegt, sondern nur bestimmte Richtungen des Handelns nahelegt und andere unwahrscheinlich macht (Bourdieu 1983a, 1985). Ebenso liegt der Sinn sozialer Normen nicht darin, das Handeln Fall für Fall zu kontrollieren und konformes Verhalten in jedem einzelnen Fall zu garantieren, sondern vielmehr darin, die Alternative von Konformität oder Abweichung zu eröffnen und auch für den Fall der Abweichung Bahnen des Umgangs damit vorzuzeichnen (Luhmann 1972, 1981a). Und Demokratie als Struktur politischer Systeme hat ihre Bedeutung gerade darin, Wahlentscheidungen und Mehrheitsverhältnisse nicht konkret festzulegen, sondern sie einem immer wechselnden Spiel von Zuordnung und Neuzuordnung – von Wählern zu Parteien und Parteien zu Regierungskoalitionen – zu überlassen. Strukturen dieses Typs können auf der Ebene der tatsächlich anfallenden Fakten nicht verlustfrei abgebildet werden. Sie sind weniger ein empirisch ablesbares Muster in der Mannigfaltigkeit der Ereignisse als ein Konditionierungsprogramm für Selektionen – ein Menü von Möglichkeiten, das seinen Sinn genau darin hat, auch über die Variation der Einzelselektionen hinweg mit sich selbst identisch zu bleiben. Manche Beobachter sagen denn auch, dass im Bereich der Sozialwissenschaften zwei Erkenntnisinteressen unterschieden werden müssen, die in die zwei Fragen gefasst werden können: „Warum ist x passiert statt y?“, und „Wie ist x möglich?“ (Wendt 1987: 362). Die eine Frage zielt auf die Ebene der tatsächlich passierenden Fakten, die andere auf die dahinterliegende Frage, welche Strukturbedingungen im Passieren von x – und von y, und von z – vorausgesetzt sind. Diese, die Ebene des Faktischen transzendierenden Aspekte der Realität werden im netzwerktheoretischen Zugriff tendenziell übersehen oder nur als Zerrbild gesehen, weil Netzwerktheorien eben konstitutiv bei „faktisch realisierten Mustern“ und „real existierenden Verknüpfungen“ ansetzen. Hier liegen die blinden Flecken des Netzwerkparadigmas. Soweit Netzwerktheoretikern solche Realitätsebenen sehen, gelten sie ihnen als bloße rhetorische Nebelkerzen und hochfragile Projektionen: Teilnehmer mögen Fahnen wie „Wahrheit“, „Staatsmacht“, „Arbeiterklasse“, „abendländische Kultur“ oder „Feminismus“ hochhalten und können solche Konstrukte bei hinreichendem Geschick temporär am Leben halten; aber wenn man sie ansticht, platzen sie wie ein aufgeblasener Luftballon (Latour 2005: 27 ff.). Dagegen würden Autoren von Marx bis Luhmann sagen, dass oftmals gerade die Stabilität sozialer Strukturen, dass gerade ihr Strukturwert auf ihrem Überziehungscharakter beruht – etwa, weil sie deshalb schwer ersetzt werden können, oder schwer widerlegt und zum Ziel eines Angriffs
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gemacht werden können. Die Macht des Tauschwerts und die Warenförmigkeit der Ware werden etwa nicht allein dadurch hinfällig, dass Menschen sie als falsches Bewusstsein erkennen; es müsste schon Drastischeres geschehen, um ihre gesellschaftliche Strukturwirkung zu durchbrechen. Und die Legitimität einer staatlichen Ordnung bricht nicht automatisch zusammen, wenn einzelne Bürger mit der Regierung unzufrieden sind, oder sogar wenn fast alle Bürger unzufrieden sind (Pollack 1990), da Legitimität eine selbststabilisierende, auf reflexiven Erwartungsebenen und nicht auf faktischen Meinungen gegründete Angelegenheit ist. Realabstraktionen oder Realüberziehungen sind insofern nicht nur heiße Luft, sondern tragende Säulen sozialer Realität (oder auch beides zugleich – in Sinnsystemen sind solche physikalisch unmöglichen Bauprinzipien möglich). Das Ausblenden solcher Strukturen hinter der Ebene der tatsächlich realisierten Kontakte wird in der Diskussion zu Netzwerktheorien öfter kritisiert. Manche Kritiker fordern etwa ein Bewusstsein dafür ein, dass interpersonale Beziehungen sich nicht im luftleeren Raum bilden, sondern eine Schicht von weniger konkreten, aber nicht weniger realen Strukturen voraussetzen: „Netzwerke entstehen nicht in einem sozialen Vakuum, sondern sind selbst bereits vorstrukturiert durch gesellschaftliche Vorgaben dafür, welche Kommunikationen und welche Kontakte überhaupt relevant werden können.“ (Holzer 2006a: 78). Es wird Verwunderung darüber artikuliert, mit welcher Leichtigkeit Netzwerktheoretiker – hier in der Wirtschaftssoziologie – ganze Klassen von altbekannten Strukturen ausblenden: „Granovetter says that economic behavior is embedded in ‘social structure,’ and for him social structure apparently means only networks of interpersonal relations. […] Where have the social structures of kinship, stratification, gender, age, the economy, the polity, organizations, education, and communications disappeared to?“ (Barber 1995: 406 f.) Im Folgenden soll näher nachverfolgt werden, wie sich die Präferenz für konkrete Fakten und die Dispräferenz für Unkonkretes und Hintergründiges in dem Bild niederschlägt, das wirtschafts- und wissenschaftssoziologischen Studien von Märkten und von Wissenschaft zeichnen.
4.4 Blinder Fleck: Negatives Information und Distinktion auf Märkten Ich beginne mit der Frage nach Negativem und der unmittelbar kontraintuitiven Hypothese, dass die Netzwerkanalyse im Stil von Burt und Granovetter keinen Sinn für Negatives, nämlich für das Fehlen von Verknüpfungen hat. Das ist deshalb kontraintuitiv, weil ja eine zentrale Intuition dieses Theoriestrangs das Konzept des strukturellen Lochs ist, d. h. des Fehlens von Verknüpfungen zwischen bestimmten Elementen oder Clustern von Elementen. Aber wenn man
4.4 Blinder Fleck: Negatives
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genau hinsicht, hat die Nonexistenz von Verknüpfungen hier für sich keine positive Bedeutung. Sie ist nur eine umso größere Chance für denjenigen, der dann doch eine Verbindung herstellt, nämlich für den Netzwerkunternehmer, der das strukturelle Loch überbrückt. Dabei kann man umso reichere Früchte ernten, je stärker der Kontaktabriss ansonsten wäre, je mehr man ein Monopol auf Kontaktvermittlung und Informationsprozessierung hat (Burt 1992, 1997, 2002). Anders gesagt: Es kann in diesem Denken für Akteure keinen Grund geben, eine Nicht-Verknüpfung als solche anzustreben und positiv zu bewerten.9 Es gibt keine sinnvollen Nicht-Verknüpfungen; es gibt nur faktische Nicht-Verknüpfungen, die entdeckt und gewinnbringend beseitigt werden können. Aber in der unendlichen Komplexität der sozialen Welt kann das Sich-Fernhalten von jemandem in der Tat auch positive Bedeutung haben. Das gilt insbesondere mit Blick auf Rang und Status: Sozialer Status „färbt ab“, und statushohe Spieler können sich kompromittieren, wenn sie sich auf Beziehungen mit statusniedrigeren einlassen. Das ist die Grundeinsicht von Bourdieus Klassentheorie: Akteure markieren gerade auch die Distanz zu Anderen, sie betreiben Distinktion, sie wollen mit bestimmten Anderen nichts zu tun haben. Distinktion wird naheliegenderweise nach unten betrieben, aber ebenso auch nach oben. Nach Bourdieu führt der inkorporierte Klassenhabitus dazu, dass Dinge und Lebenswege, die einem „zu hoch“ sind, mit ressentimentbesetzten Beschreibungen belegt und abgewehrt werden – mit Ausdrücken wie „Das ist nichts für uns“, „Oberschichtschnösel“, „Großkopferte“, oder „Die halten sich wohl für was Besseres“ (Bourdieu/Passeron 1971; Bourdieu 1983a: 18, 1985). Dies ist eine Dimension sozialer Realität, die quer liegt zum Fokus auf Informationsflüsse, den der Netzwerkansatz zum Ansatzpunkt nimmt, denn es geht hier nicht um Information, sondern um Reputation oder um Rang. Die Granovetter-Burt-Linie der Netzwerkanalyse ist deshalb in bemerkenswerter
9Oder
allenfalls kann der Verzicht auf Verknüpfungen unter dem Gesichtspunkt von Kapazitätsgrenzen empfehlenswert sein, und also wiederum nicht: in sich selbst, sondern mit Blick auf die anderen Kontakte, die dadurch möglich werden (Burt 1992: 22 ff.) Eine Person kann nicht unbegrenzt viele Kontakte pflegen und sollte die begrenzte Zahl der für sie möglichen Kontakte deshalb lieber auf Stellen mit Loch-Charakter verwenden, statt sie auf Stellen mit Redundanz-Charakter zu verschwenden. Das nennt Burt „optimizing for structural holes“: Im Zweifelsfall seien Kontakte in dünn oder nicht vernetzte Regionen zu bevorzugen gegenüber Kontakten in bereits dicht und redundant vernetzte Regionen. Das heißt aber wiederum: Der Verzicht auf Kontakte ist sinnvoll nicht in sich selbst, sondern nur mit Blick auf die anderen, wertvolleren Kontakte, für die er Platz schafft.
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Weise statusblind. Unter dem Gesichtspunkt von Informationserwerb gilt: Kontakte zu möglichst heterogenen Spielern, nicht-redundante Kontakte sind gut, redundante Kontakte sind schlecht. Unter dem Gesichtspunkt von Status gilt: Kontakte zu statushohen Spielern sind gut, Kontakte zu statusniedrigeren Spielern sind schlecht. Die beiden Dimensionen liegen windschief zueinander und sind nicht ohne weiteres aufeinander zu beziehen. Statusfragen kommen deshalb in netzwerkanalytischen Settings entweder gar nicht vor, oder der hohe Status von Personen gilt – wie bei Burt – als ein Produkt ihrer guten Vernetzung, die kapitalisiert werden kann, aber nicht als eine vorgängige und davon unabhängige Dimension sozialer Realität. Es ist dann allerdings innerhalb der Netzwerkanalyse ein Interesse für Statusfragen nachentwickelt worden, insbesondere durch Joel Podolny. Dieser konzipiert Märkte als Statusordnung und versucht darin auch die Linien von Burt-Granovetter einerseits und White andererseits zu verbinden (Podolny 1993, 1994; Podolny/Morton, Fiona M. Scott 1999). Kontakte zwischen Marktteilnehmern sind für ihn explizit auch unter dem Gesichtspunkt des Statusgewinns oder -verlustes zu betrachten, den sie mit sich bringen – seien es Kontakte zwischen Unternehmen und ihren Zulieferern oder Kunden, oder seien es Kontakte zwischen gleichartigen, miteinander konkurrierenden und/oder kooperierenden Anbietern in einem Markt.10 Denn Verknüpfungen sind eben nicht nur Kanäle für den Informationsfluss zwischen den Beteiligten, sondern sie können auch von Dritten beobachtet und als Statussignale interpretiert werden. Unter diesem Gesichtspunkt kann es Sinn machen, zu bestimmten Spielern keine Relation einzugehen, selbst wenn das ansonsten vorteilhaft wäre, nämlich wenn es den eigenen Status diskreditieren würde. So zeigt Podolny, dass Investmentbanken auf Geschäftsmöglichkeiten verzichten, nämlich auf die Beteiligung an Konsortien für die Emission von Unternehmenspapieren, wenn sie dabei statusmäßig eine schlechte Figur machen würden – wenn sie in einer Statuskategorie mit Banken auftauchen würden, die sie als statusniedriger betrachten als sich selbst (Podolny 1993).
10Der
Statusbegriff bietet Podolny dann wiederum Gelegenheit, sich von der Standard-Ökonomik abzusetzen. Es wird betont, dass Status im soziologischen Sinn nicht als Hinweis auf und Näherungswert für tatsächliche Qualität verstanden wird, sondern als soziale Konstruktion und selbsterfüllende Prophezeiung. Status sei zwar nicht ganz entkoppelbar von der tatsächlichen Qualität des angebotenen Produkts, aber doch nur locker daran gekoppelt, und er sei sozial konstruiert etwa im Sinn eines Matthäus-Effekts: Status beeinflusse Erwartungen, und Erwartungen beeinflussten dann die tatsächliche Qualität (Lynn/Podolny, Joel M./Tao 2009).
4.4 Blinder Fleck: Negatives
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Und Weinproduzenten suchen Verbindungen zu bestimmten Herkunftsregionen („Appellationen“) und meiden Verbindungen zu anderen, indem sie auf ihren Etiketten die Herkunft der verwendeten Trauben selektiv nennen oder verschweigen und den Mix der verwendeten Trauben so zusammenstellen, dass diese symbolischen Assoziationen und Disassoziationen optimiert werden können (Benjamin/ Podolny 1999).11 Podolny versucht dann eine Synthese der Informationsdimension und der Statusdimension von Netzwerken anhand der Unterscheidung von „Ego-Unsicherheit“ und „Alter-Unsicherheit“. Handelnde seien erstens unsicher über ihre eigene Position in der Welt und achteten deshalb auf Informationsmöglichkeiten; sie seien zweitens unsicher über die Position von Anderen und achteten deshalb auf Statussignale; und je nachdem, was gerade dominiere, müsse eher das Informationsmodell oder eher das Statusmodell von Netzwerken angelegt werden (Podolny 2001). Wie beides genau theoretisch zusammenzudenken ist und was passiert, wenn beide Dimensionen relevant sind, bleibt aber unzureichend geklärt. Das gilt schon für Podolny, der am engsten am theoretischen Kern dieses Theorieproblems arbeitet. Es gilt erst recht für andere Versuche, den Informationsgehalt und den Statusgehalt von Netzwerkbeziehungen simultan zu berücksichtigen und auf die jeweils erklärte Varianz hin zu befragen (Lancaster/Uzzi 2012). Nichtentscheidungen und Marginalisierungen Die Schwierigkeit, den Negativbereich von Nicht-Verknüpfungen zu erfassen, kann nicht nur im Axiom von Netzwerken als Informationskanälen begründet sein, sondern auch im methodischen Postulat, „den Akteuren zu folgen“. Latour empfiehlt wie gesagt dem Soziologen, die Akteure als seine Führer und besten Informanten zu betrachten, sich entlang der von ihnen benannten Pfade und Relevanzen durch den sozialen Raum zu bewegen und keine theoretischen Vorannahmen über die Ordnung der Welt zu machen. Das Wandern auf den Spuren
11Dass
sichtbare Beziehungen zu statushohen, prominenten Spielern für den Erfolg oder das Überleben nützlich sind, wird in der wirtschaftssoziologischen Netzwerkforschung öfter notiert, etwa mit Blick auf strategische Allianzen zwischen Unternehmen, auf die Affiliation von Start-ups mit prominenten Kapitalgebern oder auf die Chancen, als Aufsichtsrat eines Unternehmens nominiert und bestätigt zu werden (Stuart/Hoang/Hybels 1999; Gulati/Higgins 2003; Davis/Robbins 2005). Dies leuchtet als empirische Aussage auch ein – aber die theoretische Nuss, die hier zu knacken ist, ist das Zusammendenken mit dem informationsfokussierten Strang der strukturellen Netzwerkanalyse, wie es bei Podolny versucht wird.
210
4 Netzwerke und der Charme des Konkreten
der Akteure hat aber zur Folge, dass zwar das Positivbild der hergestellten Verknüpfungen mit großer Genauigkeit beschrieben wird, aber für die Erfassung des Negativbereichs kein systematisches Instrumentarium zur Verfügung steht. Das ist eine gängige Kritik an der Akteur-Netzwerk-Theorie: „[T]he limits of ‘following the actors’ […] [are] that by doing so analysts may miss important social groups that are invisible to the actors but nonetheless important.“ (Wyatt 2008: 172). Und während bei der Ausblendung der Statusdimension die Opfer im Bereich von Rang- oder Ungleichheitsfragen anfallen, kann hier sowohl aus der Perspektive von Ungleichheitstheorien als auch aus der Perspektive funktionaler Differenzierung etwas vermisst werden. Für Latour liegt im Nachverfolgen der Wege der Akteure ein Erfordernis soziologischer Bescheidenheit, des Verzichts auf soziologische Arroganz: Der Soziologe dürfe sich nicht anmaßen, klüger zu sein als die Akteure in dem Feld, das er beschreibt, er dürfe sie nicht vorschnell zensieren und ihnen seine Deutungen überstülpen (Callon 1986; Latour 1997: 49). Alles andere sei soziologischer Mystizismus oder Verschwörungstheorie. An invisible agency that makes no difference […], leaves no trace, and enters no account is not an agency. Period. Either it does something or it does not. If you mention an agency, you have to provide the account of its action […] [via] observable traces […]. In ANT, it is not permitted to say: ‘No one mentions it. I have no proof but I know there is some hidden actor at work here behind the scene.’ This is conspiracy theory, not social theory (Latour 2005: 53).
Leider sind es nicht nur Verschwörungstheorien, sondern auch die Analyse von Latenzen und systematischen Exklusionsbereichen, die damit ausgeschlossen ist. Letztere waren etwa das Thema von Macht- und Elitetheorien, die auf die systematische Nicht-Berücksichtigung bestimmter Themen und Nichtentscheidung bestimmter Fragen in der politischen Arena hinwiesen (Bachrach/Baratz 1962; Lukes 1974). Im Rahmen dieser Debatte wurde denn auch gesagt, die Netzwerktheorie gleiche pluralistischen Politikmodellen in der naiven Annahme, dass alle relevanten Akteure und Gruppen sich schon zu Wort melden würden, oder umgekehrt: dass diejenigen, die sich zu Wort melden, ein vollständiges Spektrum der relevanten Akteure und Gruppen darstellen würden. Die Netzwerktheorie sei blind gegenüber dem Problem von strukturell ausgeschlossenen Gruppen und systematisch übersehenen Fragen. [I]t is important to notice not only which decisions are made and how but also which decisions never land on the agenda at all; which possibilities are relegated to the sphere of nondecisions […]. Although this approach [actor-network-theory]
4.5 Blinder Fleck: Generalisierung
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rejects the ‘great man theory’ of technological development, it still attends to the needs and problems of the powerful persons and groups: those with the resources to enter the game and define its terms (Vgl. auch Scott 1991; Winner 1993: 396 f.).
Aufmerksamkeit für den Ausschlussbereich des Nicht-Berücksichtigten werden indes auch Theoretiker funktionaler Differenzierung vermissen. Wenn Latour die Geschichte des Erfolgs der modernen Wissenschaft erzählt, legt er viel Wert auf die Etablierung von verpflichtenden Durchgangsstationen („obligatory passage points“). Manche Punkte im Netz seien so angelegt, dass alle Wege über diesen Punkt führten und derjenige, der ihn besetze, entsprechend großen Einfluss gewinne. So sei es Louis Pasteur gelungen, sich und sein biochemisches Labor so zu positionieren, dass die verschiedensten Akteure – Bauern, Ärzte, Hygieneämter – ihn konsultieren mussten, um ihre jeweiligen Probleme zu lösen und ihre jeweiligen Interessen zu bedienen. So richtig das als historische Beschreibung ist, so gilt auf der anderen Seite doch auch, dass derselbe Prozess spiegelbildlich ein Prozess des Ausschaltens, Verblassens, Irrelevantwerdens von Verknüpfungen ist, die vordem den Status der verpflichtenden Mitwirkung und Absegnung innehatten. Damit die moderne Wissenschaft sich als unumgänglicher Anlaufpunkt für die Traktierung der verschiedensten Probleme etablieren konnte, mussten andere Instanzen und Zugriffsweisen ausgeschlossen oder marginalisiert werden, etwa Priester und Päpste, Krieger und Könige. Pasteurs Erfolg ist nicht nur seinem Geschick im Fädenknüpfen zu verdanken, sondern auch dem unauffälligen Zerschleißen oder Zerreißen anderer Fäden, man kann auch sagen: dem Voranschreiten funktionaler Spezifikation und der Auflösung der vorher dominierenden, diffus-kompakten Sinnzusammenhänge. An einer gegebenen Strukturwahl ist nicht nur die gewählte Struktur selbst, sondern auch ihr Ausschlussbereich relevant (Luhmann 1984: 456 ff.). Latour, der mit den Augen der Akteure die soziale Landschaft erkundet, bleibt für diese zweite Seite dieses Prozesses blind; die Negativseite seiner Erfolgsgeschichte wird abgeblendet.
4.5 Blinder Fleck: Generalisierung Geldmedium und Preisöffentlichkeiten Anders als Negativbereiche sind Generalisierungsleistungen etwas, was Netzwerktheorien nicht unbemerkt entgeht, sondern was sie explizit kommentieren – und zurückweisen. Spricht jemand von Aggregatgrößen wie Nationen, Klassen, Kulturen, Produktivkräften oder Märkten, so wird der Netzwerktheoretiker
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4 Netzwerke und der Charme des Konkreten
antworten: Es sei genau der Fehler, die Existenz solcher Dinge für bare Münze zu nehmen, statt sie als nur konstruierte und performativ produzierte Größe zu dechiffrieren. Entitäten dieser Art könnten nicht direkt beobachtet werden, sondern nur in der Perspektive des Beobachters zweiter Ordnung, der beobachtet, was andere Beobachter für real halten. „[S]ocial aggregates are not the object of an ostensive definition—like mugs and cats and chairs that can be pointed at by the index finger—but only of a performative definition. They are made by the various ways and manners in which they are said to exist“ (Latour 2005: 34). In diesem Sinn sei dann die Entität namens „Jungfrau Maria“ genauso real oder irreal wie „die französische Nation“, „die Weltwirtschaft“ oder „der Kapitalismus“: nämlich real insofern, als manche Teilnehmer daran glauben, und irreal im Sinn der Eigenbeobachtung der Soziologen (ebd.: 48). Es bestehe ein ontologisches Gefälle zwischen solchen Abstrakta einerseits und dem Agieren von Akteuren in Netzwerken andererseits, und nur letzteres könne empirisch beobachtet werden. [W]e take for granted that there exist […] [entities like] Corporation, State, Productive Forces, Cultures, Imperialisms, ‘Mentalités’ […]. The problem is that these entities could not exist at all without the construction of long networks in which numerous faithful records circulate […]. Talking of power [or state, or culture, or imperialism] is an endless and mystical task; talking of distance, gathering, fidelity, summing-up, transmission, etc. is an empirical one (Latour 1990: 55 f.).
Damit sind all diejenigen Einrichtungen, die in der Systemtheorie Kommunikationsmedien heißen, aus netzwerktheoretischen Analysen ausgeschlossen (Macht, Geld, Wahrheit, Liebe), sie werden gewissermaßen weg-punktualisiert. Denn diese sind hochgradig generalisierte Einrichtungen – sie heißen mit vollem bürgerlichem Namen „symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien“ – und könnten anders ihre Funktion als Schmiermittel im sozialen Verkehr, als Katalysator zur Herausbildung unwahrscheinlicher Kommunikationen und Verstärkung von Selektivitäten nicht erfüllen. Kommunikationsmedien geben symbolische Mittel an die Hand, die im sozialen Verkehr weitergereicht werden und die Annahme zumutungsreicher Kommunikationsvorschläge motivieren. Sie sind durch ihren Überschuss über jede situative Verwendung hinaus, durch das Ungebundene und Ungedeckte geradezu definiert. Sie müssen zum einen von bestimmten Kontexten und Verwendungen abgelöst werden und fast unbegrenzte Einsatzmöglichkeiten für noch unbestimmte Situationen bieten, und sie müssen sich zum anderen der Forderung nach Eins-zu-eins-Deckung durch „harte“, „reale“, intrinsische Werte entziehen und sich auf stärker symbolischen oder reflexiven Ebenen konstituieren. Das gilt für alle Kommunikationsmedien gleichermaßen (Luhmann 1975a).
4.5 Blinder Fleck: Generalisierung
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Für den Fall des Geldes ist dieser Generalisierungscharakter evident.12 Geld wird erst dann zur Grundlage eines weitgefächerten Wirtschaftslebens, statt nur ein Sondermedium für Fernhandel oder Luxusgüterhandel zu sein, wenn es sachlich, zeitlich und sozial generalisiert ist: wenn es in vielen konkreten Formen und in einem breiten Zeithorizont Bedürfnisbefriedigung gewährleisten kann und wenn man sich auf seine allgemeine Akzeptanz verlassen kann. Es wird dann auch zu einem reinen fiat-Geld, das vorrangig in Form von Papierscheinen und elektronischen Buchungen zirkuliert und weder durch Gold noch durch sonstige faktische Werte unmittelbar gedeckt ist; seine „Deckung“ liegt allenfalls in der Leistungsfähigkeit des Wirtschaftssystems insgesamt (Luhmann 1970f, 1988a). Wegen seines Generalisierungscharakters fällt Geld aus dem Bereich netzwerktheoretischer Interessen heraus. Zwar kann die Existenz von Geld als solche nicht bestritten werden. Geld ist zweifellos real, es ist ja sogar physisch vorhanden, ist aber auch im Zeitalter des elektronischen Zahlungsverkehrs und der mindestens diskutierten Abschaffung des Bargeldes noch „hart“ und „faktenhaft“ genug, um auch von faktenverliebten Forschern nicht in Zweifel gezogen zu werden.13 Es gibt aber bemerkenswerterweise keine Netzwerkforscher, die sich mit Geld beschäftigen. In der geldtheoretischen Diskussion in der Soziologie (Zelizer 1994, 1998; Deutschmann 1999, 2000; Pryke/Allen 2000; Paul 2002; Ingham 2004; Paul 2004; Esposito 2007; Deutschmann 2009; Kohl 2014) finden sich keine netzwerktheoretischen Beiträge, die Schnittmenge zwischen Geldtheorie
12Für
die anderen beiden Medien, die im Text nicht vorkommen (Macht und Liebe), kann dieser doppelte Generalisierungscharakter folgendermaßen ausbuchstabiert werden. Macht kann nur dann als Medium fungieren, wenn sie von Einzelpersonen und den daran hängenden Pressionen abgelöst wird und so institutionalisiert wird, dass sie gegenüber unbestimmten Anderen und für vielfältige, im Voraus nicht bestimmte Zwecke eingesetzt werden kann. Macht ist dann nicht mehr in vollem Umfang durch Gewalt als unmittelbarstes Überzeugungsmittel gedeckt, sondern stützt sich vorrangig auf subtilere oder stärker symbolische Mittel (Luhmann 1970e, 1988b, 1994b, 2000, 2012). Und Liebe im modernen Sinn bedeutet nicht nur das Schätzen einzelner Eigenschaften am Anderen – wie Schönheit, Jugend, Mut usw. –, sondern das Projekt, den kompletten Weltentwurf eines Anderen mit all seinen Brüchen, Dellen, Idiosynkrasien durch das eigene Leben zu bestätigen, was, wenn es gelingt, einen Intimraum höchstpersönlicher Kommunikation entstehen lässt. Liebe in diesem Sinn hat eine starke Bindung an Sexualität als unmittelbar-intrinsischer Lustquelle, ohne aber in Sexualität aufzugehen oder mit ihr zusammenzufallen (Luhmann 1982, 2008). 13Dies hängt, außer mit seiner physischen Objektivierung, vermutlich auch mit seiner Quantifizierung zusammen. Quantifizierbarkeit dient in sozialen Prozessen oft als Realitätssurrogat und hilft bei der reibungslosen Akzeptanz von Kommunikationen (Heintz 2010).
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4 Netzwerke und der Charme des Konkreten
und Netzwerktheorie ist leer.14 Offensichtlich ist Geld als symbolisch generalisiertes Medium etwas, was sich gegen einen netzwerkanalytischen Zugriff sperrt. Obwohl es natürlich in weiten und vergleichsweise gut nachvollziehbaren Bahnen zirkuliert (Clark 2005), scheint sich sein Wesen nicht durch das Nachvollziehen eben solcher Netzwerkpfade erfassen zu lassen. Denn sein „Wesen“ liegt eben gerade im Hinausgehen über jeden konkreten Weg, den es nehmen mag, in seiner Indifferenz gegen diese Frage. Es sprengt damit den Horizont des im Netzwerkparadigma Erfassbaren. In der Heider’schen Terminologie von Medium und Form kann man auch sagen: Das Medium ist ein formloses und formbares Substrat, in das eine unbegrenzte Vielfalt von Formen eingeprägt werden kann. Jede Festlegung auf eine bestimmte Form würde seinen Mediencharakter zerstören; das Medienhafte liegt gerade in der Unbestimmtheit, in der Regeneration und Reproduktion der Formbarkeit des Mediums über jede konkrete Formbildung hinaus (Luhmann 1988a: 230 ff.).15 Aber nicht nur mit Blick auf Geld an sich, sondern auch mit Blick auf Preise zeigen sich Grenzen dessen, was man mit netzwerkanalytischen Mitteln erfassen kann, obwohl Preise ja eine schon stark heruntergebrochene Erscheinungsform von Geld ist, gewissermaßen Geld in seiner Strukturqualität, nicht in einer Medienqualität. Preise scheinen zunächst recht punktuell und konkret zu sein: Jedes Ding hat seinen eigenen Preis, und noch dazu nicht immer denselben Preis, sondern wechselnde Preise an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten. Aber auch hier können bei genauerem Hinsehen Abstraktions- und Generalisierungsleistungen im Spiel sein. So gibt es etwa Weltmarktpreise für Güter wie Weizen, Baumwolle oder Erdöl, die nicht den Preis irgendeiner
14Die
Ausnahme ist Baker (1987), der sich allerdings mehr dem Titel als dem Inhalt nach mit dem Thema Geld beschäftigt. Faktisch geht es in dem Text um spekulative Positionen in Futuresmärkten, und die hierzu vorgestellten Befunde sagen offensichtlich nichts über den Charakter von Geld aus, sondern zeigen allenfalls, dass Finanzmärkte ebenso gut wie andere Märkte auch mit netzwerktheoretischen Mitteln traktiert werden können. 15Das ist im Übrigen auch das Problem an Zelizers Theorie der „vielen Gelder“, die die Uniformität und Generalisiertheit des Geldmediums bestreitet. Laut Zelizer (1994); (1998) gibt es nicht einen einheitlichen Geldkreislauf mit der durchschlagenden Generalisierung „a dollar is a dollar“, vielmehr können Familien oder Staaten bestimmte Geldsummen für bestimmte Verwendungen reservieren und Geld in vielfältigen Sonderkreisläufen zirkulieren lassen. Aber diese Zweckbindung gilt ja jeweils nur für einmalige Verwendung und gerade nicht für weiter ausgreifende Bahnen oder Kreisläufe; schon die nächste Verwendung durch den Empfänger gibt das Geld wieder frei, es gewinnt seine Freiheit oder Generalisiertheit wieder (Vgl. dazu oben Abschn. 2.3).
4.5 Blinder Fleck: Generalisierung
215
Einzeltransaktion darstellen. „[W]orld market prices do not correspond to the actual worth of commodities. One cannot buy a single bale of cotton by paying the world price for the commodity“ (Çalışkan 2009: 239). Es wird deshalb auch gesagt, dass Weltmärkte nicht als die Summe der faktisch abgewickelten Transaktionen zu begreifen sind, sondern als globale Horizonte von Beobachtbarkeit und Vergleichbarkeit (Bühler/Werron 2014). Weltmarktpreise sind dabei zum einen in der Sachdimension generalisiert, in dem Sinn, dass sie für jede Einzeltransaktion nach einer Vielzahl von Parametern herunterspezifiziert werden müssen, etwa nach Produktspezifikation, Menge, Zeitpunkt. Sie sind zum anderen aber auch in der Sozialdimension generalisiert, insofern sie sich erst im Medium einer universalen weltweiten Beobachtbarkeit und Bekanntheitsunterstellung herauskristallisieren. Diese Ebene weltöffentlicher Beobachtung wurde durch Telekommunikationsmittel wie Telegraf, Telefon, Internet geschaffen, wie am Beispiel des globalen Weizenmarktes erläutert werden kann: „Durch die […] globalen Weizenpreisübermittlungen aus Chicago wurde ein weltweites Publikum imaginiert, das über die aktuelle […] Preisentwicklung informiert war. […] Die Vorstellung eines universalen Publikums von Getreidehandel-Interessierten hatte bis Ende des 19. Jahrhunderts einen globalen Markt hervorgebracht, der durch die gemeinsame Orientierung an Preisentwicklungen an bestimmten Produktbörsen zusammengehalten wurde – oder genauer: durch die Unterstellung, dass alle anderen potenziellen Abnehmer sich an diesen Preisen orientierten.“ (Bühler/Werron 2014: 291). Diese Informiertheitsunterstellung mag teils nur imaginär und nicht durch den tatsächlichen Informationsstand der Beteiligten gedeckt sein, aber trotzdem emergieren Preisdynamiken für das entsprechende Gut erst auf dieser Ebene öffentlicher Beobachtung. Weltmärkte sind dann, wie Bühler und Werron betonen, nicht nur ein Vernetzungs- und Verflechtungsphänomen, ein Konglomerat dyadischer Tauschbeziehungen, sondern auch ein Beobachtungs- und Öffentlichkeitsphänomen. Genau an diesem Punkt wird nun der strukturellen Netzwerkanalyse vorgeworfen, sie könne einen eventuellen Öffentlichkeitscharakter von Preisdynamiken und die daran hängenden Komplikationen nicht verstehen. Dies sagt Ezra Zuckerman (2010b) mit Blick auf globale Finanzmärkte und die jüngste globale Finanzkrise, die ihren Auslöser im plötzlichen Einbruch und Zusammenbruch des Marktes für Immobilienkredite und daraus abgezogene Kreditderivate hatte. Der entscheidende Umbruchspunkt sei eingetreten, so Zuckerman, als ein öffentlich beobachtbarer Preis für Papiere – Kreditausfallswaps – eingerichtet wurde, mit denen man sich gegen den Absturz des Marktes absichern konnte. Es hätten zwar auch vorher schon viele Teilnehmer Zweifel an der Solidität des Marktes gehabt
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4 Netzwerke und der Charme des Konkreten
und hätten diese in dyadischen, „privaten“ Kommunikationen mit anderen Händlern auch freimütig geäußert. Aber erst mit der Einrichtung eines marktöffentlichen Beobachtungspunktes – eines Preisindex für Kreditausfallswaps – seien diese Zweifel wirksam geworden, weil jetzt jeder Teilnehmer anhand der Entwicklung des Index beobachten konnte, wie viele andere Teilnehmer dieselben Zweifel hegten – entsprechend dem Punkt im Märchen, wo nicht nur alle wissen, dass der Kaiser nackt ist, sondern auch alle wissen, dass alle dies wissen (Zuckerman 2010a, 2010b; MacKenzie 2011a).16 Dieser Punkt aber – so Zuckermans Kritik (2010b) – sei mit netzwerkanalytischen Mitteln nicht darzustellen. Die Netzwerkanalyse habe in der Verarbeitung privater, nicht öffentlicher Information ihr Paradigma, sie sei nur darauf eingestellt, konkrete Verbindungen zwischen konkreten Teilnehmern zu erfassen. In ihren Graphen und Matrizen sei es kein Unterschied, ob viele Teilnehmer mit vielen andere – oder selbst: alle Teilnehmer mit allen anderen – in je dyadischen Kontakten verbunden seien, oder ob alle mit allen auf einer Ebene öffentlicher Beobachtbarkeit verbunden seien. Technisch gesehen sei beides ein Cluster von Punkten mit vollständiger Verknüpfung. Es sei aber, wie schon Simmel gewusst habe, ein großer Unterschied, ob A etwas mit B teilt, B etwas mit C und C etwas mit A, oder ob A, B und C etwas zu dritt miteinander teilen.17 Dieser Unterschied gehe im netzwerkanalytischen Zugriff verloren, und deshalb könne die Netzwerkanalyse jenen entscheidenden Umschlagpunkt des Öffentlichwerdens einer vorher schon weit bekannten Information nicht nachvollziehen.
16Dass
Preisbildung auf Finanzmärkten, speziell an Börsen, in hohem Maß den Charakter sozial gespiegelter, reflexiver Beobachtung und Erwartungsbildung hat, wird oft gesagt. Der Wert der gehandelten „Güter“ – Wertpapiere – beruht hier weniger auf ihrem intrinsischen Wert als auf dem Vertrauen und den Erwartungen anderer Marktteilnehmer; es geht letztlich um die Ebene dessen, was alle erwarten, dass alle erwarten, dass alle erwarten (Keynes 1936; Orléan 2001, 2005; Windolf 2005b; Schimank 2011; Diaz-Bone 2012). Es auch ein soziologischer Begriff von Liquidität vorgeschlagen worden, der genau auf diese Qualität des öffentlichen, als bekannt und beobachtbar unterstellbaren Wissens abstellt: „Liquidity presumes assets that are knowable by a large group of potential buyers and sellers. Idiosyncratic, private […] knowledge undercuts liquidity.The creation of liquidity therefore becomes a problem in how to create generalized impersonal knowledge out of idiosyncratic personal knowledge.“ (Carruthers/Stinchcombe 1999: 356). 17Bei Simmel (1908) heißt es etwa, dass dyadische Freundschaften eine andere, intimere Qualität hätten als Freundescliquen mit mehreren Mitgliedern und dass deshalb auch mehrere Zweierfreundschaften mit überschneidenden Mitgliedern sich keineswegs automatisch zu einer größeren Clique summieren würden. Zuckerman zieht Parallelen zur Wirkung des Kinsey-Reports, der die Verbreitung abweichender Sexualpraktiken öffentlich
4.5 Blinder Fleck: Generalisierung
217
Netzwerktheoretiker lehnen Generalisierungen und Abstraktionen ab, weil sie vermeiden wollen, Schimären und Phantasmagorien auf den Leim zu gehen. Aber nicht jede Generalisierung ist gleich schimärisch und phantasmagorisch. Es fallen darunter nicht nur die Idealmodelle neoklassischer Ökonomen – etwa glatt gezogene Kurven für Angebot, Nachfrage und sich anpassende Preise –, sondern auch Generalisierungen in der Sozialdimension, wie eben das Phänomen der Öffentlichkeit oder der reflexiven Beobachtung, das seit langem zu den Kernbeständen soziologischen Wissens gehört. Mit der methodischen Präferenz für des Konkrete, Private und Punktuelle wird also vielleicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Wahrheitsmedium Im Fall der Wissenschaft verläuft die Suche nach blinden Flecken nicht gleichermaßen eindeutig. Das Äquivalent zum Geldmedium ist hier das Wahrheitsmedium. Der Wahrheitsbegriff wird in der Wissenschaftssoziologie ja auf breiter Front abgelehnt, nicht nur von Netzwerktheorien, sodass sich hier kein Spezifikum gerade dieses Theorietyps feststellen lässt. Dabei steht normalerweise weniger die Generalisierungsqualität als die Objektivitätsqualität von Wahrheit im Zentrum. Generalisierung ist aber auch ein Problem. Wahrheit ist eine hochgradig generalisierte „Sache“, die, wenn man sich von positivistischen Auffassungen löst, nicht ein Attribut eines Einzelsatzes, einer Einzelbeobachtung oder einer Einzelthese ist, sondern ein sozial etablierter Sinnprozessierungsmodus, der sich – wie auch die anderen Medien – gerade durch Generalisierung in mehreren Richtungen auszeichnet. So müssen Wahrheitsfragen von punktuellen Störungen, Verunsicherungen und Absicherungsbedarfen abgelöst und als Dauerproblem relevant gestellt werden müssen, um das die moderne Wissenschaft kennzeichnende Wahrheitsverständnis und die für sie typische Neugier und innere Unruhe zu erzeugen; und es müssen allgemeine Theorien formuliert werden, die die Menge der Einzelbefunde, der unmittelbaren Evidenzen und hiebund stichfesten Nachweise immer auch überziehen, über Lücken und Anomalien hinweggeneralisieren und nur durch gleichermaßen generalisierte Alternativen
bekannt machte, und fügt als weiteres Beispiel hinzu: Es sei ein großer Unterschied, ob in einer Organisation eine auftauchende brisante Information über ein Mitglied über ausgedehnte Klatschnetzwerke letztlich jedes Mitglied erreiche, aber jeweils unter der Prämisse der Geheimhaltung und privaten Sonderinformation, oder ob dieselbe Information organisationsöffentlich bekannt sei und dann auch in Gremien und Teamsitzungen als bekannt behandelt werden könne.
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4 Netzwerke und der Charme des Konkreten
ersetzt werden können (Luhmann 1970c, 1990b). Wahrheit ist deshalb etwas, was sich an keiner Einzelforschung und auch keinem Verbundprojekt je unübersehbar bemerkbar machen wird, sodass es sich für netzwerkanalytische Zugriffe nicht eignet. Im Zusammenhang mit der Frage nach blinden Flecken ist interessant, dass damit nicht nur eine Generalisierungsleistung, sondern auch ein Latenzbereich der konkretistischen Brille zum Opfer fällt, also ein weiterer Negativ- oder Ausschlussbereich wissenschaftlicher Kommunikation. Wissenschaftssoziologen fühlen sich in ihrer Ablehnung des Wahrheitsbegriffs ja unter anderem durch den Umstand bestätigt, dass im typischen Jargon von Wissenschaftlern – in ihrer Alltagskommunikation wie in ihren Publikationen – kaum je das Wort „wahr“ vorkommt. Es dominieren andere Ausdrücke wie „Das ist ein Hinweis auf …“, „Das ist interessant“, oder „Das müssten wir probieren“ (Latour/Woolgar 1979; Callon/ Law 1982; Knorr Cetina 1984). Mit Luhmann ist allerdings zu vermuten, dass sich hier weniger die Irrelevanz als die Kommunikationslatenz von Wahrheitsfragen bemerkbar macht. Wahrheit, als Verweis auf unbestreitbar gleichsinniges Erleben, ist etwas, was kommunikativ vorzugsweise nicht direkt ausgesprochen wird. Es empfiehlt sich nicht, eine gemachte Aussage mit dem Zusatz „… und das ist wahr!“ zu bekräftigen, denn damit würde man eher zu Zweifel und Hinterfragen einladen als zu reibungslosem Abnehmen. Würde man die Wahrheit des Wissens betonen, würde gerade das Zweifel zum Ausdruck bringen, würde die Kommunikation vom Inhalt auf den Wahrheitswert ablenken und ihr die Möglichkeit geben, zur Wahrheitsfrage mit Ja oder Nein Stellung zu nehmen. Das kann nur ausnahmsweise geschehen (und nicht einmal die Wissenschaft kann in ihrer kommunikativen Praxis die Ausnahme zur Regel werden lassen). Wissen wird im Schutze der Unmarkiertheit des Wahrheitswertes, also ohne explizite Verwendung des wahr/unwahr-Schemas erzeugt (Luhmann 1990b: 134).
4.6 Blinder Fleck: Struktur als Selektionshorizont Zwei Strukturbegriffe Wenn Netzwerktheorien strukturelle Theorien sind, dann stellt sich die Frage: was heißt „Struktur“? Im Rahmen des Netzwerkparadigmas sind Strukturen faktisch realisierte Selektionsmuster, nämlich Muster in der Verknüpfung von Elementen. „[S]ocial structure is regularities in the patterns of relations among concrete entities“ (White/Boorman/Breiger 1976: 733). Es geht um empirisch beobachtbare Verteilungen, die durch eine Art Häufigkeitsauszählung von Ereignissen – hier Kontakten – zu ermitteln sind. Das ist indes nicht das einzige mögliche Strukturverständnis.
4.6 Blinder Fleck: Struktur als Selektionshorizont
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Strukturbegriffe gibt es in großer Vielzahl, aber ein gemeinsamer Nenner über recht verschiedene Theorieschulen hinweg ist die Ablehnung eines solchen Strukturverständnisses, das allzu nah an die Ebene der Fakten gebaut ist, und der Gedanke, dass Strukturen als eine Ordnungsebene verstanden werden müssen, die hinter den faktisch beobachtbaren Ereignissen liegt (Reckwitz 1997). Strukturen sind dann eher ein Erzeugungsprinzip sozialer Realität als ein Sediment des faktischen Geschehens. Man kann etwa formulieren, Struktur sei ein „Fundament“ oder „Substratum“ unterhalb des Stroms der ablaufenden Handlungen, sodass „die Geordnetheit der sozialen Welt nicht in den Handlungsmustern selbst [besteht], sondern in den Bedingungen, […] die diesem Oberflächenhandeln zugrundeliegen“ (ebd.: 25). Bourdieus Begriff von Habitus als generativer Regel, die Handlungen ermöglicht und erzeugt, aber nicht determiniert, entspricht diesem Schema. Der Habitusbegriff vermittelt zwischen der freien Subjektivität des Handelnden und der Determination durch seine objektive soziale Position; er lässt Freiraum für individuelle Ausführung, also für die faktische Wahl konkreter Handlungen in konkreten Situationen (Bourdieu 1983a, 1985, 1998a). Schaltet man von handlungstheoretischen auf systemtheoretische Grundlagen um, so liegt das Problem nicht im Verhältnis von Freiheit und Determination, sondern im Verhältnis von Überkomplexität und Komplexitätsreduktion, im Zwang zur Vereinfachung einer überkomplexen Welt. Strukturen sind Einrichtungen, mit denen dieses Problem in einem zweistufigen Prozess gelöst wird: Es wird aus der unbewältigbaren Vielfalt des überhaupt Möglichen zunächst das Wählbare gewählt, und dann wird in einem zweiten Schritt aus dem Wählbaren etwas Bestimmtes gewählt (Luhmann 1972: 40 ff.). Strukturen markieren den Bereich des Wählbaren, sie liegen auf der mittleren Ebene in diesem Prozess und lassen mithin noch Raum für die dann im Einzelfall faktisch getroffenen und empirisch beobachtbaren Selektionen. – Nach all diesen und weiteren Varianten sind Strukturen also weniger faktisch getroffene Selektionen als Selektionshorizonte, weniger Regelmäßigkeiten als Regeln (Reckwitz 1997). Sie markieren das „Woraus“ der Selektion, nicht die endgültige Selektion selbst. Es scheint nun, dass die Festlegung auf einen allzu faktennahen Strukturbegriff die Konsequenz hat, dass kein netzwerktheoretischer Begriff des Marktes gebildet werden kann. Mit der einen rühmlichen Ausnahme von White bilden Netzwerktheoretiker in der Wirtschaftssoziologie entweder gar keinen Begriff des Marktes, sondern nehmen Märkte nur als unproblematisch gegebenes Umfeld von Netzwerkbildungen in Anspruch, oder sie verwenden den Marktbegriff als Gegenbegriff zum Netzwerkbegriff. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass ein Markt – was immer man im Einzelnen von ihm denkt – unauflöslich die
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Qualität eines Selektionshorizones hat, also der Qualität einer noch nicht auf konkrete Ergebnisse festgelegten Ordnung. Auf einem Markt stehen sich Käufer und Verkäufer, Nachfrager und Anbieter gegenüber, von denen jeder mehr als eine Möglichkeit hat, Transaktionspartner zu wählen (wenn das nicht so ist, Monopole oder Monopsone bestehen, ist das schon eine – meist problematische – Sonderbedingung). Ein Markt ist deshalb eine Ordnung, die auf der Ebene des konkreten Wer-mit-wem nicht vollständig erfasst werden kann. Auch diejenigen Teilnehmer, die keine Transaktionen miteinander abschließen, sind trotzdem als Teilnehmer desselben Marktes präsent – wie Bühler und Werron (2014) sagen würden: als Teil desselben Beobachtungs- und Vergleichshorizontes. Auf einem Markt gibt es immer viele Akteure, mit denen man nicht ins Geschäft kommt, und er wäre sonst kein Markt. Komplizierter formuliert: Der Clou des Marktes ist, ein Kontingenzschema zur Verfügung zu stellen, das relativ unabhängig von der konkreten Wahl von Transaktionspartnern stabil ist.18 Das sagt noch nicht viel aus, lässt alle wichtigen Fragen zum Verständnis von Märkten noch offen. Aber es ist gleichwohl ein Punkt, der der Formulierung eines netzwerktheoretischen Begriffs von Markt offensichtlich im Wege steht und vielmehr die Begriffe „Markt“ und „Netzwerk“ ein bisschen hilflos nebeneinander stehen lässt. Netzwerke auf Märkten Die Frage, wie der Marktbegriff und der Netzwerkbegriff zueinander stehen, wird – gemessen an der Zentralität dieser Begriffe – erstaunlich wenig reflektiert und diskutiert. Die für die strukturelle Netzwerkanalyse prägenden Autoren Granovetter und Burt nehmen Märkte einfach als einen möglichen Anwendungsfall für die Unterscheidung von starken und schwachen, redundanten und non-redundanten Verknüpfungen. Die Frage ist etwa, woher Individuen Informationen über freie Stellen beziehen (Granovetter 1973, 1974). Diese Frage spielt in einem Marktkontext – dem Arbeitsmarkt –, aber untersucht wird nicht der Markt selbst, sondern die Bekanntschaftsnetzwerke, die neben dem Markt existieren. Dass es um
18So kann man wohl Luhmanns Ausführungen interpretieren: „Eine Sache kann ihren Besitzer wechseln und der Besitzer seine Sachen […] [so dass] der Markt […] für mindestens zwei Beteiligte eine jeweils doppelte Vergleichsmöglichkeit bereitstellt, nämlich […] einen Vergleich einer Sache mit anderen Sachen und einer Person, die eine Sache zu bestimmten Bedingungen haben oder abgeben möchte, mit anderen Personen […]. Es ist klar, daß nicht beide Vergleichsmöglichkeiten simultan ausgeschöpft werden können. […] Statt dessen kommt es zu nur noch individuell motivierten und zurechenbaren Reduktionen dieser unendlichen Komplexität, gegen die der Markt als System strukturell neutral gehalten werden muß, um ihre Kombinierbarkeit vermitteln zu können.“ (Luhmann 1970f: 209).
4.6 Blinder Fleck: Struktur als Selektionshorizont
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den Arbeitsmarkt geht, ist hart gesagt nur eine mehr oder weniger zufällige Hintergrundbedingung, oder dieser ist das Umfeld, in dem die Studie spielt. Es können aber ebenso gut auch ganz andersartige Kontexte mit demselben Ansatz untersucht werden, etwa Freundschaftsnetzwerke unter Schülern oder Kontaktnetzwerke unter Wissenschaftlern (Burt 2002). Andere Fragen aus der Frühphase von Netzwerkanalysen sind, welche Vorteile Unternehmen haben, wenn sie – etwa mittels überlappenden Aufsichtsräten – in dichte Vernetzungsstrukturen eingebunden sind, die bevorzugte Informationskanäle und einen Kreis bevorzugter Transaktionspartner etablieren (Burt 1980, 1982). Auch hier ist der Markt nur die unproblematische Hintergrundfolie, vor der sich das alles abspielt – die Vergleichsfolie, auf der sich die Vorteile von Netzwerken abzeichnen, etwa die Durchsetzbarkeit von Preisen über den „normalen“ Marktpreisen und von Profiten über den Normalprofiten.19 Der Markt selbst ist nicht Fokus der Analyse, sondern dient gewissermaßen als Nullhypothese: Märkte sind die unproblematische Rückfalloption, auf die zurückgegriffen werden muss, wenn keine Netzwerkeinbindung zur Verfügung steht. Und noch in einer weiteren frühen, viel zitierten Studie stehen die Begriffe Markt und Netzwerk seltsam beziehungslos nebeneinander. James Baker (1984) untersucht Clusterungen in den Transaktionsnetzen von Börsenhändlern und ihre Folgen für die Schwankungsintensität von Börsenkursen. Auch hier geht es einfach um Netzwerkstrukturen auf Märkten, ohne dass versucht wird, die Begriffe Markt und Netzwerk zueinander in Beziehung zu setzen. Baker postuliert zwar einen Kontrast zwischen Markttheorien – lies: Finanzwissenschaften – und Netzwerktheorien – lies: Soziologie – und bescheinigt letzteren die besseren Übereinstimmung mit den Daten. Aber er versucht nicht, innerhalb seiner eigenen Theorie die Begriffe „Markt“ und „Netzwerk“ relativ zueinander zu bestimmen – weder sie einander gegenüberzustellen, noch Märkte als einen Anwendungsfall von Netzwerken zu modellieren. Das ganze begriffliche Instrumentarium der strukturellen Netzwerkanalyse – starke und schwache Verknüpfungen, Cluster und Zentralität – ist denn auch zeitlich vor der Ausdifferenzierung der Neuen Wirtschaftssoziologie entstanden und ohne systematischen Bezug dazu. Es ist, zugespitzt ausgedrückt,
19Burt
(1982: 143 f.) schreibt etwa: „Market constraints among […] [companies] can be circumvented through directorate ties by means of the creation of favored trade partners. […] The more that […] directorate ties connect […] [companies], the lower the proportion of buying and selling that must be transacted in the open market. In this sense […] necessary buying and selling can be conducted in a nonmarket context“.
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gewissermaßen zufällig am Fall von Märkten entwickelt worden ist, liefert aber gar keinen spezifischen Beitrag gerade zum Verständnis von Märkten. Vielmehr beziehen ja viele Netzwerktheoretiker ihren Stolz und ihr Selbstverständnis daraus, dass sie eine allgemeine Sozialtheorie und nicht nur eine Theorie für eine Spezialsoziologie anbieten.20 Und auch in später sich verdichtenden wirtschaftssoziologischen Diskussionen werden dieselben Analysetechniken gleichermaßen und ohne viel Aufhebens sowohl auf Unternehmen-in-Märkten als auch auf Individuen-in-Unternehmen angewandt. Manchmal geht es um Netzwerke zwischen Unternehmen, etwa Hotelbesitzer und ihre Bekanntschaftsnetze oder Aktiengesellschaften und die Verflechtungen ihrer Aufsichtsräte (Ingram/Roberts 2000; Mizruchi/Stearns/Marquis 2006); manchmal geht es um Kontaktnetze von Managern in Unternehmen oder Rat- und Hilfenetzwerke von Bankangestellten (Burt 1992; Mizruchi/Stearns 2001; Mizruchi/Stearns/Fleischer 2011). Im einen Fall geht es um Einheiten –Unternehmen –, die in Märkten operieren; im anderen Fall geht es um Einheiten – Individuen –, die in Organisationen operieren. Der Gegenfall zu guter Netzwerkeinbindung ist im letzteren Fall nicht mehr der Markt, sondern einsames Arbeiten oder dyadisches Mentorentum oder allzu enge, in sich geschlossene Freundschaftscliquen. Zwischen diesen verschiedenen Anwendungen wird in der Literatur aber kein fundamentaler Unterschied gesehen, beides wird einfach nebeneinander als Beitrag zu einer netzwerktheoretischen Wirtschaftssoziologie angeboten. Und dasselbe Analyseschema kann dann bruchlos auch auf Familien im Florenz der Renaissance angewandt werden, mithin auf einen Kontext, der von modernen Marktstrukturen ebenfalls denkbar weit entfernt ist (Padgett/Ansell 1993). Der Markt verschwindet mithin in gewissem Sinn aus dem Blickfeld der Netzwerkanalyse – nicht aus dem Bereich der erforschbaren Themen, aber aus dem Bereich der Begriffsbildung. Es ist dann nur konsequent zu sagen, dass ein reiner Markt, ohne Zusatzeinrichtungen, nur als das Fehlen von Netzwerkbeziehungen, gewissermaßen als Null-Netzwerk beschrieben werden kann: „[O]ne might operationalize a spot market as a population of isolates. Each market actor is a node that lacks any ties to the other actors/nodes.“ (Podolny/Page 1998: 59) Die S tabilität
20Burt
(1982: 265 ff.) bestückt sein Konzept struktureller Löcher und struktureller Autonomie denn auch symmetrisch mit einerseits „ökonomischen“ Anwendungen: Oligopole, Autonomie von Branchen, und andererseits „soziologischen“ Anwendungen: Genese der Autonomie des Individuums durch konfligierende Gruppenzugehörigkeiten und Rollenpluralismus (in einer eigenwilligen Terminologiewahl, die an Kapitel 1 dieses Buches gemahnt).
4.6 Blinder Fleck: Struktur als Selektionshorizont
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eines Marktes kann dann nur darin gesehen werden, dass über die schiere Möglichkeit von Markttransaktionen hinaus dauerhafte, erwartbare Beziehungen zwischen bestimmten Teilnehmern bestehen (Baker/Faulkner/Fisher 1998). In diesem Sinn existiert etwa zwischen Colaherstellern und Werbeagenturen ein stabiler Markt – ein Markt für Werbedienstleistungen –, weil Colahersteller tendenziell immer wieder dieselben Werbeagenturen beauftragen (ebd.). Dagegen wäre der Markt für Skipässe oder für Döner Kebap nach diesem Begriff kein stabiler Markt, weil sich hier ja Vergnügungslustige und Hungrige in recht unvorhersehbaren Mustern bei verschiedenen Anbietern eindecken. Für Netzwerktheoretiker hängt Stabilität an der Konstanz der Teilnehmer, die miteinander zu tun haben, während mit einem offeneren, weniger konkretistischen Strukturbegriff der Sinn von Märkten gerade darin gesehen werden kann, über den Wechsel von Teilnehmern hinweg Stabilität und Orientierung zu ermöglichen. Es ist klar, dass man stark personalisierte Systeme, etwa Paarbeziehungen, so denken muss, wie Baker den Markt denkt; es wäre offensichtlich unsinnig, von einer stabilen Paarbeziehung über den Austausch von Personen hinaus zu sprechen. Netzwerktheoretiker aber denken alle sozialen Gebilde nach diesem Schema, statt hier eine Variable zu sehen, die in Rücksicht auf den Charakter des betrachteten Systems verschieden eingestellt werden muss.21 Neil Fligstein macht einen ähnlichen Punkt, wenn er schreibt, die Frage des konkreten Wer-mit-wem – bei ihm allerdings nicht in Markttransaktionen, sondern in Aufsichtsratsbesetzungen – könne unter verschiedenen historischen Bedingungen verschieden relevant sein und es könne regulatorische Vorkehrungen geben, die die Relevanz dieser Frage begrenzten. So folge aus Aufsichtsratsverflechtungen zwischen Banken und Unternehmen nicht automatisch, dass die Unternehmen durch die entsprechenden Banken kontrolliert würden, denn schließlich gebe es Regulierungen – wie die Trennung von Geschäftsbanken und Investmentbanken –, die gerade darauf abzielten, die Effekte der Aufsichtsrattätigkeit von Banken für die Kapitalmarktpositionierung von Unternehmen zu neutralisieren (Fligstein/Brantley 1992; Fligstein 1995).22 Die erste
21Wenn
man diese Spur weiterverfolgt, könnte man vielleicht zu einer Beschreibung von Netzwerktheorien als „intimistischen“ oder „personalistischen“ Theorie von Wirtschaft bzw. Wissenschaft kommen – analog zu politistischen Theorien, wie in Kap. 3 diskutiert. 22Dass die Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken nur für die USA galt, nicht für Europa, und auch in den USA 1999 aufgehoben wurde, ändert nichts an der Logik des Arguments. In Staaten mit Universalbankensystem gibt es vergleichbare Regelungen, etwa die „Chinesische Mauer“ innerhalb von Banken, die die Analysten der Rechercheabteilung von den Investmentbankern der Verkaufsabteilung abschotten soll – auch wenn diese Abschottung in der Praxis nur begrenzt funktioniert (Hirsch/Pozner 2005; Swedberg 2005a).
224
4 Netzwerke und der Charme des Konkreten
Frage müsse mithin sein: Wie wichtig ist es, wer bei wem im Aufsichtsrat sitzt? Und erst die zweite Frage sei dann: Wer sitzt bei wem im Aufsichtsrat? Markt vs. Netzwerk Die Alternative zu dieser Begriffsarchitektur, in der die Begriffe Markt und Netzwerk einfach nebeneinanderstehen, ist, die beiden als Gegenbegriffe pointiert gegeneinanderzusetzen. Obwohl es in der Literatur teils auch fließende Übergänge gibt, ist beides von der Begriffsanlage her trotzdem zu unterscheiden. Insbesondere solche Netzwerkforscher, die weniger mit quantitativ-formalen Mitteln als mit Mitteln qualitativer Forschung an die Sache herangehen, unterscheiden gern zwischen einem marktförmigen und einem netzwerk- oder beziehungsförmigen Typ der Abwicklung von Geschäften. Es gibt im Wirtschaftsleben nicht nur anonym und episodisch bleibenden Geschäftskontakte, sondern auch solche, die mit dauerhaften Beziehungen, persönlicher Bekanntschaft, allmählich aufgebautem Vertrauen und einem Gefühl wechselseitiger Verpflichtung einhergehen. Letztere prägen einen anderen Stil des Geschäftslebens, und sie können unter Umständen dem Überleben der beteiligten Unternehmen förderlich sein, indem sie die richtige Einschätzung von Situationen oder die schnelle Anpassung an Veränderungen erleichtern (Dore 1983; Baker 1990; Uzzi 1996, 1999; Uzzi/ Lancaster 2003, 2004). Statt mit einer Zweierunterscheidung Markt vs. Netzwerk kann man auch mit einer Dreierunterscheidung von Markt, Netzwerk und Hierarchie (d. h. Organisation) arbeiten, wobei Netzwerke dann eine Zwischenform zwischen den beiden anderen Formen darstellen: Sie sind enger als reine Marktbeziehungen, aber lockerer als ein organisationaler Zusammenschluss (Powell 1990; Podolny/Page 1998; Jung/Lake 2011). Es wird dann untersucht, welche Form unter welchen Bedingungen – etwa: hoher oder geringer Unsicherheit – welche Vor- und Nachteile hat und welche Mischung zwischen verschiedenen Relationierungsformen für den Erfolg eines Unternehmens optimal ist (Faulkner/ Anderson 1987; Podolny 1994; Powell/Smith-Doerr 1994; Uzzi 1996, 1997; Preda 2005a). In dieser Verwendungsweise fungiert der Netzwerkbegriff dann nicht, wie in der strukturellen Netzwerkanalyse Burt’schen Typs, als Grundbegriff einer Sozialtheorie, sondern er dient zur Bezeichnung eines empirisch vorzufindenden Phänomens, das es neben anderem auch gibt. In der Sprache des Feldes ausgedrückt: „Note two common uses of the term ‘network:’ (1) […] the pattern of ties among a set of nodes; (2) a high degree of pattern in the ties among a set of nodes […]. The latter (implicit) definition is commonly found when analysts contrast ‘networks’ with ‘market’ and with ‘organization.’“ (Vgl. Podolny/Page 1998: 59; Zuckerman 2003: 549). Von der Theoriekonstruktion her herrscht jetzt
4.6 Blinder Fleck: Struktur als Selektionshorizont
225
ein Nullsummenverhältnis zwischen den Begriffen Markt und Netzwerk. Jede Einzeltransaktion eines Unternehmens hat entweder Netzwerkcharakter alias Beziehungscharakter, oder sie hat „nur“ Marktcharakter, oder – was natürlich möglich ist – sie hat Mischcharakter. Jedes Unternehmen praktiziert einen Mix aus beiden Stilen, der so oder so ausfallen, hier oder dort Schwerpunkte setzen kann, sich aber insgesamt auf hundert Prozent addiert. Und einzelne Wirtschaftsbranchen können durch den für sie typischen Stil oder historische Verschiebungen im dominierenden Stil beschrieben werden, wie etwa für die Textilbranche eine starke Beziehungsorientierung charakteristisch zu sein scheint und im Investmentbanking in jüngerer Zeit eine starke Beziehungsorientierung durch eine starke, aber nicht exklusive Transaktionsorientierung abgelöst worden ist. Es gilt: Je mehr Netzwerk, desto weniger Markt und umgekehrt. Auch dieser zweite Strang des Netzwerkdenkens geht interessanterweise auf einen Text von Granovetter zurück oder hat darin sein Manifest, nämlich auf den Text über die Einbettung von Märkten in soziale Beziehungen (Granovetter 1985). Das Verhältnis dieses Strangs zu dem Strang der strukturellen Netzwerkanalyse ist allerdings keineswegs reibungsfrei, auch wenn hier meines Wissens keine großen Kontroversen ausgetragen werden.23 Das Verhältnis beider Stränge zueinander sei hier in drei kurzen Stichpunkten – mit zunehmendem Konfliktpotenzial – charakterisiert. Erstens erfordert eine stärker qualitativ-deskriptiv ausgerichtete Forschung, dass man wieder den Charakter der einzelnen Verknüpfung betrachtet, statt nur dürre Verknüpfungsmuster zu erheben und mathematisch weiterzuverarbeiten (Powell 1990; Uzzi 1996, 1997). Das kann je nach dem entweder als Rückschritt gesehen werden, hinter die von Burt erreichte methodische Vereinfachung zurück, oder als Fortschritt, als Vorzug gegenüber einem allzu technischen, blutleeren Ansatz. – Zweitens liegt es nahe, die Unterscheidung von reinen Marktbeziehungen einerseits und Netzwerkbeziehungen andererseits mit der Unterscheidung von schwachen und starken Verknüpfungen zu assoziieren: Marktbeziehungen sind schwache, Netzwerkbeziehungen sind starke Verknüpfungen zwischen Teilnehmern. Auf diese Weise kann eine begriffliche Klammer über die Alternative Markt vs. Netzwerk gelegt werden. Es kann gewissermaßen ein „re-entry“ der netzwerktheoretischen Begrifflichkeit in sich selbst organisiert werden, sodass noch die Master-Unterscheidung Netzwerk/Markt, oder
23Auch
Granovetter selbst scheint ein eher additives Verhältnis zu den beiden Strängen zu haben (Granovetter 2005).
226
4 Netzwerke und der Charme des Konkreten
Netzwerk/Nicht-Netzwerk, mit netzwerktheoretischen Begriffen gefasst werden kann. – Allerdings tut sich an diesem Punkt dann unverhofft, drittens, ein fundamentaler Dissens auf, der beide Stränge in einem wichtiger Punkt gegeneinander stellt. Dieser liegt in der Frage, ob die besseren Informationschancen nun auf der Seite der starken oder der schwachen, der engen oder der lockeren Beziehungen liegen. Denn während die strukturelle Netzwerkanalyse schwachen oder non-redundanten Beziehungen einen Informationsvorteil zuschreibt, weil diese informativere, weniger redundante Informationen vermitteln, sind es in dem qualitativ ausgerichteten Strang genau ungekehrt „soziale Beziehungen“, also starke oder enge Beziehungen, die Zugang zu wertvollen Informationen vermitteln. Soziale Beziehungen gelten als bloßen Marktbeziehungen überlegen, dort sind die besseren, gehaltvolleren, sensibleren, verlässlicheren oder schnelleren Informationen zu erhalten – eben Informationen, die Vertrauen oder langjährige Kenntnis des Anderen voraussetzen. Platt gesagt findet die Mehrheit der Wirtschaftssoziologen – und so auch der zuletzt genannte Strang der Netzwerkforschung – soziale Beziehungen „gut“,24 während die strukturelle Netzwerkanalyse lockere, non-redundante Beziehungen „gut“ findet und die Optimierung der Zahl struktureller Löcher, also schwach vernetzter Positionen empfiehlt. Dieses Problem liegt am Zentralpunkt des netzwerktheoretischen Zugriffs: Netzwerke als Informationskanäle. Genau hier verfolgen unterschiedliche Stränge netzwerktheoretischen Denkens unterschiedliche Intuitionen, die, wie zwei entgegengesetzte Sprichwörter, beide gleich überzeugend, aber doch miteinander unverträglich sind. Obwohl alle Stränge die Grundauffassung teilen, dass Information in gewissem Maß privat ist und nicht selbstverständlich allen und überall zur Verfügung steht, kommen sie zu entgegengesetzten Schlüssen darüber, wo und wie solche wertvollen Informationen vorzugsweise fließen. Die Gegensätzlichkeit diese Auffassungen kann mit ad hoc-Hypothesen abgemildert werden, indem etwa festgestellt wird, es hänge von der Situation und von der Art der gewünschten Information ab, welcher Beziehungstyp der vorteilhaftere ist. Aber eine wirkliche gedankliche Klärung dieses Spannungsfeldes scheint noch nicht erreicht zu sein (Coleman 1988; Burt 2001a, 2001b; Zuckerman 2003).
24Gemessen an der Flut von Texten, die die Vorteile von Netzwerkbeziehungen oder sozialen Beziehungen herausstellen, wird vergleichsweise selten gefragt, ob Netzwerke oder Einbettung in soziale Beziehungen auch schlecht sein können: ob es ein Zuviel davon geben kann, etwa in Gestalt einer U-Kurve (Uzzi 1996, 1997); ob es auch „Netzwerkversagen“ geben kann, analog zu Marktversagen Schrank/Whitford (2011); und generell welche negative Folgen oder Dysfunktionen von Netzwerken sich ausmachen lassen, beispielsweise die Verwandtschaft zu Kartellen und zur partikularistischen Bevorzugung von Freunden mit Exklusion von Fernstehenden (Heimer 1991; Portes 1994; Podolny/Page 1998).
4.6 Blinder Fleck: Struktur als Selektionshorizont
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Markt als Netzwerk Die dritte, noch verbleibende Möglichkeit ist, Märkte selbst als Netzwerke zu modellieren. Diese Option wird eigentlich nur von Harrison White realisiert (White 1981; Leifer/White 1987; White 1993, 2002). Ein Beobachter notiert lapidar: „White’s view is that markets are not embedded in […] networks; they are networks“ (Preda 2005a: 453). In unserem Kontext fällt daran auf, dass Märkte offensichtlich nur dann als Netzwerke konstruiert werden können, wenn man bereit ist, zu einem nicht-konkretistischen Strukturverständnis überzugehen, sodass die Struktur des Marktes weniger aus faktisch realisierten Selektionen besteht denn aus im Hintergrund mitgeführten Selektionshilfen oder Orientierungshilfen. Mindestens ist Whites Konzeption sehr ambivalent in der Frage, an welchem Punkt konkrete, faktische Selektionen eine Rolle spielen und an welchem Punkt Selektionshorizonte, die das Treffen von Einzelselektionen noch offen lassen. Wenn man genau hinsieht, sprengt Whites Markttheorie die von vielen Netzwerktheoretikern – und auch vom frühen White selbst – formulierte Konzentration auf „real existierende Verknüpfungen“. Das lässt sich insbesondere an Whites Gebrauch des Begriffs Clique zeigen. White bezeichnet Märkte wiederholt als „greifbare Cliquen von Produzenten“ oder „selbst-reproduzierende Cliquen von Unternehmen“ (White 1981: 520, 2002). Als Clique wird im netzwerktheoretischen Sprachgebrauch ein Teilbereich eines Netzwerks bezeichnet, in dem jedes Element mit jedem anderen verbunden ist, wie in einer Freundesclique. White verwendet diesen Begriff aber in einer durchaus zweischneidigen Weise. Einerseits will er damit in der Tat sagen, dass es um einige wenige, um eine „Handvoll“ Produzenten geht, die sich untereinander im Blick haben – und nicht, wie in der Neoklassik, um idealerweise unendlich viele Produzenten, die auf einem anonymen Markt agieren und nur indirekt, über die Konsumenten, miteinander zu tun haben. Andererseits ist das aber gerade nicht so gemeint, dass die Produzenten konkrete, faktische Beziehungen miteinander eingehen müssen – weder Geschäftsbeziehungen, noch formale oder informale Kooperationsbeziehungen, noch überlappende Aufsichtsräte, noch sonst irgendwelche „wirklich vorhandenen“ Kontakte. Vielmehr handelt es sich bei der Clique um eine allgemein bekannte und als bekannt unterstellbare Rang- oder Statusordnung, der die Teilnehmer hinreichende Orientierung über erfolgversprechende und nicht-erfolgversprechende Änderungen ihrer Marktposition entnehmen können, nämlich Variationen von Menge, Qualität und/ oder Preis ihres Produkts. Diese „Hackordnung“ des Marktes, das Marktprofil, ist jedem Teilnehmer aus der normalen mitlaufenden Beobachtung der Marktes bekannt, durch selbstverständliche Branchenkenntnis, Lesen der Fachpresse und Hören von Klatsch (White 1993: 230). Sie setzt keine expliziten Kontakte
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und Informationskanäle zwischen ihnen voraus, das nötige Wissen ist unter den Marktteilnehmern unproblematisch verfügbar und muss nicht aus speziellen Kanälen bezogen werden. Das Marktprofil, als zentrale Struktur eines Marktes, ist mithin nicht ein Abbild von tatsächlich vorhandenen Verknüpfungen, sondern eher ein unterstellbarer Orientierungsrahmen, eine generative Regel oder ein mitgeführter Selektionshorizont – ein „menu of possibilities“ (Leifer/White 1987: 89) oder „menu of observed terms of trade“ (White 1993: 230). Es geht nicht um ein Diagramm konkreter Wer-mit-wem-Relationen, das festhält, wer mit wem Transaktionen durchführt oder wer mit wem Informationen austauscht. Entscheidend sind zwar Relationen – aber Relationen eher im Sinn eines Bourdieu’schen sozialen Raums, im Sinn von Abständen und Verteilungen, nicht im Sinn von Kontakten oder Verknüpfungen. Das Marktprofil ist in sachlicher, sozialer und zeitlicher Hinsicht generalisiert, es überzieht die Ebene der unmittelbar gegebenen Einzelfakten in mehreren Hinsichten. In der Sachdimension wird es durch Extrapolation oder „Interpolation“ (White 1993: 230) bekannter Punkte zu einer geglätteten Kurve gewonnen, die den Teilnehmern eine Informationsverarbeitung im „pi mal Daumen“-Modus ermöglicht, mit Papier und Bleistift statt mit Differenzialgleichungen und Grenzkostenrechnungen (Leifer/White 1987: 89). In der Sozialdimension wird unterstellt, dass das Marktprofil allen Teilnehmern bekannt ist, alle sich daran orientieren und alle davon ausgehen, dass auch die anderen sich daran orientieren; es hat mithin Öffentlichkeitscharakter im oben erläuterten Sinn und wäre sonst nicht wirksam. In der Zeitdimension wirkt das Marktprofil deshalb auch selbststabilisierend und selbstreproduzierend: Es liefert jedem Teilnehmer einen Anreiz, sich in der nächsten Produktionsperiode wieder genauso zu positionieren wie in der aktuellen Periode – wegen erwartbar dort größter Profite –, ohne aber zu garantieren, dass das in jedem Fall tatsächlich geschieht (ebd.: 96 ff.). Man kann auch sagen: Was White beschreibt, ist die operativ notwendige Selbstbeobachtung und Selbstvereinfachung des Marktes. Seine Theorie kann insofern als Theorie einer überkomplexen, sich selbst vereinfachenden Realität begriffen werden, statt als eine Theorie, der es um die Abbildung des „konkreten, tatsächlichen Geschehens“ geht. Und White wendet sich denn ja auch gegen die Vorherrschaft der üblichen, objektivistischen netzwerkanalytischen Methoden. Er erklärt, es sei ein Irrtum zu meinen, dass Soziales auf das blanke Gerippe von Verknüpfungen reduziert werden könne: „[Social] Processes […] cannot be treated properly by a network stripped-down to sheer connectivities.“ (White 1992: 84). Statt dessen müsse man auf die Vorstellung einer selbstreferenziell konstituierten, sich selbst produzierenden Welt umschalten, auf die Schaffung von Ordnung aus dem Chaos oder aus dem Rauschen (ebd.: 4). Die Welt sei ein „whirlpool of people and events“ (ebd.: 94), in der es keine einfachen
4.6 Blinder Fleck: Struktur als Selektionshorizont
229
Elementarteilchen gebe, die man nur auffinden und in ihren Verteilungsmustern durchanalysieren müsse. Auch Netzwerkverknüpfungen seien keine solchen Elementarteilchen: An apparently simple pair-tie can be seen to be a considerable social accomplishment. A context and onlookers persist in recognizable fashion, which means that some substantial interest obtains concerning the ‘simple tie.’ There also must be ambivalence and complexity built into a tie, since it is a dynamic structure of interaction in control attempts. It is this structure which is being summed up as ‘a tie,’ […] both by its members and onlookers (White 1992: 68 f.).
In seinen theoretischen Grundannahmen bewegt White sich mithin beträchtlich auf die Systemtheorie zu (White et al. 2007; Fuhse 2009).25 Was genau diese theoretischen Grundsatzoptionen für das Verständnis von Märkten und Marktstrukturen implizieren, ist noch nicht geklärt. Elemente der White’schen Theorie werden in der Wirtschaftssoziologie an vielen Stellen aufgegriffen, etwa der Gedanke der grundsätzlichen Unbeobachtbarkeit des Konsumenten und des Vorrangs der Orientierung an Konkurrenten (Lancaster/Uzzi 2012; Bühler/Werron 2014), der Gedanke des Aufsuchens von Nischens und Vermeidens von Preiskonkurrenz (Fligstein 1996, 2001b), der Gedanke von Statusdifferenzen zwischen Anbietern (Podolny 1993) und der Gedanke der Notwendigkeit der Einpassung in etablierte Nischen und der Bestrafung von Abweichung (Zuckerman 1999). Die theoretischen Tiefenschichten von Whites Theorie spielen dabei nicht unbedingt eine Rolle. Mindestens auf der Tiefenebene aber gilt, dass White in gewissem Sinn ein Abweichler ist, nämlich eine Ausnahme von der Regel, dass Netzwerktheorien auf die Ebene der konkret festnagelbaren Verknüpfungen gebucht sind. Hybridisierungen und ihre Horizonte Nur kurz und ergänzend kann man fragen, ob sich eine Konzentration der Aufmerksamkeit auf konkrete Selektionsmuster – statt auf Selektionshorizonte – auch bei der methodisch wilderen „Schwester“, der Akteur-Netzwerk-Theorie, feststellen lässt.
25Trotz
großer Ähnlichkeiten bestehen aber auch deutliche Unterschiede. Anders als Luhmann macht White etwa starke apriori-Annahmen über den Modus der Bildung von Ordnung aus dem Chaos: Diese folgt bei ihm eben dem Prinzip einer Hackordnung oder Rangordnung. Für White ist die Hierarchie das Grundmodell sozialer Ordnung (White 1992: 23 ff.). Dagegen gibt es in der Systemtheorie keine Vorannahmen darüber, welche Ordnungsprinzipien infrage kommen – dies kann eine hierarchische Struktur sein, es kann aber auch eine andere, etwa eine funktionale Ordnung sein (Luhmann 1984: 404 ff.).
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4 Netzwerke und der Charme des Konkreten
Die Akteur-Netzwerk-Theorie lässt sich faszinieren durch immer neue Konstellationen von Akteuren, Aktanten und Artefakten, die sich an irgendwelchen Schnittpunkten des sozialen Geschehens zusammenfinden und neue, überraschende Entwicklungen einleiten. Sie betont deshalb den Topos des Wandels, der Neuheit, der Hybridisierung, der laufenden Umformung des Sozialen, während auf der anderen Seite die relativ konstanten Selektionshorizonte, aus denen diese Konstellationen zusammengemischt werden, unterbelichtet bleiben. Akteur-Netzwerk-Theoretiker sagen, nichts sei konstant, nichts gerinne zu festen Formen, alles sei stets offen für Neuordnung und Neuarrangement (Latour 1993, 1996, 2005; Hogle 2009; Faulkner 2012). Weder seien die angeblich ontologisch gegebenen Grenzen zwischen Menschen, Tieren und Artefakten absolut und unüberschreitbar, noch seien die Grenzen zwischen gesellschaftlichen Teilbereichen wie Wissenschaft, Wirtschaft und Politik fix und zementiert, vielmehr sei alles in ständigem Fluss, finde sich in einem ewig sich drehenden Karussell aus Verknüpfung und Neuverknüpfung. [A]ll those heterogeneous elements might be assembled anew in some given state of affairs. […] A new vaccine is being marketed, a new job description is offered, a new political movement is being created, a new planetary system is discovered, a new law is voted, a new catastrophe occurs. In each instance, we have to reshuffle our conceptions of what was associated together because the previous definition has been made somewhat irrelevant (Latour 2005: 5 f.).
Analog zur oben angesprochenen Annahme zur Stabilität von Märkten (wie bei Baker/Faulkner/Fisher 1998) kann man vermuten: So wie die strukturelle Netzwerkanalyse die Stabilität eines Marktes nur in der Konstanz der beteiligten Personen oder Unternehmen sehen kann, so würde die Akteur-Netzwerk-Theorie Stabilität nur in der Aktivierung der immer selben Spieler in der immer selben Konstellation sehen. Da dies nicht der Fall ist, konstatiert sie die Omnipräsenz von Wandel und Neuarrangement. Was darüber untergeht, ist die relative Konstanz der Auswahlhorizonte, aus denen Spieler rekrutiert und neu zusammengemischt werden. Wenn ein neuer Impfstoff entwickelt, ein neues Gesetz verabschiedet, ein neuer U-Boot-Antrieb entwickelt wird, ändert sich natürlich nicht die ganze soziale Welt; vielmehr bleiben sehr viele Strukturen, Institutionen, beschränkende Bedingungen und steuernde Rationalitäten auch dieselben. Geändert werden kann immer nur ein Bruchteil der sozialen Realität. Es wird deshalb auch im Rahmen der Akteur-Netzwerk-Theorie gelegentlich vorsichtig darauf hingewiesen, dass bei allen punktuellen Neuheiten doch auch viele Rahmenbedingungen des Geschehens intakt bleiben, von bürokratischen Routinen über Budgetrestriktionen bis zu Großmachtpolaritäten (Frickel 1996).
4.7 Blinder Fleck: Immaterialität von Sinn
231
Neues kann sich immer nur vor dem Hintergrund des Alten und Konstanten profilieren – eine Weisheit, die aus der Beobachtung der Mode schon lange bekannt ist. Erst recht setzen so komplexe Gebilde wie moderne Wissenschaft und Technologie mit ihrer ganzen Innovationsintensität langfristig stabile, über Jahrhunderte oder Jahrtausende evoluierende Strukturen voraus. Nicht umsonst sind sich viele soziologische Grundlagendenker darin einig, dass die Reproduktion sozialer Ordnung gegenüber der Frage nach Wandel der basalere Sachverhalt ist (Luhmann 1990b: 104 f.; Bourdieu 2013: 288 ff.). Die AkteurNetzwerk-Theorie optiert hier anders, weil sie die jeweils faktisch realisierte Auswahl von Elementen betont und die unspektakuläre Konstanz des Pools der verfügbaren Elemente abblendet. Die Leichtigkeit, mit der die Akteure der Akteur-Netzwerk-Theorie die Welt verändern, wird von Kritikern gelegentlich irritiert notiert. „For [Latour and Callon], the social order is the entirety of manifest social activity, which means that more or less by definition anything that an agent does reconstitutes and in a sense transforms the social order. […] In the narratives of actor-network theory human beings construct and manipulate their world, overcome resistance, create and then realize interests, with amazing facility. […] [J]ustice is not done to the manifest difficulty in carrying out such projects. These are projects […] as likely to end in frustration and failure as in success. But actor-network studies seem attracted to success and pleased to fashion it into mock-heroic history.“ (Barnes 2001: 343 f.) Barnes vermisst eine angemessene Würdigung von Widerständen und Scheiternswahrscheinlichkeiten. In letzteren schlägt sich indes nicht nur mangelndes Geschick oder Glück von Akteuren nieder, sondern auch die bei allem doch unhintergehbare Konstanz der Welt – die Trägheit der im Hintergrund bleibenden und im je dramatischen Geschehen vorausgesetzten Strukturen.
4.7 Blinder Fleck: Immaterialität von Sinn Das grundlegendste Merkmal von Sinn als Medium des Sozialen ist seine Immaterialität und Horizonthaftigkeit. Es ist deshalb unmöglich, Sinnverknüpfungen oder Sinnverweisungen in methodisch exakter Weise, etwa im Stil einer physikalischen Theorie, zu traktieren. Die technischeren Varianten von Netzwerkanalyse neigen dazu, diese Unwägbarkeiten des Sinnmediums gegenüber den methodischen Notwendigkeiten der Erhebung von Verknüpfungsnetzen hintanzustellen, mit der Gefahr, komplexe Sinngefüge auf den Null/Eins-Modus von vorhandenen und nicht-vorhandenen Verknüpfungen zu reduzieren, auf „fossilierte Kanäle sozialen Austauschs […], die zwischen zwei Knoten entweder
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4 Netzwerke und der Charme des Konkreten
existieren oder nicht“ (Holzer 2006a: 86). Das ist schon gesagt worden, und es drückt sich im Bereich der Wirtschaftssoziologie etwa in der schon erwähnten Form aus, dass unzählige Daten zu Vernetzungsstrukturen erhoben werden – etwa zu Kooperationsnetzwerken oder Aufsichtsratsverflechtungen zwischen Unternehmen –, ohne dass immer klar wäre, was sie in einem qualitativen Sinn überhaupt bedeuten: wie viel Einfluss sie auf Entscheidungen des Unternehmens haben, ob sie eher Ursache oder eher Wirkung des Unternehmenserfolgs (oder -misserfolgs) sind und eine wie große Rolle im Vergeich zum institutionellen, kulturellen oder politischen Umfeld sie spielen (Fligstein/Brantley 1992; Mizruchi 1996). Es soll abschließend noch gefragt werden, ob auch die Akteur-NetzwerkTheorie auf ihre Weise einen solchen „physikalistischen“ Bias hat – eine Präferenz für die harte, messbare Seite der Realität gegenüber ihren weicheren, flüchtigeren, ungreifbareren Seiten. Obwohl diese Theorie keinen Wert auf naturwissenschaftlich exakte Methoden legt (Latour 1997), kann man doch manchmal den Eindruck haben, dass Akteur-Netzwerk-Theoretiker Dinge von ihrer physikalisch-harten Seite her anfassen an Punkten, an denen man ebenso gut auch immaterielle Sinnqualitäten der Sache ins Zentrum stellen könnte. Das gilt etwa an einer Stelle, wo Latour (1990) die Bedeutung des Buchdrucks und die dadurch ausgelöste Revolution in den Bedingungen der Wissensproduktion diskutiert. Für Latour bedeutet die Druckerpresse einen Schub in der Verknüpfbarkeit von Wissenselementen und Wissensorten: Texte und Bilder, die vorher verstreut in einzelnen Bibliotheken und daher in vielfältigen, mehr oder weniger stark differierenden Versionen vorhanden gewesen seien, könnten nun über weite Territorien verbreitet werden, sie würden reisefähig und mobil, und zwar in veränderungsresistenter Weise mobil („immutable mobiles“). Botanische Tafeln beispielsweise könnten nun vielfach in identischer Form gedruckt und an Bibliotheken verteilt werden, in der Folge könnten verschiedene Varianten nebeneinandergelegt und verglichen werden, Abweichungen könnten identifiziert und beseitigt werden. Im Effekt würde Wissen zunehmend verfestigt werden, sodass der Skeptiker es zunehmend schwer habe, das aus vielerlei Quellen gespeiste Wissen anzufechten. So plausibel das ist – wenn man diese Beschreibung neben Luhmanns Beschreibung desselben Sachverhalts hält, sieht man, dass Latour stark den gewissermaßen physischen Aspekt der Sache betont: die Produktion identischer Exemplare, die Transportfähigkeit, den geografischen Ort, an dem Bücher oder sonstige Artefakte sich befinden, die physische Berührung des vorher Getrennten und Isolierten. Luhmann dagegen betont – vor einem kommunikationstheoretischen und damit sinntheoretischen Hintergrund – zunächst an Schrift und dann an Buchdruck fast das Gegenteil (Luhmann 1990b: 154 ff., 216 ff.; Kieserling 1997; Luhmann 1997: 249 ff.). Er betont nämlich das Entstehen einer neuen Distanz
4.7 Blinder Fleck: Immaterialität von Sinn
233
zwischen Sender und Empfänger einer Kommunikation, zwischen Autor und Leser eines Buches, die jetzt räumlich, aber auch zeitlich weit voneinander entfernt sein können. Deshalb steigerten Schrift und Buchdruck gerade die Ablehnbarkeit, die Bezweifelbarkeit, die Negierbarkeit von Kommunikation. Zunächst beseitige Schrift interaktionsbasierte Hemmungen gegen das Widersprechen, das Nein-Sagen, und vervielfältige damit den Pool der verfügbaren Ansichten und Argumente. Der Buchdruck beseitige dann den Fokus auf Reproduktion und Kopie, der bis dahin im Wissensmanagement der Gesellschaft dominiert habe; er mache den Kopiervorgang unproblematisch und ermögliche dadurch eine Orientierung der Kommunikation auf Innovation, auf Abweichung, auf Dissens, oder auch auf das Beobachten von Beobachtern, von deren Fehlern und blinden Flecken. Die Druckerpresse ist für Luhmann mindestens ebenso sehr ein Stimulans von Widerspruch, ein Treiber der Mobilisierung und Kontingentsetzung von Wissensansprüchen, wie sie eine Quelle ihrer Konsolidierung ist. Sie mobilisiert und destabilisiert Wissen, sie vermehrt die Menge von Dissens, die die Gesellschaft ertragen muss. Dies gilt sowohl für den Wissenshaushalt der Gesellschaft insgesamt mit all seinen religiösen, politischen, massenmedialen, wissenschaftlichen usw. Komponenten, als auch für die wissenschaftliche Kommunikation in sich, die ja ebenfalls durch Kontroversen und Auffassungsdifferenzen getrieben ist. Sicherlich haben beide Autoren auf ihre Weise Recht, und hat die Druckerpresse sowohl zur Verfestigung als auch zur Verunsicherung von Wissen beigetragen, je nachdem, von welcher Seite aus man die Sache betrachtet. Aber das ist eben der Punkt: Latour sieht an diesem Prozess die Seite der Verfestigung, die der physischen Festigkeit und Reisefähigkeit von Wissensträgern entspricht; Luhmann sieht die Seite der Verunsicherung, die den subtileren, sinnmäßigen Bedingungen der Wissensverarbeitung entspricht.26
26Was
die sinnmäßige Prozessierung von Wissen betrifft, so würde Luhmann im Übrigen auch betonen, dass die Reichweite von Kommunikationen mit dem Übergang zur modernen Gesellschaft in gewisser Weise auch schrumpft, obwohl sie natürlich technologisch gesehen explodiert. Sie schrumpft jedoch im Sinne des Einziehens von Grenzen zwischen Sinnprovinzen, sodass etwa die Bedeutung botanischer oder geologischer Schriften beschränkt wird auf die Sphäre des naturwissenschaftlichen Diskurses, unter Ausblendung theologischer Implikationen und Kappen des Anschlusses an den Schöpfungsdiskurs, mit dem sie gerade nicht mehr abgeglichen werden müssen. Ihre Reichweite wird sinnmäßig eingeschränkt, auch wenn sie physikalisch auf den ganzen Erdball ausgedehnt wird. Dies ist ein gängiger Doppelprozess: funktionale Spezifikation, mithin Verengung, auf der einen Seite, bei gleichzeitiger territorialer Ausweitung und Vereinheitlichung auf der anderen Seite (Luhmann 1977: 34 f., 2000: 77).
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4 Netzwerke und der Charme des Konkreten
Bei Michel Callon findet sich in einem ganz anderen Zusammenhang eine ähnliche Neigung zu einem physikalistischen Verständnis von Prozessen. Callon diskutiert das Problem des Übergreifens oder Überschwappens von Problemen von einem Gesellschaftsbereich auf den anderen – von Wirtschaft auf Wissenschaft, von Wissenschaft auf Politik usw. Er betont, dass ein solches Überschwappen stets die Form physikalischer Flüsse, dass es stets ein materielles Substrat haben müsse: „[T]he overflow […] cannot be intangible. […] [T]hese entitites […] may be chemical substances, sound waves rippling outwards, texts, scientific articles, patents, or researchers or engineers on secondment or moving to other institutions. […] [N]o link can exist unless it follows a trajectory plotted by a material object acting as the medium for the [overflow].“ (Callon 1998a: 256 f.). So richtig es ist, dass es Wechselwirkungen zwischen Funktionsbereichen gibt, so sehr ist es doch eine physikalistische Verengung hier auf materiellen Trägern zu bestehen. Tatsächlich können Rückwirkungen und Resonanzen zwischen Funktionsbereichen ebenso gut auch immaterieller Art sein – so etwa, wenn wissenschaftliche Wahrheiten religiösen Botschaften die Plausibilität oder einfach den Sinnbedarf entziehen, oder wenn Innovationen in Finanzmärkten dem politischen System Gestaltungsmöglichkeiten entziehen. Dergleichen kann als Weiterwandern von physikalischen Entitäten gar nicht beschrieben werden und hat seine Dynamik vielmehr in einer ganz und gar unsichtbaren und immateriellen Dimension.27 Und dieselbe Neigung ist schließlich auch in Bezug auf das Selbstverständnis der Theorie und des Theoretikers zu beobachten. In einem Interview mit Latour ist dokumentiert, wie dieser reagiert, wenn er mit der subtilsten Sinnfrage konfrontiert wird, die man einem Wissenschaftssoziologen stellen kann: welchen Status denn seine eigenen Wissensansprüche haben, wenn doch jede Wahrheit, jede Objektivität, jede Beobachtung der Welt-wie-sie-ist für unmöglich erklärt wird. Als Antwort verweist Latour in naiv-empiristischer Weise auf seine physische Anwesenheit im Labor. Der Interviewer will wissen, wie Latour sich selbst als Ontologen bezeichnen könne und ob das nicht einen Gottesstandpunkt, einen Beobachterstandpunkt außerhalb der von ihm beschriebenen Welt voraussetze. Latour antwortet empört, gerade er sei doch nicht außerhalb, er sei doch vielmehr
27Es
ist charakteristisch, dass Callon sogar dort, wo er die erschwerte Wahrnehmbarkeit und Identifizierbarkeit eines solchen Überschwappens diskutiert, diese noch in einem physikalischen Sinn versteht: Manche Substanzen seien unsichtbar, geruchslos oder sonstwie schwer zu entdecken, etwa Gifte oder Radioaktivität. Die noch viel radikalere Unsichtbarkeit von „Überschwapp“prozessen im Sinnmedium entgeht ihm.
4.8 Fazit
235
ganz tief drin, nämlich mitten im Labor. „Wieso kann man sagen, daß ich mich außerhalb der Situation stelle, um ein Labor zu untersuchen? Ich begebe mich im Gegenteil so nahe wie möglich an seine alltägliche Existenz“ (Latour 1997: 46 f.). Der Interviewer muss mehrmals nachfragen, denn Latour versteht die Frage als eine, die auf der Ebene physischer Fakten geklärt werden kann, nicht als eine im Sinnmedium angesiedelte Frage nach Beobachterstandpunkten.28 Was der strukturellen Netzwerkanalyse ihr Methodenpositivismus, ist der AkteurNetzwerk-Theorie der physikalistische Zugriff: die Hoffnung, die Realität zu fassen zu kriegen, indem man sie an ihrem physischen Substrat packt.
4.8 Fazit Luhmann (1993b) hat in seiner Abschiedsvorlesung die zwei großen Fragen der Soziologie so formuliert: „Was ist der Fall, und was steckt dahinter?“ Das Versprechen des Netzwerkbegriffs liegt darin, diese beiden Fragen in eins zu ziehen. Die Analyse von Netzwerken soll Aufschluss geben sowohl über das konkrete Geschehen – wer mit wem zu tun hat – als auch über die versteckten Triebkräfte hinter den Dingen – wie der Lauf der Welt zu erklären ist. Man braucht nur eine Ebene, um Faktisches und Hintergründiges sehen zu können; das Hintergründige ergibt sich einfach durch Weiterverfolgen der vorliegenden Verknüpfungen und Herausfinden von Mustern darin. Es gibt nur die eine Ebene des Netzwerks. Nichts führt über das Netzwerk hinaus, denn jede Erweiterung ist eben eine Erweiterung des Netzwerks. Netzwerktheorien sind deshalb monistische Theorien, die alle Arten von Dualismen für erledigt erklären: Akteur/Struktur, Subjekt/Objekt, Struktur/Prozess, Mikro/Makro oder was immer sonst (Shapin 1988: 547; Barnes 2001: 343 f.). Netzwerkanalyse ist deshalb auch etwas, von dem man nicht so genau weiß, ob es eine Theorie oder eine Methode ist, und was sich oft im Grenzbereich zwischen beidem bewegt.
28Dasselbe
physikalistische Selbstverständnis konnte die Autorin auf einer Bielefelder Tagung zu Finanzmärkten an Karin Knorr-Cetina beobachten, die Befunde aus ihrer teilnehmenden Beobachtung von Devisenhändlern vorstellte. Sie wurde gefragt, ob man als Außenstehender und Nicht-Fachkundiger denn überhaupt beobachten könne, was die Händler mit ihren Monitoren und auf ihren elektronischen Handelssystemen so trieben (im Sinn von: Versteht man, was sie tun? Hat man die nötigen Beobachtungskategorien?). Sie antwortete: „Klar kann man das, ich war doch da“, und zeigte ein Foto, das ihre physische Anwesenheit im Handelsraum belegte.
236
4 Netzwerke und der Charme des Konkreten
Das ist zweifellos verlockend, aber, wenn die hier angestellten Überlegungen zutreffen, letztlich eine trügerische Hoffnung. Nur in der Proklamation, nicht in der Durchführung lassen sich die beiden Ebenen des Faktischen und des Dahintersteckenden symmetrisch im Blick behalten. In der Durchführung wird das, was der Fall ist, gegenüber dem, was dahintersteckt, privilegiert. Wenn nur Verknüpfungen zwischen Elementen als die Elementarteilchen der zu beschreibenden sozialen Realität akzeptiert werden, fallen viele nicht weniger wichtige, aber weniger sichtbare oder weniger festnagelbare Aspekte der sozialen Realität durch das Raster des Beobachters. Die „harten Fakten“ verdrängen die weicheren, subtileren, nicht unmittelbar fakten- und aktenkundigen Realitätsschichten. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass die „soziale“ Seite an Wirtschaft oder Wissenschaft, die den überobjektivierten Beschreibungen der Ökonomen und Epistemologen entgegengehalten wird, hier allzu direkt als das unmittelbarste Soziale verstanden wird. Die paradigmatisch soziale Aktivität ist das „socializing“, das Herumhängen und Reden mit anderen. In Netzwerktheorien wird daraus die Verknüpfung mit anderen. Das ergibt aber im Endeffekt eine zu enge Vorstellung von sozialen Strukturen und Prozessen. Es ist natürlich richtig, dass es nichts Soziales geben kann, ohne dass in irgendeiner Weise Menschen miteinander zu tun haben. Gleichzeitig gibt es aber keine eins-zu-eins-Entsprechung zwischen dem, was konkret im Kontakt zwischen Menschen geschieht, und dem, was soziale Ordnung in ihrer ganzen Tiefe und Komplexität ausmacht. Es gibt auch schweigende Mehrheiten, imaginierte Gemeinschaften, weit in die Welt projizierte Herrschaftsansprüche, latent wirkende Traditionen, schleichende Umwertungen usw., die sich zwar immer mit irgendwelchen Zipfeln ihrer selbst in konkreten Kontakten zwischen Menschen manifestieren, sich darauf aber nicht reduzieren lassen, in ihrer ganzen Bedeutung dadurch nicht erfassen lassen. Armin Nassehi (2014) vermutet, die Soziologie habe einen „sozialen Bias“. Er meint damit die Bevorzugung der Sozialdimension, der Ego/Alter-Dimension, über die Sachdimension und die Zeitdimension. Die Netzwerktheorie hat einen sozialen Bias im Sinn einer Bevorzugung dessen, was der Urform des sozialen Kontaktes, dem „socializing“ nahekommt. Je komplexer soziale Ordnungen werden, desto weniger entsprechen sie aber in ihrer Gänze dieser Form, und desto mehr geht verloren, wenn man sie allein mit dieser Brille betrachtet.
5
Schlussbetrachtung: Die Autonomie der Soziologie
5.1 Die Autonomie der Soziologie Die Soziologie legt Wert auf ihre Autonomie. Sie hat ihren eigenen, unverwechselbaren Stil der Beschreibung sozialer Realität, sie bietet oft überraschende und verfremdende Perspektiven, die Alltagsgewissheiten „brechen“ und in ungewohnte Querbeleuchtung setzen.1 Sie ist nicht „käuflich“, sie identifiziert sich nicht vorschnell mit bestimmten Perspektiven oder Standpunkten, sondern ist immer offen für abweichende Sichtweisen und Verhaltensweisen, Gegenrealitäten und Gegenentwürfe. Fragen von Konformität und Abweichung, Identität und Differenz, Notwendigkeit und Kontingenz sind Dauerthemen soziologischen Denkens. Die Autonomie der Soziologie hat dabei sowohl eine institutionelle Dimension, in Form von Instituten, Zeitschriften, Konferenzen usw., als auch eine intellektuelle Dimension, in Form eigener Begriffe, Theorien, Problemhistorien (zu diesen beiden Ebenen von Systembildung Schmidt 2005). Wie kann disziplinäre Autonomie erreicht werden? Wichtige Anhaltspunkte dazu kann man Stichwehs Forschungen zur Herausbildung der modernen wissenschaftlichen Disziplinen im 18. und 19. Jahrhundert entnehmen (Stichweh 1984). Für ihn treiben zwei Bedingungen die Autonomisierung von Disziplinen voran, die sich für viele Naturwissenschaften auf die Jahrzehnte vor und nach 1800 konzentrieren. Erstens treten vermehrt interne Unsicherheiten und Kontingenzen auf, die einen Zwang zur Selbstordnung und selbstreferenziellen Problemkonstitution
1Nach
Bourdieu (1998b: 19) ist Autonomie die „Brechungsstärke“ eines soziales Feldes, d.h. die Fähigkeit, äußere Impulse nach eigenen Maßstäben zu verarbeiten und äußere Zwänge bis zur Unkenntlichkeit umzugestalten.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 B. Kuchler, Die soziale Seite an Wirtschaft und Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23104-0_5
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238
5 Schlussbetrachtung: Die Autonomie der Soziologie
mit sich bringen. Dies ist eine Folge der explosionsartigen Vermehrung der verfügbaren Daten sowie der Steigerung des Auflösevermögens und der Radikalität des Fragens, die durch die Erosion alter, noch kosmologisch gehaltener Gewissheiten und Fragesperren möglich wurden. Zweitens stellt das sich herausbildende Feld anderer Disziplinen für jede einzelne Disziplin ein stimulierendes Umfeld dar, das permanente Anregung bietet und sie unter Konkurrenz- und Profilierungsdruck setzt, zur Schärfung eines eigenen disziplinären Zugangs nötigt.2 Stichweh führt das am Beispiel von Mathematik und Physik aus, die sich in dieser Zeit aus der alten Ordnung von Wissensbereichen heraus entwickeln, nämlich aus der Hierarchie von Historie – Philosophie – Mathematik, verstanden nicht als getrennte Gegenstandsbereiche, sondern als komplementäre Zugänge zur selben Welt. In der genannten Umbruchszeit entwickeln sowohl Mathematik als auch Physik je eigene disziplinäre Wissensbestände, Arbeitstechniken und Fragestellungen, die nicht mehr ineinander übersetzbar oder verrechenbar sind. Das ermöglicht dann auch wechselseitige Anleihen und Anregungen, ohne dass es zu einer Reintegration der disziplinären Perspektiven kommt. Die Physik etwa erreicht ihre disziplinäre Schließung paradoxerweise gerade auf dem Weg ihrer Mathematisierung, weil die mathematische Raffinesse ihr erlaubt, sich von Amateursinteressen abzusetzen, und die mathematische Präzision – im Gegensatz zum vorher üblichen lockeren experimentellen Beobachten – ihr eine schnellere Problemprogression und Kumulation von Ergebnissen ermöglicht. Bei all dem bleiben die disziplinären Diskussionskontexte und Arbeitsstile aber getrennt und nur locker aneinander gekoppelt: Mathematik ist für Physiker nur eine Methode, und die Widerlegung einer physikalischen Hypothese besagt normalerweise nichts für die mit ihr verbundene mathematische Theorie und umgekehrt. Sind die Disziplinen einmal getrennt, werden auch Misch- oder Grenzformen wie Physikomathematik und theoretische Physik unter den Druck der Dissoziation gesetzt und müssen sich der einen oder anderen Seite zuordnen (Stichweh 1984: 173 ff.).
2Ein
analoger Doppelprozess kann eine Differenzierungsebene höher auch für die Herausbildung der Funktionssysteme der modernen Gesellschaft beschrieben werden (Luhmann 1977: 242 ff.; Stichweh 1984: 42). Zum einen findet sich jedes Funktionssystem vor einen verstärkten Selbstordnungszwang gestellt, ein verstärktes Verwiesensein auf eigene Ordnungsgrundlagen infolge der Auflösung der überkommenen Ordnung und alten Selbstverständlichkeiten. Zum anderen kommt es zu einer Umordnung des Umweltverhältnisses in einer zunehmend polykontextural angelegten Gesellschaft, die jedes einzelne Funktionssystem zu einer sektoralen Existenz zwingt, was sowohl neue Freiräume als auch Profilierungszwänge mit sich bringt (Vgl. dazu auch oben Kap. 2).
5.1 Die Autonomie der Soziologie
239
Soweit man diesen Befund generalisieren kann, kann man auch die disziplinäre Autonomie der Soziologie als Produkt eines solchen Doppelprozesses aus verschärfter Selbstreferenzialität und verstärkter Außenabgrenzung verstehen. Und man kann vermuten, dass jene beiden Teilprozesse hier schwerpunktmäßig durch allgemeine Theorien einerseits und durch Spezialsoziologien andererseits bedient werden. „Grand theories“ arbeiten an der Formulierung grundlegender Fragen, der Entwicklung esoterischer Begrifflichkeiten, unwahrscheinlicher Problemstellungen und gewagter Vergleiche – mit Tilly (1984) gesprochen an „big structures, large processes, huge comparisons“. Hier liegt die selbstreferenzielle Unruhe und Problemkonstitution, die im Negativen in Nabelschau, unfruchtbares Begriffsjonglieren und Theorievergleichen mündet, im Positiven aber einen Kristallisationskern disziplinspezifischer Problemfokusse hervorbringt. Spezialsoziologen arbeiten sich an der Differenz zu je einer Nachbardisziplin ab. Sie schärfen und schleifen die Grenze, profilieren das Fach gegenüber älteren und oft statushöheren disziplinären Konkurrenten und festigen dadurch die Unverwechselbarkeit eines soziologischen Zugriffs. Wenn das so ist, dann hängen diese beiden Sparten von Soziologie darin nolens volens auch zusammen und sind aufeinander angewiesen, da nur beides zusammen die disziplinäre Identität und Autonomie reproduziert. Beide Seiten müssen deshalb auch in einem höheren Sinn die Existenzberechtigung und Fruchtbarkeit der je anderen Seite anerkennen, wie immer man auf der täglichen Arbeitsebene Ressentiments pflegt und die Fehler, Naivitäten und Unterkomplexitäten der anderen beklagt. Der Theoretiker muss zugeben: Abgesehen davon, dass sie den Begriff „sozial“ ruinieren, leisten die Spezialsoziologen wertvolle Arbeit im Erschließen von Problemfeldern und Erobern von Terrain, das erst einmal anderen Disziplinen abgerungen werden muss und das der Theoretiker selbst und „barfuß“ nicht betreten könnte. Und Forscher in Spezialsoziologen müssen zugeben: Abgesehen davon, dass sie arrogante und abgehobene „grand theorists“ sind, sind Theoretiker doch ganz nützlich zur Schaffung eines ausreichend weiten disziplininternen Horizontes und ausreichender disziplinärer Gravitationskraft, um anderen Disziplinen etwas entgegensetzen zu können. Mindestens in der gelegentlichen Selbstreflexion müssen beide Sparten ein solches Respektsverhältnis zueinander entwickeln und darin den Umstand würdigen, dass sie nur beide zusammen als Teilsparten einer gemeinsamen Disziplin existieren können. Man könnte natürlich sagen: Die Rede von „der“ Soziologie sei ein fiktiver Kollektivsingular. Die Soziologie als Einheit gebe es gar nicht, es gebe nur eine Vielzahl disparater Subsoziologien und Forschungsfelder mit je eigenen
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5 Schlussbetrachtung: Die Autonomie der Soziologie
rioritäten und Qualitätsstandards (Stinchcombe 1994; Davis 2001),3 und geneP rell bestehe die Einheit von akademischen Disziplinen oder Professionen nicht in irgendeinem unverwechselbaren intellektuellen Kern, sondern nur in mehr oder weniger künstlicher institutioneller Etablierungsarbeit, die entlang wechselnder Linien und Gelegenheitsfenster mit wechselndem Erfolg geleistet werde (Campbell 1969; Abbott 1988). Aber bei aller Spezialisierung in Subdisziplinen, die ihre eigenen Problemstellungen, Paradigmen, Klassiker entwickeln und sich institutionell wie intellektuell gegenüber anderen Subsoziologien profilieren, geht dies nach Mehrheitsmeinung in der soziologischen Selbstreflexion doch nicht so weit, dass die Einheit der Soziologie als solcher gänzlich verschwinden würde. Die Soziologie hat nach wie vor einen starken inneren Zusammenhang, qua Durchlässigkeit für überlappende Ideen und Interessengebiete (Ennis 1992; Abbott 2000, 2001; Moody 2004) und qua integrierenden, nämlich fachweit relevanten Konflikten zwischen konkurrierenden Theorieschulen (Collins 2001). So heterogen die Themeninteressen und Arbeitsweisen von Soziologen sind, so wichtig sind doch auch Querbezüge, übergreifende Fragestellungen und allgemeine Begriffe. Die Soziologie ist nicht nur eine künstliche, zufällige Zusammenrottung oder eine historisch verwehende Einheit von Arbeitsmarktforschern, Familienforschern, Medienforschern, Jugendforschern, Sozialtheoretikern und Statistikern, sondern sie kristallisiert sich um bestimmte, nur hier bediente Fragestellungen herum an. Diese drehen sich letztlich um das Problem sozialer Ordnung – ein Problem, das zwar in vielen Varianten und Facetten, aber doch mit Wiedererkennbarkeit verfolgt werden kann.4
3Das
kann man positiv oder negativ sehen, begrüßen oder beklagen. Stinchcombe scheint sich auf der ersten Seite zu positionieren, wenn er das Schätzenswerte an der Soziologie den jeweiligen Einzelfeldern, das Problematische an ihr aber der Gesamtheit zuschreibt: „[D]isintegrated disciplines with many different and incompatible standards for what is good work […] [such as] history, philosophy, and sociology […] have similar problems in justifying their continued existence. […] What is good in them does not depend on the disciplines’ corporate existence; what is bad in them discredits the disciplines.“ (Stinchcombe 1994: 270). 4Mit Blick nicht speziell auf die Soziologie, sondern auf wissenschaftliche Binnendifferenzierung allgemein meint auch Stichweh, dass die Segmentierung in Disziplinen im 20. Jahrhundert durch denselben Prozess auf subdisziplinärer Ebene ergänzt, aber nicht abgelöst werde. „Die ungeheure Veränderungsdynamik, die das Wissenschaftssystem der Moderne auszeichnet, wird durch die Genese eines milieu interne anderer wissenschaftlicher Disziplinen ausgelöst, das jedes einzelwissenschaftliche Geschehen unter die Bedingung der Konkurrenz und der Anregungswirkung anderer wissenschaftlicher Disziplinen versetzt. Der sich einhundert Jahre später (im 20. Jahrhundert) abzeichnende Wechsel des Primats von disziplinärer zu subdisziplinärer Differenzierung radikalisiert den gleichen Vorgang noch einmal, ohne seine soziologische Form zu ändern“ (Stichweh 2003a: 14).
5.2 Autonomie durch Abgrenzung: Hartnäckige Reproduktion …
241
Soweit man also die Idee einer disziplinären Einheit der Soziologie nicht ganz aufgibt, muss man deren disziplinäre Autonomie als ein gemeinsames Projekt von allgemeinen Theorien und Spezialsoziologien sehen, oder – wenn das zu harmonistisch formuliert ist – als Produkt einer spannungsreichen, aber gleichwohl realen Arbeitsteilung zwischen ihnen. Wir wissen aus anderen Fällen, dass das arbeitsteilige Zusammenwirken von Subsystemen kein harmonisches, widerspruchsfreies und konfliktfreies Verhältnis zwischen den Teilen voraussetzt. Arbeitsteilung auf struktureller Ebene ist nicht identisch mit reibungsloser Kooperation und gutem Einvernehmen auf Handlungsebene. Es genügt, dass das Gesamtsystem einen Ordnungsrahmen für das in ihm Geschehende zur Verfügung stellt, dass es Beitragsrichtungen spezifiziert und Komplexität vorreduziert; Spannungen, Reibungen, Konflikte zwischen den Komponenten sind dann durchaus inbegriffen (Luhmann 1971b, 1981c, 2010).5 Die jeweiligen Beiträge zur disziplinären Autonomie und Grenzerhaltung bestehen eben darin, dass die einen konzertierte Abgrenzungsarbeit nach außen leisten, indem sie sich gegen andere Disziplinen positionieren und Raum für soziologische Deutungen herausschneiden, getrieben durch Widerspruchszwänge, während die anderen in selbstherrlicher Begriffshoheit ihrer Konstruktionsarbeit nachgehen, getrieben durch Konsistenzzwänge. Diese beiden Seiten der Autonomiearbeit der Soziologie sollen in ihrer Unterschiedlichkeit und Komplementarität abschließend noch kurz diskutiert werden.
5.2 Autonomie durch Abgrenzung: Hartnäckige Reproduktion von Disziplingrenzen Die Gegnerschaft zu den Fachdisziplinen ist in diesem Buch bisher vor allem als Problem vorgekommen: als eine Art Obsession von Spezialsoziologien, die sich dadurch in ihrer Begriffswahl steuern und teils auf problematische Spuren setzen lassen.
5Luhmann
führt das etwa in seiner politischen Soziologie aus, mit Blick auf das spannungsvolle Verhältnis zwischen Parteipolitik einerseits und Staatsapparat oder Verwaltung andererseits: „Eine soziologische Theorie des politischen Systems bietet […] Raum für den Gedanken, daß Politik und Verwaltung verschiedene, funktional spezifizierte und somit getrennt operierende Systeme kommunikativer Informationsverarbeitung sind, die aber als Teilsysteme aufeinander angewiesen sind, sich wechselseitig ihre Autonomie lassen und miteinander kooperieren müssen. Eine Systemtheorie kann nämlich Handlungszusammenhänge funktional und strukturell als Einheit begreifen auch dann, wenn sie den Handelnden als kontrovers und konfliktreich erscheinen, ja, sie vermag die Funktion dieser Kontroversen selbst zu deuten.“ (Luhmann 2010: 125 f.).
242
5 Schlussbetrachtung: Die Autonomie der Soziologie
Es soll abschließend noch ein freundlicherer Blick auf diesen Punkt geworfen und gezeigt werden, inwiefern die Soziologie sich darin auch in ihrer disziplinären Identität bewährt, in Stichwehs Sinn Profilierungsarbeit nach außen leistet. Auch wenn hier eine große Zahl von (Teil-)Grenzen angesprochen ist – etwa gegenüber Ökonomik, Epistemologie, Politologie, Pädagogik, Theologie, Jurisprudenz usw. –, ist an jeder dieser Grenzen immer auch die Identität der Soziologie im Ganzen involviert. Die dort aufbrechende Kluft trennt nicht nur Wirtschaftssoziologen und Ökonomen, sondern Soziologen und Ökonomen, nicht nur Wissenschaftssoziologen und Epistemologen, sondern Soziologen und Epistemologen, usw. Stark stilisiert kann man sagen, dass außersoziologische Disziplinen an bestimmten Sachproblemen ansetzen, etwa: Wie ist Welterkenntnis möglich?, oder: Was sind effiziente und weniger effiziente Strukturen? Dabei gehen sie von Unterscheidungen wie Subjekt/Objekt oder Ressource/Output aus. Dagegen setzt die Soziologie an Sozialproblemen an, komprimierbar auf das Problem: Wie ist soziale Ordnung möglich? Sie stützt sich dabei auf Unterscheidungen wie Subjekt/Subjekt, Ego/Alter, Konsens/Dissens, Konformität/Devianz, Institution/Innovation o. ä. Diese Differenz der Perspektiven bleibt durch jahrzehntelange Kontakte und Kontroversen hindurch intakt. Bei allen interdisziplinären Berührungen und Reibungen schwächt sie sich nicht etwa ab, zerreibt sich nicht in viele kleine, diffuse, beliebig mischbare und rekombinierbare Teilfragen, vielmehr werden die Disziplingrenzen durch alle Turbulenzen, alle partiellen Anleihen und Annäherungen, Übergriffe und Übernahmeversuche hindurch immer wieder reproduziert. Interessanterweise bezog sowohl die konstruktivistische Wissenschaftssoziologie als auch die neuere Wirtschaftssoziologie in ihrer Anfangszeit wichtige Impulse aus einem intellektuellen Projekt, das irgendwie im Grenzgebiet zwischen Soziologie und der jeweiligen Fachdisziplin angesiedelt war und als eine Art Brückenschlag oder Fühlerausstrecken dazwischen angesehen werden kann. Im einen Fall war dies die Kuhn’sche Theorie wissenschaftlicher Revolutionen, die das Wissenschaftsverständnis für weniger rationalistische Sichtweisen öffnete. Im anderen Fall war es die Institutionenökonomik, die sich von der Ökonomik aus an ursoziologische Probleme wie Norm und Konformität, Unsicherheit und Vertrauen, begrenzte Rationalitäten und vorläufige Brauchbarkeiten heranwagte. Trotz dieser Anfangsimpulse bilden sich aber in beiden Fällen keine nennenswerten Konvergenz- und Kooperationszonen zwischen den Disziplinen heraus. Zu beobachten ist weniger eine Dynamik von Annäherung und Integration als eine Dynamik von Angriff und Verteidigung, von einseitiger oder wechselseitiger Provokation, von empfundenen Übergriffen und Selbstbehauptungsreaktionen. Es zeigt sich hier das Gewicht und die Trägheit disziplinärer Identitäten, die, wenn sie einmal etabliert sind, in allen Außenkämpfen nur geschärft und profiliert werden.
5.2 Autonomie durch Abgrenzung: Hartnäckige Reproduktion …
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Die Welt in meinen Augen: Epistemologie vs. Soziologie Man betrachte folgende mögliche Zugriffe auf das Problem von Wissen oder Erkenntnis, die der Sozialepistemologe Steve Fuller formuliert. [C]onsider two strategies for generating some philosophically interesting ‘problems of knowledge’: – Strategy A: 1. The thing I know best is the thing with which I have had the most direct acquaintance, namely, my own mind. After all, without it, I could not have made this very observation. But my mind is possibly not all that exists. 2. How, then, do I determine whether other possible things exist, and, if they exist, how can I know them, given that they seem different from my own mind? – Strategy B: 1. We ordinarily experience everyone (and everything) as living in the same world. Yet, as people articulate their experience, it becomes clear that there are significant differences in the aspects of the world to which we have direct access. 2. What, then, accounts for these differences in access to our common reality, and what enables us to ignore them in everyday life, as we suppose that our own access is the one shared by all (right-minded) people? – Whereas Strategy A operates within the scene of inquiry that unites Descartes and Quine, Strategy B operates within the scene that is presupposed by the sociology of knowledge. […] Strategy A poses the problem of knowledge inside-out: How do we get out of our individual heads and into some common reality? Strategy B poses it outside-in: How do we get beyond our common reality and into the mind-sets that separate people? (Fuller 1993: 161)6.
Es ist offensichtlich, wie fremd der erste Zugriff dem Soziologen – und zwar jedem Soziologen – ist. Er wurzelt in einer ganz anderen Denktradition und setzt einen ganz anderen Denkstil voraus, den der Philosophen. Das Bewusstsein ist traditionell ein Lieblings „ding“ der Philosophen, beliebter Ausgangspunkt und unhintergehbarer Bezugspunkt allen Denkens, während für den Soziologen das individuelle Bewusstsein eine eher unzuverlässige und fluktuierende Größe ist, anfällig für allerlei Irrtümer, Verzerrungen und Zufälligkeiten. Eine ähnliche Kontrastierung wie diese findet sich auch bei David Bloor, der ebenfalls zwei mögliche Ansatzpunkte einer Theorie des Wissens gegenüberstellt. We should ask: what are our paradigm cases of knowledge and inference? That is to say: what are the undisputed and central cases? One plausible answer for us to give would be: scientific knowledge and scientific inference. Another plausible candidate
6Fuller
formuliert diese Kluft in der Absicht, sie zu überwinden oder zu überbrücken, was er durch Naturalisierung erreichen will, also durch Umstellung von einem normativen, über-empirischen Ansatz zu Methoden „normaler“ empirischer Wissenschaft. In Fullers Augen unterscheiden sich nur die nicht-naturalisierten Versionen der beiden Fragen so drastisch, während die naturalisierten Versionen näher beieinanderliegen oder aneinander herangeführt werden können. Für unsere Zwecke ist Fullers Syntheseversuch weniger interessant als die Kluft, die die Bemühung um Synthetisierung motiviert.
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5 Schlussbetrachtung: Die Autonomie der Soziologie
would be common-sense knowledge and inference, that is to say, what ‘everyone’ knows, and what ‘anybody’ would assume or infer within some more or less familiar range of cases and circumstances. Such paradigm cases would constitute, so to speak, the centre of gravity of our enquiries. It could provide a baseline with which to assess unusual, peripheral, problematic or hypothetical cases (Bloor 1992: 136).
Bloors Unterscheidung Wissenschaft/Alltagswissen ist nicht identisch mit Fullers Unterscheidung Bewusstsein/Alltagswissen, aber beide sind ähnlich in der Art der jeweiligen Sicherheiten oder Gewissheitspunkte, die vorausgesetzt werden: einmal rationale Methodik, Logik, Beweisbarkeit, Schlüssigkeit, das andere Mal eine Art soziale Absicherung und Bestätigung, ein als unproblematisch erlebter sozialer Konsens. Die soziale Sicherheit, für Soziologen das Nonplusultra und die Unhintergehbarkeit schlechthin, gilt den Philosophen wenig, sie ist bloß zufällige empirische Gegebenheit und beweist nichts. Die Menge kann ja irren. Umgekehrt gilt logische Sicherheit dem Soziologen wenig, denn diese kann ja beispielsweise eine Sondersemantik bestimmter Kreise sein, sie kann Ideologie und schöner Schein sein, und generell wird man soziologisch vermuten, dass die „Dinge der Logik“ und die „Logik der Dinge“ weit auseinanderfallen (Bourdieu 2005: 8), dass soziale Gebilde nicht auf Logik beruhen, sondern umgekehrt der Gebrauch von Logik durch die Struktur sozialer Gebilde bestimmt wird (Luhmann 1981c). In dieser radikalen Umformung aller Fragen sprechen Wissenschaftssoziologen immer auch für die Soziologie im Ganzen. Sie bereiten das Feld für andere, die die soziale Konstitution von Wissen jeder Art – auch des härtest-möglichen Wissens: der Logik, der Mathematik, der Naturwissenschaften –als gesicherten Befund voraussetzen können. Umgekehrt haben sie in solchen Frontstellungen immer auch die Wucht einer ganzen Disziplin im Rücken und könnten die Differenz sonst gar nicht so scharf formulieren. So fällt auf, mit welcher Unbekümmertheit Soziologen den Gegenstandsbezug des Wissens wegstreichen oder einklammern, mithin den traditionellen Kern des Wissensbegriffs. Ich erinnere noch einmal an Bloors Wissensdefinition, wonach all das Wissen ist, was in sozialen Kontexten als Wissen akzeptiert und prozessiert wird, ohne Rücksicht auf seine „Richtigkeit“, „Wahrheit“, „objektive Gültigkeit“, die ja ohnehin nicht festgestellt werden kann.7 Darin ist Bloor jedenfalls bis zu einem bestimmten Punkt einig etwa mit Luhmann. Dieser stellt fest, es gehe nicht um das
7Hier
noch einmal der Wortlaut der Definition: „[K]nowledge for the sociologist is whatever people take to be knowledge. It consists of those beliefs which people confidently hold to and live by.“ (Bloor 1976: 2).
5.2 Autonomie durch Abgrenzung: Hartnäckige Reproduktion …
245
„Erscheinen des Seins“ (Luhmann 1970: 233), sondern um die Übertragung von Selektionen von einem Teilnehmer auf den anderen; die erkenntnistheoretische Grundunterscheidung Erkenntnis/Gegenstand müsse abgeschafft und durch das Konzept der Beobachtung von Beobachtern ersetzt werden (Luhmann 1990b: 92). Letztlich bewegen sich hier alle Soziologen auf gemeinsamem Boden.8 Ersetzt wird die Frage nach dem Gegenstandsbezug durch irgendeine Variante der Frage nach sozialer Ordnung – durch die Frage nach Konsens/Dissens und Institutionalisierung (Bloor u. v. a.), oder die Frage nach Interessen (Bloor, Barnes u. v. a.), oder die Frage nach Steigerung unwahrscheinlicher Kommunikationsleistungen (Luhmann), oder die Frage nach Vernetzung/Isolierung (Latour), oder die Frage nach Zivilisierung und Affektkontrolle (Elias), usw. Die Varianten sind zahlreich, aber immer gestützt auf eine lange disziplinäre Tradition, in der seit Durkheim, Mannheit und Berger/Luckmann die sozialen Grundlagen des Wissens thematisiert worden sind. Dagegen ist aus epistemologischen Zugängen die Frage nach dem Gegenstandsbezug, nach der Erkenntnisrelation oder Subjekt/Objekt-Relation, nicht eliminierbar. Andernfalls würde der Epistemologie ihr Problem verloren gehen. Das gilt auch für „naturalisierte“, empirisierte Version von Erkenntnistheorie, die etwa kognitionspsychologisch, evolutionstheoretisch oder sozialepistemologisch ansetzen (Giere 1988, 1989; Fuller 1991, 1993): Sie stellen die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis in Richtung auf mehr Empirizität um und geben den klassisch philosophischen, überempirischen, normativen Zugriff auf die Sache auf, aber sie verzichten nicht auf die grundsätzliche Frage „Wie ist Erkenntnis möglich?“. Epistemologen können zwar Abbildverhältnisse streichen, können relativieren, historisieren, naturalisieren, aber sie können den Bezug auf die Relation Erkenntnis/Gegenstand nicht ganz streichen, sonst verlieren sie ihre Fragestellung und Existenzgrundlage.
8Dies
gilt auch dann, wenn manche den Gegenstandsbezug oder das Erkenntnisproblem an nachrangiger Theoriestelle wieder einführen und auf die Notwendigkeit einer soziologischen Erkenntnistheorie verweisen (siehe Kap. 1). Aber auch wenn dies geschieht, geschieht es auf soziologisierter Grundlage, also nachdem ein Problem in der Sozialdimension nach vorne gestellt und das Problem des Gegenstandsbezugs auf zweite, durch Vergleichsfälle relativierte und kontrollierte Theorieplätze verwiesen wurde. Man kann dann etwa sagen, dass eine komplexere Gesellschaft sich auch eine komplexere Welt leisten kann (Luhmann 1990b), oder dass durch Zivilisations- und Kontrollfortschritte eine Einschränkung der Projektionsneigung und insofern eine weniger systematisch verzerrte Weltsicht erreicht werden kann (Elias 1990) – ohne dass dabei aber an ein Herankommen an eine Welt-an-sich gedacht wäre und ohne dass soziale Prozesse und soziale Probleme die Führung verlieren würden.
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5 Schlussbetrachtung: Die Autonomie der Soziologie
Es prallen hier zwei disziplinäre Problemtraditionen und zwei Denk- und Diskussionsstile aufeinander.9 Philosophisches Denken ist in der abendländischen Tradition auf rationales Beweisen und logisches Schließen gebaut – etwa auf definitorische Allgemeinheiten, Allsätze und Dreisätze –, die in der Soziologie wenn nicht wertlos, so doch nachrangig und stets relativierbar sind. In der Philosophie sind sie das Unrelativierbare, das Gültige schlechthin; wenn man sie aufgäbe, würde man die Möglichkeit rationalen Denkens und Argumentierens überhaupt aufgeben. Philosophen haben deshalb eine für Soziologen schwer nachvollziehbare Obsession für logische Sauberkeit und einen heiligen Horror vor Zirkelschlüssen (z. B. Fuller 1993; Brown 1994; Goldman 2006; Wheeler/Pereira 2008). Umgekehrt kann man sicher sein, dass Soziologen von Philosophen – und ebenso von Ökonomen und Angehörigen mancher anderer Disziplinen – eine unerträgliche Undiszipliniertheit, Unfokussiertheit und Unsauberkeit im Denken und Argumentieren bescheinigt wird. Soziologie gilt als Laberfach, als Fach für unkontrolliertes Herumschwafeln – weniger deshalb, weil es intern tatsächlich keine Kontrollen gäbe (obwohl auch das nicht völlig falsch ist), sondern vor allem deshalb, weil Angehörige anderer Disziplinen die soziologiespezifischen Restriktionen und Ordnungslinien nicht sehen und nicht verstehen. Was dem Philosophen logische Vollständigkeit, Unwiderlegbarkeit, Schlüssigkeit, ist dem Soziologen die Normalität und Selbstverständlichkeit des Alltagslebens. Dies ist für ihn eine unhintergehbare Realitätsebene, auch wenn ihr die Hundertprozentigkeit der Philosophen fehlt und sie nur in sozialen Erwartungen und Sanktionen, Peinlichkeits- und Stigmatisierungsschwellen, Explikations- und Initiativlasten abgesichert ist. Hierzu noch einmal Bloor: To say ‘everybody knows (some proposition) p’ doesn’t mean: ‘for all A, if A is an individual, A knows p’. It means: everybody in their right mind knows p, or, every normal person, or every competent member of society, knows p. It means that nobody can be blamed for assuming that p would be known. There is an implicit norm in such assertions. They refer not to some bland universal generalization, but to some shared and sanctionable standard (Bloor 1992: 137).
Jede Disziplin hat ihre eigenen Unausweichlichkeiten, Totalitäten, Totschlagargumente. Die tragenden Generalisierungen der Soziologie sind keine Allsätze,
9Die
Epistemologie ist zwar keine in sich geschlossene Disziplin, sondern mit vielfältigen disziplinären Anschlüssen ausgestattet. Sie ist aber stark in der Philosophie gegründet, schließt an Jahrhunderte Erkenntnistheorie an und muss sich in diesem Kontext bewähren.
5.2 Autonomie durch Abgrenzung: Hartnäckige Reproduktion …
247
sondern typisch (!) Verweis auf Typisches, Normales, Erwartbares – immer mit Toleranz für Streuung, Abweichung, Ablehnung, Provokation.10 Die Differenz der disziplinären Perspektiven ist denn auch im Zeitverlauf bemerkenswert stabil und hält die jeweiligen wissenschaftlichen „communities“ über Jahrzehnte hinweg weitgehend getrennt. Zwar hatte Kuhn mit seiner Demontage der Idee ungebrochener wissenschaftlicher Rationalität und kumulativen Fortschritts ein Stück gemeinsamen Boden erschlossen für Wissenschaftshistoriker, Wissenschaftssoziologen und heterodoxe Epistemologen. Sein Paradigmenrelativismus schlägt eine Schneise auch für die Soziologie, sich in neuer Weise den Inhalten wissenschaftlichen Wissens zuzuwenden, an die die klassische Mannheim’sche Wissenssoziologie und Merton’sche Wissenschaftssoziologie sich nicht herangetraut hatten.11 Aber schon bald sortiert sich das Feld wieder in das soziologisch basierte Forschungsfeld der „Science and Technology Studies“ (STS), das enger Kuhnianisch ausgerichtete Feld der „History and Philosophy of Science and Technology“ (HPST) und die Sozialepistemologie als eine soziologienahe Richtung epistemologischen Denkens. Die STS versteht sich zwar als interdisziplinär und ist bereit, ihren Nachwuchs breit zu rekrutieren, auch unter Wissenschaftsphilosophen, Wissenschaftshistorikern und Naturwissenschaftlern. Sie bleibt aber von der Denkweise her in der Soziologie verankert, ihr „intellektueller Schwerpunkt“ liegt in der Soziologie (Fuller 1993: 158), und Teilnehmer mit anderer disziplinärer Herkunft müssen gründlich resozialisiert werden, um in der feldtypischen Denkkultur anzukommen (Sismondo 2012). Bei aller partiellen Übernahme von Theoremen – etwa: Theoriegeladenheit von Beobachtungen und Unterbestimmtheit der Theorie durch
10Das
gilt sowohl für die normative wie für die kognitive Dimension sozialen Lebens. Normen enthalten ihrem innersten Sinnkern nach Vorkehrungen für Abweichungen und Gebrochenwerden und wären sonst keine. Aber auch kognitive Kategorien des Welterlebens sind typischerweise (!) um einige klare, paradigmatische, typische Fälle herum gebaut und enthalten daneben untypische, unklare oder umstrittene Fälle (Espeland/Stevens 1998; Zuckerman 1999; Hannan 2010). 11So lautet die Gründungserzählung der konstruktivistischen Wissenschaftssoziologie: Mannheim sei zu „feige“ oder zu „nervenschwach“ gewesen, um sein Theorem der Seinsgebundenheit des Wissens auch auf Naturwissenschaftler anzuwenden, und Merton habe in taktvoller strukturfunktionalistischer Zurückhaltung nur Normen wissenschaftlichen Handelns und Dynamiken wissenschaftlicher Stratifikation (Matthäuseffekt) untersucht, also nur Randaspekte der Wissenschaft, nicht aber die Inhalte wissenschaftlichen Wissens. Sympathisanten von Mannheim und Merton bezeichnen diese Darstellung allerdings als übertrieben und sehen die klassischen Ansätze nicht als gleichermaßen steril für die Analyse wissenschaftlichen Wissens (Zuckerman 1988; Cole 1997; Pels 1996).
248
5 Schlussbetrachtung: Die Autonomie der Soziologie
Daten – ist ihre Ausrichtung ausdrücklich „anti-philosophisch“ und „anti-epistemologisch“ (Woolgar 1981: 369; Shapin 1995: 297), und ein wichtiger STS-Autor, Latour, kann als „Anti-Kuhn“ präsentiert werden (Sismondo 2012). Denn während Kuhn bei aller Betonung von Non-Kumulativität und Rationalitätsbrüchen prinzipiell immer noch in einem kognitiven Modus an die Sache herangeht und Paradigmen, Gestaltsehen usw. betont, denkt Latour gar nicht mehr in der kognitiven Dimension, spricht nicht mehr von Paradigmen, sondern behandelt alle Ideen, Theorien und Paradigmen bestenfalls als Label, die hinterher, bei der „Verblackboxung“ von vorläufigen Beobachtungen und Hypothesen zu Fakten, auf die Produkte wissenschaftlicher Forschungs- und Bastelarbeit aufgeklebt werden. Auch und gerade wenn die STS das komplette Feld der Wissenschaftsforschung aufzurollen versucht, bleibt das eine „einseitige Liebesaffäre“ (Jasanoff 2000: 623), die auf der anderen Seite eher als Kriegsfront wahrgenommen und mit breiter Ablehnung des „eliminatorischen Ansatzes“ und „durchgedrehten Konstruktivismus“ der STS beantwortet wird (Laudan 1981; Brown 1984; Nola 1991; Kuhn 1992; Fuller 1993; Kim 1994). Auf der anderen Seite bildet sich – teils in Auseinandersetzung mit der Wissenschaftssoziologie – die Sozialepistemologie als ein Strang einer naturalisierten Epistemologie heraus. Diese interessiert sich für Fragen von kollektiver Kognition oder verteilter Kognition: für Kognition als arbeitsteilige Leistung statt als Leistung eines sei’s einsamen, sei’s maschinenartigen oder computerartigen Erkenntnissubjekts (Fuller 1988; Goldman 2006; Solomon 2008). Sie behandelt dann etwa Aggregationsprobleme, also Fehler und Irrationalitäten beim Zusammenfügen individueller Erkenntnisse zu einem Gesamtbild, aber auch Chancen kognitiver Arbeitsteilung, also Verbesserung von Erkenntnismöglichkeiten durch Verteilung der Kognitionsarbeit auf einen Ideenraum, in dem Nischen mit größerer und geringer Erfolgswahrscheinlichkeit zu besetzen sind und wo für vollständige Besetzung aller Nischen dann auch Seiteninteressen wie das Interesse an Reputation oder Ruhm produktiv sein können (Kitcher 1990; Goldman/Shaked 1991). All dies bleibt aber in der epistemologischen Grundfrage verankert, wie Erkenntnis möglich ist oder wie gutes, brauchbares, hochwertiges Wissen zustande kommen kann. Ein Wissensbegriff wie der Bloors, wonach alles Wissen ist, was als Wissen akzeptiert wird, erscheint auch Sozialepistemologen als unsinnig und eliminatorisch (Goldman 2006). So fällt denn auch auf, dass STS, HPST und naturalisierte Epistemologie stark getrennte Zitiercluster bilden, zwischen denen sich kaum systematische Querbezüge ausbilden. Autoren jenseits der Disziplingrenze werden relativ selten zitiert, und wenn, dann in recht wahlloser und sorgloser Weise – ganz so, wie es
5.2 Autonomie durch Abgrenzung: Hartnäckige Reproduktion …
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für Zitationen im interdisziplinären Raum üblich ist, wo man nicht damit rechnen muss, dass der Zitierte sie liest und darauf reagiert. Ein Beobachter notiert die mangelnde Trennschärfe und Auflöseschärfe, mit der manche STSler sich auf post-klassische, naturalisierte Epistemologen beziehen: It is interesting that many members of the [sociological] constructivist school do not see some of the […] [naturalized epistemologists] as being opposed to their position. In fact these […] are frequently positively cited by constructivists. This is because all of […] [them] have rejected the stereotyped view of positivism that the constructivists have set up as a straw man and therefore on some issues can be seen as having the same views as the constructivists. […] But although scholars like […] [these] will reject the same stereotyped positivism that Kuhn rejected, they are also just as opposed to the relativism that is at the heart of the constructivist program (Cole 1997: 276).
Nun gibt es getrennte Zitiercluster und lockere Quer-Zitationen natürlich auch innerhalb von Disziplinen, etwa innerhalb der Soziologie zwischen verschiedenen Subsoziologien. Aber hier ist die Lockerung des Zusammenhangs vor allem durch thematische Diversität und fehlende thematische Einschlägigkeit von Beiträgen bedingt. Im Fall von STS, HPST und Sozialepistemologie sind die Beiträge von Autoren verschiedener Seiten für die je anderen thematisch hoch einschlägig, können aber wegen der unterschiedlichen disziplinären Verankerung trotzdem nur begrenzt verdaut werden. Die Welt in meinen Augen: Ökonomik vs. Soziologie Man kann sagen: Ökonomen und Soziologen unterscheiden sich dadurch, dass erstere mit gut strukturierten, zweitere mit schlecht strukturierten Problemen zu tun haben. Erstere suchen beste Lösungen und beste Strategien (Optima, Gleichgewichte, Effizienzen, Rationalitäten), und sie setzen entsprechend gut spezifizierte, klar konturierte Probleme voraus, die meist sogar mathematisch-formelhaft formuliert werden können. Für zweitere sind solche Situationen bestenfalls ein seltener Sonderfall, während im Normalfall des sozialen Lebens solche Vereinfachungen nicht vorausgesetzt werden können und es vielmehr um Orientierung und Abstimmung in offenen, überraschungsreichen, interpretationsbedürftigen Lagen geht. Soziologen interessieren sich für Ordnungsfragen, die weit unterhalb (oder oberhalb) von Optimierungsfragen liegen – oberhalb deswegen, weil Optimierungsprobleme ein hohes Maß an Ordnung schon voraussetzen, mithin weniger weitreichend sind als Ordnungsprobleme. Ökonomen sind Effizienzdenker; das Grundproblem aller Ökonomik ist das Problem der effizienten Allokation von Ressourcen. In der Neoklassik steht
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5 Schlussbetrachtung: Die Autonomie der Soziologie
hier das Zauberwort des Gleichgewichts, wie immer es erreicht werden mag: durch einen gedachten Auktionator, durch spieltheoretische Verrechnung der Präferenzen aller gegen alle, durch Konkurrenzprozesse auf dem Markt. Aber auch heterodoxe Richtungen der Ökonomik – wie Institutionenökonomik, Informationsökonomik oder (Neu-)Keynesianismus – kommen von der Frage nach Effizienz nicht weg. Die Annahme ist immer, dass es effizientere und weniger effiziente Lösungen gibt: dass Arrangements existieren, weil sie effizient sind, oder wenn nicht, dann ist ihre Ineffizienz, die Möglichkeit oder Stabilität von Nicht-Gleichgewichts-Situationen das zentrale Problem, an dem die Theorie sich abarbeitet. Ökonomen haben deshalb immer klare Empfehlungen – wenn auch oft stark divergierende Empfehlungen –, was die richtigen, effizientesten Entscheidungen, Strategien, Strukturen, Politiken sind. Das trägt ihre Praxisrelevanz, ihre große Beachtung insbesondere in der Politik. Ihre Empfehlungen mögen sich als brüchig, widersprüchlich, irrig oder krisenträchtig erweisen, sie scheinen deshalb nicht weniger unverzichtbar als Rat und Orientierungshilfe für Entscheider zu sein.12 Dagegen rührt die notorische Praxisirrelevanz der Soziologie daher, dass sie mit solchen klaren Empfehlungen nicht dienen kann (Fligstein 2001b: 9). Soziologen leben in einer überkomplexen Welt, die voll ist von unerwarteten Dynamiken, umwälzenden Innovationen, kreativen Interpretationen, kollidierenden Interessen und kulturellen Diversitäten. Eine solche Welt kennt keine einzig-richtigen Lösungen. Effizienz ist deshalb für Soziologen eher eine Nebelkerze – bestenfalls ein Faktor neben anderen, schlimmstenfalls eine kulturelle Fiktion und semantische Schaumschlägerei. Die eigentliche Frage ist: Wie wird überhaupt Stabilisierung und Orientierung in der Welt gewonnen, wie bilden sich Muster, Erwartbarkeiten, Sicherheiten des Handelns und Erlebens heraus, die es möglich machen, dass die bunten sozialen Formen sich entwickeln können, die wir beobachten können? Auch Märkte können, ebenso wie alles andere, keine Effizienzarrangements sein, statt dessen sind sehr viel offenere Fragen zu stellen wie: „What social rules must exist for markets to function, and what
12Den
Ökonomen hilft dabei der Umstand, dass sie in einer wunderbar zweidimensionalen Welt leben, in der letztlich alles zwischen den beiden Richtungen „Rauf“ und „Runter“, „Mehr“ und „Weniger“ aufgespannt ist. Alle relevanten Variablen – Preise und Mengen, Gewinne und Verluste, Risiken und Transaktionskosten – lassen sich quantifizieren und entlang einem Mehr-oder-Weniger-Kontinuum anordnen. Wie immer komplex dann die angesetzten Berechnungen und Modelle sind, so kommen doch am Schluss immer Aussagen heraus, die sich leicht in Praxisempfehlungen übersetzen lassen, weil sie ein Mehr oder Weniger von etwas – Schätzenswertem oder Vermeidenswertem – implizieren.
5.2 Autonomie durch Abgrenzung: Hartnäckige Reproduktion …
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types of social structures are necessary to produce stable markets?“ (Fligstein 2001b: 10) Was interessiert, sind nicht Bewertungen auf einer eindimensionalen Besser/Schlechter-Achse, sondern komplexe Bedingungszusammenhänge und Bedeutungszusammenhänge, in denen soziale Strukturen geschaffen, stabilisiert oder problematisiert werden. Für Soziologen gilt: Nur schlecht strukturierte Probleme sind reale Probleme, oder auch: Nur was unentscheidbar ist, können wir entscheiden.13 Beide Seiten pflegen und verteidigen ihre jeweilige disziplinäre Sichtweise mit derselben Unbeirrbarkeit, wie das auch für Wissenschaftssoziologen, Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftsphilosophen gilt. Fast schon ritualisiert ist in diesem Zusammenhang die Kritik an den unrealistischen Annahmen, die insbesondere neoklassische Ökonomen ihren Modellen zugrunde legen – rationale Akteure, transitive Präferenzen, vollständige Information, Marktteilnehmer als Preisnehmer usw. –, und die routinierte Abwehr dieser Kritik durch Ökonomen: Man kritisiere nicht Annahmen, sondern Ergebnisse (Friedman 1953). Aber auch sonst gibt es ein hohes Maß an wechselseitigem Unverständnis und Achselzucken. Die formal-exakten Modelle der Ökonomen entlocken Soziologen nach wenigen Seiten die Frage der Relevanz und des Realitätsbezugs; sie erscheinen ihnen als unerträgliche Übersimplifizierung der realen Welt, die an den relevanten Fragen gerade vorbeigeht (Hirsch/Michaels/Friedman 1987). Umgekehrt bleibt Ökonomen an soziologischen Texten unverständlich, wozu solch unfokussiertes Räsonieren gut sein soll und worauf es hinausläuft. Hierzu lässt sich ein willkürlich herausgegriffener Kommentar zu einem interdisziplinär besetzten und als Dialogversuch angelegten Sammelband (Rauch/Casella 2001) zitieren: [Economists] cannot quite figure out what a paper written in […] [a sociologist’s] style could possibly accomplish. They fault […] [him] for never developing the model beyond the metaphorical stage to a point where testable causal claims are made, and […] for not motivating the paper through an appeal to ‘‘real’ consequences … (that might) concern economists … such as those associated with efficiency or distribution …’. Why might anyone be interested in a paper with these faults? […] Yet if we allow ourselves to be interested in a set of outcomes that is somewhat broader than efficiency and distribution […], there is much to learn from […] [this] chapter (Zuckerman 2003: 557).
13Letzteres
ist ein Ausspruch des Kybernetikers Heinz von Foerster (1993: 73): „Nur die Fragen, die im Prinzip unentscheidbar sind, können wir entscheiden. Warum? Einfach weil die entscheidbaren Fragen schon entschieden sind durch die Wahl des Rahmens, in dem sie gestellt werden, und durch die Wahl von Regeln, wie das, was wir ‘die Frage’ nennen, mit dem, was wir als ‘Antwort’ zulassen, verbunden wird“.
252
5 Schlussbetrachtung: Die Autonomie der Soziologie
Wiederum beschäftigt diese Front oder diese Differenz nicht nur Wirtschaftssoziologen, sondern reicht tief in gesamtsoziologische Denktraditionen hinein, ist darin abgesichert und gibt umgekehrt Impulse an breitere Debatten zurück. So ist die Feststellung, dass es nicht Effizienz ist, die über die Wahl von Strukturen entscheidet – sondern was immer: Netzwerke, Beziehungen, Macht, Legitimität, kulturelle Traditionen, institutionelle Umwelten, kognitive Konstrukte –, einerseits der kleinste gemeinsame Nenner unzähliger wirtschaftssoziologischer Studien (z. B. Fligstein 1990; Abolafia 1996; Fligstein 1996; Granovetter/McGuire 1998; Zorn 2004; Davis 2005; Zorn et al. 2005). Andererseits liegt sie aber auch einer ganzen allgemeinen Theorie zugrunde: dem Neoinstitutionalismus, die fachuniversalen Geltungsanspruch erhebt und in vielen Spezialsoziologien Anwendung findet (Meyer/Rowan 1977; DiMaggio/Powell 1983; Thomas et al. 1987; Meyer 2005). Aber auch der Funktionalismus setzt richtig verstanden auf den Vergleich verschiedener funktional äquivalenter Lösungen. Obwohl von vielen Soziologen mit Effizienzdenken in einen Topf geworfen, geht es ihm nicht um die Identifizierung einzig richtiger, einzig möglicher oder „funktional notwendiger“ Lösungen, sondern um den strukturierten Vergleich mehrerer möglicher Lösungen, an denen gerade ihre Austauschbarkeit – und nicht: ihre relative Vorteilhaftigkeit oder Nachteilhaftigkeit – interessiert (Luhmann 1970a).14 Auch Grenzgänger wie Gary S. Becker oder die Institutionenökonomik bewirken letztlich nicht, dass die Differenz der Disziplinen an Schärfe verliert.15 Für die Wirtschaftssoziologie relevant ist vor allem die Institutionenökonomik – mit ihren Spielarten Transaktionskostentheorie, Prinzipal-Agenten-Theorie und Theorie der Eigentumsrechte –, die sich teils durch klassisch soziologische Fragen wie die nach Institutionen, Recht, „Opportunismus“ und regelbrechendem
14In
der Gleichsetzung der Kategorien Effizienz und Funktionalität (wie etwa bei Fligstein 2001b; Fligstein/Dauter 2007; Davis 2005; Schrank/Whitford 2011) beginnen dann Missverständnisse innerhalb der Soziologie, die u. a. in der Frontfixierung von Wirtschaftssoziologen auf die Ökonomik gegründet sind. Hier beginnen mithin die problematischen, kritikwürdigen oder reflexionswürdigen Aspekte der Differenzierung in Subsoziologien. Auf die verbreitete Gleichsetzung von funktionalistischer Systemtheorie und idealisierenden Fachdisziplinen komme ich gleich noch einmal zurück. 15Im Gefolge von Becker bildet sich zwar eine Fraktion hartgesottener Rational-Choice-Theoretiker in der Soziologie, die alle sozialen Phänomene mit diesen Theoriemitteln traktieren. Hier liegt eine wichtige transdisziplinäre Querbefruchtung, aber im Modus lockerer Kopplung – mit partiellen Übernahmen und Anregungen, aber ohne unmittelbare Kontinuität zwischen beiden Seiten. Auch konsequente RC-Forschungen in der Soziologie sind nur begrenzt anschließbar an ökonomische Diskussionen mit ihren
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Handeln hat inspirieren lassen. Soziologen fühlten sich dadurch aber nicht etwa geehrt, ernst genommen und zu einem gemeinsamen Erkenntnisprojekt aufgerufen; vielmehr sahen sie sich einem imperialistischen Übernahmeversuch ausgesetzt und zum Gegenangriff oder zur „Gegeninvasion“ aufgefordert, nämlich dazu, nun Märkte mit soziologischen Mitteln untersuchen (Zelizer 1988; Carruthers 1996; Beckert/Diaz-Bone/Ganßmann 2007; Convert/Heilbron 2007).16 Exemplarisch nachzuverfolgen ist dies an Granovetters (1985) programmatischem Gründungstext der Neuen Wirtschaftssoziologie, der sich gegen die Institutionenökonomik wendet. Die Institutionenökonomik kann als der Versuch gesehen werden, die Soziologie von der Ökonomik und der Frage nach Effizienz aus zu „schlucken“: Auch soziale Strukturen, die nicht die Form des Marktes haben – etwa Hierarchien, Normen, Netzwerke –, existieren deshalb, weil sie unter bestimmten Bedingungen letztlich die effizienteren sind, etwa bei hoher Unsicherheit oder hohen Transaktionskosten. Dagegen verkündet Granovetter den Versuch in Gegenrichtung, nun von der Soziologie aus die Ökonomik zu „schlucken“ oder jedenfalls die Eigenständigkeit und Nicht-Reduzierbarkeit der Soziologie zu verteidigen: Märkte sind immer schon eingebettet in soziale Strukturen,
extrem spezialistischen Themensträngen und durchformalisierten Modellgenealogien. Umgekehrt bleibt die radikale Übertragung des RC-Denkens auf andere soziale Felder als Wirtschaft, die für Soziologen gerade den Reiz und die Provokation ausmacht, für normale Ökonomen, wie immer schmeichelhaft, letztlich doch neben der Sache. Übernommen werden nur die Grundgedanken – individuelle Nutzenmaximierung – oder nur die Methode, aber es kommt nicht zur Reintegration disziplinärer Diskussionskontexte. Dies erinnert an das Verhältnis von Physik und Mathematik in der Beschreibung durch Stichweh (1984). 16Die
Gründungserzählung der Neuen Wirtschaftssoziologie berichtet oft auch einfach von einem neuen Mut und einer neuen Unerschrockenheit unter Soziologen, die des „Parsonianischen Paktes“ müde gewesen seien und sich beherzt der Analyse von Märkten als des Herzstücks der Wirtschaft zugewandt hätten – der Analyse von Wert, nicht nur von Werten (Krippner 2001; Biggart/Beamish 2003; MacKenzie 2005a). Die Institutionenökonomik war aber auf jeden Fall ein wichtiger Stachel im Fleisch. – Parsons’ Pakt, den dieser angeblich sogar face to face mit seinen Harvarder Ökonomen-Kollegen geschlossen haben soll, sah vor, dass die Ökonomik sich mit Fragen von hartem, ökonomischem Wert befasst und die Soziologie mit breiteren, weicheren Werten, und dass die Soziologie folglich nur Randfragen des Wirtschaftsgeschehens behandelt, etwa Interdependenzen mit politischen, religiösen, familialen Strukturen. Ebenso wie bei der Wissenschaftssoziologie und ihrer Absetzung von den Klassikern Mannheim und Merton wird aber auch hier manchmal gefragt, ob die Rolle des Strukturfunktionalismus damit nicht übermäßig düster dargestellt und der Kontrast zwischen älteren und jüngeren Varianten von Wirtschaftssoziologie nicht übertrieben werde (Beckert/Diaz-Bone/Ganßmann 2007).
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5 Schlussbetrachtung: Die Autonomie der Soziologie
diese sind jenen vorgängig und allen Effizienzüberlegungen vorgeordnet. Die Fundierungsrichtung wird umgedreht: „Soziale“ Strukturen erklären und formen Marktstrukturen, nicht umgekehrt. Dies begründet das Konzept der Einbettung, das „Credo“ der Vorgängigkeit des Sozialen vor dem Ökonomischen (Zuckerman 2003: 555), das seither die Wirtschaftssoziologie informiert und integriert. Seither leben Wirtschaftssoziologen in pointierter Gegnerschaft und Rivalität zur Ökonomik. Es wird gesagt: „Perhaps more than in any other subfield of sociology, researchers in economic sociology tend to justify their work through opposition to a rival discipline“ (Zuckerman 2004b: 458). – „The element that holds the field together is its opposition to the neoclassical model of perfect competition“ (Fligstein 2001b: 8). Anders als im Fall von Wissenschaftssoziologie und Epistemologie ist diese Gegnerschaft allerdings eine recht einseitige Sache. Während Wirtschaftssoziologen sich seit Jahrzehnten an der Ökonomik abarbeiten, scheinen Ökonomen praktisch völlig immun gegen Irritationen aus der Soziologie zu sein. Für orthodoxe, neoklassische Ökonomen gilt ohnehin, dass sie die permanenten Angriffe von Soziologen offensichtlich gar nicht wahrnehmen (Kalleberg 1995).17 Aber auch für heterodoxe Ansätze ist soziologische Kritik kaum ein relevanter Bezugspunkt. Institutionenökonomische Ansätze haben sich schon lange ihre eigene Nische geschaffen, und ebenso haben Neu-Keynesianer, Informationsökonomen, Verhaltensökonomen je ihre eigenen Ansatzpunkte und sind nicht auf soziologische Stimuli angewiesen. Ansätze zu Interdisziplinarität und Synthetisierung zwischen Ökonomik und Soziologie gibt es nur sehr vereinzelt und in Isolierung voneinander,
17Ganz
punktuell mag es Anleihen geben, etwa wenn die Ökonomik mittlerweile die Existenz sogenannter „Veblen-Güter“ anerkennt, bei denen – in Ökonomensprache – die Nachfrage steigt, nicht sinkt, wenn der Preis steigt – anders gesagt: bei denen ein hoher Preis, und mithin Distinktionswert, für sich geschätzt wird. Daran sieht man aber gleichzeitig auch, wie wenig das punktuelle Aufgreifen von Gedanken die Ökonomik in ihrem Selbstverständnis verunsichert und wie stark der ursprüngliche Gedanke beim Übertritt in die ökonomische Denkwelt deformiert wird. Denn letztlich ist das, was die Soziologie sagen will – Veblen und unzählige andere –, ein Grundeinwand gegen die Kategorie des Nutzens und der Nutzenorientierung überhaupt: Der Nutzen, den jemand von etwas hat, ist weniger in diesem Ding selbst begründet als in sozialen Relationen, etwa darin, dass Andere es nicht haben, oder umgekehrt darin, dass Andere es auch haben oder auch haben wollen. Den Nutzen eines Dings „einsam“ feststellen zu wollen, ist ein Ding der Unmöglichkeit (siehe dazu z. B. auch Knight 1921: xii ff.). Diese Einsicht in die Relativität oder Relationalität allen Nutzens und allen Strebens geht, wenn Ökonomen Veblen lesen, völlig verloren, und es bleibt einfach eine Sonderkategorie von Gütern: Manche Güter haben diese Eigentümlichkeit, dass ein steigender Preis die Nachfrage steigen lässt.
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und sie stecken erkennbar noch in den Kinderschuhen (Matutinovic 2010; Fernández-Huerga 2013; Searle 2015). Es gibt zwar eine interdisziplinär konzipierte, als Kontakt- und Dialogangebot gegründete Zeitschrift, das „American Journal of Economics and Sociology“, das aber im Endeffekt vor allem die Tiefe der Kluft zwischen den Disziplinen demonstriert. Es findet sich dort ein wildes Potpourri aus heterodox-ökonomischen, soziologischen und philosophischen Beiträgen, und auch die Herausgeber räumen auf ihrer Homepage mittlerweile ein, dass das Konzept angesichts der offenbar nicht aufzubrechenden disziplinären Spezialisierung überdacht werden müsse.18 Bei Querzitationen über Disziplingrenzen hinweg herrschen hohe Freiheitsgrade und lockere Kopplung. Es fällt auf, dass es innerhalb der Wirtschaftssoziologie gar nicht so sehr darauf ankommt, gegen welche Richtung ökonomischer Theoriebildung man sich positioniert. Man kann sich wahlweise gegen die Neoklassik wenden (White 1981; Podolny 1993; Fligstein 1996, 2001b; White 2002; Zuckerman 2004b; MacKenzie 2006; Ganßmann 2007), gegen die Transaktionskostentheorie (Granovetter 1985; Eccles/White 1988; Powell 1990; Uzzi 1996; Podolny/Page 1998; Lancaster/Uzzi 2012), gegen die Prinzipal-Agenten-Theorie (Davis 1991; Davis/Stout 1992; Davis 2005; Davis/Robbins 2005) oder gegen die „Industrial Organization“-Schule (Dobbin/Dowd 2000), ohne dass das für die Positionierung innerhalb der soziologischen Debatte einen Unterschied machen würde. Die weitere Trajektorie eines Textes hängt nicht davon ab, wer der ökonomische Gegner ist, gegen den er sich richtet. Schon in der nächsten Zitierrunde können Texte, die gegen die Neoklassik argumentieren, in einem Atemzug genannt werden mit Texten, die gegen Institutionenökonomik argumentieren – ungeachtet des Umstands, dass Institutionenökonomen ja ihrerseits entschiedene Gegner der Neoklassik sind. Die Ordnung des intellektuellen Raums
18Was
die institutionelle Ebene des Disziplinenverhältnisses betrifft, so fällt jedenfalls für die USA eine Konstellation auf, nach der viele Wirtschaftssoziologen an Business Schools lehren. Nach einer Zählung hat die Hälfte der Schlüsselautoren des Feldes mindestens zeitweise an einer Business School gelehrt (Convert/Heilbron 2007). Der Umstand, dass man sich im universitären Alltag als untergeordneter Vertreter einer marginalen Disziplin gegenüber einer dominanten Disziplin findet, mag in der Wirkung auf das soziologische Selbstverständnis der Betroffenen ambivalent sein: Einerseits ist man als Soziologe in einer „Fremd-Fakultät“, ob man will oder nicht, immer auch Vertreter der Soziologie im Ganzen; andererseits mag diese Position die Fixierung auf die wirtschaftssoziologie-typische Gegnerschaft zur Ökonomik verstärken und Zusammenhänge zu sonstigen soziologischen Debatten lockern.
256
5 Schlussbetrachtung: Die Autonomie der Soziologie
der Ökonomik kann und muss in der Soziologie nicht nachvollzogen werden, wie Systeme generell keine Punkt-zu-Punkt-Entsprechung zueinander haben, keine ausreichende interne Varietät aufbringen können, um die Komplexität ihrer Umwelt voll abzubilden (Luhmann 1977: 13 ff., 1984: 249 f.). Man kann dann unter Umständen auch einzelne Begriffe aus der Institutionenökonomik in soziologische Texte übernehmen, kann etwa von Transaktionskosten sprechen und das als Verweis auf typisch soziologisch gesehenen Einbettungsbedarf – Bedarf an Vertrauen, langfristigen Beziehungen, Netzwerken – verstehen (DiMaggio/Louch 1998; Fligstein 2001b; Uzzi/Lancaster 2004). Man kann auch dieselben inhaltlichen Ergebnisse einmal mit der Transaktionskostentheorie (Uzzi/ Lancaster 2004) und einmal gegen die Transaktionskostentheorie (Lancaster/Uzzi 2012) formulieren, ohne dass sich für einen soziologischen Leser, der die Transaktionskostentheorie nicht als mentalen Referenzpunkt mitführt, etwas Nennenswertes an der Aussage ändern würde.19 Für die Grenze zwischen Soziologie und Ökonomik gilt mithin dasselbe, was schon für die Grenze zwischen Soziologie und Epistemologie festgestellt worden ist: In Jahrzehnten von grenzüberschreitenden Anregungen, Reibungen und Kontroversen haben sich die Disziplingrenzen nicht abgeschliffen, die disziplinären Identitäten nicht aufgeweicht.20 Die Entwicklung der Grenzen scheint eher
19In den genannten Texten geht es um Anwaltskanzleien für Wirtschaftsrecht/Unternehmensrecht und ihre Preisbildungsstrategien. Der Befund lautet im einen Fall, dass durch Einbettung in soziale Beziehungen – durch Vertrauen und langjährige Zusammenarbeit – Transaktionskosten und mithin Preise bzw. Honorare gesenkt werden können (Uzzi/ Lancaster 2004), und im anderen Fall, dass die Transaktionskostentheorie nicht ausreicht, um die beobachtete Varianz in den Preisen zu erklären, und man weitere, darüber hinausgehende Annahmen braucht (Lancaster/Uzzi 2012). Von dem her, was man über den Markt für Rechtsberatungsdienstleistungen erfährt, sind die beiden Texte indes praktisch gleichwertig; ein soziologischer Leser, der die Abgrenzungsgefechte der Wirtschaftssoziologie nicht verfolgt, würde den Unterschied vermutlich gar nicht wahrnehmen. 20Das ist hier von „unserer“, von der soziologischen Seite der Grenze aus dargestellt worden. Wie dies auf der anderen Seite aussieht, kann zum Glück dahingestellt bleiben. Für die Ökonomik kann man vermuten, dass hier ebenfalls eine gesamtökonomische Identität besteht, die auch sehr verschiedene, auch orthodoxe und heterodoxe Ansätze in einer disziplinären Einheit zusammenbindet. Die Epistemologie scheint dagegen in höherem Maß ein interdisziplinär angelegtes Feld zu sein, das eher thematisch integriert ist, durch Bezug auf das Erkenntnisproblem. Es hat Ursprünge in der Wissenschaftsphilosophie, lässt aber heterogene disziplinäre Anbindungen zu, da letztlich jede Disziplin mit ihren Mitteln an das Problem von Erkenntnis herangehen kann: Philosophie, Geschichte, aber auch Kognitionspsychologie, Biologie, Evolutionstheorie usw.
5.3 Autonomie durch Arroganz: „Gar nicht erst ignorieren“
257
dem Parsons’schen Prinzip der Grenzerhaltung als dem Gieryn’schen Prinzip der Grenzarbeit zu entsprechen (vgl. dazu Kap. 2 dieses Buches). Dabei stellt sich die Grenze naturgemäß von beiden Seiten aus verschieden dar. Die Fachdisziplinen würden vermutlich für sich in Anspruch nehmen, dass sie die „eigentlichen“ Fragen stellen: die grundlegenden, immerwährenden, tiefsten Fragen des Menschseins, des Subjektseins oder des Seins-in-der-Welt, bzw. die harten, nackten, allen schmückenden Beiwerks entkleideten Fragen von Effizienzen, Ergebnissen und Entscheidungen. Soziologen ihrerseits neigen dazu, diese Art von Grundsätzlichkeit für eine realitätsfremde logische Spielerei zu halten, die an den „eigentlich“ interessanten Fragen gerade vorbeigeht. „To ask questions of the sort which philosophers adress to themselves is usually to paralyse the mind“, formuliert Bloor (1976: 44) unübertrefflich; und das lässt sich ohne Abzug auch auf die Modellrechnungen von Ökonomen übertragen. Gegeben die Etablierung einer disziplinären Identität im Feld der Disziplinendifferenzierung, scheinen fremddisziplinäre Zugriffe immer als irgendwie schief, verzerrt, verfehlt, borniert.
5.3 Autonomie durch Arroganz: „Gar nicht erst ignorieren“ Wenn Soziologie eine Artischocke wäre, säßen die allgemeinen Theorien ganz innen: an der Stelle der kleinsten, zartesten und am schwersten zugänglichen Blätter.21 Sie sind der am stärksten ausdifferenzierte, zu größter Raffinesse und Unwahrscheinlichkeit fortgeschrittene, aber auch der anschlussloseste und nutzloseste Teil der Soziologie. Sie profitieren davon, dass andere Teile weiter außen sitzen, näher am Gegenstand arbeiten und laufend neues Material darüber anliefern, und auch davon, dass weit draußen Grenzscharmützel mit anderen Disziplinen geführt werden. Nur wenn andere weiter außen sitzen, können sie ihre komfortable Innenposition einnehmen, in der sie abgefedert sind von den Unhandlichkeiten der Welt und sich in erhabener Äquidistanz zu allem finden: zu konkurrierenden akademischen Disziplinen und zu zu beschreibenden gesellschaftlichen Bereichen. Gleichwohl leisten auch sie einen Beitrag zur Autonomie der Soziologie, indem sie die schärfsten, gewagtesten Abstraktionen machen, indem sie
21Das
Bild der Artischocke übernehme ich aus der mündlichen Tradierung der Systemtheorie durch André Kieserling. Es illustriert das Prinzip der Systemdifferenzierung: die mehrfache Ineinanderschachtelung von Systemen und Subsystemen mit zunehmender Distanz zur Umwelt.
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5 Schlussbetrachtung: Die Autonomie der Soziologie
unbeirrt ihr eigenes begriffliches Süppchen kochen, oder eleganter gesagt: ihren eigenen, selbstreferenziell konstituierten Problemen nachgehen. Gerade dadurch setzen sie dem Rest der Welt etwas entschieden Eigenes entgegen. Ein allgemeines systemtheoretisches Theorem besagt, dass die Ausdifferenzierung eines Systems aus seiner Umwelt mit seiner Binnendifferenzierung korreliert (Luhmann 1984: 256 ff.; Stichweh 1984; Luhmann 2000: 114 ff.; Stichweh 2007). Ein Bildungssystem etwa, das Schulen für Bauern vorsieht, Schulen für die Mittelschicht und Schulen für den Adel, ist weniger ausdifferenziert und weniger autonom als eines, dessen interne Gliederung kein direktes Umweltkorrelat hat, sodass die Zuteilung von Personen – etwa auf Hauptschule, Realschule, Gymnasium – jedenfalls prinzipiell nach systeminternen Kriterien erfolgen muss. In diesem Sinn postuliert Stichweh, dass die Ausdifferenzierung der modernen Wissenschaft maßgeblich durch ihre Binnendifferenzierung vorangetrieben worden ist, nämlich durch die Umstellung auf ein segmentiertes System mit vielen gleichrangig nebeneinander stehenden Disziplinen. Die moderne Disziplinendifferenzierung ist eine, der nichts in der Umwelt entspricht und die nur in wissenschaftsinterner Informationsverarbeitung gegründet ist – im Unterschied zur Einteilung der frühmodernen Universität in die Fakultäten Jurisprudenz, Theologie, Medizin, die gleichzeitig den Kontrollinteressen des frühmodernen Staates entsprachen, nämlich Kontrolle von sozialen Beziehungen, Seelen und Körpern. Mit der Umstellung auf die moderne Disziplinenordnung werden Bezüge zu außerwissenschaftlichen Kontexten gelockert oder selektiver gestellt, und gleichzeitig wird – wie oben schon gesagt – die interne Umwelt anderer Disziplinen zu einer wichtigen Orientierungsgröße jeder einzelnen Disziplin, die ihr theoretische und methodische Spezifizierung und Profilierung abnötigt. Ausdifferenzierung der Wissenschaft im Ganzen und Ausdifferenzierung von Einzeldisziplinen treiben sich gegenseitig voran (Stichweh 1984, 1991, 2003a, 2006a, 2007).22 Man kann überlegen, ob ein ähnlicher Zusammenhang auch eine Differenzierungsebene tiefer gilt, nämlich für die Ebene der Soziologie, statt des
22Stichweh
(2007: 215) formuliert all dies in einem Satz: Es gilt, „daß die in einem differenzierten Wissenschaftssystem an Bedeutung gewinnende interne Umwelt der Wissenschaft, die für jede Disziplin oder Subdisziplin eine Vielzahl von fremddisziplinären Referenzen zur Verfügung stellt, […] daß ein solches als in sich dynamisch zu beschreibendes internes Milieu der entscheidende Grund dafür ist, daß die Differenzen zur außerwissenschaftlichen Welt schrittweise an Auffälligkeit gewinnen, und insofern gerade die interne Verschiedenheit der Wissenschaft zur Bedingung ihrer relativen Einheit nach innen wird.“
5.3 Autonomie durch Arroganz: „Gar nicht erst ignorieren“
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Wissenschaftssystems im Ganzen. Das würde heißen: Die Ausdifferenzierung der Soziologie als Disziplin korreliert mit ihrer Binnendifferenzierung in Subsoziologien, weil dadurch Umweltentsprechungen gebrochen werden und das Operieren verstärkt auf interne Ordnungsgesichtspunkte verwiesen wird. Stellt man das Problem in dieser Weise, ergibt sich ein ambivalentes Bild. Soweit Spezialsoziologien wie Wirtschaftssoziologie, Wissenschaftssoziologie, politische Soziologie, Rechtssoziologie, Bildungssoziologie usw. im Blick stehen, gilt jener Zusammenhang gerade nicht, weil diese ja gerade eine pointierte Entsprechung zu bestimmten Umweltsegmenten haben – zu Segmenten der außerwissenschaftlichen Umwelt: Teilsystemen der Gesellschaft, und zu Segmenten der innerwissenschaftlichen Umwelt: Fachdisziplinen wie Ökonomik, Epistemologie, Politologie, Jurisprudenz, Pädagogik. Auf der anderen Seite kann man sagen, dass allgemeine, fachuniverselle Theorien genau diese Funktion haben, jede Entsprechung zu Umweltdifferenzierungen zu brechen. Sie sind universell verwendbare Beobachtungsinstrumente, die alles Soziale erfassen und gerade in der Einheit des Zugriffs Erkenntnischancen sehen. Es müssen dann Begriffe entwickelt werden, die abstrakt genug sind, um jede Bindung an konkrete Kontexte und konkrete Problemlagen aufzugeben, und dadurch radikal inkongruente Beschreibungen, „Brechungen“ der außersoziologisch üblichen Sicht der Dinge erzeugen. Auch wenn dieses Bild nur grob ist und nicht alle Komplikationen erfasst,23 so liegt hier doch ein wichtiger Unterschied in den Operationsbedingungen von Spezialsoziologien und fachuniversellen Theorien. Ausgehend von dem Theorem des Zusammenhangs von Ausdifferenzierung und Binnendifferenzierung könnte man sagen: Die zweite Position ist autonomiegünstiger als die erste, weil sie
23Hier einige Komplikationen oder Qualifikationen: Erstens haben nicht alle Spezialsoziologien ein solches Entsprechungsverhältnis zu einem bestimmten Teilsystem der Gesellschaft, etwa nicht Jugendsoziologie, Umweltsoziologie, Migrationssoziologie usw. Zweitens knüpft in einem sehr groben Sinn auch eine allgemeine soziologische Theorie, die „alles Soziale“ beschreibt, an eine Umweltdifferenzierung an, wenn auch nur an die sehr grundlegende, sehr weit vorgeschaltete Differenzierung in Soziales und Nicht-Soziales – Atome, Organismen, Himmelskörper usw. Drittens schließlich kann man natürlich allgemeine Theorien und Spezialsoziologien nicht trennscharf voneinander unterscheiden, vielmehr können die Übergänge fließend sein, allgemeine Theorien können aus der Arbeit in Spezialsoziologien hervorgehen, und umgekehrt haben auch „große“ Theoretiker mal mit irgendeinem Themenbereich angefangen und sind manchen Bereichen der Gesellschaft näher als anderen.
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5 Schlussbetrachtung: Die Autonomie der Soziologie
eben die Autonomiebedingung der Unterbrechung von Kontinuitäten zu Umweltsegmenten erfüllt.24 Hier ergeben sich aber sofort neue Probleme und neue Fragen. Erstens kann man fragen, inwiefern ist es überhaupt sinnvoll, die Autonomiefrage auf so kleine Teileinheiten wie Subsoziologien – als Subsubsubsystemen der Gesellschaft – herunterzubrechen. Mit Bourdieu wäre das kein Problem, da dieser generell bereit ist, den Autonomiebegriff auf im Prinzip beliebig kleine Einheiten anzuwenden und einzelnen Personen, Organisationen oder Artefakten – etwa Schriftstellern, Wissenschaftlern, Forschungsinstituten, Kunstwerken – größere oder kleinere Autonomie zu bescheinigen (Bourdieu 1998b, 1999). Mit Luhmann stellt sich die Lage schwieriger dar. Für ihn ist Autonomie ein Attribut von ganzen Systemen, nicht ein Attribut von einzelnen Beiträgen oder Beiträgern. Autonomie ist eine Qualität des Operierens eines Systems, die sich gerade in der Selektivität von Anschlüssen und Bezugnahmen zwischen verschiedenen Elementen ausdrückt und nicht ohne weiteres in ein Mehr oder Weniger für einzelne Elemente, Teile oder Teilnehmer aufgebrochen werden kann (Luhmann 1984: 249 ff.). Insofern Subsoziologien auch Systeme sind – Subsysteme der Soziologie, Subsubsysteme der Wissenschaft –, kann man dann natürlich auch nach ihrer Autonomie fragen. Aber das ist leichter theoretisch zu postulieren als praktisch durchzuführen: Es ist dann nicht leicht zu unterscheiden, ob eventuelle Autonomiequalitäten, die man an ihnen beobachtet, ihnen in ihrer Eigenschaft als Teil der Soziologie oder als diese spezielle Subsoziologie zukommen. Zweitens ist zu fragen, inwiefern die für Spezialsoziologien charakteristische Umweltentsprechung überhaupt ein autonomiebehindernder Umstand ist, in diesem speziellen Fall. Denn diese Entsprechung besteht hier ja teils gerade in der pointierten Entgegensetzung und Frontstellung gegen die jeweilige Fachdisziplin,
24Am
Rande sei darauf hingewiesen, dass damit nur eine Autonomiebedingung von mehreren thematisiert ist, die Luhmann nennt (Luhmann 1970e: 155 ff.). Er schematisiert Autonomiebedingungen nach Sozial-, Sach- und Zeitdimension: 1) In der Sozialdimension muss ein System, um autonom sein zu können, mit mehreren Umweltsystemen zu tun haben und darf von keinem einzelnen allzu abhängig sein. 2) In der Sachdimension muss ein System auf zwei verschiedenen Generalisierungsebenen anerkannt sein und eine stärker generalisierte Ebene des Umweltkontaktes von einer stärker punktuellen trennen können. 3) In der Zeitdimension muss ein System Zeit haben, es darf nicht auf jeden Input und jede Anforderung von außen sofort reagieren müssen, sondern muss eigene Prozesse und eigene Selektionen einschalten können. – Was diese letzte Dimension angeht, so fällt in unserem Zusammenhang auf, dass Spezialsoziologien offensichtlich wesentlich schneller sind, schneller neue Themen und Problemlagen aufgreifen als allgemeine Theorien, die sehr langsam voranschreiten und enorme Zeitpuffer haben.
5.3 Autonomie durch Arroganz: „Gar nicht erst ignorieren“
261
nicht in einer unkritischen Anlehnung und schon gar nicht in Dienstbarkeit. Also mindestens im innerwissenschaftlichen Umweltverhältnis könnte diese Konstellation für die Autonomsetzung gerade günstig sein, oder ist sie jedenfalls ambivalent. Dialektisch gesehen handelt es sich um eine Negation, die aber darin die Bindung an das Negierte nicht los wird, vielmehr unter der Hand auch bewahrt. Es ist zu vermuten, dass man an diesem Punkt nicht weiterkommt mit der relativen Taxierung der größeren oder kleineren Autonomie, die verschiedene Soziologiesparten auszeichnet. Das ist aber auch nicht nötig. Es genügt zu sagen, dass in der speziellen Positionierung und Beschreibungsstrategie von fachuniversellen Theorien auch ein spezifischer, benennbarer Autonomiebeitrag liegt. Dieser Beitrag ist strukturell gegensätzlich, aber funktional äquivalent zu dem Beitrag, den die Spezialsoziologien leisten.25 Spezialsoziologien und allgemeine Theorien tragen je auf ihre Weise zur Autonomie der Disziplin bei: die einen dadurch, dass sie Abgrenzungskämpfe ausfechten; die anderen dadurch, dass sie keine Abgrenzungskämpfe ausfechten, sondern sich in einem geschützten inneren Raum nur ihren Selbstordnungszwängen hingeben. An die Stelle des kämpferischen Entgegentretens und Entwickelns von Gegenkonzepten tritt dann die Technik der Generalisierung und Respezifikation, die hohe interne Kontrollniveaus erfordert. Es gibt den schönen Ratschlag des Komikers Karl Valentin für den Umgang mit ungelegen kommenden Belästigungen: „Gar nicht erst ignorieren!“ Das ist die Strategie, die allgemeine Theorien gegenüber außersoziologischen Fachdisziplinen einschlagen. Wenn etwas ungelegen kommt – oder hier: wenn etwas unsoziologisch gedacht ist –, dann ist es das Beste, es gar nicht erst zur Kenntnis zu nehmen oder jedenfalls nicht zum Ausgangspunkt der eigenen Begriffsbildung zu machen. In diesem Sinn kann eine Gesellschaftstheorie die Konstruktionen außersoziologischer Nachbardisziplinen erst einmal über lange Strecken ignorieren oder nur unter „ferner liefen“ zur Kenntnis nehmen. So sieht Luhmann Fachdisziplinen wie Ökonomik, Politologie, Theologie, Epistemologie usw. in erster Linie als Selbstbeschreibungen oder Reflexionstheorien der Funktionssysteme,
25Dass
strukturell gegensätzliche Lösungen funktional äquivalent sein können, ist eine der großen Einsichten der funktionalen Analyse. Sie gilt etwa für Durkheims Unterscheidung von mechanischer und organischer Solidarität – strukturell gegensätzlich: basierend in Homogenität oder Heterogenität, aber funktional äquivalent: beides produziert Solidarität (Durkheim 1893). Sie gilt ebenso für Luhmanns Unterscheidung von normativem und kognitivem Erwarten – strukturell gegensätzlich: basierend auf Lernen oder Nichtlernen, aber funktional äquivalent: beides ermöglicht den Umgang mit einer ungewissen Welt (Luhmann 1972).
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5 Schlussbetrachtung: Die Autonomie der Soziologie
das heißt als Teil seines Gegenstandsbereichs, und erst in zweiter Linie als akademischen Gegner, der anzugreifen und zu widerlegen ist.26 In dieser Optik kann er sie dann mehr oder weniger einfühlsam beschreiben und auch als semantische Leistung würdigen, die viel über neuartige Problemlagen ausdifferenzierter Funktionssysteme aussagt, ohne sich zwingend und in jedem Punkt von ihnen absetzen zu müssen.27 Letzteres tut er natürlich auch, wenn er seine eigene Konstruktion von Funktionssystemen vorstellt, aber er tut dies in eher kosmetischer Weise, im Sinn einer nachträglichen, für Präsentationszwecke formulierten Kontrastierung, und nicht in dem Sinn, dass seine eigene Begriffsbildung dadurch geprägt und getrieben wäre. Das Verhältnis zwischen eigener Theoriekonstruktion und Absetzung von Fachdisziplinen ist andersherum akzentuiert: Erstere steht im Zentrum, letztere passiert eher nebenbei, während in Spezialsoziologien oft letztere der Kern ist, von dem aus eigene Konzeptionen entwickelt werden. Nun wird die Brechungsqualität gerade der Systemtheorie oft bezweifelt. Ihr wird vorgeworfen, ein Wiedergänger der Fachdisziplinen zu sein, deren Abstraktionen und Rationalitätsfantasien zu kopieren, indem sie Funktionssystemen eine selbstreferenzielle, eigenlogische Operationsweise zuschreibt. Das ist aber eine
26Es
gibt sogar Beschreibungen in der Systemtheorie, wonach den Reflexionstheorien die Wissenschaftlichkeit komplett abgesprochen wird. Ihr Wissenschaftsstatus sei ein reines Scheinprodukt ihrer institutionellen Ausstattung mit Fakultäten, Lehrstühlen, Zeitschriften, während ihnen der Sache nach die hinreichende wissenschaftliche Distanz fehle und sie vielmehr durch Affirmationszwänge, Loyalitäts- und Rationalitätskontinua mit „ihrem“ jeweiligen Funktionssystem verbunden seien (Luhmann 1984: 623 f.; Kieserling 2004: 46 ff.). Hier stecken indes tiefgreifende Theorieprobleme. Autopoiesistheoretisch gesehen können Reflexionstheorien schon deshalb nicht Teil „ihres“ Funktionssystems sein, weil sie nicht dessen Operationsweise verwenden: weil in der Ökonomik nicht gezahlt, in der Pädagogik nicht erzogen, in der Theologie nicht gebetet, in der Politologie nicht mit Macht operiert wird (Luhmann 1988a: 74 ff., 127 f.; Göbel 2003: 224 ff.). Aber auch mit einem weniger autopoietisch „reinen“ und einem handfesteren, auf institutionelle Infrastruktur abstellenden Systembegriff ist die exklusive Zuordnung zum jeweiligen Funktionssystem nicht haltbar, weil die Reflexionstheorien ja gerade auf der institutionellen Ebene uneingeschränkt als Wissenschaften firmieren. Realistisch ist es vermutlich davon auszugehen, dass Reflexionstheorien beides sind: sowohl Teil „ihres“ Funktionssystems als auch Teil der Wissenschaft und beides gleichrangig gesehen werden muss. 27So rekonstruiert Luhmann ausführlich die Umstellung der Rechtstheorie auf Positivismus (Luhmann 1972, 1981a), oder die Reaktion der Theologie auf Modernisierung und Säkularisierung (Luhmann 1977), oder die Reflexionsprobleme der Pädagogik im modernen Bildungssystem (Luhmann/Schorr 1979) – letzteres allerdings schon mit deutlichem Übergang zur Kritik an pädagogischen Theorien und zum Angebot einer überlegenen systemtheoretischen Alternative.
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verzerrte Wahrnehmung, bedingt durch die eigene Position des Wahrnehmers: Da die Spezialsoziologien an der Front zur jeweiligen Fachdisziplin sitzen, schematisieren sie die Welt nach Freund und Feind und werfen alles, was nicht ihrem eigenen Ansatz entspricht, in einen Topf. Die Systemtheorie ist zwar in ihrer Eigenschaft als Theorie hochgradig abstrakt, sie teilt aber nicht die Stilisierung von Problemen in Richtung auf reine Sachprobleme, wie sie für Fachdisziplinen typisch ist, und sie teilt auch nicht die Präferenz für saubere, rationalitätsfähige Lösungen. Sie denkt Systeme gerade nicht als logisch geordnete, widerspruchsfreie, prinzipientreue, kalkülfähige Zusammenhänge, sondern als mehr oder weniger wilde, widerspruchsvolle, nie voll fassbare, nicht auf Regeln und Kriterien reduzierbare Gebilde, die weder von ihnen noch von außen kontrolliert oder auch nur voll beobachtet werden können. Es gilt, „daß jedes Sozialsystem, um lebensfähig zu sein, mehr Informationen besitzen muß, als es integrieren und legitimieren kann“ (1965b: 178) – eine Feststellung, die in ihrer ganzen Knappheit und Radikalität das Weltbild von Rationaltheorien sprengt. Die Systemtheorie ist keine Rationaltheorie, die die Welt als Bühne perfekter oder perfektionierbarer Rationalität und rundum richtiger Entscheidungen denkt. Sie denkt sie eher als einen Haufen von imperfekten und doch unverzichtbaren Vereinfachungen, von tragischen Alternativen, zweitbesten Lösungen und vertrackten Folgeproblemen. Sie denkt sie eher von noch überbrückbaren Unwahrscheinlichkeiten als von Ideallösungen her. Insofern ist sie den Spezialsoziologien im Grundimpuls gar nicht unähnlich. Sie vertritt eine dritte Position zwischen dem überidealisierenden Zugriff der Fachdisziplinen und dem übersozialisierenden Einbettungsdiskurs der Spezialsoziologien – auch wenn das für jemanden, der sich an der Front befindet, als das unmögliche Dritte erscheint.28
28Diese
doppelte Abgrenzung wird vorbildlich von Bourdieu formuliert, der sich genauso positioniert, hier gegen die Ökonomik einerseits und die gängige Wirtschaftssoziologie andererseits (Bourdieu 2005: 1 ff.). Erstere verabsolutiere ein a-historisches Bild von rationalen ökonomischen Akteuren und sei blind für die voraussetzungsvollen historischen und kulturellen Bedingungen, die darin steckten. Zweitere ignoriere oder verleugne, dass die historisch-kulturelle Besonderheit gerade in der Ausdifferenzierung eines eigenen ökonomischen „Kosmos“ liegt, der nur seinem eigenen „nomos“ gehorcht, im Unterschied zu den familienbasierten Ökonomien, die in den meisten bekannten Gesellschaften dominierten.
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Eine allgemeine soziologische Theorie muss, als in dieser dritten Position aufgestellt, keine Abwehrreflexe haben.29 Sie kann punktuelle Anregungen aus den Fachdisziplinen aufnehmen oder Berührungen mit ihnen ausbilden, sie steht nicht unter Negationszwang. Das ist kein Zeichen ihrer mangelnden Autonomie und ihres Zusammenfallens mit der Fachdisziplin, sondern ein Zeichen ihrer Autonomie, nämlich ihrer Distanziertheit und Leidenschaftslosigkeit. Beispielsweise muss dann mit Blick auf Wissenschaft das Erkenntnisproblem nicht in toto verabschiedet werden, Fragen des Weltzugangs können wieder aufgenommen werden. Man kann dann etwa, ähnlich wie manche Wissenschaftshistoriker oder Sozialepistemologen (Kitcher 1990; Lynch 1991), die soziale Struktur der Wissenschaft als ermöglichende statt als einschränkende Bedingung für Welterkenntnis sehen, kann sich ein Nicht-Nullsummenverhältnis zwischen Wahrheit und Einbindung in soziale Strukturen vorstellen, sodass mehr und schärfere soziale Restriktionen eine Steigerung des Wahrheitspotenzials mit sich bringen. Mit Blick auf Wirtschaft kann beispielsweise die Frage nach Preisen als Informationsverarbeitungsmechanismen wieder aufgenommen werden, die auch bei Ökonomen wie Hayek (1975) zentral ist – wenn auch anders gedreht, sodass Preise nicht als Knappheits- und Effizienzanzeiger erscheinen, sondern als Möglichkeit der Kombination von Stabilität und Instabilität auf hohem Niveau (Luhmann 1988a: 13 ff.). In einer besseren Verschaltung von gesellschaftstheoretischen und spezialsoziologischen Zugriffen lägen Chancen für eine schärfere Beschreibung der Sache. Die disziplinäre Autonomie an sich wird, wie gesagt, auch bei einer unkooperativen oder desinteressierten Einstellung in den einzelnen Soziologiesparten bedient, sie erfordert keine Kooperation. Sie wird einfach dadurch reproduziert, dass jede Subsoziologie ihre Sache macht, ihre Mission erfüllt, in der komplexen, innerwissenschaftlichen wie innergesellschaftlichen Umweltlage, in der die Soziologie sich findet. Aber Autonomie ist ja kein Selbstzweck. Letztlich geht es um die gute Beschreibung der Sache, und hier könnte es helfen, die intime Sachkenntnis der Spezialsoziologien und die begriffliche Weisheit allgemeiner Theorien zusammenzuschließen – Weisheit im Sinn der Ablösung von allen irdischen Gegnern und Belangen und der dadurch gewonnenen Weite und Tiefe des Blicks.
29Abwehrreflexe
kann es bei allgemeinen Theorien allerdings gegenüber anderen Theorien – also Artgenossen – geben, so beispielsweise, wenn Luhmann allzu schnell und mit allzu „heißer Feder“ gegen Marx und Marxismen austeilt (Luhmann 1975b, 1988a: 151 ff., 2000: 95).
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