Die Konstruktion von Männlichkeit in kindheitspädagogischen Interaktionen

Markus Andrä zeigt in dieser ethnographischen Verdichtung besonders anschaulich die Prozesse sozialisatorischer Einübung zwischen Kindern und Erwachsenen in einem spielerischen Raum des Als-ob – dort entsteht Geschlechtsidentität in affektiv angestoßenen Diskursen und wird zu einer verleiblichten Philosophie der Beteiligten. Der Autor betrachtet detailliert die körperlichen, leiblich-affektiven und kognitiven Bestandteile von Interaktionen und ordnet sie in einen biographischen Prozess ein.


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Kultur und gesellschaftliche Praxis

Markus Andrä

Die Konstruktion von Männlichkeit in kindheitspädagogischen Interaktionen Eine videographische Studie in Kindertagesstätten

Kultur und gesellschaftliche Praxis Reihe herausgegeben von M. Corsten, Hildesheim, Deutschland K. F. Bohler, Jena, Deutschland H. Rosa, Jena, Deutschland

In den letzten Jahrzehnten hat es in der deutschsprachigen wie internationalen Soziologie nicht nur einen massiven Anstieg von Studien zu mannigfaltigen Kulturerscheinungen und verschiedenartigen Formen gesellschaftlicher Praxis gegeben. Es ist sowohl von einem practical turn als auch von einem cultural turn in den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften die Rede. Die Reihe „Kultur und gesellschaftliche Praxis“ hat sich den Anspruch gesetzt, die Vielfalt theoretischer und empirischer Untersuchungen im Feld der Kultur- und Gesellschaftsforschung miteinander zu verbinden. Die Reihe nimmt deshalb solche Arbeiten auf, die kultur- und praxisanalytische Zugänge systematisch verknüpfen, um darüber die symbolisch-praktische Erzeugung sozialer Welten in ihren konstitutiven Mechanismen zu rekonstruieren. Die in dieser Reihe versammelten Studien widmen sich der Rekonstruktion von historischen, kulturellen und praktischen Bedingungen der Entstehung einzelner gesellschaftlicher Symptome und der Analyse der Gegenwartsgesellschaft als Ganzer.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12492

Markus Andrä

Die Konstruktion von Männlichkeit in kindheitspädagogischen Interaktionen Eine videographische Studie in Kindertagesstätten Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Holger Brandes

Markus Andrä Dresden, Deutschland Zgl. Dissertation an der Technischen Universität Dresden, 2017 Geringfügig geänderte Fassung der Dissertation mit dem Originaltitel „Die ­Konstruktion von Männlichkeit in frühpädagogischen Interaktionen – Eine empirische Untersuchung zur Bildung der Geschlechtsidentität von Jungen in der Interaktion mit Erzieherinnen und Erziehern in ­Kindertagesstätten“

ISSN 2626-2215 ISSN 2626-2223  (electronic) Kultur und gesellschaftliche Praxis ISBN 978-3-658-24904-5  (eBook) ISBN 978-3-658-24903-8 https://doi.org/10.1007/978-3-658-24904-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Geleitwort Aus dem Kriminalroman Clouds of witness (1955) von Dorothy L. Sayers stammt der fast schon legendäre Satz, „dass Fakten wie Kühe sind. Sieht man sie scharf genug an, laufen sie normalerweise weg“. Und ergänzend könnte man anfügen: „Aber sobald man sich umdreht, sind sie wieder da.“ Auf kaum etwas trifft diese Aussage so gut zu, wie auf Verhaltensweisen und Einstellungen, die als geschlechtstypisch gelten. Macht man sich nämlich die Mühe, diese genauer und in ihren jeweiligen Kontexten zu betrachten, erweisen sich vorurteilsbelastete Kategorisierungen oft als nicht belegbar und in hohem Maße willkürlich. Obwohl einiges dafür spricht, dass Geschlechtlichkeit aufgrund der Omnipräsenz der Körper im alltäglichen Umgang der Menschen untereinander und in der Erziehung von Kindern in vielfältiger Weise unablässig präsent ist, wirkt sie doch offenbar zumeist eher diffus und unterschwellig und ist den handelnden Akteuren selbst auch kaum bewusst und der kritische Reflexion zugängig. Weil Vorstellungen von „typisch männlichem“ oder „typisch weiblichem“ Verhalten eine so hohe Alltagsevidenz aufweisen und als Erwartungshaltungen bis in die Körper aller Akteure verankert sind, lässt sich die Bedeutung des Geschlechts innerhalb sozialer Interaktionen und Prozesse auch nur schwer unvoreingenommen erfassen und jegliche hierauf bezogene Forschung muss gegenüber der unkontrollierten Wirkung von Vorurteilen abgesichert werden. Markus Andrä nimmt diese Herausforderung in seiner hier als Buch vorliegenden Dissertation bewusst und in vorbildlicher Weise auf. Dabei greift er als Grundlage auf Videosequenzen aus der vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderten Tandem-Studie zum Erziehungsverhalten von weiblichen und männlichen Fachkräften in Kindertageseinrichtungen zurück. Teile dieses umfangreichen Videomaterials, zu dem Andrä maßgeblich beigetragen hat, unterzieht er hier nochmals einer vertiefenden qualitativen Feinanalyse. Dabei findet er für das knifflige Problem der Übertragung filmischen Materials in ein Printmedium durch seine detaillierten Transkripte und ergänzende Fotosequenzen eine überzeugende Lösung.

VI

Geleitwort

In schrittweiser Annäherung über „Collagen“, in denen das empirische Material verdichtet und anschließend im Bezug auf theoretische Diskurse interpretiert wird, ist dabei ein innovativer Blick auf die Mikrostruktur des Einübens von „Geschlecht“ im gemeinsamen Handeln von Kindern und Erwachsenen herausgekommen, der für weitere Forschungen beispielhaft sein kann. Besonders beeindruckt haben mich die Tiefenschärfe und Detailgenauigkeit der von Andrä vorgenommenen Mikroanalysen. Außerdem imponieren die bewusst-kritische Distanz des Autors zu dem, was geschlechtsstereotype Sichtweisen nahelegen und sein Fokus auf die „feinen Unterschiede“ und die Besonderheiten seiner Fallbeispiele. Aus theoretischer Perspektive hervorzuheben ist sein für die Geschlechterforschung innovativer Rückgriff auf Collins‘ Konzept der Interaktionsritual-Ketten. Hierüber gelingt Andrä die Integration der symbolischen Dimension des Handlungsgeschehens und die Eröffnung einer mikrosoziologischen Perspektive, in deren Mittelpunkt nicht die Individuen stehen, sondern die Situation, in der sie handeln. Unter anderem ermöglicht dies Andrä, narrative Bezüge auf klischeehafte und in ihrem musealen Charakter „scheinbar aus der Zeit gefallene“ Symbolfiguren wie Indianer, Piraten und Ritter in seine Interpretationen zu integrieren und deren bis heute ungebrochene Bedeutung als „Anker“ für Geschlechtsidentität überzeugend zu begründen. Insofern weitet dieses Buch unseren Blick auf die geschlechtliche Identitätsentwicklung von Kindern und stellt darüber hinaus einen wichtigen inhaltlichen wie methodologischen Beitrag zur Genderforschung dar. Ich würde mich freuen, wenn diese Veröffentlichung viele interessierte Leserinnen und Leser findet.

Prof. Dr. phil. Holger Brandes

Inhalt 1

Einführung ............................................................................................1 Ausgangspunkt .....................................................................................................1 Fragen ....................................................................................................................3 Das Soziale in Worte fassen ..............................................................................5 1.3.1 Vorbemerkung ...............................................................................................5 1.3.2 Sozialwissenschaftliche Grundbegriffe .....................................................6 1.3.3 Geschlecht: Begriffsgeschichte ................................................................ 19 1.3.4 Geschlecht: Biologische Anlage oder Reaktion auf die Umwelt? ....................................................................................................... 21 1.3.5 Konstituierende Anforderungen an sozialwissenschaftliche Theorien....................................................................................................... 26 2 Identität .............................................................................................. 29 2.1 Einleitung ........................................................................................................... 29 2.2 Georg H. Mead und Herbert Blumer: Sich als Objekt anderer betrachten .......................................................................................................... 32 2.2.1 Vorbemerkung ............................................................................................ 32 2.2.2 Bildung der Identität in Interaktionen .................................................... 34 2.3 Erving Goffman: Identität als Maske in einem Theaterstück .................. 36 2.4 Erik H. Erikson: Identität als Kontinuität ................................................... 39 2.4.1 Vorbemerkung ............................................................................................ 39 2.4.2 Das Spielalter: Initiative versus Schuldgefühl ....................................... 43 2.4.3 Das Schulalter: Werksinn versus Minderwertigkeitsgefühl ................. 44 2.4.4 Das Jugendalter: Identität versus Identitätsdiffusion .......................... 46 2.5 Zusammenfassung, kritische Diskussion und erste Schlussfolgerungen ........................................................................................... 47 3 Soziologische Theorien ....................................................................... 51 3.1 Einleitung ........................................................................................................... 51 3.2 Pierre Bourdieu: Die Theorie der Praxis ...................................................... 55 3.2.1 Vorbemerkung ............................................................................................ 55 3.2.2 Sozialer Raum und Habitus ...................................................................... 55 3.2.3 Das Habituskonzept als implizite Sozialisationstheorie ...................... 61 3.2.4 Habitus und Geschlecht ........................................................................... 65 3.2.5 Weiterentwicklungen in Bezug auf Männlichkeit ................................. 70 3.2.6 Deutungsweite ............................................................................................ 73 3.3 Interaktionistische Geschlechtertheorie ....................................................... 75 3.3.1 Vorbemerkung ............................................................................................ 75 1.1 1.2 1.3

VIII

Inhalt

3.3.2 Geschlechtliche Sozialisation im Symbolischen Interaktionismus ......................................................................................... 77 3.3.3 Geschlecht als interaktives Arrangement ............................................... 80 3.3.4 Deutungsweite ............................................................................................ 82 3.4 Ethnomethodologie ......................................................................................... 83 3.4.1 Vorbemerkung ............................................................................................ 83 3.4.2 Doing Gender ............................................................................................. 85 3.4.3 Undoing Gender ........................................................................................ 88 3.4.4 Deutungsweite ............................................................................................ 91 3.5 Zusammenfassung und kritische Diskussion .............................................. 93 3.6 Schlussfolgerungen ........................................................................................... 96 4 Entwicklungspsychologische Konzepte ............................................ 101 4.1 Einleitung ......................................................................................................... 101 4.2 Psychoanalytische Konzepte ........................................................................ 104 4.2.1 Vorbemerkung .......................................................................................... 104 4.2.2 Sigmund Freud: Triebe, psychische Instanzen und die ödipale Situation ..................................................................................................... 104 4.2.3 Weiterentwicklungen des psychoanalytischen Entwicklungsmodells............................................................................... 109 4.2.4 Deutungsweite .......................................................................................... 114 4.3 Kognitionspsychologische und sozial-kognitive Theorien ..................... 117 4.3.1 Vorbemerkung .......................................................................................... 117 4.3.2 Jean Piaget: Grundlagen der Kognitionspsychologie ........................ 118 4.3.3 Lawrence Kohlberg: Kognitionspsychologie und Geschlechtsidentität................................................................................. 124 4.3.4 Deutungsweite der kognitionspsychologischen Perspektive ............ 127 4.3.5 Kay Bussey und Albert Bandura: Sozial-kognitive Theorie ............. 129 4.3.6 Soziale Beeinflussung und motivatorische Regulierung in Abhängigkeit der Entwicklung .............................................................. 133 4.3.7 Deutungsweite der sozial-kognitiven Perspektive .............................. 135 4.3.8 Kognitionspsychologische und sozial-kognitive Argumente im Diskurs ................................................................................................. 140 4.4 Zusammenfassung und kritische Diskussion ............................................ 149 4.5 Schlussfolgerungen ......................................................................................... 153 5 Forschungsbefunde ........................................................................... 157 5.1 Einleitung ......................................................................................................... 157 5.2 Geschlechtstypische Interaktionsformen: Männer und Frauen ............. 157 5.3 Geschlechtstypische Interaktionsformen: Jungen und Mädchen .......... 164 5.4 Die Perspektive der Kinder .......................................................................... 172 5.5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen .............................................. 177

Inhalt

6

IX

Eine integrierende Perspektive ......................................................... 181 Einleitung ......................................................................................................... 181 René Descartes: Der Mensch als Körper unter anderen ......................... 182 Norbert Elias: Der soziale Habitus ............................................................. 185 Der Mensch als Leib unter anderen Körpern ........................................... 187 Randall Collins: Die Theorie der Interaktionsritual-Ketten .................... 197 6.5.1 Vorbemerkung .......................................................................................... 197 6.5.2 Interaktionsrituale: Modellhafte Darstellung ...................................... 199 6.5.3 Exkurs: Intersubjektivität und emotionale Verschmelzung ............. 205 6.5.4 Deutungsweite .......................................................................................... 208 6.6 Schlussfolgerungen ......................................................................................... 211 7 Methodologie .................................................................................... 215 7.1 Einleitung ......................................................................................................... 215 7.2 Methodologische Grundlagen ...................................................................... 216 7.3 Videographisches Datenmaterial in den Sozialwissenschaften .............. 220 7.4 Ethnographie als soziologische Forschungsstrategie ............................... 224 7.5 Konkretisierung für das Forschungsvorhaben .......................................... 228 7.5.1 Vorbemerkung .......................................................................................... 228 7.5.2 Die Datenerhebung als fokussierte Ethnographie ............................. 228 7.5.3 Die Phasen des ethnographischen Schreibprozesses......................... 229 7.5.4 Die Videointeraktionsanalyse ................................................................. 232 7.6 Begründung und Zusammenfassung .......................................................... 234 8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik ......................................... 237 8.1 Einleitung ......................................................................................................... 237 8.2 Die Situation der Datenerhebung ................................................................ 239 8.3 Ideenfindungen: Indexikalität und Kontextwissen ................................... 248 8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit ........................................................... 259 8.4.1 Vorbemerkung .......................................................................................... 259 8.4.2 Enge Kooperationen ............................................................................... 259 8.4.3 Paralleles Arbeiten.................................................................................... 272 8.4.4 Vorführen und Nachahmen ................................................................... 284 8.4.5 Herausfordern, Motivieren und Helfen ............................................... 304 8.5 Bilder, Geschichten und Assoziationen ...................................................... 312 8.6 Faszinationen................................................................................................... 322 8.7 Gemeinsames Lachen und geteilte Freude ................................................ 335 8.8 Zusammenfassung .......................................................................................... 358 9 Ethnographische Collage II – Geschlechtliche Deutungen .............. 363 9.1 Einleitung und Konkretisierung der Forschungsfragen .......................... 363 9.2 Männer im Datenmaterial: Reservate jenseits des Bergfried ................... 366 9.3 Der universale Mann: Normale „Indianer“ sind keine Frau ................... 383 9.4 Vater-Übertragungen: „Mein Papa ist auch so stark.“ .................................. 390 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5

Inhalt

X

9.5 9.6

Zwischen Gemeinschaft und Abgrenzung: „Lass ma‘ los!“ ...................... 399 Indexikalische Vereinnahmung: „Woll‘n wir versuchen, eine Ritterburg zu bauen?“.......................................................................................................... 410 9.7 Natürliche Pädagogik und affektive Symbolmarkierung: Gefühlte Männlichkeit .................................................................................................... 417 9.8 Der lustvolle Ausbruch: „Ah, ja, mit dem Hammer die Eier zerschlagen!“ ....................................................................................................... 434 9.9 Übertragungen zwischen Scherz und Flirt: „Du gibst der einen Kuss?“ ................................................................................................................ 442 9.10 Zusammenfassung .......................................................................................... 452 10 Hypothesen ....................................................................................... 455 10.1 Sozialisation als „Spiel um Männlichkeit“ .................................................. 455 10.1.1 Männlichkeit als Haltung zueinander ................................................... 457 10.1.2 Männlichkeit als metaphorische Deutung von Symbolen ................ 459 10.1.3 Männlichkeit als Handlungsdisposition ............................................... 463 10.2 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse ................................. 466 11 Abschluss........................................................................................... 475 11.1 Anregungen für die pädagogische Praxis ................................................... 475 11.2 Grenzen der vorliegenden Arbeit ................................................................ 478 11.3 Empfehlungen für weitere Forschungen .................................................... 485 Quellen ......................................................................................................... 489 Fachliteratur .................................................................................................................. 489 Nachschlagewerke ....................................................................................................... 505 Kinderbücher................................................................................................................ 506 Sonstige Literatur ......................................................................................................... 506 Vorträge ......................................................................................................................... 507 Artikel in Zeitschriften................................................................................................ 507 Filme und Lieder .......................................................................................................... 507 Online-Quellen ............................................................................................................. 508 Abschlussberichte, Dissertationen und Fachtexte .......................................... 508 Konzeptionen und interne Veröffentlichungen .............................................. 509 Online-Ausgaben von Zeitungen oder Zeitschriften ..................................... 510 Online-Enzyklopädien ......................................................................................... 511 Online-Videos und -Cartoons............................................................................. 511 Statistiken ................................................................................................................ 512 Sonstiges ................................................................................................................. 513 Anhang ......................................................................................................... 515 Sprachliche Formalien ................................................................................................ 515 Hinweise zur Transkriptionsweise der zitierten Sequenzen ................................. 516 Bilder der Bastelobjekte .............................................................................................. 518

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17: Abbildung 18: Abbildung 19: Abbildung 20: Abbildung 21: Abbildung 22: Abbildung 23: Abbildung 24:

Peerauswahl eines Mädchens (Martin & Ruble, 2009, S. 373)....................................................................................................... 146 „Gender“ als „attractor basin“ (Fausto-Sterling et al., 2011a, S. 6) .......................................................................................... 148 Inhalt des Material- und des Werkzeugkoffers ............................ 240 Präsentation des Ergebnisses der Bastelsituation (Standbild aus Situation 1_2_1) ...................................................... 246 „Da kann man ein Haus bauen.“ (Standbild aus Situation 13_1_1) ................................................................................................ 253 Gemeinsam Hämmern (Standbild aus Situation 13_1_1) .......... 260 Der Statusaspekt eines Interaktionsrituals (Abfolge von Standbildern aus Situation 16_1_2) ................................................ 264 Paralleles Arbeiten (Standbild aus Situation 1_2_1) .................... 273 Der Ritter (Standbild aus Situation 1_2_1) ................................... 278 Selbständig arbeiten (Standbild aus Situation 8_1_2) ................. 280 „Jetzt ist es fertig!“ (Standbild aus Situation 8_1_2) ........................ 283 Einüben in den Umgang mit dem Hammer (Abfolge von Standbildern aus Situation 13_1_1) ................................................ 285 Lernfortschritte (Gegenüberstellung von Standbildern aus Situation 13_1_1) ............................................................................... 288 „Ist das fest?“ (Standbild aus Situation 13_1_1) ............................. 289 „Meinst‘e das hält?“ (Standbild aus Situation 13_1_1) ................... 290 „Sieht das gut aus?“ (Standbild aus Situation 13_1_1) ................... 291 „Hamm’ wir‘n Dach?“ (Standbild aus Situation 13_1_1) ............... 292 Beobachtungslernen: Vorführen (Standbild aus Situation 1_2_1) .................................................................................................. 296 Beobachtungslernen: Aufmerksamkeit (Standbild aus Situation 1_2_1) ................................................................................. 298 Beobachtungslernen: Nachahmen (Standbild aus Situation 1_2_1) .................................................................................................. 299 „Der erste Turm“ (Standbild aus Situation 1_2_1) ......................... 308 Gespiegelte Haltungen (Abfolge von Standbildern aus Situation 1_2_1) ................................................................................. 310 Parallele Grundstruktur (Abfolge von Standbildern aus Situation 4_1_1) ................................................................................. 311 „Du willst Feuerwehrforscher werden?“ (Standbild aus Situation 20_1_2) ................................................................................................ 321

XII

Abbildung 25: Abbildung 26: Abbildung 27: Abbildung 28: Abbildung 29: Abbildung 30: Abbildung 31: Abbildung 32: Abbildung 33: Abbildung 34: Abbildung 35: Abbildung 36: Abbildung 37: Abbildung 38: Abbildung 39: Abbildung 40: Abbildung 41: Abbildung 42: Abbildung 43: Abbildung 44: Abbildung 45: Abbildung 46:

Abbildungsverzeichnis

Körperlicher Ausbruch (Standbild aus Situation 10_1_2) ......... 325 Hammerhaptik im Verlauf (Abfolge von Standbildern aus Situation 1_2_1) ................................................................................. 326 „Was is’n das?“ (Standbild aus Situation 2_1_1) ........................... 332 „Ah, ja, mit dem Hammer die Eier zerschlagen.“ (Standbild aus Situation 20_1_2) ............................................................................... 336 Geteilter Fokus der Aufmerksamkeit (Standbild aus Situation 20_1_2) ............................................................................... 340 „Konspirative“ Begeisterung (Standbild aus Situation 13_1_1) ................................................................................................ 344 Lachen über ein Missgeschick (Standbild aus Situation 8_1_2) .................................................................................................. 352 Die drei kleinen Schweinchen verstecken sich vor dem Wolf. (Busquets, 2000, o. S.) ........................................................... 355 Frauen- und Männerbilder (Erne & Nieländer, 2007a, o. S.; Weinhold, 2004, o. S.) ................................................................. 371 Geschmückte Männer (Standbild aus „Yakari - Man muss warten können“) ................................................................................ 384 Beim Tipi (Standbild aus „Yakari - Man muss warten können“) ............................................................................................. 389 „…weil mein Papa hat auch so Kraft.“ (Abfolge von Standbildern aus Situation 13_1_1) ................................................ 394 „Das hab ich von Papa.“ (Abfolge von Standbildern aus Situation 1_2_1) ................................................................................. 394 Symbolische Deutungen (Gegenüberstellung von Standbildern aus Situationen 13_1_1, 16_1_2) ............................ 402 Ostensive Adressierung (Abfolge von Standbildern aus Situation 13_1_1) ............................................................................... 421 Ostensive Adressierung (Abfolge von Standbildern aus Situation 1_2_1) ................................................................................. 425 Ostensive Adressierung (Abfolge von Standbildern aus Situation 11_1_2) ............................................................................... 426 Ostensive Adressierung (Abfolge von Standbildern aus Situation 16_1_2) ............................................................................... 427 Affektspiegelung (Abfolge von Standbildern aus Situation 20_1_2) ................................................................................................ 429 „Da kann man ein Haus bauen.“ (Standbild aus Situation 13_1_1) ................................................................................................ 431 Markierung des Als-ob-Modus (Abfolge von Standbildern aus Situation 13_1_1) ........................................................................ 432 Körperlicher Ausbruch (Abfolge von Standbildern aus

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 47: Abbildung 48: Abbildung 49: Abbildung 50: Abbildung 51: Abbildung 52: Abbildung 53: Abbildung 54: Abbildung 55: Abbildung 56: Abbildung 57: Abbildung 58: Abbildung 59: Abbildung 60: Abbildung 61: Abbildung 62: Abbildung 63: Abbildung 64: Abbildung 65: Abbildung 66: Abbildung 67: Abbildung 68: Abbildung 69:

XIII

Situation 10_1_2) ............................................................................... 434 „Ein Hammer!“ (Abfolge von Standbildern aus Situation 12_1_1) ................................................................................................ 434 „Ein Panzer!“ (Abfolge von Standbildern aus Situation 12_1_1) ................................................................................................ 435 „Schießen von hier nach dort.“ (Abfolge von Standbildern aus Situation 12_1_1) ............................................................................... 435 „…mit dem Hammer die Eier zerschlagen.“ (Abfolge von Standbildern aus Situation 20_1_2) ................................................ 436 „Soll ich mal richtig stellen?“ (Abfolge von Standbildern aus Situation 20_1_2) ............................................................................... 436 Der Hammer als Symbol der Selbstwirksamkeit (Ausschnitt aus „Calvin and Hobbes“) .......................................... 439 Markierungen (Gegenüberstellung von Standbildern aus Situationen 16_1_2, 20_1_2) ........................................................... 441 „Is‘ ja cool.“ (Standbild aus Situation 11_1_2) ................................ 443 „Herz“ (Standbild aus Situation 16_1_2) ....................................... 447 Ritterburg (Situation 1_2_1) ............................................................ 518 Sternzeichen U-Boot (Situation 2_1_1)......................................... 519 Huhn (Situation 3_1_1) .................................................................... 520 Vogelhaus (Situation 3_2_1)............................................................ 521 M. und ich (Situation 4_1_1) ........................................................... 522 Piratenschiff mit Schatz (Situation 4_1_2).................................... 523 Schiff (Situation 8_1_1) .................................................................... 524 Pfefferkuchenhaus mit Garten und Ofen (Situation 8_1_2) .................................................................................................. 525 Floß mit Sonnenkäfer (Situation 10_1_2) ..................................... 526 Giraffe (Situation 11_1_2) ............................................................... 527 Raumschiff (Situation 12_1_1) ....................................................... 528 Vogelhaus (Situation 13_1_1) ......................................................... 529 ohne Titel (Situation 16_1_2) .......................................................... 530 „Indianer“, „Wigwam“ und Rind (Situation 20_1_2) ................. 531

Verzeichnis der empirischen Beispiele Beispiel 1: Beispiel 2: Beispiel 3: Beispiel 4: Beispiel 5: Beispiel 6: Beispiel 7: Beispiel 8: Beispiel 9: Beispiel 10: Beispiel 11: Beispiel 12: Beispiel 13: Beispiel 14: Beispiel 15: Beispiel 16: Beispiel 17: Beispiel 18: Beispiel 19: Beispiel 20: Beispiel 21: Beispiel 22: Beispiel 23: Beispiel 24: Beispiel 25: Beispiel 26: Beispiel 27: Beispiel 28: Beispiel 29: Beispiel 30: Beispiel 31: Beispiel 32: Beispiel 33: Beispiel 34: Beispiel 35: Beispiel 36: Beispiel 37:

((Ausschnitt aus Situation 4_1_2, 01:08:379-01:21:388)) ........... 241 ((Ausschnitt aus Situation 12_1_1, 03:27:895-03:43:661)) ......... 242 ((Ausschnitt aus Situation 16_1_2, 09:07:929-09:19:387)) ......... 244 ((Ausschnitt aus Situation 16_1_2, 20:34:032-20:46:185)) ......... 244 ((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 27:59:162-28:18:218)) ........... 246 ((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 02:32:087-03:30:346)) ........... 249 ((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 10:52:598-11:22:552)) ......... 251 ((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 11:38:930-11:48:894)) ......... 254 ((Ausschnitt aus Situation 8_1_2, 01:50:439-02:11:107)) ........... 254 ((Ausschnitt aus Situation 8_1_2, 09:00:076-09:28:111)) ........... 255 ((Ausschnitt aus Situation 8_1_2, 09:53:404-10:03:299)) ........... 256 ((Ausschnitt aus Situation 8_1_2, 15:13:572-15:18:580)) ........... 256 ((Ausschnitt aus Situation 3_1_1, 01:10:022-01:38:567)) ........... 257 ((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 11:46:643-13:00:369)) ......... 260 ((Ausschnitt aus Situation 16_1_2, 23:58:980-25:18:809)) ......... 264 ((Ausschnitt aus Situation 16_1_2, 24:11:323-24:19:132)) ......... 270 ((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 10:59:447-11:43:967)) ........... 273 ((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 07:29:386-07:44:964)) ........... 275 ((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 08:34:852-09:01:611)) ........... 276 ((Ausschnitt aus Situation 8_1_2, 08:30:449-08:44:631)) ........... 281 ((Ausschnitt aus Situation 8_1_2, 13:01:069-13:37:749)) ........... 281 ((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 13:01:653-13:13:174)) ......... 285 ((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 14:02:457-14:10:570)) ......... 286 ((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 14:55:662-15:10:738)) ......... 286 ((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 14:23:275-14:34:837)) ......... 287 ((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 12:43:562-12:53:556)) ......... 289 ((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 13:38:327-13:43:335)) ......... 290 ((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 15:48:327-15:52:143)) ......... 291 ((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 18:52:141-18:58:591)) ......... 292 ((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 20:08:681-21:14:206)) ........... 296 ((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 23:41:758-23:48:132)) ........... 299 ((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 23:51:987-24:01:777)) ........... 300 ((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 24:40:004-24:44:837)) ........... 300 ((Ausschnitt aus Situation 8_1_2, 15:57:217-16:41:612)) ........... 301 ((Ausschnitt aus Situation 8_1_2, 16:41:612-17:42:374)) ........... 302 ((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 07:47:247-08:17:210)) ........... 304 ((Ausschnitt aus Situation 4_1_1, 11:43:541-12:26:669)) ........... 309

XVI

Beispiel 38: Beispiel 39: Beispiel 40: Beispiel 41: Beispiel 42: Beispiel 43: Beispiel 44: Beispiel 45: Beispiel 46: Beispiel 47: Beispiel 48: Beispiel 49: Beispiel 50: Beispiel 51: Beispiel 52: Beispiel 53: Beispiel 54: Beispiel 55: Beispiel 56: Beispiel 57: Beispiel 58: Beispiel 59: Beispiel 60: Beispiel 61: Beispiel 62: Beispiel 63: Beispiel 64: Beispiel 65: Beispiel 66: Beispiel 67: Beispiel 68: Beispiel 69: Beispiel 70: Beispiel 71: Beispiel 72: Beispiel 73: Beispiel 74: Beispiel 75: Beispiel 76:

Verzeichnis der empirischen Beispiele

((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 06:02:224-06:26:690)) ......... 313 ((Ausschnitt aus Situation 20_1_2, 4:32:449-6:04:038)).............. 315 ((Ausschnitt aus Situation 12_1_1, 08:03:235-08:10:749)) ......... 317 ((Ausschnitt aus Situation 8_1_2, 02:51:686-02:56:154)) ........... 318 ((Ausschnitt aus Situation 20_1_2, 20:55:889-21:12:180)) ......... 318 ((Ausschnitt aus Situation 20_1_2, 17:13:714-17:43:889)) ......... 319 ((Ausschnitt aus Situation 4_1_2, 13:16:911-13:38:035)) ........... 322 ((Ausschnitt aus Situation 12_1_1, 01:02:257-01:13:592)) ......... 323 ((Ausschnitt aus Situation 10_1_2, 04:03:392-04:14:790)) ......... 324 ((Ausschnitt aus Situation 11_1_2, 01:53:398-01:59:405)) ......... 325 ((Ausschnitt aus Situation 12_1_1, 06:03:624-06:25:256)) ......... 327 ((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 06:05:857-06:43:677)) ........... 328 ((Ausschnitt aus Situation 2_1_1, 06:38:172-07:01:450)) ........... 332 ((Ausschnitt aus Situation 20_1_2, 00:21:082-00:34:003)) ......... 336 ((Ausschnitt aus Situation 20_1_2, 15:55:777-16:07:084)) ......... 339 ((Ausschnitt aus Situation 3_2_1, 18:00:726-18:05:940)) ........... 341 ((Ausschnitt aus Situation 12_1_1, 14:00:037-14:16:014)) ......... 342 ((Ausschnitt aus Situation 3_2_1, 18:09:899-18:15:446)) ........... 343 ((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 20:56:384-21:22:251)) ......... 345 ((Ausschnitt aus Situation 4_1_1, 04:47:572-04:59:238)) ........... 348 ((Ausschnitt aus Situation 16_1_2, 17:32:878-17:43:030)) ......... 349 ((Ausschnitt aus Situation 20_1_2, 17:43:027-17:49:749)) ......... 351 ((Ausschnitt aus Situation 8_1_2, 17:09:593-17:23:430)) ........... 352 ((Ausschnitt aus Situation 8_1_2, 05:01:880-05:16:327)) ........... 353 ((Ausschnitt aus Situation 11_1_2, 11:13:858-11:28:530)) ......... 356 ((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 27:35:147-27:59:337)) ........... 367 ((Ausschnitt aus Situation 4_1_2, 18:09:841-18:24:275)) ........... 372 ((Ausschnitt aus Situation 20_1_2, 08:58:013-09:00:709)) ......... 383 ((Ausschnitt aus Situation 20_1_2, 08:58:013-09:17:778)) ......... 386 ((Ausschnitt aus Situation 20_1_2, 09:53:326-10:01:908)) ......... 387 ((Ausschnitt aus Situation 20_1_2, 03:28:407-03:44:390)) ......... 388 ((Ausschnitt aus Situation 11_1_2, 19:08:438-19:21:902)) ......... 391 ((Ausschnitt aus Situation 8_1_1, 22:29:206-22:48:434)) ........... 392 ((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 18:18:587-18:25:307)) ......... 392 ((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 20:56:384-21:22:251)) ......... 419 ((Ausschnitt aus Situation 16_1_2, 04:04:986-04:09:239)) ......... 427 ((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 18:52:141-18:58:591)) ......... 432 ((Ausschnitt aus Situation 11_1_2, 20:37:894-21:02:098)) ......... 443 ((Ausschnitt aus Situation 16_1_2, 05:07:071-05:11:599)) ......... 447

Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4:

Eriksons acht Phasen des Lebenszyklus ......................................... 42 Übersicht über die Formen des Kapitals ......................................... 57 The Mutual Focus/Emotional-Entrainment Model ................... 199 Auszug aus den GAT2-Transkriptionskonventionen ................. 517

1

Einführung

1.1

Ausgangspunkt Ein Wunsch den ich habe Immer etwas wissen zu wollen etwas wieder wissen zu wollen etwas besser wissen zu wollen immer zu wissen was wert ist gewusst zu werden immer zu wissen dass Unerkennbares bleibt (Franz Andrä, 2006, S. 40, Hvhg. i. O.)

Am Anfang der vorliegenden wissenschaftlichen Arbeit steht die Frage nach den prägenden Kindheitserlebnissen von Jungen. Eine bekannte literarische Fiktion solcher Erfahrungen ist in einem Kinderbuch der schwedischen Autorin Astrid Lindgren1 (1988, S. 96f., Hvhg. MA) enthalten: Aber Alfred, der Knecht auf Katthult, der mochte Michel – warum, weiß keiner. Und Michel mochte Alfred. Sie hatten ihren Spaß zusammen, wenn Alfred mit seiner Arbeit fertig war. Von ihm lernte Michel alles mögliche Nützliche, wie man ein Pferd anschirrt und wie man Hechte in Schlingen fängt und wie man Tabak kaut. Ja, dieses Letzte war sicher nicht besonders nützlich und Michel versuchte es auch nur ein einziges Mal, aber er versuchte es, denn er wollte alles können, was Alfred konnte, und alles machen, was Alfred machte. Alfred hatte ihm ein Gewehr aus Holz geschnitzt – nett von ihm, Astrid Lindgren (1907-2002) hat Figuren wie „Pippi Langstrumpf“, „Ronja Räubertochter“ oder „Karlsson vom Dach“ geschaffen. Die Jungen und Mädchen in ihren Büchern zeigen eine besondere Autonomie in ihrem Denken und Handeln und widersetzen sich der Bevormundung durch Erwachsene (vgl. Digel & Kwiatkowski, 1990, Bd. 13, S. 159). 1

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Andrä, Die Konstruktion von Männlichkeit in kindheitspädagogischen Interaktionen, Kultur und gesellschaftliche Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24904-5_1

2

1 Einführung

nicht? Diese Holzbüchse war Michels kostbarster Schatz. Sein zweitkostbarster Schatz war eine kleine hässliche Schirmmütze, die ihm sein Papa einmal gekauft hatte, als er in der Stadt war und nicht genau wusste, was er tat.

Michel aus Lönneberga, die zentrale Figur des Buches, lebt auf dem Bauernhof Katthult, den seine Familie und verschiedene Angestellte bewohnen und bewirtschaften. Das Zitat verweist auf Menschen und Dinge, die im Alltag des Jungen wesentlich sind. Alfred, der Knecht, ist ein Vorbild für ihn. Zwischen beiden besteht eine herzliche Beziehung. In diesem Verhältnis wird mit Begeisterung mehr oder weniger nützliches Wissen vermittelt und aufgenommen. Der Junge verfügt zudem über zwei „kostbare Schätze“, ein „Gewehr aus Holz“, das ihm Alfred geschnitzt hat, und eine „hässliche Schirmmütze“ von seinem Vater, der „nicht genau wusste, was er tat“, als er sie kaufte. Die meisten heute in Deutschland lebenden Jungen kennen Bauernhöfe nur noch aus Bilderbüchern. Anders als für Michel ist für sie neben der Familie die Kindertagesstätte2 zu einem wesentlichen Ort der Kindheit geworden, an dem sie auch erste Erfahrungen mit der Geschlechterunterscheidung sammeln. Hier werden die meisten Jungen Teil von homogenen Gruppen, in denen die Differenzierung geschlechtstypischer Eigenschaften beginnt (vgl. Thorne, 1994, S. 29ff.). In Kindertagesstätten erleben viele von ihnen inzwischen auch männliche Fachkräfte als Bezugspersonen, die für manche Jungen eine ähnliche Signifikanz entwickeln wie Alfred für Michel. An diesem Ort setzt das Forschungsvorhaben an. Das zugrunde liegende Datenmaterial ist im Rahmen der Tandem-Studie von meinen Kolleginnen Wenke Röseler, Petra Schneider-Andrich und mir erhoben worden.3 Es handelt sich um in Im Folgenden werden zur Bezeichnung der Institutionen vorschulischer Bildung und Erziehung der Begriff „Kindertagesstätte“ und die verbreitete Abkürzung „Kita“ genutzt. Das in Deutschland weiterhin gebräuchliche und auch international bekannte Wort „Kindergarten“ wird nur verwendet, wenn sich damit ein zeitgeschichtlicher Rückblick verbindet oder es in Quellenangaben explizit enthalten ist. 3 Ziel dieser Untersuchung war der Vergleich des pädagogischen Verhaltens von Erzieherinnen und Erziehern in Kindertagesstätten. Das Datenmaterial umfasst neben Videoaufzeichnungen von Einzel- und Gruppensituationen auch Interviews und einen Persönlichkeitstest. Die Spielsituationen folgten zum Zweck der Vergleichbarkeit einem quasiexperimentellen Ansatz. Die Datenerhebungen wurden von 2011 bis 2013 in Schleswig2

1.2 Fragen

3

Kindertagesstätten videographierte Spielsituationen von einer männlichen oder weiblichen Fachkraft mit jeweils einem Jungen sowie zur Kontrastierung um einzelne Aufnahmen mit Mädchen.4 Vor der analytischen Auseinandersetzung mit diesem Datenmaterial wird ein breiter theoretischer Rahmen entwickelt, der Konzeptualisierungen von Identität sowie soziologische Theorien und entwicklungspsychologische Konzepte zu Geschlecht und Männlichkeit umfasst (vgl. Kapitel 2-6). Trotz dieser umfangreichen wissenschaftlichen Abstraktionen zeigt sich die Sozialisation von Jungen bei genauerer Betrachtung empirisch weitgehend unerforscht (vgl. Niederbacher & Zimmermann, 2011, S. 172ff.).5 Das Forschungsvorhaben soll dazu beitragen, diese Lücke zu schließen. 1.2

Fragen

Das erkenntnisleitende Interesse der vorliegenden Forschungsarbeit bezieht sich auf die Entstehung von Geschlechtsidentität in Interaktionen zwischen Jungen und männlichen oder weiblichen Fachkräften in Kindertagesstätten. Es geht um die Beschreibung und Interpretation eines Ausschnittes aus der Praxis männlicher Sozialisation auf der Grundlage eines konstruktivistischen und interaktionistischen Menschenbildes und unter Verwendung einer qualitativen Methodologie. Bereits in dieser Formulierung sind sozialwissenschaftliche Theorieperspektiven enthalten, die in den folgenden Abschnitten vertieft und begründet werden müssen. Für den Zugang zum Datenmaterial werden an dieser Stelle in größtmöglicher Allgemeinheit folgende Ausgangsfragen formuliert: Holstein, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Thüringen, Sachsen und Berlin durchgeführt. Teilgenommen haben 41 Kita-Gruppen (Altersgruppe drei bis sechs Jahre), die von einer weiblichen und einer männlichen Fachkraft gemeinsam („im Tandem“) geleitet werden, sowie darüber hinaus zwölf von zwei Frauen geleitete Vergleichsgruppen (vgl. Brandes, Andrä, Röseler, & Schneider-Andrich, 2016, S. 66ff.). 4 Die Auswahl der Videosequenzen wird in den Kapiteln 7.5.3 und 8.1 erläutert und begründet. 5 Zur Recherche vorliegender Forschungsbefunde wurden die Datenbanken FIS Bildung Literaturdatenbank, WISO SOWI und PsycINFO mit den Schlagwörtern „Geschlechtsidentität“, „Jungen“, „Gender“, „Männlichkeit“, „Konstruktion“ und „Kindertagesstätte“ durchsucht.

4

1 Einführung

  

Was passiert zwischen den Jungen und den männlichen bzw. weiblichen Fachkräften? Welche geschlechtlich konnotierten Inhalte werden in welcher Weise zu Bestandteilen der Interaktionen? Welcher Beitrag zur Ausbildung einer geschlechtlichen Identität der Jungen kann diesen Phänomenen zugeschrieben werden?

In der kritischen Auseinandersetzung mit den vorliegenden Theorien werden diese Ausgangsfragen weiter differenziert. Dazu dient im Anschluss zuerst eine allgemeine Standortbestimmung des Forschers in Bezug auf die Beschreibbarkeit sozialer Phänomene und ihrer geschlechtlichen Ausprägungen (vgl. Kapitel 1.3). Die fünf folgenden Abschnitte sind Annäherungsversuche (vgl. Kapitel 2-6). Jede dieser theoretischen „Unternehmungen“ fügt den Ausgangsfragen neue Facetten hinzu. Die hier noch allgemein gehaltenen Fragestellungen werden dadurch konkreter. Das Objekt des Erkenntnisinteresses, das an dieser Stelle ebenfalls noch unscharf bleibt, wird nach und nach genauer herausgearbeitet. Dieser theoretische Rahmen ist im Sinne eines induktiven Vorgehens nur vorläufig, aber doch notwendig, wie der US-amerikanische Ethnologe Clifford Geertz (2003, S. 38, Hvhg. i. O.) hervorhebt: Auch wenn man jeden Versuch einer dichten Beschreibung, der sich nicht auf das Offensichtliche und Überflüssige richtet, in einem Zustand allgemeiner Verwirrung darüber beginnt, was zum Teufel da vorgeht, und sich erst zurechtfinden muss, geht man an die Sache doch nicht ohne irgendwelche intellektuellen Vorkenntnisse heran (jedenfalls sollte man es nicht).

Vor dem Hintergrund des vorher entwickelten Deutungshorizontes wird im Anschluss der Versuch unternommen, das Datenmaterial unter Verwendung einer qualitativen Methode zu verstehen und zu interpretieren (vgl. Kapitel 8-10).

1.3 Das Soziale in Worte fassen

1.3

Das Soziale in Worte fassen

1.3.1

Vorbemerkung

5

Inhalt dieser Arbeit ist der Versuch, einen bestimmten Aspekt des menschlichen Verwiesen-Seins auf Andere in Worte zu fassen. Es handelt sich damit um ein dezidiert sozialwissenschaftliches Unterfangen, d.h. um den Versuch der systematischen Analyse eines Ausschnittes menschlicher Gesellschaft (vgl. Hillmann, 2007, S. 833). Diese Standortbestimmung eröffnet ein weites Feld vorhandener theoretischer Abstraktionen. Die vorliegende Arbeit berührt übergreifend soziologische, psychologische und erziehungswissenschaftliche Perspektiven, die bei der Betrachtung des Forschungsobjektes miteinander verknüpft werden. Sozialwissenschaftliche Forschung ist ein Versuch, Erkenntnisse zu gewinnen, diese niederzuschreiben und gleichzeitig einsehen zu müssen, dass das eigene Geworden-Sein die Erkenntnisse mitbestimmt hat (vgl. Bourdieu, 1997, S. 159). Ein besonderer Aspekt des Untersuchungsgegenstandes ist dabei zusätzlich wesentlich: Geschlechtsidentität ist für die meisten Menschen das Gegenteil dessen, was Norbert Elias6 (1987, S. 270) als weißen Fleck „auf der Landkarte ihrer Emotionen“ bezeichnet. Sie ist ein tief empfundener Kern der Selbsterfahrung. Die Vielzahl an Blickwinkeln, die sich aus dem männlichen Geworden-Sein des Verfassers ergeben, wird sich von methodischer Kontrolle begrenzen lassen, aber dennoch in den Forschungsprozess einfließen. Nur vier dieser Perspektiven sollen angerissen werden: Es ist die Erinnerung an den Jungen, der vor über dreißig Jahren in einen Kindergarten ging und versuchte, Männlichkeit beim „Rauchen“ von aus Butterbrotpapier gedrehten „Zigarren“ zu erlangen. Wirkmächtig ist zudem das intensive Erleben des eigenen Vater-Seins, das diesen Jungen später auf die erwachsene Seite einer kindlichen Sozialisation geführt hat. Die berufliche Tätigkeit als Erzieher in einer Kindertagesstätte erweist sich als weitere Quelle gedanklicher Inspiration. Schließlich ist es der Blickwinkel Norbert Elias (1897-1990) versuchte in seinen theoretischen Entwürfen, eine prozessorientierte Sozialwissenschaft zu entwickeln, in der die Verflechtung von Individuum und Gesellschaft abgebildet werden kann (vgl. Hillmann, 2007, S. 176f.; Kapitel 6.3). 6

6

1 Einführung

des Forschers, der z.B. die eigene berufspraktische Erfahrung als Pädagoge in einer geschlechtlichen Minderheitensituation später als „teilnehmende Beobachtung“ deuten könnte. Die vorliegende Arbeit ist das Dokument eines Erkenntnisprozesses. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen und Forschungsbefunde sind die wesentlichen Argumente in diesem Diskurs. Die damit verbundenen Begriffsbildungen müssen geklärt werden. Die folgenden Abschnitte enthalten daher Definitionen sozialwissenschaftlicher Termini (vgl. Kapitel 1.3.2), einen einführenden Überblick sowohl über die historische Entwicklung der Begriffe „Geschlecht“ und „Mann“ (vgl. Kapitel 1.3.3) als auch über die dahinterliegende Fachdiskussion (vgl. Kapitel 1.3.4) sowie übergreifende Anforderungen an eine sozialwissenschaftliche Theoriebildung (vgl. Kapitel 1.3.5). 1.3.2

Sozialwissenschaftliche Grundbegriffe

Begriffe sind die Werkzeuge, die geschärft werden müssen, wenn es darum geht, soziale Zusammenhänge in Worte zu fassen.7 Beschrieben werden soll das Mann-Werden und damit ein wesentlicher Aspekt der Aufnahme Heranwachsender in die für Menschen typischen Formen des Zusammenlebens. Dieser Prozess wird umfassend als Sozialisation bezeichnet. Es geht dabei im Allgemeinen um die Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft. Diese Entwicklung umfasst alle Ereignisse, die den einzelnen Menschen zum Teil einer Gesellschaft und Kultur werden lassen. Der Sozialisationsprozess betrifft verschiedene Aspekte: die Persönlichkeit des Subjekts, seine interaktive Begegnung mit anderen Individuen, die Struktur der Institutionen, in die es eingebunden ist, und das System der Gesellschaft insgesamt als umfassenden Rahmen dieser Entwicklung. Sozialisation verläuft dabei auf zwei Ebenen, zum einen als Vergesellschaftung und zum anderen als Personalisation bzw. Individuierung. Das Individuum kann sich schließlich innerhalb der sozialen Werte und Verhaltenserwartungen orientieren und sich gleichzeitig in Erläuterungen zu allgemeinen Sprachregelungen, die den vorliegenden Text betreffen, wie z.B. die Zitierweise, sind im Anhang enthalten (vgl. Kapitel 13.1). 7

1.3 Das Soziale in Worte fassen

7

individueller Form mit ihnen auseinandersetzen (vgl. Hillmann, 2007, S. 818; Tillmann, 2010, S. 161). Eine Theorie der Sozialisation soll also zwei gegenläufige Fragen beantworten: Wie konstituiert sich Gesellschaft aus einer Masse von Individuen? Dieser Aspekt zeigt sich deutlich in einer ersten Begriffsdefinition. Im „Oxford Dictionary of the English Language“ wird im Jahr 1828 die Bedeutung von „to socialize“ mit „to make fit for living in society“ umrissen. Wie kann sich das Individuum aber in dieser Konstellation behaupten und zu einer Identität als seiner eigenen unverwechselbaren Persönlichkeit finden? Zwischen diesen beiden Fragen bewegt sich der sozialisationstheoretische Wissenschaftsdiskurs. Die jeweilige Schwerpunktsetzung prägt die Konzepte (vgl. Abels & König, 2010, S. 10, bzgn. auf Clausen, 1968). Die Persönlichkeitsbildung des Individuums wird mit dem Begriff Identität umrissen. Wie sich im Folgenden zeigen wird, ist es eine besondere Herausforderung, diese Schnittstelle verschiedener Perspektiven zu konzeptualisieren (vgl. Kapitel 2). Geschlecht ist ein zentraler Aspekt der Identität, der über die Kindheit hinaus die Biographie prägt. Katz (1986, zitiert in Blank-Mathieu, 2001, S. 10) formuliert daher: „Wenn man den Lebenslauf einer Person auf der Grundlage eines einzigen Merkmals vorhersagen sollte, so fiele die Wahl höchstwahrscheinlich auf das Geschlecht.“ Im vorliegenden Zusammenhang muss der Identitätsbegriff daher noch einmal als Geschlechtsidentität eingegrenzt werden. Dabei handelt es sich um die Schnittstelle der kulturell bedingten Selbst- und Fremdbilder als Mann oder Frau. Das Individuum ist herausgefordert, diese Sichtweisen durch bestätigende oder ablehnende Handlungszüge miteinander in Einklang zu bringen (vgl. Lenz & Adler, 2010, S. 24). Das geschlechtliche Arrangement einer Gesellschaft in seiner Gesamtheit wird im Begriff der Geschlechterordnung zusammengefasst. Darin enthalten ist ein Stratifikationsaspekt. Die Geschlechterordnung ist in den meisten Gesellschaften patriarchal und sexistisch, d.h. sie beruht auf einer allgemeinen Unterordnung von Frauen, die häufig durch naturalistische Begründungen gerechtfertigt wird (vgl. ebd., S. 26). Die damit verbundenen Privilegien von Männern bezeichnet Connell (2013, S. 192) als „patriarchale Dividende“. Diese umfasst u.a. Autorität, Respekt, Autonomie, ökonomische Vorteile oder den Zugang zu wichtigen Statuspositionen. Auch wenn nicht alle Männer gleichermaßen von der „patriarchalen

8

1 Einführung

Dividende“ profitieren können, ist sie doch ein Vorteil für die meisten von ihnen. Explizit ausgeschlossen von ihr sind nur wenige, in vielen Gesellschaften z.B. homosexuelle Männer (vgl. ebd., S. 192f.). Die Privilegien der Geschlechterordnung sind für ihre Nutznießer unverdient und meist nicht sichtbar. Die männliche Sozialisation verschleiert diese Willkür zusätzlich, d.h. Männer sind zwar oft bereit, die Benachteiligung von Frauen anzuerkennen, ihre eigenen Vorteile werden von ihnen aber meist verleugnet (vgl. McIntosh, 2005, S. 300ff.). Die Ausformungen menschlicher Gesellschaft umfassen eine Makround eine Mikroebene. Erstere betrifft vor allem die indirekten und institutionalisierten Beziehungen zwischen den Handelnden. Die Sozialisation des Individuums ist auf dieser Ebene eine Vergesellschaftung. Es kann von Geschlechterverhältnissen gesprochen werden. Demgegenüber umfasst die mikrosoziale Dimension unmittelbare Kontakte und konkrete Interaktionen. Hier ist die Genese des Subjektes zu verorten. Sozialisatorische Prozesse werden auf dieser Ebene treffender als Vergemeinschaftung beschrieben. Die Geschlechterbeziehungen treten in den Vordergrund (vgl. Lenz & Adler, 2010, S. 11f.). Die folgende sozialwissenschaftliche Definition des Begriffs „Geschlecht“ differenziert diese Makro- und Mikroebenen des Sozialen: Geschlecht soll als Gefüge sozialer Beziehungen, als Komplex kultureller Leitvorstellungen und Zuschreibungen und als Komplex sozialer Praktiken verstanden werden, die allesamt Körperunterschiede aufgreifen und herausstellen, um eine Differenzierung der Lebensführung, einschließlich der Zuweisung ungleicher Lebenschancen und Ressourcen, zu generieren und zu legitimieren. (ebd., S. 21)

Beschreibungen des Phänomens Geschlecht müssen also Sozialstruktur, Kultur und Handeln einschließen und auf den Körper beziehen. Diese Aspekte finden sich auf den oben eingeführten Makro- und Mikroebenen wieder. Die Sozialstruktur umfasst auf der Makroebene der Geschlechterverhältnisse Phänomene wie den Arbeitsmarkt oder den Sozialstaat. Auf der Mikroebene der Geschlechterbeziehungen betrifft die strukturelle Komponente vor allem Kontakte, die auf Wiederholung angelegt sind, wie z.B. in der Familie (vgl. ebd., S. 22f.). Die zweite Ebene der Kultur bedarf zuerst einer allgemeinen Definition, bevor sie in Bezug auf das Thema Geschlecht spezifiziert werden kann.

1.3 Das Soziale in Worte fassen

9

Kultur umfasst alle Lebensformen und Wertvorstellungen einer historisch und regional bestimmten Gruppe von Menschen sowie deren menschlich geformte Lebensbedingungen. Das schließt Ideen, Werte und Symbole sowie die Formen und Institutionen des Zusammenlebens als auch Gebäude und Werkzeuge oder Wissenschaft und Technik ein (vgl. Hillmann, 2007, S. 471). Kultur kann aus sozialwissenschaftlicher Perspektive zudem als ein Prozess betrachtet werden, in dem die Handelnden symbolische Ausdrucksformen in einer spezifischen Weise praktisch aktualisieren (vgl. Geertz, 2003, S. 9; Scholz, 2012, S. 128f.). Der kulturellen Dimension sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung lassen sich die Begriffe Geschlechterbilder, Geschlechtercharaktere, Geschlechternormen und Geschlechterstereotype zuordnen. Geschlechterbilder enthalten die kollektiv verfügbaren Vorstellungen über das Verhalten von Männern und Frauen. In Beschreibungen von Geschlechtercharakteren wird dieses Verhalten als vermeintlich natürliche Wesensart der Individuen definiert. Durch Geschlechternormen wird die Auswirkung der Kultur auf die Handlungsebene beschrieben. Sie erhalten ihre praktische Wirksamkeit dadurch, dass sie im Prozess der Sozialisation als Erwartung eines konkreten Handelns verinnerlicht werden (vgl. Lenz & Adler, S. 24f.). Geschlechterstereotype sind mentale Repräsentationen. Sie umfassen sozial geteiltes Wissen über Männer und Frauen. Darin sind verallgemeinernde Vorstellungen enthalten, die die tatsächliche Merkmalsvielfalt vernachlässigen. Es entsteht eine Gegenüberstellung zweier Personengruppen mit jeweils „femininen“ und „maskulinen“ Eigenschaften. Dabei ist dieses Wissen zwar individuell ausgeprägt, gehört aber auch zum umfassenden kulturellen Verständnis der Geschlechterverhältnisse und beziehungen. Geschlechterstereotype enthalten deskriptive oder präskriptive Aspekte, je nach der mit ihnen verbundenen normativen Erwartung an das Gegenüber, dem Stereotyp zu entsprechen. Zwischen dem vorhandenen Wissen und seiner Anwendung als Stereotypisierung Anderer besteht kein zwangsläufiger Zusammenhang. Allerdings werden Geschlechterstereotype von früher Kindheit an so intensiv verinnerlicht, dass sie in Begegnungen nur schwer kontrolliert werden können (vgl. Eckes, 2008, S. 171f.). Forschungen über Geschlechterstereotype zeigen diese als zeitlich sehr stabil bei geringer kultureller Invarianz. Frauen wird dabei im Wesentlichen sowohl Wärme als auch Expressivität und Männern Kompetenz und

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Instrumentalität zugeschrieben. Diese Inhalte ergeben sich aus der Übertragung von sozialen Funktionen auf die sie ausübenden Individuen bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Kontextfaktoren (vgl. ebd., S. 172, bzgn. auf Eagly, 1987). Sie können auch sozialstrukturell erklärt werden, wenn sich aus den Statuspositionen von Gruppen und ihren sozialen Interdependenzen gegenseitige Zuschreibungen ergeben. Dabei wird zwischen dem hohen oder niedrigen Status von Gruppen und zwischen ihrer gegenseitigen Beziehung als wettbewerbsorientiert oder kooperativ unterschieden. Je nach Status wird eine Gruppe als kompetent oder inkompetent stereotypisiert. Die wettbewerbsorientierte oder kooperative Wechselwirkung mit anderen Gruppen kennzeichnet sie als „warm“ oder „kalt“. Die Zuordnung von Männern zu einer statushohen und wettbewerbsorientierten Gruppe und die der Frauen zu einer mit niedrigem Status und kooperativem Charakter führt dann zur stereotypen Gegenüberstellung von „männlicher Kompetenz“ und „weiblicher Wärme“. Dabei ist deren präskriptive Funktion so ausgeprägt, weil die statushöhere Gruppe der Männer von der der Frauen abhängig ist (vgl. ebd., S. 173; Fiske, Cuddy, Glick, & Xu, 2002, S. 879ff.). Geschlechterstereotype geben den Handelnden in sozialen Begegnungen eine hilfreiche, vereinfachende Struktur, an der sie ihre Interaktionszüge orientieren können. Das betrifft die Aspekte der Ökonomie, Inferenz, Kommunikation, Identifikation und Evaluation. Der Informationsgewinn wird bei geringstem kognitiven Aufwand maximiert. Die Unsicherheit wird verringert, da Verhalten vorhergesehen werden kann. Die Kommunikation wird vereinfacht, da die Stereotype Muster vorgeben, z.B. wer wem die Tasche trägt. Stereotype erleichtern zudem die Identifikation mit einer kohärenten Geschlechtsidentität und die Evaluation der eigenen Gruppe im Vergleich zur anderen (vgl. Eckes, 2008, S. 174). Um diese Funktionen erfüllen zu können, werden Geschlechterstereotype auf einer niedrigeren Abstraktionsebene mit „Substereotypen“ unterlegt, die – wie die „Karrierefrau“ – den übergeordneten Merkmalen widersprechen können, ohne dass diese in Frage gestellt werden. Auffällig ist, dass Geschlechterstereotype gegenüber Frauen mit einem Widerspruch verknüpft sind: Trotz der Zuordnung zu einer niedrigen Statusgruppe werden ihnen allgemein positive Eigenschaften zugeschrieben. In diesem „Diskriminierungs-Zuneigungs-Paradox“ (ebd., S. 176) spiegelt sich ein zweiseitiger Sexismus aus Ablehnung und

1.3 Das Soziale in Worte fassen

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wohlmeinender Überheblichkeit. Geschlechterstereotype haben eine hohe Handlungsrelevanz. Studien belegen, dass sie das Verhalten von Männern und Frauen in Interaktionen beeinflussen, da diese ihre Selbstdarstellung an der vermuteten Bewertung durch das Gegenüber ausrichten, selbst wenn diese unausgesprochen geblieben ist (vgl. ebd., S. 174ff., bzgn. auf Zanna & Pack, 1975, Skrypnek & Snyder, 1982; Morier & Seroy, 1995, S. 502). Das oben eingeführte Begriffsgefüge umfasst neben Sozialstruktur und Kultur die Handlungspraxis der Individuen als dritten Aspekt. Diese Handlungen als wechselseitige Interaktionen enthalten sowohl eine praktische als auch eine symbolische und damit in der Kultur verankerte Dimension. Thorne (vgl. 1994, S. 103f.) verweist diesbezüglich auf das Verhalten von Jungen- und Mädchengruppen auf dem Hof einer Grundschule. Möglicherweise unterscheiden diese sich in einem erfassbaren praktischen Verhalten. So könnte es sein, dass Jungen häufiger andere Kinder offen beleidigen, als Mädchen das tun. Damit ist aber noch nicht die symbolische oder diskursive Ebene erfasst, z.B. wenn sich Jungen oder Mädchen innerhalb ihrer Gruppen über die jeweils Anderen austauschen und ihnen allgemeine Eigenschaften zuordnen. Dabei nehmen sie auf Bedeutungen Bezug, die unabhängig von ihren Handlungen existieren. Diese beiden Ebenen, die Handlungspraxis und der damit verbundene symbolische Diskurs, müssen zuerst allgemein definiert werden. Wechselseitige Interaktionszüge repräsentieren ein soziales Handeln, wenn sie sinnhaft aufeinander bezogen sind (vgl. Hillmann, 2007, S. 326). Max Weber8 (1984, S. 19, Hvhg. i. O.) formuliert in seiner grundlegenden Definition folgende Begriffsbestimmung: ‚Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder

Max Weber (1864-1920) begründete eine „verstehende Soziologie“. Deren wesentlicher Inhalt ist die Erklärung sozialen Handelns auf Grundlage des von den Handelnden subjektiv gemeinten Sinns (vgl. Hillmann, 2007, S. 938f., 956f.): „‚Erklären‘ bedeutet also für eine mit dem Sinn des Handelns befaßte Wissenschaft so viel wie: Erfassung des Sinnzusammenhangs, in den, seinem subjektiv gemeinten Sinn nach, ein aktuell verständliches Handeln hineingehört“ (Weber, 1984, S. 25, Hvhg. i. O.). 8

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den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.

Für das interpretative Paradigma der Soziologie bilden diese Handlungen und die damit verbundenen situativen gegenseitigen Zuweisungen und Interpretationen von Bedeutungen durch die Beteiligten die soziale Wirklichkeit. Ausgehend von dieser Grundannahme haben sich Konzepte wie der Symbolische Interaktionismus und die Ethnomethodologie etabliert (vgl. Hillmann, 2007, S. 397; Lenz & Adler, 2010, S. 49f.; Kapitel 2.2, 3.3, 3.4). Mit dieser allgemeinen Definition der handlungspraktischen Ebene wird deutlich, dass sich die symbolischen Anteile zwischenmenschlicher Begegnungen nur bedingt vom Handeln trennen lassen, da sie bereits in den gegenseitigen Interpretationen der Beteiligten enthalten sind, an denen sie ihr Tun ausrichten (vgl. Deserno, 2006, S. 346). Was aber ist ein Symbol? Und welche Bedeutung hat die Fähigkeit des Austauschs von Symbolen für den Menschen? Bei Symbolen handelt es sich um alle stellvertretenden Zeichen für einen bestimmten Sinnzusammenhang (vgl. Hillmann, 2007, S. 877). Für Steins (vgl. 2003, S. 31) sind Symbole alle sozialen Handlungen, die für eine Gruppe von Menschen eine vergleichbare Bedeutung haben. Erst durch die Kompetenz, mit ihnen innerlich interpretativ operieren zu können, kann Identität als Ergebnis einer Aushandlung zwischen Selbst- und Fremdbild entstehen (vgl. Kapitel 2.2). Die Fähigkeit solche Zeichen in Interaktionen anzuwenden und das Gegenüber auf sie hinzuweisen, kennzeichnet den Menschen gegenüber anderen Arten: Der grundlegende Unterschied liegt darin, daß der Mensch dieses Merkmal, wie immer es beschaffen sein mag, anderen Personen und sich selbst aufzeigt. Die Symbolisation durch diese aufzeigende Geste stellt den Mechanismus dar, der zumindest die Bestandteile des intelligenten Verhaltens liefert. (Mead, 1991, S. 160f., Hvhg. i. O.)

Die ausgeprägte Fähigkeit des Menschen zur gestischen und ikonischen Symbolbildung hat evolutionär eine besondere Bedeutung. So meint der USamerikanische Anthropologe Michael Tomasello (2008, S. 54, S. 330): “vocal conventions came to possess communicative significance originally only by

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piggybacking on – being used redundantly with – naturally meaningful gestures.“9 Es ist unwahrscheinlich, dass sich aus der begrenzten Vokalisierungsfähigkeit der Primaten die willkürliche Abstraktion einer Sprache entwickelt hat. Vermutlich war diese Entwicklung in die parallele Entfaltung der bereits bei Affen vorhandenen Fähigkeit zu kommunikativen Gesten eingebettet. Der menschliche Austausch objektiv-sprachlicher, gruppenspezifischer Zeichen ist auch weiterhin mit Symboliken verbunden, die weniger kognitiv, sondern sinnlich erfahren werden. Darauf verweisen insbesondere die dialogisch abgestimmten, vorsprachlichen Bindungsinteraktionen mit Säuglingen (vgl. Mies, 2013, S. 76f.; Kapitel 6.5.3). Diese Differenzierung des Symbolbegriffs zwischen ikonischen und arbiträr-sprachlichen Bedeutungsträgern wird in tiefenpsychologischen Konzepten weiter ausgearbeitet. Der Soziologe und Psychoanalytiker Alfred Lorenzer10 (1988, S. 161) sieht das System arbiträrer sprachlicher Konventionen nicht nur evolutionär, sondern auch ontogenetisch in ein Fundament sinnlicher „Proto-Symbole“ eingebettet: Vorgängig zur Spracheinführung wird ein nichtsprachliches Sinngefüge von Praxisfiguren entwickelt. Über die Stufen der Erweiterung der dyadischen Enge zur Familie wird noch innerhalb der vorsprachlichen Interaktionsformen die Eigenaktivität des Kindes begründet und wird als wichtigster Schritt der Eigenaktivität die Bildung von sinnlich-unmittelbaren Proto-Symbolen geleistet. Die Spracheinführung fügt diesem Sinngefüge das System der sprachlich organisierten Praxisanweisungen hinzu, wobei im Zuge der Spracheinführung jede Situation ihren Namen erhalten muß, um so die Doppelregistrierung des Verhaltens zu ermöglichen und damit Bewußtsein zu stiften. Auch im bewußten Handeln aber bleibt die Schicht der sinnlichunmittelbar einsozialisierten Interaktionsformen die Basis der nun mit Bewußtsein betriebenen menschlichen Praxis.

Vygotskij (1992, S. 234) verweist mit Perspektive auf die menschliche Ontogenese ebenfalls auf die Zeigegeste. Dabei deutet er ihre phylogenetische Signifikanz an, wenn er sie als „uralte Grundlage aller höheren Verhaltensformen“ bezeichnet. 10 Alfred Lorenzer (1922-2002) hat insbesondere zur symboltheoretischen Weiterentwicklung der Psychoanalyse beigetragen (vgl. Görlich & Lüdde, 2013, S. 43ff.). 9

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Während die sprachlichen Symbole Übersetzungsleistungen in ein anderes Medium darstellen, mit denen allen Dingen erst eine Bezeichnung gegeben wird, ermöglichen die sogenannten „Proto-Symbole“ sinnlich-unmittelbares, spielerisches Wiederholen von Interaktionserfahrungen. Diese prä-verbale Verknüpfung von sozialen Eindrücken und Symbolen gilt als frühe Grundlage der Identität und ist von großer Bedeutung für die kindliche Ontogenese. Drei verschiedene Formen dieser Übertragungen in Symbole werden von Lorenzer (vgl. ebd., S. 165f.) beschrieben: Gegenständliche Bedeutungsträger ermöglichen es, Beziehungserfahrungen in der Auseinandersetzung mit einem Objekt greifbar werden zu lassen. Textuelle Bedeutungsträger, wie Märchen, wirken zwar sprachlich, übertragen ihre Bedeutung aber auch als szenische Darstellung menschlichen Verhaltens. Signifikante Gesten aus körperlichen Bewegungen können zudem Menschen zu personalen Bedeutungsträgern unmittelbar erfahrbarer Symbolik werden lassen. Die Körper der an Interaktionen beteiligten Individuen sind demnach nicht nur als anatomische Objekte relevant, sondern Orte eines sinnlichen Erlebens, das Teil des zwischenmenschlichen Austauschs ist und in dessen sozialwissenschaftlicher Beschreibung nicht vernachlässigt werden darf. Dieser Aspekt findet in der Kategorie des Leibes seine theoretische Entsprechung. Der Leib-Begriff wird in grundlegender Weise in der phänomenologischen Philosophie entworfen.11 Der Philosoph Helmuth Plessner12 (vgl. 1975, S. 291f.; Villa, 2011, S. 221ff.) differenziert Lebensformen nach ihrer „zentrischen“ bzw. „exzentrischen“ Positionierung. Die Fähigkeit, seine Selbstwahrnehmung innerhalb eines sozialen Zusammenhangs relativieren zu können, kennzeichnet den Menschen und die „exzentrische“ Stellung seines Körpers. Er lebt aber weiterhin aus seiner leiblichen Mitte heraus wie das Tier, was zu einer doppelten Existenzform führt:

Die phänomenologische Philosophie versucht durch konkrete „Wesensschau“ (Hillmann, 2007, S. 676) zu Abstraktionen zu gelangen, statt psychologisierende Begriffe zu konstruieren (vgl. Gugutzer, 2010, S. 166, bzgn. auf Schmitz, 1964). 12 Helmuth Plessner (1892-1985) gilt als einer der Begründer der neueren philosophischen Anthropologie (vgl. Hillmann, 2007, S. 682f.). 11

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Der Exzentrizität der Struktur des Lebewesens entspricht die Exzentrizität der Lage oder der unaufhebbare Doppelaspekt seiner Existenz als Körper und Leib, als Ding unter Dingen an beliebigen Stellen des einen RaumZeitkontinuums und als um eine absolute Mitte konzentrisch geschlossenes System in einem Raum und einer Zeit von absoluten Richtungen. Deshalb sind beide Weltansichten notwendig, der Mensch als Leib in der Mitte einer Sphäre, die entsprechend seiner empirischen Gestalt ein absolutes Oben, Unten, Vorne, Hinten, Rechts, Links, Früher und Später kennt, eine Ansicht, die als Basis der organologischen Weltanschauung dient, und der Mensch als Körperding an einer beliebigen Stelle eines richtungsrelativen Kontinuums möglicher Vorgänge, eine Ansicht, die zur mathematisch-physikalischen Auffassung führt. (Plessner, 1975, S. 294)

Der Mensch bleibt also Leib, auch wenn er sich als Körper betrachten kann. Der Leib kann sich aber nur über den Körper mitteilen. Anders gesagt: Das Individuum erlebt ihn in der sozial gedeuteten Form seines Körperwissens (vgl. Villa, 2011, S. 226).13 Für Schmitz (vgl. 2009, S. 29ff.) kennzeichnet den Menschen die Fähigkeit zur bewussten Selbstzuschreibung. Diese ist aber nur möglich, wenn ihr „Relat“ zweifelsfrei bekannt ist. Das Individuum muss sich seiner selbst bewusst sein. Dazu kommt es in Zuständen affektiven BetroffenSeins. Es entsteht eine „absolute Identität“ bzw. eine „primitive Gegenwart“ (ebd., S. 33f.). Die Person kann sich erkennen, ohne sich vergleichen zu müssen bzw. ohne sich vergleichen zu können.14 Der Zugang zu dieser „primitiven Gegenwart“ liegt in einer vitalen Dynamik des Leibes: Ich spreche, wenn ich ‚leiblich‘ sage, nicht vom sichtbaren und tastbaren Körper, sondern vom spürbaren Leib als dem Inbegriff solcher leiblicher Regungen wie z.B. Angst, Schmerz, Wollust, Hunger, Durst, Ekel, Frische, Müdigkeit, Ergriffenheit von Gefühlen. Eine definitorische Eingrenzung kann lauten: Leiblich ist, was jemand in der Gegend (nicht immer in den Grenzen) seines Körpers von sich selbst, als zu sich selbst gehörig, spüren kann, ohne Villa (vgl. 2011, S. 226) verweist darauf, dass z.B. die gegenwärtig populäre Deutung des Körpers als (Immun-) System Einfluss auf die Wahrnehmung desselben hat. 14 „Dann fallen die fünf [sic!] Momente hier, jetzt, sein, dieses, selbst, ich unausweichlich ohne Spielraum zusammen, während die Orientierung zusammengebrochen ist, so dass keine Merkmale für Identifizierung von etwas mit etwas unter dieser oder jener Hinsicht zu Verfügung stehen“ (Schmitz, 2009, S. 34, Hvhg. i. O.). 13

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sich der fünf Sinne, namentlich des Sehens und Tastens, und des aus deren Erfahrungen gewonnenen perzeptiven Körperschemas (der habituellen Vorstellung vom eigenen Körper) zu bedienen. (ebd., S. 34f., Hvhg. i. O.)

Schmitz (vgl. ebd., S. 35f.) sieht den vitalen Antrieb des Leibes als ein Wechselspiel zwischen Tendenzen der Engung und Weitung, wie es sich in der Atmung zeigt. Die Vitalität des Menschen offenbart sich vollumfänglich in der Sensibilität dieser Dynamik für äußere Reize. Alle leiblichen Regungen können auf einem Spektrum zwischen Engung, wie beim Erschrecken, und Weitung, wie im Falle von Erleichterung, verortet werden. Gugutzer (2002, S. 152, Hvhg. i. O.) differenziert zwischen Körper und Leib als einerseits „gegenständlichem Körperhaben“ und andererseits „spürbarem Leibsein“. Die beiden Dimensionen können zwar nur theoretisch voneinander getrennt werden, eine Unterscheidung zum Zweck der Analyse und zur Schärfung der Heuristik ist aber sinnvoll.15 Gugutzer (vgl. ebd., S. 152ff., bzgn. auf Schmitz, 1965, 1966, 1968, Soentgen, 1998, Kuhlmann, 2004) entfaltet diese Differenzierung daher in Bezug auf folgende Aspekte:   

Während der Körper auch unbelebt sein kann, ist der Leib immer ein lebendiger Körper. Die äußerliche Objektperspektive auf den Körper kann auch von anderen eingenommen werden, während der Leib immer eine singuläre innerliche Erfahrung des Subjektes bleibt. Um den Leib-Begriff bei der Beschreibung dieser subjektiven Erfahrung nicht zu substanzialisieren, sollte er adjektiviert werden. Dann könnte z.B. von „eigenleiblichem Spüren“ gesprochen werden. Da dieser Eindruck aber im Wesentlichen ein affektives Phänomen ist, wird der Begriff „leiblich-affektive Erfahrung“ vorgeschlagen.

Gugutzer (vgl. 2002, S. 154) verweist auf eine Begrüßungssituation zwischen zwei Personen: Der körperliche Eindruck der Umarmung kann nicht von seiner leiblichen Erfahrung getrennt werden. 15

1.3 Das Soziale in Worte fassen

 

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Während der Körper relativ zu anderen Objekten erfahren wird, kann das leibliche Empfinden vom Subjekt unmittelbar am Körper verortet werden.16 Der Körper kann geteilt werden, so z.B. in Arme oder Beine, während die leiblichen Eindrücke unteilbar sind.

Gugutzer (vgl. 2010, S. 166ff.) entwirft in Bezug auf den Leib eine neophänomenologische Soziologie bzw. leib-basierte soziologische Handlungstheorie.17 Sie fokussiert auf soziales Handeln und versucht, dessen Sinn in Anlehnung an das interpretative Paradigma zu erfassen. Allerdings stehen keine bewussten rationalen Vorgänge im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern vor allem der als prä-reflexiv angenommene Sinn des leiblichen Handelns. Gugutzer (vgl. ebd., S. 181) unterscheidet zwischen einem „Spürsinn“, mit dem der Handlungssinn des Gegenübers ohne Reflexion erfasst wird, und einem „Eigensinn“, da das Handeln durch den Körper nicht auf bewusste Intentionen zurückgeht. Es werden dabei also weniger symbolisch, sprachlich und rational vermittelte Interaktionen, sondern vor allem zwischenleibliche, nonverbale Wechselwirkungen betrachtet, die mit Begriffen wie „zwischenleiblicher Bewegungsdialog“ (ebd., S. 176) oder „Bewegungssuggestion“ (ebd., S. 171, bzgn. auf Schmitz, 2005) beschrieben werden. Letztere sieht Gugutzer (vgl. ebd., S. 173) gleichzeitig strukturell geprägt als auch handlungsanleitend. In diesen Erläuterungen tritt neben dem Begriff des Leibes der Affekt als eine weitere wichtige Kategorie hervor: „Alles affektive Betroffensein ist primär und ursprünglich leiblich, eine leibliche Regung im angegebenen Sinn“ (Schmitz, 2009, S. 37). Affektive Dimensionen beschreiben Gefühlsaspekte, emotionale Empfindungen und Bindungen, die das Handeln beeinflussen (vgl. Hillmann, 2007, S. 9). Aus psychologischer Perspektive wird Affekt als körperliche Empfindung von Freude oder Unbehagen beschrieben, die vom Subjekt reflexiv als eine Form der

Schmitz (1966, S. 12ff., zitiert in Gugutzer, 2002, S. 154) nennt solche Körperregionen „Leibesinseln“. 17 Gugutzer (2010, S. 179) spricht auch von einer „Soziologie am Leitfaden des Leibes“. 16

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Emotion gedeutet werden kann.18 Barrett, Mesquita, Ochsner und Gross (2007, S. 377) sprechen in diesem Zusammenhang von einem “core affect” zwischen Genuss und Unbehagen als Fundament von Emotionen: [An; MA] information about the external world is translated into an internal affective code or state that indicates whether an object or situation is helpful or harmful, rewarding or threatening, requiring approach or withdrawal. With awareness, core affect is experienced as feelings of pleasure or displeasure that are to some extent arousing or quieting.

Das Bewusstsein über diese Erregung und die Zuordnung zu Kategorien wie Trauer oder Freude macht die Wahrnehmung und Einordnung des Affekts als eine bestimmte Emotion möglich: „affect, perceptions of meaning in the world, and conceptual knowledge about emotion are bound together at a moment in time“ (ebd.).19 In Bezug auf Geschlechtsidentität ist die affektive Dynamik des Leibes von besonderer Bedeutung. Bei der biographischen Relevanz dieser Kategorie kann davon ausgegangen werden, dass insbesondere die geschlechtsbezogenen sozialisatorischen Erfahrungen im Körper einen Niederschlag hinterlassen, der für das Individuum leiblich-affektiv spürbar ist. Erst dadurch wird das Subjekt in die Geschlechterverhältnisse und beziehungen eingebunden. Die Geschlechtsidentität erhält so ihr leibliches „Relat“ (vgl. Schmitz, 2009, S. 29ff.). Sonst wäre sie vermutlich so wenig aufregend wie ihre soziologischen Abstraktionen (vgl. Villa, 2011, S. 217f., bzgn. auf Lindemann, 1993). In den Erläuterungen der sozialwissenschaftlichen Grundbegriffe zeichnet sich die Beschreibung der gesellschaftlichen Wesensart des Menschen als eine besondere Herausforderung ab. Die Auseinandersetzung mit den theoretischen Entwürfen zu Identität (vgl. Kapitel 2) und geschlechtlicher Sozialisation (vgl. Kapitel 3-4) wird zeigen, ob die Grossmann und Grossmann (vgl. 2008, S. 57) unterscheiden in ähnlicher Weise einerseits Emotionen als phylogenetisch entstandene biologische Grundmuster von andererseits Gefühlen als bewusste Reflexionen dieser Emotionen. 19 Hinter diesen Empfindungen stehen komplexe neurophysiologische Zusammenhänge, die an dieser Stelle nicht vertieft betrachtet werden können (vgl. Barrett et al., 2007, S. 382ff.). Eine Einführung in die entsprechenden wissenschaftlichen Grundlagen bietet Sapolsky (vgl. 2017, S. 871ff.). 18

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vorliegenden Konzepte die genannten Aspekte umfassend in ihre Erklärungsversuche einbeziehen können. Zudem besteht die methodologische und forschungspraktische Herausforderung, diese Dimensionen in der an die theoretischen Ausführungen anschließenden Studie tatsächlich zu erfassen (vgl. Kapitel 7-9). Vor der eingehenden Beschäftigung mit den Konzepten müssen aber die Begrifflichkeiten der Geschlechterforschung konkretisiert werden. 1.3.3

Geschlecht: Begriffsgeschichte

Bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts kennzeichnet der Begriff „Geschlecht“ im deutschen Sprachraum vor allem die genealogische Abstammung einer Person und darüber hinaus das Zusammenleben einer Gruppe von Menschen als Gesamtheit. Sein etymologischer Ursprung liegt in dem Verb „schlagen“. „Geschlecht“ meint ursprünglich alles, was gemeinsam in eine Richtung geht und dadurch zusammengehört. Bis in die Gegenwart verweisen Wendungen wie „aus der Art schlagen“ auf diesen Zusammenhang. Das Wort „Mann“ wird in indogermanischen Sprachen auf „Mensch“ zurückgeführt. Der etymologische Ursprung von „Mensch“ ist aber unklar. „Mann“ bezieht sich noch zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts weniger auf eine Kategorie in einer dichotomen Geschlechterordnung, sondern vor allem auf die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand, wie es bis heute z.B. im Begriff „Handwerksmann“ deutlich wird (vgl. Brandes, 2002, S. 47ff.; Wermke, Klosa, Kunkel-Razum, & Scholze-Stubenrecht, 2001, S. 271, 506). Offensichtlich wurden Männer und Frauen über lange historische Zeiträume nicht als Angehörige von zwei Geschlechterkategorien wahrgenommen. Stattdessen galten sie als unterschiedliche Varianten eines Geschlechts. „Mann“ und „Frau“ waren vor allem Beziehungskategorien, die allerdings einen unterschiedlichen Status repräsentierten. Der Mann galt als der vollkommene Mensch, so wurden z.B. die weiblichen Geschlechtsorgane als in das Körperinnere gewandte Reproduktionen des männlichen Penis betrachtet (vgl. Villa, 2010, S. 107ff.). Erst im Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts setzte sich eine Differenzdefinition durch, die zur Veränderung der Begriffsbedeutungen führte. Die entstehende anthropologische Wissenschaft theoretisierte diese neue Sichtweise. Ein

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Gegensatz der Geschlechter wurde nun als naturgegebene Wesensart angenommen und dem Mann körperliche Stärke und Mut sowie Verstand und Zeugungskraft zugeschrieben. Der Organismus und das Denken der Frau wurde zunehmend über ihre Reproduktionsfähigkeit definiert (vgl. Lenz & Adler, 2010, S. 81f.). Parallel dazu kam es zu weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen. In der bis in das neunzehnte Jahrhundert vorherrschenden landwirtschaftlichen Subsistenzwirtschaft lebten und arbeiteten Männer und Frauen gemeinsam in einer Hauswirtschaft. Dieser stand ein Mann als „Hausherr“ vor. Die Arbeit war geschlechtstypisch geteilt, insofern der engere Haushalt den Frauen zugewiesen war und die Außenvertretung Männern vorbehalten blieb. Trotzdem beteiligten sich die Frauen aktiv an der landwirtschaftlichen Produktion. Die bis heute wirkmächtigen Geschlechterbilder des sogenannten „breadwinners“, der mit seiner Arbeitskraft für die materielle Versorgung der Familie sorgen soll, und der „Hausfrau“, die für einen begrenzten familiären und häuslichen Innenbereich verantwortlich ist, entstanden Ende des achtzehnten Jahrhunderts als Ideal der aufstrebenden bürgerlichen Gesellschaft. Diese konnte sich mangels anderer Möglichkeiten mit Individualismus und diesem neuen Familienmodell gleichermaßen gegen den „untätigen“ Adel und das „gemeine“ Volk abgrenzen (vgl. ebd., S. 84f.). Das Ideal der Hausfrauen-Ehe konnte sich jedoch nicht in allen Bevölkerungsschichten ausbreiten. Die zunehmende Industrialisierung führte zwar zum Rückgang der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft, zwang aber Frauen aus ökonomisch schwächeren Milieus zur Erwerbsarbeit. Um die unterschiedlichen Wesensarten der Geschlechter nicht in Frage stellen zu müssen, wurde der Arbeitsmarkt geteilt. Soziale Aufgaben und die damit verbundenen Kompetenzen sind aufgrund dessen bis heute weiblich konnotiert und werden oft nicht als professionelle Tätigkeit, sondern als „natürliche“ Berufung interpretiert (vgl. Baar, 2010, S. 60f., bzgn. auf Krüger, 2003). Im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts verlor das Männerbild in der geschlechtlichen Differenzdefinition wieder an Konturenschärfe. Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts führten die historischen Verwerfungen in Deutschland zuerst zur extremen Überbetonung eines soldatischen Männlichkeits-Ideals im Nationalsozialismus und nach dessen Scheitern zu einer weitgehenden Verdrängung der Frage nach Männlichkeit. Erst seit den

1.3 Das Soziale in Worte fassen

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siebziger Jahren entwickelte sich diesbezüglich eine sozialwissenschaftliche Perspektive. Geschlecht wurde weniger als Wesensart, sondern vor allem als soziale Konstruktion betrachtet und kritisch hinterfragt. Parallel dazu breitete sich ein populärwissenschaftlich sehr erfolgreiches Eigenschaftskonzept aus. Die dahinter liegende Argumentation blieb die Gleiche wie in der ursprünglichen Differenzdefinition: Männern und Frauen wohnen natürliche und biologisch begründete, gegensätzliche Eigenschaften inne, und zwar unabhängig von Gesellschaft und Kultur (vgl. Brandes, 2002, S. 48). Der kurze historische Abriss macht deutlich, dass „Geschlecht“ im Allgemeinen und „Mann“ im Besonderen Begriffe sind, die Wandlungen unterliegen. Was unter Männlichkeit verstanden wird, ist abhängig von der historischen Epoche, von kulturellen und ethnischen Traditionen sowie sozialen Milieus, aber auch von der Generationenzugehörigkeit, der biographischen Entwicklungsphase und der familiären Situation (Zulehner & Volz, 1999; vgl. Brandes, 2002, S. 81; Meuser, 2010, S. 120). Im Folgenden werden die biologischen Gegebenheiten hinter den sich wandelnden Begriffen und ihre wissenschaftliche Deutung als Ausprägung von Anlage oder Umwelt genauer betrachtet. 1.3.4

Geschlecht: Biologische Anlage oder Reaktion auf die Umwelt?

Menschliche Individuen produzieren in Bezug auf ihre Fortpflanzung entweder Sperma oder Eizellen. Diese dimorphe – also tatsächlich „zweiförmige“ – Ausprägung ihrer Körper in Bezug auf die Reproduktion schließt spezialisierte Organe, wie Gebärmutter und Hoden, sowie Abweichungen in der Physiologie, wie den Menstruationszyklus, ein. Sie entwickelt sich bei Männern und Frauen unter dem Einfluss unterschiedlicher Konstellationen der Sexualchromosomen. Frauen tragen darüber hinaus die menschlichen Föten aus und können sie wie andere weibliche Säugetiere mit Milch aus entsprechenden Drüsen versorgen (vgl. Connell, 2013, S. 78f.). Ein kleiner Teil der Menschen gilt aufgrund von genetischen, hormonellen oder organischen Ausprägungen als zwischengeschlechtlich bzw. intersexuell. Es wird angenommen, dass das auf bis zu zwei Prozent der Neugeborenen zutrifft (vgl. Fausto-Sterling, 2000, S. 50ff.; Johow &

22

1 Einführung

Voland, 2012, S. 12f.). Zudem wandelt sich der körperliche Dimorphismus im Lebensverlauf. So sind die Körper von Jungen und Mädchen im Kleinkindalter noch wenig differenziert. Im Alter gleichen sich die Hormonspiegel von Männern und Frauen an. In Bezug auf bestimmte körperliche Ausprägungen überschneiden sich die beiden Gruppen in großem Maße. Zwar sind Männer z.B. im Durchschnitt größer, trotzdem begegnen im Alltag viele von ihnen Frauen, die sie körperlich „überragen“. In Bezug auf das Gehirn sind Unterschiede in Anatomie und Funktionsweise belegt, diese sind aber vermutlich durch das Verhalten im Lebensverlauf geformt (vgl. Connell, 2013, S. 79f.; Fausto-Sterling, Garcia Coll, & Lamarre, 2011b, S. 5). Ausgehend von diesen Grundlagen führen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verschiedener Fachrichtungen eine ausgeprägte Anlage-Umwelt-Debatte. Dabei geht es darum, ob Verhaltensunterschiede von Männern und Frauen biologisch angelegt sind oder erst als Folge sozialer Einflüsse entstehen. Tillmann (vgl. 2010, S. 70ff.) fasst die wesentlichen Positionen in diesem Diskurs folgendermaßen zusammen: 







Aus dem Blickwinkel der Evolutions- und Soziobiologie wird eine anlageorientierte Position vertreten. Biologische Faktoren wirken zwar nicht ausschließlich, aber die Möglichkeiten der Umwelteinflüsse sind begrenzt. Das geschlechtstypische Verhalten ergibt sich vor allem aus der phylogenetischen Entwicklung des Menschen (vgl. Johow & Voland, 2012, S. 9ff.). Kritische Biologinnen und Biologen argumentieren stärker für ein Wechselverhältnis. Die biologischen Vorgaben begrenzen zwar das Mögliche, wirksam sind aber komplexe Interaktionen zwischen Anlage und Umwelt statt einfacher Kausalzusammenhänge. Vertreter und Vertreterinnen einer umweltorientierten Position gehen davon aus, dass körperliche Grundlagen bestehen, aber kulturell überformt werden. Geschlecht ist im Wesentlichen das Ergebnis der Sozialisation. Aus einer sozial-konstruktivistischen Perspektive scheint die Biologie völlig bedeutungslos. Das gesellschaftliche System der Zweigeschlechtlichkeit wird inklusive seiner biologischen Bipolarität als Konstruktion betrachtet.

1.3 Das Soziale in Worte fassen

23

Eine rein biologisch-deterministische Argumentation wird im wissenschaftlichen Diskurs nicht mehr vertreten. Allerdings werden Umwelteinflüsse und damit auch Sozialisationsprozesse in ihrer Bedeutung gegenüber den Vorgaben und Grenzen der Biologie sehr unterschiedlich bewertet. Dabei ist es, insbesondere in Bezug auf die Komplexität genetischer Prozesse, schwer, kausale Zusammenhänge zu identifizieren. Aus soziobiologischer Perspektive setzt der chromosomale Zustand der Keimzelle eine „Kaskade von Entwicklungsprozessen“ (ebd., S. 12) in Gang. Anlage und Umwelt erzeugen in einer „synergetischen“ Entwicklung die geschlechtliche Identität des Individuums. Die Umgebungsbedingungen beeinflussen, welche der biologisch angelegten Phänotypen in Verhalten und Psyche ausgeprägt werden. Die zentrale Instanz in diesem Prozess ist aber die genetische Ausstattung des Individuums: „Soziobiologie ist eine Milieutheorie menschlichen Verhaltens, allerdings eine auf genetischer Basis, denn die für die Entwicklung eines Organismus wichtige Umwelt ist notwendigerweise Bestandteil des evolutionären Erbes“ (ebd., S. 14). Genetische Veranlagung und Sensibilität für Umweltbeeinflussung sind hier gleichermaßen Ergebnis der Evolution. Die Hypothese differenzieller Verhaltensausprägungen von Männern und Frauen ist Gegenstand umfangreicher Forschungen. Dabei zeigt sich, dass Geschlechterdifferenzen nur sehr begrenzt belegt werden können. Bei Würdigung der Forschungsergebnisse müsste eher von Geschlechterähnlichkeit als von -differenz gesprochen werden. Nur bis zu zehn Prozent der Verhaltensunterschiede zwischen Menschen können auf das biologische Geschlecht zurückgeführt werden. Bei vorliegenden Unterschieden in Durchschnittswerten ist die Varianz innerhalb der Gruppen sehr groß (vgl. Aries, 1996, S. vii; Connell, 2013, S. 90ff.).20 Der 20

Trautner (vgl. 2008, S. 625ff.) unterscheidet daher zwischen „geschlechtsspezifischen“ und „-typischen“ Merkmalen. Erstere treten – wie die Menstruation – nur bei einem der beiden Geschlechter auf, während Letztere nur häufiger, aber nicht immer Männern oder Frauen zugeordnet werden können. Baar (vgl. 2010, S. 22) unterscheidet „geschlechtsspezifische“ von „geschlechtsbezogenen“ Forschungsansätzen, um mit Geschlechtsbezogenheit ein Vorgehen zu charakterisieren, das zwar Geschlecht betrachtet, aber nicht festschreibt. Da sich die vorliegende Arbeit auf soziales Verhalten bezieht, das keinem biologischen Geschlecht eindeutig zugeordnet werden kann, wird im Folgenden der Begriff „geschlechtstypisch“ bevorzugt verwendet. Von „geschlechtsspezifisch“ wird nur dann gesprochen, wenn der betroffene Aspekt mit einer Dichotomie in Zusammenhang steht.

24

1 Einführung

populärste Befund betrifft den bei Männern höheren Spiegel des Hormons Testosteron und die damit in Zusammenhang gesehene Neigung zu aggressivem Verhalten. Allerdings ist auch diese Schlussfolgerung unsicher (vgl. Niederbacher & Zimmermann, 2011, S. 160ff.). Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive werden gegen eine biologische Fundierung drei wesentliche Argumente vorgebracht (vgl. Lenz & Adler, 2010, S. 18ff.):   

Die vorliegenden Forschungsergebnisse, die eine biologische Fundierung geschlechtlichen Verhaltens stützen sollen, sind meist schwach. Die kulturelle Diversität stellt natürliche Ursachen in Frage. Zudem besteht ein Ideologieverdacht, da mit dem Verweis auf biologische Ursachen vorhandene Statusunterschiede zwischen Männern und Frauen legitimiert werden können.

In den Sozialwissenschaften haben umweltorientierte und konstruktivistische Perspektiven besondere Popularität erlangt. In diesem Zusammenhang ist der englische Begriff „gender“ von Bedeutung. Die sozial konstruierten Geschlechtsmerkmale können damit von biologisch fundierten Charakteristika als „sex“ unterschieden werden (vgl. Hillmann, 2007, S. 273; Baar, 2010, S. 24). Mit dieser Begriffsbildung gibt es eine Grundlage, Männlichkeit und Weiblichkeit jenseits biologischer Determination zu beschreiben. In umweltorientierten Perspektiven wird ein „sex-gender-Modell“ genutzt, um die soziokulturelle Überformung biologischer Grundlagen zu betonen. Dagegen wenden sich aber die Vertreter und Vertreterinnen konstruktivistischer Ansätze mit der Kritik, dass in einem solchen Modell eine versteckte Reifizierung biologischer Zweigeschlechtlichkeit enthalten wäre. Stattdessen gehen sie davon aus, dass auch die dichotomen Tatsachen der Kategorie „sex“ aus dem Kontext der Betrachtenden entstehen: Es gibt keine Möglichkeit, zwischen der Existenz eines Gegenstandes und seiner Wahrnehmung als spezifischem Gegenstand zu unterscheiden. Diese Wahrnehmung resultiert nicht intrinsisch aus den Gegenständen selbst, sondern ist durch Kategorien geformt, die ihrerseits sozial konfiguriert sind. Der Geschlechtskörper ist also nicht einfach eine ontologische Tatsache, die

1.3 Das Soziale in Worte fassen

25

sich selbst erklärt, sondern macht nur im Zusammenhang sozialer und sinngebender Kontexte Sinn. (Villa, 2011, S. 217)

Diese Grundannahme hat in der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung besondere Relevanz erlangt (vgl. Lenz & Adler, 2010, S. 49ff.). Aus der konstruktivistischen Perspektive können aber nicht alle theoretischen Widersprüche ausgeräumt werden: Je nach Perspektive kommt es zu einer Vernachlässigung der Sozialstruktur, des Körpers, des Subjektes oder der Wandlungsfähigkeit der Geschlechterordnung (vgl. ebd., S. 60ff.). Da die hier zu untersuchenden Interaktionen nonverbale Anteile haben, die durch das videographische Datenmaterial erschlossen werden können, ist die theoretische Vernachlässigung körperlicher Anteile besonders relevant: Körper haben eine Wirklichkeit, die sich nicht reduzieren lässt; sie werden in die Geschichte einbezogen, ohne doch aufzuhören, Körper zu sein. Sie werden nicht zu Zeichen oder Positionen im Diskurs (obwohl Diskurse sich ständig auf sie beziehen). Ihre Materialität ist weiter von Bedeutung. Wir werden geboren, wir sind sterblich. Wenn man uns sticht, bluten wir dann nicht? (Connell, 2013, S. 99)

Die sozialen Konstruktionen werden von Körpern ausgeführt und beziehen sich auf sie. Das bedeutet, biologische Prozesse und ihre leiblich-affektive Wahrnehmung können nicht aus der Argumentation ausgeklammert werden (vgl. ebd., S. 88). Die wissenschaftlichen Deutungsversuche von Geschlecht und der damit verbundene Diskurs können hier nicht vollständig ausgebreitet werden. Für das geplante Forschungsvorhaben wird aber eine Position bezogen: Es wird angenommen, dass die Bildung von Geschlechtsidentität zu weiten Teilen im sozialen Handeln der Menschen begründet liegt. Dort soll in der vorliegenden Arbeit nach ihr gesucht werden. Aus dieser Fokussierung folgt eine weitere Konsequenz für das Vorgehen: Im Mittelpunkt des Interesses müssen Interaktionen stehen, denn „gender“ ist in zwischenmenschliche Begegnungen eingebettet. Wird das Verhalten nur auf Angehörige bestimmter Geschlechterkategorien bezogen bzw. werden nur entsprechende Stichproben miteinander verglichen, greift die Analyse zu kurz. Zudem besteht die Gefahr, sozial bestimmtes Handeln zu essenzialisieren (vgl. Aries, 1996, S. 145).

26

1 Einführung

Mit dieser Positionierung wird eine mögliche Bedeutung der menschlichen Phylogenese für die Ontogenese des Individuums nicht ausgeschlossen. Für das hier entfaltete sozialwissenschaftliche Forschungsvorhaben sind soziobiologische Zusammenhänge aber nicht relevant. Insofern bezeichnet der Begriff „Männlichkeit“ in diesem Text im Wesentlichen eine soziale Konstruktion. Bevor unter dem benannten Fokus näher auf soziologische und entwicklungspsychologische Konzepte eingegangen wird, sollen zuerst Anforderungen an solche Entwürfe definiert werden. 1.3.5

Konstituierende Anforderungen an sozialwissenschaftliche Theorien

Begegnungen zwischen Menschen werden permanent untersucht und gedeutet. Was unterscheidet aber die Alltagstheorie von den Entwürfen, mit denen hier operiert werden soll? Vor der ausführlichen Erläuterung der Konzepte soll zuerst geklärt werden, welchen Ansprüchen sie genügen sollen. Tillmann (vgl. 2010, S. 37ff., bzgn. auf Schulze, 1980) formuliert Anforderungen an sozialwissenschaftliche Theorien. Er nennt zuerst fünf grundlegende Aspekte:     

Basis der Theoriebildung sind systematisch gesammelte empirische Daten. Es wird versucht, soziale Phänomene und ihre Zusammenhänge in ganzer Breite in einer Abstraktion der Wirklichkeit abzubilden. Das wissenschaftliche Vorgehen wird kritisch reflektiert. Die Urheber nehmen am wissenschaftlichen Diskurs teil. Ausgangspunkt der Forschungsvorhaben ist eine Fragestellung, das Objekt des wissenschaftlichen Interesses wird dabei konstruktivkritisch betrachtet.

Darüber hinaus werden von Tillmann (vgl. ebd.) weitere wesentliche Charakteristika genannt, an denen sich eine Sozialisationstheorie orientieren muss: 

Das Konzept enthält einen umfassenden Persönlichkeitsbegriff, der innerpsychische Prozesse einbezieht.

1.3 Das Soziale in Worte fassen

   

27

Es wird von einem aktiv handelnden Subjekt ausgegangen. Die Auswirkungen der Auseinandersetzung mit der Umwelt auf die Psyche und deren Einfluss auf das Handeln werden erklärt. Die Sozialisation wird gleichermaßen als Vergesellschaftung und Individuierung in Phasen und Sequenzen dargestellt, deren biographische Abhängigkeit untersucht wird. Der Zusammenhang zwischen der sozialen Umwelt und der Persönlichkeitsentwicklung wird erläutert, wobei die Struktur des Sozialen und die Wechselwirkungen zwischen den Ebenen dieser Struktur berücksichtigt werden.

In den folgenden Abschnitten werden sozialwissenschaftliche Konzepte vorgestellt, die im hier verhandelten Zusammenhang von Relevanz sind. Es handelt sich insofern um „klassische“ Theorien der Soziologie und der Psychologie, da sie nicht nur eine lange Wissenschaftstradition repräsentieren, sondern auch in großer Breite rezipiert worden sind. Der Begriff der Geschlechtsidentität wird in vielfältiger Weise in unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Konzeptualisierungen verwendet. In den anschließenden Ausführungen wird auf die jeweiligen Schwerpunktsetzungen eingegangen. Relevante empirische Befunde sind in die Erläuterungen eingeschlossen, um die Deutungsweite der Entwürfe zu umreißen. Die vorliegende Auswahl beansprucht aber nur im Sinne des Forschungsvorhabens Vollständigkeit und ist in Bezug darauf getroffen worden.

2

Identität

2.1

Einleitung

Die selbstvergewissernde Frage nach dem Kern des eigenen Seins beschäftigt das Denken des Menschen vermutlich von Anbeginn und spiegelt sich in vielen Kulturleistungen (vgl. Steins, 2003, S. 12). Sprachlicher Ursprung des Wortes Identität ist die lateinische Formulierung „idem ens“, was „derselbe seiend“ bedeutet (vgl. Wermke et al., 2001, S. 357). In dieser Art und Weise wird der Begriff alltagstheoretisch meist verwendet, als handele es sich um ein statisches, dem Individuum innewohnendes Konzept. Bei genauerer Betrachtung ist Identität aber alles andere als das. Menschen und ihre Umwelt sind einem permanenten Wandel unterworfen: People age, some trees regularly shed their leaves, ice melts with the coming of spring, and wood, when burned, gives way to fire and ash. The world seems to be in perpetual flux, undergoing ceaseless transformation. Yet in spite of the alterations we notice, we want to say that this is the same tree which shed its leaves last month, that this adult is the same person we knew as a child, and that this pool of water is made of the same ‘stuff’ as the piece of ice which melted there. (The Encyclopedia of Philosophy, 1972, zitiert in Steins, 2003, S. 13, Hvhg. i. O.)

Sein heißt Veränderung. Identität als das Bleibende in dieser Veränderung muss daher immer wieder neu hergestellt werden. Die Männlichkeit des Jungen ist eine andere als die des alten Mannes, der er einmal sein wird. Trotzdem ist es der gleiche Mensch. Steins (ebd.) spricht daher von „einem bipolaren Raum zwischen Veränderung und Konstanz.“ Der vermeintliche Ruhepol ist Illusion. Stattdessen stehen Menschen vor einer lebenslangen Herausforderung, die Gleichheit mit sich selbst immer wieder herzustellen (vgl. Abels & König, 2010, S. 20). Allgemein kann eine personale und eine soziale Identität unterschieden werden. Erstere betrifft die eigene Herstellung eines Bildes von uns selbst. Die zweite meint die Auseinandersetzung mit der Ansicht anderer über uns (vgl. ebd.). Zirfas (2010, S. 9) spricht von zwei wesentlichen Fragen zur Identität, die das Individuum sich stellt bzw. die ihm gestellt werden: „Wer bin ich?“ „Wer bist du?“ Somit verknüpft das Konstrukt der Identität das Individuum mit seiner sozialen Umgebung (vgl. Brandes, 2002, S. 43). Die © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Andrä, Die Konstruktion von Männlichkeit in kindheitspädagogischen Interaktionen, Kultur und gesellschaftliche Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24904-5_2

30

2 Identität

Untersuchung dieser Schnittstelle zwischen Selbstkonzepten und äußeren Anforderungen hat in den Geistes- und Sozialwissenschaften zu vielfältigen, z.T. verbundenen oder sich überschneidenden Konzepten geführt: Die Philosophie fragt nach der Bedeutung von Fremdheit für das Eigene, die Soziologie nach den sozialen Bedingungen, aus denen sich Identität konstituiert. Für die Pädagogik stehen die Potentiale der Entwicklung im Vordergrund, während es für die Psychologie um die Relevanz von Selbstbildern geht. Identität kann dabei je nach Blickrichtung u.a. ein Habitus im Sinne einer eher unbewussten Einstellung, eine interaktive Leistung, eine situative Konstruktion, eine biographische Narration oder auch ein mehr oder weniger kognitiv verfügbares Selbstbild sein (vgl. Zirfas, 2010, S. 9). Der Prozess einer sozial eingebetteten Selbstverständigung und sein Ergebnis fallen zusammen (vgl. Rohrmann & Wanzeck-Sielert, 2014, S. 18): Diese Identität stellt die Besonderheit des Individuums dar; denn sie zeigt auf, auf welche besondere Weise das Individuum in verschiedenartigen Situationen eine Balance zwischen widersprüchlichen Erwartungen, zwischen den Anforderungen der anderen und eigenen Bedürfnissen sowie zwischen dem Verlangen nach Darstellung dessen, worin es sich von anderen unterscheidet, und der Notwendigkeit, die Anerkennung der anderen für seine Identität zu finden, gehalten hat. (Krappmann, 1988, S. 9)

Es ist leicht, Kindern eine ständige Entwicklungsanforderung zuzusprechen. Aus dieser Sicht auf Identität muss aber auch für Erwachsene – insbesondere unter den Bedingungen raschen sozialen Wandels – auf eine andauernde Herausforderung geschlossen werden. Sie stehen vor der Aufgabe, immer wieder eine solche Balance zwischen eigenen und äußeren Ansprüchen sowie den Bedürfnissen nach Individualität und Zugehörigkeit herzustellen (vgl. Blank-Mathieu, 2001, S. 9f.; Brandes, 2002, S. 82). Keupp et al. (2008, S. 60, Hvhg. MA) sprechen daher von „Identitätsarbeit“: Identität verstehen wir als das individuelle Rahmenkonzept einer Person, innerhalb dessen sie ihre Erfahrungen interpretiert und das ihr als Basis für alltägliche Identitätsarbeit dient. In dieser Identitätsarbeit versucht das Subjekt, situativ stimmige Passungen zwischen inneren und äußeren Erfahrungen zu schaffen und unterschiedliche Teilidentitäten zu verknüpfen. Auf dem Hintergrund von Pluralisierungs-, Individualisierungsund

2.1 Einleitung

31

Entstandardisierungsprozessen ist das Inventar kopierbarer Identitätsmuster ausgezehrt.

Die Bildung von Identität ist an miteinander verwobene Voraussetzungen gebunden. Menschen verfügen über die besondere Fähigkeit, sich aufeinander einzustellen. Diese Möglichkeit in Verbindung mit der Neigung zu gegenseitiger Imitation führt zum Erwerb eines kulturellen Symbolsystems. Insbesondere das Symbolsystem Sprache ermöglicht die Internalisierung einer inneren Stimme.21 Der Bedeutungsgehalt der Worte wird verinnerlicht. Sie sprechen „für sich“, womit der oben beschriebene Prozess der Selbstverständigung möglich wird. Zusätzlich ist die Fähigkeit der Selbstaufmerksamkeit notwendig, damit das Individuum sich mit den Anforderungen der Symbole in Beziehung setzen kann (vgl. Steins, 2003, S. 28ff., bzgn. auf McCrone, 1993). Steins (vgl. ebd., S. 16ff.) stellt die Möglichkeit der Selbsterkenntnis im Sinne der Aufdeckung einer „Wahrheit“ allerdings grundsätzlich in Frage. Sie sieht Identität im Wesentlichen in einem doppelten Spannungsfeld zwischen Permanenz und Veränderung einerseits und Einheit und Verschiedenartigkeit andererseits. Insbesondere der alltagstheoretische Umgang mit Stereotypen und die Beharrlichkeit populärwissenschaftlicher Befunde über Männer und Frauen zeigen, dass Geschlechtsidentität als permanent und einheitlich betrachtet wird. Diese Selbst- und Fremdzuschreibungen scheinen konstruierte Vorurteile zu sein, statt Kontinuitäten zu repräsentieren. Ohne Permanenz und Einheitlichkeit ist es aber kaum möglich, den „roten Faden“ (ebd., S. 18) der eigenen Persönlichkeit zu finden: Auf geheimnisvolle Weise scheint sich unser innerstes Wesen jedem direkten Zugriff zu entziehen. Wie stellt man es bloß an, sich selbst näher zu kommen? […] Ist da überhaupt etwas hinter der Charaktermaske, die angeblich unser wahres Selbst verbirgt, das man entdecken und fördern könnte? […] nein. Wie die Schalen einer Zwiebel sich als die Zwiebel selbst entpuppen, so sind auch

21

Steins (2003, S. 32f.) verweist auf Erfahrungen aus der Anwendung der Gebärdensprache. Auch alternative Symbolsysteme können als innere Stimme internalisiert werden.

32

2 Identität

wir nur das, was wir tagtäglich zu sein scheinen. (Szcezesny-Friedmann, 1991, S. 97f., zitiert in ebd.)22

Jede theoretische Annäherung an Identität kann demnach nur eine neue Etappe auf einem Weg des Zweifels sein (vgl. ebd.). Im Anschluss werden mit drei Konzepten erste Schritte in diese Richtung gegangen. Die Zusammenstellung stellt eine bewusste Auswahl dar, die für das Forschungsvorhaben vielversprechend ist. Auch wenn es sich dabei z.T. um klassische, mittlerweile historisch erscheinende Konzepte handelt, sind diese in der Sozialisationsforschung weiter von Relevanz (vgl. Tillmann, 2010, S. 169ff., 256ff.; Hurrelmann & Quenzel, 2012, S. 80ff.). 2.2

Georg H. Mead und Herbert Blumer: Sich als Objekt anderer betrachten

2.2.1

Vorbemerkung

Der symbolische Interaktionismus ist ein von George Herbert Mead (1991) und Herbert Blumer (2013) begründeter mikrosoziologischer Forschungsansatz.23 Symbole und ihre Bedeutungen bestimmen Interaktionen und die sozialen Situationen zwischen Menschen. Wir leben nicht nur in einer natürlichen Umwelt, in der wir wie Tiere instinktiv auf Reize reagieren können. Menschen verfügen über die Fähigkeit, ihrer Umgebung symbolische Deutungen zu geben, auf der Grundlage dieser Symbole in Worten oder Gesten miteinander zu interagieren und ihre Handlungen überlegt zu gestalten. Die Bedeutung dieser Symbole wird im 22

Günter Grass (2006) verwendete ebenfalls diese Metapher für seine Autobiographie. Die metaphorischen Schalen seiner „Zwiebel“ umfassten gleichermaßen jugendliche Begeisterung für Hitler, die Mitgliedschaft in der Waffen-SS und später Werben für die SPD sowie Einsatz für die Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen. Darin den Wesenskern einer kontinuierlichen und in diesem Fall auch männlichen Identität zu erkennen, ist eine Herausforderung. 23 Der Philosoph und Sozialpsychologe George Herbert Mead (1863-1931) zählt zur Chicagoer Schule der Sozialpsychologie. Sein Schüler Herbert Blumer (1900-1987) setzte an seinen Überlegungen an und prägte den Begriff Symbolischer Interaktionismus (vgl. Hillmann, 2007, S. 107, 545f.).

2.2 Georg H. Mead und Herbert Blumer: Sich als Objekt anderer betrachten

33

Sozialisationsprozess erlernt (vgl. ebd., S. 76; Hillmann, 2007, S. 877). Blumer (ebd., S. 64, Hvhg. i. O.) formuliert drei Prämissen des Symbolischen Interaktionismus: Die erste Prämisse besagt, dass Menschen Dingen gegenüber auf der Grundlage der Bedeutung handeln, die diese Dinge für sie besitzen. Unter ‚Dinge‘ wird hier alles gefasst, was der Mensch in seiner Welt wahrzunehmen vermag – physische Gegenstände, wie Bäume oder Stühle; andere Menschen, wie eine Mutter oder einen Verkäufer; Kategorien von Menschen, wie Freunde oder Feinde; Institutionen, wie eine Schule oder eine Regierung; Leitideale wie individuelle Unabhängigkeit oder Ehrlichkeit; Handlungen anderer Personen, wie ihre Befehle oder Wünsche; und solche Situationen, wie sie dem Individuum in seinem täglichen Leben begegnen. Die zweite Prämisse besagt, dass die Bedeutung solcher Dinge von der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht, ausgeht oder aus ihr erwächst. Die dritte Prämisse besagt, dass diese Bedeutungen in einem interpretativen Prozess, den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen benutzt, gehandhabt und abgeändert werden.

Blumer (vgl. ebd., S. 74) charakterisiert Interaktion als Verbindung von zwei Perspektiven. Dem Gegenüber wird einerseits gezeigt, was es tun soll, andererseits werden dessen Äußerungen interpretiert. Der Kontext sozialer Situationen zwischen Menschen ist dabei nicht bedeutungslos. Der prinzipielle Zusammenhang bleibt aber gleich: Sie wenden sich daher in unterschiedlicher Weise einander zu, sie leben in verschiedenen Welten, und sie steuern sich selbst mit Hilfe unterschiedlicher Sets von Bedeutungen. Dennoch muss man, ob man sich nun mit einer Familie beschäftigt, Jugendbande, einem Industriebetrieb oder einer politischen Partei, erkennen, dass die Aktivitäten einer Gesamtheit durch einen Prozess des Benennens und der Interpretation gebildet werden. (ebd., S. 89)

Grundlage ist die Fähigkeit zur gegenseitigen Rollenübernahme: Um eine Erwartung anzuzeigen, muss der Standpunkt des Gegenübers, das diese Erwartung erfüllen soll, berücksichtigt werden. Umgekehrt kann eine Erwartung nur verstanden werden, wenn die Rolle der Person eingenommen wird, die sie äußert (vgl. Mead, 1991, S. 300f.). Die Begründer des symbolischen Interaktionismus grenzten sich aber von der strukturfunktionalistischen Rollentheorie ab: „Es ist der soziale Prozess des

34

2 Identität

Zusammenlebens, der die Regeln schafft und aufrechterhält, und es sind nicht umgekehrt die Regeln, die das Zusammenleben schaffen und erhalten“ (Blumer, 2013, S. 86, vgl. Kapitel 3.1).24 2.2.2

Bildung der Identität in Interaktionen

Die eigene Identität, aus interaktionistischer Perspektive als Selbst bzw. „self“25 bezeichnet, wird in jeder Interaktion zum Ausdruck gebracht. Entscheidend dafür sind zwei Bedingungen: Zum einen die Sprache als gemeinsames Symbolsystem, mit dem kommuniziert werden kann, zum anderen die gegenseitige Auseinandersetzung mit Verhaltenserwartungen in Interaktionen (vgl. Tillmann, 2010, S. 170). Da sich die Erwartungen nicht immer entsprechen, werden Aushandlungsprozesse notwendig, an denen sich das Subjekt aktiv beteiligen muss. Es deutet die Anforderungen und gestaltet Reaktionen. Identität wird möglich, weil der Mensch die Fähigkeit besitzt, sich selbst zum Objekt zu werden: „Wie die anderen Objekte, so entwickelt sich auch das ‚Selbst-Objekt‘ aus einem Prozess sozialer Interaktion, in dem andere Personen jemandem die eigene Person definieren“ (Blumer, 2013, S. 77f., Hvhg. i. O.). Nur wenn das Individuum sich aus der Perspektive Anderer sieht, kann es die Erwartungen verstehen, die sie an es herantragen (vgl. ebd., S. 78). Es gelangt zu einem Bild von sich selbst. „Diese Identität, die für sich selbst Objekt werden kann, ist im Grunde eine gesellschaftliche Struktur und erwächst aus der gesellschaftlichen Erfahrung“ (Mead, 1991, S. 182).

24

Diese Position Blumers wird von anderen als interaktionistische Beschränkung kritisiert (vgl. Tillmann, 2010, S. 197f.). Der Mensch steht nicht nur in Austausch mit anderen Menschen, sondern verhält sich auch in Beziehung zu seiner sachlich-gegenständlichen Umwelt. 25 „Mit diesem Ausdruck ist nichts Esoterisches gemeint. Es bedeutet lediglich, dass ein Mensch Gegenstand seiner eigenen Handlung sein kann. So kann er sich z.B. als einen Mann betrachten, als jung an Jahren, als Studenten, als verschuldet, als jemanden, der versucht, Arzt zu werden, als aus einer unbekannten Familie kommend und so weiter“ (Blumer, 2013, S. 77).

2.2 Georg H. Mead und Herbert Blumer: Sich als Objekt anderer betrachten

35

Mead (vgl. ebd., S. 216ff.) konzeptualisiert die Entstehung von Identität als individuelle Verbindung eines „I“ und eines „me“ zu einem „self“.26 Dabei ist das „I“ die spontane eigene Individualität. Es handelt sich um einen vorsozialen, biologischen Antrieb, das „impulsive Ich“. Gegenüber dem „me“ als „reflektiertem Ich“ existiert es nur in der Einzahl (vgl. Abels & König, 2010, S. 89f.). Im „me“ sind unsere vielfältigen Annahmen über die Sicht Anderer auf uns enthalten, die wir in Begegnungen verinnerlicht haben. Es ist zum einen die soziale Grundlage der Identität, die zugewiesen und internalisiert wird. Das „me“ enthält damit aber auch eine historische Dimension, in dem sich der Verlauf unserer Sozialisation spiegelt: Wie haben andere uns gesehen? Das Individuum wird sich zum Objekt. Das „me“ ist zudem als „generalisierter Anderer“ Bewertungsinstanz des biologischen Impulses „I“ (vgl. Mead, 1991, S. 196; Abels & König, 2010, S. 89ff., bzgn. auf Mead, 1934, Strauss, 1964, Joas 1991). Die beiden Bestandteile muss das Individuum zu seiner Ich-Identität, dem „self“, verknüpfen: Zusammen bilden sie eine Persönlichkeit, wie sie in der gesellschaftlichen Erfahrung erscheint. Die Identität ist im Wesentlichen ein gesellschaftlicher Prozeß, der aus diesen beiden unterscheidbaren Phasen [„I“ und „me“; MA] besteht. Gäbe es diese beiden Phasen nicht, so gäbe es keine bewußte Verantwortung und auch keine neuen Erfahrungen. (Mead, 1991, S. 221)

Interaktion ist damit die Grundlage von Identität. Die Übernahme der Perspektive des Anderen geschieht in verschiedenen Ausprägungen von einem „signifikanten“ bis zu einem „generalisierten Anderen“. Mead (vgl. ebd., S. 192ff.) verweist in diesem Zusammenhang auf die Entwicklung kindlicher Spielformen. Im „play“ ahmt das Kind Rollen – insbesondere von erwachsenen Bezugspersonen, sogenannten „signifikanten Anderen“ – ohne feste Regeln nach. Im „game“ als regelgeleitetem Gruppenspiel muss das Kind komplexeren Regeln folgen und das entsprechende Handeln aller Anderen antizipieren können. Das eigene Handeln kann wie in einer 26

Die Differenzierung von „I“, „me“ und „self“ kann in den Sozialwissenschaften weit zurückverfolgt werden (vgl. Fonagy, 2006, S. 66, bzgn. auf James, 1890). In der deutschen Übersetzung wird z.T. statt zwischen „I“ und „me“ zwischen „Ich“ und „ICH“ unterschieden (vgl. Mead, 1991, S. 216ff.).

36

2 Identität

Teamsportart auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet werden. Erst auf Grundlage dieser Fähigkeiten lässt sich ein „generalisierter Anderer“ verinnerlichen, der die Regeln und Rollen der Gesellschaft in ihrer Komplexität und Vielfalt stellvertretend an das Individuum heranträgt. Damit kann das Individuum die Perspektive der anderen Angehörigen der sozialen Gruppe auf sich selbst vorausschauend einnehmen und mit seiner Selbstsicht zu einer Identität, dem „self“, verbinden (vgl. ebd., S. 196; Niederbacher & Zimmermann, 2010, S. 49). „Identität entsteht dann, wenn das spontane Ich und die reflektierten Ichs in einer typischen Weise relativ dauerhaft vermittelt werden“ (Abels & König, 2010, S. 92). 2.3

Erving Goffman: Identität als Maske in einem Theaterstück

Auch Erving Goffmans27 (1996) Hypothesen zur Identität stellen Interaktionen in den Vordergrund. Für ihn sind allerdings nicht nur die gemeinsame Herstellung eines „self“ in der Begegnung mit anderen, sondern vor allem seine Behauptung und sein Schutz vor ihren Vereinnahmungen von Bedeutung (vgl. Abels & König, 2010, S. 128). Identität wird zu einem Ergebnis von öffentlicher Inszenierung: Eine richtig inszenierte und gespielte Szene veranlaßt das Publikum, der dargestellten Rolle ein Selbst zuzuschreiben, aber dieses zugeschriebene Selbst ist ein Produkt einer erfolgreichen Szene, und nicht ihre Ursache. Das Selbst als dargestellte Rolle ist also kein organisches Ding, das einen spezifischen Ort hat und dessen Schicksal es ist, geboren zu werden, zu reifen und zu sterben; es ist eine dramatische Wirkung, die sich aus einer dargestellten Szene entfaltet, und der springende Punkt, die entscheidende Frage, ist, ob es glaubwürdig oder unglaubwürdig ist. (Goffman, 1996, S. 231)

27

Der US-amerikanische Soziologe Erving Goffman (1922-1982) hat mit seinen detaillierten Beschreibungen sozialen Verhaltens große Popularität erlangt (vgl. Hillmann, 2007, S. 311). Die Zuordnung seiner Arbeiten zum Symbolischem Interaktionismus oder ihre Betrachtung als eigenständige Weiterentwicklung werden in Veröffentlichungen „flexibel“ gehandhabt (vgl. Collins, 2004, S. 24; Meuser, 2010, S. 72; Tillmann, 2010, S. 174ff.; Abels & König, 2010, S. 128ff.). In der vorliegenden Arbeit sind Goffmans Überlegungen an anderer Stelle dem symbolischen Interaktionismus zugeschlagen (vgl. Kapitel 3.3.3).

2.3 Erving Goffman: Identität als Maske in einem Theaterstück

37

Goffman (vgl. ebd., S. 217f.) greift in seinen Beschreibungen des Sozialen auf eine Metaphorik des Theaters zurück. Seine genauen mikrosozialen Beobachtungen und die unkonventionelle Entwicklung einer eigenen Theoriesprache, die dem Dilemma des Individuums in einer postmodernen Welt statt mit soziologischer Strenge augenzwinkernd begegnet, geben seinen Konzepten einen besonderen Reiz. Die soziale Herstellung von Identität ist hier eine Krisenbewältigung: Menschen entwickeln Strategien, um eine einmal gewählte Selbstdarstellung zu behaupten. Für diese ist situative Gültigkeit ausreichend.28 Sie wird von Anderen aber als Wahrheit aufgenommen und muss daher aufrechterhalten werden, um die eigene Identität nicht einzubüßen. „Wir tun so, als ob, und schaffen uns damit einen Freiraum für unsere Identität und erlauben den anderen, so zu tun, als ob sie genau dieses Schauspiel für die Wahrheit hielten“ (Abels & König, 2010, S. 22, Hvhg. i. O.). Die Abweichung zwischen dem Selbstbild und der Außendarstellung ist für die Zuschauenden aber unbewusst spürbar, sodass zum Ausgleich Andeutungen zur tatsächlichen Selbstwahrnehmung gemacht werden müssen. Auch in Goffmans Konzept ist die Darstellung von Identität mit der Analyse von Interaktionen verknüpft. Deren Abfolge ist eine Beschreibung von Sozialisation: Jedes Stück, in dem das Individuum eine Rolle übernimmt, ist ein Teil der gesellschaftlichen Struktur, in die es durch seine fortlaufende Teilnahme zunehmend einbezogen wird (vgl. ebd., S. 129ff.). Goffman (vgl. 1996, S. 18) entwickelt verschiedene analytische Begriffe, um die Identität als gelungene Darstellung in einem Schauspiel zu beschreiben: „Interaktion“ bezeichnet dabei die gegenseitige Beeinflussung der Beteiligten an einer „Szene“. „Darstellungen“ sind die Handlungen eines Individuums, um auf andere einzuwirken. Mit „Rollen“ werden Handlungsmuster bezeichnet, die sich in Interaktionen entwickeln und an anderer Stelle wiederholt werden können. Darüber hinaus verfügen Personen über ein Repertoire an sogenannten „Fassaden“. Das können „Bühnenbilder“, wie das Auto oder die Wohnung, persönliche Fassaden, wie die Sprache oder die Kleidung, aber auch soziale Fassaden, wie das erwartete Verhalten als Mutter oder Arzt, sein. „It is probably no mere historical accident that the word person, in its first meaning, is a mask” (Robert Ezra Park, 1926, S. 249f., zitiert in Abels & König, 2010, S. 130). 28

38

2 Identität

Sozialisation bedeutet, diese Fassaden kennenzulernen und schließlich sicher vor ihnen agieren bzw. dabei Zuschauer oder Zuschauerin sein zu können (vgl. ebd., 1996, S. 23ff.; Abels & König, 2010, S. 131f.). Durch die „dramatische Gestaltung“ ihres Auftrittes können die Beteiligten an sozialen Situationen sich als etwas Besonderes darstellen. Im einfachsten Fall gehören die herausgestellten Besonderheiten zu den mit ihnen verbundenen Tätigkeiten. Häufig ist aber – wie z.B. bei einem Fotomodell, das Spontanität und Frohsinn in einem streng vorgegebenen Rahmen inszenieren muss – ein großer Aufwand für die Dramatisierung der Rolle notwendig, da die sichtbare Darstellung und die Anforderungen der Tätigkeit auseinanderklaffen (vgl. Goffman, 1996, S. 31f.). Da das Publikum einer Darstellung besonderen Wert auf die Konsistenz der ihm präsentierten Rolle legt, ist „Ausdruckskontrolle“ für das Individuum von großer Bedeutung (vgl. ebd., S. 48ff.). Andeutungen müssen subtil sein, um nicht als übertriebene Selbstdarstellung zu erscheinen. Werden sie aber zu kleinlaut geäußert, können sie überhört werden. Vorsicht ist geboten. Jede Darstellung kann missverstanden und die angestrebte Identität damit verfehlt werden. In einer Interaktion befinden sich Individuen in einer Doppelrolle als Darstellende und Zuschauende. Sie sind damit auch Zuschreibungen ausgesetzt, die ihre Identität in Frage stellen können. Eine wichtige Strategie, um diesem Dilemma zu entgehen und Identität zu behaupten, ist die „Rollendistanz“ (vgl. Hillmann, 2007, S. 758, bzgn. auf Goffman, 1961). Durch Flexibilität im Umgang mit der eigenen Rolle oder das Ausweichen auf andere Identitäten kann das Individuum ungewollten Zuschreibungen entgehen bzw. Störungen der Interaktion ausgleichen. Dazu können Erklärungen, Entschuldigungen, Scherze oder Albernheiten dienen (vgl. Krappmann, 1988, S. 133; Abels & König, 2010, S. 132ff., bzgn. auf Goffman, 1961). Goffman (vgl. 1996, S. 230ff.) beschreibt die Inszenierung einer IchIdentität damit als permanente interaktive Leistung. Das Individuum muss in seiner „dramatischen“ Selbstdarstellung zwei verschiedenen Anforderungen entsprechen: Zum einen zeitlich eine Selbstinterpretation der eigenen Biographie als personale Identität herzustellen, zum anderen erfordern die verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen, in denen es sich parallel befindet, eine Selbstinterpretation als soziale Identität innerhalb dieser Strukturen. Die Ich-Identität entsteht als Balance dieser beiden Dimensionen. Dieses Gleichgewicht muss in jeder Interaktion hergestellt

2.4 Erik H. Erikson: Identität als Kontinuität

39

werden. Das bedeutet, sich als einmaliges Ergebnis der eigenen Biographie zu präsentieren und gleichzeitig den für die Mitglieder der sozialen Gruppe geltenden Regeln zu entsprechen. Bei einem Übergewicht einer Ebene wird das Individuum entweder als unverwechselbare, aber eigenartige Type oder übermäßig angepasstes Wesen wahrgenommen (vgl. Krappmann, 1988, S. 73ff.; Tillmann, 2010, S. 174f., bzgn. auf Goffman, 1967). 2.4

Erik H. Erikson: Identität als Kontinuität

2.4.1

Vorbemerkung

Anders als in den vorangegangenen interaktionistischen Konzepten steht für Erik H. Erikson29 (1966, 1971) ein sich entwickelndes Subjekt im Mittelpunkt seiner im Wesentlichen psychologischen Betrachtungen. Er entwirft eine Krisentheorie der Persönlichkeit und damit ein allgemeines, nicht primär therapeutisch inspiriertes Entwicklungsmodell für den gesamten Lebenszyklus. Es enthält einen Identitätsbegriff, der sozialstrukturelle Einflüsse denkbar macht. Damit erweitert Erikson die psychosexuelle Theorie Sigmund Freuds30 in zwei Richtungen: Zum einen verbindet er eine Identitäts- mit einer Sozialisationstheorie: „Statt die ödipale Dreier-Situation als unveränderliches Schema für alles irrationale menschliche Verhalten zu übernehmen, bemühen wir uns um eine genauere Spezifität durch Erforschung der Wege, auf welchen die Gesellschaft auf die Struktur der Familie einwirkt“ (Erikson, 1966, S. 14). Zum anderen wird die Herstellung von Identität als ein lebenslanger Prozess betrachtet, statt von einer frühkindlichen Determiniertheit der Persönlichkeit auszugehen. Diese Erik H. Erikson (1902-1994) stammte aus Deutschland, emigrierte aber 1933 in die USA. Sein Werk kennzeichnet in besonderer Weise eine sozialwissenschaftliche Ausrichtung und die Fokussierung auf die Ausbildung einer Ich-Identität (vgl. Hillmann, 2007, S. 192). 30 Sigmund Freud (1856-1939) hat mit seinen Arbeiten nicht nur die Entwicklung der Psychologie als Wissenschaft grundlegend vorangetrieben, sondern auch die Soziologie entscheidend beeinflusst. Die Grundlagen und Weiterentwicklungen der Psychoanalyse werden an anderer Stelle erläutert (vgl. Kapitel 4.2). Eriksons Überlegungen stehen hier im Fokus, weil sie meist als Identitätstheorie rezipiert werden. Sie sind aber gleichzeitig ein psychoanalytisches Konzept, das sich in die entsprechenden Ausführungen innerhalb dieser Arbeit einfügen ließe. 29

40

2 Identität

Qualitäten haben zu einer breiten Rezeption seines Konzeptes geführt (vgl. Abels & König, 2010, S. 137). Allerdings verwendet Erikson in seinen Schriften den Begriff Sozialisation nicht. Gleichwohl ist Identität in seinen Ausführungen vor allem Entwicklung innerhalb einer bestimmten Gesellschaft (vgl. ebd., S. 137f.). Erikson entwickelt sein Identitätsverständnis dabei aber nicht vor dem Hintergrund einer stabilen Sozialstruktur: Keineswegs geht er in seiner Auseinandersetzung mit dem Identitätsproblem von gesicherten Verhältnissen aus, denn Eriksons Sicht der Problematik entsprang seinen Studien in den vierziger Jahren, in denen er Entwicklungsprozesse von Kindern in gegensätzlichen Kulturen, den verführerischen Einfluss politischer Bilderwelten auf die Heranwachsenden und die Auswirkungen des Kriegserlebnisses auf heimkehrende Soldaten untersucht hatte. Er fragte folglich nach dem Platz des Individuums in einer sich umstürzenden Welt, in der zunehmend zweifelhaft wurde, wie sich persönliche Lebenspläne mit massiven gesellschaftlichen Veränderungen verbinden lassen. (Krappmann, 1997, S. 66f.)

Eriksons Überlegungen beruhen auf drei wesentlichen Voraussetzungen (vgl. Tillmann, 2010, S. 257f.; Niederbacher & Zimmermann, 2011, S. 27): 



31

Die Ontogenese verläuft auf der Grundlage eines epigenetischen Prinzips. Das Individuum steht vor der Herausforderung, diesen organisch-biologischen Entwicklungsplan mit dem soziokulturellen Lernprozess in Einklang zu bringen.31 Krisen gehören zur Entwicklung jedes Individuums. Sie ergeben sich, wenn die eigenen Erwartungen und das aktuell Mögliche und Verfügbare nicht übereinstimmen.

„Dieses Prinzip läßt sich dahin verallgemeinern, daß alles, was wächst, einen Grundplan hat, dem die einzelnen Teile folgen, wobei jeder Teil eine Zeit des Übergewichts durchmacht, bis alle Teile zu einem funktionierenden Ganzen herangewachsen sind“ (Erikson, 1966, S. 57, Hvhg. i. O.).

2.4 Erik H. Erikson: Identität als Kontinuität



41

Das Individuum entwickelt sich in aufeinanderfolgenden Phasen, die jeweils eine bestimmte Interaktionsbeziehung zwischen ihm und der Gesellschaft prägt. Es wird dabei mit spezifischen Herausforderungen konfrontiert. Ihre Bewältigung führt zur Herausbildung seiner Ich-Identität.

Wie Mead und Blumer verweist auch Erikson (1966, S. 124f.; vgl. Brandes, 2002, S. 44) auf unbewusste Anteile der Identität: Es wird sich dadurch einmal um ein bewußtes Gefühl der individuellen Identität, ein andermal um das unbewußte Streben nach einer Kontinuität des persönlichen Charakters zu handeln scheinen; einmal wird die Identität als ein Kriterium der stillschweigenden Akte der Ich-Synthese, dann wieder als das Festhalten an einer inneren Solidarität mit den Idealen und der Identität einer Gruppe erscheinen.

Erikson beschreibt acht Phasen des Lebenszyklus (vgl. Tabelle 1). Dabei werden die aufeinanderfolgenden Krisen durch die Gegenüberstellung je eines Merkmals psychosozialer Gesundheit und Störung charakterisiert. Zu jeder Stufe gehört außerdem eine Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ und damit eine Bestimmung der phasenspezifischen Identität (vgl. Erikson, 1966, S. 98, 149ff., 214f.). Nur die Adoleszenz als entscheidende Phase der Identitätssuche kennzeichnet eine Frage. Zusätzlich benennt er Tugenden, die die Bewältigung jedes Stufenkonfliktes charakterisieren. Erikson (ebd., S. 149, Hvhg. i. O.) nimmt an, dass Aspekte jeder Krise bereits in den vorherigen Stufen enthalten sind: „So steigt jede Komponente langsam empor und erhält am Schluß ‚ihres‘ Stadiums ihre mehr oder weniger dauernde Lösung.“ Die Krisen der Kindheit und Jugend ergeben sich aus Divergenzen zwischen dem sexuellen, körperlichen und kognitiven Wachstum und den Umweltanforderungen. Im Erwachsenenalter entstehen die Stufenkonflikte, wenn die sozialen Erwartungen einen Umbau der Identität erfordern (vgl. Abels & König, 2010, S. 138). Im besten Fall genügt die eigene Entwicklung den jeweiligen Ansprüchen der Umwelt. Auf dieser Grundlage können die Herausforderungen einer neuen Stufe bewältigt werden. Es entsteht eine phasenspezifische Identität (vgl. Erikson, 1966, S. 149ff.; Abels & König, 2010, S. 138f.).

42

2 Identität

1

I Säuglingsalter

2

4

Zeitperspektive gegen Zeitdiffusion

VI Frühes Erwachsenenalter

VII Erwachsenenalter

VIII Reifes Erwachsenenalter

Tabelle 1:

Selbstgewissheit gegen peinliche Identitätsbewusstheit

7

8

Biopolarität gegen Autismus

II Kleinkindalter

Spiel-Identifikation gegen (ödipale) Phantasieidentitäten

III Spielalter

ArbeitsWerksinn identifikation gegen Mindergegen wertigkeitsIdentitätsgefühl sperre

IV Schulalter

Initiative gegen Schuldgefühl

IV Schulalter

6

I Säuglingsalter

Autonomie gegen Scham und Zweifel

III Spielalter

5 Unipolarität gegen vorzeitige Selbstdifferenzierung

Urvertrauen gegen Misstrauen

II Kleinkindalter

V Adoleszenz

3

Zutrauen zur Experimentieeigenen ren mit Rollen Leistung gegen negative gegen ArbeitsIdentitätswahl lähmung

Identität gegen Identitätsdiffusion

Sexuelle Identität gegen bisexuelle Diffusion

Solidarität gegen soziale Isolierung

Intimität gegen Isolierung

Führungspolarisierung gegen Autoritätsdiffusion

Ideologische Polarisierung gegen Diffusion der Ideale

V Adoleszenz

VI Frühes Erwachsenenalter

Generativität gegen SelbstAbsorption

VII Erwachsenenalter

Integrität gegen Lebens-Ekel

VIII Reifes Erwachsenenalter

Eriksons acht Phasen des Lebenszyklus (Erikson, 1966, S. 150f.)

Im Folgenden wird zuerst auf die Lebensphasen eingegangen, die das Datenmaterial des Forschungsvorhabens direkt betreffen. Daher werden der dem Vorschulalter entsprechende Teil und die anschließende Phase des Schulalters näher betrachtet. Erikson (vgl. ebd., S. 98) nimmt an, dass dieses Stadium seine Schatten vorauswirft und Kinder bereits vor Schulbeginn beschäftigen kann. Das Finden der eigenen Identität ist wesentlicher Inhalt des anschließenden Stufenkonfliktes der Adoleszenz. Dieser Phase ist deshalb im Anschluss zusätzlich Aufmerksamkeit gewidmet. Allerdings reift auch dieser Konflikt in vorherigen Lebensphasen heran. Die entsprechenden Vorstufen sind in der fünften Spalte der dargestellten Tabelle enthalten (vgl. Tabelle 1).

2.4 Erik H. Erikson: Identität als Kontinuität

2.4.2

43

Das Spielalter: Initiative versus Schuldgefühl

Das Spielalter wird von Erikson durch die Gegenüberstellung von Initiative und Schuldgefühl charakterisiert. Nach der Auseinandersetzung mit der Autonomie auf der vorherigen Stufe geht es nun um die Perspektive der eigenen Entwicklung: „‚Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann‘“ (Erikson, 1966, S. 98, Hvhg. i. O.) Nach Erikson ist diese Phase von zunehmender Bewegungsfreiheit, wachsenden sprachlichen Fähigkeiten und infolgedessen größerer Vorstellungskraft begleitet (vgl. ebd., S. 87). Das Kind strebt nach Wissen, will vergleichen und Unterschiede im Allgemeinen sowie in Bezug auf die Geschlechter definieren. Mögliche eigene Entwicklungsperspektiven werden ausgelotet. „Es lernt jetzt eminent eindringlich und energisch: über seine Grenzen hinaus und zu zukünftigen Möglichkeiten hin“ (ebd., S. 89). Eine erste geschlechtliche Identität wird angenommen. Erikson (ebd., S. 92, Hvhg. i. O.) spricht von einem beginnenden geschlechtlichen „‚being on the make‘“, d.h. Jungen und Mädchen beginnen eine Initiative zu geschlechtstypischem Verhalten zu entwickeln. Initiative ist aber nur die eine Seite des Stufenkonfliktes im Vorschulalter. Die ödipalen Phantasien32 in Bezug auf Vater oder Mutter führen zu Schuldgefühlen. Die sehnsüchtige Zuwendung des Jungen zu seiner Mutter bzw. des Mädchens zu seinem Vater und die darauffolgende Zurückweisung kann das Empfinden von Angst und Verzweiflung weiter vertiefen. Erikson (ebd., S. 93) beschreibt diese Situation anschaulich: „Das Kind ergeht sich in Phantasien, daß es ein Riese und ein Tiger sei; in seinen Träumen aber rennt es angsterfüllt ums nackte Leben.“ In der ödipalen Situation bildet sich das „Über-Ich“ und auf dieser Grundlage das Gewissen. Letzteres ist von entscheidender Bedeutung für den Konflikt zwischen Initiative und Schuld. Schuldgefühle können das Kind nun nicht nur für Handlungen, sondern bereits für vermeintlich schlechte Gedanken überkommen. Erikson (vgl. ebd., S. 96f.) skizziert einen möglichen Ausweg aus der häufig angespannten Beziehung zu den Eltern: Lehrer, andere Eltern oder Die ödipale Situation bezeichnet in psychoanalytischen Konzepten eine frühkindliche Phase der libidinösen Zuwendung des Kindes zum andersgeschlechtlichen Elternteil, die weitreichende Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung hat (vgl. Kapitel 4.2.2). 32

44

2 Identität

Vertreter und Vertreterinnen typischer Berufe geraten in den Mittelpunkt des kindlichen Interesses. Sie geben eine begrenzte Möglichkeit zu unbelasteter Identifikation und freierer Entfaltung von Initiative. Gemeinsame Unternehmungen und Tätigkeiten, die Eltern und Kinder in Begeisterung verbinden, statt Ungleichheit hervorzuheben, bieten Kindern darüber hinaus eine unbelastete, sekundäre Identifikationsmöglichkeit.33 Den erwachsenen Bezugspersonen wird in dieser Phase eine wichtige Rolle zugeschrieben. Übertriebene Verbote oder eine Missachtung der Regeln, die sie selbst dem Kind auferlegen, lassen die Annahme eigener Verantwortung und Schuld zu einer dauernden Lebensbelastung werden. Die Persönlichkeit wird zu einer übermäßigen misstrauischen Moralität gegen sich und andere deformiert. Die Initiative bleibt gehemmt oder wird in erschöpfender Übertreibung ausgelebt. Wenn das Kind die Möglichkeit hat, Verantwortung zu tragen und Funktionen zu übernehmen, und dabei immer noch durch die Erwachsenen geschützt ist, wird die Neigung zur Initiative den hemmenden Schuldgefühlen überwiegen (vgl. ebd., S. 94ff.; Tillmann 2010, S. 261; Niederbacher & Zimmermann, 2011, S. 28f.). 2.4.3

Das Schulalter: Werksinn versus Minderwertigkeitsgefühl

Erikson (1966, S. 98, Hvhg. i. O.) charakterisiert diese Stufe so: „‚Ich bin, was ich lerne.‘“ Er lehnt diese Periode an Freuds Latenzphase an. Anders als in den vorherigen Phasen, sind die Konflikte des Schulalters nicht von Trieben angeregt. Das Schulalter ist für die soziale Entwicklung des Kindes von besonderer Bedeutung. Im Lernen mit Anderen entwickelt sich die eigene Sicht auf Chancengerechtigkeit: „Wenn ein Kind zu fühlen beginnt, daß es seine Hautfarbe, sein Elternhaus oder der Preis seiner Kleidung ist, die über seinen sozialen Wert entscheiden, und nicht sein Wunsch und Wille zu lernen, so kann es daraus dauernden Schaden an seinem Identitätsgefühl nehmen“ (ebd., S. 106, Hvhg. i. O.).34 Zur genaueren Erläuterung der zugrunde liegenden psychoanalytischen Annahmen zur kindlichen Individualentwicklung vgl. Kapitel 4.2.1 und 4.2.2. 34 Erikson hätte diese Aufzählung um die Kategorie Geschlecht erweitern können. Gerade im Konflikt zwischen Werksinn und Minderwertigkeitsgefühl steht für Jungen und Mädchen viel auf dem Spiel. Die Entwicklung eigener Selbstwirksamkeitsüberzeugungen beeinflussen 33

2.4 Erik H. Erikson: Identität als Kontinuität

45

Diese Phase betrifft zwei sich ergänzende Bereiche: einerseits das Spiel und andererseits Arbeit und Lernen. Die Spielwelt ist ein „Hafen“ (ebd., S. 101), birgt aber auch Konflikte. Spielzeuge müssen beherrscht werden, sie können – z.B. in einer Kindergruppe – umkämpft sein. Im gelingenden Umgang mit ihnen kann das Gefühl entstehen, etwas zu meistern. Das Kind erweitert seine Sicht auf die Realität. Dabei geht es nicht nur um technische Fertigkeiten, sondern auch um die kognitive Bewältigung von herausfordernden Erfahrungen (vgl. ebd., S. 102). Das Spiel allein ist für das Kind in dieser Phase aber nicht mehr befriedigend: „Es entwickelt eine Lust an der Vollendung eines Werkes durch Stetigkeit und ausdauernden Fleiß“ (ebd., S. 103). Erikson (ebd.) bezeichnet diesen Zusammenhang als „Werksinn“. Er entsteht durch eine Umleitung der bisherigen Triebe in der Latenzphase. Erikson formuliert verschiedene Gefahren für das Kind: Sind die vorhergehenden Stufenkonflikte nicht ausreichend bearbeitet, kann es Versagensängste herausbilden. Denkbar ist auch die Entwicklung einer übermäßigen Folgsamkeit gegenüber der Bezugsperson, die die eigene Entfaltung beschränkt. Darüber hinaus ist es möglich, dass dem Kind Erfahrungen eigener Meisterschaft in seiner Schulzeit völlig verwehrt bleiben.35 Im Konflikt zwischen Gelingen oder Scheitern kommt den Lehrerinnen und Lehrern eine besondere Verantwortung zu. Sie gestalten die schulischen Herausforderungen im besten Falle so, dass die Kinder eigene schöpferische Erfahrungen machen können und ihren Anstrengungen dabei Aufmerksamkeit geschenkt wird. Spiel und Lernen müssen sich abwechseln. Jedes Kind soll mit seinem individuellen Entwicklungstempo und seinen gegenwärtigen Interessen berücksichtigt werden (vgl. ebd., S. 104).

die beruflichen Karrieren von Männern und Frauen in großem Maße (vgl. Bussey & Bandura, 1999, S. 692). 35 Erikson (vgl. 1966, S. 104f.) verweist darauf, dass es besonders für Jungen problematisch sein könnte, dass in der Grundschule vor allem Frauen lehren. Wissen scheint damit weiblich, Handeln demgegenüber männlich konnotiert. Erfahrungen von Gelingen und Meisterschaft sind in dieser weiblich identifizierten Umgebung für Jungen schwieriger.

46

2 Identität

2.4.4

Das Jugendalter: Identität versus Identitätsdiffusion

Das kontinuierliche Erleben einer Ich-Identität ergibt sich aus der Lösung des zentralen Konfliktes des Jugendalters zwischen Identität und Rollendiffusion. Um eine andauernde eigene Identität zu erlangen und in sozialen Strukturen Halt zu finden, muss das Individuum in intensiver Weise ergründen, wer es ist und wer nicht. Diese Auseinandersetzung gewinnt im Jugendalter an Bedeutung, weil jetzt die kognitiven und emotionalen Fähigkeiten bestehen, um sich als einheitlich und selbständig zu erkennen. Die körperliche und insbesondere geschlechtliche Entwicklung schreitet schnell voran. Neue Bezugspersonen gewinnen an Bedeutung. Schmerzhafte Ablösungen aus primären Bindungen werden vollzogen, bisherige Überzeugungen neu bewertet (vgl. Erikson, 1966, S. 106ff.; Abels & König, 2010, S. 141). Diesem neuen Selbstverständnis stehen äußere Erwartungen gegenüber, mit denen sich Jugendliche auseinandersetzen müssen. Die Suche nach der eigenen Identität führt zu krisenhafter Ungebundenheit, die Erikson (1971, S. 77, Hvhg. i. O.) am Bild eines Zirkusartisten beschreibt: Wie der Trapezkünstler muss der junge Mensch in der Mitte heftiger Bewegtheit seinen sicheren Griff an der Kindheit aufgeben und nach einem festen Halt am Erwachsensein suchen. Ein atemloses Intervall lang hängt er von einem Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Zukunft und von der Verlässlichkeit derer ab, die er loslassen muß, und derer, die ihn ‚aufnehmen‘ werden.

Die Suche nach einem neuen Selbstbewusstsein ist eine besondere Herausforderung. Die Peer-Group der Gleichaltrigen gewinnt an Bedeutung, um sich zu vergleichen und der eigenen Identität rückzuversichern. Gleichzeitig wird oft konflikthaft die Abgrenzung von den Eltern gesucht. Die Angst vor einer Auflösung der eigenen Identität kann zu heftigem Dogmatismus und Intoleranz führen. Ausgeprägte Zweifel und Schwankungen können verunsichern. Idole und Ideale stärken das angestrebte Selbstbild (vgl. ders., 1966, S. 110f.). Anders als in ursprünglichen psychoanalytischen Konzepten entsteht Identität hier nicht aus kindlicher Identifikation mit einer Bezugsperson, sondern aus der entwickelten Bereitschaft, sich zur Gesellschaft in Beziehung zu setzen und von ihr setzen zu lassen.

2.5 Zusammenfassung, kritische Diskussion und erste Schlussfolgerungen

47

Die Ganzheit, die in diesem Stadium erreicht werden muß, habe ich als Gefühl der inneren Identität bezeichnet. Um das Gefühl der Ganzheit zu erfahren, muß der der junge Mensch eine fortschreitende Kontinuität zwischen dem empfinden, was er während der langen Jahre der Kindheit geworden ist, und dem, was er in der vorgeahnten Zukunft zu werden verspricht; zwischen dem, wofür er sich selbst hält, und dem, wovon er bemerkt, daß andere es in ihm sehen und von ihm erwarten. (ders., 1971, S. 78)

Bisherige und neue Identitäten werden zusammengefügt. Die Herausforderung für Jugendliche besteht darin, das Gefühl einer Kontinuität zwischen den Identitäten der Kindheit und der nun möglichen erweiterten Selbsterfahrung als selbstbestimmtes Individuum in sozialer Interaktion mit Anderen herzustellen. Identität wird damit nicht nur als kognitive, sondern auch als affektive Synthese von Selbstbild und Fremdbild definiert. 2.5

Zusammenfassung, kritische Diskussion und erste Schlussfolgerungen

Es ist leicht, in allgemeiner Weise auf Identität als Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft zu verweisen. Dieser „i-Punkt“ nimmt aber aus jedem Blickwinkel andere Formen an. Nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Theorie ist Identität eine Aufgabe, die nicht im Vorbeigehen gelöst wird. In den erläuterten Konzepten spiegeln sich deutlich die einleitend skizzierten Spannungsfelder. Verschiedene Pole werden gegeneinander verhandelt: Prozess trifft auf Ergebnis, soziale Bedingungen auf individuelle Potentiale. Aus diesen Verknüpfungen ergibt sich eine weitere Schlussfolgerung: Identitätstheorien enthalten zwangsläufig eine Darstellung von Sozialisation (vgl. Abels & König, 2010, S. 21). Jede der drei hier erläuterten Perspektiven kann auch aus diesem Blickwinkel gelesen werden. Diese Verbindung ist aber in sich selbst widersprüchlich und komplex. Wie sollen Prozess und Ergebnis in einem Bild eingefangen werden? Die vollständige Konzeptualisierung von Identität wird damit zu einer besonderen theoretischen Herausforderung (vgl. Krappmann, 1988, S. 207). Die Theorien können infolgedessen polemisch widerlegt und gegeneinander ausgespielt werden: Die interaktionistische Fokussierung vernachlässigt in ihrer mikrosozialen Fokussierung die Sozialstruktur und die Beziehung des Individuums zu seiner gegenständlichen Umwelt (vgl.

48

2 Identität

Tillmann, 2010, S. 196ff.). Die „personale Identität“ des „I“ ist zudem erklärungsbedürftig, da nicht deutlich wird, wie sich das Individuum in Interaktionen behaupten kann (vgl. Niederbacher & Zimmermann, 2011, S. 51). Außerdem wird die psychische Komplexität des Individuums übersehen (vgl. Böhnisch, 2004, S. 109, bzgn. auf Gottschalch, 1988). Die Betrachtung des Subjektes in seinen phasenspezifischen Konflikten verlagert zudem das soziale Geschehen ins Innere des Individuums, obwohl es in äußerliche Interaktionen verstrickt ist. Außerdem scheint es dabei um einen Anpassungsprozess an die Sozialstruktur zu gehen, so als wäre das Individuum immer „alter“ und niemals „ego“ (vgl. Niederbacher & Zimmermann, 2011, S. 152). Zusätzlich problematisch ist, dass ein zeitliches Stufenkonzept, das innere Prozesse beschreibt, leicht empirisch angreifbar ist (vgl. Trautner, 2008, S. 633f.; Rohrmann, 2008, S. 93ff.). Weiterhin wirkt eine kontinuierliche Identität unter den Bedingungen sozialen Wandels und gesellschaftlicher Widersprüche als überhöhter normativer Anspruch (vgl. Connell, 2013, S. 150). Es ist schwierig, in einer zunehmend diffusen Gesellschaft die notwendige soziale Anerkennung der eigenen Identitätsentwürfe zu finden (vgl. Krappmann, 1997, S. 86ff.; Abels & König, 2010, S. 147). Eriksons Vorstellungen einer möglichen inneren Balance verdecken außerdem, dass Identität auch eine hilfreiche Illusion ist, um ein tiefenpsychologisch bedingtes, inneres Chaos zu stabilisieren. Sie ist in vielen Fällen nur ein „Schutzschild“, um das innere Durcheinander abwehren zu können (vgl. Böhnisch, 2004, S. 110f., bzgn. auf May, 1991).36 Eine solche Auseinandersetzung mit den Versuchen, Identität ein Konzept zu geben, ist aber nicht fair, denn damit werden alle Beteiligten nur für die bekannten schwierigen Ausgangsbedingungen in Haftung genommen. Daher sollen hier die Stärken der Theorien hervorgehoben werden. Sowohl Mead und Blumer als auch Goffman umgehen das eingangs angedeutete Dilemma einer nur imaginierten Permanenz und Gleichheit, indem sie die soziale Wirklichkeit als situative Konstruktion beschreiben (vgl. Steins, 2003, S. 54ff.; Abels & König, 2010, S. 91). Der Symbolische Interaktionismus entwirft zudem ein überzeugendes Verständnis des 36

Identität als illusorischer Schutz vor einer Auflösung der Persönlichkeit ist nicht nur tiefenpsychologisch naheliegend, wenn berücksichtigt wird, dass z.B. geschlechtliche Permanenz-Annahmen nur Konstruktionen sind (vgl. Steins, 2003, S. 20ff.).

2.5 Zusammenfassung, kritische Diskussion und erste Schlussfolgerungen

49

Subjektes, das weder ein idealistisch überhöhtes autonomes Ich noch ein vollständig determinierter Sozialcharakter ist. Die interaktionistische Beschränkung ist gleichzeitig ein besonderer Vorteil. Sie macht möglich, genau das zu analysieren, was empirisch zugänglich ist (vgl. Böhnisch, 2004, S. 109; Tillmann, 2010, S. 196ff.). Dabei kann die mikrosoziale Präzision erreicht werden, die in der vorliegenden Arbeit von großer Bedeutung ist. Darüber hinaus kann die Kritik an der Normativität einer kontinuierlichen Identität relativiert werden. Eriksons Annahme eines inneren Prozesses eröffnet einen Zugang zu einer kohärenten Persönlichkeit, die dem allgemeinen Erleben entspricht. Menschen sind sich ihres Geworden-Seins bewusst und auf dieses Bewusstsein angewiesen (vgl. Keupp et al., 2008, S. 25ff., 59). Der Anspruch innerer Kohärenz muss äußerer Widersprüchlichkeit zudem nicht entgegenstehen, denn die Kontinuität der eigenen Identität wird insbesondere von Kindern und Jugendlichen auch vor dem Hintergrund von gesellschaftlichem Wandel behauptet und in Konflikten errungen (vgl. Abels & König, 2010, S. 145f.): Diese Heranwachsenden ringen in ihren Interaktionen und Beziehungen miteinander darum, als Personen, die sich in ihren Eigenarten und Anliegen verstehen, respektiert zu werden. Das vollzieht sich in vielen kritischen Situationen, in denen es Streit und Verletzungen gibt, aber auch vergnügliches und befriedigendes Einvernehmen […]. Ganz offensichtlich kommen Spiel und Kooperation unter den Kindern nur voran, wenn diese jungen Menschen nicht aufgeben, Identität zu suchen, zu riskieren und zu behaupten. (Krappmann, 1997, S. 90)

Mead, Blumer, Goffman und Erikson versuchen auf beeindruckende Weise, den Schnittpunkt zwischen Individuum und Gesellschaft abzubilden und dabei zu berücksichtigen, dass im Moment der Herstellung von Identität auch der Verlauf enthalten sein muss. Gleichzeitig wird darauf verwiesen, dass das Individuum nicht nur durch kognitive, sondern auch durch körperliche Prozesse und deren leiblich-affektive Wahrnehmung bestimmt ist. Erikson (1971, S. 78) spricht von einem „Gefühl der inneren Identität“ bzw. „Ganzheit“. Damit ist eine Vielschichtigkeit angedeutet, die bei der Beantwortung der Ausgangsfragen berücksichtigt werden muss. In den Begegnungen zwischen den Jungen und den Fachkräften muss nach den Selbstbildern der Kinder und den ihnen entgegengebrachten Erwartungen gesucht werden. Wie gestalten die Handelnden den Diskurs zwischen diesen

50

2 Identität

beiden Perspektiven? In der situativen Begegnung sollten außerdem Hinweise auf vergangene Erfahrungen und zukünftige Ereignisse enthalten sein. Lassen sich solche Spuren finden und ermöglichen sie weitere Interpretationen? Zeigt sich die leiblich-affektive Dimension der Identität in den Handlungszügen der Kinder und der Fachkräfte? Die anschließende Auseinandersetzung mit theoretischen Entwürfen aus Soziologie und Entwicklungspsychologie sowie mit empirischen Befunden führt zu einer weiteren Ausdifferenzierung der Forschungsfragen, die die jeweiligen Kapitel abschließt (vgl. Kapitel 3.6, 4.5, 5.5, 6.6).

3

Soziologische Theorien

3.1

Einleitung

Aus diesem Blickwinkel sollen die Mikro- und Makroaspekte des Geschlechterunterschiedes zwischen Handlung und Sozialstruktur beschrieben werden. Mit einer umfassenden soziologischen Geschlechtertheorie müssten daher die lokale Herstellung der Zweigeschlechtlichkeit und die sozialstrukturell verankerte Ungleichheit der Geschlechter erklärt werden können (vgl. Meuser, 2002, S. 111). Abels und König (2010, S. 261, Hvhg. i. O.) fassen die soziologische Perspektive auf Geschlecht und Sozialisation prägnant zusammen: Dass es zwei Geschlechter gibt, ist eine biologische Tatsache und soziologisch zunächst einmal kein Problem. Dass wir uns gegenseitig auf den ersten Blick nach dem Alter und dem Geschlecht wahrnehmen und einordnen, ist eine soziale Tatsache und soziologisch bemerkenswert. Dass in einer Gesellschaft mit der Kategorisierung als Junge oder Mädchen, Mann oder Frau, bestimmte Erwartungen verbunden sind, ist – zumindest in modernen Gesellschaften – ebenfalls eine soziale Tatsache und auch ein Problem. Die Erwartungen bedingen nämlich ein bestimmtes Verhalten, fördern es oder schränken es ein, auf jeden Fall kann eine Frau (resp. ein Mann) nicht machen, was sie will. Grundsätzlicher noch: Sie macht es auch nicht, und sie kommt noch nicht einmal darauf, dass sie es machen könnte! Sich in seinem Geschlecht wahrzunehmen und danach zu handeln, ist ganz wesentlich ein Produkt der Sozialisation.

Geschlecht und Männlichkeit sind aus soziologischer Perspektive in verschiedenen Theorien aufgegriffen worden.37 Brandes (vgl. 2002, S. 19f.) nennt vier grundlegende Konzeptualisierungen der Geschlechterforschung: die Geschlechtsrollentheorie von Talcott Parsons38 (1968; vgl. Meuser, 2010,

37

Meuser (vgl. 2010, S. 17ff.) erläutert den soziologischen Männlichkeitsdiskurs vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts bis zur Gegenwart ausführlich. 38 Der US-amerikanische Soziologe Talcott Parsons (1902-1979) begründete ausgehend von den Überlegungen von u.a. Emile Durkheim und Max Weber die strukturell-funktionale Theorie (vgl. Hillmann, 2007, S. 665f.; Tillmann, 2010, S. 144ff.).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Andrä, Die Konstruktion von Männlichkeit in kindheitspädagogischen Interaktionen, Kultur und gesellschaftliche Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24904-5_3

52

3 Soziologische Theorien

S. 52ff.), der konstruktivistische Ansatz von Judith Butler39 (1997), der kultursoziologische Ansatz von Pierre Bourdieu40 (1993, 1997) und das von Raewyn Connell41 (2013, 2015) entwickelte Konzept der hegemonialen Männlichkeit. Das vor allem von Talcott Parsons (vgl. 1968, S. 55ff.; Tillmann, 2010, S. 144ff.; Meuser, 2010, S. 52ff.) auf der Grundlage von psychoanalytischer Entwicklungspsychologie und strukturfunktionalistischer Soziologie eingeführte Geschlechtsrollenkonzept erlangte in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts große Bedeutung. Die umfassenden gesellschaftstheoretischen Überlegungen werden um die Begriffe Struktur und Funktion entfaltet, wobei mit Ersterem im Wesentlichen die statischen Aspekte einer Gesellschaft und mit Zweiterem vor allem die dynamischen Dimensionen des Austauschs zwischen sozialen Subsystemen gemeint sind. Die Annahme einer strukturellen Statik des Sozialen ist aus Parsons Sicht allerdings keine objektive Feststellung, sondern eine Hilfskonstruktion, um funktionale Dynamiken überhaupt untersuchen zu können. Die Grundeinheit sozialer Systeme bildet das handelnde Individuum. Es muss sich aber in der Begegnung mit anderen an normativen Beziehungsmustern orientieren. Diese „Rollen“ sind jeweiligen gesellschaftlichen Subsystemen zugehörig. Um sich in diesen Strukturen bewegen zu können, muss das Individuum im Sozialisationsprozess Kompetenz im passenden Rollenhandeln erwerben. Parsons Überlegungen sehen dabei allerdings keine Variationen, sondern nur die Extreme Anpassung oder defizitäre Abweichung vor. Die Annahme einer gesellschaftlich definierten Geschlechtsrolle ist wiederholt kritisiert worden. Subjekt und Gesellschaft müssen dabei zuerst getrennt konzeptualisiert und dann wieder zusammengefügt werden (vgl. Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler stellt in ihren radikal konstruktivistischen Überlegungen die Kategorie Geschlecht als Ergebnis sprachlicher Diskurse dar (vgl. Brandes, 2002, S. 20). Meuser (2010, S. 111) verortet ihre Veröffentlichungen als „diskurstheoretisch“ und damit außerhalb der Soziologie. 40 Der französische Ethnologe und Soziologe Pierre Bourdieu (1930-2002) hat eine umfangreiche kulturtheoretische Gesellschaftsanalyse ausgearbeitet. Sein Werk wird vielfältig rezipiert und insbesondere in Bezug auf Geschlecht und Männlichkeit weiterentwickelt (vgl. Hillmann, 2007, S. 111f.). 41 Raewyn Connell ist eine australische Soziologin, die in ihren Veröffentlichungen vor allem die hegemonialen Aspekte der Geschlechterverhältnisse hervorgehoben hat (vgl. Brandes, 2002, S. 21f.; Meuser, 2010, S. 99ff.; Lenz & Adler, 2010, S. 26). 39

3.1 Einleitung

53

Brandes, 2002, S. 20). Rollen erscheinen zudem komplementär. Gesellschaftlich begründete Ungleichheitsverhältnisse, die ihre Ursache außerhalb dieser sich ergänzenden Gegenüberstellungen haben, können nur schwer beschrieben werden. Des Weiteren droht die Gefahr einer biologisch begründeten Dichotomisierung der Geschlechter und ihrer Rollen, da Biologie und soziale Konstruktion nicht eindeutig voneinander getrennt werden. Außerdem lassen sich Geschlechtsrollen als „master identities“ (West & Zimmerman, 1987, S. 128, bzgn. auf Hughes, 1945) nicht wie andere Rollen auf ein bestimmtes soziales Subsystem begrenzen und damit konzeptuell nur schwer in eine Rollentheorie einfügen. Schließlich besteht das Problem, dass Rollen – z.B. Berufe wie die Krankenschwester – häufig schon von geschlechtlichen Konnotationen durchzogen sind, sodass der Einfluss der Geschlechtsrolle nicht klar von anderen Rollen getrennt werden kann. Trotz dieser Kritiken ist die Rollentheorie in der Sozialpsychologie und in der Populärwissenschaft weiterhin sehr einflussreich (vgl. ebd., S. 128f.; West & Fenstermaker, 1995, S. 18; Meuser, 2010, S. 50, 62f.). In den letzten Jahrzehnten haben sich im soziologischen Diskurs aber sozial-konstruktivistische Ansätze weitgehend durchgesetzt (vgl. Meuser, 2010, S. 50; Kapitel 1.3.4). Nachdem rollentheoretisch vor allem die geschlechtliche Vergesellschaftung des Individuums im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, wird nun verstärkt die interaktive Herstellung der Zweigeschlechtlichkeit untersucht (vgl. Abels & König, 2010, S. 265). Besonders im Rahmen der sozial-konstruktivistischen Ansätze des Symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie spielen die Geschlechterbeziehungen eine wichtige Rolle (vgl. Meuser, 2010, S. 63; Kapitel 3.3, 3.4). Hier haben zuerst Erving Goffman (1977) und später Candace West zusammen mit Don H. Zimmerman und Sarah Fenstermaker einflussreiche Konzepte vorgelegt (West & Zimmerman, 1987; West & Fenstermaker, 1995). Die situative Herstellung der Zweigeschlechtlichkeit in Interaktionen durch die Handlungszüge der beteiligten Personen wird dabei zum Forschungsobjekt (vgl. Meuser, 2010, S. 64ff.). Judith Butler (vgl. 1993, S. 33) betrachtet das Geschlecht ebenfalls primär als diskursive soziale Konstruktion. Ihre Argumentationen gehen aber über die interaktionistischen und ethnomethodologischen Konzepte hinaus. Die vermeintlich natürliche Geschlechterdichotomie ist aus ihrer Perspektive nur eine im Wesentlichen sprachlich hergestellte Illusion. Das Subjekt

54

3 Soziologische Theorien

drückt sich dabei nicht selbst expressiv aus, sondern entsteht erst in seinen performativen Handlungen (vgl. Tervooren, 2006, S. 18).42 Bourdieu (1993, 1997; vgl. Kapitel 3.2) entwirft eine umfassende Gesellschaftstheorie um den zentralen Begriff des Habitus. In ihm hat das Individuum die gesellschaftlichen und damit auch geschlechtlichen Strukturen seiner Umwelt verinnerlicht. Aus ihm heraus reproduziert es sie in seinen Handlungen. Wie aus konstruktivistischer Perspektive wird Kultur als Grundlage der Geschlechterordnung identifiziert, allerdings weitaus deterministischer. Bourdieu betont im Gegensatz zu Butler die Bedeutung körperlicher und weitgehend unbewusster – habitualisierter – Prozesse, die sich kaum diskursiv beeinflussen lassen. In seinen Überlegungen wird zudem die Symbolkraft des Körpers der Handelnden als Teil des Diskurses berücksichtigt (vgl. Brandes, 2002, S. 21, 38f.). Connell (vgl. 2015, S.130) sieht das Prinzip der hegemonialen Männlichkeit als Bezugsrahmen für jedes männliche Handeln. Es ist auf die Unterordnung von Frauen und anderen Männer ausgerichtet. Dadurch entstehen gesellschaftliche Ausprägungen von hegemonialen, komplizenhaften, untergeordneten und marginalisierten Männlichkeiten. Zwar betrachtet Connell (vgl. 2013, S. 88), ähnlich wie Bourdieu, im Geschlecht eine auf den Körper bezogene Praxis. Im Fokus steht aber die gesellschaftliche Machtstruktur statt der gesellschaftlichen Bedingtheit des Individuums, die in Bourdieus Begriff des Habitus enthalten ist. In der kritischen Männerforschung werden die Ansätze von Bourdieu und Connell aufgegriffen und in Weiterentwicklungen miteinander verknüpft (Brandes, 2002; Meuser, 2010). Die vorliegende Forschungsarbeit bezieht sich auf pädagogische Interaktionen im Vorschulbereich zwischen männlichen und weiblichen Fachkräften und Jungen. Deshalb sind die soziologischen Theorieentwürfe von besonderer Bedeutung, die die „‚Vollzugswirklichkeit‘“ (Meuser, 2010, S. 64, Hvhg. i. O.) der Interaktion als Ort der geschlechtlichen Konstruktion in den Mittelpunkt stellen, die neben sprachlichen auch körperliche bzw. leiblich-affektive Prozesse in den Blick nehmen und darüber hinaus in Bezug auf die kindliche Sozialisation aussagekräftig bzw. zumindest Auf den Begriff der Performanz kann an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden. Weitere Erläuterungen diesbezüglich finden sich z.B. bei Tervooren (vgl. 2006, S. 17ff.). 42

3.2 Pierre Bourdieu: Die Theorie der Praxis

55

interpretierbar sind. Im Anschluss werden deshalb kulturtheoretische (Bourdieu, 1993, 1997), interaktionistische (Goffman, 1977; Cahill, 1986) und ethnomethodologische Konzepte (West & Zimmerman, 1987; Hirschauer, 2001) ausführlicher entfaltet. Männlichkeit entsteht in diesen Entwürfen als Habitus, gegenseitiges Arrangement oder situatives „doing“. 3.2

Pierre Bourdieu: Die Theorie der Praxis

3.2.1

Vorbemerkung

Pierre Bourdieu entwickelte eine umfassende kulturtheoretische Gesellschaftsanalyse um den zentralen Begriff des Habitus. Das Individuum und sein Handeln werden als Resultat der gesellschaftlichen Verhältnisse beschrieben. Empirische Grundlagen seiner Arbeit waren ethnologische Feldforschungen in der kabylischen Kultur in Nordafrika43 (Bourdieu, 2009) und Untersuchungen der französischen Gesellschaft der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts (Bourdieu, 2014). Bourdieu (1997) bezieht sich in weiteren Veröffentlichungen explizit auf die Entstehung männlicher Macht. Sein Konzept des Habitus kann zudem als eine implizite Sozialisationstheorie gelesen werden (vgl. Liebau, 1987, S.82ff.; Hillebrandt, 2009, S. 378). Aufgrund dieser Bedeutung sind Bourdieus Gedanken in vielfältiger Weise und besonders in Bezug auf Geschlecht und Männlichkeit rezipiert und verarbeitet worden (vgl. Brandes, 2001; Meuser, 2010). Im Folgenden wird zuerst das Habituskonzept im Rahmen einer Theorie der Praxis erläutert und im Anschluss daraus eine sozialisationstheoretische Perspektive entwickelt. 3.2.2

Sozialer Raum und Habitus

Im Fokus der Theorie der Praxis liegt das Handeln der Menschen. Subjekt und soziale Strukturen sind durch das gemeinsame Alltagshandeln der Die Kabylen sind ein Berber-Volk im Norden Algeriens (vgl. Digel & Kwiatkowski, 1990, Bd. 11, S. 136f.). 43

56

3 Soziologische Theorien

Menschen – die Praxis – verbunden. Sie lässt Gesellschaft entstehen, formt Kultur und setzt Kultur und sozialen Hintergrund miteinander in Beziehung (vgl. Hillmann, 2001, S. 699). Die Praxistheorie umfasst zwei wesentliche und ineinander verwobenen Sphären (vgl. Hillebrandt, 2009, S. 380). Zum einen werden die Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen der Menschen als verinnerlichte gesellschaftliche Struktur definiert. Ihr Handeln entsteht weniger autonom, sondern folgt diesen Dispositionen, die als Habitus bezeichnet werden. Als zweiten Strang enthält sie eine Feld- und Raumtheorie zur Beschreibung der objektivierten Gesellschaft und der Positionierung der Individuen in ihr. Beide Seiten – habituell verinnerlichte symbolische Schemata einerseits und soziale Schemata andererseits – bestimmen die Praxis der Menschen (vgl. ebd., S. 385). „Folglich ist in letzter Konsequenz das relationale Bedingungsgeflecht zwischen inkorporierter Sozialität (Habitus), aktuellen Praktiken und objektivierter Sozialität (Feld) das Thema einer praxistheoretisch ausgerichteten Soziologie“ (ebd., S. 376). Quelle wissenschaftlicher Analyse sind die in den Praktiken enthaltenen Symbolisierungen, deren Sinn – quasi die Botschaft der Praxis – gedeutet werden kann (vgl. ebd., S. 386). Die Gesellschaft wird als historisch entstandener, mehrdimensionaler Raum aus Relationen zwischen Individuen betrachtet. Die Struktur dieses Raums ist von sozialer Ungleichheit geprägt. Diese wird durch Praktiken der Distinktion aufrechterhalten, die Lebensstilen einen bestimmten Wert zuweisen (vgl. Bourdieu, 2014, S. 40f.). Der soziale Raum bildet sich aus den Statuspositionen der Beteiligten. Gleichzeitig ist er horizontal in Praxisfelder eingeteilt. Diese spezifizieren sich aus den verschiedenen Interessen, auf die ihre Praxis bezogen ist. Die Felder werden relational als Kräftefelder beschrieben. Die Praktiken der Handelnden sind durch die Verhältnisse zwischen ihren Positionen in einem Feld geprägt. Für eine fortgesetzte Entstehung von Praxisformen in einem Feld müssen zwei Bedingungen erfüllt werden: Einerseits muss die Definitionsmacht umstritten sein, d.h. es sind Praktiken zur Verteidigung einer bzw. zum Angriff auf eine Position notwendig. Damit werden die Kräftefelder als Kampffelder mit Spielregeln und -einsätzen charakterisiert. Andererseits muss der Habitus der Beteiligten dem Spielsinn des Feldes entsprechen, damit sie sich entsprechend in ihren Praxisformen nach den Regeln dieses Feldes verhalten. Eine Passung zwischen Habitus und Feldstruktur, inkorporierter und objektivierter Geschichte ist notwendig (vgl. Hillebrandt, 2009, S. 380ff.).

3.2 Pierre Bourdieu: Die Theorie der Praxis

57

Voraussetzung für die Teilnahme am Spiel ist der Zugang zu Kapital. Die den Einzelnen verfügbaren Kapitalressourcen definieren ihre Positionen im sozialen Raum. Bourdieu unterscheidet zwischen ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital, das jeweils institutionalisiert, objektiviert und inkorporiert sein kann. institutionalisiert

objektiviert

inkorporiert

Ökonomisches Kapital

Währung, Preise, Eigentumsrechte

Geld, Eigentum, Vermögen

Rationalitätsdispositionen

Kulturelles Kapital

Bildungszertifikate, Titel, Zeugnisse

Kulturelle Güter, Artefakte

Geschmack, kulturelles Vermögen

Soziales Kapital

Mitgliedschaften, Netzwerke

Adels- und Ehrentitel

Akzeptanz und Ansehen, Wissen um die eigene Wertschätzung und Reputation

Tabelle 2:

Übersicht über die Formen des Kapitals (vgl. Hillebrandt, 2009, S. 382f.)

Die zusätzliche, nicht objektivierbare, aber entscheidende Kapitalressource hat symbolischen Charakter. Die soziokulturellen Praktiken der symbolischen Anerkennung machen den Wert der anderen Kapitalformen und die daraus entstehende Sozialstruktur erst zu einem öffentlichen Ereignis. Dadurch werden die mit objektiven Kapitalformen verbundenen Zugangsberechtigungen zu Positionen der Deutungshoheit in einem Feld verstärkt und mit Macht verknüpft. Dieser Mehrwert ist das symbolische Kapital in einem sozialen Feld (vgl. ebd., S. 382f.).44 Die Signifikanz kultureller Deutungen für die Struktur des sozialen Raumes zeigt sich auch an Bourdieus (vgl. 2014, S. 403ff.) Beschreibung des „Lebensstils“. Hillebrandt (2009, S. 387, Hvhg. i. O.) spricht in Anlehnung

44

Symbolisches Kapital ist z.B. die mit akademischen Titeln verbundene Zuschreibung von Deutungskompetenz an Personen des öffentlichen Lebens. Von diesem Mehrwert konnten verschiedene Politiker wie Karl Theodor zu Guttenberg sogar bei gleichzeitiger Vernachlässigung der objektiven Qualität der wissenschaftlichen Arbeit profitieren (Lepsius & Meyer-Kalkus, 2011).

58

3 Soziologische Theorien

an Alfred Schütz45 von „symbolischen Sinnprovinzen des sozialen Raums“, denen sich Menschen zuordnen. Lebensstile enthalten einerseits Optionen der Lebensgestaltung in der modernen Gesellschaft auf der Grundlage des vorhandenen soziokulturellen Handlungsrepertoires von einzelnen Personen. Andererseits bilden sich nicht nur individuelle, sondern auch quantitativ signifikante Lebensstile. Durch den Habitus als praktischen Sinn entsteht aus dem sozialtopologischen Raum der Relationen zwischen verschiedenen Lebenslagen mit unterschiedlichem Kapitalzugriff ein Raum der Praxis verschiedener soziokulturell geprägter Lebensstile. Der Habitus – entstanden aus der Lebenslage – erzeugt aber nicht nur die Praxis der Lebensstile. Er führt auch zu ihrer Unterscheidung und gegenseitigen Bewertung (vgl. Bourdieu, 2014, S. 280). Die Praxisformen der Menschen symbolisieren damit nicht nur Zugehörigkeit und Abgrenzung, sondern vermitteln auch symbolisch das Kräfteverhältnis im sozialen Raum (vgl. Hillebrandt, 2009, S.388). Der Ursprung des Habitus ist die spezifische Lage von Menschen im sozialen Raum. Sie wird zum generativen Prinzip der Praxis verinnerlicht und damit zur Quelle von Strategien für den zukünftigen Umgang mit jeder neuen Situation. „Die Kategorie des Habitus ist auf den sozialen Akteur hin entwickelt worden; sie beschreibt den Menschen als Zustand des Sozialen“ (Liebau, 1987, S.79). Bourdieu bezieht sich in seinen Überlegungen auf den Kunsthistoriker Erwin Panofsky46 und den Soziologen Norbert Elias. Panofsky beschrieb einen Habitus als Ursprung der homologen Ausprägungen innerhalb einer Epoche in so verschiedenen Bereichen wie Theologie und Architektur (vgl. Meuser, 2010, S. 195, bzgn. auf Bourdieu, 1970). Elias (1986, S. 425; vgl. Brandes, 2002, S. 62f.; Kapitel 6.3) charakterisiert diesen Zusammenhang als in „individuellen Selbstzwang“ umgewandelten, sozialen „Fremdzwang“. Der Habitus ist „einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte“ (Bourdieu, 1993, S. 105). Die von den Menschen auf dieser Grundlage in Form von Handlungen und Bewertungen generierte Praxis reproduziert eine soziale Struktur, die Das Werk des Soziologen Alfred Schütz (1899-1959) gilt als Ausgangspunkt der Phänomenologischen Soziologie (vgl. Hillmann, 2007, S. 776). 46 Erwin Panofsky (1892-1968) hat im zwanzigsten Jahrhundert als Kunsthistoriker große Bedeutung erlangt (vgl. Meuser, 2010, S. 195). 45

3.2 Pierre Bourdieu: Die Theorie der Praxis

59

sich fortlaufend in neuen Habitualisierungen niederschlägt (vgl. ebd., S. 107). In diesen Handlungen und Bewertungen wird eine individuelle Haltung eingenommen und gleichzeitig der objektiven Welt Sinn gegeben. Aus einem lokalen Standpunkt wird eine universale Weltsicht (vgl. Brandes, 2001, S. 40). Sein und Erkenntnis stimmen überein. Kognitive und objektive Strukturen wirken kongruent und als Folge natürlicher Muster (vgl. Bourdieu, 1997, S. 159). Der Habitus ist damit die strukturierende Quelle der Praxis, die bereits durch die Lebensbedingungen des Einzelnen strukturiert ist (vgl. ders., 2014, S. 279f.). Es ergibt sich eine Doppelrolle: Als „modus operandi“ ist der Habitus Quelle von strukturierenden Praxisformen, während er als „opus operatum“ objektivierte, strukturierte Praxisform ist (vgl. ebd., S. 281; 1993, S. 98, 106; Meuser, 2010, S. 117). Er erzeugt aber kein automatenhaftes Handeln, sondern kann es situativ – allerdings im Rahmen seiner Erzeugungsbedingungen – anpassen. Der Habitus umfasst damit alle generativen Möglichkeiten der individuellen Kreativität bei der Erzeugung von Praxis (vgl. Brandes, 2001, S. 40f.; Faulstich-Wieland, 2008, S. 243). Übertragen auf Musik ist das Alltagshandeln eine Improvisation über ein Thema. Je nach sozialem Feld werden bestimmte Instrumente und Melodien bevorzugt (vgl. Bourdieu, 1993, S. 106; 2014, S. 40f.).47 Der Habitus ist weder geistiges Bildgedächtnis noch mechanisches Gewohnheitsgedächtnis. Menschen müssen sich nicht an eine Vorlage für ihr Handeln erinnern, aber anders als eine Maschine können sie eine Situation antizipieren und kreativ ihre Praxis nach ihr ausrichten. Bourdieu (vgl. 1997, S. 168) verweist in diesem Zusammenhang auf die Schwierigkeit, einen Roboter einen natürlich klingenden Satz sprechen zu lassen. Ihm fehlt die generative Kraft des Habitus.48 Dieser lässt sich daher nicht einem gängigen Gegensatzpaar wie Theorie vs. Praxis, Konzeption vs. Ausführung oder geistig vs. körperlich zuordnen. Wir können unser Handeln 47

Vergleichbare Überlegungen sind bereits in Veröffentlichungen des US-amerikanischen Pädagogen John Dewey (1930, S. 42, zitiert in Cahill, 1986, S. 182, Hvhg. i. O.) enthalten: „The essence of habit … is standing predilections and aversions, rather than bare recurrence of specific acts.“ 48 Diese Erkenntnis kann im Selbstversuch an den weit verbreiteten Sprechdienstleistungen vieler Smartphones erprobt werden. Diesen fehlt diese „generative Kraft“, sodass bei komplexeren Fragen Missverständnisse vorprogrammiert sind.

60

3 Soziologische Theorien

reflektieren, tun es aber im Sinne der Struktur, die wir in unseren Körpern gespeichert haben. Der Habitus ist die praktische Umsetzung einer weitgehend vergessenen Theorie. Bourdieu (2009, S. 171) definiert ihn als „zweite Natur“ und charakterisiert ihn damit als dem Bewusstsein kaum zugänglich.49 Bourdieu (1993, S. 122) sieht den Habitus dabei als eine leiblichaffektive Repräsentation, als „leibliche Absicht auf die Welt“: „Der praktische Glaube ist kein ‚Gemütszustand‘ und noch weniger eine willentliche Anerkennung eines Korpus von Dogmen und gestifteten Lehren (‚Überzeugungen‘), sondern, wenn die Formulierung gestattet ist, ein Zustand des Leibes“ (ebd., S. 126, Hvhg. i. O.). Der Ursprung dieser leiblichen Erfahrung liegt aber nicht in einer einfachen Repräsentation aus Annahmen des Individuums über sein Fremdbild. Dieses Fremdbild ist immer ein gesellschaftlich geprägtes Urteil der Anderen, das der oder die Einzelne auf sich bezieht (vgl. ebd., S. 134f.). Diese „zweite Natur“ entsteht in einem fortlaufenden Prozess der psychischen Verarbeitung der Realität und der damit verbundenen Verinnerlichung von Handlungsvorgaben, worauf im Anschluss ausführlicher eingegangen wird.50 Diese „strukturierende Struktur“ ist für eine Forschungsperspektive nicht offen zugänglich, aber aus der Analyse der Sinnproduktion in der Handlungspraxis der Individuen kann auf sie geschlossen werden. Habitualisierte Dispositionen zeigen sich nicht nur in körperlichen, sondern auch in symbolischen und sozialen Repräsentationen. Diese bieten oft aufschlussreiches Material für die Rekonstruktion des Habitus (vgl. Hillebrandt, 2009, S. 379). Hillebrandt (vgl. ebd., S. 385) zählt z.B. „spezialisierte Wissenssysteme, Alltagsweisheiten, praktische Kompetenz“ auf. Bourdieu (1997, S. 158f.) verweist in Bezug auf das Geschlechterverhältnis auf folgende Aspekte: „Die herrschende Sicht(weise) der Geschlechtertrennung drückt sich in Diskursen wie den Redensarten, den Sprichwörtern, den Rätseln, den Liedern, den Gedichten oder auch in graphischen Darstellungen wie dem Wandschmuck, den Verzierungen der Töpferwaren oder der Stoffe aus.“ Darüber hinaus werden an dieser Stelle 49

Auch Elias (vgl. 1986, S. 425) spricht von einer „zweiten Natur“ im Zusammenhang mit dem Habitus als „Selbstzwang“. 50 Bourdieu (vgl. 1997, S. 168) verweist in diesem Zusammenhang auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Charakter als „eingraviertes Schriftzeichen“.

3.2 Pierre Bourdieu: Die Theorie der Praxis

61

technische Gegenstände, die Struktur des Raumes, die Einteilung der Zeit und vor allem Körpertechniken als Quellen für eine Analyse der Praktiken und Diskurse männlicher Herrschaft genannt. Der Habitus bleibt durch die ihm innewohnende Kongruenz zwischen subjektiven Strategien und objektiven Strukturen für die beteiligten Individuen unsichtbar. Ein Zugang eröffnet sich jedoch, wenn die gebräuchliche Praxis gestört wird, so z.B. in gesellschaftlichen Transformationsprozessen, aber auch durch banale Irritationen, wie nicht zum Anlass passende Bekleidung. Erst wenn das Handeln in Frage gestellt wird, kann und muss es reflektiert werden (vgl. ders., 1993, S. 116; Brandes, 2002, S. 81; Bahr, 2010, S. 36f.). Die Folge ist dann oft eine umfassende Unsicherheitserfahrung (vgl. Meuser, 2010, S. 316f.)51 3.2.3

Das Habituskonzept als implizite Sozialisationstheorie

Die Ausbildung des Habitus wird in der Primärsozialisation vermutet. Es existiert aber keine sozialisationstheoretische Analyse und kein Forschungsprogramm zur Bestätigung dieser Annahme (vgl. Liebau, 1987, S. 80; Meuser, 2010, S. 113, 119). Liebau (vgl. ebd., S.82ff.) schlägt dennoch eine Lesart des Habituskonzeptes als implizite Sozialisationstheorie vor. Diese Überlegung ist naheliegend, denn jede Erläuterung des Habitus ist auch eine Beschreibung von Vergesellschaftung. Er wird weitgehend ohne bewusste Auseinandersetzung in praktischer Nachahmung erworben. Der Habitus sieht zwar unendlich viele Handlungsvorlagen vor, diese folgen aber alle dem gleichen „Vernunftgrund“ (Bourdieu, 1993, S. 137, Hvhg. i. O.), der wie eine Zahlenreihe verinnerlicht wird, deren Ziffern nicht einzeln gelernt werden müssen. Bourdieu (vgl. ebd., S. 138f.) verweist auf zwei sozialisatorische Lernformen: Zum einen die unbewusste Eingewöhnung in einer Kultur durch Nachahmung, zum anderen das Aussprechen von 51

Meuser (2010, S. 134) hebt die „Bruchstellen der Geschlechterordnung“ als besondere Quelle für Informationen über das Funktionieren derselben hervor. Die Tätigkeit von Männern als Erzieher in Kindertagesstätten kann als eine solche „Bruchstelle“ angesehen werden: Sie arbeiten in einem traditionell von Frauen besetzten Berufsfeld. Daher sind sie und ihre Kolleginnen besonders aussagefähig zu den Geschlechterbeziehungen und verhältnissen (vgl. Buschmeyer, 2013, S. 259ff.; Brandes et al., 2016, S. 129ff.).

62

3 Soziologische Theorien

expliziten Geboten. Zudem nennt er sogenannte „Strukturübungen“,52 die der metaphorischen Verinnerlichung einer symbolischen Ordnung dienen.53 Liebau (1987, S. 82) bezeichnet den Habitus als „Produkt der Existenzbedingungen“ und fragt: „Aber wie kommen die Existenzbedingungen in den sozialen Akteur?“ Er versucht eine Beschreibung der habituellen Sozialisierung in der frühen Kindheit. Der Habitus wird von Geburt an erworben. Das Kind erlernt in körperlichen und symbolischen Praktiken die Fähigkeiten, die es benötigt, um sich in seiner Lebenslage zurechtzufinden. Das Kind ist dabei einerseits Objekt von Praxisformen der Erwachsenen und andererseits Subjekt eigener Handlungen, in denen es seine bereits verinnerlichten, habituellen Strukturen erprobt und erweitert. Der primäre Habitus bildet sich so in einem Prozess von Interiorisierung und Exteriorisierung (vgl. ebd., S. 79ff.). Brandes (vgl. 2001, S.41f.) hebt die körpernahen Aspekte dieses frühkindlichen Prozesses hervor. In den körperlichen Interaktionen mit den erwachsenen Bezugspersonen wird eine gesellschaftliche und geschlechterspezifische Weltsicht im Körper abgespeichert. Aus der sozialen Erfahrung entsteht eine weitgehend unbewusste psychische Repräsentation als Grundlage der eigenen Identität. Diese Haltung gegenüber allen Dingen wird durch Nachahmung und beiläufige – zuerst körperliche und später zunehmend verbale – Korrekturen der Erwachsenen im Alltagshandeln verinnerlicht. Je vorsprachlicher diese Erfahrungen sind, desto unzugänglicher sind sie für einen bewussten und reflektierenden Zugriff darauf. Buschmeyer (2013, S. 272, bzgn. auf Villa, 2006) verweist auf den mimetischen, also auf Nachahmung bezogenen Aspekt habitueller Sozialisationsprozesse: „Das beobachtete Handeln wird mit dem eigenen Körper und seinen eigenen Fähigkeiten zu einer individuellen Ausprägung der Hexis verknüpft.“ Dabei wird nicht von einer bewussten Nachahmung, sondern von einer unbewussten „Anähnlichung“ ausgegangen.54 Der Begriff „Strukturübung“ wird im Weiteren nur bei seiner ersten Erwähnung innerhalb eines Kapitels mit einer Quellenangabe versehen, ist aber durch Anführungszeichen immer als Übernahme gekennzeichnet. 53 Bourdieu (vgl. 1993, S. 138) beschreibt für die kabylische Kultur Rätsel, rituelle Kämpfe und Spiele, in denen das Geschlechterverhältnis metaphorisch zum Ausdruck kommt. 54Bourdieu (1993, S. 129, Hvhg. i. O.) nennt die körperliche Ausprägung des Habitus Hexis. Sie schließt eine „Art und Weise […] des Fühlens“ ein. Die beschriebenen Phänomene 52

3.2 Pierre Bourdieu: Die Theorie der Praxis

63

Liebau (1987, S. 83) betont die Selbsttätigkeit der Kinder und nennt die habituelle Verinnerlichung eine „handelnde Aneignung“. Dabei steht ihnen nur der Ausschnitt körperlicher und symbolischer Praxis zur Verfügung, der für sie unmittelbar erfahrbar ist. Mit der Charakterisierung als „handelnde Aneignung“ wird deutlich, dass die Verinnerlichung des Habitus nicht als eine pure Wiederholung von Vorgaben betrachtet werden kann. Zum einen werden die erfahrenen Handlungen der Bezugspersonen bei ihrer Reproduktion neu gestaltet. Zum anderen entsteht der Habitus nicht nur durch Nachahmen, sondern auch durch Abgrenzung und Herstellung von Unterschieden. Nur so lässt sich erklären, dass Jungen trotz der überwiegend weiblichen Bezugspersonen in ihren ersten Lebensjahren einen männlichen Habitus verinnerlichen. Diese „handelnde Aneignung“ führt in einem zirkulären Prozess zur Sozialisierung in eine Kultur: Selbstverständlichkeiten, Gebote, Verbote, Traditionen, Routinen werden verinnerlicht und in weiterer Anwendung auf die soziale und objektive Umwelt vertieft. Liebau (ebd., S. 84). bezeichnet das als „soziale Vererbung der Kompetenzstrukturen“. Bourdieu (1997, S. 173, Hvhg. i. O.) nennt es kritischer die „Somatisierung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse“. Die Prinzipien sozialer Hierarchien werden verinnerlicht. Ihre Essenz findet sich in den Dichotomien der Umgangssprache wieder: „groß“ gegenüber „klein“, „stark“ gegenüber „schwach“ oder „männlich“ gegenüber „weiblich“.55 Es kann unterschieden werden zwischen universellen generativen Prinzipien, wie der Nationalsprache, grundlegenden Sitten und Gebräuchen, mimetischen Lernens können mit entwicklungspsychologischen Konzepten hinterlegt werden (vgl. Kapitel 4.3.5, 6.5.3). 55 Eine eindrückliche Beschreibung männlicher Habitualisierung ist in einem Lied des bekannten Liedermachers Gerhard Schöne enthalten: Der Vater, der als Kind dafür getadelt wurde, dass er lieber mit Puppen als mit dem Plastikpanzer spielte, steht als erwachsener Mann seinem Sohn gegenüber: „Er ist ein Mann geworden, hat selber einen Jungen, ein zartes, blasses Bürschlein, das träumt und spinnt. Neulich sah er ihn weinen um eine tote Katze. Da hat er ihn hergenommen und sagte dem Kind: Ein Junge weint nicht, ein Junge beißt sich auf die Zunge, auch wenn das Herz reißt. Das musst du wohl noch lernen?“ (Schöne, 1985).

64

3 Soziologische Theorien

Verkehrsregeln oder Prinzipien der gesellschaftlichen und geschlechtlichen Arbeitsteilung, sowie spezifischen Prinzipien, wie Dialekten oder religiösen Praktiken. Jedes Kind erwirbt in der Primärsozialisation eine besondere Kombination solcher generativen Prinzipien – einen Habitus – als Grundlage seiner weiteren Sozialisation. Es lernt, in seiner sozialen und objektiven Umgebung zu lesen wie in einem Lehrbuch, das metaphorisch die Welt erklärt (vgl. ders., 1993, S. 142).56 Die Primärsozialisation ist jedoch kein fatalistisches Verhängnis, das die Biographie völlig determiniert, aber eine grundlegende Prägung, die die Beurteilung zukünftiger Erfahrungen stark beeinflusst (vgl. Liebau, 1987, S. 84f.). Anpassungsleistungen sind möglich, aber kaum eine komplette Distanzierung von den verinnerlichten Strukturen (vgl. Hillebrandt, 2009, S. 382).57 Mit dieser sozialisatorischen Erfahrung ist ein besonderer Aspekt verbunden: Das habitualisierte Handeln ist affektiv verknüpft (vgl. ebd., S. 379). Der Habitus wird zur „liebgewonnenen“ Gebrauchsanweisung für den Umgang mit der Welt.58 Als „zur Tugend gemachten Not“ (Bourdieu, 1993, S. 100f., Hvhg. i. O.) wohnt ihm eine Neigung zur Reproduktion inne, denn mit ihm verbindet sich implizit die Anerkennung der Verhältnisse, die ihn hervorgebracht haben. Auch die stereotypen und traditionellen Ausprägungen von Männlichkeit bleiben daher für viele Jungen anziehend, selbst wenn die impliziten und expliziten Gebote des im Anschluss erläuterten geschlechtlichen Habitus männlicher Herrschaft an Überzeugungskraft verloren haben (vgl. ebd., S. 100ff.; 1997, S. 171). 56

„Der Habitus ist eine Metapher der Objektwelt, die selber nur ein unendlicher Kreis aufeinander reagierender Metaphern ist“ (Bourdieu, 1993, S. 142). In der Ungenauigkeit, oder besser: Anpassungsfähigkeit, der metaphorischen Deutungen liegt die generative Kraft des Habitus (vgl. ebd., S. 159f., 454ff.). 57 Meuser (2010, S. 316, Hvhg. i. O.) beschreibt dieses Dilemma für sogenannte „bewegte“ Männer so: „In den Sehnsüchten der ‚bewegten‘ Männer und in ihrem doppelten Leiden – an den Ansprüchen der Gesellschaft und an dem Verlust von Sicherheit, der aus der Verweigerung gegenüber diesen Ansprüchen resultiert – macht der Habitus sich noch in dessen Ablehnung geltend. Dem eigenen Selbstverständnis zufolge wollen die Männergruppen die Grenzen der männlichen Geschlechtsrolle transzendieren. Sie scheitern jedoch nicht an der Geschlechtsrolle, sondern am Habitus als inkorporierte ‚zweite Natur‘. Geschlecht ist mehr als eine Rolle, deren Attribute abgestreift werden können.“ 58 Bourdieu (1997, S. 162) spricht auch von „amor fati“, der Liebe zum Unausweichlichen (vgl. Drosdowski, Müller, Scholze-Stubenrecht, & Wermke, 1990, S. 54).

3.2 Pierre Bourdieu: Die Theorie der Praxis

3.2.4

65

Habitus und Geschlecht

Bourdieu (1997) sieht den Habitus nicht nur durch eine Sozial- oder Klassenlage determiniert. Entsprechend seiner allgemeinen praxistheoretischen Überlegungen entwirft er ein Verhältnis inkorporierter und objektivierter Sozialität, das geschlechtlich geprägt ist: „Durch eine permanente Formierungs-, eine Bildungsarbeit, konstruiert die soziale Welt den Körper als vergeschlechtlichte Wirklichkeit und in eins als Speicher von vergeschlechtlichenden Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien, die wiederum auf den Körper in seiner biologischen Realität angewendet werden“ (ebd., S. 167). Bourdieu bezieht sich vor allem auf seine ethnologischen Studien in Nordafrika. Er erkennt im Geschlechterverhältnis der kabylischen Gesellschaft die unreflektierte Verkörperung männlicher Herrschaft aufgrund einer „‚phallisch-narzißtischen‘ Kosmologie“ (ebd., S. 156, Hvhg. i. O.). Diese liegt auch der europäischen Geschlechterordnung als Fundament zugrunde. Sie bleibt weiterhin wirkmächtig, ist aber durch wiederholte Interpretationen vielfältig verfremdet und damit weniger offen zugänglich (vgl. ebd., S. 157f.).59 Bourdieu (vgl. ebd., S. 174ff.) erläutert die gesellschaftliche Konstruktion des Geschlechts als Zirkelschluss: Die Überlegenheit des Männlichen wird auf eine biologische Grundlage zurückgeführt, die durch einseitige Deutung der Anatomie hergestellt worden ist. Dieser soziale Prozess vollzieht sich vor allem in Mythen und in Übergangsriten. Mythen deuten natürliche Prozesse und verbinden sie mit Symboliken, die wiederum als homolog zu den Geschlechterverhältnissen betrachtet und damit den entsprechenden Antagonismen zwischen vermeintlich männlichen und weiblichen Eigenschaften zugeordnet werden können. So wird die Schwellfähigkeit des männlichen Geschlechtsorgans als Symbol der Fortpflanzung im Allgemeinen interpretiert. Dementsprechend sind das Pflügen und die Aussaat als aktiv und männlich konnotiert und werden in der kabylischen Kultur öffentlich begangen. Das weibliche Empfangen und Austragen scheinen demgegenüber passiv und die interpretativ damit verbundenen Tätigkeiten finden entwertet und im Verborgenen statt. Aus 59

So verweist Bourdieu (1997, S. 153ff.) auf die Entwertung der Weiblichkeit in psychoanalytischen Texten. Hier offenbart sich seiner Meinung nach die fortgeführte Annahme männlicher Überlegenheit (vgl. Kapitel 4.2.1, 4.2.2).

66

3 Soziologische Theorien

der Willkür der mythischen Deutung wird eine „natürliche“ Notwendigkeit, der Männer und Frauen in ihrer Handlungspraxis folgen (vgl. ebd., S. 207f.).60 Noch wirksamer als die Mythen tragen Übergangsrituale, wie die Beschneidung, zur Verinnerlichung der männlichen Herrschaft bei. Sie trennen weniger zwischen den Kandidaten und bereits Aufgenommenen, sondern zwischen den männlichen Teilnehmern des Rituals und den von ihm ausgeschlossenen Frauen. Dabei stehen im Mittelpunkt der männlichen Übergangsrituale die Betonung der phallischen Zeugungskraft und die Abgrenzung gegenüber dem Weiblichen. Demgegenüber zielt die Sozialisationsarbeit bei Mädchen und Frauen durch Kleidungs- und Haltungsvorschriften auf die Einschreibung von Grenzen in den Körper, denn das Weibliche wird als negativ und mangelhaft gedeutet. So verbinden die männlichen und weiblichen Habitus subjektive und objektive Strukturen der Geschlechterverhältnisse. Die Umwelt wird mit den gleichen Deutungen gefüllt wie die Körper der Menschen (vgl. ebd., S. 174). Auch in Bezug auf den geschlechtlichen Habitus verweist Bourdieu (ebd., S. 195, Hvhg. i. O.) auf dessen leiblich-affektive Verankerung und körperliche Darstellung: Diese ‚aus dem Bauch heraus‘ getätigte Investition, deren Ausdruck wesentlich einer der Haltung ist, verwirklicht sich in körperlichen Posen, Stellungen oder Gesten, die alle in Richtung Rechtschaffenheit, Geradheit, gerade Aufrichtung des Körpers oder seiner symbolischen Substitute, der steinernen Pyramide, der Statue, weisen.

Das mythisch-rituelle System etabliert aber nicht nur eine Ordnung symbolischer männlicher Herrschaft, sondern unterwirft die Herrscher einer belastenden Verpflichtung. Sie sind herausgefordert, sich von der Weiblichkeit abzugrenzen, die sie durch ihre negativen Eigenschaften wie List, Verrat und Magie bedroht. Mann-Sein ist anstrengendes Sein-Sollen. Die inkorporierte Geschlechterordnung verbindet Männlichkeit zudem mit 60

„Etwa wenn das Keimen des Korns zur Auferstehung wird, einem Ereignis, das der Wiederkehr des Großvaters im Enkel, beglaubigt durch die Wiederkehr des Vornamens, homolog ist. Es ist diese Logik, die diesem Vorstellungssystem und damit dem durch seine Einhelligkeit noch verstärktem Glauben, dessen Gegenstand es ist, ein gleichsam objektives Fundament verleiht“ (Bourdieu, 1997, S. 177).

3.2 Pierre Bourdieu: Die Theorie der Praxis

67

den ernsten Spielen der Gesellschaft und schließt Frauen von ihnen aus. Diese Spiele sind Kämpfe um das symbolische Kapital. Damit wird das Privileg der Männlichkeit zur Last, denn das Recht zur Teilnahme am Spiel ist mit der Selbstverpflichtung zur Teilnahme am Kampf verbunden: „Diese ursprüngliche illusio bewirkt, daß Männer (im Gegensatz zu Frauen) gesellschaftlich so bestimmt sind, daß sie sich, wie Kinder, von allen Spielen packen lassen, die ihnen gesellschaftlich zugewiesen werden und deren Form par excellence der Krieg ist“ (ebd., S. 196, Hvhg. i. O.; vgl. S. 188f.).61 Die habituelle Geschlechterordnung kann aber nur mit dem stillen Einverständnis von Frauen konstituiert werden. Sie können als Ausgeschlossene zwar einen Scharfblick entwickeln, der die „illusio“62 (ebd., S. 196, Hvhg. i. O.) der männlichen Verstrickung in die ernsten Spiele als pure Selbstbehauptung durchschaut. Doch ihre Distanz zum Spiel ist nicht freiwillig, sondern ergibt sich aus ihrer Unterwerfung. Sie bleiben Anhang eines Spielers. Zwar können sie an dessen Macht partizipieren. Sie sind seinem Urteil aber ausgeliefert und mit seinem Schicksal verbunden. Diese Verbundenheit folgt der Anziehungskraft männlicher Macht (vgl. ebd., S. 201). Im Spiegel einer habitualisierten weiblichen Unterwerfung erscheint sie

61

Was hier nur Sinnhintergrund einer archaischen Gesellschaft scheint, durchzieht auch die westliche Moderne. Männlichkeit wird als Verpflichtung interpretiert: In „The Grapes of Wrath“ von John Steinbeck (1967, S. 247), einem Klassiker nordamerikanischer Literatur, heißt es: „a man got to do what he got to do.“ Die zentrale Figur in dem klassischen Western „High Noon“ äußert sich in fast identischem Wortlaut (vgl. Zinneman, Foreman, & Kramer, 1952). Ähnliches offenbart sich im medialen „Fußballdiskurs“: Der französische Nationalspieler Zinedine Zidane rechtfertigte sich nach seinem fatalen Kopfstoß im Finale der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 gegen einen Gegenspieler, der ihn beleidigt hatte, mit den Worten: „dann bin ich immer noch ein Mann.“ Bezeichnenderweise betraf die Beleidigung eine ihm nahestehende Frau (vgl. http://www.youtube.com/watch?v=H66ynuNEJKI). Kaufmann (1999, S. 59) spricht von einer „combination of power and pain“ als „hidden story in the lives of men“. Dementsprechend ist der Hauptakteur des Action-Films „Stirb langsam: Jetzt erst recht“ (vgl. McTiernan, Hensleigh, & Tadross, 1995) ständig verzweifelt auf der Suche nach Schmerztabletten. Während dieser popkulturelle Diskurs niemand wirklich „weh tut“, hat die männliche Selbstbestätigung durch übermäßige Leistungsbereitschaft, z.B. im Beruf oder im Sport, für viele Männer tatsächlich bittere und schmerzhafte gesundheitliche Folgen. 62 Der lateinische Begriff „illusio“ bezeichnet eine eitle Vorstellung bzw. Selbsttäuschung (vgl. Wermke et al., 2001, S. 358).

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3 Soziologische Theorien

als das positive Gegenteil des negativen Vorurteils gegen die eigene Weiblichkeit (vgl. ebd., S. 162). Die Kämpfe um das symbolische Kapital dienen der Dramatisierung des Habitus‘ männlicher Herrschaft. Den Frauen sind dabei vor allem die Plätze im Zuschauerraum zugewiesen. Ihre Anerkennung der Geschlechterverhältnisse macht die männliche Herrschaft zwar erst möglich, für den Wettbewerb um das symbolische Kapital ist sie aber wertlos.63 Frauen verfügen kaum über symbolisches Kapital und sind damit von den ernsten Spielen der Gesellschaft ausgeschlossen. Sie werden Objekte des Tauschs und der Repräsentation in den Kämpfen der Männer um das symbolische Kapital.64 Bourdieu (vgl. ebd., S. 203ff.) sieht in dieser Ausgrenzung den Ursprung des Primats der Männlichkeit.65 Entsprechend dem Objektstatus der Frauen werden ihre Anteile an der materiellen Produktion und an der biologischen Reproduktion entwertet und verdeckt. In weitgehender Übereinstimmung mit dieser Weltsicht wurden in westeuropäischen Ländern die familialen Tätigkeiten von Frauen in der öffentlichen Wahrnehmung so weit abgewertet, dass sie selbst bei deren Eintritt ins Berufsleben nicht relevant erschienen. Sie wurden nun – weiterhin unbeachtet – von den Frauen zusätzlich verrichtet.66 Gleichzeitig

63

Bei Sportwettbewerben wird dieser Zusammenhang von den „Fans“ so zum Ausdruck gebracht: „Die Liste der Zweitplatzierten hängt auf dem Damenklo!“ (vgl. http://www.forvir.it/de/cms/1.htm). Dort gibt es den im Sinne der Geschlechterordnung wertlosen Applaus. 64 Der Ausschluss von Frauen erfolgt umso konsequenter je eingeschränkter der Zugang zu anderen Ressourcen symbolischen Kapitals ist. Bourdieu (vgl. 1997, S. 207f.) verweist auf die kabylische Gesellschaft. Die soziale Ehre (das symbolische oder soziale Kapital) einer Gruppe ist hier in besonderer Weise vom „Wert“ ihrer Frauen abhängig. Diese werden von den Männern wie ein „Schatz“ bewacht. 65 Elias (vgl. 1986, S. 430ff.) sieht die Ursache des Objektstatus von Frauen in der Struktur von Kriegergesellschaften. Der Wert des einzelnen Menschen lag hier in seiner physischen Stärke. Diese Struktur entwertete im allgemeinen Vergleich körperlich schwächere Frauen zu Objekten, denen nicht einmal ein Eigenname zugestanden wurde. 66 Vgl. hierzu ein bekanntes Kinderlied aus der DDR: „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht, dann bleibe ich zu Haus. Ich binde eine Schürze um und feg‘ die Stube aus. Das Essen kochen kann ich nicht, dafür bin ich zu klein. Doch Staub hab ich schon oft gewischt. Wie wird sich Mutti freu‘n!

3.2 Pierre Bourdieu: Die Theorie der Praxis

69

gelang es, weibliche Berufstätigkeit in pädagogischen und pflegerischen Arbeitsfeldern ökonomisch zu entwerten, indem sie euphemistisch zu einer Herzensangelegenheit umgedeutet wurde.67 Die überhöhte öffentliche Darstellung von Frauen in westlichen Gesellschaften als besonders geschmückte, repräsentative Figuren ist kein Widerspruch zu ihrer grundlegenden Unterordnung, denn sie manifestiert sie nur als die Objekte symbolischen Kapitals.68 Dabei wird ihnen diese repräsentative und gestalterische Funktion nicht nur für ihren eigenen Körper, sondern auch für den privaten Haushalt und – in einfacher Erweiterung dieses Prinzips auf Erwerbsarbeit – für die Außendarstellung von Unternehmen zugewiesen (vgl. ebd., S. 207ff.). Die Freiheit der Frauen unter männlicher Herrschaft besteht also oft nur darin, symbolisches Kapital zu verwalten. Fatalerweise setzen sie dabei selbst „diese Art infernalischer Maschine“ (ebd., S. 212) in Bewegung. Ihr Handeln vermehrt das Kapital zu Gunsten ihrer Unterdrücker, während sie Objekte des Tauschs bleiben. Wirkliche Emanzipation ist erst möglich, wenn diese Ökonomie der symbolischen Güter durchbrochen wird, die den Frauen eine untergeordnete Rolle zuweist (vgl. ebd., S. 212f.). Zusammenfassend lässt sich formulieren: Der männliche Habitus entsteht vor dem Hintergrund einer phallo-zentristischen Weltsicht, die auf eine Biologie bezogen werden kann, die selbst Ergebnis dieser Weltsicht ist. Das Verhältnis der Geschlechter wird in einem „mythisch-rituelle[n; MA] System“ (ebd., S. 160) reproduziert, das einerseits habituell in den Menschen Ich habe auch ein Puppenkind, das ist so lieb und fein. Für dieses kann ich ganz allein die richt‘ge Mutti sein“ (Schwaen et al., 2005). Die umfangreiche berufliche Emanzipation von Frauen in Ostdeutschland beeinflusste die häusliche Arbeitsteilung (bzw. ihre alltagskulturelle Darstellung) kaum. 67 Es ist auffällig, wie schwer es den Beschäftigten in weiblich geprägten Arbeitsfeldern, wie der vorschulischen Bildung und Erziehung, fällt, in einen Arbeitskampf für bessere Bedingungen einzutreten, der in anderen – rein ökonomisch gedeuteten – Branchen selbstverständlich ist (vgl. Rohrmann & Wanzeck-Sielert, 2014, S. 101). 68 So werden bei Fußballübertragungen im Fernsehen regelmäßig attraktive „Spielerfrauen“ abgebildet (vgl. http://www.bild.de/sport/fussball/mats-hummels/jetzt-spricht-seineschoene-freundin-24624674.bild.html). Frankreichs ehemaliger Präsident Nicolas Sarkozy „schmückte“ sich bei öffentlichkeitswirksamen Strandspaziergängen mit seiner Partnerin Carla Bruni (vgl. http://www.spiegel.de/fotostrecke/die-sarkozys-im-urlaub-bisous-auf-demboot-fotostrecke-70307.html).

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3 Soziologische Theorien

und andererseits in der sozialen Ordnung verankert ist. Der antagonistische Dualismus zwischen männlich und weiblich ist eine weitgehend geschlossene Struktur. Er findet sich verdichtet in den Gegensatzpaaren der Sprache. Ihm können alle Praktiken und Objekte zugeordnet werden. Die körperliche Einschreibung zwei entgegengesetzter Eigenschaften entspricht damit der Wahrnehmung der übrigen Welt. Antizipation und Praxis bestätigen sich in gegenseitiger Rückkopplung. Eine Alternative ist kaum denkbar. Die Unterwerfung unter die Geschlechterverhältnisse geschieht dabei freiwillig bzw. nach einem antizipierten Zwang. Sie folgt der symbolischen Gewalt der vermeintlich natürlichen Verhältnisse einer universalen männlichen Herrschaft. Diese macht Männer zu Herrschern oder zu Opfern, während Frauen Objekte einer symbolischen Ökonomie bleiben (vgl. ebd., S. 158ff., 165). 3.2.5

Weiterentwicklungen in Bezug auf Männlichkeit

Bourdieus Gedanken sind in den Sozialwissenschaften in vielfältiger Weise aufgegriffen und weiterentwickelt worden. Brandes‘ (vgl. 2002, S. 39ff.) diesbezügliche Überlegungen beruhen auf einem für die Konzeptualisierung von Geschlechtsidentität wichtigen Grundgedanken: Die Theoriebildung muss die oft getrennte Betrachtung der sozialen Verstrickung und der individuellen Körperlichkeit des Subjektes gleichermaßen erfassen können: Es geht hier nicht darum […] zwei Realitäten aufeinander zu beziehen, sondern es geht darum, zu begreifen, dass es sich um eine Realität handelt, die sich lediglich aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten lässt und die aufgrund der Gleichzeitigkeit von biologischer und sozialer Zuordnung in sich widersprüchlich ist. (ebd., S. 45, Hvhg. i. O.)

Männlichkeit wird hier als ein Konstrukt aus verschiedenen, zunehmend bewusstseinsnahen Dimensionen konzeptualisiert. Dabei sollen das Subjekt und seine sozialstrukturelle Verankerung gleichermaßen berücksichtigt werden. Brandes (vgl. ebd., S. 84ff.) präzisiert im Anschluss an bisherige Konzeptualisierungen die folgenden drei Aspekte:

3.2 Pierre Bourdieu: Die Theorie der Praxis

71

1) Der körpernahe Habitus: Er ergibt sich aus der leiblich-affektiven Verankerung sozialer Praxis entlang der Grenzen geschlechtlicher Arbeitsteilung und drückt sich in körperlichen Haltungen und Neigungen aus. Der Habitus ist kaum reflexiv hinterfragbar. 2) Die bewusstseinsfähige Geschlechtsidentität: Es handelt sich, über das einfache Selbstbild als Mann hinausgehend, um die kognitive und affektiv-emotionale Reflexion der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen und deren Interpretation von Männlichkeit. Die Geschlechtsidentität beruht zwar auf der habituellen Prägung. Sie wird vom Individuum aber gegenüber dem Habitus durch die biographische Integration bewusstseinsnaher Erfahrungen erweitert. 3) Bewusste Einstellungen und Urteile: Sie sind abfragbar und stehen wahrscheinlich nur selten in Widerspruch zur Identität. Situative Einstellungen können sich aber schneller verändern als diese, da sich Identität im Bemühen des Individuums um biographische Kontinuität ausprägt. Es ist daher möglich, dass sich Einstellungen zum Geschlechterverhältnis und konkretes Handeln widersprechen. Durch dieses dreidimensionale Konstrukt sollen Theorie und Empirie besser in Zusammenhang gebracht werden können. Meuser (vgl. 2010, S. 121ff.) entwirft die Struktur eines männlichen Geschlechtshabitus. Er sieht Differenz und Dominanz – die Hervorhebung von Unterschieden zwischen den Geschlechtern und sozialstrukturelle Ungleichheit – in einem untrennbaren Zusammenhang. Damit verbunden ist eine Verschleierung dieser Strukturen. Sie erscheinen als „natürliches“ Verhalten, statt Ausdruck von Über- und Unterordnung zu sein. Um dieses komplexe Gefüge umfassend zu konzeptualisieren, werden die Überlegungen von Connell (2015) und Bourdieu (1997) zu einer soziologischen Beschreibung von Männlichkeit zusammengeführt. Männlichkeit entsteht nicht nur durch die hegemoniale Unterordnung von Frauen, sondern auch im Diskurs zwischen Männern. Dieser Prozess ist aber durch die Annahme einer Komplizenhaftigkeit der meisten Männer mit dem hegemonialen Prinzip nicht ausreichend theoretisiert. Um dieser Tatsache in seiner Konzeptualisierung von Männlichkeit gerecht zu werden, verbindet Meuser (vgl. 2010, S. 121ff.) das Habituskonzept mit dem Konzept des „doing gender“ (vgl. Kapitel 3.4.2).

72

3 Soziologische Theorien

Die soziale Existenz des Geschlechts ist an einen bestimmten Habitus als Quelle der Praxis gebunden und im Handeln tut das Individuum dieses Geschlecht. In der hegemonialen Männlichkeit – dem Streben nach Dominanz über Frauen und andere Männer – liegt zwar das Erzeugungsprinzip des männlichen „doing gender“. Die geschlechtliche Praxis wird aber in ihrer Vielfalt, die eine Einteilung in einzelne Gruppen wie Komplizen oder Marginalisierte weit übersteigt, vom Habitus generiert. Viele unterschiedliche „Männlichkeiten“ können nach dieser „homologen Strukturlogik“ (ebd., S. 131) hergestellt werden. Empirische Grundlage dieses Entwurfes sind Gruppendiskussionen mit dreißig verschiedenen Männergruppen verschiedener Generationen und sozialer Milieus, z.B. Mitglieder eines Herrenclubs, Arbeiter einer Stammtischrunde, Freizeitfußballer, studentische Footballspieler und WGBewohner, Teilnehmer eines Männergesprächskreises oder junge Facharbeiter. Die Gruppendiskussionen wurden mit der dokumentarischen Methode analysiert. Es zeigte sich, dass die habituelle Sicherheit der Männer durch eine instabile Geschlechterordnung in Frage gestellt wird (vgl. ebd., S. 194ff., 311f.). Über einen sicheren Habitus, auch im Sinne eines männlichen Hegemonialanspruchs, verfügen nur beruflich und familiär etablierte Männer aus dem bürgerlichen Milieu. Demgegenüber erkennt Meuser bei den „bewegten“ Männern eine umfassende Unsicherheit. Sie stellen etwas zur Disposition, das sie selbst sind. Jenseits eines Habitus hegemonialer Männlichkeit finden sie keine Gewissheit eigener geschlechtlicher Identifikation. Eine prekäre habituelle Sicherheit lässt sich außerhalb der bürgerlichen Milieus nur durch Betonung männlicher Gemeinschaft, z.B. im Sportverein oder der Wohngemeinschaft, finden (vgl. ebd., S. 230ff.). Zu diesen Befunden passen die Ergebnisse von Lammerding (vgl. 2004, S. 204). Er führte mit Jungen im Alter von vierzehn bis sechzehn Jahren Gruppendiskussionen durch und analysierte ihre kollektiven Männlichkeitsorientierungen. Die Ergebnisse belegen eine weit verbreitete Selbstunsicherheit. Männlichkeit muss permanent unter Beweis gestellt werden. Die Jungen versuchten dies durch kollektive Abgrenzung von Frauen, Verachtung von Homosexualität und Identifikation mit männlichem Leistungsstreben. Durch die vorangegangenen Ausführungen ist ein Überblick über die praxistheoretischen Überlegungen entstanden, der im Anschluss zusammenfassend kritisch eingeordnet wird.

3.2 Pierre Bourdieu: Die Theorie der Praxis

3.2.6

73

Deutungsweite

Bourdieu hat seine Überlegungen in einer beeindruckenden Dichte entwickelt. Durch den Begriff des Habitus gelingt es, die Sozialstruktur und das individuelle Handeln in seiner ganzen Vielfalt, Ambivalenz und Widersprüchlichkeit zu erfassen. Eine breit anwendbare Konzeptualisierung entsteht. Auf dieser Grundlage entsteht ein Konzept männlicher Herrschaft: Geschlecht wird erst durch aus dem Habitus generiertes Handeln sozial relevant. Insofern kann es zwar nicht unabhängig von individuellem Handeln betrachtet werden, ist aber keine individuelle, sondern eine gesellschaftliche Eigenschaft. Männliche Suprematie ist die wesentliche Orientierungsfolie dieses Handelns (vgl. Meuser, 2010, S. 117). Die soziale Konstruiertheit des Körpers und seiner leiblichen Erfahrung wird berücksichtigt: „Wenn Individuen ihr Leib sind, dann nicht ihr eigener. Der Habitus ist ein gesellschaftlicher Körper: mit Haut und Haaren gehört er der Gesellschaft“ (Hirschauer, 1994, S. 673, zitiert in ebd.). Die anatomische Evidenz männlicher und weiblicher Körper und ihre Symbolwirkung bieten aber eine perfekte Bestätigungsgrundlage dieser Konstruktion: „Der männliche und der weibliche Körper, und ganz speziell die Geschlechtsorgane, die, weil sie den Geschlechtsunterschied verdichten, prädestiniert sind, ihn zu symbolisieren, werden gemäß den praktischen Schemata des Habitus wahrgenommen und konstruiert“ (Bourdieu, 1997, S. 174, Hvhg. MA). Zwischen der Anatomie und ihrer sozialen Konstruktion besteht also ein wechselseitiger Diskurs, der nicht aufgelöst werden kann: „Genauso, wie es keinen Körper gibt, der seiner kulturellen Interpretation vorausgeht, gibt es keine fundamentale soziale Klassifikation, die die Faktizität der anatomischen Differenzen außer Acht lassen oder überspringen könnte“ (Brandes, 2002, S. 73). Die Signifikanz des Körpers bleibt relevant. Sie besteht vor allem in seiner – zwar sozial geprägten, aber doch anatomisch evidenten und leiblich erfahrbaren – sinnlich-symbolischen Wirkung, die zwangsläufig in die diskursive Konstruktion von Geschlecht einfließen muss (vgl. ders., 2001, S. 39f.; Lakoff & Johnson, 2011, S. 71). Anders gesagt: Der Körper wird zwar willkürlich zum Symbol gemacht, bietet sich dafür aber auch so gut an, dass Männer und Frauen kaum aus der Logik dieser

74

3 Soziologische Theorien

Dialektik heraustreten können, zumal sie ihre Überzeugungskraft im leiblich-affektiven Empfinden entfaltet.69 Trotz dieser sehr überzeugenden Überlegungen werden von verschiedenen Seiten Kritiken formuliert und Schwächen diagnostiziert. Der weitgehende Rückbezug der individuellen Praxis auf gesellschaftliche Strukturen führt dazu, dass mikrosoziale Phänomene nur schwer theoretisiert werden können (vgl. Hillebrandt, 2009, S. 390f.). Bourdieu (vgl. 1993, S. 115f.) verwendet den Begriff „Interaktion“, entwickelt aber keine ausführlichen Überlegungen zu seiner mikrosozialen Struktur. Das Individuum ist vor allem Ausprägung einer sozialen Gruppe bzw. Klasse und damit Ergebnis gesellschaftlicher Schichtung. Seine soziale Position fließt in Interaktionen ein, die Beschreibungen sehen aber an der zwischenmenschlichen Begegnung vorbei bzw. über sie hinweg. Des Weiteren wird angemerkt, dass die Darstellungen von sozialen Feldern und den dazugehörigen Habitus nur schwer sozialen Wandel abbilden können. Da auf Mikro- und Makroebenen von einer Homologie der Felder ausgegangen wird, die die gleiche Sozialstruktur reproduzieren, bleiben Veränderungsmöglichkeiten unscharf bzw. können nur schwer konzeptualisiert werden.70 In diesem Zusammenhang wird auch kritisiert, dass Bourdieu Männlichkeit weiterhin nach einem archaischen Muster beschreibt (vgl. Collins, 2004, S. 379). Die in den Geschlechterverhältnissen in westeuropäischen Gesellschaften fortbestehende bzw. immer wieder auftretende „Archaik“ der Geschlechterordnung stützt allerdings seine Argumentation.71 Abschließend sei darauf verwiesen, dass das Konzept Bourdieus auch in entgegengesetzter Richtung hinterfragt werden kann. Böhnisch (vgl. 2004, S. 58f.) merkt an, dass es durch die soziale Verankerung des geschlechtlichen Habitus kaum erklärbar ist, warum trotz gesellschaftlichen Wandels weiterhin auch traditionelle Männlichkeit reproduziert wird bzw. Bourdieu (1997, S. 177, Hvhg. i. O.) spricht von konstruktivistischer „‚Trächtigkeit‘ der objektiven Formen“. 70 Bourdieu (vgl. 2014, S. 187ff.) entwickelt allerdings den Begriff der „Laufbahn“, um zu beschreiben, dass die soziale Herkunft die Biographie nicht determinieren muss. 71 Die erfolgreichen Top-Model-Shows bieten erschreckende Homologien zur symbolischen Ökonomie der Geschlechterverhältnisse (vgl. http://www.prosieben.de/tv/germanys-nexttopmodel). 69

3.3 Interaktionistische Geschlechtertheorie

75

im männlichen Bewältigungsverhalten z.T. sogar völlig deviante Verhaltensstrategien regelrecht hervorbrechen. Es ist daher notwendig, die Konzeptualisierung von Männlichkeit um tiefenpsychologische Anteile zu ergänzen (vgl. Kapitel 4.2). Nachdem die vorangegangenen Ausführungen im Wesentlichen auf einer kulturtheoretischen Analyse der Gesellschaft beruhen, werden im Anschluss soziologische Konzepte beschrieben, die an der Stelle ansetzen, deren Vernachlässigung Bourdieu vorgeworfen werden könnte. Im Fokus der Aufmerksamkeit steht dann die Herstellung der sozialen Wirklichkeit in Interaktionen und die Analyse von deren Dynamik und Struktur. 3.3

Interaktionistische Geschlechtertheorie

3.3.1

Vorbemerkung

Die Grundannahmen des Symbolischen Interaktionismus sind bereits auf den darin enthaltenen Identitätsbegriff befragt worden (vgl. Kapitel 2.2). Im Folgenden wird diese Denkrichtung vertiefend auf die Variable Geschlecht bezogen. Meuser (vgl. 2010, S. 69) nennt zwei wesentliche Bereiche der interaktionistischen Geschlechtertheorie: Zum einen bezieht sie sich auf die Entstehung von Geschlechtsidentität, zum anderen auf die Reproduktion der Geschlechterbeziehungen als ausgehandelte Ordnung. Die Arbeiten Harold Garfinkels72 (1967) werden von den Vertretern der interaktionistischen Geschlechtertheorie und den in seiner Tradition stehenden Ethnomethodologen (vgl. Kapitel 3.4) gleichermaßen rezipiert. Er empfahl den Forschenden, sich von der vermeintlichen Alltäglichkeit sozialen Handelns zu distanzieren, um zu durchschauen, wie sie hergestellt wird. In seiner Studie über die Transsexuelle Agnes erkannte Garfinkel (vgl. ebd., S. 116ff.; Cahill, 1986, S. 164f.) ihre Entfremdung von der Beiläufigkeit ihrer Geschlechtlichkeit. Sie musste Weiblichkeit „erlernen“. Er beobachtete, welche Methoden sie für ihr geschlechtliches „passing“ vom Mann zur Frau anwendete. Aus seinen Erkenntnissen schlussfolgerte er, 72

Der US-amerikanische Soziologe Harold Garfinkel (1917-2011) gilt als Begründer der Ethnomethodologie (vgl. Hillmann, 2007, S. 259; Kapitel 3.4).

76

3 Soziologische Theorien

dass geschlechtliche Repräsentationen vor allem interaktiv hergestellte „cultural events“ (Garfinkel, 1967, S. 181) sind. Diese Erkenntnis war grundlegend für die konstruktivistische und interaktionistische Geschlechterforschung. Die theoretischen Überlegungen aus dieser Perspektive sollen erklären, wie Geschlechtsidentität interaktiv hergestellt wird und wie Kinder lernen, an diesem Prozess selbst teilzunehmen (vgl. Meuser, 2010, S. 69). Aus der Sicht von Blumer (vgl. 2013, S. 75f.) erlernen Menschen die Bedeutungen von Objekten vor allem aus den Definitionen, die andere in Interaktionsprozessen für diese Objekte verwenden. Von diesem allgemeinen Grundsatz lässt sich auf die geschlechtliche Sozialisation schließen, denn Blumer (vgl. ebd., S. 75) fasst unter dem Objektbegriff neben physikalischen und sozialen auch abstrakte Objekte zusammen und schließt damit das soziale Geschlecht in seinen weiblichen und männlichen Ausprägungen ein. Goffman (vgl. 1977, S. 302f.) beschreibt die Zuordnung zu einer der beiden Kategorien männlich oder weiblich für jeden Einzelnen als fast ausnahmslos zwingend und lebenslang gültig. Diese Einteilung erfolgt zuerst bei der Geburt nach den äußeren Geschlechtsmerkmalen des Säuglings und wird in den folgenden Lebensphasen durch andere biologische Merkmale bestätigt. Diese Zuordnung setzt sich in den geschlechtlichen Dualismen der Sprache fort.73 Darüber hinaus ist sie Ausgangspunkt unterschiedlicher Sozialisationen. Die Sozialisationserfahrungen von Mädchen und Jungen unterscheiden sich.74 Über dem biologischen Dimorphismus entstehen geschlechtstypische Verhaltensformen im Auftreten, im Handeln und in Gefühlen. Für den Einzelnen nennt Goffman diesen Zusammenhang „gender“, als Charakteristik einer Gesellschaft bezeichnet er ihn als „sexual subculture“. Obwohl die Sozialisation hier weniger biologischen, sondern vor allem sozialen Vorgaben folgt, gelten die Ideale von Männlichkeit und 73

Goffman (vgl. 1977, S. 302f.; Leaper, 2014, S. 65) verweist darauf, welche subtilen Folgen die geschlechtliche Konnotation der Sprache hat, die, wie im Fall von Englisch, z.B. das Wort „man“ auf die Gesamtheit der Menschheit („mankind“) bezieht. 74 Die Forschungsbefunde zur differenziellen Behandlung von Jungen und Mädchen durch ihre Eltern sind allerdings weit weniger eindeutig, als alltagstheoretisch angenommen wird (vgl. Kapitel 5.2).

3.3 Interaktionistische Geschlechtertheorie

77

Weiblichkeit als menschliche „Natur“. Goffman (ebd., S. 304) definiert Geschlechtsidentität als “gender-identity” folgendermaßen: „Insofar as the individual builds up a sense of who and what he is by referring to his sex class and judging himself in terms of the ideals of masculinity (or femininity), one may speak of gender identity.“ Seiner Meinung nach bietet unsere Gesellschaft kaum eine grundlegendere Quelle der Selbstidentifikation. 3.3.2

Geschlechtliche Sozialisation im Symbolischen Interaktionismus

Cahill (1986) entwickelt eine Darstellung geschlechtlicher Sozialisation. Gelingende Interaktionen zwischen den Individuen in einer Gesellschaft sind nur möglich, wenn diese ihr Handeln an den gleichen Regeln der Interpretation und des Verhaltens orientieren. Diese Regeln sind aber flexibel und situativ anpassungsfähig. Wenn Zugehörigkeit zur Gesellschaft kompetente Teilnahme an sozialen Interaktionen bedeutet, dann ist kindliche Sozialisation „by implication“ das aktive Erlernen dieser Richtlinien im Sinne eines interaktiven „recruitment into such interactional participation“ (ebd., S. 163f.). Sozialisation bedeutet, die Richtlinien des gesellschaftlichen Umgangs zu verinnerlichen und sie praktisch und situativ anzuwenden. Die Konzeptualisierung von kindlicher Sozialisation muss beide Perspektiven umfassen.75 Cahill (vgl. ebd., S. 167ff.) vergleicht die geschlechtliche Sozialisation als „recruitment“ mit einem Anwerbeprozess auf dem Arbeitsmarkt. Jungen und Mädchen werden statt Arbeitsstellen Geschlechtsidentitäten angeboten, deren Annahme sie in übertragenem Sinne in ein verbindliches „Ausbildungsverhältnis“ führt. Auf der Grundlage dieses Vergleichs entsteht ein sequenzielles Modell. Fünf verschiedene Muster von der zuerst passiven zur schließlich aktiven Teilnahme an Interaktionen folgen aufeinander:

75

Das Datenmaterial der zugrunde liegenden Studie besteht aus Interview- und Interaktionsfragmenten aus teilnehmender Beobachtung in zwei Vorschulen in den USA, wo Cahill (vgl. 1986, S. 182) ca. 300 Stunden als freiwilliger Helfer arbeitete.

78

3 Soziologische Theorien

1) „Passive Teilnahme“: Neugeborenen werden von ihren Bezugspersonen je nach Geschlechterkategorie männliche oder weibliche Eigenschaften zugeschrieben. Unterschiedliche Reaktionen der Erwachsenen fördern diese vermeintliche „Natur“ des Individuums. 2) „Unabsichtliche Teilnahme als Kleinkind“: Erwachsene reagieren positiv auf den geschlechtstypischen Charakter der Kinder, die deshalb dieses Verhalten weiter ausprägen. Die Bezugspersonen können das als Bestätigung ihrer ursprünglichen Annahme betrachten. Der kindliche Spracherwerb ist dabei von großer Bedeutung, denn Sprache ermöglicht die interaktionistische Rollenübernahme und enthält gleichzeitig Informationen über die Struktur der Gesellschaft. 3) „Erforschende Teilnahme im Vorschulalter“: Auf der Grundlage ihrer sprachlichen Fähigkeiten können Kinder selbst geschlechtliche Identitäten erproben. Sie erkennen, dass es dazu passender Symbole und eines passenden Verhaltens bedarf. Bestimmte Identitäten bleiben ihnen aber verschlossen, denn von Verhalten, das von den Geschlechterstereotypen abweicht, wird ihnen meist abgeraten. Im Wesentlichen stehen den Kindern nur zwei Identitäten offen: „Baby“ oder – in Abhängigkeit von ihrer Geschlechterkategorie – „großer Junge“ bzw. „großes Mädchen“. Ersteres wird abgewertet, die zwei geschlechtsspezifischen Alternativen werden von Bezugspersonen aber jeweils als erstrebenswert charakterisiert. Cahill (vgl. ebd., S. 175) geht davon aus, dass Kinder Interesse daran haben, sich gegenüber anderen als kompetent einzuordnen. Sie möchten sich nicht als kleine, sondern schon große Kinder darstellen und entsprechend beurteilt werden. Die ersehnte Anerkennung ist aber mit einer Identität als Jungen oder Mädchen verbunden. Während die Sozialisation bisher ein vor allem passiver Prozess ist, entsteht damit ein eigener Antrieb, ein „commitment to sex identities“ (ebd., S. 175ff.).

3.3 Interaktionistische Geschlechtertheorie

79

4) „Ausbildungs-Teilnahme in der Prä-Adoleszenz“: Die Kinder folgen weiter ihrer vorher erworbenen Motivation. Sie wollen eine männliche oder weibliche Geschlechtsidentität behaupten. Da Spiele oft nur geschlechterstereotype Möglichkeiten bieten, bleiben Jungen und Mädchen meist unter sich (Gebauer, 1997; Röhner, 2007). Sie festigen dabei ihre geschlechtliche Identität. Diese wird zu einer unreflektierten Routine und erscheint zunehmend als Ausdruck einer natürlichen Notwendigkeit.76 5) „Vollmitgliedschaft“: Mit der Pubertät wird Jungen und Mädchen zunehmend die Kompetenz zur Teilnahme an sozialen Interaktionen zugeschrieben. Als abschließende „Prüfung“ müssen sie ihre Fähigkeiten aber in heterosozialen Begegnungen beweisen. Darin liegt ein wesentlicher Zweck des sogenannten „Dating“ in der Adoleszenz: Die Teilnehmenden zeigen ihre Kompetenz im Umgang mit dem anderen Geschlecht. Aufgrund der bis dahin weitgehend getrennten Sozialisationserfahrungen von Jungen und Mädchen und den daraus folgenden unterschiedlichen Interaktionsstilen kommt es dabei häufig zu Missverständnissen (vgl. Cahill, 1986, S. 179f.). Dieser Prozess führt zur verbindlichen Aufnahme in eine Welt der Zweigeschlechtlichkeit. Damit ist die Überzeugung verbunden, einer natürlichen Ordnung und keiner sozialen Zuschreibung zu folgen (vgl. West & Zimmerman, 1987, S. 142). Das interaktive Geschlechtersystem wird reproduziert und auf eine neue Generation übertragen. Jungen und Mädchen können nun überzeugend am „interactional achievement of normally sexed identities“ (Cahill, 1986, S. 180) teilnehmen. Es handelt sich also nicht nur um eine Entwicklung des Individuums, sondern auch um die Weitergabe einer geschlechtlichen Ordnung von einer Generation an die nächste. Aufgrund der Omnipräsenz geschlechtlicher Identifikation hält Cahill (vgl. ebd., S. 167, 180) die von ihm beschriebenen Muster für übertragbar auf die kindliche Sozialisation im Allgemeinen.

76

Cahill (1986, S. 179) spricht – ohne Bezugnahme auf Bourdieu – von Habitualisierung.

80

3 Soziologische Theorien

3.3.3

Geschlecht als interaktives Arrangement

Aus der zweiten wesentlichen Perspektive des interaktionistischen Paradigmas für den vorliegenden Zusammenhang werden die Geschlechterbeziehungen als ausgehandelte Ordnung betrachtet. Goffman (vgl. 1977, S. 301f.) führt Geschlecht als eine Formel ein, nach der soziale Interaktionen und Strukturen funktionieren. Sie ist Grundlage der Annahmen jedes Einzelnen über seine natürlichen Eigenschaften. Männer und Frauen erschaffen in gegenseitigen Identitätszuschreibungen und ritualisierten Darstellungsformen die soziale Ordnung ihrer Beziehungen. Es geht dabei nicht um Geschlechterbeziehungen als Folge unterschiedlicher „natürlicher“ Eigenschaften oder Rollenerwartungen. Gegenstand der Analyse ist stattdessen die Installation eines umfassenden interaktiven und institutionellen Arrangements. Geschlecht wird zu einer Form sozialer Klassifikation. Es kann jederzeit dargestellt werden (vgl. ebd., S. 323f.; Meuser, 2010, S. 72). Goffman (vgl. ebd., S. 324) charakterisiert „gender“ zum einen als interaktive Dramatisierung kultureller Idealisierungen vermeintlich natürlicher Eigenschaften von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“. Diese gelten als grundlegende Züge der Persönlichkeit. Die Handelnden gehen in ihren Begegnungen davon aus, dass solche Eigenschaften selbstverständlich dargestellt werden können. Sie zeigen sich gegenseitig, welche Interaktionszüge sie in einer bestimmten sozialen Situation als angemessen beurteilen. Sie handeln also nach Konventionen, verkennen ihre Handlungen aber als Ausdruck einer Natur der Geschlechter (vgl. West & Zimmerman, 1987, S. 130f.). “If gender be defined as the culturally established correlates of sex (whether in consequence of biology or learning), then gender display refers to conventional portrayals of these correlates” (Goffman, 1976, S. 69, zitiert in ebd., S. 130). Gleichzeitig ist die Geschlechterdifferenz institutionell geregelt und wird auf dieser strukturellen Grundlage in entsprechendem Handeln als „institutional reflexivity“ hergestellt: It is not, then, the social consequences of innate sex differences that must be explained, but the way in which these differences were (and are) put forward as a warrant for our social arrangements, and, most important of all, the way in which the institutional workings of society ensured that this accounting would seem sound. (Goffman, 1977, S. 302)

3.3 Interaktionistische Geschlechtertheorie

81

Weitreichende Institutionen der symbolischen Unterscheidung werden entwickelt, wie z.B. die geschlechterdifferenzierte Arbeitsteilung im Haushalt, die Ausstattung öffentlicher Toiletten oder die Regeln der Paarbildung. Die Geschlechterverhältnisse erscheinen im Handeln, das auf diese Institutionen reflexiv bezogen ist, bedeutsam und natürlich fundiert. Goffman (vgl. ebd., S. 313ff.) charakterisiert den interpretativen Umgang mit symbolischen Objekten damit weniger offen, als Blumer (vgl. 2013, S. 68) ursprünglich annahm. Den Institutionen der Geschlechterverhältnisse sind ihre Deutungen bereits eingeschrieben. Soziale Situationen werden so zu Szenen geschlechtlicher Darstellung. Dieses Handeln trägt z.T. – wie in den Zuvorkommenheiten von Männern gegenüber Frauen – rituellen Charakter. Geschlechtszugehörigkeit wird allein durch diese soziale Praxis der Distinktion wirklich: Die Fähigkeit und Bereitschaft, einen Plan einzuhalten, und zwar den für das eigene Geschlecht vorgesehenen Plan, kennzeichnet Personen als Angehörige einer Geschlechtskategorie. Geschlechtszugehörigkeit ist also an eine soziale Praxis gebunden, an eine Praxis der Distinktion. Eine Geschlechtszugehörigkeit außerhalb oder vor dieser sozialen Praxis gibt es nicht. (Meuser, 2010, S. 73, bzgn. auf Goffman, 1981)

Die biologische Ausstattung ist also noch keine Garantie für eine erfolgreiche Teilnahme. Trotzdem sind die Körper der Handelnden Teil der sozialen Praxis. Sozialisatorische Erfahrungen hinterlassen physiologische Spuren: „In response there is objectively overlayed on a biological grid – extending it, neglecting it, countering it – a sex-class-specific way of appearing, acting, feeling (Goffman, 1977, S. 303, Hvhg. MA). Dieses „overlay“ macht aus interaktionistischer Perspektive den Körper der Handelnden zu einem geschlechtlichen Körper. Im soziologischen Diskurs steht dafür der Begriff „Inkorporierung“. Eine „lebensgeschichtlich erworbene[…] Darstellungspraxis“ wird fortlaufend affektiv verankert (Meuser, 2010, S. 73f., Hvhg. MA).77 Soziale Dramatisierung und

77

Eine nicht biologisch determinierte, aber inkorporierte Praxis zeigt sich z.B. im bevorzugten Verhältnis der Körpergröße zwischen Männern und Frauen bei der Paarbildung. Auch wenn statistisch anderes möglich wäre, bevorzugen es die meisten Erwachsenen, ihre

82

3 Soziologische Theorien

Sozialisation – „arrangement“ und „recruitment“ – gehen ineinander über. Nach diesem Überblick über die Annahmen der interaktionistischen Geschlechtertheorie werden ihre Postulate anschließend kritisch hinterfragt und eingeordnet. 3.3.4

Deutungsweite

Das Individuum ist aus der Sicht des Symbolischen Interaktionismus weniger sozial determiniert als innerhalb der Theorie der Praxis. Die individuelle Reflexion eigener und fremder Handlungszüge ist Grundvoraussetzung des Kommunikationsprozesses. Trotzdem wird kein autonomes Subjekt idealisiert, sondern seine gesellschaftliche Abhängigkeit deutlich (vgl. Tillmann, 2010, S. 196, bzgn. auf Geulen, 1989). Goffman (vgl. 1977, S. 302; Meuser, 2010, S. 74) erklärt die Geschlechterverhältnisse als eine interaktive Kooperation zwischen Männern und Frauen. Ihre jeweiligen Beiträge und Ausgangspositionen sind allerdings verschieden. Die Beschreibung einer „institutional reflexivity“ ermöglicht die sozialstrukturelle Einbindung der situativen Darstellungspraxis. Im Vergleich zur gesellschaftstheoretischen Breite des Habituskonzeptes kann im Symbolischen Interaktionismus eine mikrosoziale Beschränktheit erkannt werden. Wie aber bereits weiter vorn in Bezug auf die interaktionistischen Konzeptualisierung von Identität erwähnt, eröffnet sich gerade dadurch ein Zugang zum empirischen Material (vgl. Tillmann, 2010, S. 197f.; Kapitel 2.5). Aus symbolisch-interaktionistischer Sicht haben Objekte und damit der menschliche Körper jenseits ihrer Interpretation durch die Individuen keine Bedeutung. Die biologische Ausstattung begrenzt das Handeln bzw. die Möglichkeit seiner Interpretation allerdings, sodass mindestens eine Kultur der Zweigeschlechtlichkeit entstehen muss (vgl. Meuser, 2010, S. 69, bzgn. auf Mead, o. J.). Die soziale Praxis schlägt sich zudem in den Körpern der Handelnden nieder. Die Individuen entwickeln ihre Darstellungspraxis nicht nur aus der gegenseitigen Interpretation ihrer Handlungszüge und als Folge Körper nach einem bestimmten Muster in Beziehung zu setzen. Abweichungen davon werden als ungewöhnlich empfunden (vgl. Meuser, 2010. S. 73).

3.4 Ethnomethodologie

83

der Reflexion institutioneller Vorgaben, sondern auch aus ihren Körpern heraus aufgrund affektiv verinnerlichter, sozialisatorischer Erfahrungen (vgl. Goffman, 1977, S. 303, 305). Anders als psychologische Konzepte, die bei den Kindern einen Zusammenhang zwischen der Erkenntnis anatomischer Differenzen und der Entwicklung der Geschlechtsidentität herstellen, beschreibt Cahill (1986) diesen Prozess als Aneignung einer symbolischen Realität (vgl. Meuser, 2010, S. 69; Kapitel 4.3.3). Seine Argumentation geht allerdings mit einer fast behavioristischen Vereinfachung einher. Jungen und Mädchen wirken durch die unterschiedlichen Reaktionen auf ihr Verhalten fremdbestimmt. Das ist problematisch, weil empirische Befunde eine differenzielle Sozialisierung nur begrenzt bestätigen können (vgl. Maccoby, 2000, S. 184; Kapitel 5.2). Zudem wird vernachlässigt, dass die Kinder ein intrinsisches Interesse an diesen symbolischen Ausdrucksformen in Interaktionen haben können (vgl. Piaget & Inhelder, 1991, S. 67; Kapitel 4.3.3). Goffmans (1976, S. 69, zitiert in West & Zimmerman, 1987, S. 130) Charakterisierung von „gender“ als „display“ wird kritisiert, weil sie die permanente Bedeutung geschlechtlichen Handelns bagatellisieren würde. „Gender“ kann nicht als Handlungsoption neben anderen aus der Interaktion herausgelöst werden (vgl. ebd.). Diese Kritik wirkt allerdings mehr polemisch motiviert, als dass sie wirklich inhaltlich begründet ist. Goffman verlegt „gender“ nicht zwangsläufig an „special locations“ (ebd.) am Rand der Interaktion, sondern betont die permanente Möglichkeit entsprechender Dramatisierungen. Er beschreibt diese nur nicht als zwingend (vgl. Goffman, 1977, S. 323f.). Die Annahme der Unvermeidbarkeit geschlechtlicher Darstellung in Interaktionen ist aber ein wesentlicher Ausgangspunkt des ethnomethodologischen „doing gender“, das im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht. 3.4

Ethnomethodologie

3.4.1

Vorbemerkung

In Anlehnung an das ethnologische Herangehen an fremde Kulturen versucht die Ethnomethodologie, die alltäglichen Handlungen der eigenen

84

3 Soziologische Theorien

Kultur als Dokumente zu analysieren. Das Interesse gilt dem Wissen und den Methoden, durch die Menschen ihren Alltag strukturieren: „The theoretical orientation for this research was to ferret out ethnomethods: that is, the devices by which actors sustain a sense of social structure, the tacit methods of commonsense reasoning“ (Collins, 2004, S. 67). Wie begreift ein Individuum die Situation, in der es sich befindet? Wie sollen andere diese Situation sehen (vgl. Abels & König, 2010, S. 266)? Dabei gehen die Vertreter der Ethnomethodologie davon aus, dass die Handelnden über ein gemeinsames Wissen verfügen: Dieses Strukturwissen beinhaltet nicht nur Vorstellungen von der Ordnung des Alltags, sondern auch Vorstellungen vom richtigen Handeln in dieser Ordnung einer gemeinsamen Kultur. Diese impliziten Vorstellungen schlagen sich in Erwartungen nieder, und mit Bezug auf eine Ethnomethodologie des Handelns kann man soziale Strukturen im Kern auch als Erwartungsstrukturen bezeichnen. (Abels, 2009, S. 90, bzgn. auf Schneider, 2002, Bd. 2, Hvhg. i. O.)

Der Soziologe Harold Garfinkel (vgl. 1967, S. 35ff.) unternahm mit Studierenden sogenannte „Krisenexperimente“.78 Sie sollten sich in Alltagssituationen anders verhalten, als üblicherweise erwartet wird. Die heftigen Reaktionen darauf offenbarten, wie bedeutsam die Einhaltung von Erwartungsstrukturen für Menschen in Begegnungen mit anderen ist. Anders, als in strukturfunktionalistischen Überlegungen angenommen wird, ist dieses Erwartungswissen aber mit Ambivalenzen und Paradoxien verknüpft. So ist das Kontextwissen der an Interaktionen beteiligten Individuen nie identisch. Außerdem neigen Menschen dazu, die soziale Wirklichkeit so zu konstruieren, dass sie ihrem Bedürfnis nach Sinn entspricht. Daher ist jede soziale Situation Ergebnis eines einmaligen situativen Prozesses, denn „wir handeln nicht einfach in Ausführung von Werten und Normen, sondern indem wir wechselseitig füreinander eine gemeinsame Wirklichkeit konstruieren“ (Abels, 2010, S. 128; vgl. S. 130, 135).

Der Begriff „Krisenexperiment“ wird im Weiteren nur bei seiner ersten Erwähnung innerhalb eines Kapitels mit einer Quellenangabe versehen, ist aber durch Anführungszeichen immer als Übernahme gekennzeichnet. 78

3.4 Ethnomethodologie

85

Die Vertreterinnen und Vertreter des Symbolischen Interaktionismus sehen die gegenseitigen interpretativen Deutungen der Individuen als Ausgangspunkte ihrer Handlungen. Dabei enthält die interaktionistische Konzeptualisierung zwar Beschreibungen, wie sich Subjekte in Interaktionen aufeinander beziehen, aber keine vertiefenden Analysen der dahinter liegenden Vorgänge (vgl. Abels, 2009, S. 89). Die Ethnomethodologen hinterfragen das Zustandekommen der individuellen Interpretationen, indem sie die aufeinanderfolgenden Handlungszüge der Beteiligten analysieren. Sie stellten z.B. fest, dass Geschworene in Gerichtsprozessen erst im Rückblick ihren Entscheidungen juristische Bedeutung gaben. Der Sinn des gemeinsamen Handelns ist also ein wandelbares Projekt. Die Beteiligten handeln es vor dem Hintergrund ihres Wissens immer wieder neu aus, um die Interpretation der Situation aufrechtzuerhalten und einen erwarteten Handlungsfluss nicht zu unterbrechen: The rules of decision making in daily life, i.e., rules of decision making for more or less socially routinized and respected situations, may be much more preoccupied with the problem of assigning outcomes their legitimate history than with the question of deciding before the actual occasion of choice the conditions under which one, among a set of alternative possible courses of action, will be elected. (Garfinkel & Mendlovitz, 1967, S. 114, Hvhg. i. O.)

Statt gegenseitiger Interpretation geht es vor allem um eine pragmatische Klärung der Frage „What to do next?“ (Garfinkel, 1967, S. 12). Die Ethnomethodologie ist soziologisch vor allem eine Form der Forschungspraxis und weniger ein theoretisches Programm. Insofern ist das im Anschluss erläuterte „doing gender“ vor allem eine Operationalisierung der Variable Geschlecht (vgl. Hillmann, 2007, S. 203). 3.4.2

Doing Gender

Die US-amerikanische Soziologin Candace West und ihr Kollege Don H. Zimmerman entwarfen 1987 in einem gemeinsamen Artikel das populäre Konzept des „doing gender“ (West & Zimmerman, 1987). Wesentliche Grundlagen ihrer Überlegungen sind die Arbeiten von Garfinkel (1967) und Goffman (1977). West und Zimmerman greifen den wesentlichen Kern von

86

3 Soziologische Theorien

Goffmans (vgl. ebd., S. 302) Überlegungen auf: Zwar bietet die Biologie meist eine eindeutige Möglichkeit der Zuordnung zu einer Geschlechterkategorie, doch eigentlich trennt soziale Organisation Männer und Frauen. Ursache und Wirkung werden vertauscht: „Again these scenes do not so much allow for the expression of natural differences between the sexes as for the production of these differences itself“ (ebd., S. 324). West und Zimmerman (1987, S. 130) sehen im „doing gender“ weniger eine Fähigkeit des Einzelnen als vielmehr ein andauerndes Merkmal sozialer Situationen, eine quasi unvermeidliche Routine zwischen Menschen, um die Zugehörigkeit zu einer von zwei Geschlechterkategorien zu betonen: „It is necessary to move beyond the notion of gender display to consider what is involved in doing gender as an ongoing activity embedded in everyday interaction.“ West und Zimmerman (vgl. ebd., S. 131ff.). unterscheiden zwischen „sex“, „sex category“ und „gender“. Das biologische Geschlecht einer Person („sex“) spielt für ihr Konzept keine wesentliche Rolle. Stattdessen ist die Zuordnung des Gegenübers zu einer Geschlechterkategorie („sex category“) nach Prinzipien der Alltagstheorie entscheidend. Für diese Zuordnung braucht es keinen „Beweis“. Es genügt der äußere Eindruck und es stehen nur die beiden Kategorien männlich und weiblich zur Verfügung. Von dieser Zuordnung ausgehend wird ohne Zweifel auf das biologische Geschlecht geschlossen. „Doing gender“ ist das individuelle Verhalten vor dem Hintergrund der „sex category“. Es handelt sich um ein „situated conduct“, um ein zur situativen Definition einer Begegnung gehörendes Verhalten (vgl. West & Fenstermaker, 1995, S. 19ff.). Individuen inszenieren sich und ihr Gegenüber als Männer oder Frauen (vgl. Abels & König, 2010, S. 265). Hirschauer (vgl. 1989, S. 103ff.) fasst daher die interaktive Konstruktion von Geschlechtszugehörigkeit auf zwei analytischen Ebenen zusammen: Darstellen und Zuschreiben. Da die Einordnung in eine „sex category“ unvermeidlich ist, kann jeder Interaktionszug des Gegenübers vor diesem Hintergrund bewertet werden. Jedes „doing“ wird zu einem unvermeidlichen „doing gender“: „Insofar as a society is partitioned by ‘essential’ differences between women and men and placement in a sex category is both relevant and enforced, doing gender is unavoidable“ (West & Zimmerman, 1987, S. 137, Hvhg. i. O.). West und Zimmerman (vgl. ebd., S. 135ff.) nutzen zur Charakterisierung dieses Zusammenhangs den Begriff „accountability“, der ins Deutsche übertragen

3.4 Ethnomethodologie

87

„Rechenschaftspflicht“ oder „Haftung“ bedeutet. Tillmann (2010, S. 66ff.) spricht von „Abverlangung“. Sogenannte „accounting practices“ werden in den ethnomethodologischen Konzepten hervorgehoben: „Accounting“ meint die gleichzeitige Wahrnehmung eines Ereignisses als bestimmtes Ereignis, Beschreibung und Bezeichnung dieses Phänomens und die fortlaufende Kommunikation mit anderen über dieses Ereignis“ (Abels, 2009, S. 97, bzgn. auf Bergmann, 1988, Hvhg. i. O.). Die situative Begegnung wird von den Handelnden definiert und dem Gegenüber ein Verhalten nach dieser Definition „abverlangt“. Durch das geteilte Strukturwissen ergibt sich eine intersubjektive Symmetrie der Interaktionen: Handlung und Reaktion finden unter dem Einfluss normativer gesellschaftlicher Erwartungen statt (vgl. ebd., S. 90). Alle Handlungen eines Menschen werden von seinem Gegenüber wahrgenommen und in dessen anschließender Reaktion beurteilt und umgekehrt. Vor dem Hintergrund des geteilten Wissens können sie bereits mit Blick auf die Bewertung ausgeführt werden. An dieser Stelle ist das Handeln von Individuen mit der Struktur der Gesellschaft verbunden, die in diesen Handlungen reproduziert wird: „the process of rendering something accountable is both interactional and institutional in character: it is a feature of social relationships, and its idiom derives from the institutional arena in which those relationships come to life“ (vgl. West & Fenstermaker, 1995, S. 21). “Doing gender“ bedeutet also, eine Situation im Sinne der Geschlechterverhältnisse zu interpretieren, mit dem Gegenüber eine entsprechende Geschlechterbeziehung situativ zu gestalten und sich dabei gegenseitig passende Darstellungsformen „abzuverlangen“. Auch das Konzept des „doing gender“ enthält implizit Aussagen zur Geschlechtersozialisation (vgl. Abels & König, 2010, S.268): „Doing gender means creating differences between girls and boys and women and men, differences that are not natural, essential, or biological. Once the differences have been constructed, they are used to reinforce the ‘essentialness’ of gender” (West & Zimmerman, 1987, S. 137, Hvhg. i. O.). Kinder müssen in Interaktionen das geteilte Strukturwissen erlangen, um sich selbst als geschlechtliche Individuen inszenieren und entsprechende Erwartungen an andere stellen zu können. Erst dann werden sie in Begegnungen als männliche oder weibliche Identitäten im Sinne eines „doing gender“ erkannt.

88

3 Soziologische Theorien

Mit zunehmender Verhaltenssicherheit erscheint das soziale Konstrukt natürlich. Die Herstellungsleistung gerät aus dem Blick. Diese „Verschleierung“ ist ein wesentlicher Aspekt des „doing gender“ (vgl. Meuser, 2010, S. 118). West und Zimmerman (vgl. 1987, S. 141f.) sehen in der kindlichen Sozialisation ein wichtiges Forschungsfeld zur Überprüfung ihrer Hypothesen. Sie entwerfen hierzu aber kein eigenes Konzept. In ihren Ausführungen beziehen sie sich im Wesentlichen auf die bereits im Abschnitt zur interaktionistischen Geschlechtertheorie erläuterten Annahmen von Cahill (1986). Yancey Martin (2001) schlägt im Anschluss an West und Zimmerman vor, „gender“ als Praxis zu betrachten. Durch ständige Wiederholung wird von Geburt an verinnerlicht, was als Handlung ausgeführt und damit erneut zum “body of practice“ hinzugefügt werden kann: „Over time, the saying and doing create what is said and done“ (ebd., S. 352). In einer weiteren Veröffentlichung deuten West und Fenstermaker (1995, S. 34) an, dass das unvermeidliche „doing gender“ unterbrochen werden kann: „That persons may be held accountable does not mean that they necessarily will be held accountable in every interaction. Particular interactional outcomes are not the point here; rather, it is the possibility of accountability in any interaction.“ Auf die Möglichkeit einer Unterbrechung der interaktiven Routine wird im Anschluss vertieft eingegangen. 3.4.3

Undoing Gender

Hirschauer (vgl. 2001, S. 209, 215) argumentiert für die Möglichkeit, die gegenseitige geschlechtliche Inszenierung zu „vergessen“. In den ethnomethodologischen Studien war die transsexuelle Mobilität von Menschen zwischen den Geschlechtern Ausgangspunkt der Überlegungen. Es ist aber zweifelhaft, dass sich die Schlussfolgerungen aus den Analysen dieses transsexuellen „passings“ – also einer grundlegenden Behauptung in einer neuen Geschlechterkategorie – auf den alltäglichen Rollenstress von Männern und Frauen übertragen lassen. Zwar steht deren Verhalten im Sinne von „accountability“ zur Debatte, aber nicht ihre kategoriale Zuordnung. Geschlechtliche Neutralität als Eigenschaft einer Person ist nicht denkbar. Es herrscht „Ausweiszwang“ (ebd., S. 215). Aber gerade wegen

3.4 Ethnomethodologie

89

dieser Omnipräsenz wird „undoing“ möglich, denn die Eigenschaft Geschlecht bedarf keiner interaktiven Betonung mehr. Sie ist jederzeit verfügbar und kann deshalb situativ vernachlässigt werden: „Biographische Konstanz und sozialräumliche Ubiquität ist nicht gleich interaktive Permanenz: Allerorten und für immer ist nicht jederzeit“ (ebd., S. 217). Hirschauer (vgl. ebd., S. 217ff.) entwickelt einen theoretischen Überblick über die Möglichkeiten des „doing“ und „undoing“ in der interaktiven Praxis und erläutert die Auswirkungen des strukturellen Hintergrunds. Das Hervorheben oder Herunterspielen kann einerseits durch die Aktivierung oder Vernachlässigung einer geschlechtlichen Mitgliedschaftskategorie geschehen. Die Betonung des Geschlechts als Relationskategorie bzw. deren Vernachlässigung weist dem Gegenüber in Interaktionen andererseits die entsprechenden „gender“-Skripte zu oder nicht. Dieser relationale Rahmen bildet das „passepartout der Kommunikation“ (ebd., S. 220). Hirschauer (vgl. ebd., S. 217, 220ff.) hebt hervor, dass die Bausteine des „doing“ identifiziert werden müssen, um das gegenläufige „undoing“ empirisch beobachten zu können. Er nennt diesbezüglich u.a. den Kleidungsstil, die Körperdekorierung und Gruß- und Anredeformen.79 Zusätzlich werden Kontext-Strukturen genannt, die die Geschlechterdifferenz ermöglichen. Unterschieden wird zwischen dauerhaften sozialen Einheiten, wie Biographien, dyadischen Beziehungen, Gruppen, Milieus, Netzwerken, Organisationen und Märkten sowie kulturellen Objekten, die geschlechtlich konnotiert sind. Letzteres können Artefakte, Substantive, Charaktereigenschaften, Räume, soziale Beziehungen oder auch Tätigkeiten sein. Diese Strukturen regen zum „doing“ im Sinne der oben beschriebenen Mitglieds- oder Relationskategorien an: Sie organisieren die Gesellschaft und stellen z.T. explizit die Nachfrage nach Zugehörigkeit zu einer geschlechtlichen Kategorie oder bieten Gelegenheit zur Darstellung von „gender“.80 Zur strukturellen Analyse eines möglichen „undoing“ bietet Hirschauer (vgl. ebd., S. 224ff.) verschiedene Perspektiven: Die Gewichtung der 79

Die zu diesem Zeitpunkt 6-jährige Tochter des Verfassers wurde durch ihre Alltagsbeobachtungen zu der Frage angeregt, warum sich Männer, die sich zur Begrüßung umarmen, immer auf den Rücken schlagen, während Frauen sich dabei sanft darüber streichen. 80 Die Kindertagesstätte als Institution und die Tätigkeit der Erzieherin bieten Anregungen zu weiblichem „doing gender“ (Nentwich, Vogt, Tennhoff, & Schälin, 2014).

90

3 Soziologische Theorien

„gender“-Strukturen befindet sich in einem historischen Wandel. Die Infrastruktur des „undoing“ ist im Wachstum begriffen. Gleichgeschlechtliche Ehen sind inzwischen genauso legitim wie unverheiratete Väter mit Sorgerecht oder Soldatinnen.81 Darüber hinaus sind die Auswirkungen der strukturellen Hintergründe auf die soziale Praxis vielschichtig. Strukturen können irrelevant bleiben, wenn nicht durch das „doing“ ein „Transmissionsmechanismus“ (ebd., S. 226) zwischen Struktur und Praxis in Gang gesetzt wird. Erst dann werden sie im Sinne der von Goffman (1977, S. 313) beschriebenen „institutional reflexivity“ relevant. Ob die hintergründige Struktur der Geschlechterdifferenz in Interaktionen aktualisiert oder vernachlässigt wird, hängt von der „situativen Pragmatik“ (Hirschauer, 2001, S. 228) der Handelnden ab.82 Schließlich ist das Verhältnis der sozialen Strukturen zueinander von Bedeutung. Nach Meinung von Hirschauer (vgl. ebd., S. 229) enthält z.B. das Gefüge des Arbeitsmarktes an sich keine Geschlechterdifferenz, sondern unterscheidet vor allem nach ökonomischen Gesichtspunkten. So sind Führungspositionen nicht grundsätzlich männlich konnotiert, doch meist mit der Erwartung von Verfügbarkeit verknüpft. Erst die Normen der familialen Geschlechterverhältnisse verschließen vielen Frauen den Zugang und lassen die Übernahme von Leitungsverantwortung männlich erscheinen. Neutralisierungseffekte vermutet Hirschauer (vgl. ebd., S. 230) vor allem durch die Entkopplung der Strukturen.83 Ein zunehmender Anteil von Übergängerinnen oder Übergängern in ein Arbeitsfeld, das konnotativ Möglicherweise hat aber das „doing gender“ in traditionellen Ehen eine Vorbildwirkung für gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Zu fragen ist auch, ob sich Soldatinnen nicht gerade an einem männlichen Habitus orientieren und damit eher ein aktives, allerdings gegenläufiges „doing“ betreiben, anstatt in ihrer Handlungspraxis ein „undoing“ zu entwickeln. 82 Hirschauer (vgl. 2001, S. 227) verweist auf die funktionale Ambivalenz kultureller Strukturen. Sie können paradoxerweise Möglichkeiten zur Neutralisierung bieten, gerade weil sie die Geschlechtertrennung manifestieren. Die Architektur getrennter Toiletten trennt Männer und Frauen z.B. so deutlich, dass ein aktives „doing gender“ gar nicht mehr notwendig ist (vgl. Goffman, 1977, S. 315). Andererseits werden im Arbeitsmarkt Differenzen weiterhin in der situativen Handlungspraxis bestätigt, obwohl strukturell Neutralität herrscht. 83 Oft ist es aber eine habitualisierte Selbstsicht, die Frauen zögern lässt, Führungspositionen anzunehmen (vgl. Bourdieu, 1997, S. 162; Kapitel 3.2.4). Die Wirkung der Entkopplung der Strukturen bliebe dann begrenzt. 81

3.4 Ethnomethodologie

91

mit dem anderen Geschlecht verbunden ist, kann z.B. zur Auflösung der Verknüpfung mit traditionellen Familienstrukturen führen. Möglicher Hintergrund ist aber auch das ökonomische Interesse der Arbeitgeber. Ihnen geht es unabhängig vom Geschlecht der Personen vor allem um Qualifikation und Fähigkeit, weshalb sie zunehmend Mechanismen wie flexiblere Arbeitszeiten einführen, die den familialen Strukturen entgegenwirken und zu einer „organisatorischen“ Entkopplung führen.84 Die Beschreibung der Möglichkeit eines „undoing“ relativiert die Omnipräsenz der Geschlechterkategorien und der Verpflichtung zum Handeln nach ihren Normen. Daraus ergeben sich neue Interpretationsmöglichkeiten für soziale Situationen. Im Anschluss wird die Deutungsweite der ethnomethodologischen Überlegungen im Überblick kritisch betrachtet. 3.4.4

Deutungsweite

Während das soziale Geschlecht als Habitus leiblich-affektiv in den Körpern der Handelnden verankert ist, zeigt es sich aus dieser Perspektive als permanentes Tun zwischen Individuen, die sich und ihre Begegnungen mit anderen als „accountable“ in Bezug auf „gender“ gestalten (vgl. Baar, 2011, S. 61). Die Betonung der situativen Herstellung der Geschlechterdifferenz bei West und Zimmerman führt allerdings zu einer theoretischen Vernachlässigung der Bedeutung des institutionellen Hintergrundes. Darin liegt aber auch eine forschungspraktische Stärke: „Was die ethnomethodologische Geschlechtersoziologie sehr überzeugend leistet, ist gewissermaßen die Rekonstruktion der alltäglich, wenn nicht sogar allsekündlich sich neu ereignenden ‚Urszene‘ der Konstruktion der Geschlechterdifferenz“ (Meuser, 2010, S. 66, Hvhg. i. O.). Die Unterscheidung zwischen „sex“ und „sex category“ erweitert die Überlegungen von Goffman (1977) und Cahill (1986). Diese sahen die kategoriale Zuordnung zu einem Geschlecht zwar auch als soziale und nicht biologische Klassifikation, machten das in ihren Konzepten aber nicht So hat die Übernahme politischer Spitzenämter durch Frauen dazu geführt, dass die Übernahme beruflicher und familialer Verantwortung nicht mehr als unvereinbar gilt. 84

92

3 Soziologische Theorien

deutlich (vgl. ebd., S. 165). Daraus ergibt sich eine besondere forschungspraktische Herausforderung: „Die Ethnomethodologie fragt einerseits, woher wir wissen, daß diese Person eine Frau oder ein Mann ist, und muß andererseits die Gültigkeit dieses Wissens voraussetzen, um überhaupt Personen zur Verfügung zu haben, angesichts derer eine solche Frage gestellt werden kann“ (Meuser, 2010, S. 68). Letztendlich müssen die Forschenden den gleichen alltagstheoretischen Praktiken der Geschlechterkategorisierung folgen, die eigentlich hinterfragt werden sollen, um eine Stichprobe zu erzeugen und Ergebnisse zu generieren. Daher ist eine besondere methodische Distanzierung von den Vorannahmen notwendig. Die Körper der Handelnden wirken in den ethnomethodologischen Überlegungen vernachlässigt. Eine leiblich-affektive oder habituelle Fundierung der situativen Handlungszüge könnte die in ihnen enthaltene beständige Reproduktion der Geschlechterordnung umfassender erklären (vgl. Villa, 2011, S. 219, bzgn. auf Lindemann, 1993). Geschlecht entsteht nicht nur im Wechselspiel von Darstellung und Zuschreibung (vgl. Hirschauer, 1989, S. 103ff.), sondern ist gleichzeitig eine tief empfundene Selbsterfahrung. Allerdings verweist die Ethnomethodologie implizit auf die große Bedeutung von affektiv-emotionalen Prozessen für das menschliche Handeln. So zeigen die „Krisenexperimente“, mit welcher affektiven Heftigkeit Menschen auf den Bruch eines erwarteten Handlungsflusses reagieren. Die Ethnomethodologie könnte vor allem kognitiv interpretiert werden. Sie zeigt aber auch, dass die Konstruktion des Alltags ein affektivemotionaler und damit körperlich fundierter Prozess ist (vgl. Garfinkel, 1967, S. 35ff.; Collins, 2004, S. 103ff.). Kotthoff (2002) konkretisiert eine mögliche habituelle Fundierung des „doing gender“. Es kann einerseits explizites Handeln im Sinne von Etikette und Körperstilisierung sein. Andererseits geschieht es in Handlungen, die auf unbewussten Habitualisierungen von Sozialität beruhen, z.B. durch Stimme, Prosodie85 und Gesprächsstil. Ein überzeugendes Konzept des „doing gender“ muss beide Perspektiven einschließen. Durch die Berücksichtigung von Habitualisierungen im theoretischen Rahmen wird 85

Die Prosodie umfasst alle Eigenschaften des Sprechens, die über die einzelnen Laute oder Phoneme hinausgehen, wie Akzent, Betonung, Sprechpausen, Sprechrhythmus oder -tempo (vgl. Argyle, 2013, S. 191ff.).

3.5 Zusammenfassung und kritische Diskussion

93

zudem der gesellschaftliche Einfluss deutlicher. Sonst bleibt das „doing“ zu sehr im Handeln einzelner Individuen verortet (vgl. ebd., S. 20f.). Meuser (2010, S. 117; vgl. Kapitel 3.2.5) versucht ebenfalls durch eine Verknüpfung mit dem Habituskonzept, die Schnittstelle zwischen der Sozialstruktur und der individuellen Praxis zu differenzieren: Insofern als dieses Tun nicht voluntaristisch beliebig ist, sondern im Rahmen des Habitus geschieht, ist Geschlecht – obwohl dem Individuum als Merkmal zugeschrieben – keine individuelle Eigenschaft. Andererseits reproduziert sich der Habitus nur im Handeln, so daß Geschlecht nicht etwas dem Handeln der Akteure Externes ist.

Durch einen Einbezug von Habitualisierungen wird außerdem die Erklärung der Wirkung von – z.B. medialer – Rezipienz möglich. Die kann zwar kaum als „doing“ gefasst werden, steht aber in indirektem Zusammenhang dazu, da sie sich nach Meinung von Kotthoff (vgl. 2002, S. 20) in Habitualisierungen niederschlägt, die das Handeln beeinflussen. Nach dieser kritischen Einordnung der ethnomethodologischen Perspektive werden im Anschluss die erläuterten soziologischen Konzepte in Bezug auf Geschlecht und Männlichkeit im Überblick zusammengefasst. 3.5

Zusammenfassung und kritische Diskussion

Männliche Geschlechtsidentität als soziale Konstruktion ist ein vielfältiges, sozialhistorisch und kulturell wandelbares Phänomen. Sie wird in ihren Formen relevant durch praktisches Handeln sowie in der Betonung von Unterschiedlichkeit gegenüber anderen Männlichkeiten und gegenüber Weiblichkeit (vgl. Faulstich-Wieland, 2008, S. 244). Die Geschlechterverhältnisse sind untrennbar mit einer Ordnung männlicher Dominanz – einem „Primat des Männlichen“ (Meuser, 2010, S. 11) – verbunden. Dabei kann die geschlechtliche Konstruktionsleistung immer auf einen biologischen Hintergrund bezogen und damit verschleiert werden: „Das Unsichtbarmachen der Tatsache, daß der geschlechtliche Körper ein kulturell erzeugter ist, macht gerade die Kompetenz des doing gender aus“ (ebd., S. 118, Hvhg. i. O.). Die Interaktionen, in denen diese Identität als soziales Phänomen hergestellt wird, sind gleichzeitig Sozialisationsprozesse (vgl. Abels & König, 2010, S. 267ff.). Die Handelnden erfahren etwas, und

94

3 Soziologische Theorien

zwar nicht nur im Sinne einer kognitiven Erkenntnis, sondern am eigenen Leib. Sie verinnerlichen es als Habitus oder als praktisches Wissen, um es in ihrer sozialen Identität zukünftig interaktiv zum Leben erwecken zu können, ohne ihr Handeln dabei reflektieren zu müssen. Die soziologische Geschlechtertheorie beschäftigt sich intensiv mit der Ungleichheit von Männern und Frauen und ihren gesellschaftlichen Herstellungsprozessen. Vor diesem Hintergrund wird ihre theoretische Tragweite häufig beurteilt (vgl. Meuser, 2010, S. 66, 95). Das ist nicht überraschend, da ihre Entwicklung auch ein Ergebnis feministischer Theoriebildung ist, die sich explizit auf die Unterdrückungsverhältnisse zwischen den Geschlechtern bezieht (vgl. Tillmann, 2010, S. 64f.). Insbesondere Bourdieus weitreichende kulturtheoretische Überlegungen, aber auch Goffmans Vorstellung einer Institutionalität der Geschlechterordnung erhellen den gesellschaftlichen Hintergrund dieser Ungleichheitsverhältnisse. Aus ethnomethodologischer Perspektive bleibt die Sozialordnung der Zweigeschlechtlichkeit unscharf. Auch wenn es notwendig ist, die situative Herstellung gesellschaftlicher Zusammenhänge zu entschlüsseln, ist deren struktureller Hintergrund weiter relevant (vgl. Meuser, 2010, S. 67). Die vorgestellten Konzeptualisierungen sollen in Bezug auf das in ihnen enthaltene Verhältnis zwischen Subjekt und Umwelt beurteilt werden. Das Individuum ist im Habituskonzept im Wesentlichen eine konkrete Ausprägung des Sozialen: „Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man“ (Bourdieu, 1993, S. 135, Hvhg. MA). Dieses Sein ist kaum auf eine Rollenübernahme im Sinne des Symbolischen Interaktionismus oder auf eine im Rahmen der Ethnomethodologie angenommene „accountability“ bzw. Inanspruchnahme in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse angewiesen (vgl. Baar, 2010, S. 46). Was dort als gegenseitige Aufeinanderbezugnahme der Individuen konzeptualisiert ist, beurteilt Bourdieu als zwar sinnhaft vor dem Hintergrund der ursprünglichen Entstehungsbedingungen, aber gleichzeitig als weitgehend frei von aktuellen subjektiven Intentionen (vgl. Bourdieu, 1993, S. 114ff., 1997, S. 166f.; Brandes, 2001, S. 43). Diese Perspektive

3.5 Zusammenfassung und kritische Diskussion

95

macht die Beschreibung eines selbstbestimmt handelnden Individuums kaum möglich.86 Für den Symbolischen Interaktionismus ist demgegenüber grundlegend, den Menschen als interpretativ handelnden Organismus zu betrachten. Er gibt den Objekten, die ihn umgeben, Bedeutungen und richtet seine Handlungen nach diesen Interpretationen aus (vgl. Blumer, 2013, S. 73). Aus der ethnomethodologischen Perspektive verringert sich der Spielraum des einzelnen Individuums wieder. Der Handlungsfluss beruht weniger auf der Interpretation von Symbolen, sondern vor allem auf der Behauptung einer Definition für die gemeinsame Begegnung. Für die soziologische Geschlechterforschung kann eine Kindheitsschwäche konstatiert werden. Geschlechtsidentität wird oft als Erwachsenen-, aber seltener als Entwicklungsphänomen verhandelt. Insbesondere gibt es über Jungen in der frühen Kindheit nur wenige veröffentlichte Forschungsergebnisse (vgl. Winter, 2004, S. 407; Lammerding, 2004, S. 46; Niederbacher & Zimmermann, 2011, S. 175). Trotzdem sollen die soziologischen Theoriestränge an dieser Stelle auf ihre entwicklungstheoretischen Aussagen befragt werden. Die Praxistheorie enthält zwar viele konkrete und sehr bildhafte ethnographische Beispiele, aber kein ausgewiesenes Sozialisationskonzept (vgl. Hillebrandt, 2009, S. 390). Allerdings werden Lernformen beschrieben, die zur Verinnerlichung habitueller Strukturen beitragen (vgl. Bourdieu, 1993, S. 138). Weniger eine bewusste Verinnerlichung von Repräsentationen oder Vorbildern, sondern vor allem ein Nachahmen zwischen Körpern führt zu bewusstseinsferner Inkorporierung. Bourdieus umfangreiche Erläuterungen enthalten damit „zwischen den Zeilen“ eine Darstellung der Vergesellschaftung des Individuums (vgl. Liebau, 1987, S. 80; Kapitel 3.2.3). Aus der Perspektive des symbolischen Interaktionismus wird die mikrosoziale Struktur der Vergesellschaftung eingehender betrachtet. Grundlage ist ein Verhältnis von Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Umwelt (vgl. Tillmann, 2010, S. 196f.). Cahill (1986; vgl. Kapitel 3.3.2) hat ein interaktionistisches Modell sequenzieller geschlechtlicher Sozialisation entworfen. Dieses Konzept ist einer der wenigen konkreten 86

Bourdieu „schreibt das Wort ‚Subjekt‘ gleich in Anführungszeichen und erinnert an einen Ausspruch eines Weltgelehrten, wonach wir in dreiviertel unserer Handlungen Automaten sind“ (Abels & König, 2010, S. 23, Hvhg. i. O.).

96

3 Soziologische Theorien

soziologischen Erklärungsversuche in diesem Bereich. Aus der Perspektive der Kindheitsforschung wirkt das ethnomethodologische „doing gender“ im Wesentlichen als Situationsbeschreibung, die wenig Ansatz für die Konzeptualisierung von sozialisatorischer Entwicklung bietet. Diese Begrenzung entspricht der ethnomethodologischen Schwerpunktsetzung. Abels und König (2010, S. 269) stellen aber fest: „Das Subjekt ist nicht nur Akteur, sondern auch Ergebnis sozialer Praxen.“ Das Konzept des „doing gender“ ist vor allem für den ersten dieser beiden Zusammenhänge aussagekräftig. Die situative Genauigkeit bietet aber eine besondere Chance für die Analyse von Sozialisationsprozessen, die in den mikrosozialen Einheiten empirisch greifbar werden. Es kann zusammengefasst werden: Das soziale Geschlecht ist das Ergebnis von biographischer Vergesellschaftung und es entsteht in situativer Interaktion, „als soziale Geschichte und als ständiger Anfang“ (ebd.). Tervooren (vgl. 2006, S. 21ff.) sieht die Parallelität von Sozialisations- und Interaktionsprozessen treffend als „Einüben“ beschrieben. Im „Einüben“ trifft das Individuum mit seiner biographischen Vorgeschichte auf die Gesellschaft. Diese Begegnungen „sind wiederholte Erfahrungen, die sich allmählich zu einer Definition des sozialen Selbst verdichten und eine innere Disposition, sich nach den Erwartungen und Anerkennungen der anderen zu verhalten, bewirken“ (Abels & König, 2010, S. 270). Das eigentliche Forschungsmaterial sind aber Interaktionen (vgl. ebd., S. 265, bzgn. auf Gildemeister, 2000). Im Anschluss wird genauer erläutert, wie diese mit den vorliegenden Theorien erschlossen werden können. 3.6

Schlussfolgerungen

Für das Forschungsvorhaben bemisst sich die Deutungsweite der Theorien vor allem aus dem direkten Bezug auf das Datenmaterial. Die eingangs allgemein formulierten Leitfragen sollen weiter differenziert werden (vgl. Kapitel 1.2). Welche Erklärungsmöglichkeiten bieten die entfalteten soziologischen Konzepte zur interaktiven Konstruktion von Identität? Lässt sich auf dieser Grundlage eine sozialisatorische Entwicklungsperspektive herstellen? Bei genauerer Betrachtung werden unterschiedliche Identitätskonstrukte und abweichende Gewichtungen von symbolischen und körperlichen Dimensionen deutlich.

3.6 Schlussfolgerungen

97

Bourdieu (vgl. 2014, S. 184, 279) erwähnt zwar biologische und psychische Einflüsse, sieht die Geschlechtsidentität aber vor allem sozial bestimmt. Sie entsteht in der praktischen Herstellung von Unterscheidungen. Bourdieu (vgl. 1993, S. 114f.) entwickelt keinen breiten Identitätsbegriff, wie er sich aus dem interaktionistischen Subjektverständnis ergibt. Innerhalb der habitustheoretischen Überlegungen eröffnet sich aber – allerdings jenseits eines reflexiv handelnden Individuums – ebenfalls eine symbolische Dimension. Bourdieu (vgl. ebd., S. 138f.) beschreibt, wie durch unbewusste Eingewöhnung, explizite Gebote und sogenannte „Strukturübungen“ eine metaphorische Deutung der Umwelt vermittelt wird. Wird die Signifikanz von Distinktionsgewinnen für die Geschlechtsidentität berücksichtigt, kann davon ausgegangen werden, dass solche Lernformen im Datenmaterial identifizierbar sind (vgl. ders., 2014, S. 746f.; Cahill, 1986, S. 175). Unkommentierte, einübende und körpernahe Nachahmungen von Handlungen müssen beachtet werden. Explizite Hinweise auf Haltungen und Verhaltensformen können Spuren der männlichen Sozialisation sein. Darüber hinaus ist nach metaphorischen „Strukturübungen“ zu suchen, in denen ein Geschlechterverhältnis in symbolische Objekte eingeschrieben wird. Bourdieu (vgl. 1997, S. 166) und Blumer (vgl. 2013, S. 72f.) illustrieren ihre Überlegungen am Beispiel des Schlagabtauschs zwischen Boxern. Durch diesen Vergleich werden die Charakteristika der Konzepte deutlich. Die von den Habitus der Beteiligten generierten Handlungszüge enthalten zwar Symbole, deren Interpretation ist aber keine kognitive Leistung, sondern sie erfolgt aus ihrer habitualisierten Wesensart, während aus interaktionistischer Perspektive das gegenseitige interpretative Verstehen entscheidend für das Gelingen der Interaktionen ist. Mit den umfangreichen Ausführungen zu einer sozial definierten Identität als Folge eines reflexiven Aushandlungsprozesses zwischen „I“ und „me“ entsteht ein vielversprechender Deutungshorizont, insbesondere für die verbalen Anteile des empirischen Materials: Welche Identitäten werden den Jungen von den Fachkräften angeboten? Wie positionieren sie sich zu ihnen? Welche männliche Identität schreiben sich die Jungen selbst zu? Wie reagieren die Erzieherinnen und Erzieher darauf? Auch die Vertreterinnen und Vertreter der Ethnomethodologie charakterisieren die Geschlechterverhältnisse als Bestandteil von Interaktionen. Die Beteiligten beziehen sich dabei auf ein Handlungswissen,

98

3 Soziologische Theorien

mit dem sich eine Erwartungsstruktur verbindet. Diese Perspektive enthält zwar keine breite Darstellung von Identität, aber es werden in ausführlicher Form die Methoden beschrieben, mit denen die Handelnden diesen normativen Strukturen folgen. Die gegenseitige Inszenierung der Beteiligten als Männer und Frauen kann in ihrer sequenziellen Ordnung vor diesem Hintergrund „enthüllt“ werden. Daher liegt auch in dieser Konzeptualisierung eine wirkungsvolle Ressource für die Deutung des vorliegenden Materials: Zu fragen ist, welche Definition von Männlichkeit sich in den situativen Aushandlungsprozessen der Handelnden offenbart und wie sie diese methodisch ratifizieren (vgl. Abels & König, 2010, S. 271; Meuser, 2010, S. 66)? Vor allem in der Praxistheorie, aber auch in interaktionistischen Entwürfen wird darauf verwiesen, dass die sozialisatorischen Erfahrungen inkorporiert und aus den Körpern der Handelnden heraus reproduziert werden (vgl. Bourdieu, 1993, S. 122ff.; Goffman, 1977, S. 303, 305; Meuser, 2010, S. 73f.). Auch die ethnomethodologischen „Krisenexperimente“ offenbaren die besondere Bedeutung von Emotionen (vgl. Garfinkel, 1967, S. 35ff.; Collins, 2004, S. 103ff.). Es kann davon ausgegangen werden, dass die Individuen ihr Handeln an solchen leiblich-affektiven Empfindungen ausrichten. Situative Identitäten werden sich mehr oder weniger passend anfühlen und von den Beteiligten freudig begrüßt oder spontan korrigiert werden. In der Analyse des empirischen Materials muss daher auf alle offensichtlich prä-reflexiven Anteile der Interaktionszüge geachtet werden. Die spontanen gestischen und non- bzw. paraverbalen Ausdrucksformen sind auch Ausdruck von Geschlechtsidentität. Hirschauer (vgl. 2001, S. 217f.) und Kotthoff (vgl. 2002, S. 9ff.) schlagen zur Konkretisierung der verschiedenen vorder- und hintergründigen Elemente des „doing gender“ Relevanzebenen vor, die im vorliegenden Zusammenhang ebenfalls empirisch wesentlich sind:     

Kleidung und Körperstilisierung, Gruß- und Anredeformen, Blickmuster und Proxemik, Angebot und Wahl von Gesprächsthemen, emotionale Tönung,

3.6 Schlussfolgerungen

 

99

Stimme und Prosodie, differente Gesprächsstile.

Die Handelnden aktivieren damit ihr soziales Geschlecht, und zwar als Selbstzuordnung oder Inanspruchnahme bzw. „accountability“ des Gegenübers im Sinne der Geschlechterverhältnisse (vgl. West & Zimmerman, 1987, S. 135ff.). Sie können ihren Interaktionen außerdem einen relationalen Rahmen geben und zwischen sich eine Beziehung unter Gleichen oder Verschiedenen herstellen (vgl. Hirschauer, 2001, S. 20). Allgemein lässt sich aus den soziologischen Konzepten auf eine Orientierung des Handelns an einer Ordnung männlicher Dominanz schließen, wie sie sich insbesondere in den Ausführungen Bourdieus zeigt (vgl. Kapitel 3.2.4). Es liegt nahe, dass die Interaktionszüge der Jungen und der erwachsenen Fachkräfte vor dem Hintergrund dieser Orientierungsfolie hergestellt und analytisch beurteilt werden müssen. Daraus ergibt sich eine interpretative Herausforderung: Die Fokussierung auf männliche Überordnung erschwert es, Phänomene vorurteilsfrei zu beschreiben, die nicht dieser Ordnung entsprechen. Jungen, die anders handeln, als es ein auf Hegemonie orientierter Habitus erwarten lässt, werden als Abweichungen von einer normativen Struktur charakterisiert, statt sie als gleichwertige Identitäten anzuerkennen. Die intensive Auseinandersetzung mit der Mikrostruktur von Interaktionen bietet im Ansatz einen Ausweg aus diesem Dilemma. Soziale Phänomene müssen in ihrer Vielfalt erfasst werden, statt sie voreilig als Bestätigung einer vorhandenen Ordnung abzulegen. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass sich aus den soziologischen Konzepten vielfältige Inspirationen zur Differenzierung der Fragestellung ergeben. Allerdings ist die prozessuale Dimension der Sozialisation bisher unscharf geblieben. Die im Anschluss entfalteten entwicklungspsychologischen Entwürfe werden diesbezüglich Ergänzungen bieten.

4

Entwicklungspsychologische Konzepte

4.1

Einleitung

Die wesentlichen psychologischen Entwicklungskonzepte enthalten neben psychoanalytischen (vgl. Mertens, 1994, S. 27ff.) vor allem kognitionspsychologische und sozial-kognitive Perspektiven (vgl. Trautner, 2008, S. 644ff.; Tillmann, 2010, S. 74). Die Erklärungsansätze beschreiben unterschiedliche Faktoren, die in ihrem Zusammenspiel die Ausprägung der Geschlechtsidentität beeinflussen. Die Psychoanalyse hebt die Bedeutung primärer familiärer Bezugspersonen hervor und beschreibt die Psyche als komplexe innere Wirklichkeit. In den ursprünglichen psychoanalytischen Überlegungen ergibt sich die Reproduktion geschlechtstypischer Verhaltensweisen aus der Verinnerlichung normativer Ansprüche der Bezugspersonen in einem „Über-Ich“ (vgl. Freud, 1982b, S. 247f.). In umfangreichen Überarbeitungen wird die geschlechtliche Sozialisation von Jungen u.a. als Abgrenzung von der Mutter (Chodorow, 1994; vgl. Niederbacher & Zimmermann, 2011, S. 164) oder als Differenzierung von sozialen Erfahrungen (Fast, 1991) beschrieben. Kognitionspsychologischen Deutungsversuchen liegt die Annahme zugrunde, dass Kinder ausgehend vom Erkennen der Geschlechterkategorien von sich und anderen einer kognitiven Konsistenz folgen und Eigenschaften adaptieren, die sie ihrem Geschlecht zuordnen. Zentraler Begriff dieser Perspektive ist die Selbstsozialisation. Äußere Anstöße sind primär Anregungen für eigene kognitive Verarbeitung und weniger Vorgaben, die direkt verinnerlicht werden (vgl. Trautner, 2008, S. 647). Sozial-kognitive Ansätze berücksichtigen sozialisatorische und kognitive Prozesse gleichermaßen. Die geschlechtstypische Individualisierung geschieht durch Lernen am Modell, aber auch durch Verstärkung und direkte Anleitung. Die kognitive Verarbeitung dieser Einflüsse führt zur Ausbildung eines „gender“-Konzeptes.87 Das

87

Damit ist im Gegensatz zur ethnomethodologischen Perspektive (vgl. Kapitel 3.4.2) kein sozialer Interaktionsprozess, sondern ein individuelles Konzept gemeint (vgl. Bussey & Bandura, 1999, S. 685).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Andrä, Die Konstruktion von Männlichkeit in kindheitspädagogischen Interaktionen, Kultur und gesellschaftliche Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24904-5_4

102

4 Entwicklungspsychologische Konzepte

Individuum entwickelt in selbstregulatorischen Prozessen die Motivation, dieses Konzept weiter zu verfolgen (vgl. Bussey & Bandura, 1999). Die US-amerikanische Psychologin Eleanor E. Maccoby (2000, S. 199) definiert den Begriff Geschlechtsidentität zuerst begrenzt im Sinn einer Zuordnung, deutet aber die damit verbundene umfassendere Selbstwahrnehmung an: „Als Geschlechtsidentität bezeichne ich das Gewahrsein, daß man entweder ein männliches oder ein weibliches Individuum ist, und die Integration dieser Erkenntnis in das Selbstkonzept.“ Maccoby (vgl. ebd., S. 101ff.) nennt drei grundlegende Muster, die bei der Entwicklung von Jungen und Mädchen empirisch auffällig werden: 1) die Bildung geschlechterhomogener Spielgruppen, 2) die Ausprägung unterschiedlicher Interaktionsstile innerhalb dieser Gruppen,88 3) ein asymmetrischer Entwicklungsverlauf, insofern Jungen später mit der Bevorzugung gleichgeschlechtlicher Spielpartner beginnen, sich im weiteren Verlauf aber deutlicher von Mädchen und Erwachsenen abgrenzen. In Bezug auf globale Persönlichkeitsmerkmale unterscheiden sich Jungen und Mädchen darüber hinaus nicht wesentlich (vgl. ebd., S. 184; Kuger, Kluczniok, Sechtig, & Smidt, 2011, S. 282ff.; Connell, 2013, S. 91).89 Die Präferenz für gleichgeschlechtliche Spielpartner bzw. -partnerinnen tritt zwar allgemein auf, sie präsentiert sich empirisch aber nicht als stabile Eigenschaft des einzelnen Kindes, sondern ist abhängig vom Kontext.90 Sozialisatorische Ursachen müssten demzufolge zwar binär zwischen Jungen und Mädchen verteilt sein, aber gleichzeitig eher indirekt situativ wirksam werden, statt direkt die Persönlichkeit zu prägen. Ein Auslöser der Geschlechtertrennung könnte die Anregung zu unterschiedlichen

88

Kapitel 5.3 enthält einen Überblick über die diesbezüglichen Forschungsbefunde. Wenn Kinder vermeintlich typische Jungen und Mädchen beschreiben sollen, sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern bezeichnenderweise viel ausgeprägter, als wenn ihre Bewertungen ihnen bekannte Personen betreffen (vgl. Faulstich-Wieland, 2008, S. 244). 90 „Die soziale Geschlechtsidentität ist, gemessen an diesem Index, nicht stabil, sondern kontextabhängig“ (Lloyd & Duveen, 1992, S. 89, zitiert in Maccoby, 2000, S. 109). 89

4.1 Einleitung

103

Interaktionsstilen sein, z.B. durch die Eltern. Möglich ist aber auch, dass die Stile sich erst in den getrennten Gruppen entwickeln. Präferenzen für bestimmte Spielsachen und Aktivitäten beeinflussen aus der Sicht von Maccoby (vgl. ebd., S. 107ff.) die Bevorzugung von Spielpartnern oder -partnerinnen des gleichen Geschlechts kaum, da sich Kinder auch unabhängig von ihrem Interesse für stereotype Spielmaterialien nach dem Geschlecht gruppieren. Die Auseinandersetzung mit den kindheitsspezifischen Phänomenen führt bei Maccoby (vgl. ebd., S. 206) zur Annahme einer Gruppenidentität, die ihre Wirkung neben der individuellen Geschlechtsidentität entfaltet und die besonders für Jungen von Bedeutung ist, bei denen die Separierung der Spielgruppen zwar etwas später, aber deutlicher hervortritt als bei Mädchen. Die Annahme der Signifikanz der kindheitsspezifischen Geschlechtertrennung ist im Fachdiskurs allerdings nicht unwidersprochen geblieben. Rohrmann (vgl. 2008, S. 49f.) wendet ein, dass sich in den vorliegenden Forschungsbefunden kein eindeutiges Ergebnis abzeichnet. Zwar überwiegen die geschlechterhomogenen Gruppen, doch die quantitativen Angaben fallen sehr unterschiedlich aus. Zudem deuten sich große individuelle Varianzen an. Darüber hinaus wird die Bedeutung des Kontextes vernachlässigt. So belegt eine Untersuchung von Mayer, Bernhard und Peters (vgl. 2013, S. 191), dass die Auflösung geschlechtstypischer Spielbereiche in einer Kita zur signifikanten Zunahme des gemischtgeschlechtlichen Spiels der Kinder führte. Fraglich ist auch, ob die Bevorzugung der Geschlechtertrennung ein kulturübergreifendes Phänomen ist. Vergleichende ethnographische Studien offenbaren diesbezüglich Unterschiede (vgl. Aydt & Corsaro, 2003, S. 1320ff.). Nachfolgend werden die maßgeblichen Inhalte wesentlicher entwicklungspsychologischer Konzepte breiter entfaltet. Die Schwerpunktsetzung liegt dabei auf den jeweiligen theoretischen Überlegungen zur Entstehung geschlechtlicher Identität. Forschungsbefunde, die in Zusammenhang zu den beschriebenen Konzepten stehen, sind in die Ausführungen einbezogen. Die Deutungsweite der unterschiedlichen Theorieansätze wird wie in Bezug auf die soziologischen Konzepte am Schluss der jeweiligen Kapitel kritisch beurteilt.

104

4 Entwicklungspsychologische Konzepte

4.2

Psychoanalytische Konzepte

4.2.1

Vorbemerkung

Sigmund Freud (1982a, 1982b, 1998) entwickelte die Psychoanalyse zur Behandlung psychischer Erkrankungen. Seine Überlegungen enthielten gleichzeitig ein Modell der menschlichen Psyche und ihrer Entwicklung. Neben der Heilmethode entstand so eine Subjekttheorie. Freuds Gedanken zur Entstehung psychischer Strukturen in Interaktionsprozessen zwischen Kind, Eltern und Umwelt können daher auch aus einer sozialisationstheoretischen Perspektive gelesen werden (vgl. Tillmann, 2010, S. 74f.). Seine ursprünglichen Annahmen, die in Anbetracht des wissenschaftlichen Diskussionsstandes als überholt gelten können, dienen hier vor allem als Orientierungsfolie für darauf aufbauende, neuere Konzepte (vgl. Rendtorff, 2003, S. 53f.). Nach einer kurzen Einführung in die Struktur der Psychoanalyse werden zwei ihrer umfangreichen Neubearbeitungen erläutert. Ein weiteres psychoanalytisches Konzept ist bereits weiter vorn in Bezug auf seine Aussagen zum Begriff der Identität dargestellt worden (vgl. Kapitel 2.4). 4.2.2

Sigmund Freud: Triebe, psychische Instanzen und die ödipale Situation

Freud (vgl. 1998, S. 42) charakterisierte die menschliche Psyche als „Apparat“. Einen zentralen Stellenwert bei der Beschreibung der Wirkungsweise dieser Struktur haben unbewusste, aber reale psychische Prozesse. Diese Annahme unterscheidet die Psychoanalyse von anderen psychologischen Theorien (vgl. Tillmann, 2010, S. 75f.). Gegenstand der psychoanalytischen Forschung sind die dem Bewusstsein meist verschlossenen psychischen Konflikte der ersten Lebensjahre. Um auf sie zugreifen zu können, wurden eigene Methoden entwickelt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Interpretation assoziativer Äußerungen der Patienten in analytischen Gesprächen. Dieses tiefenhermeneutische

4.2 Psychoanalytische Konzepte

105

Fallmaterial wird zu allgemeinen Thesen zusammengefasst (vgl. ebd., S. 94).91 Physiologisch begründete Bedürfnisspannungen, die Freud (vgl. 1998, S. 44ff.) als Triebe bezeichnet, sind der Ausgangspunkt jeder Handlung eines Menschen. Mit dieser Annahme gelingt eine Verbindung von Körper und Psyche, denn die Triebe werden physiologisch erklärt, haben aber gleichzeitig psychologische Auswirkungen. Zwei verschiedene Formen werden beschrieben: Zum einen der Eros bzw. Lebens- oder Sexualtrieb und zum anderen der Destruktions- bzw. Todestrieb. Die TriebSpannungen werden als Erregungen erlebt, die das Individuum zu befriedigenden Handlungen anregen. Nach der Entspannung entsteht die Erregung physiologisch erneut. Die gesellschaftliche Kultur des Menschen steht seiner an Triebbedürfnissen orientierten Natur gegenüber. Die sexuellen Triebenergien werden im Lebensverlauf zu einem großen Teil auf neue Ziele ausgerichtet. Aus umgeleiteter Triebenergie entsteht Kultur (vgl. Tillmann, 2010, S. 79f.). Der von Freud (vgl. 1998, S. 42ff., 49ff.; Tillmann, 2010, S. 76ff.) beschriebene „Apparat“ besteht aus drei wesentlichen Bauteilen, den psychischen Instanzen „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“, die sich gegenseitig beeinflussen. Sie entstehen nacheinander in den psychosexuellen Phasen der ersten sechs Lebensjahre. Diese Phasen sind nach den jeweiligen Körperregionen des sie prägenden autoerotischen Lustgefühls benannt: 1) In der oralen Phase im ersten Lebensjahr findet der Säugling vor allem im Saugen Befriedigung. Er entwickelt eine Objektbeziehung zu seiner Mutter. Das Kind ist am Anfang seines Lebens ein triebgesteuertes Wesen ohne Werte und Normen bzw. Verständnis von sich selbst. Einzige psychische Instanz des Säuglings ist das „Es“. Darin enthalten sind die körperlichen Bedürfnisse sowie sexuelle und aggressive Impulse. Zeitlebens strebt diese Instanz nach Lustgewinn und Bedürfnisbefriedigung. 91

Es ist fragwürdig, ob auf dieser Grundlage eine Theorie entworfen werden kann. Trotz ihrer spekulativen Inhalte genießt die Psychoanalyse aber im Wissenschaftsdiskurs Anerkennung. Eine kritische Rezeption ist notwendig (vgl. Tillmann, 2010, S. 94). Das im Gegensatz dazu streng quantitative Vorgehen bei anderen Theoriebildungen ist allerdings ebenfalls kritisch zu prüfen (vgl. Kapitel 7.2).

106

4 Entwicklungspsychologische Konzepte

2) Im zweiten und dritten Lebensjahr durchläuft das Kind die anale Phase. Es erreicht Lustgewinn vor allem durch die zunehmende Beherrschung seines Schließmuskels. Neben der ersten psychischen Instanz des „Es“ bildet sich das „Ich“ als Instanz der Wahrnehmung und Willensbildung. Das „Ich“ folgt gleichermaßen dem Lust- und dem Realitätsprinzip. Es versucht Triebbefriedigung zu ermöglichen, ohne die Vorgaben der Umwelt zu verletzen. 3) In der phallische Phase, die bis ungefähr zum fünften Lebensjahr andauert, steht die genitale Masturbation im Mittelpunkt des Lustgewinns. Etwa im sechsten Lebensjahr tritt das Kind in die „ödipale Situation“ ein.92 Es kommt zur Bildung des „Über-Ich“. Diese geht einher mit der Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil und mit der Entwicklung einer Geschlechtsidentität. Gebote und Verbote der Eltern und damit die kulturellen Traditionen und Geschlechterstereotype werden im „Über-Ich“ in die eigene Psyche übernommen und von selbst weiter verfolgt. Aus äußeren Autoritäten werden innere Autoritäten (vgl. Niederbacher & Zimmermann, 2011, S. 164). Das „Ich“ steht von nun an vor der Herausforderung, nicht nur zwischen den Bedürfnissen des „Es“ und den Erwartungen der Realität, sondern auch zwischen „Es“ und „Über-Ich“ ausgleichend zu wirken. Freud (vgl. 1998, S. 51) charakterisiert das von ihm beschriebene Phasenmodell nicht als starre Abfolge. Die einzelnen Phasen gehen ineinander über und überschneiden sich. Die Bildung der Geschlechtsidentität wird in der ödipalen Situation am Ende der phallischen Phase lokalisiert. Hintergrund der Überlegungen ist eine Ideal-Familie aus Vater, Mutter und Geschwistern. Die sexuellen Triebe des Kindes werden zwar durch genitale Masturbation befriedigt, beziehen sich aber auf die eigenen Eltern. Der Junge sucht Befriedigung bei der Mutter und das Mädchen beim Vater. Aus dieser Konstellation ergibt sich ein innerer Konflikt, der zu einem weitreichenden Umbau der Persönlichkeitsstrukturen 92

Das Kind entwickelt den „Ödipuskomplex“. Mit diesem Begriff beschreibt Freud die libidinöse Objektbesetzung des andersgeschlechtlichen Elternteils unter Bezugnahme auf eine griechische Sage: Der thebanische König Ödipus heiratete seine Mutter, nachdem er seinen Vater getötet hatte (vgl. Tillmann, 2010, S. 86; Hillmann, 2007, S. 636f.).

4.2 Psychoanalytische Konzepte

107

und zur Herausbildung einer Geschlechtsidentität führt. Nach der ödipalen Situation ruht die weitere Entwicklung der Sexualität bis zur Pubertät in der Latenzphase (vgl. Tillmann, 2010, S. 82). Die ödipale Situation ist für den Jungen ein dramatisches biographisches Ereignis, das aber weitgehend unbewusst verläuft. Seit der Geburt verbindet ihn eine intensive Beziehung mit seiner Mutter. Der körperliche Kontakt mit ihr war in der oralen Phase entscheidend für seine Triebbefriedigung. In der phallischen Phase setzt der Junge die libidinöse Beziehung zur Mutter fort. Er sehnt sich nun nach Befriedigung genitaler Sexualität und zeigt großes Interesse am eigenen Penis. Erwachsene reagieren restriktiv auf das häufige Spielen mit dem Geschlechtsteil. Das wird als Kastrationsdrohung interpretiert. Sie wird vom Jungen erst nachträglich als Gefahr begriffen, wenn er bei einem Mädchen gesehen hat, dass man den Penis tatsächlich „verlieren“ kann. Der Junge wird dadurch gezwungen, sich der Unvereinbarkeit seines Interesses am eigenen Penis mit der Richtung seiner sexuellen Bedürfnisse auf die Mutter zu fügen. Der Ausweg aus diesem Dilemma ist grundlegend für die Ausbildung seiner Geschlechtsidentität. Er verzichtet auf die libidinöse Beziehung zur Mutter. Das Inzest-Tabu und die Autorität des Vaters werden im „Ich“ als „ÜberIch“ verinnerlicht. Die sozialen Normen, die das entstehende „Über-Ich“ innerpsychisch enthält, umfassen auch die gesellschaftlichen Stereotype in Bezug auf das eigene Geschlecht (vgl. Freud, 1982b, S. 247f.; Tillmann, 2010, S. 82ff.). Auch beim Mädchen ist die Mutter das ursprüngliche Objekt libidinösen Begehrens, während es in der phallischen Phase große Lustgefühle beim Betasten seiner Genitalien erlebt. Für die Eröffnung der ödipalen Situation muss die Objektbesetzung aber auf den Vater übertragen werden. Dieser Wechsel wird durch den Penisneid ausgelöst. Das Mädchen sieht das Geschlechtsteil eines Jungen. Statt einer Kastrationsdrohung empfindet es aber einen Kastrationskomplex. Die vermeintliche Größe des Penis gegenüber seinem Geschlechtsorgan bedeutet Benachteiligung und weibliche Minderwertigkeit. Diese überträgt es auf die anatomisch genauso benachteiligte Mutter. Es wendet das libidinöse Begehren demzufolge von ihr ab und dem Vater zu. Das Mädchen wünscht sich nun aber keinen Penis mehr, sondern ein Kind von ihm. Die Objektbesetzung wird auf ihn übertragen. Es identifiziert sich gleichzeitig mit seiner Mutter, weil es ebenso

108

4 Entwicklungspsychologische Konzepte

als Frau für den Vater anziehend sein möchte (vgl. Tillmann, 2010, S. 84ff.).93 Bei Jungen und Mädchen führt die ödipale Situation zu Ausbildung des „Über-Ich“ und zur Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil und damit zur Ausbildung einer Geschlechtsidentität. Die genitale Anatomie ist dabei von größter Bedeutung und führt zu grundlegenden Unterschieden im Verlauf. Der Ödipuskomplex des Jungen wird durch die als reale Möglichkeit erkannte Kastrationsdrohung zerschlagen. In diesem dramatischen Prozess entsteht jäh das „Über-Ich“. Er verlässt die ödipale Situation. Beim Mädchen beginnt diese erst durch den Kastrationskomplex und die damit verbundene Zuwendung zum Vater als libidinösem Objekt. Der Ödipuskomplex findet kein plötzliches Ende, sondern kann seine Biographie noch lange begleiten (vgl. Freud, 1982b, S. 265f.; Tillmann, 2010, S. 86f.). Während der Junge sich einer Autorität unterwirft, identifiziert sich das Mädchen mit einem verlorenen Liebesobjekt. Freud (ebd., S. 249, Hvhg. MA) schließt auf lebenslange psychische Unterschiede zwischen Männern und Frauen und beschreibt damit biologisch determinierte männliche und weibliche Geschlechtercharaktere: „Die feministische Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter trägt hier nicht weit, der morphologische Unterschied muß sich in Verschiedenheiten der psychischen Entwicklung äußern.“ Freud (vgl. 1998, S. 88f.; Tillmann, 2010, S. 84ff.) nimmt an, dass Mädchen ein weitaus widersprüchlicheres Verhältnis zum eigenen Geschlecht entwickeln, weil ihnen durch den Kastrationskomplex Weiblichkeit generell als minderwertig erscheint. Triebverarbeitungsprozesse in der frühen Kindheit prägen die Persönlichkeit. Damit werden die Bedeutung körperlicher Aspekte, aber auch die Auswirkungen der Beziehungen zu primären Bezugspersonen, insbesondere zu den Eltern, hervorgehoben. Biologische und soziale Faktoren stehen in einem wechselseitigen Zusammenhang (vgl. Tillmann, 93

Freud (1998, S. 89) begründet die Übertragung der Identifikation auf die Mutter so: „Wenn man ein Liebesobjekt verloren hat, so ist die nächstliegende Reaktion, daß man sich mit ihm identifiziert, es gleichsam durch Identifizierung von innen her ersetzt.“ Für den Ödipuskomplex von Mädchen und seine psychischen Folgen entwarf Freud (vgl. 1982a, S. 250) verschiedene Varianten, die aber alle eine defizitäre Charakterisierung des Weiblichen verbindet.

4.2 Psychoanalytische Konzepte

109

2010, S. 96). Durch die biologische Determinierung und die familiale Einengung der Perspektive kann die Vergesellschaftung des Individuums vor einem klassischen psychoanalytischen Hintergrund nur begrenzt beschrieben werden (vgl. Brandes, 1989, S. 77). Die Darstellung der Entwicklung des Subjektes in der Kindheit enthält aber umfangreiche Annahmen zum Erwerb der Geschlechtsidentität, die Vorlagen für Weiterentwicklungen gewesen sind. Zwei davon wird im Anschluss besondere Aufmerksamkeit geschenkt. 4.2.3

Weiterentwicklungen des psychoanalytischen Entwicklungsmodells

Freuds ursprüngliche Überlegungen sind vielfältig aufgegriffen und weiterentwickelt worden. Dabei hat sich die psychoanalytische Perspektive immer mehr von einer biologischen Fundierung entfernt und wurde zu einer Beziehungstheorie umgestaltet: „Normalerweise entwickelt der Junge sein Erleben von Männlichkeit und Weiblichkeit nicht innerhalb seines Selbst weiter, sondern innerhalb von Beziehungen“ (Fast, 1991, S. 46). Im Anschluss werden deshalb die Konzepte der US-amerikanischen Psychoanalytikerinnen Nancy Chodorow (1994) und Irene Fast (1991) näher erläutert. Diese Erweiterungen geben den psychoanalytischen Diskurs nicht in seiner ganzen Breite wieder. Sie wurden ausgewählt, da wesentliche Inhalte ihrer Deutungen als fruchtbar für das Forschungsvorhaben erscheinen. Darüber hinaus zeigen sie, dass die grundlegenden Schriften Freuds nicht mehr allein zu einer fairen kritischen Einordnung der psychoanalytischen Perspektive herangezogen werden können. Für Freud (vgl. 1982b, S. 249, 265f.) ergaben sich aus der psychosexuellen Entwicklung von Mädchen und Frauen zwangsläufig charakterliche Defizite. Dieser Standpunkt wurde bald in Frage gestellt. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Geschlechterbild der Psychoanalyse fand allerdings zwischen den dreißiger und siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts kaum statt (vgl. Tillmann, 2010, S. 88f.). Erst seit der neueren Frauenbewegung werden die psychoanalytischen Hypothesen wieder hinterfragt. Chodorow (1994) knüpft an die sozialisationstheoretisch wichtige psychoanalytische Hypothese an, dass das Individuum mit der Ausbildung des Über-Ichs äußere Werte und Normen in seine Persönlichkeitsstruktur übernimmt. Dabei entwickelt sie eine dezidiert

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4 Entwicklungspsychologische Konzepte

feministische – also gegen die Annahme männlicher Suprematie argumentierende – Perspektive (vgl. ebd., S. 219; Niederbacher & Zimmermann, 2011, S. 164). Ausgangspunkt ist die Beobachtung des „mothering“.94 Frauen übernehmen weitgehend die Betreuung der Kleinkinder, obwohl das nach der Stillzeit keiner biologischen Notwendigkeit mehr folgt. Chodorow (vgl. ebd., S. 50, 234; Tillmann, 2010, S. 82) nimmt daher an, dass das „mothering“ Teil der Geschlechterordnung in der patriarchalisch-kapitalistischen Gesellschaft ist, während Freud die Rollenverteilung in der Kleinfamilie nicht hinterfragte, weil er sie als natürlichen Zustand betrachtete. Chodorow (vgl. ebd., S. 216ff.) überarbeitete Freuds Phasenmodell durch weitreichende Umdeutungen. In seiner Abwertung von Frauen erkennt sie die Übernahme patriarchaler Vorurteile. Statt eines dramatischen Konfliktes sieht sie in der ödipalen Situation nur eine weitere Entwicklungsphase. Diese ist von der triadischen Erweiterung der MutterKind-Dyade – meist durch den leiblichen Vater – mit jeweils unterschiedlichen Verlaufslinien für Jungen und Mädchen geprägt. In diesen Überlegungen ist zwar auch die psychoanalytische Grundfigur der notwendigen Lösung des Kindes von der Mutter enthalten. Aus ihrem geschlechtsspezifischen Verlauf werden ebenfalls unterschiedliche Konsequenzen für die Entwicklung der Persönlichkeit von Jungen und Mädchen abgeleitet. Entscheidender Anstoß der geschlechtlichen Individuierung ist aber nicht die ödipale Erkenntnis anatomischer Unterschiede zwischen den Geschlechtern, sondern sind die unterschiedlichen Erfahrungen in der prä-ödipalen Beziehung zur Mutter. Die Geschlechtsidentität entsteht demnach bereits weit vor der ödipalen Situation. Chodorow (vgl. ebd., S. 196f.) sieht es als empirisch begründet, dass sie bei den meisten Kindern bereits im Alter von ungefähr drei Jahren ausgebildet ist. Sie führt das auf frühe soziale Zuschreibungen an das biologische Geschlecht zurück, die von Geburt an verinnerlicht und mit dem Spracherwerb kognitiv vertieft werden. Nach Meinung von Chodorow (vgl. ebd., S. 216f.) ist die psychische Entwicklung von Kindern im Wesentlichen das Ergebnis der engen Beziehung zur Mutter infolge des 94

In deutschen Übersetzungen wird „mothering“ als „muttern“ übertragen (vgl. Tillmann, 2010, S. 89). Hier wird der englische Begriff beibehalten.

4.2 Psychoanalytische Konzepte

111

„mothering“. Bei Mädchen kann die primäre Mutter-Kind-Dyade erhalten bleiben, da Mütter eine Ähnlichkeit zwischen sich und dem Kind annehmen. Chodorow charakterisiert diese Beziehung als fortlaufende Abfolge von Verschmelzung und Loslösung. Demgegenüber erscheinen Söhne ihren Müttern anders als sie selbst. Sie werden dementsprechend stärker aus der primären Beziehung gelöst und müssen eher Abgrenzungserfahrungen machen. Die Bedeutung der Mutter in der primären Beziehung führt zu Abhängigkeit und Ohnmacht, aus der sich die Kinder beider Geschlechter lösen wollen. Für Mädchen beginnt hier die ödipale Zuwendung zum Vater. Chodorow (vgl. ebd., S. 159ff.) sieht diese allerdings nicht dadurch verursacht, dass er wegen seines Geschlechtes besonders attraktiv für seine Tochter wäre. Die Beziehung zu ihm ist für sie einfach die naheliegende Möglichkeit zur Befreiung von der übermächtigen Mutter. Der Penis, den sich das Mädchen wünscht, ist nur die Verkörperung dieser Befreiung und der damit für Jungen verbundenen Vorteile. Das Mädchen hält eine ambivalente Beziehung zwischen Zuwendung und Abgrenzung zur Mutter aufrecht. Der Vater wird Teil eines „Beziehungsdreieckes“ (ebd., S. 218). Für den Jungen ist die Lösung aus der Dyade weitaus einfacher. Er braucht nur hervorzuheben, dass er nicht weiblich und damit anders als seine Mutter ist. Chodorow (ebd., S. 216, Hvhg. i. O) beschreibt für Jungen und Mädchen unterschiedliche Folgen der geschlechtlichen Individuierungsprozesse: „Meiner Meinung nach liegt die besondere Bedeutung des Ödipus-Komplexes nicht in der Entwicklung einer sozialen Geschlechtsidentität und einer sozial angepaßten heterosexuellen Genitalität, sondern in der Entwicklung unterschiedlicher ‚Beziehungs-Potentiale‘ bei Männern und Frauen.“ Chodorow (vgl. ebd., S. 217ff.) leitet aus ihren Überlegungen aber kein weibliches, sondern eher ein männliches Defizit ab. Mädchen entwickeln durch die permanente Auseinandersetzung mit der widersprüchlichen Beziehung zu ihren Müttern Empathie-Fähigkeit und Offenheit für emotionale Beziehungen. Jungen erfahren die Lösung von der Mutter im Gegensatz dazu als Trennung, die sie verdrängen, was zur Abspaltung von Emotionen und Affekten führt: „Das grundlegende weibliche Selbstgefühl ist Weltverbundenheit, das grundlegende männliche Selbstgefühl ist Separatheit“ (ebd., S. 220). Diese Überlegungen bilden auch einen theoretischen Hintergrund für eine vermeintliche Dualität zwischen

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4 Entwicklungspsychologische Konzepte

männlicher Sach- und weiblicher Beziehungsorientiertheit (vgl. Tillmann, 2010, S. 93, bzgn. auf Hagemann-White, 1998).95 Fast (vgl. 1991, S. 97ff.) entwickelt eine eigene psychoanalytische Perspektive auf die Entstehung von Geschlechtsidentität. Dabei identifiziert sie Schwächen in Freuds Überlegungen und versucht sie durch Neuformulierungen zu überwinden. Gleichzeitig ergänzt sie ihre Konzeptualisierungen durch kognitionspsychologische Anteile (vgl. Kapitel 4.3). Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die von Freud als narzisstisch beschriebene Phase bis zum Ende des zweiten Lebensjahres. In der narzisstischen Identitätserfahrung erlebt sich das Kind als Einheit mit seiner Erfahrung. Daraus ergibt sich die Illusion von Omnipotenz und primärer Kreativität: Es wird nur gedacht, was gerade geschieht, und es ist nicht vorstellbar, dass Dinge außerhalb der eigenen Wahrnehmung existieren. Die Realität scheint von der eigenen Vorstellung bestimmt und von ihr erschaffen. Empirische Befunde belegen, dass das kindliche Handeln – anders als Freud annimmt – nicht nur Affektabfuhr, sondern von Beginn des Lebens an Interaktion mit der Umwelt und vor allem mit der Mutter als primärer Bezugsperson ist.96 Ein Junge in der narzisstischen Phase ist physiologisch objektiv männlich und wird nach Meinung von Fast (vgl. ebd., S. 44) auch entsprechend sozial geprägt. Das System der Zweigeschlechtlichkeit ist ihm jedoch nicht bewusst. Er kennt zwar männlich als das einzige Geschlecht, sieht es aber als Rahmen, der alle Ausprägungen einschließt. Dadurch kann er männliche und weibliche Eigenschaften in sein Selbstgefühl integrieren. Er identifiziert sich mit seiner Mutter und glaubt unter Umständen, selbst Babys bekommen zu können (vgl. ebd., S. 48). Der absolute Narzissmus und die damit verbundene Selbsterfahrung werden von den ersten Lebenstagen an modifiziert (vgl. ebd., S. 99ff., bzgn. 95

Innerhalb der Tandem-Studie, aus der auch das Datenmaterial der vorliegenden Arbeit stammt, wurden Bastelsituationen mit Kindern und Erwachsenen analysiert. Als eines der wenigen signifikanten geschlechtsspezifischen Ergebnisse zeigte sich eine Präferenz für die Herstellung von Objekten, wie z.B. Fahrzeuge oder Häuser, durch Männer und Jungen, während Frauen und Mädchen bevorzugt Subjekte, wie Puppen oder Tiere, herstellten. Diese Tendenz verstärkte sich in gleichgeschlechtlichen Situationen zwischen Jungen und Männern bzw. Mädchen und Frauen (vgl. Brandes et al., 2016, S. 90). 96 Konzeptualisierungen dieser Annahme werden in Kapitel 6.5.3 erläutert.

4.2 Psychoanalytische Konzepte

113

auf Piaget, o. J.). Dabei ergeben sich zwei Entwicklungsrichtungen: Einerseits werden Erfahrungen, wie z.B. Betrachten und Greifen eines Ringes, in neue Teilzustände des Selbst in Bezug auf Objekte differenziert und neu geordnet. Dadurch löst sich das Selbst des Kindes schrittweise aus dem ganzheitlichen Erleben. Die zweite Entwicklungsrichtung betrifft die Erfahrung von Omnipotenz und primärer Kreativität. Ab dem sechsten Monat zeigen Säuglinge Anzeichen von Intentionalität im Umgang mit Objekten. Davon ausgehend erkennen sie nach und nach deren eigene „Aktionsmodi“, wie Rollen oder Schaukeln, die unabhängig von ihrer Absicht bestehen. Die Täuschung der Omnipotenz wird überwunden. Aus der primären Kreativität entstehen die Anfänge symbolischen Denkens, wenn die Existenz von Objekten bewusst bleibt, obwohl sie aus dem Blickfeld verschwunden sind. Die beginnende Selbstwahrnehmung als Junge am Ende der narzisstischen Phase im Alter von ungefähr zwei Jahren beendet die gleichwertige Übernahme männlicher und weiblicher Dispositionen und Identifikationen. Das Selbsterleben wird durch die Erkenntnis dieser Grenze in die komplementären Kategorien männlich und weiblich differenziert. „Junge“ wird von der auf das Kind angewendeten diffusen Bezeichnung zum explizit geschlechtstypischen Konzept, das es in Beziehungen weiterentwickelt. Geschlechtsidentität entsteht hier als Differenzierungserfahrung in Interaktionen: „Die narzisstische Weiterentwicklung von Männlichkeit und Weiblichkeit innerhalb des Selbst wird durch eine Entwicklung innerhalb von Objektbeziehungen ersetzt“ (ebd., S. 45). Dabei ist der Ausgangspunkt keine biologisch bestimmte genitale Erfahrung, wie Freud annahm, sondern eine kognitive Entwicklung: „Die bei Kindern beobachtbare Intensivierung des Interesses an ihren Genitalien ist nicht auf körperliche Veränderungen zurückzuführen, sondern darauf, daß sie sie im Hinblick auf ihr Geschlecht zu kategorisieren beginnen“ (ebd., S. 93). Vor diesem Hintergrund entwirft Fast (vgl. ebd., S. 45f., 54) ein neues Bild der ödipalen Phase. Der im Ödipuskomplex enthaltene Konflikt und die sich daraus ergebende Identifikation des Jungen mit dem Vater ist dabei nur noch der Hintergrund eines interaktiven Differenzierungsprozesses. Alle möglichen Konstellationen zu beiden Eltern und im gesamten weiteren Realitätskontext zu anderen Erwachsenen oder Kindern und in Beziehung zu medialen Figuren werden so lange erprobt, bis stabile

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4 Entwicklungspsychologische Konzepte

Beziehungsrepräsentanzen entstanden sind. Es geht nicht mehr um die Angst vor möglicher Kastration oder – im Falle des Mädchens – um die Erkenntnis eines vermeintlichen weiblichen Defizits. Die angebliche Kastrationsangst des Jungen bezieht sich weniger auf den drohenden Verlust seines Penis, sondern auf die Aufgabe weiblicher Attribute, wie z.B. Gebärfähigkeit, die er nun als außerhalb seiner Selbstrepräsentanzen definieren muss. Nach diesem kurzen Einblick in zwei Weiterentwicklungen der psychoanalytischen Theorie wird sie im folgenden Abschnitt kritisch auf mögliche Grenzen ihrer Deutungsweite geprüft. 4.2.4

Deutungsweite

Brandes (vgl. 2002, S. 28ff.) sieht in der Peniszentriertheit der Freud’schen Perspektive den Ausgangspunkt für verschiedene wissenschaftliche Irrtümer. Der männliche Entwicklungsweg erscheint geradlinig. Die weibliche „Variante“ ist nur eine Abweichung auf der Grundlage eines Handicaps. Unabhängig davon, dass diese männliche Überheblichkeit an sich nicht haltbar ist, führt die physiologische Einengung in Bezug auf Triebspannungen weitergehend dazu, dass die sozialisatorisch-interaktiven Anteile der geschlechtlichen Entwicklung vernachlässigt werden. Die identifikatorische Beziehung zur Mutter als primäre weibliche Bezugsperson und die damit einhergehenden Konflikte werden übersehen. Die Peniszentriertheit lässt die zweifelhafte Konstruktion des Ödipuskomplexes aus Freuds Perspektive zudem natürlich erscheinen. Seine Unvermeidbarkeit ist aber nicht haltbar. Darüber hinaus übersieht Freud die eigene soziale Symbolwirkung der Geschlechtsorgane, die in alle Interaktionen mit einfließt, da er nur in die entgegengesetzte Richtung alle Phallus-Symbole auf den Penis zurückführt. Die Wechselwirkung von biologischen und nichtbiologischen Homologien kann daher nicht erfasst werden (vgl. Bourdieu, 1997, S. 174). Trotz ihrer breiten Rezeption kann die psychoanalytische Theorie empirischer Überprüfung häufig nicht standhalten. Der Zusammenhang zwischen der Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil und der geschlechtstypischen Entwicklung des Kindes konnte nicht belegt werden. Kinder orientieren ihr Verhalten mehr an fürsorglichen oder vermeintlich mächtigen Personen, statt sich den Vorgaben eines als

4.2 Psychoanalytische Konzepte

115

bedrohlich wahrgenommenen Konkurrenten zu unterwerfen. Das würde aber die ödipale Identifikation im Sinne Freuds zumindest in Bezug auf Jungen implizieren. Chodorows Ausgangspunkt ist die Annahme einer unterschiedlichen prä-ödipalen Beziehung von Jungen und Mädchen zu ihren Müttern. Nach dieser Argumentation wäre eine engere Bindung von Töchtern an die Mutter im Vergleich zu Söhnen zu erwarten. Das konnte aber nicht empirisch bestätigt werden (vgl. Bussey & Bandura, 1999, S. 677). Darüber hinaus sollte sich die affektive Synchronizität in frühkindlichen Interaktionen zwischen Müttern und Töchtern von der zwischen Müttern und Söhnen unterscheiden. Diese Vermutung findet bisher ebenfalls keine empirische Grundlage (vgl. Maccoby, 2000, S. 180). Zudem sind die Forschungsbefunde, die auf eine unterschiedliche Behandlung von Jungen und Mädchen durch ihre Mütter deuten, im Allgemeinen nicht besonders ausgeprägt (vgl. Fausto-Sterling, Garcia Coll, & Meghan Lamarre, 2011a, S. 6f.; Kapitel 5.2). Eine kritische Einordnung der psychoanalytischen Konzepte ist ein schwieriges Unterfangen. Sie beziehen sich meist auf klinisches Fallmaterial, das die beschriebenen Annahmen illustrieren kann. Andererseits beruht die experimentelle entwicklungspsychologische Forschung auf Versuchs-Statistiken. Die haben zwar eine große Überzeugungskraft. Es bleibt aber unsicher, ob diese experimentellen Operationalisierungen den psychoanalytischen Überlegungen und insbesondere den frühkindlichen Erfahrungen von Jungen und Mädchen entsprechen.97 In Bezug auf das von Maccoby (vgl. 2000, S. 101ff.) beschriebene Phänomen der Trennung in homogene Jungen- und Mädchengruppen bietet sich in Anschluss an die Überlegungen von Chodorow an, dass Jungen dadurch ihre auf Abgrenzung von Weiblichkeit orientierte Geschlechtsidentität sichern. Allerdings bleibt dabei unklar, warum manche Jungen sehr gern diese Struktur durchbrechen (vgl. Thorne, 1994, S. 59; Rohrmann, 2008, S. 63ff.). Hier deutet sich eine grundsätzliche Problematik von Theorien an, die ihre Erklärungsversuche auf Unterschiede zwischen

97

Die unterschiedlichen frühkindlichen Erfahrungen von Jungen und Mädchen, die Chodorow annimmt, müssen sich z.B. nicht unbedingt in unterschiedlichen Bindungsrepräsentationen niederschlagen, die (nur) eine weitere experimentelle Operationalisierung darstellen.

116

4 Entwicklungspsychologische Konzepte

den Geschlechtern aufbauen und damit binäre Konstruktionen vertiefen, die bei genauerer Betrachtung weniger eindeutig sind: Whetted on difference, the theories are not fully satisfactory unless they can also account for patterns of no difference; the occasions when girls and boys are together are as much a component for gender relations as the occasions when girls and boys are apart. (Thorne, 1994, S. 59)

In diesem Zusammenhang ist die Kritik von Benjamin (vgl. 1993, S. 20f.) am oben erläuterten Konzept von Fast relevant. Sie stellt die darin postulierte Überwindung eines alle möglichen Identifikationen umfassenden narzisstischen Geschlechtes als notwendige, geradlinige Entwicklung in Frage: Optimale Entwicklung kann als Integration verstanden werden, die weder frühere Positionen nahtlos unter spätere subsumiert noch diese ersetzt. Eher erhält und verfeinert sie frühere Fähigkeiten, indem sie die Erscheinung früherer Strebungen verwandelt und ein flexibles Oszillieren zwischen verschiedenen Schichten der Erfahrung ermöglicht. (ebd., S. 23)

Eine solche Konzeptualisierung, die Identifikationen und Objektbeziehungen miteinander verknüpft, statt sie in eine Abfolge einzuordnen, könnte auch dem oben von Thorne formulierten Anspruch genügen. Es entstünde ein Spannungsfeld zwischen der tatsächlichen Selbstwahrnehmung, einer idealisierten Geschlechtsidentität und den Normen der Kultur (vgl. ebd., S. 21, bzgn. auf Goldner, 1991). Viele der ursprünglichen psychoanalytischen Vorstellungen Freuds – vor allem die Trieblehre oder seine Überlegungen zur ödipalen Phase – wirken aus heutiger Perspektive unwissenschaftlich (vgl. Tillmann, 2010, S. 96). Seine Theorie und ihre Weiterentwicklungen genießen aber weiterhin Anerkennung, da sie in Teilen eine hohe Erklärungskraft besitzen. Das gilt z.B. für das Modell innerpsychischer Instanzen, die Internalisierung eines „Über-Ich“ oder die Vorstellung einer ontogenetischen Abfolge von Reifungskrisen (vgl. ebd., S. 94f., 132). Die zunehmende Öffnung von einer Beschreibung innerer Welten hin zur Erklärung sozialer Prozesse über die Kernfamilie hinaus bietet vielversprechende Deutungsmuster. Rendtorff (2003, S. 52) sieht die interpretative Stärke psychoanalytischer Konzepte folgendermaßen:

4.3 Kognitionspsychologische und sozial-kognitive Theorien

117

Sie [die Psychoanalyse; MA] erwartet nicht, dass sich Menschen nach einem vernünftigen Plan entwickeln oder verhalten, der sich vollständig verstehen oder erklären ließe. Sie kann aber Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge anbieten, die zwar keine Vorhersagen ermöglichen, nach denen sich aber Konstellationen in ihrer Wirkung verstehen lassen oder die Dynamik von Situationen eingeschätzt werden kann.

Unabhängig der möglichen Irrtümer Freuds eröffnet die Psychoanalyse insbesondere durch ihre Weiterentwicklungen vielversprechende sozialwissenschaftliche Deutungsmöglichkeiten. Wesentliche Herausforderung psychoanalytischer Theoriebildung bleibt die Frage nach der Bedeutung des geschlechtlichen Körpers und der unterschiedlichen Beziehungskonstellationen zu Mutter und Vater für die psychische Entwicklung des Individuums (vgl. ebd., S. 55). Im Anschluss wird ein weiterer signifikanter Bereich psychologischer Theoriebildung erläutert. Es handelt sich um Konzepte, in denen kognitive Prozesse des Individuums hervorgehoben werden. 4.3

Kognitionspsychologische und sozial-kognitive Theorien

4.3.1

Vorbemerkung

In den folgenden Abschnitten werden kognitionspsychologische und sozialkognitive Konzepte vorgestellt. Die entsprechenden Theoriestränge erscheinen in aktuellen Überblicksveröffentlichungen weiterhin als getrennte „Schulen“ (vgl. Tillmann, 2010, S. 97ff., 111ff.). Dabei wird das Paradigma einer kognitiven Selbstsozialisation der Grundannahme sozialer Bestimmtheit des Menschen gegenübergestellt. Das entspricht zwar dem Ursprung der Konzepte, vernachlässigt aber den Stand des Wissenschaftsdiskurses, der in den letzten Jahren zu einer Annäherung der Perspektiven geführt hat. Bereits in Maccobys (vgl. 2000, S. 183ff., 217ff.) Ausführungen werden die kognitionspsychologischen und sozial-kognitiven Konzepte nicht in diesem Sinne getrennt. Kognitive Selbstregulation und sozial angeregte „modeling“-Phänomene gehören aus ihrer Sicht gleichermaßen zur kognitiven „Selbstsozialisierung“, während sich die sozialisatorischen Anteile in ihren Ausführungen weitgehend auf die Einflüsse der Eltern beziehen. Diese Zusammenführung ist logische

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4 Entwicklungspsychologische Konzepte

Konsequenz aus der Einsicht in die Notwendigkeit einer umfassenderen Perspektive, die kognitive und soziale Aspekte einschließt. Zur Annäherung werden die einzelnen Theoriestränge anschließend separat eingeführt und bewertet, bevor auf die aktuellen Überlegungen eingegangen wird. 4.3.2

Jean Piaget: Grundlagen der Kognitionspsychologie

Für die kognitionspsychologische Entwicklungspsychologie steht die Perspektive des Kindes als aktiv seine Sozialisation gestaltendes Individuum im Mittelpunkt (vgl. Lammerding, 2004, S. 97ff.). Begründer dieser theoretischen Perspektive war Jean Piaget.98 Piaget (1983; Piaget & Inhelder, 1991; vgl. Tillmann, 2010, S. 112f.) analysierte die Herausbildung konsistenter Begriffe und logischer Denkoperationen bei Kindern. Grundlegend war die Annahme, dass zwischen den kognitiven Möglichkeiten im Umgang mit Herausforderungen und den Ansprüchen der Umwelt im Laufe der Individualentwicklung wiederholt ein Ungleichgewicht entsteht. Durch den Ausbau der kognitiven Strukturen auf einer Ebene höherer Abstraktion werden die Deutungsweite der eigenen Perspektive und die äußeren Anforderungen wieder in Einklang gebracht. Treibende Kraft in dieser Entwicklung ist das Bestreben des Individuums nach einem Gleichgewicht zwischen inneren Strukturen und äußeren Anforderungen in der „Äquilibration“. Die körperliche Entwicklung des Kindes – z.B. die Ausbildung von Hirnstrukturen – ist nur der Hintergrund des Prozesses. Die Subjektentwicklung wird nicht durch Triebdynamik angeregt. Lernen ist auch kein passiver Prozess auf der Grundlage von Verstärkungen und Imitationen anderer. Im Mittelpunkt steht die aktive Aneignung der Umwelt durch das Kind.99 Mit dieser 98

Der schweizerische Psychologe Jean Piaget (1896-1980) entwickelte seine Theorie der kognitiven Entwicklung auf der Grundlage umfangreicher Untersuchungen des Problemlösungsverhaltens von Kindern. Dabei bezog er sich primär auf die gegenständliche Umwelt. Piagets Methoden enthielten keine statistische Auswertung, sondern beruhten vor allem auf Beobachtungen (vgl. Hillmann, 2007, S. 678; Tillmann, 2010, S. 111f., 131). 99 Die Dynamik dieser Entwicklung steht aber in Zusammenhang mit neurophysiologischen Prozessen: „Der Grund für diese Rastlosigkeit, insbesondere des noch ganz jungen, unerfahrenen Gehirns: Jeder Lernerfolg führt zu einem Glücksgefühl, welches, wie im Tierexperiment gezeigt werden konnte, über die Ausschüttung körpereigener ‚Glücksdrogen‘

4.3 Kognitionspsychologische und sozial-kognitive Theorien

119

Perspektive auf die menschliche Entwicklung war eine Distanzierung von der Psychoanalyse und den ursprünglichen lerntheoretischen Überlegungen verbunden (vgl. Piaget, 1983, S. 54). Piaget (vgl. ebd., S. 53ff.; Ginsburg & Opper, 1982, S. 32ff.) entwickelt einen strukturgenetischen Ansatz, d.h. komplexe Strukturen werden von elementaren aus aufgebaut. Die Entwicklung des Subjekts geschieht in Abhängigkeit seiner Fähigkeit, seine Aktivitäten auf die Objekte der Außenwelt zu richten und sich innerlich mit ihnen auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung umfasst zwei komplementäre Teile: „Assimilation“ und „Akkommodation“. „Assimilation“ bedeutet, dass Erfahrungen nicht als bloße Reiz-Reaktion entstehen, sondern vom Individuum aus seinen vorhandenen kognitiven Strukturen entwickelt werden. Ein unbekannter Gegenstand wird von einem Kind ergriffen wie andere, bereits bekannte Objekte vorher. So kann das Kind z.B. eine Klapper wie einen Ball assimilieren. Neue Umwelteinflüsse lassen sich aber mit den bisher verinnerlichten Strukturen nicht mehr vollständig deuten. Sie müssen erweitert – akkommodiert – werden. Die Klapper rollt nicht wie der Ball und bei Berührungen macht sie Geräusche. Nach der „Akkommodation“ ist eine erweiterte „Assimilation“ möglich. Das kognitive System befindet sich in ständiger Interaktion mit der Umwelt. Dabei besteht ein Gleichgewichtszustand, solange neue Erfahrungen ohne große Anstrengungen in die bisherigen Strukturen integriert werden können. Ist das nicht mehr möglich, versucht das Kind sie zu erweitern. Die Balance zwischen dem kognitiven System und den äußeren Erfahrungen wird in einem Prozess der „Äquilibration“ wieder hergestellt: „In seiner Entwicklung schreitet das Kind von Zuständen mit einem geringeren Maß an Gleichgewicht zu solchen fort, die ein höheres Maß aufweisen. Das Streben nach Gleichgewicht führt dazu, daß Zusammenhang und Stabilität zunehmen“ (Ginsburg & Opper, 1982, S. 219). So wird z.B. die Anwendung von Klassifikationssystemen im Denken eines erwachsenen Menschen, der alle sechsbeinigen Tiere unter der Kategorie „Insekten“ assimilieren kann, das kognitive System weitaus mehr vermittelt wird (Stark/Bischof/Scheich 1999, 2000, 2001). Das kindliche Gehirn ist von Natur aus ‚lernsüchtig‘, es sucht nach dem ‚Kick‘ und nutzt hierzu seine offenbar unerschöpfliche Leistungskapazität“ (Braun & Meier, 2004, S. 507, Hvhg. i. O.).

120

4 Entwicklungspsychologische Konzepte

ausbalancieren als die alleinige Berücksichtigung des Sichtbaren durch ein Kleinkind, wodurch jeder Käfer zu einer Sensation wird. DenkHerausforderungen können aber nur bewältigt werden, wenn das Kind die damit verbundenen Verunsicherungen aushalten und auf einer höheren Ebene wieder zu seinem Gleichgewicht finden kann (vgl. ebd., S. 219ff.).100 Ausgehend von diesen Grundsätzen wird eine Abfolge von vier Phasen beschrieben, die aufeinander aufbauen und logisch voneinander getrennt sind. Individuelle Unterschiede bestehen nur in der Geschwindigkeit, in der diese durchlaufen werden, und im höchsten Niveau, das vom Individuum erreicht werden kann (vgl. Piaget & Inhelder, 1991, S. 151; Tillmann, 2010, S. 113). Auf der sensomotorischen Stufe bis zum Ende des zweiten Lebensjahres entwickelt das Kleinkind einfache Ansätze des Denkens und Handelns zum Erfassen seiner Umgebung. Von besonderer Bedeutung ist das Erreichen der Objektpermanenz zwischen dem sechsten und dem achten Monat. Das Kind verfügt dann über eine kognitive Repräsentanz von Gegenständen. Ihr Vorhandensein bleibt ihm bewusst, auch wenn es sie nicht mehr sieht (vgl. Ginsburg & Opper, 1982, S. 69ff.). Im Alter von ungefähr zwei Jahren ist das Kind fähig, sich mit Menschen und Objekten seiner näheren Umgebung auseinanderzusetzen. Es kann Gegenstände zur Umsetzung seiner Ziele zweckorientiert einsetzen. Das Kind begreift die Eigenschaften von Objekten durch Experimentieren praktisch. Diese Fähigkeiten beschränken sich allerdings auf aktuell erfahrbare Dinge. Sensomotorisches Denken ermöglicht zwar eine kognitive Objektpermanenz, aber noch nicht symbolisches Denken (vgl. ebd., S. 95). Erst auf der prä-operationalen Stufe entwickelt das Kind zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr symbolische Repräsentationen von Objekten und Ereignissen, die außerhalb seiner gegenwärtigen 100

Nach diesem Prinzip provozieren Erfahrungsdiskrepanzen kognitive Entwicklungen. Tillmann (vgl. 2010, S.118) beschreibt folgendes Beispiel: Ein Vorschulkind nimmt an, dass Menschen im Zug schrumpfen, weil die sich entfernenden Waggons kleiner werden. Diese Annahme erscheint aus seiner Perspektive logisch. Das kognitive Gleichgewicht wird aber gestört, wenn es selbst im Zug mitfährt und feststellt, dass die anderen Reisenden nicht kleiner werden. Beide Erfahrungen müssen im Prozess der Äquilibration in Einklang gebracht werden. Das Kind erweitert sein Bild von der Welt, indem es eine Vorstellung von Objektkonstanz bei gleichzeitig optischer Veränderung entwickelt.

4.3 Kognitionspsychologische und sozial-kognitive Theorien

121

Wahrnehmung liegen. Es kann sich mit abwesenden Dingen kognitiv auseinandersetzen und sein Denken vom „hier und jetzt“ lösen. In dieser Phase entwickelt sich die Sprache des Kindes. Es ist nun in der Lage, Wörter stellvertretend für nicht konkret anwesende Dinge zu verwenden (vgl. ebd., S. 110f.). In seinem Denken und Sprechen bleibt es aber in Egozentrik gefangen. Die eigenen Gedanken und Gefühle gelten universell. Das Kind kennt dabei nur eine Perspektive bzw. nur eine Dimension in seinen Wahrnehmungen und Überlegungen. Dementsprechend können auch Geschichten mit mehreren Standpunkten nicht nacherzählt werden. Das prä-operationale Denken ist darüber hinaus von magischen Vorstellungen geprägt. Das Kind nimmt Kausalzusammenhänge zwischen zeitlich und räumlich aufeinander treffenden Ereignissen an (vgl. Tillmann, 2010, S. 114ff.).101 Die begrenzte Wahrnehmungsperspektive belegt Piaget (vgl. Piaget & Inhelder, 1991, S. 101f.; Tillmann, 2010, S. 114f., bzgn. auf Pulaski, 1987) mit einem Experiment: Wenn man aus einer von zwei gleichen Tonkugeln eine Wurst rollt, nehmen Kinder ungefähr bis zum siebenten Lebensjahr an, dass die Wurst eine größere Menge Ton enthält als die Kugel, obwohl sie vor ihren Augen aus einer identischen Kugel und damit aus der gleichen Menge Ton gerollt wurde. In ihrem prä-operational begrenzten Denken berücksichtigen Kinder nur die Information über die größere Länge und schlussfolgern daraus auf das gesamte Objekt. Wird die Wurst wieder zur Kugel gerollt, ist die Menge Ton ihrer Meinung nach wieder gleich. Die Erhaltung von Materie trotz äußerer Veränderung und auch die mögliche Umkehr solcher Prozesse sind noch nicht vorstellbar. Die prä-operationale Entwicklung ermöglicht zwar symbolisches Denken, die kognitiven Vorgänge bleiben aber eindimensional und folgen oft keiner Logik. Die Phase des konkreten Operierens beginnt mit ungefähr sieben Jahren. Egozentrik und magische Vorstellungen werden auf dieser Stufe überwunden. Die Konstanz von Materie und die Umkehrbarkeit ihrer Veränderung sind nun vorstellbar. In der Mathematik können elementare Operationen durchgeführt werden. Die Perspektiven anderer Menschen sind denkbar. Das Kind operiert aber nur mit den konkret erfahrbaren 101

Z.B. werden Zusammenhänge zwischen Donner und Regen hergestellt (vgl. Tillmann, 2010, S. 115, bzgn. auf Pulaski, 1987).

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4 Entwicklungspsychologische Konzepte

Zusammenhängen (vgl. Tillmann, 2010, S. 116). Der volle Umfang der Möglichkeiten einer bestimmten Konstellation kann nicht überblickt werden: Auf der Stufe der konkreten Operationen berücksichtigt das Kind die Möglichkeiten nicht auf einer theoretischen Ebene, arbeitet dafür aber sehr effizient mit den konkreten und realen Dingen und hat die Möglichkeit, auch auf neue Dinge anzuwenden, was es an bekannten erprobt hat. (Ginsburg & Opper, 1982, S. 254)

Auch hier offenbart sich die Struktur des Denkens in praktischen Experimenten. Kinder sollten die Einflussfaktoren auf die Schwingungsgeschwindigkeit eines Pendels oder auf die Biegung verschiedener Angelruten untersuchen. Auf der konkret-operationalen Stufe können sie zwar mit Länge und Gewicht des Pendels logisch operieren, aber keine umfassenden Hypothesen entwerfen. Sie erkennen zwar Zusammenhänge, entdecken sie aber nur, wenn sie sich ihnen direkt offenbaren (vgl. ebd., S. 253f.). Das beginnende logische Denken kann also im Wesentlichen nur auf konkrete Erfahrungen bezogen werden. Allgemeine kognitive Abstraktionen dieser Erfahrungen auf einer umfassenderen Theorieebene sind noch nicht möglich (vgl. Tillmann, 2010, S. 116f.). Mit ungefähr elf bis zwölf Jahren beginnt das formale Operieren als vierte Stufe der Entwicklung des Denkens. Zu Beginn eines Experimentes können allgemeine Hypothesen entwickelt und davon ausgehend deduktiv entsprechende Operationalisierungen entworfen werden. „Beim Jugendlichen hat das Mögliche gegenüber der Realität den Vorrang. Wenn man ihn vor ein wissenschaftliches Problem stellt, beginnt er nicht damit, die empirischen Ergebnisse zu beobachten, sondern damit, sich zu überlegen, welche Möglichkeiten der Situation innewohnen“ (Ginsburg & Opper, 1982, S. 254). Außerdem können Kombinationen von Einflussfaktoren in einem Experiment berücksichtigt werden, während Kinder auf der konkret-operationalen Stufe meist nur die Wirkung jedes Faktors einzeln betrachten. Das formal-operationale Denken kennzeichnen also hypothetische und kombinatorische Möglichkeiten (vgl. ebd., S. 254f.). Abstraktionen auf einer Meta-Ebene sind möglich. Die Theorie hinter der Praxis wird denkbar. Nun kann z.B. der Aufbau eines Textes unabhängig vom Inhalt reflektiert

4.3 Kognitionspsychologische und sozial-kognitive Theorien

123

werden. Formales Operieren bedeutet symbolisches, logisches und auch allgemein abstraktes Denken. Auf dieser Stufe ist die kognitive Entwicklung weitgehend abgeschlossen. Dieses Reflexionsniveau ist für die Bewältigung der Identitätsgestaltung in der Adoleszenz unbedingt notwendig (vgl. Piaget & Inhelder, 1991, S. 151; Tillmann, 2010, S. 117). Kohlberg (vgl. 1974, S. 17f., bzgn. auf Piaget, 1960) formuliert eine grundlegende „Doktrin der kognitiven Stufen“. Mit diesen vier Hypothesen ist eine grundsätzliche Abgrenzung zu anderen Phasenmodellen verbunden:  





Qualitative Unterschiede: Auf jeder Stufe wird eine besondere Form des Denkens ausgeprägt. Jede kognitive Herausforderung wird entsprechend der Entwicklungsstufe bewältigt. Invarianz der Sequenzen: Die Phasen werden nacheinander durchlaufen. Es gibt kein Überspringen und keine Rückschritte. Nur die Geschwindigkeit des Prozesses kann durch kulturelle Einflüsse schwanken. Strukturierte Ganzheit: Jeder Sequenz entspricht eine strukturierte Ganzheit des Denkens, die auf alle Herausforderungen gleichermaßen angewendet wird, so auch auf die Vorstellungen über das eigene Geschlecht. Hierarchische Integration: Das spezifische Denken einer Sequenz ist nicht völlig ausgelöscht, sondern wird hierarchisch in die neuen Fähigkeiten eingefügt. Konkretes Denken ist in der formalen Phase weiter möglich, die höchste erreichbare Ebene des Denkens wird aber angestrebt.

Diese Hypothesen beschreiben allgemeine Grundsätze der Wechselwirkung zwischen der inneren Realität des Individuums und seiner Umwelt. Im Zentrum der Individualisierung steht der Ausbau der kognitiven Fähigkeiten. Für andere Bereiche der Persönlichkeit lässt sich aber ein ähnlicher Verlauf belegen. Empirische Untersuchungen, z.B. zur moralischen Urteilsfähigkeit, zum sozialen Verständnis und zur Geschlechtersozialisation, bestätigen das. Die kindlichen Kompetenzen entwickeln sich aber zu individuell sehr verschiedenen Zeitpunkten, oft auch zeitiger als von Piaget angenommen (vgl. Tillmann, 2010, S. 120).

124

4 Entwicklungspsychologische Konzepte

Die kognitionspsychologischen Annahmen wurden weiter spezifiziert und insbesondere auch auf die Entwicklung der Geschlechtsidentität übertragen, worauf im Anschluss vertieft eingegangen wird. 4.3.3

Lawrence Kohlberg: Kognitionspsychologie und Geschlechtsidentität

Lawrence Kohlberg102 (1974) entwarf ausgehend von Piagets Überlegungen eine kognitive Theorie der Entstehung von Geschlechtsidentität. Grundlage ist die Erkenntnis der Kontinuität der eigenen Geschlechterkategorie beim Übergang von der prä-operationalen zur konkret-operationalen Phase. Kinder entwickeln ausgehend von dieser Selbstzuordnung durch aktive Strukturierung ihrer Erfahrung von Körper und Umwelt ihre Geschlechtsrollenkonzepte. Sie übernehmen Einstellungen und Verhaltensmuster nicht direkt, sondern bewerten sie im Rahmen ihrer kognitiven Entwicklung neu (vgl. ebd., S. 339f.; Niederbacher & Zimmermann, 2011, S. 166ff.). Durch Annahme von „Geschlechtsrollen-Attitüden“ wird die einmal erkannte Geschlechtsidentität fortlaufend erweitert. Dieser Prozess verläuft weitgehend unabhängig vom elterlichen Einfluss und von der Verfügbarkeit eines gleichgeschlechtlichen Elternteils. Kinder imitieren Personen, die sie in ihrer kognitiven Vorstellung als ähnlich zu ihrem eigenen Ich wahrnehmen (vgl. Kohlberg, 1974, S. 399ff., 459ff.). Auch Kohlberg (vgl. ebd., S. 341, 359) grenzt sich mit seinen Überlegungen gegen die Psychoanalyse und die ursprüngliche Lerntheorie ab. Geschlechtsidentität entsteht nicht als Folge von Triebdynamik oder von passiver Wiederholung, sondern im aktiven Umgang des Kindes mit seinen Umwelterfahrungen und durch die Bewältigung der sich daraus ergebenden kognitiven Entwicklungsanforderungen. Zu Beginn der prä-operationalen Stufe am Ende des zweiten Lebensjahres beginnen Kinder, Bezeichnungen wie „Junge“ und „Mädchen“ zu verwenden. Sie nutzen sie aber noch nicht als Überbegriff, sondern vor allem zur Benennung anderer. Ab dem dritten Lebensjahr ordnen sie sich Das Werk des US-amerikanischen Psychologen Lawrence Kohlberg (1927-1987) umfasst vor allem Beschreibungen der Entwicklung des moralischen Denkens und Urteilens auf der Grundlage der Entwicklungspsychologie von Jean Piaget (vgl. Hillmann, 2007, S. 429). 102

4.3 Kognitionspsychologische und sozial-kognitive Theorien

125

selbst einer Geschlechterkategorie zu. Vierjährige bestimmen das Geschlecht einer Person aber meist nach äußerlichen Eigenschaften, wie z.B. der Haarlänge. Daher sind sie davon überzeugt, dass es sich entsprechend dieser Merkmale verändern kann. Es erscheint ihnen auch möglich, als Erwachsene nach ihrer Entscheidung Mutter oder Vater zu werden. Hier zeigt sich die prä-operationale Unsicherheit in Bezug auf die Konstanz von Objekten. Das im Tonkugel-Experiment deutlich werdende kognitive Prinzip wird auf andere Merkmale übertragen: Kinder im Alter von vier Jahren sind überwiegend der Meinung aus einer Katze würde ein Hund, wenn man ihr den Schnurrbart abschneidet (vgl. ebd., S. 355). Im prä-operationalen Denken werden also nicht nur quantitative Merkmale, wie die Menge des Tons, sondern auch qualitative Eigenschaften, z.B. die Art eines Tieres oder das Geschlecht einer Person, noch nicht als konstant und unabhängig von anderen Aspekten wahrgenommen. Von der Veränderbarkeit bestimmter Eigenschaften wird auf das gesamte Objekt geschlossen. Auch die eigene Zugehörigkeit zu einer Geschlechterkategorie erscheint dementsprechend formbar (vgl. Tillmann, 2010, S. 121f.). Gleichzeitig verfolgen die Kinder die Erscheinung und das Verhalten von Erwachsenen. Männer sind häufig größer und nehmen vermeintlich mächtigere Positionen ein. Entsprechend der kognitionspsychologischen Annahme einer strukturierten Ganzheit des Denkens auf jeder Entwicklungsstufe können die Kinder aus ihrer eindimensionalen präoperationalen Perspektive auf eine allgemeine männliche Überlegenheit schließen. Unabhängig vom Verhalten der Bezugspersonen oder der Zusammensetzung der Familien – also auch bei Alleinerziehenden – entstehen Geschlechterstereotype so bereits vor der Ausbildung der eigenen Geschlechtsidentität (vgl. ebd., S. 124f.).103 Zwischen dem dritten und siebenten Lebensjahr beginnen Kinder zu begreifen, dass äußerliche Veränderungen die Zugehörigkeit zu einer Geschlechterkategorie nicht beeinflussen können. Kohlberg (1974, S. 354f.) deutet das entsprechend der allgemeinen kognitionspsychologischen Annahmen Piagets: „Unter dem Gesichtspunkt der kognitiven Entwicklung ist die Stabilisierung der Geschlechtsidentitätskonzepte lediglich ein Aspekt 103

In Kohlbergs Überlegungen ist die Überlegenheit des Männlichen eine universelle Gegebenheit, die sich zwangsläufig in den kindlichen Stereotypen niederschlägt (vgl. Tillmann, 2010, S. 128f.).

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4 Entwicklungspsychologische Konzepte

der allgemeinen Stabilisierung der Konstanzen physischer Objekte, die zwischen dem 3. und dem 7. Lebensjahr stattfindet.“ Diese Erkenntnis am Übergang zur konkret-operationalen Phase ist aus kognitionspsychologischer Perspektive der entscheidende Ausgangspunkt der individuellen Geschlechtsidentität. Was zu dieser grundlegenden Selbstzuordnung passt, wird aufgewertet und angenommen. Kohlberg (ebd., S. 344) begründet das so: „Fundamentale Selbstkategorisierungen determinieren fundamentale Wertungen. Sobald der Knabe sich stabil als männlich kategorisiert hat, wird er jene Objekte und Akte positiv bewerten, die mit seiner Geschlechtsidentität übereinstimmen.“ Das Kind wird damit zum gestaltenden Zentrum seiner Sozialisation. Es folgt dabei einer konkret-operationalen Geschlechtertheorie. Als Ergebnis dieser Entwicklung prägen Jungen und Mädchen im Alter von ungefähr sieben Jahren häufig besonders stereotype Annahmen über die Eigenschaften der Geschlechter aus. Mit dieser Tendenz geht eine Aufwertung der eigenen Geschlechterkategorie einher: Unsere Ansicht, daß diese Konzepte maskulin/feminine Wertungen hervorrufen, beruht auf der Annahme, daß das Kind ‚spontane‘ Einschätzungen seines eigenen Wertes und des Wertes anderer anstellt und daß es die ‚natürliche‘ Neigung hat, sich selbst Wert beizumessen, nach Wert zu streben, seinen eigenen Wert mit dem anderer zu vergleichen und den Wert anderer einzuschätzen. (ebd., S. 373, Hvhg. i. O.)

Jungen heben diese Selbstaufwertung deutlicher hervor. Kohlberg vermutet, dass die von Kindern angenommene generelle Überlegenheit von Männern bei Mädchen der Aufwertung der eigenen Geschlechterkategorie entgegenwirkt. Mit dieser Annahme können empirische Befunde für ein geringeres weibliches Selbstbewusstsein erklärt werden (vgl. ebd., S. 393; Tillmann, 2010, S. 127, bzgn. auf Horstkemper, 1987). Auf der konkret-operationalen Stufe wird Geschlecht als eine allgemeine Kategorie denkbar: Ich und alle anderen Männer bzw. Frauen. Gleichgeschlechtliche Bezugspersonen können zu Modellen für die eigene Geschlechtsidentität werden (vgl. Tillmann, 2010, S. 125f.). Kohlberg (1974, S. 460) betrachtet die Identifikation aber als von innerfamiliären Beziehungen weitgehend unabhängig: „Die Identifikation mit einer gleichgeschlechtlichen Person und die Bildung von GeschlechtsrollenWertungen können zwar durch ein geeignetes Elternverhalten gefördert und

4.3 Kognitionspsychologische und sozial-kognitive Theorien

127

konsolidiert werden, doch dieser Prozeß scheint ohne die Anwesenheit eines gleichgeschlechtlichen Elternteils und unter verschiedenartigsten Erziehungsbedingungen stattzufinden.“ Im elften oder zwölften Lebensjahr mit dem Beginn des formalen Operierens beginnen Kinder auf einer Ebene verstärkter Abstraktion über die Geschlechter nachzudenken. Stereotype können aufgebrochen und Eigenschaften differenziert werden (vgl. Tillmann, 2010, S. 126f.). Auf diese Überblicksdarstellung der grundlegenden kognitionspsychologischen Annahmen in Bezug auf die Bildung der Geschlechtsidentität folgt eine kritische Einordnung ihrer Deutungsweite. 4.3.4

Deutungsweite der kognitionspsychologischen Perspektive

Zuerst soll in Bezug auf die von Maccoby (vgl. 2000, S. 101) als wesentlich beschriebenen drei Phänomene der geschlechtstypischen Entwicklung – Bildung geschlechterhomogener Spielgruppen, unterschiedliche Interaktionsstile und asymmetrische Entwicklung – geprüft werden, ob sie auf der Grundlage dieser Theorie erklärt werden können. Lassen sie sich auf die Orientierung an einer kognitiven Repräsentanz zurückführen? Mit der Selbst- und Fremdkategorisierung ist zwar die Annahme einer gewisse Passung zu gleichgeschlechtlichen Spielpartnern oder -partnerinnen („so wie ich“) verbunden. Die zunehmende Präferenz und die dadurch entstehende Geschlechtertrennung sind aber möglicherweise Ergebnisse eines Gruppenprozesses, durch den eine jeweils gemeinsame Identität von Jungen und Mädchen entsteht. Zudem gleichen sich die verinnerlichten Geschlechterstereotype weitgehend. Trotzdem werden individuell davon abweichende Jungen oder Mädchen bevorzugt. Eine stärkere Stereotypisierung kann auch nicht in Zusammenhang mit einer zunehmenden Bevorzugung gleichgeschlechtlicher Spielpartner oder partnerinnen in Verbindung gebracht werden. Die Trennung der Gruppen lässt sich also nicht einfach als Folge kognitiver Selbstregulation erklären (vgl. ebd., S. 231f.). Darüber hinaus kann angenommen werden, dass Jungen und Mädchen ihre unterschiedlichen Interaktionsstile aus kognitiven Vorlagen für ihr Geschlecht entwickeln und davon ausgehend in entsprechend homogenen Gruppen zueinander finden. Sie verhalten sich aber bereits stereotyp, bevor

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4 Entwicklungspsychologische Konzepte

sie ein entsprechendes Konzept gebildet haben (vgl. Rohrmann, 2008, S. 108, bzgn. auf Campbell et al., 2002). Es ist zudem empirisch nur schwer zu klären, ob die Selbstregulation tatsächlich geschlechtlichen Stereotypen („Ich spiele gern Fußball, weil ich ein Junge bin und Jungen gern Fußball spielen.“) oder individuellen Vorlieben („Ich spiele gern Fußball, weil es mir Spaß macht.“) folgt (vgl. Maccoby, 2000, S. 218ff.). In Bezug auf die asymmetrische Entwicklung der Gruppenpräferenzen zeigt sich eine weitere Unklarheit. Auch hier kann nicht bewiesen werden, dass der zunehmenden Abgrenzung von Jungen eine entsprechende kognitive Entwicklung vorausgeht. Denken und Verhalten entwickeln sich eher parallel, statt in einer Kausalkette verknüpft zu sein (vgl. ebd., S. 233). Die geschlechtliche Sozialisation lässt sich nicht eindeutig auf einen kognitiven Prozess zurückführen. Viele der empirischen Befunde legen die Vermutung nahe, dass – wie im folgenden Abschnitt herausgearbeitet – soziale Beeinflussung der Kognition vorausgeht. Kritisch anzumerken ist zudem, dass die kognitionspsychologischen Deutungen der Entwicklung einer Geschlechtsidentität ebenfalls vor allem in eine stereotype Richtung weisen. In Bezug auf die Abweichungen im Zusammenhang mit den drei kindheitsspezifischen Phänomenen scheinen auch sie „überfragt“ (vgl. Thorne, 1994, S. 59). Abschließend soll auf einen Widerspruch verwiesen werden, der sich bisher vor allem aus der soziologischen Perspektive ergibt. Ethnomethodologische Befunde deuten darauf, dass das menschliche Verhalten vor allem dazu dient, die Definition einer sozialen Situation aufrechtzuerhalten (vgl. Kapitel 3.4.1). Die Beteiligten folgen dabei eher der affektiv-emotionalen Dynamik einer Interaktion als einer rationalen Abwägung. Collins (2004, S. 145) spricht daher von „micro-situational cognition“. Brandes (2002, S. 65, Hvhg. i. O.) argumentiert in ähnlicher Weise: „Die sinnliche Erfahrung und das gefühlsmäßige Erleben sind allemal gewichtiger und ‚authentischer‘ als das gesprochene Wort, und das, was intuitiv nahe liegt, ist nicht nur im Volksmund häufig die bessere Wahl gegenüber dem sorgsam Reflektierten.“ Das Denken ist affektiv-emotional rückgebunden und diese Verknüpfung entstammt einer bestimmten sozialisatorischen Erfahrung. Dieser Zusammenhang wird aus der kognitionspsychologischen Perspektive vernachlässigt. Individuelle kognitive Repräsentationen können also nicht als einzige Erklärungsgrundlage herangezogen werden (vgl. Rössel, 1999, S.

4.3 Kognitionspsychologische und sozial-kognitive Theorien

129

27; Collins, 2004, S. 144). Mit diesen Ausführungen ist deutlich geworden, dass auch die kognitionspsychologischen Überlegungen ungeklärte Widersprüche enthalten. In den folgenden Abschnitten werden sozialkognitive Konzepte erläutert. Innerhalb dieser entwicklungspsychologischen Entwürfe werden ebenfalls kognitive Prozesse berücksichtigt. Sie enthalten aber zudem explizit Beschreibungen von Formen sozialer Beeinflussung. 4.3.5

Kay Bussey und Albert Bandura: Sozial-kognitive Theorie

Die australische Psychologin Kay Bussey und ihr kanadischer Kollege Albert Bandura104 (Bussey & Bandura, 1999) beschreiben in ihrer „Social Cognitive Theory of Gender Development and Differentiation“ soziale Einflüsse und deren kognitive Verarbeitung durch das Individuum zu einem subjektiven Geschlechterkonzept. Der zweite Schwerpunkt ihrer Theorie ist die motivatorische Regulierung des angenommenen Verhaltens. Diese umfasst soziale und kognitive Aspekte. Damit soll erklärt werden, warum Männer und Frauen ihr Verhalten an „gender“-Konzepten ausrichten, während diese motivatorischen Prozesse in den kognitiven Überlegungen mit Selbstaufwertung oder dem Streben nach Schema-Konsistenz begründet und ansonsten theoretisch vernachlässigt werden (vgl. ebd., S. 694). „Gender“ ist hier ein Konzept für Rollen und Verhalten, das das Individuum aus den auf sich wirkenden sozialen Einflüssen für sich konstruiert und in seinen Handlungen aufgrund motivatorischer Prozesse umsetzt. Es umfasst Fähigkeiten, Interessen und Wertorientierungen. Bussey und Bandura (ebd., S. 684) sprechen von einer „biology-culture coevolution“: Die biologische und damit körperliche Bestimmtheit menschlicher Individuen beeinflusst ihre Entwicklung. Sie wird aber auch 104

Banduras Überlegungen galten zuerst als Erweiterungen der Lerntheorie. Deren Ursprung liegt im Behaviorismus. In dessen Fokus stehen Lernprozesse von Menschen und Tieren, die in Laborexperimenten untersucht werden. Die Wissenschaft nimmt dabei eine konsequente Außenperspektive ein. Psyche und Kognition des Individuums werden nicht konzeptualisiert, sondern als „Black Box“ charakterisiert. Demzufolge werden keine Subjekttheorie und kein Identitätsmodell entworfen. Seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts distanziert sich Bandura mit einer eigenen sozial-kognitiven Theorie von diesen Grundsätzen. Kognitive Prozesse müssen seiner Meinung nach in die Theoriebildung eingeschlossen werden (vgl. Tillmann, 2010, S. 97ff.).

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4 Entwicklungspsychologische Konzepte

gesellschaftlich geprägt, sodass eine große Vielfalt an Ergebnissen möglich ist. Bussey und Bandura (vgl. ebd., S. 685f.) differenzieren drei Formen der sozialen Beeinflussung, deren informative Inhalte kognitiv verarbeitet werden: Lernen am Modell („modeling“),105 Verstärkung („enactive experience“) und direkte Anleitung bzw. Unterweisung („direct tuition“). Durch das Lernen am Modell werden Einstellungen und Handlungsweisen besonders wirksam übertragen. Es beschränkt sich nicht auf eindimensionale Nachahmung, sondern ist in umfassenderem Sinn Strukturlernen. Die Beobachtenden erkennen und verinnerlichen die allgemeinen Regeln hinter verschiedenen Modellen. Auf dieser Grundlage können sie im weiteren Verlauf ohne direktes Vorbild selbst Verhalten entwickeln, das diesen Strukturen entspricht. Bussey und Bandura (ebd., S. 686) sprechen von „abstract modeling“. Vorbilder für das Lernen am Modell sind vor allem Menschen aus der näheren Umgebung. Eltern, Freunde und Bezugspersonen in Institutionen wie der Schule oder dem Sportverein, aber auch Figuren aus den Massenmedien stellen exemplarisch Standards geschlechtertypischen Verhaltens dar.106 Das Lernen am Modell umfasst vier Phasen kognitiver Leistungen des Individuums (vgl. ebd., S. 686ff.; Tillmann, 2010, S. 102f.): 1) „Attentional Processes“: Die Aufmerksamkeit ist auf das Modell und sein Verhalten gerichtet. Was beobachtet und aufgenommen wird, hängt einerseits von den kognitiven Fähigkeiten, Vorannahmen und Wertvorstellungen des Beobachtenden und andererseits von der Erreichbarkeit, Auffälligkeit, Attraktivität und dem Gebrauchswert des Modells ab. 2) „Retention Processes“: Die Informationen werden in eine Symbolsprache übertragen und in kognitiver Wiederholung eingeübt. 105

In ihrer Konzeptualisierung wird der Prozess des „modeling“ auch als „observational learning“ bezeichnet (vgl. Bussey & Bandura, 1999, S. 686). 106 Diese Überlegungen ähneln Bourdieus (vgl. 2014, S. 279f.) Charakterisierung des Habitus als verinnerlichte Sozialstruktur und Quelle einer dieser Struktur entsprechenden Praxis. Bussey und Bandura (1999) formulieren indirekt eine entwicklungspsychologische Konzeptualisierung der biographischen Aneignung des Habitus bzw. des mimetischen Lernens (vgl. Kapitel 3.2.3).

4.3 Kognitionspsychologische und sozial-kognitive Theorien

131

3) „Production Processes“: Die symbolischen Repräsentationen werden in eigene Handlungen umgesetzt. Die Ausführung soll der inneren Vorlage entsprechen, muss aber auch kreativ an die Umstände angepasst werden. 4) „Motivational Processes“: Verstärkungserfahrungen führen zur weiteren Umsetzung des erlernten Verhaltens. Drei Varianten werden genannt: Direkte Verstärkung („Ich tue, wofür ich positive Reaktionen bekomme.“), stellvertretende Verstärkung („Ich tue, wofür andere positive Reaktionen bekommen.“) und selbstevaluative Verstärkung („Ich tue, was ich bereits als befriedigend erlebt habe.“). Durch die positiven und negativen Verstärkungserfahrungen („enactive experiences“) können Kinder erkennen, ob ihr Verhalten als passend zur eigenen Geschlechterkategorie bewertet wird. Dabei ist es möglich, dass verschiedene Personen die gleiche Handlung jeweils unterschiedlich beurteilen oder dass in Abhängigkeit spezifischer Kontexte andere Reaktionen folgen. Durch direkte Unterweisung („direct tuition“) werden Informationen zum geschlechtstypischen Verhalten in expliziten Erklärungen weitergegeben. Informationen aus dem Lernen am Modell und aus den Verstärkungserfahrungen werden erweitert bzw. verallgemeinert. Auch diese Anregungen können sehr heterogen sein. So weichen die Hinweise Gleichaltriger häufig von denen der Erwachsenen ab. Kinder sind herausgefordert, aus den widersprüchlichen Verstärkungen und Anregungen ihr eigenes „gender“-Konzept zu konstruieren (vgl. Bussey & Bandura, 1999, S. 689). Die Vielfalt der Einflüsse führt zu individuellen Verschmelzungen: „The development of gender role conceptions is a construction rather than simply a wholesale incorporation of what is socially transmitted“ (ebd.).107 Die Formen sozialer Beeinflussung unterscheiden sich in ihrem Wirkungsgrad, insbesondere in Abhängigkeit der Lebensphase. Das Lernen am Modell beginnt mit der Geburt. Komplexe Wesenszüge können gebündelt übernommen werden. Mit zunehmender Unabhängigkeit und der 107

Bussey und Bandura (1999, S. 688) gelingt damit eine Anschlussfähigkeit ihrer Theorie an eine Konzeptualisierung gesellschaftlichen Wandels: „However, modeling contributes to cultural evolution as well as to cultural transfer.“

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4 Entwicklungspsychologische Konzepte

Fähigkeit zu eigenen Handlungen erleben Kinder die Reaktionen auf ihr Verhalten bewusster. Die oft heterogenen Verstärkungserfahrungen müssen zu Konzepten geschlechtstypischen Verhaltens abstrahiert werden. Voraussetzung ist außerdem, dass die vielfältigen Reaktionen überhaupt richtig beurteilt werden. Direkte Unterweisungen sind bei gemeinsamen Werten und der Verbreitung ihrer Inhalte im sozialen Umfeld am wirksamsten. Wenn das Verhalten der Bezugspersonen von ihren Aussagen abweicht, verlieren ihre Anregungen an Wirkungskraft, selbst wenn sie populär sein mögen. Der Effekt von expliziten Erklärungen wird zudem – vor allem in der frühen Kindheit – durch den Abstraktionsgrad der Sprache erschwert. Deshalb bleibt ihre Wirkung begrenzt (vgl. ebd., S. 685f., 689). Mit den beschriebenen Formen der sozialen Beeinflussung lässt sich aber noch nicht erklären, welche Prozesse zur Umsetzung eines bestimmten Verhaltens führen. „Acquiring a conception of gender and valuing the attributes defining that conception are separable processes governed by different determinants“ (ebd., S. 696). Zur Ergänzung werden daher drei verschiedene Faktoren der motivatorischen Regulierung beschrieben: Soziale Sanktionen, regulatorische Selbstsanktionen und Annahmen über die Selbstwirksamkeit. Kinder erwerben Wissen über die wahrscheinlichen Folgen eines bestimmten Verhaltens. Quellen dafür sind die Rückmeldungen auf eigene Handlungen oder die anderer sowie angekündigte Reaktionen. Diese sozialen Sanktionen stehen oft in Zusammenhang mit dem Geschlecht des Kindes. Stereotypes Verhalten wird begrüßt, abweichendes Verhalten abgelehnt, möglicherweise sogar unterbunden: „Ein Junge weint nicht!“ Solche Erfahrungen beeinflussen inhaltlich und motivatorisch: Sie enthalten Informationen über die Angemessenheit einer Handlung und deren mögliche positive oder negative Folgen. Diese Erwartungen motivieren dann zu einem bestimmten Verhalten oder seiner Unterlassung (vgl. ebd., S. 689). Aus den sozialen Sanktionen werden gleichermaßen motivatorisch wirksame Selbstsanktionen. Kinder beurteilen zunehmend ihr eigenes Verhalten nach „gender“-Standards und richten es an dieser Selbstbeurteilung aus. Passung wird als befriedigend empfunden. Abweichungen regen zur Korrektur an (vgl. ebd., S. 690f.). Annahmen über die Wirksamkeit des eigenen Handelns beeinflussen individuelle Entscheidungen für oder gegen bestimmte Aktivitäten und Umgebungen. Gleichzeitig ergeben sich aus der Attraktivität der gewählten

4.3 Kognitionspsychologische und sozial-kognitive Theorien

133

Herausforderungen, den Bewertungen der eigenen Möglichkeiten und der Einschätzung der Hindernisse sowie aus der externalisierten oder internalisierten Verortung von Ursachen zusätzliche motivatorische Effekte. So führt z.B. die Erwartung des Gelingens eigener Unternehmungen eher zu einem optimistischen Umgang mit Herausforderungen und zu externalisierten Fehlerzuschreibungen. Versuche werden im Falle von Rückschlägen mit größerer Anstrengung wiederholt und die Zielerreichung wird nicht aufgegeben (vgl. ebd., S. 691f.). Die besondere Bedeutung der Annahmen zur Selbstwirksamkeit wird bei Betrachtung der Berufskarrieren von Männern und Frauen empirisch auffällig. Berufliche Selbstverwirklichung hat einen immensen Einfluss auf die eigene Identität. Attraktive Optionen werden aber ignoriert, wenn sie der erwarteten Selbstwirksamkeit nicht entsprechen. Deshalb beschränken sich Frauen anders als viele Männer bei ihren Karriere-Entscheidungen oft selbst. Allerdings ist die Auswahl beruflicher Perspektiven auch von äußeren kulturellen Vorgaben abhängig. Die Unterschiede in Bezug auf Selbstwirksamkeitsannahmen sind außerdem innerhalb der Geschlechtergruppen größer als dazwischen. Die Befunde können also nicht verallgemeinert werden. Annahmen eigener Selbstwirksamkeit haben aber einen entscheidenden Einfluss auf erfolgreiche Karrieren von Frauen (vgl. ebd., S. 692f.). Mit den vorangegangenen Ausführungen wurden die sozial-kognitiven Überlegungen in Bezug auf wirksame Formen sozialer Beeinflussung und deren kognitive Verarbeitung sowie auf die ebenfalls das Verhalten bestimmenden motivatorischen Prozesse knapp umrissen. Bussey und Bandura (vgl. ebd., S. 694ff.) entwerfen kein eigenes Entwicklungsmodell. Sie konkretisieren die von ihnen beschriebenen Zusammenhänge aber in Bezug auf bestimmte Phasen und Lebenswelten und unterlegen ihre Theorie dabei umfangreich mit empirischem Material. Im Folgenden werden die Aspekte breiter entfaltet, die die frühe Kindheit betreffen. 4.3.6

Soziale Beeinflussung und motivatorische Regulierung in Abhängigkeit der Entwicklung

Der Beginn der geschlechtlichen Individualentwicklung wird früher als in den kognitiven Theorien verortet. Bussey und Bandura (1999, S. 694)

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4 Entwicklungspsychologische Konzepte

sprechen bis zum Alter von ungefähr zwei Jahren von einer „pregender identity“. Dafür ist es ausreichend, dass Kinder zwei Geschlechterkategorien unterscheiden können. Diese Fähigkeit ist empirisch für das erste Lebensjahr belegt. In dieser Phase wirken vor allem soziale Sanktionen und das Lernen am Modell. Die freudigen oder ablehnenden Reaktionen der Eltern auf das Verhalten ihrer Kinder übertragen geschlechtliche Stereotype. Da die Reproduktion von passendem Verhalten besondere Aufmerksamkeit und besondere Reaktionen erzeugt, orientieren sich Mädchen und Jungen an Modellen ihres Geschlechts. Offensichtlich geschieht das schon, bevor sie sich und andere Geschlechterkategorien zuordnen können. Gleichzeitig ist die Umwelt durch Spielzeug und Kleidung entlang von dichotomen Stereotypen ausgerichtet. Das entsprechende Verhalten kann so im Spiel vertieft werden. Mit zunehmenden kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten ordnen Kinder Personen, Objekte und Verhalten nicht mehr nur nonverbal, sondern explizit einem Geschlecht zu. Mit dem Begreifen der Sprache erleben sie zudem eine permanente Geschlechterkategorisierung. Diese betrifft nicht nur Personen, sondern vermittelt auch die Geschlechtsspezifik von Eigenschaften und Handlungen. Das sprachliche „gender labeling“ wird zum Ausgangspunkt des Erkennens der Umwelt und der Sicht auf sich selbst. Die kognitive Verarbeitung der oben beschriebenen sozialen Einflüsse führt bei Jungen und Mädchen zur Zuordnung zu einer Geschlechterkategorie und zum Erwerb der dazugehörigen Eigenschaften, Rollen und Verhaltensregeln. Diese Selbstzuschreibung hat weitreichende Folgen, denn sie beeinflusst im Weiteren die Auswahl von Kleidung, Spielen, angestrebten Fähigkeiten und Berufen sowie von Hobbys und Freundschaften und vielem mehr (vgl. ebd., S. 696f.). Die motivatorische Regulation des Verhaltens verlagert sich mit zunehmendem Alter nach innen. Aus externen Sanktionen werden Selbstsanktionen. Drei- bis Vierjährige reagieren gleichermaßen ablehnend auf von Geschlechterstereotypen abweichendes Verhalten anderer Kinder. Die Selbstevaluationen von Dreijährigen auf ihr stereotypes oder abweichendes Handeln unterscheiden sich aber noch nicht. Im Gegensatz dazu zeigen Vierjährige eine deutliche Selbstregulation entsprechend verinnerlichter „gender“-Standards (vgl. ebd.). Die eigenen „gender“-Konzepte werden im Verlauf der Individualentwicklung zu komplexen Strukturen erweitert. Sie sind dann

4.3 Kognitionspsychologische und sozial-kognitive Theorien

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nicht mehr von einer stereotypen Dichotomisierung geprägt. Parallel zu ihren zunehmenden kognitiven Kompetenzen und der damit verbundenen Fähigkeit, komplexe und auch widersprüchliche Konzepte der Geschlechterverhältnisse zu begreifen, erweitern sich die sozialen Einflüsse auf Kinder weit über den familiären Rahmen hinaus. Die zunehmend widersprüchlichen Informationen über angemessenes Verhalten müssen in das eigene Geschlechterkonzept integriert werden (vgl. ebd., S. 697). Mit diesen Ausführungen entsteht neben den interaktionistischen Überlegungen (Cahill, 1986; vgl. Kapitel 3.3.2) implizit ein weiteres Entwicklungsmodell, das soziale Beeinflussung betont. Bussey und Bandura heben aber darüber hinaus auch kognitive Prozesse des Individuums als wesentlich hervor. Im Anschluss wird die Deutungsweite der sozial-kognitiven Perspektive kritisch betrachtet und eingeordnet. 4.3.7

Deutungsweite der sozial-kognitiven Perspektive

Die Überlegungen von Bussey und Bandura werden in verschiedenen Überblicksveröffentlichungen als „Imitationstheorie“ bzw. lerntheoretische Weiterentwicklung charakterisiert.108 Vermeintlich zentrale Positionen, wie die bevorzugte Nachahmung von gleichgeschlechtlichen Modellen und des gleichgeschlechtlichen Elternteils, stellen sich beim kritischen Abgleich mit empirischen Befunden als unsicher heraus (vgl. Trautner, 2008, S. 645ff.; Tillmann, 2010, S. 101ff., 108f.). Diese pauschale Kritik wird der Komplexität des sozial-kognitiven Theoriegebäudes und der vorliegenden Empirie aber nicht gerecht. Bussey und Bandura (vgl. 1999, S. 688f.) betrachten das Lernen an gleichgeschlechtlichen Modellen bzw. am entsprechenden Elternteil zwar als einen zentralen Bestandteil der Individualentwicklung, setzen sich aber auch mit gegenläufigen Befunden auseinander. Aus ihrer Perspektive ist das Ausmaß der Bevorzugung gleichgeschlechtlicher Modelle von der Kongruenz in deren Verhalten abhängig. Bei zunehmender Diffusion entstehen individuelle Verschmelzungen der Wesenszüge verschiedener 108

Bussey und Bandura (1999, S. 699, Hvhg. i. O.) ordnen ihre Überlegungen anders ein: „Modeling is a complex process rather than simple mechanistic mimicry, as it is often portrayed under the label of ‘imitation’.”

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4 Entwicklungspsychologische Konzepte

Vorbilder. Maccoby (vgl. 2000, S. 222f., bzgn. auf Perry & Bussey, 1979) verweist darauf, dass Kinder ihre bereits erworbenen „gender“-Konzepte nutzen, um die Bedeutung gleichgeschlechtlicher Modelle für sich zu bewerten und sich für ein bestimmtes Verhalten zu entscheiden. Insofern beruht das Lernen am gleichgeschlechtlichen Modell auf einer individuellen Häufigkeitsstatistik der bisher gemachten Alltagserfahrungen mit Modellen der eigenen Geschlechterkategorie. Ein einzelnes Vorbild wird unter Umständen explizit vermieden, wenn es vom erkannten Stereotyp abweicht. Darüber hinaus wird berücksichtigt, dass Lernen am Modell nicht allein durch geschlechtliche Passung des Vorbilds, sondern auch durch äußere Anreize bestimmt ist. Gegengeschlechtliches „modeling“ ist möglich. Jungen ahmen weibliche Modelle nach, wenn diese über Macht verfügen und ihr Verhalten wirksamer ist als das von männlichen Modellen (vgl. Bandura & Bussey, 2004, S. 697). Bei der Bewertung der Auswirkungen des Lernens am gleichgeschlechtlichen Modell muss außerdem zwischen dem Erlernen eines Verhaltens („acquisition“) und seiner spontanen Umsetzung („performance“) unterschieden werden. Für Ersteres lassen sich kaum Abweichungen zwischen den Geschlechtern belegen. In der spontanen Realisierung eines erlernten Verhaltens können sich Jungen und Mädchen aber unterscheiden. Bussey und Bandura (vgl. 1999, S. 687f.) verweisen auf das sogenannte „Bobo-Doll-Experiment“. Ein aggressives Vorbild wird von Jungen eher in ihrem spontanen Verhalten reproduziert, obwohl Mädchen die Handlungsweise gleichermaßen erlernt haben (vgl. Bandura, 1965, S. 594). Hier zeigt sich die Wirkung motivatorischer Prozesse, die bei der oberflächlichen Bewertung der sozial-kognitiven Perspektive vernachlässigt wird.109 Auch der sozial-kognitive Erklärungsversuch soll auf seine Deutungsweite in Bezug auf die von Maccoby (vgl. 2000, S. 101) hervorgehobenen geschlechtstypischen Phänomene befragt werden. Lassen sich die Geschlechtertrennung, die Differenzierung der Interaktionsstile und die asymmetrische Entwicklung von Jungen und Mädchen auf sozialisatorische Einflüsse und motivatorische Selbstregulation zurückführen? Eine Wirkung des Lernens am Modell als Vorlage der 109

Motivatorische Prozesse fördern nicht nur die Umsetzung von erlernten Fähigkeiten. Sie können auch dazu führen, dass das erworbene stereotype Verhalten abgelehnt wird (vgl. Maccoby, 2000, S. 195).

4.3 Kognitionspsychologische und sozial-kognitive Theorien

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Geschlechtertrennung ist unwahrscheinlich, da Erwachsene im Wesentlichen Kontakt zum anderen Geschlecht anstreben und Paarbeziehungen eingehen (vgl. ebd., S. 225). Allerdings ist der Alltag in der Öffentlichkeit von der Toilette bis zum Drogeriemarkt oft institutionell geschlechtergetrennt. Wird zudem berücksichtigt, dass Kinder insbesondere im Vorschulalter die Geschlechterverhältnisse konkret-operational sehen – also bildlich gesprochen Männer und Frauen vor allem als Feuerwehrmänner und Krankenschwestern wahrnehmen – steht die Wirklichkeit dem geschlechtertrennenden „modeling“ nicht mehr im Weg.110 Das Lernen am Modell kann eine Inspiration für die Entwicklung von stereotypen „gender“-Konzepten sein, wenn unter den Vorbildern Konsens über das einem bestimmten Geschlecht entsprechende Verhalten besteht. Der Zusammenhang zwischen den verinnerlichten Stereotypen und ihrer Umsetzung in praktisches Handeln ist aber nur schwer zu beweisen. Für eine ähnliche Herleitung der spezifischen Interaktionsstile aus der Modellwirkung der erwachsenen Vorbilder liegen keine ausreichenden Befunde vor. In Bezug auf den Inhalt der Spiele in den jeweiligen Gruppen der Jungen und Mädchen scheint allerdings ein Zusammenhang zu den Erfahrungen der Kinder mit erwachsenen Modellen zu bestehen (vgl. ebd., S. 223ff., 234). Für die Beurteilung der sozial-kognitiven Erklärung ist die Wirkung des Verhaltens der Eltern von großer Bedeutung. Ein besonderer geschlechtsspezifischer Sozialisationsdruck ist empirisch umstritten.111 Das sogenannte „Baby X-Experiment“ belegt, dass Erwachsene einem unbekannten Kleinkind in Abhängigkeit einer willkürlichen kategorialen Geschlechterzuordnung unterschiedliche Spielzeuge anbieten, und zwar Jungen statistisch häufiger einen Ball und Mädchen eine Puppe (vgl. Seavey, 110

Studien belegen, dass Kinder Wahrnehmungen abweichender Geschlechterverhältnisse in der Erinnerung zum Stereotyp „reparieren“. Statt von einer objektiven Vorbildwirkung auszugehen, müsste überprüft werden, als welche Modelle Kinder z.B. ihre Eltern oder andere Erwachsene wahrnehmen (vgl. Bussey & Bandura, 1999, S. 699, bzgn. auf Cordua, McGraw, & Drabman, 1979, Signorella & Liben, 1984). Maccoby (2000, S. 211ff.) verweist zudem darauf, dass Kinder neben Stereotypen, die sie aus Informationen entwickeln, über „Geschlechtermetaphern“ verfügen, deren Ursprung ungeklärt ist. Solche Metaphern bieten zusätzliche Vorlagen für die Trennung der Geschlechter. 111 Der Befundlage zur differenziellen Behandlung von Jungen und Mädchen durch Erwachsene wird im Kapitel 5.2 noch einmal vertieft nachgegangen.

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4 Entwicklungspsychologische Konzepte

Katz, & Rosenberg Zalk, 1975, S. 108; Sidorowicz & Lunney, 1980, S. 70ff.). In der experimentellen Situation der Studie wurden zudem Konstellationen erzeugt, in denen gegenüber den Teilnehmenden vorgegeben wurde, das Geschlecht des Kindes wäre gerade nicht bekannt. Dann kategorisierten die Erwachsenen den Säugling spontan anhand stereotyper Deutungen seines Verhaltens: „Sie ist freundlich und Mädchen lächeln mehr.“ „Er mag keine Fremden.“ (Sidorowicz & Lunney, 1980, S. 71, Übers. MA). Eine Überblicksbetrachtung von 23 vergleichbaren Studien konnte die Hypothese stereotyper Attribuierungen und differenzieller Behandlung durch Erwachsene aber nicht erhärten. Die Ergebnisse sind in der Breite widersprüchlich (vgl. Stern & Karraker, 1989, S. 517ff.). Maccoby (vgl. 2000, S. 183ff.) schließt aus ihrer breiten Analyse der Empirie auf einen geringen Einfluss der Eltern auf die geschlechtliche Sozialisation. Mütter und Väter verhalten sich gegenüber Mädchen und Jungen im Wesentlichen ähnlich responsiv und zugeneigt. Darüber hinaus kann bisher nicht bewiesen werden, dass Eltern ihre Kinder zur Bevorzugung gleichgeschlechtlicher Spielpartner oder Spielpartnerinnen anregen. Der familiäre Bereich bietet noch weniger eine Vorlage für die Geschlechtertrennung als das allgemeine Verhältnis von Männern und Frauen. Außerdem bleibt unklar, ob sich die typisierende Behandlung eines bestimmten Kindes in entsprechenden Präferenzen für das Spiel mit einem gleichgeschlechtlichen Gegenüber niederschlägt. Die Interaktionen der Eltern mit Jungen und Mädchen unterscheiden sich aber in Facetten, was zu einem wirkmächtigen „Schneeballeffekt“ führen kann (vgl. ebd., S. 185). So wird mit Mädchen häufiger über Gefühle gesprochen und mit Jungen autoritärer umgegangen sowie körperbetonter interagiert.112 Das könnte eine Ursache für die unterschiedlichen Interaktionsstile in den Gruppen sein. Hier ist aber unsicher, ob die Interaktionsformen der Eltern nicht eher Reaktionen auf bereits vorhandenes Verhalten der Kinder sind, anstatt es auszulösen. Des Weiteren 112

Auch das Interaktionsverhalten pädagogischer Fachkräfte unterscheidet sich vor allem in Abhängigkeit des Geschlechtes der Kinder. So wird mit Mädchen eher persönlich und mit Jungen eher sachorientiert kommuniziert. Zwischen den männlichen und weiblichen Fachkräften können im Gegensatz dazu auf der Grundlage einer quantitativen RatingAnalyse keine Unterschiede im pädagogischen Verhalten belegt werden (vgl. Brandes et al., 2016, S. 95f.).

4.3 Kognitionspsychologische und sozial-kognitive Theorien

139

fehlt es an empirischen Befunden, die belegen, wie die möglicherweise aus familiärer Sozialisation stammenden Stile von den Kindergruppen übernommen werden. Im Querschnitt reagieren Eltern eher positiv auf stereotypes und ablehnend auf abweichendes Verhalten ihrer Kinder. Die Toleranz ist dabei gegenüber Mädchen größer als gegenüber Jungen. Die Elternteile unterscheiden sich zudem untereinander: Väter achten bei ihren Kindern stärker auf dem Geschlecht entsprechendes Verhalten als Mütter und regen ihre Söhne deutlicher dazu an als ihre Töchter. Das könnte zur stärkeren Abgrenzungstendenz von Jungengruppen führen. Unklar bleibt aber, warum sich die Jungen auch von den Erwachsenen und nicht nur von den Mädchen distanzieren (vgl. Siegal, 1987, S. 201; Maccoby, 2000, S. 186ff.). Bussey und Bandura (vgl. 1999, S. 698ff.) warnen aber vor voreiligen Schlussfolgerungen. Der Einfluss der Eltern wird in vielen Fällen nicht in seiner Vielschichtigkeit untersucht, sondern eindimensional betrachtet. Es muss berücksichtigt werden, dass das elterliche Handeln vor allem am Anfang der geschlechtlichen Entwicklung von Bedeutung ist, während der weitere Verlauf selbstregulativ gesteuert wird. Eltern schränken ihre Sanktionen ein, weil sie nicht mehr notwendig sind. Gleiches Verhalten gegenüber Jungen und Mädchen kann nun „diagnostiziert“ werden. Es bleibt aber unklar, ob die Kinder nicht bereits in einer früheren Lebensphase wirksam unterschiedlich behandelt worden sind. Möglicherweise bestehen für die geschlechtstypische Prägung bestimmte Zeitfenster, in denen die Sozialisierungseinflüsse der Eltern biographisch wirkmächtige Grundlagen in den Persönlichkeiten von Jungen und Mädchen verankern (vgl. Maccoby, 2000, S. 165, bzgn. auf Fagot et al., 1985). Die Qualität der Beziehung zum Modell beeinflusst darüber hinaus die Übernahme seiner Handlungen. Interaktionseffekte müssen berücksichtigt werden. In einer Studie von Jackson, Ialongo und Stollak (1986) wurden Zusammenhänge zwischen den Geschlechtsrollen von jungen Erwachsenen und denen ihrer Eltern und deren früherem Erziehungsverhalten untersucht. Die Forschungsgruppe ging von Maskulinität und Femininität als orthogonalem Konstrukt aus. Männliche und weibliche Charakterzüge vereinigen sich in diesem Koordinatensystem zu einer individuellen,

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4 Entwicklungspsychologische Konzepte

androgynen Geschlechtsrolle.113 Die vorliegenden Daten der Studie bestehen zwar vor allem aus z.T. rückblickenden Selbstauskünften, stützen aber die Annahme, dass eine starke emotionale Bindung zu einem Elternteil bestehen muss, damit seine Charakterzüge übernommen werden. Kinder, die Mutter und Vater als warmherzig und liebevoll erleben, übernehmen mit größerer Wahrscheinlichkeit deren feminine und maskuline Charakterzüge. Körperliche Ähnlichkeit erklärt möglicherweise den größeren Einfluss des gleichgeschlechtlichen Elternteils. Beide Elternteile können aber gleichermaßen als Rollenmodell für maskuline und feminine Züge dienen (vgl. Jackson et al., 1986, S. 220f.). Eine kritische Einordung der sozial-kognitiven Konzepte ist also weitaus schwieriger, als bei oberflächlicher Betrachtung naheliegend wäre. Der theoretische Entwurf und die korrespondierenden empirischen Befunde machen deutlich, welche komplexen Zusammenhänge in der Individualentwicklung wirksam werden. Die Vertreterinnen und Vertreter der kognitionspsychologischen und sozial-kognitiven Perspektiven haben ihre unterschiedlichen Positionen in aufeinanderfolgenden Veröffentlichungen gegeneinander abgewogen. Dabei ging es im Wesentlichen um die Klärung der Frage, ob der Entstehung einer geschlechtlichen Identität eine soziale Beeinflussung vorausgeht oder nicht. Auf diese Auseinandersetzung wird im Anschluss eingegangen. 4.3.8

Kognitionspsychologische und sozial-kognitive Argumente im Diskurs

Die sozial-kognitiven Überlegungen enthalten Parallelen zu den kognitionspsychologischen Argumentationen (vgl. Bussey & Bandura, 1999, S. 696). Die Erkenntnis der geschlechtlichen Kontinuität des eigenen Körpers bzw. der eigenen „gender“-Kategorie wird zu einer Grundlage der weiteren geschlechtlichen Individualentwicklung. Bussey und Bandura (vgl. ebd., S. 688) grenzen sich aber gleichzeitig deutlich von wesentlichen Grundannahmen Kohlbergs ab: Zum einen charakterisieren sie die geschlechtliche Selbstkategorisierung als Zwischenschritt in einem bereits 113

Die Forschungsgruppe nutzte den „Bem Sex Role Inventory“ (vgl. Beere, 1990, S. 73ff.), der von den Teilnehmenden ausgefüllt wurde.

4.3 Kognitionspsychologische und sozial-kognitive Theorien

141

laufenden Prozess und nicht als entscheidenden Qualitätssprung des Denkens. Zum anderen erklärt die kognitive Erkenntnis einer Struktur noch nicht, warum sie übernommen wird. Die Konzeptualisierung regulativmotivatorischer Anteile soll diese Deutungslücke schließen (vgl. ebd., S. 696). Allerdings wird auch hier die kognitive Erkenntnis einer Passung als motivatorisch wirksam angenommen, ohne dass die Strukturen dahinter genauer charakterisiert werden (vgl. Martin, Ruble, & Szkrybalo, 2002, S. 906). Diese Widersprüche sind der Ausgangspunkt einer ausführlichen Debatte zwischen den Vertreterinnen und Vertretern sozial-kognitiver und kognitionspsychologischer Ansätze. Die Erkenntnis der Geschlechtskonstanz ist für Kohlbergs (vgl. 1974, S. 344) Überlegungen von zentraler Bedeutung. Allerdings zeigen Jungen und Mädchen schon in früheren Lebensphasen geschlechterstereotypes Verhalten (vgl. Trautner, 2008, S. 647). So können Bussey und Bandura (vgl. 1999, S. 688f.) belegen, dass Kinder unabhängig von der Erkenntnis der eigenen Geschlechtskonstanz gleichgeschlechtliche Modelle bevorzugen, wenn deren Verhalten nicht divergiert. Geschlechtstypische Präferenzen im Verhalten sind außerdem empirisch weit vor dem fünften Lebensjahr belegt (vgl. ebd., S. 678). Möglicherweise reichen rudimentäre kognitive Vorstellungen über die Geschlechterkategorie von sich und anderen aus, um weiter stereotypes Verhalten anzunehmen (vgl. Martin & Ruble, 2004, S. 69). Aus der kognitionspsychologischen Perspektive wurde daher versucht, die Ausbildung der Geschlechtskonstanz auf drei verschiedenen Stufen zu spezifizieren (vgl. Martin et al., 2002, S. 909, bzgn. auf Slaby & Frey, 1975): 1) „Gender“-Identität bezeichnet die Erkenntnis, ein Junge oder ein Mädchen zu sein und andere Personen ebenfalls einer Geschlechterkategorie zuordnen zu können. 2) „Gender“-Stabilität betrifft das Begreifen der zeitlichen Konstanz dieser Identität. Sie bestand bereits früher und wird auch in Zukunft erhalten bleiben. 3) „Gender“-Konsistenz charakterisiert die Einsicht, dass diese Identität auch nicht durch äußerliche Veränderungen – wie bestimmte Kleidung oder das Ausführen stereotyper Handlungen – beeinflussbar ist.

142

4 Entwicklungspsychologische Konzepte

Es wird angenommen, dass die dritte Stufe im Alter von ungefähr sechs bis sieben Jahren erreicht wird (vgl. Bussey & Bandura, 1999, S. 678). Der Beginn der geschlechtlichen Selbstsozialisation wird nicht mehr konsequent auf das volle Begreifen der Geschlechtskonstanz in der konkretoperationalen Phase bezogen, sondern differenzierter betrachtet. Bereits eine basale Geschlechtsidentität entfaltet eine anregende Wirkung zur Selbstsozialisation (vgl. Martin et al., 2002, S. 922f.). Dabei wird von einer intrinsischen Motivation des Individuums ausgegangen: „This motivation involves the child’s deliberate efforts to learn about a social category that he or she is actively constructing as part of a process of finding meaning in the social world“ (Martin & Ruble, 2004, S. 68). Auf den höheren Stufen der Geschlechtskonstanz verstärkt bzw. erweitert sich diese Motivation. In welchem Alter die Herausbildung der ursprünglichen „gender“-Identität zu verorten ist, bleibt aber unklar (vgl. Martin et al., 2002, S. 909f.). Es wird aber davon ausgegangen, dass sich bereits gegen Ende des zweiten Lebensjahres eine entsprechende vorverbale kognitive Repräsentation entwickelt. Die empirische Überprüfung dieser Annahmen ist allerdings schwierig, da in dieser Lebensphase eine nonverbale Operationalisierung notwendig ist. Bisherige Befunde beziehen sich meist auf Präferenzen für Männer und Frauen, Jungen und Mädchen oder geschlechtlich konnotierte Spielzeuge auf Fotos. Von diesen Vorlieben ausgehend werden Schlussfolgerungen über den Stand des Bewusstseins der eigenen Geschlechterkategorie gezogen (vgl. ebd., S. 922). In dieser Argumentation sehen Bandura und Bussey (vgl. 2004, S. 693) aber nur eine zeitliche Vordatierung des vermeintlichen Ausgangspunktes, der ihrer Meinung nach Folge der durch äußere Einflüsse bestimmten geschlechtstypischen Entwicklung bleibt, statt ihre Ursache zu sein. Martin, Ruble und Szkrybalo (vgl. 2004, S. 704f.) räumen aus kognitionspsychologischer Perspektive ein, dass bereits vor der Entstehung entsprechender kognitiver Repräsentationen die geschlechtliche Individualentwicklung durch biologische Vorgaben oder soziale Einflüsse beginnen kann. Die kognitive Erkenntnis gibt diesem Prozess später aber einen zusätzlichen motivatorischen Antrieb. Da die Geschlechterkategorien hochgradig sozial relevant sind, müssen aus Sicht der Kritiker kognitionspsychologischer Konzepte äußere Einflüsse stärker in die Beschreibung der Individualentwicklung einbezogen werden (vgl. Bussey & Bandura, 1999, S. 694). Die Erkenntnis der Zugehörigkeit zu

4.3 Kognitionspsychologische und sozial-kognitive Theorien

143

einer Geschlechterkategorie und die Annahme der Konstanz des eigenen Geschlechts ist aus dieser Perspektive Ergebnis dieser Einflussfaktoren statt Ausgangspunkt eines selbstsozialisatorischen Prozesses (vgl. ebd., S. 688). Darüber hinaus wird kritisiert, dass kein eindeutiger empirischer Zusammenhang zwischen der erkannten Geschlechtskonstanz und der Motivation zur Umsetzung entsprechenden Verhaltens hergestellt werden kann. Gleiches gilt für die motivationale Wirkung von kognitiven Geschlechterschemata. Auch hier lässt sich nach Meinung von Bussey und Bandura (vgl. ebd., S. 678f.) kein klarer Zusammenhang zwischen den verinnerlichten Stereotypen und der Neigung zu entsprechendem Verhalten herstellen. Dieses könnte gleichermaßen durch elterliche Einflüsse bedingt sein. Martin und Ruble (vgl. 2004, S. 69) verweisen allerdings auf Langzeitstudien, die den Zusammenhang zwischen kognitiver Erkenntnis und der Neigung zu entsprechendem Verhalten belegen sollen.114 Martin et al. (vgl. 2002, S. 905ff.) bezweifeln aus kognitionspsychologischer Perspektive, dass gleichgeschlechtliches „modeling“ von stereotypem Verhalten, dessen Bedeutung Bussey und Bandura (vgl. 1999, S. 695) trotz aller Widersprüche betonen, ohne eine geschlechtliche Selbstzuschreibung als Grundlage möglich ist: „An unanswered question here is how children differentiate the sexes before they have at least a rudimentary conception of gender“ (Martin et al., 2002, S. 906). Eine solche basale Identität wird aber aus sozial-kognitiver Perspektive nur als Ergebnis der äußeren Einflüsse charakterisiert. Gleiches gilt für Selbstevaluation und Selbstwirksamkeitsannahmen. Es bleibt ungeklärt, woher die ursprüngliche Motivation zur Übernahme der entsprechenden Informationen stammen soll, wenn das Kind noch kein eigenes kognitives Abbild seiner Geschlechterkategorie hat, zu dem es eine Passung herstellen kann. Darüber hinaus wird nach den kognitiven Prozessen gefragt, die hinter der Internalisierung äußerer Sanktionen zu Selbstsanktionen stehen: „It seems reasonable to assume that a precursor of internal regulation may be the development of a cognitive conception of self, one which can be 114

Auch Maccoby (vgl. 2000, S. 196, bzgn. auf Tajfel, 1982; Martin & Ruble, 2010, S. 357f.) nimmt an, dass die Erkenntnis einer bestimmten Kategorie anzugehören, zu einer Aufwertung dieser „In-Group“ und zu einer negativen Abgrenzung gegenüber Anderen führt. Die geschlechtliche Kategorisierung und Selbstzuordnung könnte daher motivatorische Auswirkungen haben.

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4 Entwicklungspsychologische Konzepte

observed, monitored, judged, praised or censured“ (ebd., S. 906f.). Aus der Sicht von Bandura und Bussey (vgl. 2004, S. 686) sind die äußeren Einflüsse jedoch ausreichend, um die von ihnen beschriebenen Prozesse in Gang zu setzen. Inzwischen ist die kontrovers geführte Debatte überholt. Neuere Überlegungen von Martin und Ruble (vgl. 2009, S. 366f.; Stiegler, Eisenberg, DeLoache, & Saffran, 2016, S. 144ff.) gehen weit über die bisherigen Standpunkte hinaus: Unter Bezugnahme auf die Theorie Dynamischer Systeme wird ein erweiterter Erklärungsversuch unternommen. Dieses Konzept wird u.a. in Physik und Mathematik verwendet, um komplexe, nichtlineare Systeme zu beschreiben. Es bietet der Entwicklungspsychologie eine rahmende Forschungsstruktur, um die vorhandenen theoretischen Ansätze zu verknüpfen: Persönlichkeitsentwicklungen auf einer Langzeitskala und mikrosoziale Interaktionen unter Einbezug von Personen und Objekten können gleichermaßen erfasst und mögliche Zusammenhänge zwischen diesen Ebenen beschrieben werden. Darüber hinaus werden eher hemmende Grundsatzdiskussionen überwunden, da das Konzept alle möglichen Einflussfaktoren auf ein bestimmtes System einbezieht, ohne sie grundsätzlich zu werten. Die Theorie der Dynamischen Systeme wird verwendet, um Systeme aus miteinander in Beziehung stehenden Elementen zu erklären, deren gegenseitige Interaktionen übergeordnete komplexe Strukturen entstehen lassen. In solchen Prozessen der Selbstorganisation entstehen z.B. Ameisenschwärme oder Wirbelstürme, ohne dass eine übergeordnete Programmierung oder Steuerung den Verlauf bestimmt. Dynamische Systeme werden ständig von äußeren und inneren Faktoren beeinflusst und enthalten „attractors“, die ihren Zustand unter sich verändernden Bedingungen stabilisieren können. Zur Untersuchung solcher Phänomene muss zuerst eine „collective variable“ identifiziert werden, die das Forschungsobjekt eindeutig charakterisiert. Daraufhin wird es in einer umfassenden Langzeit-Perspektive erfasst, um signifikante Veränderungen des Systems erkennen zu können, die auf einen Wechsel des „attractors“ deuten. Auf solche Phasen der Transition können die Forschenden dann ihre Untersuchungen im Querschnitt fokussieren, um einflussreiche „change agents“ zu identifizieren (vgl. Martin & Ruble, 2009, S. 367f.). Es ist naheliegend, dass die beschriebenen Phänomene der geschlechtlichen Sozialisation bei dieser Herangehensweise viel umfassender

4.3 Kognitionspsychologische und sozial-kognitive Theorien

145

als bisher untersucht werden können. So kann die Geschlechtertrennung im Vor- und Grundschulalter als ein solches, sich selbst organisierendes System beschrieben werden. Obwohl keine direkte Anregung von außen gegeben wird, tritt sie mit großer Wahrscheinlichkeit ein. Die „collective variable“ dieses Systems wäre die Wahl der Spielpartner oder -partnerinnen eines Kindes. Vor Eintritt in eine neue Klasse könnten seine vorherigen Erfahrungen mit Gleichaltrigen, aber auch andere Faktoren, wie sein Hormonspiegel und sein Temperament, erhoben werden. Die Auswahl von Peers wird im Verlauf von der Verfügbarkeit weiterer Kinder und von den Entscheidungen Anderer vor der eigenen Wahl abhängig sein, die daher in die Betrachtungen einbezogen werden müssen. In der Abfolge der Interaktionen wird die individuelle Entscheidung zunehmend von den bisherigen Erfahrungen mit bestimmten Kindern beeinflusst. Es bilden sich Spielkonstellationen heraus. Gleichgeschlechtliche Dyaden nehmen zu. Im weiteren Verlauf könnten aus diesen Dyaden größere gleichgeschlechtliche Gruppen entstehen. Aus einer übergreifenden Perspektive würde erkennbar, wie sich solche Paare und Gruppen bilden und verändern. Geschlechterhomogene Gruppen erlangen größere Anziehungskraft. Die Struktur des Systems beeinflusst damit rückwirkend die Interaktionen zwischen Einzelnen. Würde sich durch eine veränderte Präferenz des Kindes eine transistorische Entwicklung des Systems abzeichnen, ließe sich aus den erhobenen Daten auf „change agents“ schließen, die das System beeinflussen (vgl. ebd., S. 368f.). Durch sogenannte „state space grids“ (vgl. Abbildung 1) kann die Geschlechtertrennung als dynamisches System visualisiert werden. Die möglichen Zustände werden dabei abgebildet. Ein Zustandsfeld ist höchstwahrscheinlich dann ein „attractor“ der Stabilität des dynamischen Systems, wenn sich ein Kind häufig in ihm aufhält, es schnell aufsucht bzw. zügig in es zurückkehrt. In den durchgeführten Studien zeigte sich, dass das gleiche Geschlecht der Spielpartnerinnen und Spielpartner, aber auch deren Verhaltensqualitäten sowie die Emotionen im Spiel „attractors“ der Geschlechtertrennung sind (vgl. ebd., S. 373).

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Abbildung 1:

4 Entwicklungspsychologische Konzepte

Peerauswahl eines Mädchens (Martin & Ruble, 2009, S. 373)

Fausto-Sterling et al. (vgl. 2011b, S. 1ff., bzgn. auf Spencer et al., 2006, Fogel et al., 2006) beschreiben vier wesentliche Aspekte der Theorie Dynamischer Systeme, die sie auf die geschlechtliche Entwicklung von Jungen und Mädchen bis zum dritten Lebensjahr übertragen:

4.3 Kognitionspsychologische und sozial-kognitive Theorien









115

147

Die genaue Betrachtung des zeitlichen Verlaufs offenbart die Transitionspunkte eines dynamischen Systems: Die Dynamik der „gender“-Entwicklung wird deutlich. Auf dyadische Interaktionserfahrungen folgen zuerst die Inklusion von Objekten in die Dyade, dann die eigene Exploration und schließlich die PeerInteraktion. Auffällig ist z.B., dass Spielzeugpräferenzen auftreten, bevor die Kinder Stereotype kennen und sich selbst einem Geschlecht zuordnen können. Verhaltensausprägungen sind „softly-assembled“: Verhaltensunterschiede zwischen Jungen und Mädchen können als lose aus biologischer Grundlage und sozialer Erfahrung zusammengesetzte Systeme betrachtet werden. Die Verfasserinnen verweisen auf den durchschnittlich größeren körperlichen Aktivitätslevel von männlichen Neugeborenen, der sich dem der Mädchen angleicht, um ab dem Alter von sechs Monaten erneut anzusteigen. Das dynamische System wird zuerst von einem neurophysiologischen und später – durch die differenziellen Anregungen der Eltern – von einem sozialen „activity-attractor“ stabilisiert. Embodiment-Effekte müssen berücksichtigt werden, da sich soziale Erfahrungen neurophysiologisch niederschlagen: Spielzeugpräferenzen, körperliche Selbstwahrnehmung und der Gebrauch des eigenen Körpers sind affektiv-emotionale Ergebnisse von Beziehungserfahrungen des Kindes mit seinen Bezugspersonen.115 Für weitere Forschungen ist die besondere Berücksichtigung von Individualität notwendig: Die relativ geringen Unterschiede zwischen neugeborenen Jungen und Mädchen bei großer Variabilität vertiefen sich erst durch die mikrosozialen Erfahrungen der Kinder mit ihren Bezugspersonen.

Mit dem Begriff des Embodiment wird der neurophysiologische Niederschlag sozialer Erfahrungen beschrieben: „Embodiment is a social process. Social interaction affects neural development via chemical signaling including hormones such as adrenalin and chemical messengers such as dopamine” (Fausto-Sterling et al., 2011b, S. 5).

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4 Entwicklungspsychologische Konzepte

Die Individualentwicklung wird als dynamisches Wechselspiel zwischen biologischen Vorgaben und sozialen Erfahrungen erkennbar. Aus den ursprünglich geringen Unterschieden zwischen Jungen und Mädchen entsteht ein tiefes „attractor basin“, das das dynamische System „gender“ stabilisiert (vgl. Fausto-Sterling et al., 2011a, S. 7; Abbildung 2).

Abbildung 2:

„Gender“ als „attractor basin“ (Fausto-Sterling et al., 2011a, S. 6)

Durch die Überarbeitung der entwicklungspsychologischen Deutungsversuche können die Konfliktlinien zwischen den verschiedenen Perspektiven überwunden werden. Die kognitive Entwicklung des Individuums und seine soziale Beeinflussung müssen gleichermaßen Berücksichtigung finden. Die Entschlüsselung der miteinander verflochtenen Prozesse bleibt aber eine theoretische und forschungspraktische Herausforderung. Zusammenfassend folgt eine Gegenüberstellung allgemeiner Aspekte der beschriebenen psychologischen

4.4 Zusammenfassung und kritische Diskussion

149

Konzepte, bevor diese mit konkretem Bezug zum hier bearbeiteten Forschungsvorhaben hinterfragt werden. 4.4

Zusammenfassung und kritische Diskussion

Die in den vorherigen Abschnitten entfalteten Theoriestränge beziehen sich auf die Entwicklung des Individuums in direkter Wechselwirkung mit seiner näheren Umwelt. Sowohl die Psychoanalyse als auch kognitionspsychologische und sozial-kognitive Theorien entwerfen im Wesentlichen eine subjektivistisch begrenzte Perspektive. Je nach Blickwinkel werden psychodynamische, kognitive oder soziale Prozesse miteinander verknüpft und in unterschiedliche Zusammenhänge gesetzt. Die sozialisationstheoretische Signifikanz der verschiedenen Theorien bemisst sich vor allem an ihrer Deutungsweite in Bezug auf das Verhältnis zwischen dem Subjekt und seiner Umwelt. Das ursprüngliche psychoanalytische Menschenbild enthält die Vorstellung einer umfangreichen individuellen inneren Wirklichkeit und führt die psychische Entwicklung des Individuums auf physiologische Triebspannungen zurück. Ihnen wirkt die kulturelle Umwelt repressiv entgegen. Das Individuum kann nur durch Anpassung seiner Bedürfnisse an diese Umwelt zu Befriedigung gelangen. Diese Überlegungen haben aber umfangreiche Überarbeitungen erfahren. Erikson (1966; vgl. Kapitel 2.4) erweiterte das psychoanalytische Stufenmodell, das nun den gesamten Lebensverlauf einschließt. Soziale Einflussfaktoren jenseits der Familie werden berücksichtigt und die Bedeutung von Triebenergien relativiert. Durch die Überlegungen von Chodorow (1994) und Fast (1991) wird die psychoanalytische Perspektive zunehmend zu Gunsten der sozialen Erfahrungen des Individuums und seiner kognitiven Entwicklung erweitert. Das Kind kennzeichnet am Lebensanfang weniger triebgesteuerte Reizabfuhr, sondern es begibt sich von Beginn an vor allem in Austausch mit seiner Umwelt (vgl. ebd., S. 46, 99). Die kognitionspsychologische Konzeptualisierung hat in den Sozialwissenschaften einen hohen Stellenwert. Ein Vorzug ist das darin enthaltene Menschenbild und die besondere Einschätzung des Verhältnisses zwischen Mensch und Umwelt: Grundlegend ist die Annahme der Neigung zur aktiven Auseinandersetzung mit dinglichen und sozialen Einflüssen. Die

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4 Entwicklungspsychologische Konzepte

Berücksichtigung des Umgangs mit der materiellen Umwelt, dessen sozialisatorische Bedeutung leicht übersehen wird, ist eine besondere Stärke der Kognitionspsychologie (vgl. Tillmann, 2010, S. 197).116 Entwicklungszusammenhänge können aber nicht allein durch eine individuelle kognitive Auseinandersetzung mit der Umwelt erschlossen werden, wenn sie gleichzeitig permanent sozial wirksam werden. Darüber hinaus sind die ausgebildeten Eigenschaften so vielfältig, dass die geschlechtliche Sozialisation nicht allein auf der Grundlage einer motivatorisch wirkenden Passung zwischen dem eigenen Geschlecht und dazu als konsistent erkannten Eigenschaften erklärt werden kann. Nicht nur das Wissen über das eigene Geschlecht und die damit verbundenen Merkmale, sondern auch seine soziale Relevanz regulieren das Verhalten (vgl. Bussey & Bandura, 1999, S. 694). Im Rahmen der sozial-kognitiven Theorie entsteht eine zweiseitige Perspektive auf die geschlechtliche Sozialisation. Das Individuum konstruiert sich sein „gender“-Konzept aus indirekten und direkten sozialen Einflüssen. Die handlungspraktische Umsetzung dieses Konzeptes wird durch zunehmend selbstregulatorische Motivations-Mechanismen gesteuert. Kognitive Strukturen sind in die Überlegungen einbezogen, wirken aber unterbestimmt. So ist relativ undifferenziert von konstruierten Standards, Konzepten oder Rollen die Rede (vgl. ebd., S. 685ff.). Geschlechtsidentität entsteht eher zwischen den Zeilen, als dass sie explizit konzeptualisiert wird: Social cognitive theory posits that, through cognitive processing of direct and vicarious experiences, children come to categorize themselves as girls or boys, gain substantial knowledge of gender attributes and roles, and extract rules as to what types of behavior are considered appropriate for their gender. (ebd., S. 696)

Das Individuum wird aus dieser Perspektive ausdrücklich in sozialer Auseinandersetzung gesehen. Konsequenterweise fordern Bussey und Bandura (vgl. ebd., S.694) eine übergreifende Perspektive von Soziologie und Psychologie. Allerdings wird bei diesem „Austausch“ vor allem einer Richtung Priorität zugewiesen. Die Individualentwicklung folgt sozialer 116

Dieser Zusammenhang ist in Bezug auf die umfangreiche Medien-Rezipienz von Bedeutung (vgl. Kotthoff, 2002, S. 20).

4.4 Zusammenfassung und kritische Diskussion

151

Beeinflussung. Während in Piagets (1983) und Kohlbergs (1974) Überlegungen die Entwicklung des Individuums von seiner intrinsischen Motivation ausging, wird der Ursprung dieses Prozesses hier wieder nach außen verlegt. Dennoch ist die sozial-kognitive Erklärung der Individualentwicklung am ehesten in der Lage, die individuelle Vielfalt des Verhaltens mit seinen typischen Phänomenen und Abweichungen zu erklären (vgl. Thorne, 1994, S. 59). Der Schwerpunkt der psychologischen Theorien liegt auf der Individuierung, während die Vergesellschaftung des Individuums unscharf bleibt. Welche Konzepte zur Erklärung der Individualentwicklung – insbesondere in Bezug auf geschlechtliche Identität – bieten sie? Welche Deutungsweite kann ihnen zugeschrieben werden? In Bezug auf die kindliche Entwicklung sind die psychologischen Konzepte aussagekräftiger als die soziologischen Theorien. Psychoanalyse und Kognitionspsychologie beruhen ursprünglich auf umfassenden ontogenetischen Konzepten. Darin wurde von einer stufenweisen kindlichen Entwicklung ausgegangen. Aus psychoanalytischer Perspektive wurden diese Phasen von Erikson (1966; vgl. Kapitel 2.4) durch typische Entwicklungskonflikte gekennzeichnet. In neueren Konzepten sind u.a. Beziehungsformen voneinander abgegrenzt und kognitionspsychologische Annahmen einbezogen (vgl. Fast, 1991, S. 100). Bei Piaget (1983; Piaget & Inhelder, 1991) und Kohlberg (1974) kennzeichnen bestimmte Denkmuster die jeweiligen Stufen. Das Individuum strebt eine Erweiterung und Stabilisierung dieser kognitiven Strukturen an, was es durch die Integration von Umwelteinflüssen erreicht. Bussey und Bandura (vgl. 1999, S. 694ff.) vermeiden innerhalb ihres sozialkognitiven Konzeptes die Formulierung eines Entwicklungsmodells. Allerdings sind ihre theoretischen Beschreibungen so weit herausgearbeitet, z.T. einzelnen Lebensphasen zugeordnet und mit Empirie hinterlegt, dass sie zu einem Verlaufsmodell zusammengefügt werden können. Die Beschreibung der geschlechtstypischen Entwicklung als Stufenmodell, wie sie in den psychoanalytischen und kognitionspsychologischen Entwürfen ursprünglich enthalten war, hat sich bei empirischer Prüfung als problematisch erwiesen. Die Vertreter und Vertreterinnen dieser Perspektiven unternahmen dementsprechend große Anstrengungen ihre Konzepte zu modifizieren. Aus sozial-kognitiver Sicht wird zwar ein umfassender Erklärungsversuch aus äußeren Einflüssen und kognitiven Prozessen entworfen. Wesentliche Aspekte, wie die

152

4 Entwicklungspsychologische Konzepte

Nachahmung gleichgeschlechtlicher Modelle oder die unterschiedliche Behandlung von Jungen und Mädchen durch ihre Eltern, lassen sich aber nur schwer empirisch belegen. Innerhalb der kognitionspsychologischen und sozial-kognitiven Perspektiven wird der ursprüngliche motivatorische Antrieb der geschlechtstypischen Entwicklung entweder im Individuum selbst verortet oder als Ergebnis äußerer sozialer Einflüsse betrachtet. Dieser Widerspruch kann bisher nicht eindeutig aufgelöst werden. Darüber hinaus sind die geschlechtstypischen Phänomene in der Entwicklung von Jungen und Mädchen kindheitsspezifisch. Die Trennung in homogene Spielgruppen und die Ausprägung besonderer Interaktionsformen in diesen Gruppen sind kein Abbild der Welt der Erwachsenen. Viele sozialisatorische Prozesse finden innerhalb dieser Kindergruppen statt, was ihre Untersuchung und Einbindung in theoretische Konzepte zusätzlich erschwert (vgl. Maccoby, 2000, S. 183, 226). Berücksichtigt werden muss außerdem, dass die Entwicklung nicht mechanisch von einer tatsächlichen Umwelt, sondern auch von einer aus der Sicht der Kinder konstruierten Umgebung beeinflusst wird. Sie erkennen Modelle, die den Geschlechterverhältnissen aus Erwachsenensicht nicht entsprechen. Die Perspektive der Kinder sollte demzufolge stärker in die theoretischen Überlegungen einbezogen werden, um Verzerrungen zu vermeiden (vgl. Bussey & Bandura, 1999, S. 699, bzgn. auf Cordua, McGraw, & Drabman, 1979; Signorella & Liben, 1984; Kapitel 5.4). Die Theorie Dynamischer Systeme bietet eine vielversprechende Grundlage, um die beschriebenen Konzepte miteinander zu verknüpfen: Furthermore, the DS approach has potential to provide a theoretical umbrella that would incorporate aspects of many gender development theories. Specifically, adopting a DS approach suggests new ways to collect, analyze, and describe data but provides limited guidance on which parameters to study, existing theories help to fill that gap. (Martin & Ruble, 2009, S. 367)

Die genaue Einordnung von theoretischen Annahmen und empirischen Befunden in einen zeitlichen Verlauf, ohne dabei simple lineare Beziehungen anzunehmen, kann die Kontroversen um Stufenmodelle aufbrechen. Die geschlechtliche Entwicklung muss als „fluide“ beschrieben werden. Der Prozess der geschlechtlichen Individualisierung ist komplex und dabei in hohem Maße determiniert, aber gleichzeitig situativ flexibel. Ein starres ontogenetisches Konzept kann ihn nicht zufriedenstellend

4.5 Schlussfolgerungen

153

abbilden, ohne sich in Widersprüche zu verstricken (vgl. Trautner, 2008, S. 633f.).117 Dieser Erkenntnis entspricht die von Fausto-Sterling et al. (vgl. 2011b, S. 4f.) geforderte Betrachtung von Verhaltensmustern als „softlyassembled“, also als in der dynamischen Wechselwirkung von biologischen und sozialen Einflüssen gebildet und veränderbar. Der bei der Betrachtung dynamischer Systeme verwendete Embodiment-Ansatz ermöglicht zudem eine angemessene Berücksichtigung des neurophysiologischen Niederschlags in den Körpern der Individuen bzw. dessen leiblich-affektiver Erfahrung. Durch die genaue Untersuchung individueller Entwicklungsverläufe können Verhaltensformen beschrieben werden, ohne dabei auf Stereotype als Orientierungsfolie zurückzugreifen. 4.5

Schlussfolgerungen

Abschließend werden die entfalteten Theorien auf das hier zu untersuchende Datenmaterial bezogen. Schwerpunkt der Forschungsarbeit ist die Entstehung von Geschlechtsidentität in Interaktionen. In den psychologischen Konzepten ist kein breites interaktionistisches IdentitätsVerständnis enthalten. Identität ist hier vor allem ein dem Subjekt innewohnendes Konstrukt (vgl. Erikson, 1966, S. 136ff.). Im Mittelpunkt der Theoriebildung steht die innerpsychische Entwicklung des Kindes. Die Psychoanalyse wurde aber zunehmend zu einer Beziehungstheorie ausgebaut. Die beschriebenen unbewussten, innerpsychischen Prozesse sind mit sozialen Wechselwirkungen verknüpft, die auf die geschlechtliche Identität hinwirken. Auf Formen und Inhalte dieser Interaktionen kann geschlossen werden. Darüber hinaus wird im psychoanalytischen Diskurs zunehmend die soziale Symbolwirkung des Körpers berücksichtigt (vgl. Brandes, 2002, S. 38). Die Bezugnahme auf eine psychische Tiefenschicht bietet die Möglichkeit, affektive Phänomene und damit eine leibliche Ebene in die Erklärungsversuche einzubeziehen (vgl. Böhnisch, 2004, S. 61, 112). Die kognitionspsychologischen Deutungen geben Hinweise auf den Inhalt der Interaktionen. Erwachsene und Kinder werden ihre 117

„Wir haben es zweifellos mit einem komplizierten Gefüge verschiedener Ursachen zu tun, dessen einzelne Komponenten sich wechselseitig ergänzen und verstärken“ (Maccoby, 2000, S. 102).

154

4 Entwicklungspsychologische Konzepte

Geschlechtsidentitäten entsprechend ihrer jeweiligen Muster des Denkens miteinander aushandeln. Die sozial-kognitiven Überlegungen enthalten im Vergleich zu Psychoanalyse und Kognitionspsychologie umfangreichere Konzeptualisierungen interaktiver Prozesse und ihrer Auswirkungen. Zudem wird die affektiv-emotionale Verwurzelung motivatorischer Prozesse berücksichtigt. Geschlechtsidentität als eine soziale Konstruktion wird – wie aus soziologischer Perspektive festgestellt (vgl. Kapitel 3.5-3.6) – vor allem zwischen Menschen relevant. Daher ist auch mit Blick auf die psychologischen Theorien nach Interaktionsprozessen zu fragen. Zwar schauen die Vertreterinnen und Vertreter dieser Konzepte aus ihrer eher subjektivistischen Perspektive meist an der Interaktion vorbei. Trotzdem lassen sich auch aus diesem Blickwinkel interaktive Dimensionen konkretisieren, nach denen gefragt werden kann: 

   



Bringen die beteiligten Kinder in ihren Interaktionszügen identifikatorische Selbstzuschreibungen oder Abgrenzungen bzw. Zurückweisungen von Eigenschaften des Gegenübers zum Ausdruck? Werden von ihnen identifikatorische oder abgrenzende Bezugnahmen auf abwesende Figuren hergestellt? Sind nonverbale Wechselwirkungen identifizierbar, die auf den gegenseitigen Austausch des Symbolgehaltes von Mimiken, Gesten und Körperhaltungen verweisen? Werden unwillkürliche nonverbale und verbale Ausdrucksformen leiblich-affektiver Spannungen auffällig? Kommt es zu diskursiven Aushandlungen von Geschlechterverhältnissen und -beziehungen sowie von Geschlechterstereotypen zwischen den Erwachsenen und Kindern? Zeigen sich in diesen Interaktionen individuelle kognitive Strukturen bzw. werden diese erweitert? Entfalten sich Prozesse des Vorführens und Nachahmens verbunden mit evaluativen und erklärenden Ergänzungen?

4.5 Schlussfolgerungen

 

155

Äußern die Erwachsenen verbale und nonverbale motivatorische Verstärkungen bzw. geben sie Handlungsanleitungen und Erklärungen? Machen die Kinder selbstevaluatorische Äußerungen?

Diese Aspekte konkretisieren die gestellten Forschungsfragen weiter (vgl. Kapitel 1.2). Das abstrakte Erkenntnisinteresse wird deutlicher. Es kann davon ausgegangen werden, dass die genannten Aspekte im Datenmaterial ihre Spuren hinterlassen haben, da die entwicklungspsychologischen Phänomene auch innerhalb der Interaktionen zwischen Kindern und Fachkräften in Kindertagesstätten relevant werden. Diese Aufzählung bleibt aber vorläufig und kann erst auf der Grundlage empirischer Fakten an Bedeutung gewinnen. Die theoretische Auseinandersetzung mit psychologischen Konzeptualisierungen ist an dieser Stelle abgeschlossen. In den folgenden Kapiteln werden die Ergebnisse von Studien erläutert, die geschlechtstypische Interaktionsformen von Erwachsenen und Kindern und die kindliche Sicht auf die Geschlechterverhältnisse betreffen.

5

Forschungsbefunde

5.1

Einleitung

In diesem Kapitel werden zuerst Überblicksveröffentlichungen und konkrete Forschungsbefunde erläutert, die mögliche Unterschiede im Interaktionsverhalten von Männern und Frauen bzw. Jungen und Mädchen sowie die Möglichkeit einer differenziellen Behandlung von Kindern unterschiedlichen Geschlechts betreffen. Der darauffolgende Abschnitt betrifft Studien, die in besonderer Weise die Perspektive der Kinder einbeziehen. Die erläuterten Befunde stammen aus verschiedenen Bereichen der Forschung. Die Bandbreite reicht von entwicklungspsychologischen Experimentalstudien bis zu soziologischen Ethnographien. Die Auswahl ist an der vermuteten Relevanz für das vorliegende Forschungsvorhaben orientiert. Mit ihr wird keine Vollständigkeit beansprucht. 5.2

Geschlechtstypische Interaktionsformen: Männer und Frauen

In Bezug auf Erwachsene liegen Vergleichsstudien zum Interaktionsverhalten von Männern und Frauen vor. Das Verhalten von Müttern und Vätern wurde im Rahmen der Bindungstheorie untersucht. Darüber hinaus werden Befunde zitiert, die unterschiedliches pädagogisches Handeln von männlichen und weiblichen Fachkräften in Kindertagesstätten betreffen. Zusätzlich wird noch einmal auf Annahmen zur differenziellen Behandlung von Jungen und Mädchen sowohl durch Mütter und Väter als auch durch pädagogische Fachkräfte eingegangen. Entsprechende Zusammenhänge wurden bereits bei der Bewertung der sozial-kognitiven Konzeptualisierungen herangezogen (vgl. Kapitel 4.3.7). Aries (vgl. 1996, S. 194ff.) hat eine umfangreiche Überblicksveröffentlichung zu möglichen Unterschieden im Interaktionsverhalten von Männern und Frauen vorgelegt. Aus ihrer Perspektive werden viele Differenzierungen überbewertet, da der Einfluss anderer Faktoren – wie vor allem der Status der Beteiligten – übersehen wurde. Nach einer Überblicksstudie von Leaper (vgl. 2014, S. 67f.) sind die Unterschiede im Durchschnitt gering. Auffällig sind aber einzelne © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Andrä, Die Konstruktion von Männlichkeit in kindheitspädagogischen Interaktionen, Kultur und gesellschaftliche Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24904-5_5

158

5 Forschungsbefunde

beständige Signifikanzen. Entgegen stereotyper Annahmen sprechen Männer insbesondere in geschlechtergemischten Konstellationen mehr als Frauen („talkativeness“) und neigen eher zu Unterbrechungen anderer. Auffällig ist, dass die Ausprägung dieses Verhaltens vom Inhalt des Gespräches abhängig ist. Männer äußern sich vor allem in Bezug auf unpersönliche Themen, während sich das Ergebnis zugunsten von Frauen umkehrt, wenn es sich um Gespräche mit Kindern oder um den Austausch persönlicher Inhalte mit anderen Erwachsenen handelt. Sprechakte werden als durchsetzungsorientiert („assertive“) oder partnerschaftlich („affiliative“) charakterisiert. Beide Aspekte müssen sich aber nicht ausschließen, sondern können in einem orthogonalen Konstrukt weitere Ausprägungen bilden. Im Überblick werden die Sprechakte von Frauen eher als kooperativ und die von Männern stärker als bestimmend charakterisiert, wobei die Unterschiede im Durchschnitt sehr gering sind. Der Kontext und die Gesprächsinhalte haben einen großen Einfluss auf das Verhalten. Die Ausprägungen verstärken sich in gleichgeschlechtlichen Konstellationen und gegenüber Fremden. Männer verhalten sich zudem dominanter als Frauen, wenn es um unpersönliche Themen geht, während Frauen insbesondere dann partnerschaftlicher als Männer kommunizieren, wenn die Inhalte persönlicher sind. Ursache für diesen Effekt ist möglicherweise, die in der sozial-kognitiven Entwicklungspsychologie beschriebene Annahme von Selbstwirksamkeit. Männer und Frauen fühlen sich (im Durchschnitt) in diesen Bereichen „wie zu Hause“ (vgl. Leaper, 2014, S. 77; Kapitel 4.3.5). Die Gesprächsdominanz wird aufgrund der Ausprägungen der Indikatoren Redezeit, Häufigkeit von Unterbrechungen anderer und der Anzahl von Belehrungen definiert. Rössel (vgl. 2015, S. 186, bzgn. auf Leaper & Ayres, 2007) legt einen entsprechenden Befund vor. Bei der Untersuchung des Diskussionsverhaltens von Studierenden und Auszubildenden zeigten die männlichen Studierenden stärkere Ausprägungen aller drei Indikatoren kommunikativer Dominanz. Die Ergebnisse offenbaren gleichzeitig den Einfluss kontextueller Faktoren. Die Studenten übernahmen dieses Verhalten im Gespräch erst, wenn neben den Studentinnen auch Auszubildende an der Gruppendiskussion teilnahmen. Dann entstand durch die unterschiedliche Verteilung des kulturellen Kapitals ein Machtritual zwischen den Gruppen, in dem das geschlechtstypische Verhalten der Männer hervortrat (vgl. ebd., S. 185ff.).

5.2 Geschlechtstypische Interaktionsformen: Männer und Frauen

159

Die Hypothesen der Bindungstheorie wurden in Deutschland durch Karin und Klaus E. Grossmann (2004) in zwei umfangreichen Längsschnittstudien untersucht. Ihre Befunde ermöglichen auch Aussagen zu unterschiedlichen Schwerpunkten im Bindungsverhalten von Müttern und Vätern. Ausgangspunkt war die Annahme einer Komplementarität zwischen den Einflüssen beider Elternteile auf das Kind: „Die Anerkennung der Bindungsbedürfnisse eines Kindes durch die Eltern muß durch die Anerkennung seines Explorationsbedürfnisses ergänzt werden, damit es allmählich seine Beziehungen zu anderen Kindern und Erwachsenen ausweiten kann“ (Bowlby, 1987, S. 58, zitiert in ebd., S. 224). Da das experimentelle Arrangement der „Fremden Situation“ für Väter unpassend schien, entwickelten Grossmann und Grossmann (vgl. ebd., S. 224ff.) eine Experimentalsituation, die eine Bewertung ihrer Spielfeinfühligkeit ermöglichte. Das dabei operationalisierte „sensitive Herausfordern“ als spezifische Qualität der Väter im Vergleich zu der vor allem Müttern zugeschriebenen Feinfühligkeit erweitert das Bindungsspektrum. Die biographischen Längsschnittuntersuchungen zeigten bei den betroffenen Kindern noch im jungen Erwachsenenalter positive Zusammenhänge zwischen ihrer Bindungssicherheit und der im Kleinkindalter festgestellten Spielfeinfühligkeit ihrer Väter (vgl. ebd., S. 232ff.). Die Hypothese der Komplementarität zwischen väterlichem und mütterlichem Verhalten wird im Fachdiskurs allerdings zunehmend kritisiert. Die Beziehungen zwischen Vätern und ihren Kindern stehen in einem partnerschaftlichen, familiären und soziokulturellen Kontext, der nicht vernachlässigt werden darf. Die Ergebnisse der Bindungsforschung sind daher auch Auswirkungen eines Lebensstiles und einer spezifischen familiären Situation auf das Erziehungsverhalten der Eltern statt Folge des Geschlechts der Handelnden. Als Konsequenz wird eine systemische Perspektive als Grundlage der Forschung gefordert. Das Verhalten von Müttern und Väter soll unter Berücksichtigung des relationalen Zusammenhangs untersucht werden (vgl. Tamis-LeMonda, 2004, S. 224). In Zusammenhang mit der wachsenden Zahl männlicher Fachkräfte in Kindertagesstätten wurde die Diskussion über geschlechtstypisches erzieherisches Verhalten auf den Bereich der Kindheitspädagogik ausgeweitet. Brandes, Andrä, Röseler und Schneider-Andrich (2016, S. 47f., Hvhg. i. O.) warnen aber davor, die Ergebnisse der

160

5 Forschungsbefunde

entwicklungspsychologischen Forschung auf pädagogische Fachkräfte zu übertragen: Während im familiären Kontext die besondere Nähe zum eigenen Kind, spontane Kommunikationsweisen und intuitives Einfühlungsvermögen Grundlage des Handelns sind, sind es im professionellen Bereich sowohl Fachwissen und wie auch systematisch geschultes Kommunikations- und Einfühlungsvermögen. Angesichts dessen, was heute als Standards für eine professionelle Tätigkeit im Bereich der Kindertageseinrichtungen gesetzt wird, ist weder hinsichtlich der Qualifikation weiblicher Pädagoginnen vertretbar, auf deren ‚intuitive Mütterlichkeit‘ zu spekulieren, noch lässt sich professionelles männliches Erziehungshandeln auf ‚Väterlichkeit als Beruf‘ reduzieren.

Inzwischen liegen erste vergleichende Studien für männliche und weibliche Fachkräfte in der Kindheitspädagogik vor, die den professionellen Kontext berücksichtigen. Sandberg und Pramling-Samuelsson (2005) führten eine Interviewstudie mit je zehn weiblichen und männlichen Fachkräften durch und untersuchten die Ansichten und Erfahrungen in Bezug auf das Spiel. Die Männer waren eher bereit, sich direkt ins Spiel mit den Kindern zu begeben. Diese Ansicht bestätigten Befragte beider Geschlechter. Frauen förderten überwiegend ruhiges Spiel und hoben die Bedeutung sozialer Entwicklung hervor. Die männlichen Fachkräfte bewerteten körperliche Fähigkeiten höher als ihre Kolleginnen. Die Männer und Frauen der Stichprobe sahen ihr Handeln als Erwachsene in Zusammenhang mit eigenen Erfahrungen in ihrer Kindheit (vgl. ebd., S. 303f.). Aigner, Burkhardt, Huber, Poscheschnik und Traxl (2013) haben einen ersten, auf Verhaltensbeobachtungen beruhenden, direkten Vergleich männlicher und weiblicher Fachkräfte vorgelegt. Fünf Erzieher bzw. gemischtgeschlechtliche Teams wurden in der multimethodal angelegten Studie mit Erzieherinnen verglichen. Es zeigten sich nur geringfügige Unterschiede. Die männlichen Fachkräfte interagierten lediglich „etwas häufiger positiv sowie weniger durchsetzungsorientiert“ (ebd., S. 74, Hvhg. MA) mit den Kindern. In Bezug auf den Aspekt der „Nachgiebigkeit“ waren ihre Wertausprägungen daher höher. Glüer (2014) unternahm ebenfalls eine Vergleichsstudie des erzieherischen Verhaltens. Zur Stichprobe gehörten 77 weibliche und 37 männliche Fachkräfte. Grundlage der Analyse war u. a. der „Swiss Teaching Style Questionnaire“. Zwischen Männern und Frauen

5.2 Geschlechtstypische Interaktionsformen: Männer und Frauen

161

konnten in Bezug auf die Explorationsunterstützung der Kinder keine Unterschiede belegt werden. Männliche Fachkräfte machten diesbezüglich aber mehr Angebote, während ihre Kolleginnen den Kindern mehr verbale emotionale Unterstützung und mehr Lernmöglichkeiten eröffneten. In der von 2010 bis 2014 durchgeführten Tandem-Studie wurde das erzieherische Verhalten von je 41 männlichen und weiblichen Fachkräften auf der Grundlage einer quasiexperimentellen Spielsituation mit quantitativen und qualitativen Methoden ausgewertet (Brandes et al., 2016).118 Die Männer und Frauen der Stichprobe arbeiteten jeweils in gemischtgeschlechtlichen Teams („Tandems“), sodass eine Gleichverteilung wesentlicher Einflussfaktoren auf das pädagogische Handeln bestand, d.h. z.B. konzeptionelle oder institutionelle Hintergründe waren in beiden Teilgruppen in gleichem Ausmaß verbreitet. Die Datenanalyse konnte keine wesentlichen Unterschiede im pädagogischen Handeln von Männern und Frauen belegen. Allerdings machten die Erzieherinnen und Erzieher unterschiedliche inhaltliche Angebote. Männliche Fachkräfte bedienten eher die Vorliebe von Jungen zu gröberen Materialien, grobmotorischen Aktivitäten und Wettkampf. Weibliche Fachkräfte kamen häufiger der Neigung von Mädchen zu feinmotorischen Aktivitäten und darstellendem Spiel entgegen. Dabei deutete vieles auf einen Wechselwirkungsprozess zwischen Erwachsenen und Kindern. Beide Seiten brachten Vorlieben in die Interaktionen ein, die dann zu Passungen oder Abgrenzungen führten. Ob die jeweiligen Präferenzen geschlechtsspezifisch begründet oder eher auf geschlechtlich segregierte biographische Erfahrungen zurückzuführen sind, kann nicht abschließend geklärt werden (vgl. ebd., S. 167). Die statistische Auswertung des Verhaltens im Rahmen der Tandem-Studie ergab zusätzlich, dass sowohl Erzieher als auch Erzieherinnen Jungen und Mädchen gleichermaßen unterschiedlich behandelten. Die Differenzen betrafen vor allem die Art der Kommunikation und traten bei weiblichen Fachkräften etwas deutlicher hervor. Mit Jungen wurde eher sachlichgegenstandsbezogen und mit Mädchen vor allem persönlich und beziehungsorientiert sowie phantasievoller kommuniziert (vgl. ebd., S. 86). 118

Aus dem umfangreichen Datenmaterial dieser Forschungsarbeit stammen die in der vorliegenden Studie untersuchten Videoaufnahmen.

162

5 Forschungsbefunde

Der Aspekt des unterschiedlichen Umgangs mit Jungen und Mädchen wird auch an anderen Stellen der entwicklungspsychologischen und erziehungswissenschaftlichen Forschung diskutiert. Maccoby (vgl. 2000, S. 183ff.) vertritt in ihrer Überblicksveröffentlichung zur geschlechtlichen Individualentwicklung die Position, dass Väter und Mütter ihre Söhne und Töchter im Allgemeinen gleich behandeln. Allerdings beschreibt auch sie bestimmte Differenzierungstendenzen: So ist der körperliche Umgang mit Mädchen sanfter als mit Jungen. Gegenüber Letzteren versuchen beide Elternteile sich deutlicher durchzusetzen. Außerdem wird mit Mädchen ausführlicher über Gefühle gesprochen. Die sozialisatorische Wirkung dieser Unterschiede ist aber unklar, da der Zusammenhang zwischen dem Verhalten von Eltern und Kindern bisher nicht erforscht ist. So ist es auch möglich, dass die differenzierende Behandlung eher Folge als Ursache kindlichen Verhaltens ist. Des Weiteren ist unklar, ob die sozialisatorisch bedeutsamen Interaktionsformen in getrennten Peergruppen etwas mit vorherigen familiären Erfahrungen der Jungen und Mädchen zu tun haben oder auf andere Ursachen zurückgeführt werden müssen (vgl. ebd., S. 186ff.; Kapitel 5.3, 5.4). Auch im institutionellen Erziehungskontext gibt es weitere Hinweise für eine differenzielle Behandlung von Jungen und Mädchen. Allerdings muss eingeschränkt werden, dass die Stichproben meist ausschließlich weibliche Fachkräfte umfassten. Ahnert, Pinquart und Lamb (2006) sehen in mehreren Studien belegt, dass Mädchen eher sichere Bindungen zu ihren Erzieherinnen entwickeln als Jungen. An anderer Stelle nimmt Ahnert (2004, S. 272) daher an, „dass Erzieherverhalten und -erwartungen deutlicher durch Geschlechtsstereotype geprägt sind als ursprünglich angenommen.“ Kuger et al. (2011) verglichen das pädagogische Verhalten gegenüber Jungen und Mädchen in Kindertagesstätten. Sie untersuchten, welche Aktivitäten von den fast ausschließlich weiblichen Fachkräften der Stichprobe angestoßen wurden und welche Förderbereiche davon berührt waren. Es zeigten sich kaum Hinweise auf eine Zuschreibung stereotyper Eigenschaften an Jungen und Mädchen. Das praktische Verhalten der Fachkräfte gegenüber Kindern beider Geschlechter glich sich ebenfalls. Der einzige, sich im ersten und letzten Jahr des Kita-Besuchs wiederholende, signifikante bzw. annähernd signifikante Befund ist im vorliegenden Zusammenhang aber bemerkenswert: Die Fachkräfte begaben sich häufiger

5.2 Geschlechtstypische Interaktionsformen: Männer und Frauen

163

in eine beobachtende Haltung gegenüber selbst gewählten Aktivitäten von Mädchen (vgl. ebd., S. 281). Wolter, Glüer und Hannover (2014) stellen neben engeren Bindungen auch größere Vorläuferkompetenzen von Mädchen fest. Sie vermuten deshalb, dass Erzieherinnen aufgrund ihrer eigenen Kompetenzen angemessenere Lernangebote für Mädchen machen. Bei beiden Studien ist ein Zusammenhang zu den oben erwähnten Ergebnissen von Ahnert et al. (2006) naheliegend. Möglicherweise besteht von Seiten der überwiegend weiblichen Fachkräfte aufgrund ähnlicher biographischer Erfahrungen eine höhere Affinität zu den Handlungen der Mädchen. Aigner et al. (vgl. 2013, S. 84) kommen aber auf der Grundlage einer gemischtgeschlechtlichen Stichprobe ebenfalls zum Ergebnis besserer Beziehungen zwischen Mädchen und weiblichen und männlichen Fachkräften. Daher kann auch angenommen werden, dass weniger eine Passung aufgrund ähnlicher sozialisatorischer Prägungen, sondern unterschiedliches Verhalten von Jungen und Mädchen ursächlich ist (vgl. Maccoby, 2000, S. 186ff.). Abschließend wird ein besonderer Aspekt in den Vordergrund gerückt: Das differenzielle Handeln der Eltern ist stärker auf Jungen ausgerichtet. Der Spielraum für geschlechtsuntypisches Verhalten ist für sie kleiner. Ein von Siegal (vgl. 1987, S. 201) erstellter Überblick über diesbezügliche Forschungen legt zudem nahe, dass Väter diese Differenzierung deutlicher hervorheben, als Mütter es tun. Insbesondere hinsichtlich Disziplin und körperlicher Anregung stellen sie höhere Anforderungen an Jungen. Allerdings bleibt auch hier unklar, ob das besondere väterliche Handeln nicht ein Ergebnis des Verhaltens der Kinder ist, statt dieses ursächlich beeinflusst zu haben (vgl. Maccoby, 2000, S. 184). Ähnliches zeigt sich bei Cahill und Adams (1997) für einen professionellen pädagogischen Kontext. Sie befragten 103 fast ausschließlich weibliche „childhood teachers“ in den USA mit quantitativen Skalen nach ihren Einstellungen zu Geschlechtsrollen von Erwachsenen und Kindern. Die Pädagoginnen und Pädagogen der Stichprobe waren zwar offen für Abweichungen vom traditionellen Geschlechterverhalten. Sie zeigten aber bei Mädchen eine größere Akzeptanz für vermeintlich maskuline Merkmale als gegenüber femininen Zügen bei Jungen. Nach Meinung der Forscherinnen haben sich die gesellschaftlichen Normen für das Spielverhalten von Mädchen erweitert, während das für Jungen weniger der Fall ist (vgl. ebd., S. 526).

164

5 Forschungsbefunde

Die Abweichungen im Interaktionsverhalten zwischen Männern und Frauen sind im Gesamtüberblick wesentlich geringer, als die weit verbreiteten Geschlechterstereotype vermuten lassen. Einen großen Einfluss haben Kontextfaktoren. Das bestätigen auch Forschungen zur Wirkung von Geschlechterstereotypen in Interaktionen. Die Beteiligten richten ihre Selbstdarstellung an den Erwartungen des Gegenübers aus (vgl. Eckes, 2008, S. 174ff., bzgn. auf Zanna & Pack, 1975, Skrypnek & Snyder, 1982; Morier & Seroy, 1994, S. 502). Manche Differenzen, wie z.B. das eher herausfordernde Verhalten von Vätern, sind vermutlich Artefakte gesellschaftlicher Rollenverteilungen, die in die Untersuchungen eingeflossen sind. In den Forschungsergebnissen zeigt sich die beharrliche Wirksamkeit habitualisierter Vorlieben, die in Wechselwirkungsprozessen mit Kindern hervortreten. Bemerkenswert ist, dass die Handlungsspielräume für Jungen – insbesondere von Vätern, aber auch von Müttern sowie von männlichen und weiblichen Fachkräften – stereotyper eingegrenzt werden. In der Begegnung mit Anderen und insbesondere in Interaktionen zwischen Erwachsenen und Kindern bedarf männliche Identität offensichtlich der „Verteidigung“.119 Nachdem die bisher erläuterten Befunde vor allem Erwachsene betrafen, werden im Anschluss Studien vorgestellt, in deren Fokus das Verhalten von Jungen und Mädchen steht. 5.3

Geschlechtstypische Interaktionsformen: Jungen und Mädchen

Vor der vertiefenden Betrachtung von Forschungsbefunden zu möglichen Verhaltensunterschieden von Jungen und Mädchen wird die Entwicklung der Geschlechtsidentität in der frühen Kindheit kurz zusammengefasst. Bereits Kleinkinder können gegen Ende ihres ersten Lebensjahres Männer und Frauen unterscheiden, und zwar vor allem auf der Grundlage äußerer Attribute wie der Haarlänge, der Kleidung oder der Stimme. Die eigene kategoriale Zuordnung wird im Alter von ungefähr zweieinhalb Jahren möglich. Mit drei Jahren ordnen die meisten Kinder andere Angehörige 119

Die zitierten Studien belegen auf der Mikroebene direkter zwischenmenschlicher Begegnungen, was die Soziologie auf einer Makroebene erkennt: Männlichkeit ist eine Verpflichtung (vgl. Bourdieu, 1997, S. 188f.).

5.3 Geschlechtstypische Interaktionsformen: Jungen und Mädchen

165

ihrer Geschlechterkategorie sicher einer gemeinsamen Gruppe zu. Im Vorschulalter entwickeln Jungen und Mädchen rigide Stereotype. Theorien der Intragruppenähnlichkeit und Intergruppenverschiedenheit prägen das Denken. Kinder und Erwachsene werden weitgehend nach ihrem Geschlecht und den damit verbundenen Annahmen eingeschätzt. Die Konstanz der eigenen Geschlechterkategorie wird zunehmend bewusst. Zu Beginn der Grundschulzeit haben Kinder in der Regel die genitale Grundlage des Geschlechts begriffen. Sie können konkrete äußere Erscheinungen und die Vielfalt erschlossener Wirklichkeit voneinander unterscheiden. Die Wirkmächtigkeit der Geschlechterstereotype lässt nach. Neben Unterschieden werden auch Gemeinsamkeiten zwischen den Geschlechterkategorien sowie Varianzen innerhalb einer Kategorie akzeptiert und individuelle Informationen berücksichtigt. Kinder behandeln in diesem Alter aber weiterhin maskuline gegenüber femininen Attributen und Erwachsenen- gegenüber Kinderrollen rigider (vgl. Maccoby, 2000, S. 199ff.; Trautner, 2008, S. 634ff.; Rohrmann, 2008, S. 93ff.).120 Blank-Mathieu (vgl. 2008, S. 80ff.) verweist darauf, dass die Kindertagesstätte ein wichtiger Sozialisationsraum ist. Die Kinder bilden hier häufig geschlechterhomogene Gruppen mit unterschiedlichen Spielkulturen. Das Verhalten von Jungen ist deutlich von spielerischkämpferischer Auseinandersetzung, Hierarchie-Bildung und purer Bewegungsfreude beeinflusst. Ihr Spiel ist meist raumgreifender als das der Mädchen. Außenanlagen, Turnräume und Flure werden bevorzugt. Symbolische Waffen sind oft von großer Bedeutung im Spiel, das in Distanz zu den meist weiblichen Fachkräften stattfindet. Darüber hinaus haben „Bauecken“ mit verschiedenen Möglichkeiten des Konstruktionsspiels große Bedeutung für die Jungen. Sie erproben dieses Spielzeug ausdauernd und können dabei hohe individuelle Fertigkeiten erlangen. Rendtorff (vgl. 2003, S. 105f.) meint demgegenüber, dass diese Differenzen sich aus unterschiedlichen Interaktionsformen der Erzieherinnen mit den Jungen und Mädchen ergeben können. Letztere werden von den Pädagoginnen seltener zu den für Jungen typischen Spielen angeregt. Außerdem vermutet sie eine stillschweigende, unbewusste Solidarisierung zwischen den 120

Die unterschiedlichen Entwicklungsschritte sollen einen einleitenden Überblick bieten. Die vorliegenden Forschungsergebnisse sind vielfältig. Eine umfassende Darstellung enthält die Veröffentlichung von Rohrmann (vgl. 2008, S. 93ff.).

166

5 Forschungsbefunde

Geschlechtern, was die Abgrenzung im Verhalten fördert. Im Folgenden sollen vorliegende Forschungsbefunde zu diesen Hypothesen befragt werden. Fausto-Sterling et al. (vgl. 2011a, S. 2ff.) fassen die wesentlichen Verhaltensunterschiede von Kindern bis zum dritten Lebensjahr zusammen, die durch entwicklungspsychologische Studien belegt sind. Auffällig wird ein im Durchschnitt erhöhter Aktivitätslevel bei Jungen im Vergleich zu Mädchen. Ab dem zehnten Monat sind unterschiedliche Spielzeugpräferenzen belegt, die spätestens im Alter von drei Jahren manifest werden. Im Querschnitt spielen Mädchen mehr mit Puppen und kommunizieren häufiger mit ihren Bezugspersonen, während Jungen technische Spielzeuge bevorzugen. Des Weiteren sind Mädchen ab dem sechsten Monat oft sprachlich überlegen. Diese Phänomene sind aber nicht vollständig erschlossen. Die ursächlichen Zusammenhänge sind komplexe Wechselspiele aus neurophysiologischen und sozialen Einflüssen. Zudem überlappen sich die Werte der jeweiligen Geschlechtergruppen immens und verändern sich im Lebensverlauf. Leaper (vgl. 2014, S. 62ff.) fasst die bisher beschriebenen Unterschiede im Sprachgebrauch zusammen. Mädchen sind im Sinne kommunikativer Kompetenz etwas gesprächiger als Jungen („talkativeness“). Allerdings handelt es sich auch hier um ein Ergebnis mit geringer Signifikanz. Bei Kindern unter drei Jahren ist der Befund deutlich auffälliger, was möglicherweise am schnelleren Spracherwerb von Mädchen liegt. Darüber hinaus tritt der Effekt nicht mit Gleichaltrigen, aber mit Erwachsenen auf. Zu beachten ist, dass die Stichprobe dieser Untersuchungen vor allem die Mütter der Kinder einbezog. Es bleibt unklar, ob die Ausprägung größerer Gesprächigkeit von den Mädchen ausging. Möglich ist auch, dass sie die Mütter initiierten oder dass sie in Wechselwirkung zwischen beiden Seiten entstand. In Bezug auf partnerschaftliches („affiliative“) und durchsetzungsorientiertes („assertive“) Verhalten ergeben sich die gleichen Ergebnisse wie bei Erwachsenen: Mädchen tendieren zu Kooperation, während Jungen eher versuchen, sich durchzusetzen. Allerdings sind diese Unterschiede zwar signifikant, aber im Durchschnitt nur schwach ausgeprägt. In Bezug auf Durchsetzung verstärkt sich das Ergebnis in gleichgeschlechtlichen Konstellationen, während bei Mischung der Geschlechter keine Unterschiede auftreten. Anders als bei Erwachsenen

5.3 Geschlechtstypische Interaktionsformen: Jungen und Mädchen

167

vertieft sich der signifikante Unterschied in Bezug auf partnerschaftliche Kommunikation aber nicht bei Vorgabe eines passenden thematischen Rahmens. Jungen und Mädchen zeigten z.B. beim Umgang mit Spielzeuggeschirr und -essen keine Unterschiede in partnerschaftlichen Sprachkompetenzen. Demgegenüber ist diese Fähigkeit bei Mädchen signifikant höher, wenn kein Kontext vorgegeben ist. Das wird damit begründet, dass sich die Kinder dann stereotypen Beschäftigungen in homogenen Gruppen zuwenden, wobei die Mädchen für ihr Spiel eher familiäre und fürsorgliche Inhalte wählen. Die signifikante Ausprägung bevorzugter Sprachstile tritt demgegenüber bei Männern und Frauen gerade innerhalb passender thematischer Rahmen auf, wie z.B. in sachorientierten oder eher persönlichen Gesprächssituationen (vgl. Kapitel 5.2). Werden solche Kontexte nicht vorgegeben, lösen sich die Unterschiede auf. Erwachsene wissen oder fühlen also aus sozialisatorischer Erfahrung häufig genauer, welches Verhalten zur Behauptung ihrer Identität notwendig ist und orientieren ihre Geschlechterdarstellung deutlicher an ihnen dafür passend erscheinenden „Spielfeldern“ und dazwischenliegenden Räumen der Ent-Dramatisierung, während Kinder noch spontan auf die soziale Anregung durch die Gruppe und den Kontext reagieren (vgl. ebd., S. 77; Leaper & Smith, 2004, S. 1021). Allerdings gibt es auch gegenläufige Annahmen. Als Folge der Auflösung stereotyper Spielbereiche in einer Kindertagesstätte nahm das Spiel in geschlechtergemischten Gruppen zu (vgl. Mayer et al., 2013, S. 191; Kapitel 4.1). Die sozialisatorischen Einflüsse im Vorschulalter führen dazu, dass Mädchen und Jungen Kontextinspirationen zunehmend zur Gestaltung einer geschlechtlichen Identität nutzen können bzw. ihr Verhalten entsprechend selbstevaluatorisch prüfen (vgl. Kapitel 4.3.6). Leaper und Smith (vgl. 2004, S. 1021) sehen hier das komplexe Zusammenspiel konstruktivistischer und sozialer Prozesse. Kinder passen ihr Verhalten an die bestimmten Spielsituationen innewohnenden Handlungs-Skripte an: Ein Ballspiel führt zu anderen Interaktionsformen als die Nachahmung einer familiären Konstellation. Gleichzeitig werden soziale Einflüsse Jungen und Mädchen zur Bevorzugung bestimmter Situationen anregen, in denen eben das zugehörige Handlungsskript verinnerlicht wird. Maccoby (vgl. 2000, S. 101ff.; Kapitel 4.2.4, 4.3.4, 4.3.7) sieht die Bildung getrennter Spielgruppen, in denen Jungen und Mädchen spezifische Interaktionsstile entwickeln, als wesentliches Merkmal der geschlechtlichen

168

5 Forschungsbefunde

Entwicklung in der Kindheit. Dabei wird in den jeweiligen Gruppen ein spezifisches Konfliktverhalten auffällig: Jungen entwickeln eine besondere Dynamik beim Raufen und Toben. Das sogenannte „rough and tumble play“ wird jedoch eher als prosoziales Verhalten gewertet. Es mündet nur selten in realen Aggressionen, sondern bietet stattdessen Bewegungserfahrungen, Nähe und Körperkontakte. Mädchen nutzen diese Möglichkeit seltener, möglicherweise auch wegen der bereits erwähnten differenziellen Reaktionen Erwachsener (vgl. Rohrmann & Thoma, 1998, S. 153ff.; Haug-Schnabel, 2003, S. 8). Neben solchen „Spielen an der Grenze“ (Rohrmann, 2008, S. 67) zeigen Jungen aber auch ihren Ärger offener. Demgegenüber entwickeln Mädchen in ihren Gruppen eher kooperative und verbale Konfliktlösungsstrategien (vgl. ebd., S. 68f., bzgn. auf KleesMöller, 1998). Körperliche Auseinandersetzungen unter Kindern finden meist unter Jungen statt. Das bedeutet aber nicht nur, dass Jungen eher als Mädchen körperliche Gewalt anwenden, sondern auch, dass sie häufiger Opfer von offenen Aggressionen werden. Befragungen der Kinder verweisen im Übrigen darauf, dass die unterschiedlichen Konfliktlösungsstrategien für die jeweiligen Geschlechtergruppen identitätsstiftend sind (vgl. ebd., S. 69f.).121 Dittrich, Dörfler und Schneider (vgl. 2001, S. 181ff.) führten eine ethnographisch angelegte Beobachtungsstudie zum Konfliktverhalten von Kindern in Kindertagesstätten durch. Sie beschreiben Unterschiede in den räumlichen, inhaltlichen und relationalen Aspekten der Spiele von Jungen und Mädchen. In Konfliktsituationen nutzten Jungen ihren Körper häufiger, um aktiv aggressive Haltungen einzunehmen. Mädchen agierten meist indirekter mit verbalen und symbolischen Drohungen. Die Verfasserinnen widersprechen aber einer Typisierung von Jungen und Mädchen als sachbzw. beziehungsorientiert und der stereotypen Zuschreibung von Konfliktlösungsstrategien. Sach- und Beziehungsaspekte waren bei genauerer Beobachtung in den Auseinandersetzungen meist miteinander verknüpft. Zudem müssen kontextuelle und interpersonale Zusammenhänge beachtet werden. Andere Spielinhalte bedingen anderes Konfliktverhalten: Ein Platz auf der Wippe oder im Bauwagen wird eher 121

Diese Annahmen sind im Wesentlichen aus nordamerikanischen und westeuropäischen Studien abgeleitet. Sie können nicht kulturübergreifend verallgemeinert werden (vgl. Rohrmann, 2008, S. 70f.).

5.3 Geschlechtstypische Interaktionsformen: Jungen und Mädchen

169

verbal behauptet, während z.B. im Sandkasten Objekte zum Drohen oder Werfen immer griffbereit liegen. Gebauer (1997) analysierte auf der Grundlage verschiedener Studien Kinderspiele als Aufführungen von Geschlechterunterschieden. Er erkennt bei Jungenspielen vor allem eine agonale (wettkampforientierte) Struktur („Prinzip Agon“) in Verbindung mit dem Prinzip des Zufalls („Prinzip Alea“). Mädchenspiele werden ebenfalls agonal charakterisiert, folgen dabei aber auch dem „Prinzip Mimikry“ (Nachahmung, Verkleidung). Glück und Zufall sind ausgeschlossen.122 Gebauer (vgl. ebd., S. 274) sieht in diesen Prinzipien „Transwelt-Elemente“, die die Als-ob-Struktur des Spiels mit der Alltagswelt verknüpfen. In der eigentlich „unwirklichen“ Spielhandlung wird eine mimetische Bezugnahme auf die gesellschaftliche Praxis möglich.123 In den Spielen werden habituelle Strukturen im Sinne von individuellen Vorlieben für bestimmte Spielformen wie auf einer „Probebühne“ eingeübt und verinnerlicht (vgl. Cahill, 1986, S. 178f., bzgn. auf Lever, 1976, 1978).124 Gebauer (vgl. 1997, S. 282) schlussfolgert, dass erwachsene Männer und Frauen deshalb den Institutionen der Gesellschaft, die vor allem den Prinzipien der Jungenspiele folgen, mit unterschiedlichen Voraussetzungen begegnen. Röhner (2007) hat in einer ethnographischen Beobachtungsstudie in einer Kindertagesstätte die Kommunikation von Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund untersucht. Themen, Inhalte und Interaktionsstile von Jungen und Mädchen unterschieden sich ihrer Wahrnehmung nach in hohem Maße. Die Jungen waren auffällig begeistert von Heldenspielen, „Agon“ bezeichnete im antiken Griechenland den sportlichen oder geistigen Wettkampf. „Alea“ ist das lateinische Wort für Würfel. „Mimikry“ bezeichnet ursprünglich eine besondere Anpassung an die Umgebung als Selbstschutz bei Tieren (vgl. Drosdowski et al., 1990, S. 37, 46, 502). 123 Mimetische Bezugnahme meint hier weniger die direkte Nachahmung, sondern die Konsistenz zwischen den Organisationsprinzipien von Spiel und Alltagswelt (vgl. Gebauer, 1997, S. 27). 124 „Due to preadolescent children’s continual rehearsal of behavioral displays of masculinity or femininity, moreover, their behavioral expression of these assumed essential natures tends to become habitual and, consequently, often occurs without their explicit awareness. As with walking and talking, of course, this absence of explicit awareness may contribute to the smooth performance of masculinity and femininity” (Cahill, 1986, S. 179, bzgn. auf Dewey, 1930). 122

170

5 Forschungsbefunde

Kampf und Auseinandersetzung, während sich die Mädchen vor allem mit schulischen und familiennahen Inhalten beschäftigten. Beide Geschlechter folgen in dieser Lebensphase traditionellen Stereotypen, die sie in getrennte Spielwelten führen. Nach Meinung von Röhner (vgl. ebd., S. 341f.) bilden sich diese Unterschiede nicht nur durch die Rollenvorbilder der erwachsenen Bezugspersonen. Evolutionär erworbene Prädispositionen werden zum Ausgangspunkt einer Selbstsozialisierung in geschlechterhomogenen Gruppen. Mädchen neigen aufgrund von beschleunigten sprachlichen und emotionalen Reifungsprozessen zu diskursorientiertem Spiel. Jungen geraten durch Konkurrenz und Anforderung in Erregung. Diese Unterschiede manifestieren sich in den jeweiligen Peergruppen. Röhner (vgl. ebd., S. 331, bzgn. auf Leaper, 1991, Sheldon, 1992) verweist auf einen für Jungen typischen Sprachstil, den sie mit einem Befehlston vergleicht. Die Reaktionen des Gegenübers scheinen dabei nicht relevant. Die Symmetrie des Diskurses zwischen den Beteiligten ist von geringerer Bedeutung als zwischen Mädchen.125 Mogel (vgl. 2008, S. 63ff.) legt Ergebnisse einer Laborstudie mit zwölf Jungen und dreizehn Mädchen zwischen zwei und sieben Jahren zu den Präferenzen für Spielzeuge und Spielinhalte vor. Die Vorlieben der Geschlechtergruppen waren deutlich stereotyp. Bei Jungen betrafen sie z.B. die Autogarage und bei Mädchen die Schminkecke. Interessanterweise wird eine ähnliche Unterscheidung zwischen Form und Inhalt der Handlung deutlich, wie sie Brandes et al. (vgl. 2016, S. 166, Kapitel 5.2) für männliche und weibliche Fachkräfte in Kindertagesstätten treffen: „Jungen und Mädchen unterscheiden sich also nicht so sehr in den Ausprägungen ihres Spielverhaltens und den damit zusammenhängenden kognitiven, motivationalen und emotionalen Faktoren, sondern in ihrer unterschiedlichen Präferenz für Spielgegenstände“ (Mogel, 2008, S. 67).126 125

Maccoby (2000, S. 224f.) verweist auf einen weiteren interessanten Unterschied zwischen den Spielinhalten von Jungen und Mädchen: „Mädchen scheinen sich in ihrem Spiel auf ihre künftigen Rollen in der Beziehung zu Männern vorzubereiten. Die Jungen haben andere Präferenzen und setzen beim gemeinsamen Spiel in ihren Gruppen völlig andere Schwerpunkte. Ihre Beschäftigung mit Abenteuern und Helden haben offenbar kaum etwas mit einer Vorbereitung auf die künftige Rolle zu tun, die sie (als Liebhaber, Ehemänner, Väter) in ihren Beziehungen zu Frauen übernehmen werden.“ 126 „Hinsichtlich von Standards pädagogischen Verhaltens lässt sich keinerlei Einfluss des Geschlechts nachweisen. Dagegen zeigen sich Unterschiede zwischen männlichen und

5.3 Geschlechtstypische Interaktionsformen: Jungen und Mädchen

171

Dabei liegt der Schwerpunkt nicht nur auf dem objektiven Gegenstand, sondern auch auf seiner symbolischen Deutung. So war die Puppenecke für Jungen und Mädchen gleichermaßen interessant. Während Mädchen aber fürsorgliche Handlungen erprobten, prüften Jungen die Funktionalität der Puppen. Kuger et al. (2011) untersuchten, welche Aktivitäten von Mädchen und Jungen in Kindertagesstätten selbst initiiert werden. Die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen waren gering. Entgegen der Annahme einer Zunahme geschlechterstereotypen Verhaltens gegen Ende der Vorschulzeit wurden zum zweiten Erhebungszeitpunkt noch weniger Differenzen festgestellt. Signifikant bzw. tendenziell signifikant werden allerdings beide Male die Bevorzugung von Dyaden und von parallelem Spiel durch Mädchen (vgl. ebd., S. 279). In der Innsbrucker Wirkungsstudie (W-INN) (Aigner et al., 2013; vgl. Kapitel 5.2) wurde die erzieherische Wirkung von Männern und die Zusammenarbeit von Erziehern und Erzieherinnen untersucht. Die Stichprobe umfasste fünfzehn Jungen und fünfzehn Mädchen zwischen vier und sechs Jahren aus zehn verschiedenen österreichischen Kindertagesstätten. Die Forschungsgruppe führte neben Videoaufnahmen des Kita-Alltags standardisierte Befragungen der Fachkräfte und der Eltern sowie projektive Testverfahren durch. Die veröffentlichten Befunde enthalten auch Aussagen zum Verhalten von Jungen und Mädchen. So entwickelte sich insbesondere zwischen Jungen und männlichen Fachkräften eine besondere Interaktionsform. Die Männer wurden zu Tobe-Spielen herausgefordert, während dieses Verhalten in Zusammenhang mit Mädchen und den Kolleginnen viel unauffälliger blieb (vgl. ebd., S. 81). Die videographierten Interaktionen mit den Fachkräften wurden auch nach bindungstheoretisch relevanten Verhaltensdimensionen beurteilt. Jungen suchten häufiger die Nähe männlicher Fachkräfte. Das zeigte sich insbesondere in Bezug auf die Freude am Körperkontakt und das Interesse am affektiven Austausch. Bei Mädchen war das Verhalten gegenüber Männern und Frauen im Wesentlichen gleich. Jungen zeigten zudem bei Anwesenheit männlicher Fachkräfte mehr Extrovertiertheit und Mobilität, während sich die Zusammensetzung des Teams auf das Verhalten von weiblichen Fachkräften, wenn man Vorlieben und Neigungen hinsichtlich Materialien, Themen und Spielprinzipien in den Blick nimmt“ (Brandes et al., 2016, S. 166).

172

5 Forschungsbefunde

Mädchen kaum auswirkte. Aigner et al. (ebd., S. 110) sehen hier Anzeichen für einen „Mann-Junge-Effekt“ und schlussfolgern, „dass es die Kinder selbst sind, die […] einen Unterschied zwischen den Fachkräften machen.“ Trotz vieler Unklarheiten treten einzelne Konsistenzen hervor. Auffällig sind die unterschiedlichen Konfliktlösungsstrategien und Spielformen. Jungen zeigen größeres Interesse am Wettbewerb, während für Mädchen der kooperative Diskurs in kleineren Gruppen bzw. insbesondere in Dyaden wesentlicher ist. Zudem ist die symbolische Deutung der Interaktionsinhalte bzw. der Spielzeuge für die Kinder wichtig. Insbesondere in Konfliktsituationen nehmen Jungen andere körperliche Haltungen ein als Mädchen. Der mögliche Einfluss des Kontextes darf nicht vernachlässigt werden. Seine Auswirkung auf das Verhalten scheint aber von der Entwicklung der Kinder abhängig. Nachdem die bisherigen Ausführungen vor allem Forschungsergebnisse über Kinder enthielten, stehen im Anschluss Befunde im Fokus, die mit Kindern entstanden sind. 5.4

Die Perspektive der Kinder

Die bisher erarbeiteten theoretischen Rahmungen und zitierten Befunde enthalten eine Unschärfe, die leicht übersehen wird: Die beschriebenen Herstellungsprozesse geschlechtlicher Identität bilden vor allem den Blick der Personen ab, die diese Interaktionen erforscht haben. Diese Gedankengebäude müssen aber nicht deckungsgleich mit der Sicht von Kindern sein, denn die Entwicklung, in der sie sich befinden, ist eine andere als die der beteiligten Erwachsenen. Möglicherweise wird so ein „Big Man bias“ (vgl. Thorne, 1994, S. 97ff.) – also eine Verzerrung in Richtung einer stereotypen Männlichkeit – als Artefakt übernommen, obwohl diese im Handeln der Kinder eine geringere Bedeutung hat.127 In diesem Abschnitt werden daher Studien zusammengefasst, deren Operationalisierungen die Weltsicht von Kindern im Vor- und 127

„By not being gendered and not being positioned and discussed as a masculine behaviour, many practices performed by individuals categorized as ‘boys’ and ‘men’ have been excluded from the descriptions constituting ‘a normal boy’ and from the descriptions of ‘masculinity’ presented and repeated in Masculinity Studies as well as in teachers’ daily talk about boys and masculinity“ (Nordberg, Saar, & Hellman, 2010, S. 31, Hvhg. i. O.).

5.4 Die Perspektive der Kinder

173

Grundschulalter in den Fokus rücken. Dieser Anspruch ist im deutschsprachigen Raum in besonderer Weise durch Martha Muchow128 (Muchow & Muchow, 2012) begründet worden. In ihrer „Lebensraumstudie“ wird die Weltaneignung Hamburger Kinder zu Beginn der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts in einer Art und Weise jenseits psychologischer Operationalisierungen und pädagogischer Konzepte beschrieben, die dieser Veröffentlichung bis heute Relevanz für die Kindheitsforschung verleiht: „Wir fragen nunmehr: was bedeutet der Löschplatz für diese Kinder? Wie wird er in ihre ‚Welt‘ eingeordnet? Und in welcher Weise unterscheidet sich diese von der Welt der Erwachsenen?“ (ebd., S. 113, Hvhg. i. O.).129 Auch mit diesem Kapitel wird nicht der Anspruch inhaltlicher Vollständigkeit erhoben, sondern nur der Versuch unternommen, die Breite des wissenschaftlichen Diskurses anzudeuten. Die Auswahl ist an der Stichprobe der vorliegenden Arbeit orientiert.130 Blank-Mathieu (2001) hat die Entwicklung der Geschlechtsidentität von Jungen im Vorschulalter untersucht. Sie beobachtete den Alltag in drei verschiedenen Kindertagesstätten und führte im Anschluss daran narrative Interviews mit einzelnen Kindern durch. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich Jungen an Modellen der eigenen Geschlechterkategorie orientieren, in der Kita aus Mangel an Männern vor allem an anderen Jungen (vgl. ebd., S. 350). Eine entsprechende Ausrichtung des Verhaltens vertieft sich aber erst im Vorschulalter. Keiner der von ihr befragten 29 Jungen ging näher auf die Person seiner Erzieherin ein.131 Die 128

Martha Muchow (1892-1933) war Wissenschaftlerin am Psychologischen Institut der Universität Hamburg. Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Machtergreifung und der Last persönlicher Verleumdung und beruflicher Ausgrenzung wegen ihrer Zusammenarbeit mit Menschen jüdischer Herkunft nahm sie sich das Leben. Ihre Forschungsarbeiten wurden nach ihrem Tod durch ihren Bruder veröffentlicht und später in der Bundesrepublik Deutschland wiederentdeckt (vgl. Zinnecker, 2012a, S. 19ff.; 2012b, S. 161ff.). 129 Der „Löschplatz“ war einer der von Martha Muchow genauer betrachteten „Lebensräume“ Hamburger Kinder (vgl. Muchow & Muchow, 2012, S. 112ff.) 130 Eine Überblicksdarstellung über Befragungen und Diskussionen mit Kindern – allerdings vor allem in Bezug auf die Geschlechtertrennung – findet sich bei Rohrmann (vgl. 2008, S. 50ff.) 131 Ahnert et al. (2006) verweisen auf die unsichereren Bindungen zwischen Jungen und Erzieherinnen im Vergleich zu denen von Mädchen. Aigner et al. (vgl. 2013, S. 103) kommen zu diesem Ergebnis: „Jungen berichten im Vergleich zu Mädchen zuhause deutlich häufiger

174

5 Forschungsbefunde

Wahrnehmung war deutlich auf andere Jungen gerichtet. Die in den Interviews von den Jungen am meisten genannte Person außerhalb der Kindertagesstätte war der Vater. Blank-Mathieu (ebd., S. 344, Hvhg. i. O.) verweist darauf, dass Männlichkeit für die Jungen häufig mit einer besonderen Kompetenz verknüpft war: Ob es sich dabei um Fachkenntnisse über Eisenbahnen, den Boxsport, das Zusammenbauen eines Stockbettes, das Wissen über Dinosaurier, den fachgerechten Umgang mit Konstruktionsspielzeug oder das Wissen über Ritter handelt scheint nicht entscheidend. Es sind zwar unterschiedliche Themen, die für die einzelnen Jungen wichtig sind, allen gemeinsam ist aber eine stets „männliche“ Komponente. Spezialwissen scheint für alle Jungen ein Kriterium für Männlichkeit zu sein.

Wesentlicher Hintergrund dieses Strebens nach „Expertise“ ist nach Meinung von Blank-Mathieu (vgl. ebd., S. 94) der sozialisatorische Einfluss der Gruppe der Gleichaltrigen als „Bildungsinstanz“. In der „Peergroup“ ist dieses Wissen ein wertvolles Kapital, um zu Anerkennung zu gelangen. Es ist aber nur schwer möglich, ein für die Jungen der Altersgruppe allgemein typisches Selbstbild von Männlichkeit zu beschreiben: „Je nach persönlichen Neigungen, Temperament und Vorerfahrungen entwickelt jedes Kind ein ihm eigenes Bild der Welt, auch der Welt, in der es sich als Junge erlebt“ (ebd., S. 343). Van Dieken, Rohrmann und Sommerfeld (2004) fragten 42 Jungen und 39 Mädchen im Alter von sechs bis dreizehn Jahren in halboffenen Interviews u.a., was einen richtigen Mann oder eine richtige Frau ausmacht. Jungen wurde geschlechterübergreifend meist körperliche Stärke zugeschrieben. Es zeigte sich, dass der Aspekt der Konfliktbewältigung eine entscheidende Rolle bei der Auseinandersetzung mit Geschlechterkategorien spielt. Mädchen verwiesen oft auf die körperlichen Auseinandersetzungen von Jungen, um sich selbst positiv von ihnen abzugrenzen. Diese aggressiven Handlungsoptionen waren für manche Mädchen aber auch anziehend, sodass sie sich selbst wünschten ein Junge zu sein, was umgekehrt nicht auftrat. Für Jungen war ihre vermeintlich typische Form von der männlichen Fachkraft.“ Für Jungen sind männliche Bezugspersonen in Kindertagesstätten (wenn vorhanden) offensichtlich von großer Bedeutung.

5.4 Die Perspektive der Kinder

175

der körperlichen Konfliktlösung ebenfalls identitätsstiftend. Die Aussagen über Eigenschaften von Männern und Frauen offenbarten z.T. sehr überzogene Geschlechterstereotype, die Frauen auf äußerliche Attraktivität und Männer auf eine Beschützerrolle aufgrund körperlicher Überlegenheit festlegen. Ein schlanker Körper oder modische Kleidung wurden aber auch als wesentlich für Männer beschrieben. In vielen Aussagen zeigte sich eine große Orientierungslosigkeit in Bezug auf die Geschlechterbeziehungen (vgl. ebd., S. 37ff.). Harris und Barnes (2009) untersuchten die Sicht von Mädchen und Jungen auf die Geschlechtsrollen ihrer Erzieherinnen und Erzieher. Zur Stichprobe gehörten 37 im Durchschnitt vierjährige Kinder (16 Jungen und 21 Mädchen) aus zwei verschiedenen Kindertageseinrichtungen in Australien mit männlichen und weiblichen Fachkräften in den Teams. Die Jungen und Mädchen wurden gebeten, allein oder in kleinen Gruppen Bilder ihrer Erzieherinnen und Erzieher zu malen. Die Forscherinnen zeichneten die begleitenden Konversationen auf. Die Kinder sahen Männer und Frauen kaum in unterschiedlichen Rollen in Bezug auf Spiel, Fürsorge, Lehre, Organisation oder Leitung. Allerdings vertieften sich die Abweichungen, wenn einzelne Facetten dieser Aspekte genauer betrachtet wurden. Die Kinder nannten Männer deutlich häufiger als Mitspieler bei Sport und Wettspielen. Außerdem sahen sie sie eher als Helfer, was die Forscherinnen auf eine assoziative Verknüpfung mit körperlicher Stärke, z.B. in Bezug auf das Anschieben beim Schaukeln, zurückführen. Darüber hinaus identifizierten die Kinder die männlichen Fachkräfte unabhängig von ihrer tatsächlichen Position als zentrale Autorität im Team. Jungen und Mädchen dieser Stichprobe bevorzugten deutlich Erwachsene ihres Geschlechtes beim Aufbau einer engeren Beziehung. Mädchen nahmen die Fachkräfte insgesamt häufiger als helfende Personen wahr. Möglicherweise suchten sie eher Unterstützung bei ihnen als Jungen. Jungen und Mädchen betrachteten überwiegend Fachkräfte des anderen Geschlechtes als Lehrende (vgl. ebd., S. 176f.). Die parallele Befragung der Pädagoginnen und Pädagogen zeigte, dass deren Selbstsicht von ihrer Wahrnehmung durch die Kinder abwich. Kinder bringen also ihr stereotypes Wissen über die Geschlechterverhältnisse in die Kita ein und rekonstruieren dort unabhängig von den Bemühungen der Erwachsenen Ungleichheiten. Der Mann im Erzieherberuf kann für sie

176

5 Forschungsbefunde

Geschlechterstereotype bestätigen, obwohl er sich durch seine Berufswahl jenseits von ihnen positioniert (vgl. ebd., S. 174f.).132 Nordberg, Saar und Hellmann (vgl. 2010, S. 29ff.) befragten Vor- und Grundschulkinder nach ihrem Umgang mit Geschlechternormen. In ihren Aussagen spiegelte sich zum einen das von Thorne (vgl. 1994, S. 64ff.) als „borderwork“ bezeichnete Markieren von Geschlechtergrenzen und damit ein heteronormativer Prozess: Ein „rosa Batman“, den ein Mädchen vorschlägt, wurde zurückgewiesen. Andererseits setzten sich die Kinder mit der Übertretung dieser Grenzen auseinander. Sie kannten diese Möglichkeit vermutlich aus dem pädagogischen Gleichheitsdiskurs ihrer Eltern und der Fachkräfte. Dabei entsteht z.T. eine Dialektik des „Es ist ungewöhnlich aber möglich, wenn es jemand wirklich will.“: „Boys can dance ballet, but it‘s not so common for them to do so.“ (Nordberg et al., 2010, S. 35). In solche Wendungen ist die Möglichkeit der Abweichung von Geschlechternormen mit eingeschrieben. Sie erscheint aber als Ausnahme von einer Regel. Sak, Güven, Yilmaz und Dereli (2014) befragten 45 Vorschulkinder in der Türkei nach ihrer Perspektive auf ihre Lehrerinnen (26 Kinder der Stichprobe) bzw. Lehrer (19 Kinder der Stichprobe). Die Aussagen der Kinder deuteten darauf, dass im Fokus ihrer Aufmerksamkeit eher das gemeinsame Unterrichtserlebnis als das Geschlecht der Fachkräfte stand. Zudem zeigte sich die Auswirkung des kulturellen Hintergrundes. Die Vorschule in der Türkei ist Teil des Bildungssystems und weitaus mehr mit einem normativen Verständnis von Lehren und Lernen verknüpft als z.B. die Kindertagesstätte in Deutschland. Während Männer von den Kindern in nord- und westeuropäischen Gesellschaften häufiger als herausfordernde Spielpartner in Bezug auf ausgelassene und sportliche Aktivitäten betrachtet werden, repräsentiert die Fachkraft hier stärker eine traditionelle pädagogische Rolle, die sich auch aus der Sicht der Kinder nur schwer mit spielerischem Handeln verbinden lässt. Ein interessanter Aspekt der Studie ist zudem, dass alle Mädchen und Jungen aus den Klassen der Männer diese im Gegensatz zu den Schülerinnen und Schülern der Lehrerinnen gern zu

Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, können Kinder die Wahrnehmung ihrer sozialen Umwelt zu einem Stereotyp umdeuten, selbst wenn dieses durchbrochen wird (vgl. Bussey & Bandura, 1999, S. 699, bzgn. auf Cordua, McGraw, & Drabman, 1979; Signorella & Liben, 1984; Kapitel 4.3.7). 132

5.5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

177

sich nach Hause eingeladen hätten, so als wären diese ein besonderes Kapital.133 Die aufgeführten Studien umfassen meist nur eine kleine Stichprobe und beruhen auf qualitativen Methoden. Das begrenzt zwar ihre Gültigkeit. Im Querschnitt zeigt sich aber, vor welcher Herausforderung Kinder stehen, wenn sie die geschlechtliche Welt für sich „lebend aktualisieren“ (Muchow & Muchow, 2012, S. 79). Sie müssen die eigenen, auch leiblich-affektiv bzw. habituell verankerten Erwartungen an die mit ihrer Geschlechterkategorie verbundene Identität mit dem oft widersprüchlichen situativen Handeln ihrer Bezugspersonen und den Normen der Kultur, in der sie leben, in Einklang bringen. Bei der Komplexität dieser Aufgabe ist es nicht überraschend, dass sie manchmal „kreativ“ mit der Wirklichkeit umgehen. Darüber hinaus wird deutlich, wie entfernt ihre Sicht auf die Geschlechterverhältnisse z.T. von der Perspektive der Erwachsenen und deren Egalitätsdiskurs ist. 5.5

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Die Befunde in Bezug auf das differenzielle Interaktionsverhalten von Männern und Frauen als auch Jungen und Mädchen belegen im Querschnitt nur geringe Unterschiede. Für das Forschungsvorhaben ist von Bedeutung, dass sich diese entlang von habitualisierten Vorlieben ausprägen, die sich in Wechselwirkungen verstärken und zudem von Kontexteinflüssen abhängig sind. Da die habitualisierten Handlungen weniger kognitiver Reflexion zur Verfügung stehen, sondern vor allem leiblich-affektiv empfunden werden, ist bei der Betrachtung der videographierten Spielsituationen ein besonderes Augenmerk auf die nonverbalen Anteile zu legen. Insbesondere unwillkürliche, affektive Äußerungen in Bezug auf konkrete Inhalte der Handlung oder den weiteren Sinnzusammenhang müssen im Fokus der Betrachtung stehen. Zudem ist aufschlussreich, inwiefern sich solche 133

Die Präsentation dieser Studie war Teil des Treffens der Special Interest Group „Gender Balance“ im Rahmen der EECERA-Tagung 2014. Bei dieser Veranstaltung wurde in einer weiteren, dem Verfasser vorliegenden Präsentation Vergleichbares aus Griechenland berichtet: Kinder nehmen eher weibliche als männliche Fachkräfte als Spielpartnerinnen wahr, was auf ein stereotyperes Männlichkeitsideal zurückzuführen ist (Tsigra, 2014).

178

5 Forschungsbefunde

Phänomene in Wechselwirkung mit dem Gegenüber weiter entfalten. Die aus der soziologischen Perspektive deutlich werdende allgemeine Aufwertung von Männlichkeit zeigt sich auch im Umgang mit Jungen, deren Verhalten eher normativen Erwartungen unterliegt. In Bezug auf das Datenmaterial ist zu prüfen, ob solche Geschlechter- oder Männlichkeitsnormen explizit eingefordert oder diskursiv in den Interaktionen entwickelt werden. Die Perspektive der Kinder muss in die Überlegungen einbezogen werden. Was Muchow (vgl. Muchow & Muchow, 2012, S. 113) für den großstädtischen Lebensraum gefragt hat, soll hier für die Geschlechtsidentität der Jungen geklärt werden: Was bedeutet Männlichkeit für Jungen im Vorschulalter? Wie äußern sie sich zu ihrer Geschlechtsidentität? Welche Geschlechterverhältnisse und -beziehungen nehmen sie wahr? Welche Bilder von Männlichkeit oder Weiblichkeit werden von ihnen in den Interaktionen beschrieben? Wie sehen sie ihre Bezugspersonen, insbesondere ihre Väter und Mütter? Zu welchen Männern sehen sich die Jungen heranwachsen? In Bezug auf die Kindheit ist eine distanzierte Perspektive – das Sprechenlassen der Kinder – eine besondere Herausforderung, da sich die Forschenden vielleicht von ihrem abstrakten theoretischen Wissen entfremden können, ihr Blick aber dennoch von eigenen praktischen Kindheitserfahrungen als Junge oder Mädchen getrübt bleibt. Die biographisch verknüpften Erinnerungen werden leicht nostalgisch aufgeladen und auf das Datenmaterial übertragen. Der aus dem eigenen Erleben entstandene Blickwinkel lässt sich kaum methodisch kontrollieren. Er soll aber möglichst durch die Perspektive der Kinder gelenkt werden: Die Beziehung zwischen diesen beiden Ebenen ist Teil des Forschungsfeldes. Zu fragen ist dann, was die Kinder sehen und warum sie vielleicht etwas anderes sehen als die Forschenden: Kindliche Perspektiven lassen sich nur erkennen, wenn Differenzen in der Wahrnehmung nicht als Störung, sondern als das eigentlich zu Interpretierende verstanden werden. Gegenstand der Erforschung kindlicher Perspektiven ist nicht das Kind, sondern die Beziehung zwischen Kind und Beobachter. Das betrifft ‚Störungen‘, die das Kind verursacht, indem es sich anders verhält, als der Beobachter erwartet. Und es betrifft die eigenen Projektionen. (Beck & Scholz, 2000, S. 161, zitiert in Tervooren, 2006, S. 59, Hvhg. i. O.)

5.5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

179

Der sozialisationstheoretische Blick auf Kinder soll außerdem einem weiteren Anspruch genügen (vgl. Thorne, 1994, S. 3). Jungen und Mädchen werden nicht als passive „Zöglinge“ auf dem Weg zu gesellschaftlicher Kompetenz betrachtet. Sie sind auch nicht nur die Gestalter und Gestalterinnen ihrer Sozialisation, sondern kompetente Teilnehmende an Interaktionen wie alle anderen Beteiligten auch: The unfolding of childhood is not time elapsing just for the child; it is time elapsing for its parental figures, and for all other members of society; the socialization involved is not simply that of the child, but of the parents and others with whom the child is in contact, and whose conduct is influenced by the child just as the latter’s is by theirs in the continuity of interaction. (Giddens, 1979, S. 130, zitiert in ebd., S. 175)

Kindheitsforschung darf die Gegenwart nicht nur als Verlauf in Richtung eines vorherbestimmten Ausgangs beschreiben. Geschlechtliche Sozialisation ist nicht nur Entwicklung von Varianten der Typen „Mädchen“ und „Junge“, sondern soll als interaktiver Prozess zwischen Erwachsenen und Kindern jenseits von Normen und Abweichungen betrachtet werden. Kritisch zu ergänzen ist aber abschließend, dass diese Ansprüche an die Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial als ideologische Dogmen unrealistisch wären. Eine vollständige Befreiung aus den biographischen Projektionen auf Kinder ist nicht möglich, da die eigene Kindheitserfahrung ontologischer Kern jeder Identität ist. Als Hilfsmittel der Selbstreflexion in einem interpretativen Prozess ist dieser Versuch aber hilfreich. Zusätzlich muss darauf verwiesen werden, dass das Aneignen der objektiven Welt und ihrer Symbole durch die Kinder nicht losgelöst von einem sozialen und kulturellen Rahmen stattfindet. Anders gesagt: Die Erforschung der Perspektive des Kindes auf seinen Lebensraum bedingt auch die Berücksichtigung dieses Raumes als eine Schnittstelle vieler individueller Perspektiven inklusive der des Forschers, in die Geschlechterverhältnisse bereits eingeschrieben sind (vgl. Behnken & Honig, 2012, S. 11f.).

6

Eine integrierende Perspektive

6.1

Einleitung

Das Untersuchungsobjekt dieses Forschungsvorhabens ist die Herstellung geschlechtlicher Identität in Interaktionen. Sowohl soziologische als auch entwicklungspsychologische Konzeptualisierungen beschreiben diesbezüglich ausführlich interaktive oder eher auf das Subjekt bezogene Prozesse. Der Körper des Individuums und seine leiblich-affektive Wahrnehmung werden dabei in unterschiedlichem Maße in die Entwürfe einbezogen. Bei der Auseinandersetzung mit Konzeptualisierungen von Identität wurde deutlich, dass es sich dabei nicht nur um eine Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Individuum handelt, sondern dass sich in den situativen Herstellungsmomenten von Identität immer ein Verlauf spiegelt, also auf Vergangenes und Zukünftiges Bezug genommen wird (vgl. Kapitel 2.6, 3.6, 4.5, 5.5). Erste Versuche, die analytischen Inspirationen aus den bisher entfalteten Theoriesträngen auf das vorliegende Videomaterial zu beziehen, lassen schnell passende Sequenzen wie diese hervortreten: Ein Junge baut mit einem Erzieher ein „Vogelhaus“ und greift dabei nach einem Hammer, in dessen Handhabung ihn der Mann vorher eingewiesen hat. Eine Deutung als handlungspraktische „Strukturübung“ (vgl. Bourdieu, 1993, S. 138f.) oder als Lernen am Modell (vgl. Bussey & Bandura, 1999, S. 686ff.) liegt nahe. Bei weiterer Betrachtung wirken solche Interpretationen aber aus dem sozialen Geschehen herausgerissen. Viele Anteile der Interaktionen bleiben vernachlässigt: Mimiken und Blicke, Gesten und Haltungen sowie die Betonung der Intonationsphrasen und vor allem die Verknüpfung dieser Aspekte mit den Handlungszügen des Gegenübers. Die Suche nach vorgegebenen Erklärungsmustern verwischt die komplexe „Choreographie“ des Sozialen (vgl. Thorne, 1994, S. 56ff.). Die große Herausforderung, Prozesse abzubilden, die – auch wenn es vor allem um ihre subjektive psychische Wirkung geht – sozial bestimmt sind, deutet sich bereits im andauernden Ringen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um umfassendere Konzepte an. Sie zeigt sich auch bei der Bearbeitung des empirischen Materials. Daher wird im Anschluss dem historischen Ursprung der den Menschen sozusagen „fragmentierenden“ Theorien nachgegangen, um davon ausgehend zu einem möglichst breiten © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Andrä, Die Konstruktion von Männlichkeit in kindheitspädagogischen Interaktionen, Kultur und gesellschaftliche Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24904-5_6

182

6 Eine integrierende Perspektive

Blickwinkel zu gelangen, der die verschiedenen Aspekte weitgehend in einer Perspektive vereint. Für das Forschungsvorhaben soll eine befriedigende Antwort auf folgende Frage gefunden werden: „Da man Beziehungen als solche nicht direkt wahrnehmen kann – wie ist es möglich sie zu erforschen?“ (Elias, 1987, S. 130). 6.2

René Descartes: Der Mensch als Körper unter anderen

Die „theoretische Fragmentierung“ des Menschen, wie sie in den Konzeptualisierungen sozialer Zusammenhänge deutlich wird, folgt einer besonderen Tradition des wissenschaftlichen Denkens. Wie sich in der Aussage „Cogito ergo sum“ des französischen Philosophen René Descartes134 abzeichnet, werden zwei Sachverhalte voneinander getrennt: Zum einen die Vorstellung der denkenden Loslösung von der Welt, zum anderen das „Gedacht-werden“, die soziale und körperliche Verstrickung in der Welt (vgl. Elias, 1987, S. 131, 148f.): Ich erkannte daraus, daß ich eine Substanz sei, deren ganze Wesenheit oder Natur bloß im Denken bestehe und die zu ihrem Dasein weder eines Ortes bedürfe noch von einem materiellen Dinge abhänge, so daß dieses Ich, das heißt die Seele, wodurch ich bin, was ich bin, vom Körper völlig verschieden und selbst leichter zu erkennen ist als dieser und auch ohne Körper nicht aufhören werde, alles zu sein, was sie ist. (Descartes, 1961, zitiert in Damasio, 2006, S. 330)

Dieses Denken muss aus der Epoche heraus beurteilt werden, für die es exemplarisch ist. Im Zeitalter der Renaissance begannen ab dem fünfzehnten Jahrhundert religiöse Schemata ihre Deutungskraft zu verlieren. Für Descartes war das „Cogito ergo sum“ Ausdruck seiner verzweifelten Suche nach erkenntnistheoretischer Gewissheit unter dem Eindruck sich auflösender Sicherheiten. Er fand sie nur in der Unmöglichkeit, nicht zu René Descartes (1596-1650) war ein bedeutender Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler der Renaissance. Ursprünglich aus Frankreich stammend bereiste er viele europäische Länder. Seine Unterscheidung von Geist („res cogitans“) und Körper („res extensa“) wurde zur Grundlage der Trennung von Subjekt und Objekt im wissenschaftlichen Denken der Neuzeit (vgl. Digel & Kwiatkowski, 1990, Bd. 5, S. 139). 134

6.2 René Descartes: Der Mensch als Körper unter anderen

183

denken. Sich selbst als denkende Person wahrzunehmen, bedeutet aber implizit, nicht nur Subjekt des Denkens zu sein, sondern auch zu seinem Objekt zu werden. Die beiden Perspektiven schienen für Descartes und seine Zeitgenossen voneinander getrennt. Im Fortgang dieser sich vertiefenden Weltsicht wurde das denkende Subjekt als Geist zunehmend verdinglicht und in ein räumliches Verhältnis zum Körper gesetzt. Die Menschen traten in einer „Doppelrolle“ als Subjekt und Objekt des Erlebens auf (vgl. Elias, 1987, S. 134ff.). Die Objekt-Seite dieses Dualismus umfasst aber nicht nur eine körperliche, sondern auch eine soziale Dimension: So kam etwa in Descartes‘ Gedankengängen das Selbsterlebnis eines Menschen zum Ausdruck, der auf der einen Seite sich selbst als einen von Autoritäten unabhängigen, im Nachdenken auf sich selbst gestellten Denker und Beobachter wahrzunehmen begann und auf der anderen Seite zugleich auch als Teil des Beobachteten, als einen Körper unter anderen. (ebd., S. 145f., Hvhg. MA)

Auch die Selbstsicht als Individuum, das sich als von der Gesellschaft getrennt betrachten kann, ist Ergebnis eines Denk-Prozesses über Generationen, in dem sich der Begriff „Identität“ in seinem heutigen Sinne als eine sprachliche Synthese bildete. In der Aussage „Cogito ergo sum“ ist nicht nur die Möglichkeit enthalten, sich selbst als Körper von außen zu betrachten, sondern auch die Chance, sich dem „Wir“ der Anderen gegenüberzustellen (vgl. ebd., S. 209ff.; Kapitel 2.2). Spätere Philosophen, wie John Locke (1632-1704), George Berkeley (1685-1753), David Hume (1711-1776) oder Immanuel Kant (1724-1804), übernahmen diese Perspektive. Ihre Frage nach der Verlässlichkeit der Erkenntnis ging von einem zwar im Körper verorteten, aber von ihm und der sozialen Außenwelt getrennten Bewusstsein aus. Es steht als „einzelnes ‚Ich‘ in seinem Gehäuse“ (ebd., S. 155, Hvhg. i. O.) seiner Umwelt gegenüber, kann sich ihr aber niemals sicher sein. Diese „denkende Statue“ (ebd., S. 157) wurde zum sprachlich verankerten okzidentalen Denkschema. Es gewinnt seine Überzeugungskraft zusätzlich aus der in westlichen Kulturen habituell verinnerlichten Selbstregulierung, die dem körperlichen Tun meist ein kognitives Handeln vorausgehen lässt (vgl. ebd., S. 149ff., 154ff.). Dabei ist wesentlich, dass in dieser paradigmatischen Vorstellung nicht nur das Denken vom Körper gelöst wird, sondern Letzterem auch alle

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6 Eine integrierende Perspektive

spontanen Gefühlsregungen zugeschlagen werden (vgl. ebd., S. 161): „Die Statuen sehen die Welt und bilden sich Vorstellungen von der Welt. Aber es ist ihnen versagt, ihre Glieder zu rühren. Sie sind aus Marmor“ (ebd., S. 162).135 Die Erforschung des Menschen und seiner Vergesellschaftung ist deutlich von dieser in der Tradition des okzidentalen Denkens zwar logisch scheinenden, aber doch willkürlichen Aufspaltung in geistige, körperliche und soziale Aspekte geprägt. Würden diese drei Dimensionen als Achsen in einem Koordinatensystem zusammengefügt, wäre das einzelne Subjekt jeweils ein individueller Schnittpunkt geistiger, körperlicher und sozialer Ausprägungen. Dabei ließe sich dieser Darstellung noch ein Zeitstrang als vierte Achse hinzufügen, denn das Bewusstsein der Menschen über sich selbst und andere, wie es sich in den wissenschaftlichen Konzeptualisierungen spiegelt, hat keinen zeitlosen, natürlichen Charakter, auch wenn es bei oberflächlicher Betrachtung so erscheinen mag. Elias‘ (ebd., S. 147f.) Ausführungen zur Entwicklung des Denkens in der Renaissance zeigen das anschaulich: Erlebten und fühlten Menschen auf der vorangehenden Stufe des Selbstbewußtseins, entsprechend ihrer Erziehung und ihren Lebensformen, sich selbst unmittelbarer als Mitglieder von Verbänden, von Familiengruppen etwa oder von Ständen, eingebettet in ein von Gott regiertes Geisterreich, so sahen und fühlten sie sich nun, ohne die andere Vorstellung ganz zu verlieren, in steigendem Maße als Einzelne.

Die Selbstsicht dieser Menschen lag vor allem auf der gesellschaftlichen Achse des beschriebenen Koordinatensystems, die für sie zusätzlich von einer „transzendentalen Wolke“ umgeben war. Im Gegensatz dazu würden sich die meisten Menschen in gegenwärtigen westlichen Kulturen vermutlich vor allem als individuelle Ausprägung zwischen den Dimensionen Kognition und Körper beschreiben. Der prozessuale Aspekt der menschlichen Identitätsausbildung, der sich hier aus einer historischen Perspektive abbildet, spiegelt sich in jeder singulären Biographie, wie es z.B. Elias (vgl. 1987, S. 162) beschreibt die Errichtung dieser „Mauer“ zwischen Denken und spontanem Fühlen als einen historischen Prozess von Gesellschaften und gleichermaßen als einen Aspekt der kindlichen Ontogenese. 135

6.3 Norbert Elias: Der soziale Habitus

185

in Eriksons (1966, 1971; vgl. Kapitel 2.4) Überlegungen deutlich wird. Da der Geisteswissenschaft aber lange Zeit kein Entwicklungsbegriff zur Verfügung stand, scheinen die oben erwähnten „denkenden Statuen“ bereits als Erwachsene in die Welt gekommen zu sein. Die theoretische Separierung der sozialen und körperlichen Zusammenhänge wäre – wie sich im Folgenden zeigt – ohne diese Vernachlässigung der Prozessebene gar nicht denkbar (vgl. Elias, 1987, S. 155, 268). 6.3

Norbert Elias: Der soziale Habitus

Wesentliches Ziel der theoretischen Entwürfe von Elias (vgl. 1987, S. 144ff.) ist es, diese theoretische Abspaltung sozialer Zusammenhänge gedanklich zu überwinden. Er vergleicht die Ausprägungen des Selbstbewusstseins mit einer Wendeltreppe. Je nachdem, wie hoch der Mensch auf ihr steigt, kann er auf vorherige Bewusstseinsstufen zurückblicken und diese in sein Denken einbeziehen. Diese Annahme ist aber kein gesellschaftliches Entwicklungsgesetz, das Prozesse determiniert, sondern ein „Gedankengerüst“. Nur mit diesem kritischen Herangehen ist es möglich, eine Heuristik zu erreichen, die dem Forschungsobjekt angemessen ist. Aus Descartes‘ Perspektive konnte sich der Mensch denkend von der Welt lösen und Beobachter sein und dabei sowohl auf sich als auch auf andere als Denkende und Beobachtende herabsehen. Diese Ebenen sollen auf einer höheren Stufe der „Wendeltreppe des Bewußtseins“ (ebd., S. 144) in ein Konzept der Gesellschaft integriert werden. Elias (vgl. ebd., S. 230ff.) versucht, einen „prozeß-soziologischen Zugang“ zu entwickeln, um die dynamischen Veränderungen im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft historisch und individuell-biographisch erfassen zu können. Durch die Beschreibung eines sozialen Habitus soll die wissenschaftliche Darstellung der Einbettung des Individuums in die Gesellschaft möglich werden. Kognition, Körper, Gesellschaft und prozessualer Verlauf werden durch drei wesentliche Überlegungen miteinander verknüpft:

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6 Eine integrierende Perspektive



 

Jedes „Ich“ ist nur im Verhältnis zu einem „Wir“ denkbar, d.h. das individuelle Wesen ist immer ein sozialer Mensch. Diese „Ich-WirBalance“ (ebd., S. 247) bildet in modernen Gesellschaften einen vielschichtigen sozialen Habitus und ist in ihrer jeweils verbreiteten Ausprägung abhängig von gesellschaftlichen Bedingungen (vgl. ebd., S. 246f., 269). Grundlage dafür ist eine kognitive Selbstdistanzierung, da das Individuum sich nur in dieser seiner Einzigartigkeit aus der Sicht der anderen bewusst werden kann (vgl. ebd., S. 261f.). Das Verhältnis zwischen „Ich“ und „Wir“ befindet sich in ständiger Entwicklung. Identität kann demnach nur als Prozesskontinuität erklärt werden: Der oder die Erwachsene hat eine andere Identität als das Kind, ist aber derselbe Mensch (vgl. ebd., S. 249f.).

Elias‘ Gedanken verweisen auf ein interaktionistisches Identitätskonzept auf der Grundlage kognitiver Selbstdistanzierung (vgl. Brandes, 2008, S. 45; Kapitel 2.2). Durch den Einbezug der Entwicklungsdimension wird hier aber der Körper des Individuums stärker in die Überlegungen eingebunden: Eine kontinuierliche Ich-Identität beruht auf dem Gedächtnis. Die Verinnerlichung und Bewahrung von Lebenserfahrung beeinflusst die weitere Individualisierung und macht sie erst möglich. Diese Leistung kann aber nicht nur kognitiv betrachtet werden, denn das Gedächtnis des Individuums ist nur eine theoretische Rekonstruktion der eigenen Geschichte. Die Wahrnehmung einer kontinuierlichen Ich-Identität beruht auf Erfahrungen am eigenen Leib: „Dieser Organismus ist das Substrat des Entwicklungsprozesses, den ein Mensch durchläuft. Er ist es recht eigentlich, auf den sich ein Mensch bezieht, wenn er im Verkehr mit anderen ‚Ich‘ sagt“ (Elias, 1987, S. 250f., Hvhg. i. O.). Anders formuliert: Die prozessuale und die körperliche Dimension der Identität bilden eine gemeinsame Achse. Der Körper wird zum leiblich-affektiven „Relat“ der Prozesskontinuität zwischen „Ich“ und „Wir“ (vgl. Schmitz, 2009, S. 29ff.). Diese Verflechtung zeigt sich für Elias (vgl. 1987, S. 250ff.) am deutlichsten an der Signifikanz des Gesichtes für die Selbst- und Fremdwahrnehmung. Es bildet die Entwicklungskontinuität des Individuums in besonderer Weise ab und ist gleichzeitig für die Ich-Identität von zentraler Bedeutung.

6.4 Der Mensch als Leib unter anderen Körpern

187

Mit diesen Überlegungen entsteht ein Abbild des weiter vorn beschriebenen mehrdimensionalen Raumes menschlicher Identität (vgl. Kapitel 2.6). Jedes Individuum bildet in seiner Entwicklung eine kognitive und körperliche bzw. leiblich-affektive Einheit, die sozial eingeschlossen ist. Identität kann nur unter Berücksichtigung dieser Dimensionen vollständig abgebildet werden. Jeder der genannten Aspekte ist von den anderen abhängig. Im Anschluss wird den Konkretisierungen dieser Verknüpfungen in verschiedenen wissenschaftlichen Konzeptualisierungen des Menschen nachgegangen. 6.4

Der Mensch als Leib unter anderen Körpern

Die kritische Auseinandersetzung mit dem cartesianischen Denken beschäftigt die Wissenschaften bereits seit dem neunzehnten Jahrhundert (vgl. Mies, 2013, S. 63; Gugutzer, 2002, S. 155). Mittlerweile können konkrete empirische Befunde in die Überlegungen einbezogen werden. Unterschiedliche Zusammenhänge zwischen den von Elias herausgearbeiteten Dimensionen menschlicher Identität werden deutlich. Die Herausforderung besteht nicht nur darin, den Dualismus zwischen Körper und Geist zu überwinden und die Entwicklung des Individuums in einen sozialen Rahmen einzubetten, sondern auch die unterschiedlichen Qualitäten des Körpers als objektiv-relationale Beschreibung und leiblichaffektive Wahrnehmung zu berücksichtigen. In den folgenden Ausführungen wird dieser Wissenschaftsdiskurs am Beispiel verschiedener Entwürfe und Befunde konkretisiert, die sich z.T. explizit auf die geschlechtliche Sozialisation beziehen. Dabei werden bewusst verschiedene „Schulen“ der Sozialwissenschaften und ihre Vertreterinnen und Vertreter in einem Kapitel vereint. Sie alle verbindet der Versuch, die richtigen Worte für den sich entwickelnden Menschen in seiner ganzen Verstrickung aus Körper, leiblicher Erfahrung, Geist und Beziehung zu finden. Es zeigt sich, dass diese Aspekte als eine Einheit gedacht werden müssen: Nur das Individuum, das seinen Körper leiblich-affektiv spürt, kann sich selbst und die anderen denken. Neurophysiologische Konzepte und Forschungsergebnisse übersteigen zwar den Bereich sozialwissenschaftlicher Theoriebildung, sie hinterlegen Elias‘ Argumentation aber mit deutlichen Befunden. So verweist Brandes

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6 Eine integrierende Perspektive

(vgl. 2008, S. 46f., bzgn. auf Singer, 2002, Welzer, 2006) darauf, dass menschliche Individuen neurophysiologisch nicht einzeln erklärbar sind. Die Funktionalität ihrer Gehirne ist nur in Verknüpfung mit anderen möglich. Entwicklung bedeutet nicht nur die von Elias beschriebene körperliche Kontinuität, sondern beruht immer auf sozialer Interaktion. Dementsprechend formuliert der Neurobiologe Gerald Hüther (2004, S. 489): „Die wichtigsten Erfahrungen, die einen heranwachsenden Menschen prägen und die in Form komplexer neuronaler Verknüpfungen und synaptischer Verschaltungen in seinem Gehirn verankert werden, sind Erfahrungen, die in lebendigen Beziehungen mit anderen Menschen gemacht werden.“ Ein von Interaktionen mit anderen ausgeschlossenes Individuum wird sich nicht oder nur eingeschränkt entwickeln. Collins (vgl. 2004, S. 79, bzgn. auf Bowlby, 1965, Harlow & Mears, 1979) verweist auf entsprechende Befunde aus Studien mit verwaisten Kindern. Experimente der Säuglingsforschung belegen darüber hinaus, dass bereits Neugeborene nicht nur auf Interaktionen angewiesen sind, sondern über soziale Erwartungen verfügen. Sie reagieren auf fehlende oder unpassende Reaktionen eines menschlichen Gegenübers mit deutlichem Unbehagen und gehen außerdem auf Interaktionsangebote durch eine Puppe anstelle eines Menschen gar nicht oder weniger nachahmend ein (vgl. Dornes, 2010, S. 81ff.). Das Individuum ist bereits vor dem Kontakt mit anderen sozial konstituiert. Es offenbart sich ein Zusammenhang zwischen Interaktion, Kognition und Entwicklung. Statt „Ich denke, also bin ich.“ könnte besser „Ich interagiere, also denke und werde ich.“ formuliert werden.136 Der portugiesisch-amerikanische Neurologe Antonio R. Damasio (vgl. 2006, S. 86ff.) versucht, das cartesianische Denken vor allem in Bezug auf die vernachlässigte Körperlichkeit zu überwinden. Kognitive Prozesse sind aus seiner Sicht immer mit emotionalen Zusammenhängen als Ausdrucksformen biologischer Regulationsmechanismen verknüpft.137 Damasio (vgl. ebd., S. 97) zeigt an vielen tragischen Beispielen von Forschungspraktisch ist das eine große Herausforderung: Die empirische Momentaufnahme muss in einen Sozialisationsprozess eingebettet werden (vgl. Tervooren, 2006, S. 21, bzgn. auf Kelle, 2003). Der situative Blick auf das Datenmaterial verführt zur cartesianischen Wahrnehmung von „Statuen“. 137 Nach Kenntnisstand des Verfassers werden die Begriffe „emotional“ und „affektiv“ in dieser Veröffentlichung nicht differenziert. 136

6.4 Der Mensch als Leib unter anderen Körpern

189

Menschen mit Gehirnverletzungen in Bereichen, die auch affektivemotionale Prozesse betreffen, dass sich Beeinträchtigungen im Fühlen mit Störungen des Denkens verbinden, obwohl die Intelligenz der Betroffenen im eigentlichen Sinne nicht gemindert ist. Das ist ein neurophysiologischer Beleg dafür, dass die Wahrnehmung der eigenen Identität und ihrer Entwicklung die Erfahrung des gesamten Körpers und hier insbesondere seine Emotionen einschließen muss. Zur Erklärung entwickelt Damasio (vgl. ebd., S. 227ff.) die Hypothese der „somatischen Marker“. Er nimmt an, dass diese empfundenen Körperabbilder unbewusst Entscheidungsprozesse beeinflussen. Denkprozesse sind von erinnerten Empfindungen abhängig. Emotionen können daher als Bindeglied zwischen Körper und Kognition definiert werden: „Im Gegensatz zur herkömmlichen wissenschaftlichen Auffassung sind Empfindungen ebenso kognitiv wie andere Wahrnehmungsinhalte“ (ebd., S. 16). Damasio (vgl. ebd., S. 304f.) argumentiert für einen untrennbaren Zusammenhang zwischen neuralen Vorgängen und körperlichen Prozessen jenseits der Hirnphysiologie. Die subjektive Erfahrung des Selbst hängt entscheidend von Gehirn-Körper-Wechselwirkungen ab. Kognitive Prozesse beruhen zwar auf neuronalen Aktivitäten. Diese beziehen sich aber immer auf das bereits erfahrene Schema und die Aktivität des Körpers. Gleichzeitig werden die körperlichen Funktionen fortlaufend bewusst und unbewusst aus dem Gehirn beeinflusst. Die daraus folgenden körperlichen Veränderungen finden dann in neuen geistigen Repräsentationen des Körpers im Gehirn ihren Niederschlag. Damasio (ebd., S. 333) kommt aus einer ganz anderen Wissenschaftsperspektive zu ähnlichen Schlüssen wie Elias, wenn er argumentiert, daß zum umfassenden Verständnis des menschlichen Geistes eine organische Perspektive erforderlich ist, daß der Geist nicht nur aus einem körperlosen Cogitum in das Reich von Körpergeweben verlegt, sondern auch zu einem ganzen Organismus in Beziehung gesetzt werden muß, der aus den vielfältig miteinander verflochtenen Teilen des Körpers im engeren Sinn und des Gehirns besteht und der mit einer physischen und sozialen Umwelt interagiert.

In nochmaliger Bezugnahme auf Descartes könnte knapp formuliert werden: „Ich fühle, also denke ich.“ Die Theorie kognitiver Metaphorik der US-amerikanischen Linguisten George Lakoff und Mark Johnson (1999, 2011; vgl. Stadelbacher, 2010, S.

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6 Eine integrierende Perspektive

310ff.) stellt einen weiteren Versuch dar, die cartesianische Trennung von Körper und Geist zu überwinden.138 In diesem Konzept bedingen sich leibliche und anatomische Dimensionen gegenseitig. Die ursprüngliche leibliche Erfahrung wird als prä-konzeptuell beschrieben. Die dabei abgelegten sensomotorischen und neuronalen Erfahrungen sind basale Prototypen von Objekten oder sozialen Situationen. Lakoff und Johnson (vgl. 2011, S. 22, 35ff., 70ff.) unterscheiden Orientierungsmetaphern wie „oben-unten“ von ontologischen Metaphern wie „Objekt“, „Substanz“ und „Gefäß“. Diese direkten Konzepte entstehen aus der körperlichen Raumund Selbsterfahrung und werden nach systematischer Korrelation auf Emotionen und andere Eindrücke übertragen.139 Sie verbinden sich mit den subjektiven Erfahrungen dieser Situationen zu „emergenten Konzepten“ wie „Glücklich sein ist oben.“. Die beiden ineinander fließenden Perspektiven werden im Gehirn als neuronale Verknüpfung abgelegt und dadurch zu anatomischer Wirklichkeit. Auf diese Weise bilden sich kognitive Primärmetaphern, die das Individuum im weiteren Lebenslauf dazu nutzt, seine Umwelt zu deuten: We have a system of primary metaphors simply because we have the bodies and brains we have and because we live in the world we live in, where intimacy does tend to correlate significantly with proximity, affection with warmth, and achieving purposes with reaching destinations. (Lakoff & Johnson, 1999, S. 59)140

Schmitt (vgl. 2009, Abs. 1) bezeichnet das Konzept von Lakoff und Johnson als „kognitive Metapherntheorie“. 139 Für Lakoff und Johnson (vgl. 2011, S. 71f.) handelt es sich auch bei der Kategorisierung „männlich-weiblich“ um ein direktes Konzept. Die Kategorie Geschlecht wird darüber hinaus in ihren Überlegungen vernachlässigt (vgl. Schmitt, 2009, Abs. 2). Maccoby (vgl. 2000, S. 211) verweist aber darauf, dass viele Kinder Männlichkeit und Weiblichkeit bereits im Vorschulalter in einer Weise metaphorisch deuten, die nicht auf objektive Erfahrungen mit ihren Bezugspersonen zurückgeführt werden kann, z.B. werden ein Plüschtier mit langen Zähnen oder ein Hai von ihnen als „männlich“ kategorisiert. 140 Bourdieu (1993, S. 132) spricht in ähnlicher Weise von „elementaren Akten der Leibesübung“, die zu universalen Metaphern des Geschlechtlichen werden. Wenn diese elementaren Erfahrungen, wie von Lakoff und Johnson (vgl. 1999, S. 49ff.) angenommen, neuronal verankert sind, ist es nicht verwunderlich, dass Zweifel am eigenen geschlechtlichen Habitus zu einer ontologischen Verunsicherung führen (vgl. Meuser, 2010, S. 316). 138

6.4 Der Mensch als Leib unter anderen Körpern

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Durch die Erweiterung der Primärmetaphern zu umfassenderen „metaphorischen Konzepten“ (vgl. Schmitt, 2009, Abs. 12ff.) bzw. „Strukturmetaphern“ (Lakoff & Johnson, 2011, S. 75) werden komplexere Abstraktionen für das Individuum begreifbar. So kann die Seele ontologisch als Objekt und davon ausgehend als zerbrechlicher Gegenstand („Ihr Selbstwertgefühl ist sehr fragil.“) oder der Geist als Maschine („…uns rauchen schon die Köpfe.“) gedeutet werden (ebd., S. 38, Hvhg. i. O.). Leibliches Erleben und abstraktes Denken sind miteinander verknüpft. Es entstehen Vergleiche, wie das „warme Lächeln“, oder komplexere Gebilde, wie die Betrachtung einer romantischen Beziehung als „Reise“, bei der die Partner schließlich „auseinandergehen“ (vgl. ebd., S. 57). Diese Metaphern bleiben bei zunehmender Komplexität körperlich verankert. Sozialisation ist in diesem Zusammenhang die ontogenetische Aneignung bestimmter Vergleiche in sozialen Interaktionen, wobei das Metaphernsystem einer Gesellschaft phylogenetisch bestimmt ist. Rückbezogen auf Descartes‘ „Cogito ergo sum“ kann aus diesem Entwurf geschlussfolgert werden: „Ich denke in den Metaphern meiner leiblichen Erfahrung, also bin ich.“ Das Bestreben nach Überwindung des cartesianischen Menschenbildes kann in den soziologischen und psychologischen Theoriesträngen wiedergefunden werden. Aus psychologischer Perspektive sind diesbezüglich die als „kulturhistorisch“ definierten Überlegungen des Psychologen Lev S. Vygotskij141 (1992) von großer Bedeutung. Dieser sieht das Psychische als Ergebnis sozialer Vermittlung und spricht von einem „genetische [n; MA] Grundgesetz der kulturellen Entwicklung“: Jede Funktion tritt in der kulturellen Entwicklung des Kindes zweimal, nämlich auf zwei Ebenen, in Erscheinung – zunächst auf der gesellschaftlichen, dann auf der psychischen Ebene (also zunächst zwischenmenschlich als interpsychische, dann innerhalb des Kindes als intrapsychische Kategorie). Das gilt gleichermaßen für die willkürliche Aufmerksamkeit wie für das logische Gedächtnis, für die Begriffsbildung wie für die Entwicklung des Willens. (ebd., S. 236) Lev S. Vygotskij (1896-1934) war ein sowjetischer Psychologe. Seine Entwürfe gerieten zwischenzeitlich fast in Vergessenheit. Nach ihrer Wiederentdeckung gelten sie inzwischen fächerübergreifend als bahnbrechend für eine sozial-konstruktivistische Sicht auf die Individualentwicklung im Allgemeinen und auf Bildungsprozesse im Besonderen (vgl. Métraux, 1992, S. 3ff.). 141

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Die Wechselwirkungen zwischen dem Kind und den Erwachsenen sind damit der eigentliche Antrieb der Ontogenese. Dieser Grundsatz wurde in entwicklungspsychologischen Konzepten immer wieder aufgegriffen: Der US-amerikanische Psychologe James Youniss (1994) entwickelt eine soziale Version des Konstruktivismus. Youniss (ebd., S. 18) beschreibt, wie Kinder einerseits in hierarchischen Beziehungen gegenüber Autoritäten wie Erwachsenen und andererseits in gleichberechtigter diskursiver Interaktion mit Gleichaltrigen Kompetenzen entwickeln: „Kinder, die ins soziale Leben eintreten, suchen nach einer Ordnung in den Ereignissen, die sie erleben. Sie richten ihr Augenmerk dabei vorrangig auf Interaktionen mit anderen.“ Individuum und Gesellschaft werden hier in einen untrennbaren Zusammenhang gesetzt (vgl. Brandes, 2008, S. 56). Die Überlegungen verweisen auch auf weiter vorn erläuterte sozial-kognitive Konzepte: Während Youniss (1994, S. 49) von interaktivem „role making“ der Kinder spricht, heißt es bei Bussey und Bandura (1999, S. 689; vgl. Kapitel 4.3.5): „different observers create new blends of characteristics.“ Einen ähnlichen Ansatz legt die ebenfalls aus den USA stammende Entwicklungspsychologin Katherine Nelson (2007, S. 13f.) vor: „Can emphasis on individual development coexist with emphasis on social and cultural construction? It not only can, it must.“ Jede Entwicklung muss in ihrer kulturellen und sozialen Rahmung betrachtet werden. Kinder werden im Laufe ihrer Sozialisation Angehörige einer „community of minds“. Damit wird sicher nicht zufällig an den oben erwähnten Standpunkt von Neurophysiologen zum Aufeinander-angewiesen-Sein von Gehirnen angeknüpft. Nelson (vgl. ebd., S. 14) sieht zwei Grundmotivationen im Kind: Das Streben nach Beziehungen und das nach Sinn. Sie spricht von einem Tandem aus „experience and meaning“. Erfahrungen ergeben sich aus der Auseinandersetzung mit der gegenständlichen und sozialen Umwelt. Damit steht auch hier die Beziehung im Mittelpunkt der Theorie. Nelson (ebd., S. 232) beschreibt eine „collaborative construction“ zwischen Erwachsenen und Kindern. Auf dieser Grundlage entwickeln Jungen und Mädchen ihre eigenen kognitiven Repräsentationen. Die Übertragung der Theorie Dynamischer Systeme auf die Konzeptualisierung von Geschlechtsidentität führt die Psychologie in die Nähe soziologischer Überlegungen (vgl. Kapitel 4.3.8). Martin und Ruble (2009, S. 371, Hvhg. i. O.) verweisen in diesem Zusammenhang explizit auf

6.4 Der Mensch als Leib unter anderen Körpern

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das ethnomethodologische Konzept des „doing gender“ und verknüpfen in ihren Überlegungen Kognition und Körper der beteiligten Individuen: Parental expectations about what it means to have a child who is either a boy or girl (expectation colored by cultural values, etc.) become displayed as actions with the child (e.g. glances, touching, toy offering), and these embodied expectations interact with the child’s phenotypic and early behavioral features. Thus, gender socialization involves parents and siblings, peers, other socialization agents, and the individual child, who all act and interact in varied contexts.

In konkretem Zusammenhang zum vorliegenden Forschungsvorhaben steht die von dem deutschen Soziologen und Erziehungswissenschaftler Lothar Böhnisch (2004) aus einer psychoanalytischen und soziologischen Deutungsperspektive entwickelte Konzeptualisierung männlicher Sozialisation, innerhalb derer biographischer Verlauf, soziale Wechselwirkung und leiblich-affektive Erfahrung berücksichtigt werden: „Dabei wird über das Bewältigungsparadigma deutlich, dass das interaktive doing gender […] eingebettet ist in ein komplexes psycho- und soziodynamisches Kräftefeld, das historisch-gesellschaftlich rückgebunden ist“ (ebd., S. 58). Ausgangspunkt der Überlegungen ist die männliche Suche nach Handlungsfähigkeit vor dem Hintergrund von Destandardisierung und Entgrenzung der Lebensverläufe. Männlichkeit muss daher aus einer Bewältigungsperspektive betrachtet werden (vgl. ebd., S. 52). Böhnisch (ebd., S. 63) sieht das statistisch auffällige, irrationale und extreme Bewältigungsverhalten von Männern psychodynamisch angestoßen als „geschlechtstypisch wirkenden und sozial gerichteten Selbstbehauptungstrieb.“ Jungen stehen durch frühkindliche Erfahrungen in einem inneren Konflikt zwischen dem Bedürfnis nach Bindung und dem Zwang zur Ablösung. Der Konflikt wird in der Individualentwicklung sozial erweitert.142 Dieses Spannungsfeld ist die Grundstruktur männlicher Sozialisation. Geschlechtsidentität ist daher nicht sozial-konstruktiv auflösbar, sondern immer auf eine körperliche bzw. leibliche Ebene rückbezogen (vgl. ebd., S. 56f.). Diese wird nach Meinung von Böhnisch 142

Böhnisch (vgl. 2004, S. 94ff.) bezieht sich vor allem auf das an anderer Stelle bereits erläuterte psychoanalytische Konzept von Chodorow (vgl. Kapitel 4.2.3).

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(vgl. ebd., S. 107ff.) bisher weder durch die symbolisch-interaktionistische Tradition der Soziologie noch durch die psychoanalytischen Konzepte von Chodorow oder Erikson ausreichend erschlossen, die psychosexuelle Tiefenstrukturen übersehen. Während innerhalb der Psychologie vornehmlich daran gearbeitet wird, die subjektivistische Verknappung der Theorie zu überwinden, besteht die Herausforderung im soziologischen Denken in der entgegengesetzten Richtung: Wie kann in einer Gesellschaftstheorie das Individuum und seine sich mikrosozial ausprägende Entwicklung berücksichtigt werden? Dabei verweist die Frage der Soziologie nach dem Zusammenhalt der Gesellschaft bereits implizit auf das Subjekt und seine Emotionen. Aus der Perspektive von Makrotheorien bleiben diese noch abstrakt und unscharf. Wird aber, wie z.B. in der Ethnomethodologie, eine Mikroperspektive eingenommen, eröffnet sich ein anderer Zugang (vgl. Kapitel 3.4.4). Es wird sichtbar, welche Bedeutung Emotionen und Affekte bei der Aufrechterhaltung verinnerlichter Interpretationsroutinen von sozialen Situationen haben (vgl. Garfinkel, 1967, S. 35ff.; Collins, 2004, S. 103ff.). Die Übersetzung der Makro- in die Mikroperspektive richtet den wissenschaftlichen Blick zwangsläufig auf das affektiv-emotionale Erleben der Handelnden. Gleichzeitig sind diese Prozesse – wie oben dargelegt – mit den kognitiven Funktionen des Individuums verknüpft (vgl. Damasio, 2006, S. 16). Tervooren (vgl. 2006, S. 21ff.) entwirft eine performative Erklärung der geschlechtlichen Sozialisation.143 Geschlecht wird von Kindern in ihrem gemeinsamen Handeln „eingeübt“. Der Begriff des Einübens verbindet die konkrete empirische Evidenz der Interaktion mit ihrer langfristigen sozialisatorischen Wirkung. Es handelt sich aber nicht um einen kognitiven Vorgang, sondern um eine direkte Weitergabe von Praktiken zwischen Körpern innerhalb von drei verschiedenen Dimensionen: 1) Wiederholen und Verändern, vor allem in kollektiven Ritualen, 2) Erproben und Zeigen in der Peergroup, 3) Stilisieren und Verkörpern. Mit dem Begriff der Performativität werden soziale Handlungen als körperlich-sinnliche Aufführungen charakterisiert. Der geschlechtliche Körper wird dabei zur Darstellung gebracht und gleichzeitig der mit ihm verknüpfte Diskurs fortgeschrieben (vgl. Zirfas, 2004, S. 62). 143

6.4 Der Mensch als Leib unter anderen Körpern

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Durch die Verfestigung des Geschlechtes in der Verkörperung wird der beschriebene Prozess als Sozialisation manifest. Tervoorens (vgl. ebd., S. 23, 37) Konzept enthält eine konstruktivistische Perspektive: Das Verhalten wird von den Kindern re-inszeniert. Dabei kommt es zu einer wechselseitigen Beeinflussung zwischen dem physiologischen Körper und seiner kulturellen Konstruktion. In diesen Überlegungen bleiben die leiblich-affektiven Aspekte geschlechtlicher Identität zwar unscharf, ihre situative Verwurzelung in prä-reflexiven körperlichen Interaktionen wird aber bereits deutlich. Klaus Hurrelmann und Gudrun Quenzel (vgl. 2012, S. 38, 87, 222ff.) fordern zur umfassenden Konzeptualisierung von Sozialisation die Verknüpfung soziologischer und psychologischer Theoriestränge. Sie beschreiben die Vergesellschaftung im Jugendalter als Parallelverlauf von Individuation und Integration. Zum einen muss in der individuellen Entwicklung, die auch psychisch und biologisch bestimmt ist, eine personale Identität entfaltet werden. Zum anderen wird unter den sozial-ökologischen Bedingungen eine soziale Identität erworben. Beide Seiten können im Jugendalter zum ersten Mal aufeinander bezogen werden. Diese Verknüpfung ist eine konfliktgeladene Herausforderung, bei der Jugendliche gewünschte Handlungsspielräume und vorgegebene Grenzen aufeinander abstimmen müssen. Die Ich-Identität wird als gelungene Synthese zwischen personaler und sozialer Identität erlangt. Autonomes Handeln wird möglich. In Bezug auf die Kategorie Geschlecht entwirft Connell (vgl. 2013, S. 80ff.) eine Argumentationslinie, die den Zusammenhang zwischen menschlichen Körpern und ihrem sozialen Handeln deutlich machen soll. Die Körper von Männern und Frauen könnten danach als biologische Maschine interpretiert werden, die eine Dichotomie des Handelns determiniert. Die wissenschaftliche Befundlage zu Unterschieden im Handeln kann diesen Standpunkt aber kaum festigen. Daher könnte in die entgegengesetzte Richtung argumentiert werden, dass der Körper nur als Leinwand dient, auf die Unterschiede projiziert werden. Dabei wird aber vernachlässigt, dass die Körperlichkeit von Individuen eine eigene Signifikanz in Diskursen entwickelt: Körper lassen sich nicht einfach als Objekte sozialer Prozesse verstehen, seien diese nun symbolisch oder disziplinierend. Sie sind aktiv am gesellschaftlichen Prozess beteiligt. Sie nehmen daran teil durch ihre Fähigkeiten, ihre Entwicklung und ihre Bedürfnisse, durch die Brüche, die ihre Widerständigkeit

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bewirkt, und durch die Richtung, die ihr Vergnügen und ihre Fertigkeiten bestimmen. (ebd., S. 86)

Wenn also weder der biologische Körper noch seine soziale Konstruktion vernachlässigt werden können, wäre eine analytische Trennung denkbar, wie sie die Unterscheidung von „sex“ und „gender“ ermöglicht. Dadurch entsteht aber das Problem, dass Phänomene, wie z.B. Gewalt, die Körper und Verhalten in direktem Zusammenhang sehen, nicht erklärt werden können. Eine Möglichkeit wäre daher die Verknüpfung beider Ebenen in einer „sex role“. Dieses Vorgehen führt aber leicht zu einer Überbetonung des Biologischen, was die Wissenschaft auf das oben skizzierte Dilemma der schwachen empirischen Befundlage zurückwirft. Connell (ebd., S. 99) sieht den Ausweg in einem Bezugsrahmen, der nicht mehr auf Differenz, sondern auf soziale Praxis fokussiert, innerhalb derer der Körper und seine Deutung gleichermaßen eingeschlossen sind: „Geschlechterverhältnisse bilden eine besondere soziale Struktur, beziehen sich auf besondere Körpermerkmale, und Geschlechterpraktiken bilden einen Kreislauf zwischen ihnen.“ Der US-amerikanische Soziologe Randall Collins (2004, S. 3) versucht, in seinem Konzept der Interaktionsritual-Ketten die wesentlichen Aspekte der Identität abzubilden und dabei gleichzeitig ihre kontinuierliche zeitliche Entwicklung zu berücksichtigen: A theory of interaction ritual (IR) and interaction ritual chains is above all a theory of situations. It is a theory of momentary encounters among human bodies charged up with emotions and consciousness because they have gone through chains of previous encounters.

Identität ergibt sich aus Collins‘ (ebd., S. 5) Sicht aus der Kette der Rituale, die das Individuum in seinem Leben durchlaufen hat: „In a strong sense, the individual is the interaction ritual chain.“ Damit nähert er sich den Gedanken von Elias (1987, S. 55), die weiter vorn als Grundlage weiterer theoretischer Überlegungen entfaltet worden sind: „Es ist die Ordnung dieser unaufhörlichen Verflechtung ohne Anfang, es ist die Geschichte seiner Beziehungen, die Wesen und Gestalt des einzelnen Menschen bestimmt.“ Darüber hinaus setzt die Theorie der Interaktionsritual-Ketten144 144

Im Folgenden wird dieser Terminus auch verkürzt als „IR-Theorie“ wiedergegeben.

6.5 Randall Collins: Die Theorie der Interaktionsritual-Ketten

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durch die besondere Bezugnahme auf die Emotionen der handelnden Individuen an einer Stelle an, die – wie sich in den vorangegangenen Ausführungen gezeigt hat – eine entscheidende Verbindung zwischen Körper und Kognition ist. Collins bietet einen Deutungsrahmen, der den umfassenderen Blick von einer höheren Stufe der von Elias (ebd., S. 144) beschriebenen „Wendeltreppe des Bewußtseins“ ermöglicht. Gleichzeitig ist sein Konzept mikrosozial aussagekräftig. Daher wird es im Anschluss – auch in Vorbereitung einer konkreten Anwendung auf das Datenmaterial – ausführlicher entfaltet. 6.5

Randall Collins: Die Theorie der Interaktionsritual-Ketten

6.5.1

Vorbemerkung

Um den sprichwörtlichen „Faden“ des Untersuchungsvorhabens nicht zu verlieren, wird der vertiefenden theoretischen Auseinandersetzung mit dem Konzept der Interaktionsritual-Ketten ein kurzer forschungspraktischer Rekurs vorangestellt, der in den abschließenden Schlussfolgerungen zu dieser Theorie noch einmal aufgegriffen wird (vgl. Kapitel 6.6). Im hier entwickelten wissenschaftlichen Vorhaben sollen in Videosamples von Spielsituationen zwischen Erwachsenen und Kindern Spuren der geschlechtlichen Sozialisation gefunden werden. Wie beschreiben die bisher erläuterten Theorien diesen Prozess? Es handelt sich um eine zeitliche Entwicklung, die z.T. in Phasen oder ineinander überblendende Sequenzen eingeteilt wird. Dazu wird ein situatives Geschehen zwischen Individuen geschildert, das sich in leiblich-affektiven Erfahrungen und kognitiven Repräsentationen niederschlägt. Die Trennung dieser Aspekte ist eine wissenschaftliche Konstruktion. Das vorliegende Datenmaterial zeigt deutlich die Interdependenz der beschriebenen Dimensionen: Eine sehr begrenzte zeitliche Entwicklung wird nachvollziehbar. Von ihr kann auf einen fortgesetzten Prozess geschlossen werden. Interaktionen sind offensichtlich. Die prä-reflexive, leiblich-affektive Dimension des Geschehens offenbart sich in den spontanen und vor allem nonverbalen Handlungszügen der Beteiligten. Auf die kognitiven Anteile der Handelnden kann aus ihren verbalen Äußerungen geschlossen werden. Wenn kognitive und affektiv-emotionale Prozesse

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zudem physiologisch verknüpft sind, ist insbesondere in Interaktionen mit Kindern anzunehmen, dass sich ihr Denken auch in ihren affektiven Äußerungen spiegelt. Was bedeutet das aber für das weitere Vorgehen an dieser Stelle? Die Arbeit am Material braucht einen Deutungshintergrund, der vor allem Interaktion und individuelle Emotion bzw. deren leiblichaffektive Erfahrung verknüpft und in einen sozialisatorischen Verlauf einordnet, der über die Situation hinausweist. Collins (2004) entwirft mit seiner Theorie der Interaktionsritual-Ketten eine hier vielversprechende mikrosoziologische Perspektive. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stehen nicht das Individuum, sondern die Situationen, in denen es handelt. Jede einzelne davon ist als Interaktionsritual Glied einer Kette vorheriger und kommender Begegnungen zwischen Menschen. Identität entsteht aus der affektiv-emotionalen Verstrickung des Individuums in diese aufeinander folgenden Interaktionsrituale. Das Kondensat aus der Kette durchlaufener Interaktionen wird Aspekt neuer Begegnungen, die von anderen Einflüssen und einer eigenen Dynamik bestimmt werden. Ziel des Konzeptes ist es, diese Interaktionsrituale in ihrer vollständigen Struktur abzubilden und zu erklären (vgl. ebd., S. 4f.). Collins (vgl. ebd., S. 47ff.; Rössel, 1999, S. 28) baut sein Konzept auf verschiedenen Grundlagen auf. Zum einen ist es der radikale Empirismus der Ethnomethodologie. Soziale Strukturen bestehen ausschließlich aus den Interaktionen zwischen Menschen und nur dieses Material bildet die Grundlage der wissenschaftlichen Analyse. Zum anderen sind es Emile Durkheims145 Ritualtheorie und deren mikrosoziologische Wendung durch Erving Goffman, der alltägliche Interaktionen als Rituale fasst. Collins (ebd., S. 7) entwickelt in dieser Tradition seine Definition des Rituals: „[A; MA] ritual is a mechanism of mutually focused emotion and attention producing a momentarily shared reality, which thereby generates solidarity and symbols of group membership.“146 145

Emile Durkheim (1858-1917) war ein französischer Soziologe und gilt als ein Begründer der Soziologie (vgl. Hillmann, 2007, S. 164). 146 Für das Ritual existieren weitere Konzeptualisierungen, die andere Aspekte hervorheben. So spricht Tervooren (vgl. 2006, S. 24, bzgn. auf Geertz, 1999; Kapitel 6.4) von „cultural performances“. Auch aus dieser Perspektive ist das Ritual nicht nur Wiederholung, sondern auch Veränderung. Die Annäherung erfolgt dort aber weniger offen für soziale Situationen im Allgemeinen als bei Collins (vgl. 2004, S. 32).

6.5 Randall Collins: Die Theorie der Interaktionsritual-Ketten

6.5.2

199

Interaktionsrituale: Modellhafte Darstellung

Collins (vgl. 2004, S. 47ff.) beschreibt in seinem „Modell geteilter Aufmerksamkeit und emotionalen Mitgerissen-Seins“ („Mutual Focus/Emotional-Entrainment Model“; vgl. Tabelle 3) je vier Ausgangsbedingungen und Ergebnisse von Interaktionsritualen. Ausgangsbedingungen:    

„Group Assembly“: Es besteht körperliche Nähe zwischen mindestens zwei Personen, die sich dadurch bewusst oder unbewusst gegenseitig beeinflussen. „Barrier to Outsiders“: Durch die Abgrenzung zu Außenstehenden wird geklärt, wer die Teilnehmenden an diesem Ritual sind. „Mutual Focus of Attention“: Die handelnden Personen richten ihre Aufmerksamkeit gemeinsam auf ein Objekt oder eine Aktivität und werden sich dieser geteilten Aufmerksamkeit bewusst. „Shared Mood“: Die Anwesenden empfinden eine gemeinsame Grundstimmung.

Ergebnisse:    

„Group Solidarity“: Die Teilnehmenden fühlen sich zusammengehörig. „Emotional Energy“: Die Teilnehmenden empfinden Begeisterung, Stärke und Tatkraft.147 „Symbols“: Es entstehen Symbole als Zeichen der Verbundenheit. „Standards of Morality“: Die Teilnehmenden entwickeln ein Gefühl der „Richtigkeit“ ihrer Gruppenzugehörigkeit. Sie respektieren und verteidigen die Symbole der Gruppe. Abweichungen von diesen Normen werden abgelehnt.

Tabelle 3:

The Mutual Focus/Emotional-Entrainment Model (vgl. ebd., S. 48)

Sein Konzept scheint vor allem formalisierte Interaktionen im Sinne von offiziellen Zeremonien („formal rituals“) abzubilden. Er bezieht es aber Um die Bezugnahme auf das Konzept von Collins in den weiteren Ausführungen deutlich zu machen, wird die von ihm verwendete Wortverbindung „emotional energy“ in den vorliegenden Text als „emotionale Energie“ übertragen. Da es sich dabei um weitgehend präreflexive Phänomene handelt, wird der Begriff im Folgenden synonym zu leiblich-affektiven Erfahrungen verwendet (vgl. Kapitel 1.3.2). Das erscheint auch deshalb plausibel, weil emotionale Energie mit dem spontanen Impuls des interaktionistischen ‚I‘ gleichgesetzt wird: „From the point of view of IR theory, the ‚I‘ is emotional energy“ (Collins, 2004, S. 205, Hvhg. i. O.). 147

200

6 Eine integrierende Perspektive

gleichermaßen auf alltägliche Begegnungen bis hin zu den kleinsten Alltagsinteraktionen („natural rituals“), wie z.B. den Höflichkeitsformen der gegenseitigen Anrede. Alle sind nach diesen Prinzipien erklärbar. Entscheidend für das Gelingen des Interaktionsrituals ist die Wechselwirkung zwischen den Ausgangsbedingungen drei und vier: „The key process is participants‘ mutual entrainment of emotion and attention, producing a shared emotional/cognitive experience“ (ebd., S. 48). Die Teilnehmenden zeigen und bestätigen sich ihren gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus und ihre geteilte Stimmung (vgl. ebd., S. 64). Diese gegenseitige Rückkopplung wird durch rhythmische Synchronisation im Ritual verstärkt. Es entsteht ein emotionales Mitgerissen-Sein und die Wahrnehmung von Intersubjektivität. Die Ausrichtung auf solche intensiven interaktiven Erfahrungen hält Collins (vgl. ebd., S. 227f.) für einen grundsätzlichen Wesenszug des Menschen.148 Wenn die genannten Grundbedingungen nicht bestehen, können Interaktionsrituale fehlschlagen. Die Teilnehmenden empfinden keine Gefühle der Zusammengehörigkeit und entwickeln keine Verbundenheit zu den Symbolen des Rituals. Weil bei solchen Begegnungen keine emotionale Energie entsteht, sind sie im Gegensatz zu einem gelungenen Ritual erschöpfende Erfahrungen. Menschen versuchen sie zukünftig zu vermeiden. Ihre Interaktionsrituale verketten sich in eine andere Richtung (vgl. ebd., S. 51ff.).149 Insbesondere alltägliche Konversationsrituale funktionieren auf der Grundlage eines gemeinsamen Mikrorhythmus. Die Abfolge von Äußerungen erfolgt weitgehend ohne Pausen oder Überschneidungen. Collins (vgl. ebd., S. 66ff.) spricht von einem rhythmischen „Mitreißen“. Abweichungen werden von den Teilnehmenden als Störung empfunden. Das Ritual entwickelt dann keine Dynamik. Die rhythmische Koordination beschränkt sich aber nicht nur auf die verbalen Äußerungen, sondern schließt den ganzen Körper ein. Sie kann gleichermaßen den 148

Durkheim bezeichnet dieses Phänomen als „kollektive Efferveszenz“ (vgl. Klusemann, 2008, S. 204). 149 Collins (vgl. 2004, S. 52) führt eine angeregte Konversation daher im Gegensatz zur Alltagstheorie nicht allein auf die Persönlichkeit der Teilnehmenden zurück, sondern sieht sie im Funktionieren des Rituals begründet. Er verweist auf den Unterschied zwischen ausgelassenen und mitreißenden Partys im Gegensatz zu Anlässen, bei denen die Gäste ermüden und einen Vorwand zum Gehen suchen. Auch hier wirken die gleichen Prinzipien.

6.5 Randall Collins: Die Theorie der Interaktionsritual-Ketten

201

Sprachrhythmus in einer angeregten Unterhaltung als auch körperliche Phänomene, wie den Rhythmus des gemeinsamen Lachens, betreffen. Die Mikrorhythmen zwischen den verbalen und körperlichen Äußerungen passen sich in Interaktionsritualen nachweislich an (vgl. ebd., S. 75ff.).150 Konversationsrituale werden aber nicht nur von ihrer „Taktung“ geprägt. Sie enthalten sprachliche Symbole, auf die sich die Konversation bezieht. Diese bilden den „inhaltlichen Rhythmus“ des Rituals, der aber nicht zwangsläufig die Weitergabe wesentlicher Aussagen bedeuten muss. Insbesondere an Alltagskonversationen, dem sogenannten „Smalltalk“, zeigt sich, dass ihr eigentlicher Zweck nicht primär der Austausch von Informationen, sondern das Gelingen das Rituals ist (vgl. ebd., S. 78). Collins (vgl. ebd., S. 53ff.) belegt an verschiedenen Beispielen anschaulich, wie die gegenseitige körperliche Annäherung der Teilnehmenden die Dynamik von Ritualen beeinflusst: Momente großer Begeisterung sind von Berührungen zwischen Menschen geprägt. Collins verweist auf die Siegesfeiern von Soldaten oder die Jubelszenen von Sportlern. Die Teilnahme an „Live-Veranstaltungen“ und die damit verbundene körperliche Nähe zu anderen Menschen behält Bedeutung trotz verfügbarer Fernseh-Übertragungen, die das Erleben von Ereignissen mit Zeitlupe und Wiederholung in einem bequemen häuslichen Rahmen ermöglichen. Das Spiel als Wettbewerb oder das Konzert als musikalische Darbietung erzeugen nicht allein Anziehungskraft. Wesentlich sind auch die Teilnahme an einem Interaktionsritual und die damit verbundene Ausschüttung emotionaler Energie, die nur in der Nähe anderer Teilnehmender möglich wird.151 Collins (ebd., S. 64) fasst zusammen: Gugutzer (2010, S. 171, bzgn. auf Schmitz, 2005; vgl. Kapitel 1.3.2) bezeichnet in Bezug auf eine leibliche Interaktion Rhythmus als wichtigste „Bewegungssuggestion“: „Rhythmisches Klatschen, rhythmische Musik, rhythmische Bewegungen, aber auch der Rhythmus eines Bildes oder Gedichts affizieren das eigenleibliche Befinden, wobei die stärkste Bewegungen suggerierende Kraft vermutlich dem akustischen Rhythmus innewohnt.“ Die rhythmische Koordination von Interaktionen folgt nach Meinung von Collins (vgl. 2004, S. 381) aber keiner kulturellen Vorlage, sondern ist ein natürlicher Wesenszug sowohl des Menschen als auch vieler Tiere. 151 Bei Übertragungen von Fußballspielen wird ein „public viewing“ angeboten, bei dem die meisten Teilnehmenden vom sportlichen Geschehen weniger sehen, als sie es vor dem eigenen Fernseher könnten. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass die Videowände bei Pop-Konzerten nicht nur zur Abbildung der Musiker, sondern – 150

202

6 Eine integrierende Perspektive

The main point of these comparisons is to show what bodily presence does for the intensity of IRs. Bodily presence makes it easier for human beings to monitor each other’s signals and bodily expressions; to get into shared rhythm, caught up in each other’s motions and emotions; and to signal and confirm a common focus of attention and thus a state of intersubjectivity. They key is that human nervous systems become mutually attuned; […].152

Neben der körperlichen Nähe der Teilnehmenden ist ihr gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus ein weiterer entscheidender Aspekt funktionierender Interaktionsrituale. Collins (vgl. ebd., S. 79f.) definiert ihn im Sinne des Symbolischen Interaktionismus als Perspektivübernahme, allerdings auf einer basaleren Ebene als im interaktionistischen Identitätskonzept (vgl. Kapitel 2.2). Die Fähigkeit dazu entwickelt sich in der frühen Kindheit. Ein gemeinsamer Fokus wird möglich, wenn sich das Kind am Ende des ersten Lebensjahres in einer Interaktion gemeinsam mit dem Gegenüber auf ein Objekt beziehen kann. Interaktionsrituale vor diesem Entwicklungsschritt sind nicht weniger wirkungsvoll, enthalten aber noch keinen geteilten Fokus. Die Aufmerksamkeit des Kindes richtet sich auf die Bezugsperson. Solche Interaktionsrituale erzeugen ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl und emotionale Energie im Sinne einer Bindungsbeziehung, aber nicht als gemeinsame Zuwendung zu einem symbolischen Objekt. Emotionale Energie ist nicht nur das wesentliche Ergebnis der Interaktionsrituale, sondern der „Treibstoff“ für ihre Mechanik. Nach ihrer Verfügbarkeit richten Individuen ihr Handeln aus (vgl. Rössel, 1999, S. 30). Collins (vgl. 2004, S. 102ff.) beschreibt ausführlich ihre Entstehung in und ihren Verlauf zwischen den Interaktionsritualen. Emotionale Energie ist kein kurzfristiges, dramatisches Gefühl, sondern ein andauernder Zustand des Enthusiasmus und der Zugehörigkeit im Gegensatz zu Niedergeschlagenheit und Entfremdung, entsprechend dem Verhältnis der Gefühle Glück („happiness“) und Trauer („sadness“). Collins (vgl. ebd., S. 106f.; Roth, 2004, S. 499) verbindet seine Annahmen mit insbesondere zu den dramaturgischen Höhepunkten – zur Darstellung des Publikums genutzt werden. Den Teilnehmenden werden dadurch ihre gegenseitige Nähe und ihr gemeinsamer Rhythmus einmal mehr vor Augen geführt. 152 Collins (2004, S. 34) sieht darin nicht nur eine entscheidende „Zutat“ des Interaktionsrituals, sondern eine Grundbedingung der menschlichen Vergesellschaftung und damit den Ausgangspunkt für ihre Erforschung: „society is above all an embodied activity.“

6.5 Randall Collins: Die Theorie der Interaktionsritual-Ketten

203

neurophysiologischen Erkenntnissen: Die Wahrnehmung von Glück beruht auf der gemeinsamen Aktivität von im Prozess der Evolution früh entstandenen Gehirnregionen der Amygdala mit evolutionär späteren Bereichen des Kortex und Subkortex. Trauer repräsentiert sich im Gegensatz dazu als allgemeiner Rückgang von Hirnfunktionen. Die bei Glück aktiven Teile schließen die Bereiche zur Symbolbildung ein.153 Die Verbindung der Ausschüttung von emotionaler Energie mit der Entstehung von Symbolen in Interaktionsritualen ist daher folgerichtig. Diese Symbole sind die Grundlage der nur dem Menschen spezifischen Form des Sprechens und Denkens. Symbole spielen eine wichtige Rolle bei der Verkettung der Interaktionsrituale. Collins (vgl. ebd., S. 81ff.) nimmt an, dass sie die entstandene emotionale Energie in übertragenem Sinn wie eine Batterie speichern. Diese Beschreibung ist missverständlich, insofern ein Objekt keine Emotionen speichern kann. Emotional aufgeladen wird ein kognitives Abbild von ihm. Wenn es von der handelnden Person im nächsten Interaktionsritual wieder verwendet wird, setzt es die entsprechende emotionale Energie frei. Das Symbol muss kein physisches Objekt sein. Der Vorname einer Person in einem Anrederitual kann emotional verknüpft sein und ein großes Maß an Zusammengehörigkeit erzeugen (vgl. ebd., S. 84). Die individuelle Bindung an die Symbole entspricht der Stärke ihrer emotionalen Verankerung in vorherigen Interaktionsritualen. Ihre Beständigkeit kann unterschiedlich sein. Collins (vgl. ebd., S. 87) beschreibt zwei Varianten: 

153

„Impersonal Symbols of anonymous Crowds“: Diese Symbole entstehen im Fokus der Aufmerksamkeit von emotional mitgerissenen, aber anonymen Menschenmassen. Sie zirkulieren fast ausschließlich zu den Versammlungen. Dazwischen verblasst ihre Bedeutung.

Roth (vgl. 2004, S. 498, 504) verweist auf die Funktion des limbischen Systems bei allen Lernprozessen. Begeisterung korreliert auch in seinen Ausführungen mit Gedächtnisleistung.

204

6 Eine integrierende Perspektive



„Symbols of personal Membership“: Sie entwickeln sich aus Konversationsritualen. Die Dynamik dieser Rituale ist zwar niedriger, doch ihre ständige Wiederholung lässt die Symbole zu einem Teil der täglichen Wirklichkeit werden.

Interaktionsrituale sind durch einen Schichtungsaspekt gekennzeichnet. Collins (vgl. ebd., S. 111ff.) differenziert „power rituals“ und „status rituals“. In Machtritualen wird eine Hierarchie zum Ausdruck gebracht, in Statusritualen eine Form der Zugehörigkeit. Während die Ausübung von Macht in den Hintergrund treten kann, spielt die Frage der Zugehörigkeit in jedem Ritual eine Rolle. In Machtritualen gewinnt vor allem das übergeordnete Individuum emotionale Energie und eine Bindung an die Symbole. In Statusritualen gilt das für alle engeren „Mitglieder“ des Rituals. Menschen entwickeln ihren Zustand in Bezug auf emotionale Energie und die Bindung an bestimmte Symbole entsprechend ihrer Erfahrungen in der von ihnen durchlaufenen Interaktionsritual-Kette: Emotional energy is an overall level of being ‘up’ or ‘down’, ranging from enthusiasm to depression. Between interactions, EE is carried in the individual’s stock of symbols, in the cognitive part of the brain; it is an emotional mapping of the various kinds of interactions that those symbols can be used in, or that can be thought through symbols. (ebd., S. 118, Hvhg. MA)

Emotionale Energie und Symbole sind damit nicht nur situative Ergebnisse. Sie werden im weiteren Verlauf der Verkettung von Interaktionsritualen zu Ressourcen der Handelnden, die ihre Positionen innerhalb zukünftiger Begegnungen bestimmen. Collins (ebd., S. 118f.) spricht in diesem Zusammenhang von einer „readiness for action“ bzw. einer „expectation of being able“. Diese umfasst auch eine kognitive Komponente im Sinne einer verinnerlichten „Landkarte“, wobei Letztere nicht als bewusste Überlegung, sondern eher als prä-reflexive Antizipation bzw. Selbstwirksamkeitserwartung in Bezug auf bestimmte soziale Situationen und die in ihnen enthaltenen Symbole charakterisiert wird. Damit verbinden sich affektiv-emotionale Körperlichkeit und kognitive Aktivität nicht nur bei der Entstehung der emotionalen Energie und ihrer Verknüpfung mit

6.5 Randall Collins: Die Theorie der Interaktionsritual-Ketten

205

Symbolen. Auch im weiteren Verlauf der biographischen Verkettung von Interaktionsritualen bilden sie den richtungsweisenden Ausgangspunkt des Handelns der Beteiligten.154 Mit diesen Ausführungen wurde die Grundstruktur der IR-Theorie skizziert. Durch entwicklungspsychologische Konzepte ergeben sich wesentliche Ergänzungen bei der Beschreibung von Interaktionsritualen in der frühen Kindheit. Deshalb wird im Anschluss kurz auf diesbezüglich relevante Entwürfe eingegangen. 6.5.3

Exkurs: Intersubjektivität und emotionale Verschmelzung

Die im Menschen angelegte Fähigkeit zur emotionalen Verschmelzung, die Collins (vgl. 2004, S. 79ff.) als Kern der Symbolbildung in Interaktionsritualen beschreibt, wird aus entwicklungspsychologischer Perspektive ähnlich beurteilt. Kinder mit einer autistischen Behinderung, die zum Empfinden einer solchen Verbundenheit vermutlich nur eingeschränkt in der Lage sind, entwickeln Störungen im symbolischen Denken. Die affektiv-emotionale Ansteckung durch andere Personen ermöglicht eine erste Perspektivübernahme, die weiterführend zur Differenzierung von Bedeutungen und Objekten und schließlich zum symbolischen Handeln führt (vgl. Dornes, 2010, S. 122, bzgn. auf Hobson, 1993). Der norwegische Soziologe Stein Bråten (2011) entwickelt das Konzept eines angeborenen virtuellen Anderen. Die Begegnung mit dem Gegenüber steht dem Säugling demnach bereits als innerer Dialog zur Verfügung, bevor er in die praktische Auseinandersetzung mit ihm eintritt. In dieser Überlegung ist nicht nur eine ursprüngliche soziale Konstituierung des Kindes enthalten, sondern sie impliziert in der Lesart von Dornes (vgl. 2010, S. 91f.) auch, dass diese Erwartungen direkte körperliche Erfahrungen sind, da Säuglinge ihre Umwelt weniger als optische Vorstellung, sondern eher als sensorischen Eindruck erleben. Mit anderen Worten: Der virtuelle Andere ist ein Gefühl. Emotionen und soziale Beziehungen stehen im Zentrum weiterer psychoanalytischer Entwicklungskonzepte für die frühe Kindheit. Der 154

Die Hypothese der „somatischen Marker“ (vgl. Damasio, 2006, S. 227ff.; Kapitel 6.4) könnte diesen Zusammenhang physiologisch erklären. Kognition und Emotion sind miteinander verknüpft.

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englische Autismusforscher Peter Hobson entwirft eine Drei-StufenTheorie des Denkens (vgl. ebd., S. 115ff., bzgn. auf Hobson, 1993, 2002). Ausgangspunkt dieses Konzeptes bildet die sogenannte „Protokonversation“ des Säuglings mit seinem Gegenüber. Diese kann als gemeinsamer Tanz charakterisiert werden. Die Latenzzeiten in der Interaktion unterschreiten dabei übliche Latenz-Zeiten von Reiz-ReaktionsSequenzen (vgl. ebd., S. 121, bzgn. auf Trevarthen, 1993). Die Fähigkeit des Kindes zur Imitation und darüber hinaus verschiedene Experimente der Säuglingsforschung verweisen auf seine Wahrnehmung der Getrenntheit von den Bezugspersonen im Gegensatz zur oft angenommenen Symbiose und auf seine Fähigkeit zur Unterscheidung von Personen und Dingen sowie auf ein grundsätzlich angelegtes Kommunikationsbedürfnis. Dabei handelt es sich bei der Protokonversation aber nicht um eine informative Verständigung, sondern im Wesentlichen um eine emotionale Verschmelzung. Hier wird der Ausgangspunkt des symbolischen Denkens verortet. Aufgrund eines kognitiven Reifungsprozesses kommt es im Alter von ungefähr neun Monaten zu einer entscheidenden qualitativen Veränderung. Nun ist Triangulierung, also Kommunikation über etwas Drittes außerhalb der ursprünglichen Dyade, möglich. Durch die emotionale Verschmelzung in der Protokonversation werden Kinder in die Perspektive ihres Gegenübers auf ein Objekt hineingezogen (vgl. ebd., S. 122ff., bzgn. auf Hobson, 1993, 2002). Das führt zur Erkenntnis und Differenzierung weiterer Perspektiven auf die Welt und auf das eigene Selbst und schließlich zu einer Identität auf der Grundlage einer „Dialektik von ‚I‘ und ‚me‘“ (ebd., S. 136, Hvhg. i. O.). Dornes (ebd., S. 124, bzgn. auf Walden, 1991, Feinmann, 1992) verweist diesbezüglich auf das Phänomen des „social referencing“ und spricht von „Lernen im Sozialbezug“. Kinder übernehmen die Einstellung ihrer Bezugspersonen zu bestimmten Objekten oder Situationen. So wird ein blinkender Spielzeugroboter je nach Gesichtsausdruck der erwachsenen Person ängstlich oder interessiert wahrgenommen. Hobson (2002, S. 86, zitiert in ebd., S. 127) erkennt darin einen entscheidenden WirkMechanismus sozialisatorischer Prozesse: „Die Welt hat auch Bedeutung für andere, und diese Bedeutung kann die Bedeutung verändern, die die Welt für mich hat.“ Es handelt sich aber nicht um eine Affektinduktion, sondern um die Erweiterung der eigenen Perspektive um eine zweite Sicht auf das Objekt. Auf dieser Grundlage können Bedeutungen und Gegenstände

6.5 Randall Collins: Die Theorie der Interaktionsritual-Ketten

207

schließlich voneinander getrennt betrachtet werden. Subjektive Perspektiven und psychische Einstellungen, die nicht in direktem Zusammenhang zu etwas stehen, werden denkbar (vgl. ebd., S. 128ff.).155 Die Forschungsgruppe um den englischen Psychologen Peter Fonagy (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008) hat ein Konzept der Mentalisierung bzw. eine Affektspiegelungs- und „Playing-with-Reality“Theorie vorgelegt. Darin werden nicht die Triangulierung, sondern Prozesse der Affektspiegelung und insbesondere ihrer übertriebenen Markierung in der dyadischen Interaktion mit dem Säugling und später in Bezug auf das Spiel des Kleinkindes als Ursprünge des Selbst hervorgehoben (vgl. Gergely & Unoka, 2011, S. 878ff.; Fonagy et al., 2008, S. 153ff.; Fonagy, 2006, S. 66ff.; Dornes, 2010, S. 172ff.). Es wird angenommen, dass der Säugling zwar Affekte ausdrücken kann, sich der dazugehörigen emotionalen Zustände aber nicht bewusst ist. Die Bezugspersonen „markieren“ seine affektiven Äußerungen durch übertriebene, gespiegelte Reaktionen wie in der sogenannten „Ammensprache“. Dadurch kann der Säugling den emotionalen Ausdruck als Darstellung eines Affektes von seinem Gegenüber abtrennen. Es kommt zur Entkoppelung. In einem nächsten Schritt der referentiellen Verankerung erkennt das Kind den Ausdruck als Widerspiegelung seines eigenen Affektzustandes. Innere Zustände werden bewusst. Ähnliches geschieht durch die Reaktionen von Erwachsenen gegenüber dem Als-ob-Spiel der Kinder. Diese bringen dabei bisher unbewusste Selbstzustände zum Ausdruck, die die Bezugspersonen gleichermaßen „markiert“ spiegeln, damit sie als geistige Repräsentationen der Wirklichkeit denkbar werden. Das Selbst wird psychisch „angereichert“ (vgl. Fonagy, 2006, S. 67; Dornes, 2010, S. 192). Von besonderer Bedeutung für den hier entwickelten Zusammenhang ist, dass markierte und affektspiegelnde Äußerungen als Sonderform einer „natürlichen Pädagogik“ betrachtet werden, durch die Menschen kulturelles Wissen zu bestimmten „Referenten“ intergenerational weitergeben (vgl. Gergely & Unoka, 2011, S. 881ff.). Dabei wird eine wechselseitige Struktur aus einerseits ostensiven Kommunikationssignalen sowie markierten 155

Diese Ablösung von Eigenschaften, die dann gedanklich anderen Objekten zugefügt werden, führt allerdings zuerst nur zu einem symbolischen Handeln, d.h. ein Baustein kann ein Auto sein. Wie daraus symbolisches Denken wird – also die gedankliche Vorstellung des Autos – bleibt unklar (vgl. Dornes, 2010, S. 132).

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Formen von Wissensdemonstrationen durch die Erwachsenen und andererseits einer besonderen Aufmerksamkeitshaltung auf Seiten des Kindes angenommen. Mit dieser Erweiterung gerät das Mentalisierungskonzept in die Nähe der vorher beschriebenen Perspektive. Die Informationen der „natürlichen Pädagogik“ beziehen sich auf ein Symbol außerhalb der Dyade. Ähnliches wird in der Drei-Stufen-Theorie des Denkens beschrieben: „Dabei lernt der Säugling, wie andere die Welt sehen. Dies ist ein wesentlicher Aspekt dessen, was wir üblicherweise als Sozialisation bezeichnen“ (Dornes, 2010, S. 127). Mit der „natürlichen Pädagogik“ wird das „social referencing“ aber noch einmal genauer spezifiziert. Für das in der IR-Theorie beschriebene „signal and confirm“ wird zudem klarer eine Doppelbedeutung erkennbar: Die Handelnden vollziehen in einem gegenseitigen „attunement“ die Anzeige und die Bestätigung ihrer geteilter Emotionen und ihrer gemeinsamen Perspektive auf den „Referenten“ bzw. das Symbol der Interaktion (vgl. Collins, 2004, S. 64). Nach diesem Exkurs wird im Anschluss die Erklärungskraft der Theorie der Interaktionsritual-Ketten beurteilt. 6.5.4

Deutungsweite

Collins (2004, S. 44) folgt mit seinem Versuch einer „full-scale-social psychology“ dem Anspruch, die Aspekte menschlicher Identität in einer Theorie zu integrieren.156 Durch den Begriff der emotionalen Energie gelingt es ihm, eine Verbindung zwischen Körper und Kognition herzustellen. Bei den Teilnehmenden an den Interaktionsritualen entsteht eine „emotionale Landkarte im Bereich kognitiver Gehirnregionen“ (vgl. ebd., S. 118). Sie enthält eine affektiv fundierte Bereitschaft zum Handeln in einer bestimmten Situation – z.B. um die durch das Ritual aufgewertete Gruppenzusammengehörigkeit und ihr Symbol zu verteidigen – und gleichzeitig auch die Selbstwirksamkeitserwartung, die Fähigkeiten dazu zu besitzen. 156

Vgl. die Ausführungen von Bussey und Bandura (1999, S. 694): „A full understanding requires an integrated perspective in which social influences operate through psychological mechanisms to produce behavioral effects.“

6.5 Randall Collins: Die Theorie der Interaktionsritual-Ketten

209

Ein Vergleich dieses „emotional mapping“ (ebd., S. 118) mit der zur „Tugend gemachten Not“ (Bourdieu, 1993, S. 100f.) des Habitus liegt nahe (vgl. Kapitel 3.2). Gleichzeitig bilden sich Parallelen zu sozial-kognitiven Konzepten, in denen die Bedeutung von motivatorischen Prozessen und Selbstwirksamkeitsannahmen hervorgehoben wird (vgl. Kapitel 4.3.5). Collins (2004, S. 386f.) sieht in der Hirnphysiologie der emotionalen Energie aber nur eine Folge des sozialen Geschehens: „Social emotions are not being reduced to physiology; to the contrary, human brain physiology is activated, and takes on the condition that it is in at any particular moment, by the flow of interaction [...] .” Die theoretischen Überlegungen zur emotionalen Energie werden von Collins (vgl. ebd., S. 106f.) aber trotzdem mit empirischen Befunden, insbesondere aus der Hirnforschung, fundiert. Es ist analytisch vielversprechend, die soziale Situation in den Vordergrund zu stellen und nur sie als Datenmaterial zu akzeptieren. Allerdings sind manche Symbole – insbesondere die Bedeutungsträger der Geschlechterverhältnisse – in einem Maße beständig, dass es schwerfällt, sie allein auf die situative Dynamik emotionaler Energie zurückzuführen. Studien zum Habitus von Männern offenbaren, wie dieser selbst dann wirkmächtig bleibt, wenn in den Interaktionsritualen etwas anderes positiv aufgeladen wird. Meuser (2010, S. 316) spricht von einer „Spannung von Determination und Emergenz“, die sich z.B. von sogenannten „bewegten“ Männern nicht überwinden lässt. Sie versuchen, sich traditioneller Männlichkeit zu verweigern. Es gelingt ihnen dabei aber nicht, ihre habituelle Prägung hinter sich zu lassen. Hier bleibt die Wirkung von Interaktionsritualen als „mechanism of change“ (Collins, 2004, S. 43) begrenzt.157 Soziale Phänomene können durch die situative Bestimmtheit einer Struktur nicht vollständig erklärt werden. Ähnliches zeigt sich in Bezug auf die Bedeutung frühkindlicher Erfahrungen. Deren Auswirkungen sind gegenüber situativen Dynamiken besonders widerstandsfähig. Collins (ebd., S. 45) erhebt zwar den Anspruch mit dem Konzept der InteraktionsritualKetten eine lebenslang offene Sozialisationsperspektive im Sinne einer 157

„Und auch bei so vielen Revolutionen mit der Verheißung eines ‚neuen Menschen‘ war zu sehen, daß die Habitus der Beherrschten häufig dazu tendieren, die zeitweilig revolutionierten Strukturen, deren Produkte sie sind, zu reproduzieren“ (Bourdieu, 1997, S. 170, Hvhg. i. O.). Collins (2004, S. 42) überschätzt die „transformative power“ von Interaktionsritualen.

210

6 Eine integrierende Perspektive

„moment-to-moment motivation“ zu erreichen: „to explain what any individual will do, at any moment in time; what he or she will feel, think, and say.“ Studien – z.B. aus der Bindungsforschung – belegen aber die langfristigen Auswirkungen von Sozialisationserfahrungen in frühen Lebensphasen (vgl. Grossmann & Grossmann, 2004, S. 80ff.). Das situative Interaktionsritual wird von dieser individuellen Vorgeschichte beeinflusst. Neurophysiologische Forschungsergebnisse führen zu einer theoretischen Erweiterung. Durch die Funktion der sogenannten „Spiegelneuronen“ kann davon ausgegangen werden, dass bereits die Beobachtung einer Handlung neben ihrer äußeren Wahrnehmung das zur Handlung gehörende Gefühl bei den Beobachtenden auslöst. Die – zumindest unbewusste – Übernahme der Perspektive des Gegenübers wäre damit keine erworbene Fähigkeit, sondern angeboren. Das Bewusstsein über die geteilte Perspektive und die tatsächliche Triangulierung ist zwar ein weiterer Schritt. Für die Funktionalität des Rituals scheint er aber nicht notwendig, da bereits die Spiegelneuronen emotionale Ansteckung ermöglichen (vgl. Piefke & Markowitsch, 2010, S. 52). Der interaktionistische Andere hat einen angeborenen Vorgänger: den virtuellen Anderen (vgl. Bråten, 2011, S. 833ff.). Bereits der Säugling wird unbewusst Ko-Akteur der fürsorglichen Handlung ihm gegenüber, was zu einem körperlich verankerten Gemeinschaftsgefühl mit der Pflegeperson führt. Dieses Phänomen ist Ausgangspunkt aller späteren Interaktionsrituale. Wesentliche sozialisatorische Aspekte von Situationen zwischen Erwachsenen und Kindern werden wie bereits erwähnt im vorliegenden Entwurf nicht völlig erschlossen. Allerdings liegen entwicklungspsychologische Konzepte vor, die auf erstaunliche Weise an die Grundgedanken Collins‘ anschließen, aber gleichzeitig mögliche Besonderheiten frühkindlicher Interaktionen hervorheben. So enthält das Mentalisierungskonzept Beschreibungen des Austauschs von affektivemotionalen Ausdrücken zwischen Erwachsenen und Kindern, die dem Anzeigen und Bestätigen im „entrainment“ der IR-Theorie sehr ähneln (vgl. Fonagy, 2006, S. 66f.; Gergely & Unoka, 2011, S. 878). Dabei beziehen sich die Handelnden aber nicht auf ein äußeres Symbol, sondern auf die Affekte des Kindes, die es durch diese Spiegelung für sich selbst erkennt (vgl. Fonagy, 2006, S. 67f.; Dornes, 2010, S. 166ff.). Die Gefühle des Säuglings werden zum Symbol des Rituals. Möglicherweise verwandeln sich solche Affektmarkierungen in der weiteren Kindheit zunehmend in wechselseitige

6.6 Schlussfolgerungen

211

Symbolmarkierungen, womit die theoretischen Überlegungen zum von der IR-Theorie abgedeckten Bereich aufschließen (vgl. Dornes, 2010, S. 181f.).158 Rössel (vgl. 1999, S. 30f.) kritisiert, dass nicht alle relevanten Einflussfaktoren beschrieben werden. So können materielle und räumliche Aspekte außerhalb der direkten Begegnung Auswirkungen auf das Interaktionsritual haben. Darüber hinaus ergibt sich die emotionale Energie eines Individuums nicht nur situativ, sondern auch aus der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, die in die beschriebene Dynamik einfließen. Die Einfachheit der IR-Theorie bleibt aber ein entscheidender Vorteil. Dadurch ist sie analytisch leichter nutzbar, während andere Konzepte mit sehr komplexen Begriffsbildungen den Zugang zum Material erschweren bzw. erst eine komplizierte Operationalisierung notwendig machen, um diese Begriffe in einem Forschungsdesign abbilden zu können. Die praktische Anwendung der IR-Theorie für den vorliegenden Zusammenhang wird im Anschluss genauer geprüft. 6.6

Schlussfolgerungen

Die IR-Theorie bietet sich im weiteren Verlauf des Forschungsprozesses als ein analytisches Grundgerüst an. Begriffe aus den soziologischen und entwicklungspsychologischen Geschlechtertheorien können in diese Struktur eingefügt werden. Die Theorie der Interaktionsritual-Ketten erklärt sehr exakt den Bereich, der weiter vorn in Bezug auf das empirische Material beschrieben worden ist: Die Verknüpfung affektiv-emotionaler Selbstwahrnehmung und individueller Kognition mit Interaktion in einem sozialisatorischen Prozess (vgl. Kapitel 6.5.1). Die Kette der Interaktionsrituale als zeitliche Dimension ermöglicht eine besondere Tiefe der Analyse und Interpretation: Nicht das einzelne Interaktionsritual muss sozialisatorisch wirkungsvoll sein. Jedoch offenbart sich in seinem Gelingen die Abfolge der vorherigen Kettenglieder, womit die prozessuale 158

Klusemann (2008, S. 210) verbindet in seinem Versuch einer soziologischen Theorie des Lernens die IR-Theorie mit den Überlegungen des englischen Soziologen Thomas J. Scheff: „Der entscheidende Aspekt dabei ist, dass ich wahrnehme, wie der andere mich sieht und ich mich in meinem Handeln an diesen Wahrnehmungen orientiere.“

212

6 Eine integrierende Perspektive

Auswirkung der Sozialisationserfahrungen sichtbar wird. Was reibungslos funktioniert, wurde bereits erprobt und verinnerlicht und gewinnt damit an Relevanz für zukünftige Begegnungen. Eine wesentliche Bedingung für die Erforschung von Sozialisation wird erfüllt: Die Theorie muss bei ihrer empirischen Anwendung die einzelne Interaktion mit einem biographischen Verlauf verknüpfen können (vgl. Tervooren, 2006, S. 21, bzgn. auf Kelle, 2003). Geschlechtsidentität wird zur „expectation of being able“ (Collins, 2004, S. 119) in Bezug auf bestimmte Symbole, in diesem Falle zur Erwartung, kompetent mit Symbolen von Männlichkeit umgehen zu können und dieses Handeln mit der intensiven Erfahrung emotionaler Energie zu verbinden. Wenn Bedeutungsträger ohne die Verknüpfung mit emotionaler Energie verblassen, dann müssen die beharrlichen Symbole der Geschlechterverhältnisse Inhalt häufiger oder intensiver Rituale sein (vgl. ebd., S. 17). Es ist naheliegend, dass diese Interaktionsrituale als besondere Phänomene aus dem empirischen Material hervortreten. Weitere Inhalte der IR-Theorie sind für die Datenanalyse hilfreich. So liegen Erläuterungen vor, wie der Inhalt und die Signifikanz von Symbolen untersucht werden können. Darüber hinaus wird beschrieben, in welchen Körperhaltungen, Blickrichtungen und Sprachrhythmen sich das emotionale Mitgerissen-Sein im Ritual äußert (vgl. ebd., S. 95ff., 135ff.).159 Collins (vgl. ebd., S. 115ff.) betont die Signifikanz des Statusaspektes der Teilnehmenden für Interaktionsrituale. Es entstehen Zusammengehörigkeit zwischen den Angehörigen der Gruppe und eine affektive Bindung an deren Symbole. Die Bedeutungsträger können auch bestimmte Interaktionsformen sein, die mit emotionaler Energie verknüpft sind und daher von den Teilnehmenden favorisiert werden. Diese Hypothesen sind anschlussfähig an bereits erwähnte entwicklungspsychologische Befunde in Bezug auf die geschlechtliche Individualentwicklung: Jungen und Mädchen bilden auffällig geschlechterhomogene Gruppen und entwickeln dort spezifische Interaktionsstile (vgl. Maccoby, 2000, S. 183, 226f.; Kapitel 4.1). 159

Bei der Untersuchung von Sprachrhythmen werden die Äußerungen der Handelnden z.T. in Bruchteilen von Sekunden erfasst. Diese analytische „Tiefenschärfe“ kann hier nicht erreicht werden. Die vorliegenden Befunde geben aber Anregungen für die Interpretation (vgl. Collins, 2004, S. 136).

6.6 Schlussfolgerungen

213

Möglicherweise entstehen in diesem Rahmen auch die affektiv verankerten Präferenzen für Spielzeuge oder Spiel-Themen (vgl. Kapitel 5.3). Der Statusaspekt von Interaktionsritualen spiegelt außerdem das in der Ethnomethodologie beschriebene „doing difference“ (vgl. West & Fenstermaker, 1995, S. 30ff.). Es bedeutet vordergründig eine Abgrenzung, um Geschlechterkategorien herzustellen. Diese werden aber auch – und sogar besonders ausdrucksstark – gruppenintern entwickelt: „Some of the most extreme displays of ‚essential‘ womanly and manly natures may occur in settings that are usually reserved for members of a single sex category, such as locker rooms or beauty salons“ (ebd., S. 31, bzgn. auf Gerson, 1985, Hvhg. i. O.). Es ist anzunehmen, dass in den dieser Studie zugrunde liegenden videographierten Spielsituationen solche Statusrituale der Betonung von Zugehörigkeit zu oder Abgrenzung von einer Geschlechterkategorie enthalten sind. Forschungspraktisch eröffnet die Theorie der Interaktionsritual-Ketten schließlich eine weitere Möglichkeit in entgegengesetzter Richtung zu den bisherigen Überlegungen. Die Zuwendung zur Situation auf der Grundlage einer sparsam aufgebauten Interaktionstheorie bietet nach der intensiven Auseinandersetzung mit soziologischen und psychologischen Geschlechtertheorien die Möglichkeit zur Distanzierung von diesen Konzepten. Im Sinne einer offenen und qualitativen Forschung ist das unbedingt notwendig. Die „klassischen“ Deutungen können im Verlauf des Forschungsprozesses in die Ergebnisse einfließen. Das empirische Material soll aber zuerst für sich sprechen und noch nicht in den Kategorien „großer“ Theorien eingefangen werden. Der Versuch einer Entfremdung bleibt aber nicht auf wissenschaftliche Konzepte beschränkt, sondern betrifft auch die Alltagstheorien des Forschers, der das empirische Material sonst allzu leicht in seinem Sinn verstehen könnte. Eine Distanzierung von vertrauten Lesarten wird insbesondere in der soziologischen Ethnographie als Grundlage des Forschungsprozesses beschrieben und im Folgenden noch methodisch vertieft (vgl. Kapitel 7.4). An dieser Stelle endet der theoretisch fundierte Diskurs innerhalb dieser Arbeit. Ausgehend von sozialwissenschaftlichen Grundbegriffen wurden Identitätskonzepte, soziologische und entwicklungspsychologische Entwürfe zu Geschlecht und Männlichkeit sowie relevante Forschungsbefunde erläutert und kritisch eingeordnet. Zur weiteren Klärung der Perspektive auf das Forschungsobjekt diente eine vertiefte

214

6 Eine integrierende Perspektive

Auseinandersetzung mit der Beschreibbarkeit des Menschen und seiner Entwicklung in sozialen Beziehungen. Die folgenden Ausführungen enthalten eine genaue Spezifizierung des Materials und die Fundierung einer Forschungsmethode: Was kennzeichnet videographische Daten? Und wie können sie sozialwissenschaftlich erschlossen werden?

7

Methodologie

7.1

Einleitung

Auf einer Ebene höherer Abstraktion steht jede empirische Studie in Beziehung zu einer Theorie. Beide Aspekte können unterschiedliche Gewichtungen haben. Die Theorie kann der Forschung vorausgehen. Sie rahmt den Ausschnitt der Welt, der erfasst wird und bestimmt die Fragen an das Material. Theorie kann aber auch im Sinne einer „Grounded Theory“160 methodisch in einer Studie entstehen bzw. durch sie ergänzt werden. Auf der Ebene des konkreten Datenmaterials wird eine Forschungsmethode zwar entsprechend dem Gegenstand ausgewählt, gleichzeitig konstruiert sie ihn aber, weil sie die soziale Wirklichkeit nur in ihrem Ausschnitt erfassen kann. Forschungsmethoden sind zudem mit Theorietraditionen verbunden. Die Entscheidung für eine Form der Datenerhebung und -analyse lässt also wieder theoretische Hypothesen in den Forschungsprozess einfließen.161 Theorien und ihre Methoden bestimmen den Forschungsgegenstand mit. Eine Reduktion der Komplexität des Sozialen ist dabei unvermeidlich. Forschende können dieser Tatsache nur mit kritischer Selbstreflexion begegnen (vgl. Friebertshäuser, Richter, & Boller, 2010, S. 380ff.). Im Forschungsprozess entsteht im besten Fall „ein Gespräch, in dem sich die Empirie und Theorien gegenseitig informieren“ (Kalthoff, 2008, S. 10, zitiert in ebd., S. 381). Dieses „Gespräch“ kann verschiedene Ausprägungen auf einem Kontinuum zwischen Deduktion und Induktion annehmen (vgl. ebd., S. 382ff.). An dieser Stelle wird ein im Wesentlichen „empirieorientierter Zugang zu Theorien“ (ebd., S. 385f.) angestrebt. Konzeptualisierungen und Phänomene werden dabei in einem fortlaufenden Erkenntnisdiskurs sozusagen miteinander ins Gespräch gebracht. Theoretische Begriffe können validiert, aber auch erweitert und geschärft sowie empirische Phänomene besser verstanden und weiter erschlossen werden. Im Folgenden wird hergeleitet und begründet, mit welchen 160

„Grounded Theory“ bezeichnet ein Konzept der interpretativen Sozialforschung. Die Theorie entsteht dabei im Forschungsprozess gegenstandsbezogen aus der Empirie (vgl. Hillmann, 2007, S. 314f.; Mey & Mruck, 2011, S. 11ff.). 161 Das vorliegende Datenmaterial ist bereits quantitativ ausgewertet worden, wobei andere Aspekte ins Blickfeld gerieten (vgl. Brandes et al., 2016, S. 69ff.).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Andrä, Die Konstruktion von Männlichkeit in kindheitspädagogischen Interaktionen, Kultur und gesellschaftliche Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24904-5_7

216

7 Methodologie

Werkzeugen dieser Diskurs zwischen den eingangs entfalteten Theorien und den vorliegenden empirischen Daten in Gang gesetzt werden kann. 7.2

Methodologische Grundlagen

Am Anfang der methodischen Überlegungen steht die richtungsweisende Klärung einer Frage: Folgt die Auswertung des empirischen Materials quantitativen oder qualitativen Prinzipien? Während bei Ersteren die Kategorien der Analyse vorher definiert und nicht mehr in Frage gestellt werden, sind sie bei Letzteren ein Ergebnis des Materials (vgl. Hillmann, 2007, S. 396f.; Tuma et al., 2013, S. 44ff.). Die Analyse der Individualentwicklung basiert in vielen Fällen auf Skalen und Fragebögen (Jackson et al., 1986; Beere, 1990; Kuger et al., 2011). Die dabei abgefragten Kategorien sind bereits vor der Erhebung festgelegt. Entscheidende Einflussfaktoren außerhalb dieser Operationalisierungen, die den erkannten Korrelationen ebenfalls zugrunde liegen könnten, werden übersehen. Darüber hinaus spiegeln die als männlich oder weiblich erkannten Merkmale eine vorher feststehende Geschlechterordnung, die sich so selbst bestätigt (vgl. Hirschauer, 2001, S. 213; Meuser, 2006, S. 51).162 Durch die Operationalisierung und Analyse von Unterscheidungen werden viele Unterschiede der Geschlechterdichotomie erst konstruiert. Dabei überlappen sich die Eigenschaften sowohl von Männern und Frauen als auch von Jungen und Mädchen in großem Maße (vgl. Kapitel 1.3.3, 5.2, 5.3). Aber so unklar, wie die Geschlechterkategorien bei näherer Betrachtung auch sein mögen, lassen sie sich doch nicht völlig auflösen. 162

„,Die Geschlechter zu vergleichen‘ ist eine hochgradig selbstverständliche EthnoMethode, die auch Kinder, Biologinnen, Ehepaare und Lehrer verwenden. Sie besteht darin, kulturellen Sinn aus sozialen Kategorien zu gewinnen, indem man empirische Differenzen zwischen dem findet, was man zuvor kategorial differenzierte. Der Befund eines ,Unterschiedes‘ bestätigt die vollzogene Unterscheidung, indem er sie nachträglich mit Sinn ausstattet. Das Entdecken von Geschlechtsunterschieden ist das Programm einer Beobachtung mit dieser Unterscheidung“ (Hirschauer, 2001, S. 213, Hvhg. i. O.). So verortet der bekannte „Bem-Sex-Role-Inventory“ Geschlechtsidentität als Ausprägung von Männlichkeit und Weiblichkeit gleich in einem orthogonalen Koordinatensystem (vgl. Beere, 1990, S. 73ff.). Bourdieu (1993, S. 166) nennt Fragebogenuntersuchungen daher „Artefakte des Versuchsraums“.

7.2 Methodologische Grundlagen

217

Skalen, die geschlechtstypische Eigenschaften abbilden, sind zwar – wie jedes Forschungsinstrument – unvollkommene, aber praktische Hilfsmittel, die die Komplexität des empirischen Materials so reduzieren, dass es analytisch erfassbar wird. Die damit einhergehenden Konstruktionsprozesse müssen jedoch immer kritisch hinterfragt und reflektiert werden. Das vorliegende Datenmaterial zeigt den Prozess der Herstellung von Geschlechtsidentität in kurzen, aber umfassenden videographischen Momentaufnahmen. Ein quantitativer Zugang – z.B. mit einem Ratingverfahren – wäre möglich, doch ist zu befürchten, dass der Gehalt der Daten aus einer skalierten Perspektive nur unzureichend erschlossen werden kann (vgl. Brandes et al., 2016, S. 70ff.). Ein qualitatives Herangehen erweitert das Blickfeld, um im Anschluss Details in den Fokus nehmen zu können. Es geht nicht um Männlichkeit im Sinne einer Maßzahl, die mit den Werten einer anderen Kategorie verglichen werden kann, sondern um das konkrete Handeln der Beteiligten in Interaktionen, mit dem sie situativ „feine Unterschiede“ herstellen: „Eine praxistheoretische Aufmerksamkeit schärft den Blick für Details und für scheinbare Nebensächlichkeiten in der Handhabung alltäglicher Situationen – und für deren Kunstfertigkeit“ (Breidenstein, 2006, S. 18). Dieses Herangehen hat Schwächen. Der in den pädagogischen Situationen gegebene Ausschnitt ist begrenzt: Soziale, biographische und institutionelle Hintergründe außerhalb der Interaktion werden ignoriert. Die umfassendere „Ökologie“ der Situation wird vernachlässigt.163 Für die tiefgründige Untersuchung des Materials ist jedoch eine qualitative Methode das Mittel der Wahl. Auch dieses Vorgehen braucht einen umfassenden Deutungsrahmen. Das oben erwähnte Gespräch zwischen Theorie und Empirie entwickelt sich hier aber zu einem offenen Erkenntnisdiskurs, dessen Zugänglichkeit im formulierten Ergebnis die Überzeugungskraft der wissenschaftlichen Arbeit ausmacht: Theoretische Ideen entstehen nicht in einer jeden Studie völlig neu. Wie ich bereits sagte, werden sie von anderen verwandten Untersuchungen übernommen und – fortschreitend verbessert – auf neue 163

Die Interaktion könnte z.B. von der familiären Situation des Kindes, seinen Interessen oder von der Qualifikation der Fachkräfte und dem Konzept der Einrichtung beeinflusst sein (vgl. Aigner et al., 2013, S. 95).

218

7 Methodologie

Interpretationsprobleme angewendet. Sobald sie für neue Probleme nichts mehr bringen, werden sie meist zur Seite gelegt und mehr oder weniger aufgegeben. Wenn sie nützlich bleiben und zu neuen Verständnismöglichkeiten führen, werden sie weiter ausgearbeitet und weiterhin verwendet. (Geertz, 2003, S. 38f.)

Die wesentlichen methodologischen Grundlagen des an dieser Stelle ausgewählten Forschungsansatzes sind das interpretative Paradigma der Soziologie (Weber, 1984; vgl. Hillmann, 2007, S. 397) sowie davon ausgehend die Theorie der sozialen Praktiken (Bourdieu, 1993; Hillebrandt, 2009) und die Ethnomethodologie (Garfinkel, 1967; Abels, 2009, 2010). Auf die beiden letzteren Perspektiven wurde ausführlich eingegangen (vgl. Kapitel 3.2, 3.4). Diese Konzepte enthalten im Kern einen vergleichbaren Aspekt. Ihnen liegt die Annahme zugrunde, dass sich das Soziale aus den Begegnungen handelnder Menschen ergibt: „The subject matter of sociology is interaction. Conversation of verbal and other gestures is an almost constant activity of human beings. The main business of sociology is to gain systematic knowledge of social rhetoric“ (Hughes, 1971, S. 508, zitiert in Heath & Hindmarsh, 2002, S. 99). Interaktion ist die Grundeinheit des Sozialen. Ihr Fundament bilden das praktische Wissen der Beteiligten bzw. ihre „Ethnomethoden“. Dieses „knowing how“ (Breidenstein, 2006, S. 17, bzgn. auf Ryle, 1969) ist von den Handelnden kaum explizierbar (vgl. Bourdieu, 1993, S. 97ff.). Breidenstein (vgl. 2006, S. 17) verweist auf Routinen, die nicht mit bewusster Absicht, sondern aus dem Handlungsfluss heraus entstehen. Auch das ethnomethodologische „doing gender“ kann daher als eine Praxis definiert werden (vgl. Yancey Martin, 2003, S. 351ff.; Meuser 2010, S. 121ff.). Der Schwerpunkt der Ethnomethodologie liegt auf der genauen Auseinandersetzung mit sozialen Situationen. In jedem Interaktionsablauf wird ein geordnetes Muster vermutet. Menschen stellen die Normalität ihres Alltags methodisch her. Diese Geordnetheit muss entschlüsselt werden, um das „knowing how” hinter dem Handeln erkennen und interpretieren zu können. Folgende Grundannahmen dieser Forschungsstrategie sind hervorzuheben (vgl. Hillmann, 2007, S. 202f.; Tuma et al., 2013, S. 54f.):

7.2 Methodologische Grundlagen





 

219

Methodizität und Interaktivität: Eine Interaktionsform wird nicht nur durch ihren Inhalt geprägt, sondern entsteht aus der Ordnung des gegenseitigen Handelns der Beteiligten. Die Methoden dafür sind ihnen meist nicht bewusst. Konstruiertheit: Interaktionen stellen soziale Strukturen her. Diesen Zusammenhang beschreibt der Begriff „doing“ in Verbindung mit der Bezeichnung des entsprechenden Ausschnitts des Sozialen. Erst durch die Analyse der Interaktionen kann die aus ihnen konstruierte Struktur verstanden werden. Reflexivität: Jede Handlung ist mit einem Hinweis verknüpft, wie sie verstanden werden soll. Bei Verstehen wird sie nicht hinterfragt. Indexikalität: Die Bedeutungen von Handlungen sind ungenau. Sie ergeben sich aus dem Kontext eines Strukturmusters, auf das sie verweisen. Interaktionen gelingen auf der Grundlage dieser geteilten Bedeutung und schlagen fehl, wenn sie nicht besteht. Zur Klärung sind sogenannte „accounts“ notwendig. Das sind Handlungen, die einem Kontext „zugeschlagen“ werden können. Die Beteiligten führen sie bereits in Bezug auf diese Anrechenbarkeit durch das Gegenüber aus (vgl. Abels, 2010, S. 140ff.; Kapitel 3.4).164

Diese Annahmen bilden den Ausgangspunkt der Analyse. Folgende Fragen können an das Material gestellt werden (vgl. Tuma et al., 2013, S. 56ff.): Welche Methoden wenden die Beteiligten an, um ihr Alltagshandeln zu strukturieren? Welche sequenzielle Ordnung zeigt sich in der Interaktion? Welche Ressourcen und welches Wissen werden von den Individuen eingebracht? Welche sozialen Strukturen entstehen? Die Forschenden nehmen eine ähnliche Position ein wie die an den Interaktionen beteiligten Personen. Sie interpretieren die Handlungen eines Gegenübers als Dokumente eines ihnen bekannten Musters, von dem ausgehend sie den

164

Trotz gegenseitiger Unkenntnis lässt sich mit wenigen Worten und sehr vager Sprache leicht ein geteilter Kontext herstellen. Die „tastenden“ Fragen sind indexikalische Handlungen, die Strukturmuster aufrufen. Fragt die Friseurin z.B.: „Urlaubsschnitt?“, ist bereits ein gemeinsamer Sinnhintergrund für ein angeregtes Gespräch über Reiseziele, Wetter, Kinder usw. hergestellt. Die Offenbarung einer persönlichen Information wäre aber eine deutliche Störung dieses „doing smalltalk“.

220

7 Methodologie

weiteren Verlauf antizipieren (vgl. Abels, 2010, S. 130).165 Mit diesen Ausführungen entsteht ein Fundament für das empirische Vorgehen. Es folgt einem qualitativen Paradigma. Das Datenmaterial soll aus einer ethnomethodologischen Perspektive erschlossen werden. Dazu bedarf es aber auch einer genauen Spezifizierung der vorliegenden Datenart, die im Anschluss entwickelt wird. 7.3

Videographisches Datenmaterial in den Sozialwissenschaften

Fotound Videoaufzeichnungen zur sozialwissenschaftlichen Datenerhebung sind weit verbreitet. Ihre wissenschaftliche Verwendung folgt einer langen Tradition. Seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts werden Filme als Erhebungsmethode auf den Forschungsreisen von Anthropologen eingesetzt. Der US-amerikanische Filmregisseur Robert Flaherty (1884-1951) produzierte 1922 mit „Nanook of the North“ einen der ersten Dokumentarfilme. Dieser enthält die Darstellung des Alltagslebens einer Inuit-Familie im Norden Kanadas (vgl. Erickson, 2011, S. 179f.; Tuma et al., 2013, S. 24ff.).166 Von besonderer Bedeutung sind die Arbeiten des Fotografen August Sander (1876-1964). Er stellte in Deutschland seit den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in großem Umfang inszenierte Darstellungen von Menschen unterschiedlicher gesellschaftlicher Herkunft her. Sander entwickelte sein Vorhaben mit einem analytischen Anspruch, der bereits auf die Verknüpfung verschiedener Dimensionen der menschlichen Identität und auf ein methodisches Vorgehen beim Erschließen des Bildmaterials verweist:

165

Garfinkel (vgl. 1967, S. 76ff.) übernimmt für die Ethnomethodologie den Begriff der dokumentarischen Methode der Interpretation von Karl Mannheim. Während es in der Wissenssoziologie dabei aber um die analytische Erschließung einer Tiefenstruktur geht, wird sie hier als eine Methode des Alltagshandelns beschrieben, als „Suche nach einem Muster, für das ein Phänomen typisches Beispiel ist“ (Abels, 2010, S. 129, bzgn. auf Mannheim, 1921/22, Garfinkel, 1961). 166 Der Film ist online verfügbar (vgl. https://www.youtube.com/watch?v=m4kOIzMqso0).

7.3 Videographisches Datenmaterial in den Sozialwissenschaften

221

Da der Einzelmensch keine Zeitgeschichte macht, wohl aber den Ausdruck seiner Zeit prägt und seine Gesinnung ausdrückt, ist es möglich, ein physiognomisches Zeitbild einer ganzen Generation zu erfassen und zum sprachlichen Ausdruck im Photo zu bringen [...] . Dieses Zeitbild wird noch verständlicher [,] wenn wir Photos von Typen der verschiedensten Gruppen der menschlichen Gesellschaft aneinanderreihen. (Sander, 1931, zitiert in Conrath-Scholl & Lange, 2004, Abs. 4, Hvhg. i. O.)

Nach Entwicklung des Tonbandes entstanden 1949 die ersten Aufnahmen natürlicher Sprache für die Sozialforschung. Richtungsweisend war das Projekt „The Natural History of an Interview“, das von 1955 bis 1956 in den USA an der Universität von Stanford von einer Gruppe von Forschenden aus Psychologie, Linguistik und Anthropologie unter Leitung der Psychoanalytikerin Frieda Fromm-Reichmann (1889-1957) durchgeführt wurde.167 Es handelte sich um die erste systematische Analyse verbaler und nonverbaler Inhalte einer Interaktion. Im Mittelpunkt stand die Tonfilmaufnahme eines familientherapeutischen Interviews mit einer Mutter und ihrem Kind. Die Angehörigen der Forschungsgruppe versuchten aus unterschiedlichen Perspektiven eine deskriptive Analyse des Materials zu erreichen. Dazu dienten eine phonetische und phonemische Transkription der Sprache, die Beschreibung der kinetischen Phänomene, die Darstellung psychologisch relevanter Inhalte sowie eine narrative Beschreibung der Interaktion. Keine dieser Dimensionen und auch kein Ausschnitt des Materials sollten hervorgehoben werden (vgl. Erickson, 2011, S. 180). Das Manuskript der Studie blieb unveröffentlicht. Die gemeinsame Arbeit wurde aber zur Grundlage der „context analysis“ von Interaktionen: „human social interaction is a semiotic ecology enacted continuously in real time; an ecology contributed to by all parties engaged in the interaction, making use of nonverbal and verbal means for doing listening and speaking“ (ebd., S. 181, Hvhg. i. O.). Seit den sechziger Jahren ist die Magnetband-Videotechnik für die Sozialforschung verfügbar. Die Aufnahmemöglichkeiten erweiterten sich dadurch immens. Auch erziehungswissenschaftliche Feldstudien auf der Zur Forschungsgruppe gehörten der Psychologe Henry W. Brosin, die Linguisten Charles F. Hockett (1916-2000) und Norman A. McQuovan sowie die Anthropologen Ray Birdwhistell (1918-1994) und Gregory Bateson (1904-1980) (vgl. Erickson, 2011, S. 180). 167

222

7 Methodologie

Grundlage von Videoaufnahmen wurden möglich. Seit den achtziger Jahren entstanden „Workplace Studies“, die die Wechselwirkung zwischen der Interaktion von Handelnden und technischen Artefakten untersuchten. Darüber hinaus entwickelte sich eine videogestützte Ethnographie als „Videography”. Inzwischen ermöglicht die Entwicklung der digitalen Videotechnik eine fast vollständige Ungebundenheit der Forschung (vgl. ebd., S. 181ff.). Auf der Grundlage des audiovisuellen Datenmaterials wird empirisch greifbar, was auf einer Ebene theoretischer Abstraktion hergeleitet wurde (vgl. Kapitel 6.3). Die oben von Erickson (ebd., S. 181) beschriebene „semiotic ecology“ ist nichts anderes als der „Körper unter anderen“ (Elias, 1987, S. 146). Der Erkenntnisprozess, der die beschriebene Trennung von Kognition, Körper und Gesellschaft überwindet, verläuft nicht nur theoretisch, sondern auch forschungspraktisch. Audiovisuelle Daten sind dabei von besonderer Bedeutung, wenngleich ihre Möglichkeiten oft nicht ausgeschöpft werden, da der Schwerpunkt der Analysen häufig nur auf sprachlichen Inhalten liegt (vgl. Erickson, 2011, S. 184). Videotechnik kann soziale Prozesse in großer Detailliertheit und in ihrem natürlichen Kontext aufzeichnen. Audiovisuelle Daten kennzeichnen gleichermaßen Permanenz und eine besondere Dichte, was ein Alleinstellungsmerkmal darstellt. Permanenz bedeutet neben der ununterbrochenen Aufzeichnung, die keinen Moment der Unaufmerksamkeit kennt, den dauerhaften Zugang zum Material. Die besondere Dichte umfasst vielfältige visuelle und akustische Aspekte:      

Sprache und Prosodie, Gestik und Mimik168, Bekleidungen und Accessoires, Körperhaltungen und -formationen, Settings und die soziale Ökologie, Geräusche.

Die Interpretation der gestischen und mimischen Ausdrucksformen im Datenmaterial bezieht sich auf die Überblicksveröffentlichung zur nonverbalen Kommunikation des englischen Sozialpsychologen Michael Argyle (vgl. 2013, S. 155ff., 237ff., bzgn. auf Ekman & Friesen, 1976). 168

7.3 Videographisches Datenmaterial in den Sozialwissenschaften

223

Dabei haben die entstehenden Daten eine mimetische Qualität, denn sie bilden etwas ab, das tatsächlich so stattgefunden hat. Dabei werden nicht nur der zeitliche Verlauf eines Verhaltens, sondern auch umfangreiche synchrone Kontextdimensionen wiedergegeben. Die oben genannten Aspekte können diachron oder synchron, also in Bezug auf ihre soziale Wechselwirkung oder ihre parallele Vielschichtigkeit, analysiert werden. Durch die Möglichkeiten der Wiederholung, der Zeitraffung oder verzögerung („Zeitlupe“) sowie der Vergrößerung („Zoom“) wird eine „analytische Aufdeckung der komplexen Orchestrierung“ sozialer Prozesse im Sinne einer „soziologischen Mikroskopie“ (Tuma et al., 2013, S. 32, 34, Hvhg. i. O.) möglich. Ein weiterer Vorteil ergibt sich aus der technischen Registrierung der Daten. Sie sind nicht rekonstruktiv, sondern beziehen sich direkt auf die Aufnahmesituation. Dadurch enthalten sie weniger Interpretationsleistungen der untersuchten Individuen und der Forschenden, die die Daten erheben. Demgegenüber bezieht sich z.B. ein Fragebogen in der Regel auf etwas außerhalb der Situation der Erhebung, wodurch bei seiner Erstellung und bei seinem Einsatz Konstruktionen in das Datenmaterial einfließen können (vgl. ebd., S. 31ff.). Audiovisuelle Daten sind aber kein unverfälschtes Abbild der Wirklichkeit, sondern ebenfalls Konstruktionen. Es handelt sich um eine „digitale Erkenntnistheorie“, denn die Kamera rahmt und filtert die Wahrnehmung einer sozialen Situation: Der dreidimensionale Raum wird zur Fläche des Bildschirms, das Blickfeld wird auf einen viereckigen Ausschnitt begrenzt und Eindrücke, die weder akustisch noch visuell sind, werden vernachlässigt. Zwischen der sozialen Situation und ihrer Aufzeichnung kommt es zu einer Transformation. Audiovisuelle Daten können dabei auf einem Kontinuum von natürlich bis künstlich eingeordnet werden, je nach Ausmaß des Einflusses der Forschenden auf die Aufnahmesituation, der Komplexität der Kameraführung und des Umfangs der Nachbearbeitung des Materials. Der „natürliche“ Pol dieser Bandbreite bedeutet aber keine Repräsentativität. Bereits das Aufstellen der Kamera ist eine Interpretationsleistung der Forschenden (vgl. ebd., S. 34ff.).169 169

Die Kritik an der Verwendung von Videodaten in der Sozialforschung führt im Extremfall zu ihrer Ablehnung, da sie nicht das Soziale aufzeichnen, das die Augen der Teilnehmenden und Beobachtenden sehen (vgl. Tuma et al., 2013, S. 26f.).

224

7 Methodologie

Der Einsatz einer Kamera ist Teil der Aufnahmesituation. Die Handelnden werden davon aber nur geringfügig beeinflusst. Im Allgemeinen wird von einer niedrigen Reaktanz ausgegangen (vgl. ebd., S. 13f.). Das dem Forschungsvorhaben zugrunde liegende Datenmaterial stellt allerdings einen Sonderfall dar. Es ist zwar nicht durch Kameraführung und Nachbearbeitung modifiziert, entstammt aber einer quasiexperimentellen Konstellation. Es kann also nicht nur eine Reaktanz auf die Kamera, sondern auch auf diese Situation angenommen werden. Im Verlauf der Aufnahme bildet sich allerdings meist eine Interaktionsdynamik, die das Geschehen in den einzelnen Sequenzen von der Situation der Datenerhebung löst, wodurch interaktiv und metaphorisch dichte Situationen entstehen, die Bohnsack (2011, S. 175) „Fokussierungsmetaphern“ nennt. In diesen Interaktionszügen sollte auch das augenfällig werden, worauf sich das Interesse des Forschenden hier bezieht. Wie es methodisch erschlossen werden kann, wird in den nächsten Abschnitten genauer erläutert. 7.4

Ethnographie als soziologische Forschungsstrategie

Die soziologische Ethnographie ist eine Forschungsstrategie zur kritischen Analyse der eigenen Gesellschaft. Wichtigste methodologische Grundlage ist eine Distanzierung von scheinbar vertrauten sozialen Phänomenen, um sie wie Schöpfungen einer unbekannten Kultur beobachten zu können (vgl. Breidenstein, 2006, S. 21). Geertz (2003, S. 15, Hvhg. i. O.) beschreibt dieses Vorgehen folgendermaßen: Ethnographie betreiben gleicht dem Versuch, ein Manuskript zu lesen (im Sinne von ‚eine Lesart entwickeln‘), das fremdartig, verblasst, unvollständig, voll von Widersprüchen, fragwürdigen Verbesserungen und tendenziösen Kommentaren ist, aber nicht in konventionellen Lautzeichen, sondern in vergänglichen Beispielen geformten Verhaltens geschrieben ist.

Bei der Datenanalyse im vorliegenden Fall sollen also vorherige geschlechtliche Zuschreibungen möglichst unterbleiben. Die Konstruktion von Männlichkeit wird zu einer empirischen Frage: „Es gilt jene Situationen und Praktiken zu identifizieren, die der Geschlechterunterscheidung Relevanz verleihen“ (Breidenstein & Kelle, 1998, S.15). In

7.4 Ethnographie als soziologische Forschungsstrategie

225

ethnomethodologischem Sinne geht es zuerst um das „doing“ und dann um das diesen Praktiken zugrunde liegende „knowing how to do“: „Es ist nach ihrer Bedeutung zu fragen: Was wird mit ihnen und durch sie gesagt – Lächerlichkeit oder Herausforderung, Ironie oder Ärger, Hochnäsigkeit oder Stolz?“ (Geertz, 2003, S. 16). Eine „objektive“ Sicht auf die Wirklichkeit und die Geschlechterverhältnisse und -beziehungen ist aber niemals vollständig möglich. Sie lassen sich nicht in Worten auflösen, denn in der Sprache, mit der sie beschrieben werden, ist bereits ihre Deutung enthalten (vgl. Brandes, 2002, S. 73; Kapitel 1.3.2, 1.3.3, 3.2.6). Trotzdem muss das Unmögliche versucht werden, denn nur dann kann aus literarischer Beschreibung ein ethnographischer Forschungsprozess werden. Auf die Bedeutung der Distanzierung von Vorannahmen wird in vergleichbarer Form innerhalb verschiedener soziologischer Perspektiven verwiesen. Bourdieu (1997, S. 214) fordert eine „kritische Inspiration“. Der englische Soziologe Anthony Giddens (1999, S. 4, zitiert in Hillebrandt, 2009, S. 374) spricht von einer „Kunst des Misstrauens“ und von „soziologischer Phantasie“. Sein USamerikanischer Kollege Norman K. Denzin (2010, S. 424) hält eine „subversive Lesart“ für notwendig. Hillebrandt (2009, S. 391) verweist in Bezug auf die Erforschung von Praktiken auf eine „Sensibilität für den praktischen Sinn“, die nicht allein auf einer theoretischen Logik beruhen soll. Wie kann diese Sensibilität erreicht werden? Ein erster wichtiger Aspekt betrifft das Verhältnis von Empirie und Theorie. Ein offener Diskurs zwischen beiden Polen wird die Auswirkungen geschlechtertheoretischer Vorannahmen begrenzen bzw. sie immer wieder in Frage stellen (vgl. Friebertshäuser et al., 2010, S. 385f.): „Moving back a step, one can see ‚socialization‘ and ‚development‘ as perspectives that many parents, teachers, and other adults bring to their interactions with children“ (Thorne, 1994, S. 13, Hvhg. i. O.). Dieser „Schritt zurück“ soll hier versucht werden. Eine ähnliche Wirkung ergibt sich aus der Bezugnahme auf eine allgemeine Interaktionstheorie. Die darin enthaltenen Begriffe ermöglichen Deutungen ohne vordergründige Bezugnahmen auf Dimensionen von Geschlecht und Entwicklung. Auf diese Weise werden die wissenschaftstheoretischen Vorannahmen abgeschwächt (vgl. Kapitel 6.6). Die Alltagstheorie – insbesondere die der Geschlechterstereotype – ist aber mindestens genauso wirkmächtig. Der Forderung, das Material für sich

226

7 Methodologie

sprechen zu lassen, wohnt daher ein Risiko inne, da es durch die Allgegenwart geschlechtlicher Symboliken eine suggestive Kraft entfalten kann. Eine verfremdende Metaphorik, wie sie z.B. in Goffmans (vgl. 1996, S. 18; Breidenstein & Kelle, 1998, S. 18) Beschreibungen sozialer Situationen auf der Grundlage von Konstellationen des Theaters enthalten ist, kann diese Einflüsse begrenzen.170 Auch die Theorie der Interaktionsritual-Ketten ermöglicht eine breite Bildsprache, da Interaktionen z.B. „physikalisch“ beschrieben werden können. So gibt es bei jedem Interaktionsritual „heiße“ und „kalte“ Bereiche. Eine weitere Distanzierung geschieht durch die ethnomethodologische Fokussierung auf Interaktionszüge statt auf Jungen oder Mädchen bzw. auf Männer oder Frauen. Die Wirkung der Geschlechterkategorie wird so zugunsten der Situation abgeschwächt (vgl. Tervooren, 2006, S. 63). Thorne (1994, S. 108, Hvhg. i. O.) erweitert diese Argumentation auf den gesamten sozialen Kontext: „One way to grasp this complexity is by examining gender in context rather than fixing binary abstractions like ‘boys emphasize status, and girls emphasize intimacy.’ Instead we should ask ‘which boys or girls, where, when, under what circumstances?’” Der Blickwinkel wird erweitert, um die Vielfalt des Sozialen erfassen zu können. Die formalisierte Aufarbeitung des Materials mit Hilfe einer Software zur qualitativen Auswertung audiovisueller Daten verstärkt die Zurückstellung von Vorannahmen weiter. Einzelne Interaktionssequenzen können detailliert auf ihre inneren Zusammenhänge untersucht werden.171 Die analytische Distanzierung von der eigenen Vertrautheit mit Situationen, vom eigenen „knowing how“, ist aber gleichermaßen eine methodische Wieder-Annäherung. Die ethnographische Interpretation von Interaktionen ist ein Versuch zu verstehen, was es bedeutet, eine der handelnden Personen in der zu analysierenden Situation zu sein, um diese wie alle Teilnehmenden aus ihrer „Vorstellungswelt“ (Geertz, 2003, S. 20) heraus begreifen zu können (vgl. Breidenstein & Kelle, 1998, S. 19). Hauptaufgabe ethnographisch Forschender ist das Beschreiben. Es umfasst zwei Ebenen: Die Aufzeichnung dessen, was materiell geschehen 170

So weist Goffman dem Interaktionsgeschehen u.a. „frontstages“ und „backstages“ zu (vgl. Goffman, 1996, S. 99ff.; Collins, 2006, S. 19ff.). 171 Auf die Verwendung der Software ATLAS.ti wird weiter unten in Bezug auf den ethnographischen Schreibprozess näher eingegangen (vgl. Kapitel 7.5.3).

7.4 Ethnographie als soziologische Forschungsstrategie

227

ist, und die Interpretation dieses Ereignisses. Geertz (2003, S. 10, bzgn. auf Ryle, o. J.; vgl. Scholz, 2012, S. 128f.) verwendet die Begriffe „dünne“ und „dichte Beschreibung“. Er differenziert sie am Beispiel des Augenzwinkerns: „Dünn beschrieben“ handelt es sich um ein schnelles Zucken des Augenlids. In einer „dichten Beschreibung“ wird erläutert, ob jemand so tut, als ob er oder sie zwinkert oder jemanden, der zwinkert, parodiert oder dieses gerade einübt. Geertz (vgl. ebd., S. 20, 39; Breidenstein, 2003, S. 20ff.) fasst den auf dieser Differenzierung beruhenden Forschungsprozess folgendermaßen zusammen: 1) Niederschrift, „dichte Beschreibungen“: Welche Vorstellungswelt gibt den Handlungen der Beteiligten Bedeutung? 2) Erklärung, Spezifizierung, Diagnose: Was sagt dieses Wissen über diese Gesellschaft bzw. über das soziale Leben im Allgemeinen aus? Wie können die typischen Eigenschaften dieser Vorstellungsstrukturen in einem analytischen Begriffssystem vergleichend mit anderen Vorstellungswelten beschrieben werden? Die Selektivität der Beobachtung wird durch die Selektivität der Beschreibung noch potenziert. Beobachtung und Beschreibung lassen sich wiederum nicht scharf von der anschließenden Auswertung trennen. Das Verständnis der fremden Praxis kann bereits im Feld beginnen und sich beim Beschreiben weiter vertiefen. Eine abschließende Phase der intensiven Beschäftigung mit den Daten ist für eine analytische Distanz unbedingt notwendig (vgl. Breidenstein, 2003, S. 25). Ethnographische Analysen bleiben aber immer unvollständig. Sie erweitern im besten Falle den wissenschaftlichen Diskurs (vgl. Geertz, 2003, S. 41). Friebertshäuser et al. (vgl. 2010, S. 388ff.) differenzieren einen mehrstufigen Auswertungsprozess, dessen Ergebnis eine „ethnographische Collage“172 ist. In den ersten drei Schritten werden die Daten bis zur Sättigung in Kategorien verdichtet. Anschließend werden die im Forschungsprozess entstandenen Kategorien zu einer Untersuchungseinheit zusammengefasst. Diese „ethnographische Collage“ wird zur Materialbasis Der Begriff „ethnographische Collage“ wird im Weiteren nur bei seiner ersten Erwähnung innerhalb eines Kapitels mit einer Quellenangabe versehen, ist aber durch Anführungszeichen immer als Übernahme gekennzeichnet. 172

228

7 Methodologie

der Interpretation. Der analytische Text bleibt eine Konstruktion. Er kann aber an Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft gewinnen, wenn sein Entstehen transparent gemacht wird und der Erkenntnisprozess der Forschenden für die Leserinnen und Leser verständlich wird. Das schließt die kritische, selbstreflexive Auseinandersetzung mit den eigenen Vorannahmen und Prägungen ein (vgl. ebd., S. 393ff.; Tervooren, 2006, S. 60f.). 7.5

Konkretisierung für das Forschungsvorhaben

7.5.1

Vorbemerkung

Nach der allgemeinen Einführung in die soziologische Ethnographie wird ihre Anwendung für den vorliegenden Zusammenhang im Anschluss konkretisiert. Methodische Grundlage der Datenerhebung ist die „fokussierte Ethnographie“. Daran schließen sich mehrere Phasen eines ethnographischen Schreibprozesses an. Die sequenzielle Ordnung der Interaktionen wird mit der Videointeraktionsanalyse erschlossen (vgl. Tuma et al., 2013, S. 63ff., 85ff.). 7.5.2

Die Datenerhebung als fokussierte Ethnographie

Bei der „fokussierten Ethnographie“ handelt es sich um einen ethnographischen „Sonderweg“: Statt längere Feldaufenthalte durchzuführen, werden kurzfristig vor allem audiovisuelle Mitschnitte erhoben, die sich auf kommunikative Aktivitäten beziehen und in Datensitzungen im Team ausgewertet werden. Die Forschenden werden nicht zu Teilnehmenden, sondern bleiben Beobachtende. Das dabei gesammelte Hintergrundwissen dient als Grundlage der weiteren Interpretation der Interaktionssituationen (vgl. Knoblauch, 2001, S. 129; Tuma et al., 2013, S. 63ff.). Da sich das Interesse hier auf einen kleinen Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit bezieht – konkret auf die Interaktionen zwischen Fachkräften und Jungen in Kindertagesstätten – ist eine fokussierte Feldforschung sinnvoll. Das vorliegende Datenmaterial ist im Rahmen der Tandem-Studie

7.5 Konkretisierung für das Forschungsvorhaben

229

zum Vergleich des pädagogischen Verhaltens von Erzieherinnen und Erziehern in Kindertagesstätten entstanden (Brandes et al., 2016). Es wurde vom Verfasser, der Teil des Forschungsteams war, zu großen Teilen selbst erhoben. Das Vorgehen entsprach den beschriebenen Ansprüchen an eine „fokussierte Ethnographie“ – bis hin zur Diskussion des Materials in Datensitzungen – und kann damit als eine ausreichende Grundlage der anschließenden Videointeraktionsanalyse betrachtet werden (vgl. Knoblauch, 2001, S. 134). Innerhalb einer „fokussierten Ethnographie“ ergibt sich ein Widerspruch zum weiter oben hervorgehobenen Versuch der Entfremdung vom Forschungsobjekt. Hier wird im Gegensatz dazu gerade die Vertrautheit mit dem Feld genutzt. Diesbezüglich ist aber zwischen verschiedenen Phasen des Forschungsvorhabens zu differenzieren. Während die fokussierten Feldaufenthalte im Rahmen der Datenerhebung von einer Vertrautheit mit dem Kontext profitieren, bleibt es in Bezug auf den theoretischen Rahmen und die detaillierte Analyse von videographierten Interaktionssequenzen im weiteren Verlauf des ethnographischen Schreibprozesses sinnvoll, eine Distanzierung anzustreben (vgl. ebd.). 7.5.3

Die Phasen des ethnographischen Schreibprozesses

Die Rezeption von Videodaten ist ein Sonderfall der ethnographischen Beobachtung. Die Forschenden haben weiterhin Zugriff auf eine Interaktionssituation, müssen aber weder fokussiert noch teilnehmend anwesend sein. Aus dem Beobachtungsprotokoll wird ein Transkript. Beide sind gleichermaßen konstruiert, unterscheiden sich aber in ihrer Detailschärfe (vgl. Breidenstein & Kelle, 1998, S. 147). Die besondere Dichte von audiovisuellen Daten wurde bereits erläutert (vgl. Kapitel 7.3).173 In der ersten Phase des Schreibprozesses werden grobe deskriptive 173

In Bezug auf seine ethnographische Studie über das Schülerverhalten schreibt Breidenstein (2006, S. 32, Hvhg. i. O.): „Die Videokamera macht Dimensionen körpersprachlichen Verhaltens der Beobachtung zugänglich, die sich dem ,bloßen Auge‘ der teilnehmenden Beobachterin und der Versprachlichung in Beobachtungsprotokollen entziehen. Die wortlose Verständigung mit Blicken, das kommentierende Minenspiel bis hin zur Konstellation der Körper am gemeinsamen Tisch [...] .“

230

7 Methodologie

Transkripte eines großen Teils des Datenkorpus und ein vorläufiges Kategoriensystem erstellt. Die Kodierung des Materials wird fortgesetzt bis keine wesentlichen neuen Kategorien mehr entstehen.174 In einem Forschungsprotokoll werden Interpretationsideen und theoretische Inspirationen festgehalten. Das Protokoll, das Kategoriensystem und die Transkripte sind Teil eines sogenannten „Logbuchs“ (Tuma et al., 2013, S. 77ff.), das zusätzlich relevante Kontextinformationen zum Forschungsfeld enthält. Die zweite Phase kann in Anlehnung an die vorangegangenen Ausführungen als „Software-gestützte dichte Beschreibung“ charakterisiert werden. Das audiovisuelle Material und das im ersten Schritt entstandene System vorläufiger Kategorien werden in das Programm ATLAS.ti übertragen. Der Datenkorpus wird auf der Grundlage des Kategoriensystems kodiert.175 Der Blickwinkel verlagert sich auf interaktiv und metaphorisch dichte Stellen. Da das Videomaterial in einem quasiexperimentellen Rahmen erhoben wurde, sind die Sequenzen wesentlich, die nicht unter dem direkten Einfluss der Interventionen der Forschenden entstanden. Bohnsack (2011, S. 175) spricht diesbezüglich von „Selbstläufigkeit“ in den Interaktionen zwischen den Handelnden, die sich zu „dramaturgischen Höhepunkten“ steigern kann. Nachdem das Material in der ersten Phase in der Breite bearbeitet wurde, soll die geforderte „Tiefenschärfe“ an diesen aussagekräftigen Ausschnitten erreicht werden. Ein weiteres Auswahlkriterium ist die Vergleichbarkeit, da einzelne Sequenzen durch äußere Einflüsse in besonderer Form von den meisten anderen Aufnahmen abweichen. Unterschiedliche Sitzpositionen (gegenüber oder nebeneinander bzw. über Eck) beeinflussen z.B. die gegenseitige körperliche Bezugnahme der Handelnden immens. Deshalb werden für die vertiefte Analyse vor allem die Situationen herangezogen, die sich in solchen Grundbedingungen ähneln. Diese Eingrenzung ist auch deshalb notwendig, 174

Insgesamt wurden in der ersten Phase der Auswertung sechzehn videographierte Spielsituationen mit Jungen kategorisiert, davon je acht mit einer männlichen und einer weiblichen Fachkraft. 175 Die Software ATLAS.ti wird als „Wissenswerkbank“ vermarktet. Das Programm bietet vielfältige Möglichkeiten, Zitate aus einem Datenkorpus miteinander zu verknüpfen. Durch Kommentare, Memos und Netzwerkansichten wird der Analyseprozess unterstützt (vgl. http://atlasti.com/wp-content/uploads/2014/05/QuickTour_a7_de.pdf).

7.5 Konkretisierung für das Forschungsvorhaben

231

da eine detaillierte interaktionsanalytische Untersuchung nur für Teile der Daten überhaupt möglich ist.176 Aufbau und innerer Zusammenhang einer Interaktionssequenz werden auf der Grundlage der im anschließenden Abschnitt erläuterten Videointeraktionsanalyse untersucht. Die beschriebenen ethnomethodologischen Prinzipien bestimmen Anfang und Ende einer Sequenz, d.h. die Handelnden zeigen selbst an, wann ein Interaktionszug beginnt und wann er abgeschlossen ist (vgl. Tuma et al., 2013, S. 59f., 79; Kapitel 7.2). Aus der Feinanalyse bereits kategorisierter Sequenzen und ihrer Grenzen ergibt sich der Rahmen weiterer vergleichbarer Einheiten, die ebenfalls interaktionsanalytisch untersucht werden. Falls notwendig kann das Kategoriensystem auch in dieser Phase durch neue Kodes erweitert werden. Das Programm ATLAS.ti ermöglicht parallel die fortlaufende Erstellung und Verknüpfung von Memos, Kommentaren und Netzwerkansichten, die erste Grundbausteine des entstehenden ethnographischen Textes sind. In immer neuen Durchläufen wird das Datenmaterial auf der Suche nach ähnlichen und kontrastierenden Ausschnitten bearbeitet. Die Analyse schließt dabei auch Sequenzen mit Mädchen und weiteren männlichen und weiblichen Fachkräften ein. Die Auswertung wird fortgesetzt, bis keine neuen Phänomene mehr erkennbar werden und damit eine Sättigung der Forschung erreicht ist. Durch die Verknüpfungen innerhalb des Programms bleibt der Zugriff auf die ständig steigende Anzahl von kodierten Zitaten, Memos und Kommentaren möglich. Die Vergleiche und Kontrastierungen, die in Netzwerkansichten in die Software eingeschrieben werden, vertiefen die Systematisierung des Materials. Erste Interpretationen werden entworfen. Auf dieser Grundlage entsteht in der dritten Phase des analytischen Prozesses ein ethnographischer Text, der protokollierte Ausschnitte aus dem Material in Verbindung mit Standbildern enthält und ihre interaktionsanalytische Deutung mit ergänzenden Theoriebezügen verknüpft. Diese Interpretationen werden unter theorierelevanten Aspekten zusammengefasst. Erst an dieser Stelle tritt die bisher zurückgestellte Geschlechterkategorie wieder in den Vordergrund. Der Text wird auf der 176

Der zeitliche Aufwand darf nicht unterschätzt werden: „Mehr als maximal ein bis drei Minuten Videomaterial lassen sich in einer Stunde Analysearbeit kaum sorgfältig interpretieren“ (Tuma et al., 2013, S. 86).

232

7 Methodologie

Grundlage des empirischen Materials und ergänzender Befunde weiter verdichtet. Vor allem die beiden letzten Phasen des ethnographischen Schreibprozesses können aber nicht eindeutig voneinander abgegrenzt werden. Bereits die Memos und Kommentare sind erste Interpretationen, in die weitere theoretische Erkenntnisse einfließen. Im Folgenden wird die methodische Schnittstelle zwischen dem empirischen Material und seiner Deutung beschrieben. Es handelt sich um die Videointeraktionsanalyse (vgl. ebd., S. 85ff.). Mit dieser Methode können die sequenzielle Ordnung der Interaktionen und das sie konstituierende Handeln der Beteiligten für eine Interpretation erschlossen werden. 7.5.4

Die Videointeraktionsanalyse

Wie entsteht aus dem Material eine Interpretation? Diese „Transformation“ kann wissenschaftlicher Kritik nur standhalten, wenn sie auf einer nachvollziehbaren, methodischen Grundlage beruht. Die Videointeraktionsanalyse ermöglicht die feingliedrige Untersuchung der Sequenzialität von sozialen Situationen. Es geht darum, den intrinsischen Zusammenhang der Interaktion zu erkennen, nicht die soziale Lage der Handelnden oder andere, der Interaktion äußerliche Aspekte. Voraussetzung dafür ist das Kontextwissen aus der vorangegangenen „fokussierten Ethnographie“ (vgl. Tuma et al., 2013, S. 85, 92). Das erste zu analysierende Zitat aus dem Datenkorpus kann sich zum einen aus der Reflexivität der Handlungszüge ergeben. Die Beteiligten zeigen selbst an, wie bedeutsam eine Interaktion ist. Zum anderen können auch rekursive Muster, die in Bezug auf die Forschungsfrage aussagekräftig wirken, bei der Entscheidung für ein erstes Analysefragment hilfreich sein (vgl. ebd., S. 86). Im ersten Schritt der Analyse geht es um das Verstehen der Sequenz: Was geschieht hier? Dabei ist das Kontextwissen aus der „fokussierten Ethnographie“ hilfreich. So könnte ein Video z.B. als Aufnahme eines Gesprächs zwischen einer Ärztin und einem Patienten oder zwischen einer Friseurin und ihrem Kunden, aber auch als Dokument einer Bastelsituation in einer Kindertagesstätte identifiziert werden. Geschlecht und Alter der handelnden Personen und ihre Funktionen in dieser Situation sind durch den fokussierten Feldaufenthalt bekannt. Aus dem Forschungsinteresse ergeben sich erste Fragen an das Material (vgl. ebd., S. 87ff.).

7.5 Konkretisierung für das Forschungsvorhaben

233

Im zweiten Teil wird die sequenzielle Ordnung der Interaktion entschlüsselt. Nun geht es um das wie der Handlung entsprechend der oben beschriebenen ethnomethodologischen Aspekte (vgl. Kapitel 7.2). Methodizität und Geordnetheit der Interaktion sind zu klären: Mit welchen Handlungsformen stellen die Beteiligten die interaktive Situation her? Welche situative Struktur entsteht dadurch? Dabei kann als Hilfskonstruktion angenommen werden, dass alle Aspekte der Interaktion von den Handelnden bewusst für diese Ordnung erzeugt werden. Darüber hinaus muss die Reflexivität der Handlungen geklärt werden: Auf welche Bedeutung verweist eine handelnde Person A? Die Beteiligten zeigen sich aber nicht nur an, wie sie verstanden werden wollen, sondern auch, wie sie einen vorherigen Interaktionszug verstanden haben. Person B als Gegenüber von A wird das in ihrer anschließenden Reaktion deutlich machen. Person A wird daraufhin zeigen, ob sie mit dieser Interpretation von B einverstanden ist. Aus dem Zusammenhang kann sequenzanalytisch auf die Bedeutung der Handlungen geschlossen werden (vgl. ebd., S. 89ff.). Neben dieser diachronen Ordnung dürfen die synchronen Dimensionen des nichtsprachlichen Verhaltens, z.B. Mimik oder Gestik, sowie gegenständliche Aspekte nicht vernachlässigt werden. Welche Lautäußerungen werden Teil der Interaktion? Wie fließen die Haltungen der Körper in die Handlungszüge ein? Welche Objekte werden ergriffen? Die Bedeutung der nichtsprachlichen Aspekte kann vor allem aus der sequenziellen Struktur erschlossen werden. Die Beteiligten zeigen an, ob diese Handlungen Teile ihrer wechselseitigen Aufeinanderbezugnahme sind. Die Vielschichtigkeit der synchronen Zeichendimensionen, die die sequenzielle Ordnung der Interaktion begleitet, macht eine vollständige Beschreibung und Interpretation unmöglich. Eine Eingrenzung des Materials durch eine Fokussierung auf Sequenzen von besonderer interaktiver Dichte und auf rekursive Muster ist daher unvermeidlich (vgl. ebd., S. 91ff.). Nach der Entschlüsselung einer Sequenz wird nach Vergleichsfällen im Sinne minimaler und maximaler Kontrastierung gesucht, die mit derselben Detailschärfe erschlossen werden. Die genaue Erforschung der sequenziellen Struktur einer Interaktion und ihre Gegenüberstellung mit vergleichbaren Ausschnitten eröffnen einen Zugang zum praktischen Wissen der Handelnden, ihrem „knowing how to do“, das in die Interaktionen einfließt (vgl. Breidenstein, 2006, S. 17, bzgn. auf Ryle, 1969).

234

7 Methodologie

Es entstehen erste theoretische Modelle als „Konstrukte zweiter Ordnung“. Davon ausgehend können die Sequenzen auf der Grundlage zusätzlicher empirischer und theoretischer Validierung im fortlaufenden Forschungsprozess auf umfassendere Strukturen rückbezogen werden. Erweiterte Theorieansätze werden möglich (vgl. Tuma et al., 2013, S. 93, 101).177 7.6

Begründung und Zusammenfassung

Vor einer kurzen Zusammenfassung der Forschungsstrategie werden wesentliche Gründe für die Methodenwahl erläutert. Empirischer Ausgangspunkt des Vorhabens sind audiovisuelle Aufzeichnungen von Interaktionen. In diesen situativen Begegnungen, die als Rituale im Sinne von Collins‘ IR-Theorie gedeutet werden, entsteht Identität (vgl. Kapitel 6.5). Die Videointeraktionsanalyse ist eine geeignete Methode, um dieses Material zu erschließen. Sie bleibt direkt an Ton und Bild und macht die unterschiedlichen Zeichendimensionen in ihrer wechselseitigen Struktur zugänglich. Es geht also nicht nur um die Interpretation im Wesentlichen verbaler Aspekte oder um die Deutung eines Transkriptes, sondern um den Versuch – trotz aller Einschränkungen – auf die Grundeinheit des Sozialen im Ganzen zuzugreifen, auf den „Körper unter anderen“ (Elias, 1987, S. 146) bzw. die „semiotic ecology“ (Erickson, 2011, S. 184). Kognition und Körper sind durch affektiv-emotionale Prozesse miteinander verbunden und gleichzeitig sozial bestimmt. Eine Analyse von Identität muss daher auch die eher bewusstseinsfernen und nonverbalen Aspekte von Interaktionen erfassen können. Das ermöglicht die Videointeraktionsanalyse. Die Bildung von Geschlechtsidentität ist zudem 177

Tuma et al. (vgl. 2013, S. 87f.) favorisieren Datensitzungen von Gruppen. Das Videomaterial wird von den Forschenden gemeinsam interpretiert. Hier wird die Analyse im Wesentlichen vom Verfasser allein durchgeführt. Allerdings werden im Verlauf des Prozesses immer wieder relevante Ausschnitte Kolleginnen und Kollegen präsentiert und mit ihnen gemeinsam diskutiert, so z.B. in der Special Interest Group „Gender Balance“ innerhalb der European Early Childhood Education Research Association (EECERA), in der Forschungswerkstatt von Prof. Dr. Andreas Hanses an der TU Dresden und im Promovierendenkolloquium unter Leitung von Prof. Dr. Harald Wagner und Prof. Dr. Marlies Fröse an der ehs Dresden.

7.6 Begründung und Zusammenfassung

235

vor allem ein Ergebnis frühkindlicher Interaktionserfahrungen. Diese Zusammenhänge lassen sich aber kaum rekonstruktiv operationalisieren, auch wenn das wissenschaftliche Praxis ist (Jackson et al., 1986). Auch deshalb muss eine Methode angewendet werden, die solche Interaktionserfahrungen in ihrer ganzen Vielfalt erschließen kann. Das audiovisuelle Datenmaterial kann bei oberflächlicher Betrachtung als Spiegelbild des ganzen Menschen und seiner sozialen Beziehungen missverstanden werden. Aber auch diese Erhebungsmethode und die hier mit ihr verknüpfte Form der Datenauswertung bleiben unvollkommen. Auf der Suche nach Erkenntnis bleibt der Forschende „ein Mensch, der sich plötzlich ins Meer geworfen findet, ohne Sicht auf festes Land“ (Elias, 1987, S. 132). In dieser Unsicherheit ist auch forschungspraktisch kein fester Grund zu finden. Annäherungen – wie durch das erläuterte methodische Vorgehen – sind aber möglich und sozialwissenschaftlich lohnend. Der Forschungsverlauf kann vereinfacht als zirkuläre Bewegung durch diese vier verschiedenen Felder beschrieben werden: 1) deskriptive, „dünne Beschreibung“ auf der Grundlage einer „fokussierten Ethnographie“, 2) „dichte Beschreibung“ mit Hilfe der Software ATLAS.ti und unter Verwendung der Videointeraktionsanalyse, 3) interpretative Verdichtung zu einem ethnographischen Text als Erkenntnisdiskurs zwischen Empirie und Theorie, 4) abschließende Formulierung von Hypothesen. In den ethnographischen Schreibprozess werden eine Methode qualitativer Videoanalyse und die Verwendung einer Software eingebettet. Das Verfahren wird fortgesetzt bis eine theoretische Sättigung erreicht ist.

8

Ethnographische Collage I – Ablauflogik

8.1

Einleitung

Das Datenmaterial soll zuerst in deskriptiver Weise „für sich sprechen“. Daher enthalten die folgenden Kapitel in größerem Umfang transkribierte Ausschnitte und Standbilder, die auf der Grundlage ethnomethodologischer Konzepte und der IR-Theorie analysiert werden. Aus der Deskription wird eine „dichte“ ethnographische Beschreibung. Die Untersuchung des Materials folgt dabei seiner eigenen Ablauflogik. Diese wird im direkten Anschluss zuerst genauer betrachtet. Die innerhalb der darauf folgenden Abschnitte gruppierten Phänomene entstammen dieser Struktur. Sie sind in mehreren Bastelsituationen in vergleichbarer Form enthalten. Für die genaue Analyse wurden Sequenzen ausgewählt, die den bereits erwähnten „Fokussierungsmetaphern“ entsprechen (vgl. Bohnsack, 2011, S. 175; Kapitel 7.3). Als Teil des Versuchs einer methodischen Entfremdung vom Material richtet sich der analytische Blick zuerst nicht auf geschlechtliche Konnotationen, sondern auf die Dynamik der Interaktionsrituale (vgl. Collins, 2004, S. 47ff.). Die bereits hier herangezogenen theoretischen Erweiterungen sind weitgehend „geschlechtsblind“, insofern sie sich vor allem auf die Struktur und die Dynamik der Interaktionen beziehen oder auf allgemeine soziologische oder psychologische Konzepte zurückgehen. Das Wort „Männlichkeit“ ist daher in den nächsten Abschnitten kaum enthalten. Vorläufig geht es darum, die erste der drei allgemeinen Forschungsfragen mit besonderer „Tiefenschärfe“ zu beantworten (vgl. Kapitel 1.2): 

Was passiert zwischen den Jungen und den männlichen bzw. weiblichen Fachkräften?

Erst auf der Grundlage dieser intensiven Auseinandersetzung mit dem Material wird im Anschluss in einer zweiten „ethnographischen Collage“ versucht, die beschriebenen Phänomene in Bezug auf ihre Bedeutung für die Geschlechtsidentität der beteiligten Kinder und Erwachsenen zu bewerten (vgl. Friebertshäuser et al., 2010, S. 388ff.). Durch den Verweis auf die Geschlechterkategorie der Handelnden und durch die symbolische Wirkung der Interaktionsinhalte sind geschlechtliche Konnotationen aber © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Andrä, Die Konstruktion von Männlichkeit in kindheitspädagogischen Interaktionen, Kultur und gesellschaftliche Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24904-5_8

238

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

unvermeidlich. Wenn möglich werden Fallkontrastierungen genutzt, insbesondere Situationen mit Erzieherinnen und mit Mädchen, um diesem Effekt entgegenzuwirken. Die Sequenzen sind jeweils am Anfang der Transkripte durch eine Zahlenkombination gekennzeichnet. Diese entspricht der Benennung der Situationen im Datenkorpus der Tandem-Studie. Sie wurde beibehalten, damit zwischen den verschiedenen Untersuchungen Zusammenhänge hergestellt werden können. Die Zeitangabe nach der Zahlenkombination entspricht der Position der Sequenz im Verlauf der Bastelsituation. So können Ausschnitte aus der gleichen Aufnahme in eine chronologische Reihenfolge gebracht werden. Interaktionszüge der Kinder sind mit J (Junge) oder M (Mädchen), die der Erzieherinnen und Erzieher mit E und die der Forschenden mit F gekennzeichnet. Falls in den Aussagen Namen von Personen enthalten sind, wurden diese abgekürzt. Die Transkription entspricht im Wesentlichen den GAT2-Konventionen (Selting et al., 2009).178 Die Zählung der Segmente wird bei jeder zitierten Sequenz neu begonnen. Durch die Vielfalt der Interaktionsaspekte mussten bei der vertieften Betrachtung des Materials häufig neue Interaktionszüge in das Transkript eingearbeitet werden, was bei einer fortlaufenden Nummerierung für das gesamte Video zu Verschiebungen in anderen Zitaten geführt hätte. Nonverbale und materiale Anteile der Interaktionen sind in die Transkripte einbezogen. Die synchrone Vielfalt sozialer Situationen kann aber nicht vollständig wiedergegeben werden. Durch einen digitalen Filter verfremdete Standbilder ergänzen die Zitate.179 Ausschnitte aus den Sprechbeiträgen im Fließtext sind durch Anführungsstriche gekennzeichnet, kursiv gesetzt und zur besseren Lesbarkeit orthographisch angepasst. Die Nummer des entsprechenden Segmentes wird anschließend zur Orientierung in Klammern angegeben. Falls das zitierte Segment nicht aus dem gerade besprochenen Transkript stammt, ist zusätzlich ein Verweis auf das empirische Beispiel eingefügt. Anders als die sonstigen Zahlenangaben im Fließtext werden die Nummerierungen der Segmente immer mit Ziffern bezeichnet und nicht ausgeschrieben. Einzelne Sprechbeiträge wurden direkt aus den Grobtranskripten der ersten Auswertungsphase in den Nähere Erläuterungen diesbezüglich befinden sich im Anhang (vgl. Kapitel 13.2). Falls zur gleichen Sequenz in einem anderen Kapitel ein weiteres Standbild enthalten ist, wird das im Fließtext durch einen Verweis auf die Nummer der Abbildung deutlich gemacht. 178 179

8.2 Die Situation der Datenerhebung

239

Fließtext der „ethnographischen Collage“ übernommen, da es einen unangemessen hohen Zeitaufwand erfordert hätte, die Bastelsituationen vollständig in Feintranskripte zu übertragen. In diesen Fällen ist kein Verweis auf ein bestimmtes Segment angefügt. Bezugnahmen auf die zurückliegende Situation der Datenerhebung stehen in der Vergangenheitsform. Verweise auf die sequenzielle Qualität des Materials und Besprechungen von konkreten Zitaten sind im Präsens formuliert, um die exemplarische Betrachtung der Dokumente hervorzuheben. 8.2

Die Situation der Datenerhebung

Die Tandem-Studie (Brandes et al., 2016), aus deren Datenkorpus die im Folgenden analysierten Videosequenzen stammen, zielte auf die Gegenüberstellung des pädagogischen Handelns von männlichen und weiblichen Fachkräften in Kindertagesstätten. Die Teilnehmenden waren vorher angefragt worden, ob sie an einer Untersuchung zu geschlechtstypischen „feinen Unterschieden“ im pädagogischen Verhalten mitwirken würden. Zur Vergleichbarkeit wurde eine quasiexperimentelle Situation geschaffen. Alle Aufnahmen gingen vom gleichen Ausgangspunkt aus: Ein Erzieher oder eine Erzieherin und ein Kind aus ihrer Gruppe saßen an einem Tisch in einem abgeschlossenen Raum ihrer Einrichtung. Vor ihnen standen zwei Koffer mit jeweils einer Auswahl von Bastelbedarf und von Werkzeugen sowie eine Uhr. Der Inhalt der Koffer entsprach im Wesentlichen im Kita-Alltag verfügbaren Materialien. Es handelte sich um Gegenstände wie Buntpapier, Biegeplüsch, Filzstifte oder eine Heißklebepistole (vgl. Abbildung 3). Die Forschenden teilten der Fachkraft und dem Kind mit, dass sie nun zwanzig Minuten Zeit hätten, eine selbst entwickelte Idee mit diesen Materialien zu verwirklichen. Sie verwiesen auf die Uhr. Nach Ablauf der Zeit würden sie zurückkehren. Daraufhin verließen sie den Raum. Eine Videokamera auf einem Stativ hielt das Geschehen fest.

240

Abbildung 3:

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

Inhalt des Material- und des Werkzeugkoffers

Die Bastelsituation umfasste typische Phasen, die in gleicher Reihenfolge in fast allen Aufnahmen auftraten. Sie begann nach der Anregung durch die Forschenden mit dem gemeinsamen Öffnen und Auspacken der Koffer. Die Fachkraft und das Kind setzten sich mit den zur Verfügung gestellten Materialien und Werkzeugen auseinander und tauschten erste Ideen aus. Manchmal nutzte die Erzieherin oder der Erzieher diese Situation als didaktische Anregung, um mit dem Kind die Bezeichnungen und den Zweck bestimmter Objekte einzuüben. Es kam zu Erklärungen der Funktionalität, aber auch zu Äußerungen in Bezug auf die Attraktivität eines Materials oder die möglichen Gefahren bei der Anwendung bestimmter Gegenstände. Die folgende Sequenz aus einer Aufnahme mit einer Erzieherin und einem Jungen bildet exemplarisch diese Phase ab:

8.2 Die Situation der Datenerhebung

241

Beispiel 1: 01 02

E:

03

J:

04 05 06 07

E: J:

08

E:

09 10 11

J: E:

12

J:

13 14 15

E: J: E:

((Ausschnitt aus Situation 4_1_2, 01:08:37901:21:388)) E und J sitzen vor den geöffneten Koffern [blickt auf das Material] ((greift kurz nach der Märchenwolle)) ((wendet Blick ab)) [ ] [((greift nach Kabel der Heißklebepistole))] [ ] [ ] märchenwolle ((legt das Material auf den Tisch)) ( ) heißklebe

Die Erzieherin macht den Jungen auf die im Kitabereich als „Märchenwolle“ bezeichneten, gefärbten Wollfasern aufmerksam (vgl. Segment 02). Der Junge nimmt nur kurz Notiz davon (vgl. Segmente 03-04). Während sie noch auf die angenehme Haptik des Materials verweist, wendet er seine Aufmerksamkeit bereits der Heißklebepistole zu (vgl. Segmente 0506). In Umkehrung der vorherigen Interaktionszüge macht er die Erzieherin auf dieses Objekt aufmerksam, worauf sie darauf blickt (vgl. Segmente 1011). Auf welchen besonderen Aspekt dieses Gegenstandes sie durch das Flüstern in ihrer anschließenden Intonationsphrase verweist, bleibt unklar. Vermutlich geht es um die Gefahr einer Verbrennung. Darauf deutet das Wort „heiß“. Der Junge betont es anschließend in der verkürzenden Wortverbindung „Heißklebe“, die sie wiederholt (vgl. Segmente 11-13). Der nächste Gegenstand, der in den Fokus der gemeinsamen Aufmerksamkeit gerät, ist die Zange (vgl. Segmente 12-15). In dieser Sequenz zeigt sich, dass die Bewertung der einzelnen Gegenstände durch die Beteiligten unterschiedlich ausfallen kann. Was bei einer Person Interesse erzeugt, wird von der anderen achtlos beiseitegelegt. Dabei ist nicht immer zu klären, ob diese Bewertungen auf das Objekt zurückzuführen sind, oder sich aus der Konstellation der Datenerhebung

242

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

ergeben. Es liegt z.B. nahe, dass die mit dem Öffnen des jeweiligen Koffers verbundene Spannung und Überraschung zumindest bei den Kindern den Gegenständen in ihrem Koffer eine zusätzliche Faszination verleihen. Vielleicht hätte dieser Junge der „Märchenwolle“ genauso viel Aufmerksamkeit geschenkt, wenn statt des Werkzeugkoffers der Materialkoffer vor ihm gestanden hätte. Nach der Auseinandersetzung mit den Materialien und Werkzeugen folgte meist die Entwicklung einer Idee. Die Ideenfindung konnte Inhalt ausgedehnter Interaktionszüge sein. Manchmal wurde sie zu einem die Bastelsituation fortlaufend begleitenden Diskurs. In anderen Fällen, wie im anschließenden Beispiel, kam es zu einer sehr zügigen Einigung auf ein gemeinsames Projekt: Beispiel 2: 01 02 03 04 05 06

E:

J: E:

((Ausschnitt aus Situation 12_1_1, 03:27:89503:43:661))

Dieser Junge findet spontan ein Ziel für das gemeinsame Basteln, zu dem er von einem Erzieher eingeladen wird. Ein „Raumschiff“ soll entstehen (vgl. Segmente 02-04). Nach der Ideenfindung wurde das Vorhaben begonnen. Die Kinder und Erwachsenen mussten dafür – entweder im Voraus oder parallel in immer wieder neuen Aushandlungen – einen Prozess planen und dessen Umsetzung organisieren. Das betraf die Auswahl von Materialien und Werkzeugen und die damit verbundenen Arbeitsgänge. Zusätzlich mussten sich beide auf Formen der Zusammenarbeit einigen. Die Aufgabenverteilung fiel dabei sehr unterschiedlich aus. Es wurde phasenweise parallel oder gemeinsam gearbeitet. Möglich war auch, dass nur einer bzw. eine von beiden agierte, während der oder die andere zusah und das Geschehen kommentierte. Dabei konnten beide Rollen von Erwachsenen oder Kindern übernommen werden. So gab es Erzieherinnen und Erzieher, die den Kindern das Handlungsfeld fast völlig überließen,

8.2 Die Situation der Datenerhebung

243

während andere das Bastelobjekt von Beginn an nur in ihren Händen hielten. Ein weiterer Aspekt der Zusammenarbeit war die Verteilung der Dominanz über ihren Verlauf. Erwachsenen fällt in Interaktionen mit Kindern im Kita-Alter oft eine sozusagen „natürliche“ Autorität zu. Für ihr Handeln ergaben sich aber in den Situationen der Datenerhebung große Spielräume: Die Kinder wurden in Überlegungen einbezogen und ihre z.T. unrealistischen Vorschläge wertschätzend aufgegriffen. In anderen Situationen wurden ihre Ideen ignoriert oder abgewertet. In Einzelfällen führte die Fachkraft sogar die Hand des Kindes beim Malen mit dem Filzstift. Die Erwachsenen schienen besonders dann dominant und kontrollierend zu handeln, wenn die Situation der Datenerhebung als eine „Prüfung“ verstanden wurde, an deren Ende ein besonders gutes Ergebnis stehen sollte.180 Das geplante Bastelobjekt und der damit verbundene Handlungsprozess waren neben ihren funktionalen Aspekten mit einer kontextuellen Ebene verknüpft, die zu persönlichen Assoziationen und Narrationen181 einlud. So verband der Junge sein „Raumschiff“ (Beispiel 2, Segment 04) im zitierten Ausschnitt vielleicht mit einem bestimmten Film, über dessen Handlung er sich mit dem Erzieher austauschen konnte. Ähnliches war in Bezug auf den Handlungsprozess selbst möglich. Jeder Arbeitsgang enthielt Anregungen zum Austausch über persönliche Erfahrungen, die mehr oder weniger in direktem Zusammenhang zur Handlung standen. So wurde z.B. bei der Anwendung der Heißklebepistole von möglichen oder bereits selbst erlebten leichten Verbrennungen berichtet. Zusätzlich teilten die Handelnden einen Kontext, der sich aus ihrer Beziehung in der pädagogischen Einrichtung ergab. Auch dieser Hintergrund konnte zum Anlass von einem persönlichen Austausch werden. Zudem war es möglich, dass eine von beiden Personen narrative Aspekte in Die Bewertung pädagogischer Qualität war nicht Inhalt der Tandem-Studie. Trotzdem wurde die Situation der Datenerhebung in manchen Fällen von den Fachkräften als eine „Prüfung“ interpretiert. 181 Der Begriff „Narration“ wird im Folgenden in seiner allgemeinen Wortbedeutung zur Bezeichnung von „erzählenden“ Interaktionszügen verwendet, die sich auf eine erlebte oder imaginierte Handlung außerhalb der Interaktion beziehen. Damit ist nicht der sozialwissenschaftliche Anspruch eines sogenannten „narrativen Interviews“ verbunden (vgl. Hillmann, 2007, S. 604f.). 180

244

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

die Interaktion einbrachte, die bisher nur ihr allein bekannt waren. Die folgende Sequenz zwischen einer Erzieherin und einem Jungen hat z.B. nur wenig mit dem Inhalt der Bastelsituation zu tun, sondern bezieht sich vor allem auf den weiteren Erfahrungskontext des Jungen in der Kita: Beispiel 3: 01

J:

02 03 04 05

E: J:

06 07 08

J: E: J:

E:

((Ausschnitt aus Situation 16_1_2, 09:07:92909:19:387)) ((bemalt eine Wattekugel mit Filzstift)) ich war einmal mit (.) i. (.) einkaufen

Der Einkauf mit einer anderen Fachkraft und zwei weiteren Kindern, von dem dieser Junge berichtet, steht in keinem direkten Zusammenhang zur Situation der Datenerhebung. Die Reaktion der Erzieherin verweist darauf, dass dem Erlebnis des Jungen eine besondere, quasi „außeralltägliche“ Qualität innewohnt: „Ach wie schön, ach wie schön.“ (Segment 07). Sein anschließender Interaktionszug bestätigt einen solchen Bedeutungshintergrund: „Nur wir drei“ (Segment 08). Möglicherweise ist die angenehme Erfahrung exklusiver Aufmerksamkeit in einer Kleingruppe das Besondere, auf das sich die Erzieherin und der Junge beziehen. Damit entsteht eine direkte Assoziationskette zur Situation der Datenerhebung, in der der Junge und die Erzieherin eine ähnliche Qualität genießen können. Vor diesem Bedeutungshorizont kann auch ein Phänomen verstanden werden, das das folgende Transkript aus derselben Situation abbildet. In dieser und in anderen Aufnahmen wiederholte sich eine Auseinandersetzung mit der durch die Uhr verdeutlichten, ablaufenden Zeit. Die Kinder schienen die besondere Aufmerksamkeit der Fachkraft zu genießen. Der drohende Verlust dieser Qualität am Ende der Situation regte zum wiederholten Blick auf die Uhr und zu besorgten Kommentaren und Blicken an: Beispiel 4: 01 02

J:

((Ausschnitt aus Situation 16_1_2, 20:34:03220:46:185)) ((greift nach der Uhr und blickt auf das Ziffernblatt)) s_klingelt

8.2 Die Situation der Datenerhebung 03 04

E: J:

05

E:

06 07 08

J: E:

245

[((lässt Uhr los, wendet sich zu E und blickt auf das Bastelobjekt)) ] [wird der m. gleich reinkomm und wir sagen wir sinn in einer minute fertig ] ((wendet Blick zur Uhr)) oijoi wie guck [((beugt sich nach vorn, führt Hand zum Mund)) ] [((lacht, weiter malend über das Objekt gebeugt))]

Der Junge verweist auf das an der Uhr erkennbare, näher rückende Ende der Bastelsituation (vgl. Segmente 01-02). Ob es ihm dabei um die besondere Qualität der Zusammenarbeit zu zweit geht, bleibt unklar. Die Erzieherin stellt in ihren anschließenden Interaktionszügen die Vollendung des Objektes in den Vordergrund. Außerdem deutet sie darauf hin, dass die Zeit verlängert werden kann (vgl. Segmente 03, 05). Der anschließende Blick des Jungen zur Uhr in Verbindung mit der Bewegung seiner Hand zum Mund verweist aber auf Angst oder Sorge (vgl. Argyle, 2013, S. 248f., bzgn. auf Wolff, 1945). Worauf sich diese genau bezieht, ist aber nicht eindeutig ersichtlich. Nach Abschluss des gemeinsamen Bastelprojektes regten manche der Fachkräfte die Kinder zum Aufräumen an oder begannen selbst damit. Die Materialien und Werkzeuge wurden in die Koffer zurückgelegt. Schließlich kehrten die Forscherin oder der Forscher nach Ablauf der vereinbarten Zeit in den Raum zurück. Die Erwachsenen und die Kinder präsentierten ihnen das Ergebnis ihrer Tätigkeit. Dabei zeigte sich in vielen Fällen eine starke Identifikation der Jungen und Mädchen mit dem Objekt, das sie hergestellt hatten. Gleichzeitig konnte es aber auch für die Fachkräfte von großer Bedeutung sein. In der zitierten Sequenz fühlen sich sowohl der Erzieher als auch der Junge offensichtlich gleichermaßen mit dem Bastelobjekt verbunden:

246

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

Abbildung 4:

Präsentation des Ergebnisses der Bastelsituation (Standbild aus Situation 1_2_1)

Beispiel 5: 01 02 03

E: J: E:

04 05 06

F: E: F:

07

E:

08 09 10

F: E: J:

11

F:

((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 27:59:16228:18:218)) so wir sind fertig okee? (1.0) (1.0)((legt den Stift weg)) so (1.0) wir wollen jetzt mal nicht zu sehr überziehen ((verschließt den Stift)) ja:: ((legt den Stift geräuschvoll weg)) [super was habt ihr ][denn ] [((lehnt sich zurück, Blick auf Objekt))][((klatscht in die Hände))] gebaut? erklär mal was wir gebaut haben (blickt zur Forscherin) ne ritterburg ((blickt lächelnd auf das Produkt)) hee: die is ja spitze

8.2 Die Situation der Datenerhebung

247

Mehrere Interaktionszüge des Erziehers können als den Handlungsprozess abschließende Diskursmarker verstanden werden (vgl. Segmente 01, 03, 05, 07). Möglicherweise ist er über das Gelingen des Projektes sehr froh, denn vor allem seine nonverbalen Interaktionsanteile verweisen auf Zufriedenheit und Erleichterung und auf den Wegfall einer vorherigen Anspannung (vgl. Segment 07). Der Junge neben ihm wirkt begeistert und stolz (vgl. Segment 10). Die Situation der Datenerhebung kann als Interaktionsritual im Sinne der IR-Theorie beschrieben werden. Alle Ausgangsbedingungen waren vorhanden: Zwei Handelnde begegneten sich in einem abgegrenzten Raum und richteten ihre Aufmerksamkeit auf einen gemeinsamen Zielpunkt. Durch ihre Interaktionszüge machten sie sich im Verlauf der Handlung gegenseitig auf ihren geteilten Fokus und ihre gemeinsame Stimmung aufmerksam. Das Ergebnis der Bastelsituation kann als das zentrale Symbol dieses Interaktionsrituals interpretiert werden. In Abhängigkeit der interaktiven Intensität wurde es mit mehr oder weniger emotionaler Energie aufgeladen (vgl. Collins, 2004, S. 48; Kapitel 6.5.2). Die einzelnen Sequenzen bildeten zudem eigene Interaktionsrituale um andere zentrale Symbole. So fokussierten sich die Handelnden bei der Auseinandersetzung mit den Koffern auf einzelne Materialien oder entwickelten besondere Formen der Zusammenarbeit mit einem bestimmten Werkzeug (vgl. Kapitel 8.4). Die hergestellten Objekte waren vielfältig. Dennoch ließen sich bei aller Unterschiedlichkeit zugrunde liegende Muster erkennen. Im Rahmen der Tandem-Studie wurden in Bezug auf die in den Bastelsituationen entstandenen Produkte Subjekte von Objekten unterschieden. Subjekte kennzeichnen Augen. Sie stellen lebendige Wesen, wie Menschen oder Tiere, dar. Objekte, wie z.B. Autos oder Häuser, haben keine Augen. Die statistische Analyse dieser Differenzierung führte zu dem signifikanten Ergebnis, dass männliche Fachkräfte und Jungen in Bastelsituationen bevorzugt Objekte herstellten, während ihre Kolleginnen und Mädchen Subjekte favorisierten (vgl. Brandes et al., 2016, S. 88ff.).182 Die in Bezug auf die Ablauflogik der Bastelsituation skizzierten Phänomene werden in den anschließenden Abschnitten exemplarisch Bilder der Bastelobjekte, die in den hier bearbeiteten Situationen entstanden, befinden sich im Anhang (vgl. Kapitel 13.3). 182

248

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

vertieft und im kontrastierenden Vergleich betrachtet. Die meisten dieser Sequenzen sind als interaktiv besonders dichte Varianten sich wiederholender Muster bei der Betrachtung der Videos aus dem Datenmaterial induktiv hervorgetreten. Die Untersuchung der Ausschnitte bezieht die sequenzielle Analyse der Interaktionszüge und eine genaue Betrachtung der Funktionalität der Interaktionsrituale ein. Deren Intensität ist von besonderer Bedeutung für den Niederschlag emotionaler Energie bei den Beteiligten. Entscheidende Aspekte dabei sind der geteilte sprachliche und körperliche Rhythmus, die körperliche Nähe und das Repertoire gemeinsamer Symbole (vgl. Collins, 2004, S. 74f., 133ff.). Auf welche Weise und in welchem Umfang die Kinder und die Erzieherinnen oder Erzieher dabei ein gemeinsames emotionales Mitgerissen-Sein im Sinne des von Collins (vgl. ebd., S. 48) beschriebenen „entrainment“ erreichen, wird in den nächsten Abschnitten Gegenstand ausführlicher Betrachtungen sein. 8.3

Ideenfindungen: Indexikalität und Kontextwissen

Zu Beginn der Bastelsituation mussten sich die Fachkräfte und die Kinder auf ein gemeinsames Vorhaben einigen. Diese Entscheidung war von großer Tragweite. Sie betraf zum einen die Festlegung eines angestrebten Produktes und die Auswahl der dafür notwendigen Materialien und Werkzeuge sowie die sachliche Planung eines Arbeitsprozesses. Zum anderen wurde damit auf umfassendere und das Funktionale übersteigende Wissenskontexte zum Bastelobjekt und zum Handlungsverlauf verwiesen, die den weiteren Interaktionen einen Hintergrund gaben und von den Handelnden aufgegriffen werden konnten. Die Ideenfindung war also in ethnomethodologischem Sinn eine indexikalische Handlung – also eine Klärung, worum es hier neben dem gemeinsamen Basteln eigentlich noch ging.183 Sie führte die Beteiligten in einen kontextuellen Rahmen, über den sie sich im weiteren Verlauf abstimmen mussten (vgl. Abels, 2010, S. 131ff.). Diese folgenreiche Phase „Mit solchen indexikalischen Äußerungen, zu denen zuallererst natürlich verbale Äußerungen, aber auch Tonfall, Mimik und Gestik gehören, zeigen sich die Handelnden – bewusst oder unbewusst – an, was sie ‚außerdem noch meinen‘ bzw. worum es in einer konkreten Interaktion ‚auch noch‘ geht“ (Abels, 2010, S. 132, Hvhg. i. O.). 183

8.3 Ideenfindungen: Indexikalität und Kontextwissen

249

wird im Anschluss an mehreren exemplarischen Sequenzen genauer untersucht: Wie einigten sich die Handelnden auf ihr Projekt? Wer bestimmte am Anfang die Richtung? Welche Ideen entstanden? Auf welche Kontexte zum Objekt und zu der zu seiner Herstellung notwendigen Tätigkeit verwiesen die Beteiligten daran anschließend in ihren Interaktionen? Wie wurde dieser theoretische Rahmen von ihnen verhandelt? Teilten sie das dazugehörige Wissen? In einzelnen Ausschnitten wird darüber hinaus auf die weitere interaktive Gestaltung dieses kontextuellen Rahmens eingegangen. Auf der Suche nach einer Inspiration für die Bastelsituation fragt im ersten Beispiel ein Erzieher einen Jungen nach seinem Faschingskostüm (vgl. Segment 02). Das ist ein vielversprechender Ausgangspunkt, da sich Kinder meist für eine Verkleidung aus einem für sie aktuell interessanten Themenbereich entscheiden. Außerdem wurde zum Zeitpunkt der Datenerhebung im Januar wahrscheinlich schon in der Familie oder in der Einrichtung über das Kostüm gesprochen: Beispiel 6: 01 02

E:

03 04 05 06

J: E: J: E:

07 08 09

E: J:

10

E:

11 12 13 14

J:

15

E:

16 17

J: E:

((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 02:32:08703:30:346)) ((E und J sitzen nebeneinander am Tisch, J hantiert mit einer Drahtrolle)) ((blickt zu J 1.0)) bi:n (1.0) so (1.0) ((wendet Blick ab, sieht auf Gegenstände auf dem Tisch 1.0)) ((wendet Blick wieder zu J, trommelt mit Fingern)) [((reckt Kopf leicht nach vorn, trommelt mit Fingern))] [ich ] ich weiß gar ni mehr was ich was ich dieses jahr noch werden will (1.0) machste cowboy indianer machste ritter machste ((reckt Kopf leicht vor)) ((wendet Blick ab, bewegt weiter die Drahtrolle in der Hand vor sich)) ((wendet Kopf.)) ja ja?

250

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

18 19 20

J: E: J:

21 22 23 24

E:

25 26 27

E:

J:

ja (.) [woll_mer] [wenns ] uns nich ((nickt und atmet kurz ein)) zum beispiel [((E und J richten Oberkörper synchron leicht auf.))] [pass auf (.) wir versuchens ] ((legt zwei Sperrholzplatten vor sich auf den Tisch)) ((greift nach Pappe vor sich)) ich würde eher mit dem (.) von der ritterburg

Auf die Frage des Erziehers nach seinem Faschingskostüm beginnt der Junge eine spontane Antwort, bricht den Satz aber zweimal wieder ab. Er hantiert dabei mit einer Drahtrolle, auf die sein Blick gerichtet ist. In den langen Pausen zwischen seinen Intonationsphrasen wendet der Erzieher ihm wiederholt seinen Blick zu. Er reckt dabei seinen Kopf kurz nach vorn und trommelt mit den Fingern. Diese nonverbalen Interaktionszüge können als Zeichen von Ungeduld und besonderem Interesse an der Reaktion des Jungen gewertet werden. Der Erzieher erhält aber keine Erwiderung seines Blickes. Der Junge stellt schließlich fest, dass er gar nicht mehr weiß, was er zu Fasching „werden will“ (vgl. Segmente 03-09). Der Erzieher konkretisiert daraufhin seine Nachfrage mit dem Verweis auf drei sehr gebräuchliche Kostüme, als wolle er den Jungen inspirieren. Die Intonationsphrase wird mit einer Geste und einem Blick abgeschlossen, den der Junge aber ebenfalls nicht erwidert (vgl. Segmente 10-11). Erst als er den Vorschlag „Ritter“ wiederholt, wendet er sich dem Erzieher zu und es kommt zu einem kurzen Blickkontakt (vgl. Segment 13). Der Erzieher schlägt daraufhin vor „‘ne Ritterburg zu bauen“. Nach einer kurzen Abstimmung beginnen sie, die Realisierung der Burg zu planen, wobei das Tempo der Interaktionszüge merklich beschleunigt ist. Nachdem beide vorher mit aufgestützten Armen über den Tisch gebeugt saßen und mehr oder weniger vor sich hin bzw. sogar voneinander weg redeten, sind ihre Oberkörper nun aufgerichtet und leicht einander zugewandt. Schon nach kurzer Zeit sucht der Junge wieder den Blickkontakt mit dem Erzieher (vgl. Segmente 20-27).

8.3 Ideenfindungen: Indexikalität und Kontextwissen

251

Die Interaktion zwischen beiden hat mit der „Ritterburg“184 ein zentrales Symbol gefunden, das bei ihnen Euphorie auslöst und zum Objekt ihrer geteilten Aufmerksamkeit wird. Sie einigen sich auf den Vorschlag des Erwachsenen (vgl. Segmente 16-18). Der Erzieher hat mit seinen Nachfragen in Bezug auf das Faschingskostüm indexikalisch in übertragenem Sinn zu einem „Ausflug auf die Ritterburg“ eingeladen. Der Junge wird dabei aber nicht nur „an die Hand genommen“. Durch seine Kommentare und Narrationen zu Gestaltungsmerkmalen der „Ritterburg“ zeigt er im Verlauf der Situation, dass er genau weiß, wo er sich befindet bzw. „wohin die Reise geht“. Dieser von beiden geteilte Sinnhintergrund wird in weiteren Sequenzen aus dieser Bastelsituation auffällig (vgl. Beispiel 17, Segmente 01-06). Ein tatsächlicher Besuch des Erziehers mit dem Jungen auf einer Burg – vielleicht bei einem Ausflug der Gruppe – kann natürlich nicht ausgeschlossen werden. Da beide das Thema aber breit explizieren, liegt es nahe, dass sie diese Erfahrung erwähnen würden. Das ist jedoch nicht der Fall. In einer weiteren Aufnahme beschäftigen sich ein Erzieher und ein Junge ungefähr zehn Minuten lang mit den zur Verfügung gestellten Materialien. Dabei regt der Erwachsene wiederholt an, sich davon ausgehend zu einem Vorhaben zu entschließen. Der Junge bringt immer neue Vorschläge ein, z.B. ein „Haus“, eine „Schleuder“ oder ein „Tier mit gefärbten Haaren“. Dabei verweist er wiederholt auf „Arbeitssachen“ und „bauen“. Während sie auf die Erwärmung der Heißklebepistole warten, möchte er schließlich mit dem Hammer arbeiten. Beide tauschen sich daraufhin über eine Möglichkeit zum Verbinden von zwei Holzbrettchen aus: Beispiel 7: 01 02 03 04 05

J: E:

((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 10:52:59811:22:552)) ] [weißt du aber was] gehen KÖNNTE (.) ((greift nach den Brettchen in den Händen von J)) wir machen da einen trick (.) ((nimmt eines der Brettchen))

Die Bezeichnungen der Bastelobjekte werden durch Anführungszeichen hervorgehoben, um darauf zu verweisen, dass sie nicht nur das Objekt an sich benennen, sondern einen kontextuellen Hintergrund der Interaktion mit z.T. großer Symbolkraft repräsentieren. 184

252

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

06 07 08 09 10 11 12 13

J: E: J: E:

das machen die zimmermänner (.) die machen HIER einen BALKEN hin [((E hält zwei Korken an ein Brettchen))(1.0)] [((Blick folgt den Bewegungen von E)) ] (.) verstehste wie ein balken ja [aber ] [] das dach an die andere seite = =wolln_wer das probiern?>

Auch hier unternimmt der Erzieher wie im vorherigen Beispiel eine indexikalische Handlung. Statt auf Cowboys, „Indianer“185 oder Ritter verweist er auf „Zimmermänner“ und „Balken“ und spricht schließlich von einem „Dach“ (vgl. Segmente 06, 09, 12). Er bezieht die Bastelsituation damit auf einen klassischen handwerklichen Ausbildungsberuf. Mit der Herstellung des „Daches“, das eigentlich nur eine Zwischenlösung ist und im Gegensatz zur „Ritterburg“ auch nicht explizit „beschlossen“ wird, beschäftigen sich beide anschließend in intensiven Arbeitsgängen über fast die gesamte verbleibende Zeit. Dabei entsteht auffälliger Weise genau die Konstruktion, die der Junge mit seinen Gesten am Anfang der Bastelsituation vorweggenommen hat, ohne dass dies aber explizit geplant worden wäre (vgl. Abbildung 5).

Der Begriff „Indianer“ ist mit einer rassistischen Konnotation verknüpft (vgl. Arndt, 2012, S. 92f.). Der „Indianer“ verkörpert aber auch eine für viele Kinder bedeutende identifikatorische Symbolfigur (vgl. Kapitel 9.2). Ob beide Aspekte getrennt voneinander betrachtet werden können, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geklärt werden. Um die Problematik aber nicht zu verleugnen, wird der Begriff im Fließtext – außer bei direkten Übernahmen aus dem empirischen Material – immer in Anführungszeichen gesetzt. Weitere Begriffe aus diesem Kontext, wie z.B. „Wigwam“, werden ebenfalls kenntlich gemacht und in Fußnoten historisch eingeordnet. 185

8.3 Ideenfindungen: Indexikalität und Kontextwissen

Abbildung 5:

253

„Da kann man ein Haus bauen.“ (Standbild aus Situation 13_1_1)

Erst am Ende des Schaffensprozesses wird das Produkt von dem Jungen als „Vogelhaus“ identifiziert, ohne dass es – wie in der Sequenz um die „Ritterburg“ – vorher eine konkrete Abstimmung über ein solches gegeben hat. Insofern könnte als Projekt dieser Situation auch nicht das hergestellte Objekt, sondern eher die gemeinsame handwerkliche Tätigkeit mit Hammer und Nägeln identifiziert werden. In übertragenem Sinn lädt dieser Erzieher – statt zu einem „Ausflug auf die Ritterburg“ – dazu ein, gemeinsam mit ihm „auf das Dach zu steigen“. Oder anders formuliert: Beide „basteln“ hier das Handwerker-Sein. Darüber hat jedoch keine eindeutige Abstimmung zwischen ihnen stattgefunden. Sie verständigen sich auf diesen Inhalt aber im weiteren Verlauf der Handlung mit Verweisen auf einen – allerdings unbestimmten – Kontext:

254

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

Beispiel 8: 01 02 03 04 05 06

E: J: E: J: E:

((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 11:38:93011:48:894)) ((hält einen Korken an ein Brettchen)) so:: ((nimmt Nägel aus einer Dose)) nä::gel nägel (- -) hast du schon ma gehämmert? (-) ((nimmt den Hammer)) na klar ich weiß [wies] geht

Der Erzieher fragt nach einer bestimmten Kompetenz (vgl. Segment 04). Aus der Antwort des Jungen lässt sich entnehmen, dass dieser die Fähigkeit nicht nur für sich in Anspruch nimmt, sondern sie für selbstverständlich hält: „Na klar, ich weiß, wie‘s geht!“ (Segment 05). Damit verweist er implizit auf eine nicht konkretisierte Vorgeschichte, aus der seine handwerklichen Kompetenzen stammen, und zusätzlich auf eine Erwartungsstruktur zu diesen Fähigkeiten. Die Reaktion des Erziehers in seinem anschließenden Sprechbeitrag bestätigt diese Sichtweise: „Ja, das dacht‘ ich mir.“ (Segment 06). Zum Kontext des gemeinsamen Vorhabens gehören also nicht nur Vorerfahrungen in einer bestimmten Tätigkeit, sondern beide verständigen sich auch auf deren Selbstverständlichkeit. Allerdings ist die Botschaft der Intonationsphrase des Erziehers in Segment 06 durch seine tief verstellte Stimme gebrochen, womit er auf einen spielerischen Möglichkeitsraum des „So tun, als ob“ verweist. Diese Brechung ist möglicherweise auch der Grund dafür, dass die Handlung nicht ins Stocken gerät, als sich später herausstellt, dass der Junge über weniger Kompetenzen im Umgang mit dem Hammer verfügt und damit der von ihm selbst betonten Erwartungsstruktur gar nicht entspricht (vgl. Kapitel 9.6). In einer anderen Aufnahme mit einer Erzieherin und einem Mädchen entsteht eine ähnliche Idee wie in den Beispielen mit Jungen. Beide einigen sich darauf, ein Haus zu bauen. Ausgangspunkt ist hier das Interesse des Mädchens an der Arbeit mit der Heißklebepistole: Beispiel 9: 01 02 03 04 05 06 07

M: E: M: E: M: E:

((Ausschnitt aus Situation 8_1_2, 01:50:43902:11:107)) ((hält eine Papprolle auf ein Sperrholzbrettchen)) ((blickt auf das Material, kratzt sich am Kopf)) ((beginnt Heißkleber aufzutragen)) warte ma ((hebt Heißklebepistole)) äh ähm ((zieht Sperrholzbrettchen zu sich)) ((wendet Blick zum Material)) woll_mer vielleicht was größeres bauen? ((hebt Kopf und verzieht Mund)) hm [((nickt))] [damit ] ((greift ein Brettchen und hält es senkrecht auf ein anderes vor ihr)) warte ma vielleicht ((greift nach den Brettchen, zieht Hand zurück)) könn vielleicht n haus bauen n haus wär ne idee das stimmt ((hält Brettchen senkrecht an eine andere Kante des vor ihr liegenden)) könnte man machen hm ((verzieht Mund und nickt))

Auch diese Erzieherin beharrt darauf, dass ein konkretes Ziel formuliert wird. Dabei verhält sie sich aber weitaus passiver und verweist nur auf die vorhandenen Materialien und die mögliche Größe eines Bastelobjektes. Konkrete Verweise auf einen bestimmten Kontext wie in den vorherigen Beispielen unternimmt sie nicht (vgl. Segmente 07, 09). Ausgehend davon findet das Mädchen selbst assoziativ zur Idee (vgl. Segment 14). Im weiteren Verlauf tauscht es sich mit der Erzieherin über den Kontext dieses Objektes aus. Ähnlich wie in der Situation mit der „Ritterburg“ werden bestimmte funktionale Aspekte des Hausbaus besprochen: Beispiel 10: 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15

E: M: E: M: E: M: E: M: E: M: E: M: E:

((Ausschnitt aus Situation 8_1_2, 09:00:07609:28:111)) ja (-) ( ) bauernhof ( )= =naja da mach ma hier leim droff oder (.) wemmer das so machen da isses ne ( ) na wied_n nu (.)

256

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

Die Interaktionszüge der Erzieherin und des Mädchens beziehen sich auf die Gestaltung eines Daches für das Haus. Durch solche Diskurse, die in der vorher zitierten Situation um das „Vogelhaus“ nicht auftreten, gerät das Bastelobjekt wie die zuerst zitierte „Ritterburg“ ins Zentrum der Handlung. Über diese Aushandlungsprozesse hinaus, die eine ähnliche Funktion haben wie die Absprachen des Erziehers und des Jungen in Bezug auf die Merkmale der Burg, entwickelt das Mädchen einen zusätzlichen narrativen Hintergrund, der den Sinnkontext des Objektes erweitert: Beispiel 11: 01 02 03 04 05 06

E: M: E: M: E: M:

07

((Ausschnitt aus Situation 8_1_2, 09:53:40410:03:299)) = =((richtet sich wieder auf)) (.) oder wir machen das (.) haus von hänsel und gretel?

Das Haus wird von beiden in einem bekannten Märchen verortet, wobei noch unklar bleibt, ob es sich um das „Pfefferkuchenhaus“ der Hexe oder das „Elternhaus“ der Kinder handelt (vgl. Kocialek & Klemke, o. J., S. 53ff.; Beispiel 21). Außer diesen konkreten und narrativen Zusammenhängen, in die die Gestaltung des Bastelobjektes eingebettet wird, werden aber auch – wie im Beispiel um das „Vogelhaus“ – die für den Handlungsprozess notwendigen Kompetenzen und Vorerfahrungen als hintergründige Erwartungsstruktur verhandelt. Hier sind sie so selbstverständlich, dass sie im Gegensatz zu Beispiel 8 sogar stillschweigend angenommen werden: Beispiel 12: 01 02

E:

((Ausschnitt aus Situation 8_1_2, 15:13:57215:18:580)) so (.) (2.0)

In diesen Aussagen ist ebenfalls die implizite Annahme von selbstverständlichen Vorerfahrungen enthalten. Während der Junge und der Erzieher dieses Einverständnis in dem Dialog „Hast du schon ma‘ gehämmert?“ „Na klar, ich weiß, wie‘s geht!“ „Ja, das dacht‘ ich mir.“ (Beispiel 8, Segmente 0406) explizieren, heißt es hier nur noch: „Hier is‘ der Hammer. Kannst es noch

8.3 Ideenfindungen: Indexikalität und Kontextwissen

257

festhämmern.“ (Segmente 01-02). Die hintergründige Erwartungsstruktur wird damit noch stärker betont als durch die beiläufigen Andeutungen des Erziehers und des Jungen. Dieses Können ist so selbstverständlich, dass es nicht der Rede wert ist. Im weiteren Verlauf zeigt sich aber auch hier, dass es sehr wohl besprochen und expliziert werden muss, weil das Mädchen – wie der Junge in der oben zitierten Situation um das „Vogelhaus“ – die selbstverständliche Fähigkeit doch nicht beherrscht. Dieser Aspekt wird im Folgenden noch einmal in Bezug auf die Form der Zusammenarbeit aufgegriffen (vgl. Kapitel 8.4.3, 8.4.4, 9.6). In den bisherigen Ausschnitten waren die gemeinsamen Vorhaben unbelebte Objekte. Es wurden aber auch Dinge hergestellt, die lebende Wesen symbolisieren. So möchte der Junge aus dem folgenden Beispiel mit seinem Erzieher ein „Huhn“ bauen: Beispiel 13: 01 02

E: J:

03 04 05 06 07 08 09 10 11 12

E: J: E: J: E: J: E: J: E:

13 14 15 16 17 18 19 20

J: E: J: E:

((Ausschnitt aus Situation 3_1_1, 01:10:02201:38:567)) was könnt_mer denn da draus machen? hast du ne idee? [((nimmt Hammer aus dem Koffer))] [hmhm ] was woll_mern machen?= =ein tie:r ein tier? ((führt Hand zum Mund))= =und was für ein tier woll_mer denn baun? hm (1.5) hm wir ham sogar ((legt den Hammer auf den Tisch und beginnt einen weiteren Nagel in die Wattekugel zu drücken, die E hält)) wenn der orange wär würde der aussehen wien kürbismensch ((simultanes Heben der Köpfe, Blickkontakt zwischen E und J, E lacht, J lächelt)) ((blickt zur Uhr)) oh oh der (-) mach nor fertig müssen auch noch die haare kleben ((Nagel fällt ihm aus der Hand)) äh und n mund malen ((setzt den Nagel wieder an)) wo is der stift hin? schon n koffer getan (-) bleib ma ganz ruhig ((seufzt, schüttelt und leckt den Daumen ab)) ((nimmt den Hammer und beginnt zaghaft zu hämmern, E hält die Wattekugel mit beiden Händen)) ((Mimik des Erschreckens als J mit dem Hammer etwas weiter ausholt)) ((greift mit seiner zweiten Hand nach der Kugel und dreht seinen Oberkörper zwischen E und das Objekt)) lass ma los ((lässt die Kugel los, richtet sich auf))

Die gemeinsame Teilnahme an der Bastelsituation in einem abgegrenzten Raum bildet auch hier die Grundlage für ein Interaktionsritual. Der geteilte Aufmerksamkeitsfokus auf das Objekt zeigt sich deutlich zu Beginn des Ausschnittes an den einander zugewandten Haltungen mit Blick auf das Bastelobjekt (vgl. Segment 01). Diese Haltungen werden fast über den gesamten Verlauf der Sequenz eingenommen. Auch hier gibt es Anzeichen

266

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

für eine geteilte Stimmung: Das spielerische Erschrecken durch den Jungen wird von der Erzieherin als Scherz verstanden. Sie setzt seine Theatralik durch eine übertriebene Darstellung von Angst fort und lacht daraufhin.187 Der Junge bestätigt anschließend mit seinem Schmunzeln ihre Sicht auf das Geschehen (vgl. Segmente 10-14). Aus dem spontanen gegenseitigen Verstehen in diesen Interaktionszügen kann auf eine geteilte Grundstimmung und eine affektiv gespürte Nähe der Handelnden geschlossen werden. Nach einem kurzen narrativen Einschub der Erzieherin („Wenn der orange wär‘, würde der aussehen wie‘n Kürbismensch.“) heben in Segment 21 beide simultan ihre Köpfe. Ihre Blicke treffen sich. Es wird gelacht bzw. gelächelt. Auch hier wird deutlich, wie sich die Beteiligten in der Interaktion aufeinander eingestimmt haben. Die Handelnden zeigen sich gegenseitig ihre geteilte Perspektive. Exemplarisch dafür sind die Interaktionszüge in den Segmenten 03 bis 07 des Transkriptes. Verbal und nonverbal weisen sich die Erzieherin und der Junge auf ihre Teilnahme am Ritual hin. Ihre Intonationsphrasen folgen aufeinander wie ein wechselseitiges rhythmisches Anstoßen. Auch in weiteren Interaktionszügen verweisen sich beide auf das gemeinsame Tun (vgl. Segmente 23-27). Die verbalen Anteile der Erzieherin sind dabei weitaus umfangreicher als die des Jungen. Grund dafür ist möglicherweise, dass für ihn Deutsch die Zweitsprache ist. Aus den zitierten Rückkopplungen kann auch hier auf eine Funktionalität des Rituals geschlossen werden. Wie in Bezug auf das vorherige Datenzitat deutlich wurde, beeinflusst die funktionale Qualität des Rituals die Beurteilung der Statuspositionen der Handelnden. Auch der Junge und die Erzieherin in diesem Beispiel sind in einer intensiven Interaktion wechselseitiger Bezugnahmen auf das Ritual miteinander verbunden. Das gegenseitige „Mitziehen“ oder „Anstoßen“ auf der Grundlage eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus und einer geteilten Grundstimmung ist sogar noch deutlicher als im vorherigen Ausschnitt erkennbar. Die Positionen der Handelnden unterscheiden sich jedoch. In der ersten Sequenz wechseln sich der Erzieher und der Junge in aktiven und beobachtenden Positionen ab. Im Gegensatz dazu befindet sich Menschen können ihre emotionalen Ausdrücke im Gegensatz zu Tieren auch willentlich kontrollieren. Sie verfügen dafür über eine besondere hirnphysiologische „Route“ zur Steuerung der Gesichtsmuskulatur (vgl. Argyle, 2013, S. 158f.). 187

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit

267

die Erzieherin fast über den gesamten Verlauf in der Rolle der Zuschauerin, während der Junge die Handlung vollzieht. Dabei betont sie ihre Position durch entsprechende Intonationsphrasen der Motivation und Bestätigung: „Feste!“ […] „Ja, super!“ […] „Ja, Klasse!“ […] „Klasse!“ […] „Toll machst du das!“ (Segmente 03, 05, 07, 18, 35). Es ergeben sich nicht solche charakteristischen gegenseitigen Absprachen, die in der vorherigen Sequenz auf eine enge Zusammenarbeit deuteten (vgl. Beispiel 14, Segmente 36-40). Diese unterschiedlichen Statuspositionen werden noch durch ein Phänomen verschärft, das in vergleichbarer Form auch zwischen dem Erzieher und dem Jungen auftritt. In beiden Zitaten sind Sequenzen enthalten, die sich auf die Gefahr der Verletzung beim Umgang mit dem Hammer beziehen. Es handelt sich jeweils um interaktiv besonders dichte Momente, die mimische, gestische sowie prosodische Ausdrucksformen einschließen und „dramatische“ Höhepunkte der Interaktionen darstellen. Ausgangspunkt ist das Ausholen des Armes mit dem Hammer für einen kräftigen Schlag. Im ersten Beispiel wird das vom Erzieher eingefordert. Die Möglichkeit der Verletzung wird von ihm selbstironisch gebrochen in die Interaktion eingebracht und ist Anlass zu parallelem Lächeln bzw. Schmunzeln (vgl. Beispiel 14, Segmente 11-21). Im zweiten Ausschnitt nutzt der Junge spontan ein weites Ausholen mit dem Hammer zu einem spaßhaften Erschrecken der Erzieherin. Sie geht auf diese Herausforderung mit einer ebenfalls theatralischen Reaktion ein, die die Provokation des Jungen als Scherz einstuft (vgl. Beispiel 15, Segmente 09-16). Für die Statuspositionen im Interaktionsritual sind die unterschiedlichen Folgen der zitierten Interaktionszüge von Bedeutung. Im ersten Beispiel bleibt der gemeinsame Fokus in der zitierten Mikrosequenz bestehen. Im zweiten Ausschnitt zieht sich die Erzieherin im Gegensatz dazu noch weiter von den Symbolen des Rituals – dem Bastelobjekt und dem Hammer – zurück (vgl. Beispiel 15, Segmente 12-15). Aus dieser Statuskonstellation zwischen der Erzieherin und dem Jungen kann geschlossen werden, dass sich das Interaktionsritual weniger als Gemeinschaftserfahrung bei den Handelnden niederschlagen wird. Zudem wird die Erzieherin aus ihrer Beobachtungsposition mit den zentralen Symbolen dieser Sequenz weniger emotionale Energie verbinden als der Junge. Er wird auf einer Mikroebene zum „sociometric star“ des Rituals: „This person is the Durkheimian participant of the highest degree, and experiencing the strongest effects of ritual membership: emotional energy,

268

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

moral solidarity, attachment to group symbols“ (Collins, 2004, S. 116). Die Erzieherin befindet sich demgegenüber in einer anderen Lage, die Collins (ebd.) für den Extremfall folgendermaßen beschreibt: „At the other end, there is the Durkheimian nonmember, who receives no emotional energy, no moral solidarity, and no symbolic attachments.“ Für die zitierte Sequenz, die eher alltäglich und banal erscheint, sind die unterschiedlichen Auswirkungen auf die Beteiligten sicher weniger dramatisch, als es diese Zitate anklingen lassen. Allerdings fügt sich auch dieses kleine Interaktionsritual in eine lange Kette vorheriger Begegnungen ein, auf die sich beide mit dieser gelingenden Interaktion spontan beziehen können und die ihre sozialisatorische Wirkung quasi summarisch entwickelt. Der zitierte Ausschnitt enthält zudem einen weiteren Aspekt, der die Unterschiede in den Statuspositionen der Handelnden zusätzlich verschärft. Die Zusammenarbeit zwischen der Erzieherin und dem Jungen verändert sich im Gegensatz zum vorherigen Beispiel gegen Ende der Sequenz signifikant. Sie wird von ihm explizit an den Rand verwiesen. Nachdem sie beim nächsten Hämmern ohne auffällige vorherige Provokation durch den Jungen eine Geste des Schrecks inszeniert, dreht er leicht seinen Oberkörper zwischen sie und das Bastelobjekt und sagt: „Lass ma‘ los!“ (vgl. Beispiel 15, Segmente 30-32). Sie wendet sich ab und beginnt, auf dem Tisch liegende Bastelmaterialien zu sortieren. Durch diese vom Jungen ausgelöste Entwicklung wird allerdings auch das die Sequenz prägende Interaktionsritual beendet. Zu seiner Funktionalität muss die Erzieherin wenigstens als Zuschauerin teilnehmen. Nachdem sie durch die Anweisung des Jungen weiter an den Rand gerät, bricht das Mikroritual zwischen den zwei handelnden Personen zwangsläufig zusammen. Jetzt handelt jede nur noch für sich. Die Anweisung des Jungen fügt den Statusunterschieden aber abschließend noch ein – zumindest situatives – Machtgefälle zu Gunsten des Kindes hinzu. In aller Regel können nur die „order-giver“ in einem solchen Machtritual emotionale Energie und eine Bindung an die Symbole gewinnen, insbesondere wenn ihre Dominanz von einer zentralen Position im Ritual begleitet ist. Im Gegensatz dazu entfremden sich „order-taker“ meist von den Inhalten (vgl. ebd., S. 112ff.). Emotionale Energie und eine Bindung an die Symbole dieses Interaktionsrituals wird also nur der Junge aus dieser Situation ziehen, denn er ist in dieser Sequenz nicht nur

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit

269

„sociometric star“, sondern wird abschließend zusätzlich zum „ordergiver“.188 In der vorher zitierten Sequenz kann ebenfalls in mehreren Segmenten eine Asymmetrie im Verhältnis zwischen den Beteiligten beobachtet werden. Der Erzieher gibt die Erlaubnis zum Handeln: „Jetzt darfst du den reinschlagen.“ Allerdings scheint die wesentliche Aussage für den Jungen bereits die vorherige Intonationsphrase des Erziehers zu sein: „So, der erste ist drin!“ Bereits vor der ausgesprochenen „Erlaubnis“ greift er nämlich wie selbstverständlich nach dem Hammer, so wie es der Erzieher vorher umgekehrt getan hat (vgl. Beispiel 14, Segmente 22-28). Der Erzieher gibt das Bastelobjekt im Verlauf der Sequenz allerdings nicht aus der Hand. Es kann unterstellt werden, dass er die Form der Zusammenarbeit erzwingt. Zudem unterbricht er die Handlung des Jungen, als dieser überfordert ist (vgl. Beispiel 14, Segmente 28-34). Im Unterschied zur Sequenz zwischen der Erzieherin und dem Jungen wird dem Gegenüber hier aber durch den „order-giver“ ein Platz im Ritual zugewiesen. Auf diese besondere „didaktisch-autoritative“ Beziehung zwischen beiden wird in einem folgenden Abschnitt vertieft eingegangen (vgl. Kapitel 8.4.4). Collins‘ Überlegungen zum Machtaspekt von Interaktionsritualen offenbaren an dieser Stelle aber eine Schwäche: Interaktionen zwischen Erwachsenen und Kindern enthalten eine grundsätzliche Machtasymmetrie zugunsten des Erwachsenen. Von der kann aber nicht verallgemeinernd auf den Verlust emotionaler Energie für das Kind als „order-taker“ geschlossen werden. Es ist naheliegend, dass Kinder in bestimmten Phasen ihrer Individualentwicklung, in denen sie die Übernahme von Verantwortlichkeiten für sich als besonders befriedigend entdecken, die Zuweisung von Aufgaben nicht im Sinne einer hierarchischen Unterordnung, sonders als persönliche Aufwertung erleben (vgl. Erikson, 1966, S. 94ff.; Kapitel 2.4.1). Der entscheidende Unterschied scheint darin zu bestehen, ob der Auftrag, der befolgt werden soll, das Individuum vom Symbol des Rituals entfernt oder nicht.189 Auffällig ist zusätzlich, dass die Erzieherin sich im Gesicht berührt, als sie sich aus dem Interaktionsritual zurückzieht (vgl. Beispiel 15, Segment 35). Solche Gesten sind oft mit Scham verbunden (vgl. Argyle, 2013, S. 249). 189 Das Ritual ist auch für den erwachsenen „order-taker“ mit emotionaler Energie verknüpft, wenn seine Position für ihn „stimmig“ ist (vgl. Collins, 2004, S. 114f.). Hier 188

270

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

Aus der zweiten Sequenz ergibt sich allerdings die Möglichkeit einer Gegenlesart. Dabei spielen exakt die Handlungszüge eine besondere Rolle, in denen der Statusunterschied zwischen den Beteiligten besonders hervorzutreten beginnt. Sie werden daher noch einmal gesondert zitiert: Beispiel 16: 01

J:

02

E:

03 04

J:

05

E:

06 07 08

J:

((Ausschnitt aus Situation 16_1_2, 24:11:32324:19:132)) [((nimmt Hammer, beginnt zaghaft Nagel in Wattekugel zu schlagen))] [na der wird auch lustig hier ] ((holt mit dem Hammer weit über den Kopf aus)) [((macht einen theatralischen Schlag)) ] [ ((Mimik des Erschreckens, zieht rechte Hand vom Objekt an den Körper))] häh [] [((lächelt)) ] ((hämmert zaghaft weiter))

Diese bereits mehrfach hervorgehobenen Intonationsphrasen bilden innerhalb der vorher zitierten längeren Sequenz eine in sich abgeschlossene sequenzielle Einheit. Nachdem die Erzieherin das Bastelobjekt als „lustig“ bezeichnet, scheint der Junge diese augenzwinkernde Brechung der Zusammenarbeit in seiner anschließenden Handlung aufzugreifen. Die spielerische Bedrohung durch ihn wird von der Erzieherin als scherzhafte Provokation gedeutet. Ihre Interpretation wird schließlich durch das gemeinsame Lachen mit dem Jungen bestätigt (vgl. Segmente 02-07). Das zentrale Symbol dieser Mikrosequenz ist nicht das Bastelobjekt und das verwendete Werkzeug, sondern mehr die Provokation des Jungen, über die sich beide amüsieren können. Der Scherz als Interaktionsritual gelingt und verbindet die Handelnden im Lachen bzw. Lächeln. Beide nehmen zwar unterschiedliche Rollen, aber gleichermaßen zentrale Statuspositionen ein. Die gelingenden Interaktionszüge verweisen auf eine große Nähe zwischen der Erzieherin und dem Jungen. Dabei kann die entstehende Gemeinschaft kaum überschätzt werden, da das gemeinsame Lachen eines der intensivsten Interaktionsrituale darstellt (vgl. Collins, 2004, S. 65f.). Die längere Sequenz entfaltet die leiblich-affektive Verbindung der untergeordneten Person mit ihrer Lebenswelt ihre Wirkung (vgl. Bourdieu, 1993, S. 162; Kapitel 3.2.3).

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit

271

(vgl. Beispiel 15) schließt also mindestens ein Mikroritual ein, dessen Interpretation im Widerspruch zu ihrer Deutung steht. Weitere vergleichbare Phänomene gemeinsamer Belustigung aus dem Datenmaterial werden an anderer Stelle ausführlich behandelt (vgl. Kapitel 8.7). Neben dieser Erweiterung der Interpretation wird zusätzlich vor einer voreiligen Abstraktion der beiden Ausschnitte gewarnt. Sie können als Varianten eines Interaktionsrituals gedeutet werden, dessen zentrales Symbol der Hammer bzw. der Umgang mit ihm ist. Die praktischen Handlungen sind zu Beginn fast identisch. Dann führt die emotionale Aufladung des Symbols die Handelnden in unterschiedliche Positionen. Allerdings beeinflussen den Verlauf der Interaktion noch weitere Aspekte. Bei genauerer Betrachtung der verwendeten Materialien wird deutlich, dass das Einschlagen des Nagels in Holz in der ersten Sequenz eine größere Herausforderung ist, als ihn – wie im zweiten Beispiel – in eine Wattekugel zu drücken. Außerdem ist das erste Kind etwas jünger und verfügt daher über weniger feinmotorische Fähigkeiten als der Junge im zweiten Beispiel. Zusätzlich ist relevant, dass die erste Sequenz am Beginn des Handlungsprozesses steht, während das zweite Zitat einen späteren Abschnitt abbildet, in dem die Erzieherin und der Junge bereits auf das Vollenden des Objektes und auf das anschließende Aufräumen fokussiert sind. Es kann also angenommen werden, dass die Handelnden sich in den zitierten Interaktionszügen nicht nur in Statuspositionen um ein bestimmtes Symbol gruppieren. Die Ritualkonstellationen folgen auch äußeren Einflüssen, die den ersten Jungen und den Erzieher in eine engere Zusammenarbeit führen als die Beteiligten im zweiten Beispiel. Eine Bedeutung des Hammers als zentrales Symbol ist allerdings für beide Beispiele wahrscheinlich, da die Handelnden dieses Werkzeug explizit über seine praktische Funktionalität hinaus in den Mittelpunkt scherzhafter Anteile ihrer Interaktionen stellen. Die zitierten Sequenzen machen deutlich, dass die Handelnden im Verlauf enger Kooperationen in einzelnen Interaktionsritualen sehr unterschiedliche Statuspositionen einnehmen. Damit verbunden ist ein unterschiedliches Maß an emotionaler Energie, die die Beteiligten mit den enthaltenen Symbolen verknüpfen. Die Statuspositionen der Handelnden beeinflussen auch die von ihnen empfundene Gemeinschaft. Machtdivergenzen verstärken diese Aspekte. Sie können nicht nur zugunsten der Erwachsenen ausfallen. Es ist möglich, dass auch die Kinder

272

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

mikrosozial und situativ Machtpositionen einnehmen. Eine untergeordnete Rolle scheint für Kinder aber weniger folgenreich zu sein. Entscheidend ist die Nähe zum Symbol des Rituals. Die Vielschichtigkeit der Interaktionen muss aber unbedingt berücksichtigt werden. Unterschiedliche Rituale können bei zeitlicher Überlappung ineinander „verschachtelt“ sein und gegenläufige Ergebnisse haben. Außerdem wirken einflussreiche Faktoren im Hintergrund, die leicht übersehen werden, aber einen großen Anteil an der entstehenden Statuskonstellation haben können. 8.4.3

Paralleles Arbeiten

Im Datenmaterial sind Sequenzen enthalten, in denen die Fachkräfte und die Kinder nebeneinander arbeiten. Teilweise verfolgen beide zwei verschiedene Vorhaben. Diese sind aber meist inhaltlich miteinander verknüpft, so z.B. wenn die Erzieherin die „Indianer“-Figur zum „Wigwam“ des Jungen gestaltet. Möglich ist auch, dass einer von beiden Zuarbeiten für das gemeinsame Projekt ausführt, so wie ein Junge, der aus Pappe Zinnen für die Burg ausschneidet, die der Erzieher neben ihm im Wesentlichen selbst gestaltet. Verschiedene solcher Sequenzen werden im Anschluss einer genaueren Betrachtung unterzogen. Zur Illustration des ersten Beispiels dient ein Standbild und im Anschluss die Transkription einer Sequenz, die an dieser Stelle besonders exemplarisch ist:

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit

Abbildung 8:

Paralleles Arbeiten (Standbild aus Situation 1_2_1)

Beispiel 17: 01

J:

02

E:

03 04 05

J:

06

E:

07

J:

08

E:

09

273

((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 10:59:44711:43:967)) wir können auch zinnen aus den korken ((blickt kurz zur Seite, zeigt auf vor sich liegende Pappstreifen)) ] ((greift nach Filzstiften vor sich)) hm [nicht alles ] (.) so

274

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

10

J:

11

E:

12

J:

13 14

E: J:

15

E:

16

J:

17

E:

18

J:

19

[die hatten früher noch nicht richtige klos (.) plumpsklos] [((nimmt Heißklebepistole, bestreicht Sperrholzplatte mit Kleber)) ] ((nimmt einen Stift aus der Hülle)) ich (.) ich mach einfach jetzt ma so hoch und runter (- -) da wie hoch und runter? und schneide das dann so [aus ] [kannst_dess] auf au ausschneiden ohne das noch zu malen?= = ] [weil das geht] das geht dann [eventuell en bisschen schneller] [((nimmt die Schere)) ] ((nimmt ein Stück Pappe und beginnt zu schneiden))

Ein Erzieher und ein Junge einigen sich nach Vorüberlegungen auf die Gestaltung einer „Ritterburg“ (vgl. Beispiel 6). Vom Moment der Ideenfindung an entsteht ein intensiver Arbeitsprozess. Der Erzieher scheint unter Druck zu stehen. Er konstruiert den Grundaufbau des Bastelobjektes und vertieft sich dabei in sein Schaffen. Er setzt sich im Wesentlichen mit seinen eigenen Ideen auseinander, verfällt in Hektik und äußert sich in abbrechenden Sätzen: „Okay. Dann schneid‘ ma‘, äh guck ma‘, dass das ungefähr so groß wird, wie ...“ Der Junge sitzt neben ihm – am Rand der „Werkbank“ – und wird mit Hilfsarbeiten beauftragt (vgl. Segment 04). Insgesamt überschneiden sich die Interaktionszüge oft und sind kaum aufeinander abgestimmt. Zwar zeigt der Erzieher dem Jungen Anerkennung: „Du weißt ja richtig Bescheid.“ (Segment 06). Diese Äußerung erscheint aber eher eingeschoben, statt Teil eines Dialogs zu sein. Der Blick des Erziehers bleibt dabei auf dem Objekt. Der Junge fühlt sich zwar zu einem „Fachaustausch“ über Ritterburgen eingeladen und versucht, das Thema zu vertiefen: „Die hatten früher noch nicht richtige Klos.“ (Segment 10). Der Erzieher ignoriert ihn aber. Die Gesprächseinladung war offensichtlich ein Missverständnis. Der transkribierte Ausschnitt ist charakteristisch für viele Interaktionszüge in dieser Situation. Es kommt seltener zu zugewandten Körperhaltungen, Blickkontakten oder fein abgestimmten Interaktionsritualen zwischen beiden als zwischen den Handelnden in

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit

275

anderen Aufnahmen. Eine Ausnahme ist der gemeinsame Arbeitsgang beim Herstellen der beiden Türme für die Burg: Beispiel 18: 01 02 03 04 05 06

J: E: J: E: J:

07 08

E:

((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 07:29:38607:44:964))

Der Junge ist die „helfende Hand“. Er ergänzt diese Nebenrolle aber durch einen fachlichen Hinweis zum sogenannten „Bergfried“ 190 der Burg (vgl. Segmente 02-06). Damit expliziert er, wie in der vorherigen Sequenz, detaillierte Kenntnisse des Wissenskontextes (vgl. Beispiel 17, Segment 10). Der Erzieher reagiert mit einer Wortwiederholung, die der Junge als Nachfrage interpretiert. Der Junge konkretisiert seine Information und verweist zusätzlich darauf, dass sein Vater die Quelle seines Fachwissens ist. Dabei berührt er auffällig ausgedehnt die Hand des Erziehers (vgl. Segment 06). Dieser bestätigt im Anschluss die Aussage: „Das stimmt.“ (Segment 07). An diesen Sprechbeitrag schließt er eine Ergänzung an, die in einer logischen Operation von der Korrektheit der Information auf die Wahrhaftigkeit ihres Überbringers zurückschließt (vgl. Segment 08). Durch diese auffällige rhetorische Wendung scheint der Erzieher nicht nur zu sagen, dass er auch weiß, was der Vater des Jungen weiß, sondern ihn zusätzlich zu beurteilen. Die Aussage „Da hat dein Papa dir die Wahrheit gesagt.“ (Segment 08) enthält implizit, dass dieser da zwar die Wahrheit gesagt hat, an anderer Stelle aber nicht. Die Bedeutung dieser Intonationsphrase kann aber nicht weiter erschlossen werden, da die Sequenz im Anschluss 190

Der Begriff „Bergfried“ geht nicht auf die Bedeutung der Wortbestandteile zurück, sondern entstand durch volkssprachliche Übertragung des mittelhochdeutschen Wortes „perfrit“, das einen hölzernen Belagerungsturm bezeichnete (vgl. Wermke et al., 2001, S. 82).

276

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

durch einen Diskursmarker des Erwachsenen beendet wird. Erwähnungen der Väter im Datenmaterial werden an anderer Stelle ausführlicher betrachtet (vgl. Kapitel 9.4). Der Arbeitsgang wird kurz danach in gleicher Form für den zweiten Turm wiederholt: Beispiel 19: 01

E:

02

J:

03

E:

04 05

J: E:

06 07 08

J: E:

09 10 11

E: J:

12

E:

13

((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 08:34:85209:01:611)) (.) [macht mir spaß ] [((nimmt ein Stück Draht))] = =zu bauen ((versucht, den Draht um die Papprolle zu wickeln)) nee jetzt hab ich_s zu zu kurz abgeschnitten ((Blicke folgen fortlaufend den Händen von E)) könn_mer bestimmt noch verwenden [] [((nimmt die Zange)) ] das stimmt ((schneidet Draht ab)) so:

Der Junge kann sich wieder nicht selbst erproben, sondern bleibt Handlanger des Erziehers. Trotzdem drückt er seine Freude an der Zusammenarbeit aus: „ ... macht mir Spaß zu bauen.“ (Segmente 02, 04). Auf seine Zufriedenheit deutet auch, dass er das Handeln mit spontanen Kommentaren (vgl. Segment 11) und an anderer Stelle sogar mit selbstvergessenem Singen begleitet, auch wenn sich der Erzieher ihm gegenüber nicht zugewandt verhält. Obwohl eher am Rand der Arbeitsgänge wirkend, sieht sich der Junge ausreichend integriert und am richtigen Platz auf dieser „Baustelle“. Die begrenzte Aufmerksamkeit des Erwachsenen genügt ihm. Der Erzieher reagiert auf die Begeisterung des Jungen zustimmend. Er gestaltet seine Äußerung prosodisch als spontanen Ausdruck von Wohlbefinden (vgl. Segment 03). Es liegt nahe, dass seine Bestätigung der

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit

277

Freude ihn selbst mit einschließt, da auch für ihn die Burg eine sprudelnde Quelle für Assoziationen und begeisterte Vorschläge ist. Das zeigt sich explizit in späteren Äußerungen wie „Woll‘n wer versuchen eine Zugbrücke zu bauen?“, aber auch in seiner großen Konzentration über den gesamten Schaffensprozess hinweg. Nicht nur dem Jungen, sondern auch dem Erzieher macht das Bauen Spaß. Der Erzieher und der Junge können auf etwas Bezug nehmen, das ihnen vertraut ist (vgl. Beispiel 17). Die Erklärungen191 im weiteren Verlauf der Bastelsituation enthalten eine Fachsprache, die für Außenstehende unverständlich ist: „Woll‘n wir den Bergfried hier so reinbauen?“ Sie bekräftigen sich damit gegenseitig den Sinn ihres Handelns und verweisen sich auf ein ihnen zur Verfügung stehendes Schema, den „Bauplan“ ihrer „Ritterburg“ (vgl. Abels, 2010, S. 135). Trotz fehlendem Gleichklang in den Interaktionszügen finden sie in ihrer parallelen Tätigkeit zu großer Nähe und zu geteilter Begeisterung, die auch in gespiegelten Körperhaltungen deutlich wird (vgl. Argyle, 2013, S. 262, bzgn. auf Dabbs, 1969; LaFrance, 1979, 1985; Trout & Rosenfeld, 1980; LaFrance & Ickes, 1981; Maxwell & Cook, 1985; Abbildung 8). Exemplarisch zeigt sich das ebenfalls im folgenden Standbild, das gegen Ende der Aufnahme entstanden ist:

191

Der Begriff „Erklärung“ wird hier im Wesentlichen in seiner ethnomethodologischen Bedeutung verwendet. Erklärungen werden notwendig, um in Interaktionen den gemeinsamen Sinn aufrechtzuerhalten. Da indexikalische Verweise kontextabhängig und Sprache überhaupt ungenau ist, werden solche Handlungen notwendig (vgl. Abels, 2010, S. 135).

278

Abbildung 9:

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

Der Ritter (Standbild aus Situation 1_2_1)

In der zuletzt zitierten Sequenz zum zweiten Turm ist ein weiterer auffälliger Aspekt enthalten. Der Junge durchbricht wie bereits im vorherigen Zitat seine passive Rolle mit einem Ratschlag an den Erzieher. Nach über zehn Sekunden, in denen er nur mit Blicken an der Interaktion teilnimmt, äußert er spontan: „Ersatz für die Heißklebepistole ist immer gut. Man weiß ja nie, wann die alle geht.“ (Segment 11). Seine Aussage ist überraschend, da die Heißklebepistole in der gemeinsamen Handlung über mehrere intensive Sequenzen hinweg weder benutzt noch erwähnt wurde. Daher liegt die Interpretation nahe, dass er mit diesem Sprechbeitrag weniger auf das Werkzeug, sondern vor allem auf sich aufmerksam machen möchte. Im vorherigen Zitat gibt der Junge anschließend seinen Vater als Ursprung seines Wissens um den „Bergfried“ an: „Das hab ich von Papa.“ (Beispiel 18, Segment 06). Auch hier stellt der Junge nur eine Minute später diesen Zusammenhang her und nimmt auf eine Erfahrung mit seinem Vater Bezug:

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit

279

„Papa hat auch eine Heißkleberpistole.“ Offensichtlich liegt es für ihn nahe, die Kooperation mit dem Erzieher assoziativ auf seinen Vater zu übertragen, mit dem er vielleicht ähnliche Formen der Zusammenarbeit erlebt, eine Burg besucht oder ein entsprechendes Kinderbuch betrachtet hat. Auf ein weiteres Charakteristikum der beiden zuletzt zitierten Ausschnitte wird an dieser Stelle hingewiesen. Die Ratschläge des Jungen klingen wie Floskeln von Fachleuten: „Aber wir müssen auch noch ...“ (Beispiel 18, Segment 02). „Ersatz […] ist immer gut. Man weiß ja nie ...“ (Beispiel 19, Segment 11). Unabhängig von den vordergründigen Informationen zum Bastelobjekt und zum Werkzeug verweist er implizit auf einen weiteren Kontext. Der Erzieher reagiert lapidar und wissend: „Das stimmt.“ (Beispiel 19, Segment 12). In einer anderen Sequenz aus der Bastelsituation um das „Vogelhaus“ wird in einem Dialog zwischen dem Erzieher und dem Jungen ebenfalls mit vagen Andeutungen auf eine hintergründige Struktur geteilter Erfahrungen und Erwartungen verwiesen: „Hast du schon ma‘ gehämmert?“ „Na klar, ich weiß, wie‘s geht!“ „Ja, das dacht‘ ich mir.“ (Beispiel 8, Segmente 0406). In einer anderen Sequenz sagt eine Erzieherin zu einem Mädchen nur noch knapp: „Hier is‘ der Hammer. Kannst es noch festhämmern.“ (vgl. Beispiel 12, Segmente 01-02). Alle diese Intonationsphrasen sind indexikalische Äußerungen, die auf einen impliziten Kontext an Erfahrungen verweisen, den die Handelnden damit vorgeben, miteinander zu teilen (vgl. Abels, 2010, S. 132ff.). Als gäbe es einen ungenannten Ort von Selbstverständlichkeiten, wo man etwas können muss, aber nie genau weiß. In einer anderen Sequenz parallelen Arbeitens gestalten eine Erzieherin und ein Mädchen ein Haus aus dem Märchen von Hänsel und Gretel (vgl. Beispiel 11). Während das Autoritätsgefälle zwischen dem Erzieher und dem Jungen bei der Gestaltung der „Ritterburg“ eindeutiger ist, entsteht hier eine vermeintliche Egalität, wenn die Erzieherin das Mädchen ohne Hilfestellung mit der Heißklebepistole arbeiten lässt. Sie vertraut auf die Fähigkeiten des Kindes und begibt sich anfangs vor allem in die Rolle der Beobachterin, wie das folgende Standbild zeigt:

280

Abbildung 10:

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

Selbständig arbeiten (Standbild aus Situation 8_1_2)

Das Konzept dieser Kindertagesstätte folgt der Montessori-Pädagogik, die die selbständige Weltaneignung der Kinder in den Vordergrund stellt (vgl. Digel & Kwiatkowski, 1990, Bd. 15, S. 15).192 Daher ist es naheliegend, dass die Erzieherin diese Haltung gegenüber dem Kind bewusst als Verzicht auf didaktische Fremdbestimmung einnimmt. Ihre Position wird aber von

In Deutschland wird in den Konzeptionen vieler Kindertagesstätten ein Bezug auf die Überlegungen der italienischen Ärztin und Pädagogin Maria Montessori (1870-1952) zu einer selbsttätigen Erziehung von Kindern angedeutet (vgl. Digel & Kwiatkowski, 1990, Bd. 15, S. 15; http://www.diakonie-pirna.de/downloads/Konzeption_KH.pdf). Für einzelne Einrichtungen ist die sogenannte „Montessori-Pädagogik“ zentrale Grundlage ihrer Arbeit (vgl. http://www.huckepackev.de/fileadmin/documents/Kinderhaus/Kinderhauskonzept2016.pdf). 192

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit

281

widersprüchlichen verbalen Kommentaren begleitet. So erscheinen manche Sprechbeiträge überheblich und „von oben herab“: Beispiel 20: 01 02 03 04 05

M: E: M: E:

((Ausschnitt aus Situation 8_1_2, 08:30:44908:44:631)) wir können ja auch zusamm (.) nageln ( )= =naja aber nageln (.) die pappe is schlecht (.) hase (.) das is quatsch= =versuchen? na wir könnten: oder

Das Kind wird verniedlichend als „Hase“ bezeichnet und seine Äußerung als „Quatsch“ abgewertet (vgl. Segmente 02-03). Im Gegensatz zu dieser Überheblichkeit setzt sich die Erzieherin nur eine knappe Minute später in einem anderen Sprechbeitrag selbst zurück und erklärt das Mädchen zur Bestimmerin: „Du bist der Chef. Du sagst wie‘s geht.“ (Beispiel 10, Segment 13). Die vor allem in Haltungen und Gesten zum Ausdruck kommende und vielleicht pädagogisch inspirierte Gleichwertigkeit wird von der Erzieherin durch die zitierten verbalen Ambivalenzen durchbrochen. Nachdem das Haus in seiner Grundstruktur hergestellt ist, beginnt die Erzieherin auf eigenen Vorschlag mit einem parallelen Nebenprojekt: „Ich mach‘ ‘nen Garten noch, Okay?“ Während sie das Bastelprojekt bisher „aus den Augenwinkeln“ begleitet hat, wendet sie sich nun davon ab und beginnt mit ihrem eigenen Vorhaben. Sie gestaltet einen Garten zum Haus. Diese Arbeitsteilung wird bis zum Schluss weitgehend aufrechterhalten. Beide arbeiten nebeneinander an unterschiedlichen Teilprojekten. Unterbrechungen ergeben sich vor allem, wenn das Mädchen die Erzieherin um Unterstützung bittet. Trotz der beschriebenen Widersprüchlichkeiten offenbaren die Interaktionssequenzen an mehreren Stellen eine große Nähe zwischen ihm und der Erzieherin. Wie in den Sequenzen um die „Ritterburg“ spielt dabei der geteilte Wissenskontext eine große Rolle (vgl. Beispiele 17-19): Beispiel 21: 01

M:

02

E:

03

((Ausschnitt aus Situation 8_1_2, 13:01:06913:37:749)) [] [((verdreht Biegeplüsch miteinander)) ] ((paralleles Arbeiten 13.0))

282

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

04 05

E: M:

06

E:

07

M:

08

E:

09 10

M: E:

so (.) und wer is die hexe? ((lacht trocken))= == =[] [((hebt den Blick, sieht vor sich hin)) ] der wind der wind

Nach einer längeren Phase des parallelen Arbeitens ohne verbale Äußerungen fragt die Erzieherin zuerst scherzhaft nach der Hexe, um dann mit verstellter Stimme aus dem Märchen von Hänsel und Gretel zu zitieren. Das Mädchen unterbricht seine Tätigkeit, hebt den Blick und hört – offensichtlich inspiriert – zu (vgl. Segmente 04, 06, 07). Als die Erzieherin den Vers nicht beendet, sondern eine Bemerkung zur Handlung einfügt, setzt es zaghaft den Vers fort, den die Frau im Anschluss wieder aufgreift (vgl. Segmente 08-10). Beide geben den ersten Dialog zwischen den Geschwistern und der Hexe in dem bekannten Märchen wieder: Hänsel reichte in die Höhe und brach sich ein wenig vom Dach ab, um zu versuchen, wie es schmeckte, und Gretel stellte sich an die Scheiben und knusperte daran. Da rief eine feine Stimme aus der Stube heraus: ,Knuper, knuper, Kneischen, wer knupert an meinem Häuschen?‘ Die Kinder antworteten: ,Der Wind, der Wind, das himmlische Kind‘, und aßen weiter, ohne sich irremachen zu lassen. (Kocialek & Klemke, o. J., S. 56, Hvhg. i. O.)

An der Sequenz aus dem Datenmaterial wird nicht nur die Gemeinschaft zwischen den Handelnden im Interaktionsritual deutlich, sondern auch, dass indexikalische Verweise auf einen geteilten Kontexthintergrund sozialen Situationen ein dramaturgisches Repertoire mit dazu passenden Requisiten erschließen können (vgl. Collins, 2004, S. 83ff.). Weitere Aspekte aus dem Inhalt des Märchens werden in die Gestaltung des Hauses einbezogen: Die

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit

283

Erzieherin bastelt z.B. einen „Hexenofen“. Das Mädchen nagelt Perlen als „Pfefferkuchen“ an die Wände oder malt sie mit Filzstiften darauf. So wie der Junge und der Erzieher einen detaillierten „Bauplan“ für ihre „Ritterburg“ teilen, kennen beide hier den narrativen Hintergrund ihres „Hexenhauses“: Das Märchen von Hänsel und Gretel (vgl. Kocialek & Klemke, o. J., S. 53ff.). Am Ende der Bastelsituation präsentiert das Mädchen ähnlich begeistert sein „Hexenhaus“ wie der Junge die Burg (vgl. Abbildung 4; Beispiel 5):

Abbildung 11:

„Jetzt ist es fertig!“ (Standbild aus Situation 8_1_2)

Auch in Varianten paralleler Tätigkeit gelingt es den Fachkräften und den Kindern, eine Zusammenarbeit zu entwickeln, die von ihnen als gemeinsames Projekt empfunden wird. Die Bastelobjekte werden dabei zu zentralen Symbolen von Interaktionsritualen (vgl. Collins, 2004, S. 81ff.). Das glückt vor allem dann, wenn die Bastelidee indexikalische Handlungen

284

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

ermöglicht, die gemeinsame Kontexthintergründe erschließen. Geteilte Symbole für die folgenden Interaktionsrituale stehen dann zur Verfügung. Die gelingenden Interaktionen gleichen vordergründig frustrierende Erfahrungen aus, wenn Ideen zu „Quatsch“ erklärt oder Kompetenzen ignoriert werden. 8.4.4

Vorführen und Nachahmen

In den Bastelsituationen sind mehrfach Sequenzen enthalten, in denen von den Fachkräften spontan eine „handlungspraktische Didaktik“ umgesetzt wird. Die Kinder versuchen, eine Handlung auszuführen, dabei zeigt sich aber, dass sie diese noch nicht selbständig vollziehen können. Der Erzieher oder die Erzieherin führen diese Handlung daraufhin vor und fordern im Anschluss zur Nachahmung auf. Verbale Hinweise oder motivatorische Äußerungen ergänzen das Geschehen. In solchen Sequenzen kann die Handlung selbst zum gemeinsamen Projekt werden. Es geht dann nicht mehr vordergründig darum, ein bestimmtes Objekt herzustellen. Stattdessen steht der Erwerb einer Kompetenz im Zentrum der Aufmerksamkeit der Handelnden. Dieser Aspekt kann Inhalt kurzer Sequenzen der Bastelsituationen sein, aber auch ihren gesamten Verlauf prägen. Wie sich bereits in Bezug auf die Ideenfindung bei der Herstellung des „Vogelhauses“ andeutete, wird in dieser Situation das gemeinsame Tun zum zentralen Objekt der Handlung (vgl. Beispiele 7-8). Der Erzieher und der Junge beherrschen die Form ihrer Zusammenarbeit so gut, dass sie sich nicht ausführlicher darüber abstimmen müssen. In den folgenden Ausschnitten entsteht in mehreren fast identischen Wiederholungen ein „Einübungsritual“193 in den Umgang mit dem Hammer. Die folgenden chronologisch geordneten Standbilder bringen diese Konstellation deutlich zum Ausdruck:

Der Begriff „Einüben“ wird häufig zur Beschreibung sozialisatorischer Prozesse genutzt, da die Komplexität dieser Zusammenhänge von ihm weitgehend erfasst wird (vgl. Tervooren, 2006, S. 21ff.; Kapitel 6.4). 193

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit

Abbildung 12:

285

Einüben in den Umgang mit dem Hammer (Abfolge von Standbildern aus Situation 13_1_1)

Der Erzieher führt die Handlung vor und macht den „ersten Schlag“, während der Junge seinen Bewegungen zusieht. In Wiederholung des Gesehenen schlägt er dann selbst den Nagel ein.194 Während dieser insgesamt achtmal aufeinander folgenden Sequenzen sind beide – wie auch in der überwiegenden Zeit der gesamten Aufnahme – einander zugewandt. Die Körperhaltungen sind dabei oft wie gespiegelt, woraus auf eine affektiv empfundene Nähe zwischen ihnen geschlossen werden kann (vgl. Argyle, 2013, S. 262, bzgn. auf Dabbs, 1969; LaFrance, 1979, 1985; Trout & Rosenfeld, 1980; LaFrance & Ickes, 1981; Maxwell & Cook, 1985). Ihre Blicke sind fast ununterbrochen auf das Objekt und das Tun des jeweils anderen gerichtet. Sehr aussagekräftig ist bei diesen Vollzügen des Vorführens und darauf folgenden Nachahmens der Moment der Übergabe des Hammers zwischen beiden, der mehrfach in besonderer Weise kommentiert wird, wie die folgenden drei Sequenzen zeigen: Beispiel 22: 01 02

E: J:

((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 13:01:65313:13:174)) soll ich wieder den ersten schlag machen? ja

Das Geschehen kann auch als eine „gelenkte Partizipation“ betrachtet werden: Ein Experte oder eine Expertin gestaltet eine Handlung so, dass eine andere Person, die nicht über ausreichende Fähigkeiten oder Kenntnisse verfügt, trotzdem an ihr teilnehmen kann (vgl. Stiegler et al., 2016, S. 140, bzgn. auf Rogoff, 2003; König, 2009, S. 138). 194

286 03 04

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik E: J:

05 06

E:

gutt hier (.) bitte (1.0) ich schlag dann (.) den wieder (2.0) ((nimmt den Hammer))

Beispiel 23: 01 02 03

J:

04 05

J: E:

E:

((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 14:02:45714:10:570)) ((nimmt den Hammer in die rechte Hand)) den ersten schlag machst du [(.) ja? ] [den ersten schlag] mach ich (.) ((nimmt den Hammer))

Beispiel 24: 01 02 03

E: J: E:

04 05 06 07

J: E:

08

E:

J:

((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 14:55:66215:10:738))

okee du machst ((reicht E den Nagel)) ((nimmt J den Nagel aus der Hand)) is nämlich schwer (.) ( ) den erst (.) ich ich geb dir dann ((nimmt den Hammer))

Auffällig ist, wie sich der Erzieher und der Junge in ihren Intonationsphrasen zueinander in Beziehung setzen, indem sie die Aufgabenverteilung und den Ablauf der Handlung absprechen: „Den ersten Schlag machst du, ja?“ „Den ersten Schlag mach ich.“ (Beispiel 23, Segmente 0203). Ein vergleichbarer Dialog ist in jeder dieser Sequenzen enthalten (vgl. Beispiel 22, Segmente 01-02; Beispiel 24, Segmente 03-04). Die Situation wird in den Interaktionen aber nicht nur vom Erzieher definiert, da auch der Junge durch Äußerungen wie: „Hier bitte, du weißte, ich schlag dann den wieder.“ (Beispiel 22, Segmente 04-05) den Verlauf mitbestimmt, was der Erwachsene sehr respektvoll aufnimmt. Auch wenn die Beteiligten ihr Projekt nicht von Beginn an so benennen können wie in anderen Bastelsituationen, werden durch diese gegenseitigen Absprachen die Eigenschaften ihres „Handlungsprojektes“ in gleicher Weise geklärt wie die Türme einer „Ritterburg“ oder das Dach eines „Hexenhauses“ (vgl. Beispiele 10, 18).

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit

287

Trotz eines sich auch hier andeutenden Autoritätsgefälles begegnen sich die Handelnden „auf Augenhöhe“. Dabei stellt der Junge die Kompetenz und Anleitung des Erziehers nicht in Frage. Er lässt ihn immer wieder bereitwillig eine Handlung vorführen, die er dann selbst vollendet. Gleichzeitig ist er von den Grenzen seiner Fähigkeiten nicht enttäuscht und deutet sie nicht als Versagen. Die Situation ist so für ihn „richtig“. Phasenweise zeigt er sich regelrecht begeistert davon, was er gerade erlebt. Er greift bereits in Richtung des Hammers, während der Erzieher noch arbeitet. Gleichzeitig bewegt er aufgeregt seine Füße unter dem Tisch. Er strebt nach einer Fähigkeit, die er sich in den sich wiederholenden Übungen mit dem Erzieher erarbeitet. Eingeflochten in die Absprachen bekommt er von ihm beiläufig wichtige Hinweise: Beispiel 25: 01 02 03 04 05 06 07 08

E: J: E: J: E: J: E: J:

((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 14:23:27514:34:837)) ((nimmt den Hammer)) erster schlag ist getan (.) jetzt darfst du wieder ((greift am Hammerstiel um)) genau ((hämmert weiter))

Am Anfang „klopft“ der Junge zaghaft mit dem Hammer. Später weiß er seine Kräfte effizienter und geschickter einzusetzen, was sich in diesen beiden Standbildern deutlich zeigt, die jeweils zu Beginn und am Ende des Arbeitsprozesses mit Hammer und Nägeln festgehalten worden sind:

288

Abbildung 13:

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

Lernfortschritte (Gegenüberstellung von Standbildern aus Situation 13_1_1)

In den Ausschnitten werden Abläufe des sozial-kognitiven Beobachtungslernens (vgl. Bussey & Bandura, 1999, S. 686ff.; Kapitel 4.3.5) erkennbar: Der Junge richtet seine Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Handlung eines Modells, das mit einem Hammer einen Nagel einschlägt. Sein Blick ist dabei in allen vier Sequenzen auf die Hände des Erziehers gerichtet. Seine Äußerungen bei der Übergabe des Hammers verweisen darauf, dass sich das beobachtete Handeln in kognitiven Repräsentationen bzw. symbolischen Übertragungen niedergeschlagen hat: „Hier bitte, du weißte, ich schlag dann den wieder.“ (Beispiel 22, Segmente 04-05). Gleiches offenbart die Aussage: „Den ersten Schlag machst du, ja?“ (Beispiel 22, Segment 02). Der Junge weiß, was er tun will und ordnet diese Handlung gedanklich in eine Abfolge ein. Das vorher am Modell beobachtete Handeln wird anschließend von ihm ausgeführt. Er schlägt den Nagel mit dem Hammer ein. Das Gelingen kommentiert der Erzieher mit bestätigenden Ausrufen: „Super!“ (Beispiel 26, Segment 01). Die motivatorische Wirkung solcher beiläufigen Äußerungen kann nicht eindeutig beurteilt werden. Eine genauere Betrachtung der Interaktionen im Anschluss an die praktischen Handlungen des Jungen ist diesbezüglich aber aufschlussreich. Es kommt wiederholt zu einem besonders bemerkenswerten dialogischen Phänomen, das zuerst in vier Standbildern und den dazugehörigen Transkript-Auszügen illustriert wird:

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit

Abbildung 14:

„Ist das fest?“ (Standbild aus Situation 13_1_1)

Beispiel 26: 01 02 03 04 05 06 07

E: J: J: E:

((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 12:43:56212:53:556)) super ((legt den Hammer auf den Tisch)) (- -) so

289

290

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

Abbildung 15:

„Meinst‘e das hält?“ (Standbild aus Situation 13_1_1)

Beispiel 27: 01 02 03 04 05 06 07

E: E: J: E:

((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 13:38:32713:43:335))

SO ((greift nach einem Korken)) ( ) den andren GUTT

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit

Abbildung 16:

„Sieht das gut aus?“ (Standbild aus Situation 13_1_1)

Beispiel 28: 01 02 03 04 05 06

E: J: E: J: E:

((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 15:48:32715:52:143)) [SO ] [legt den Hammer weg] [sieht das gut aus? ] [((nimmt das Objekt aus der Hand von E))] nu KLAR

291

292

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

Abbildung 17:

„Hamm’ wir‘n Dach?“ (Standbild aus Situation 13_1_1)

Beispiel 29: 01 02

E:

03

J:

04 05 06 07

E: J: E: J:

08

E:

09 10

J:

11

E:

((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 18:52:14118:58:591))

SO [((hebt das Bastelobjekt hoch, dreht es um und blickt darauf))] [((greift nach dem Bastelobjekt)) ] hammwern dach? [((übernimmt das Bastelobjekt von E))] [((wendet Blick zu J)) ] [((wiederholt prüfende Gesten und Blicke von E)) ] [] ((wendet sich J zu und blickt ihn an)) ] [((wendet sich von J ab))]

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit 12

J:

13

E:

14

293

[((setzt sich hin)) ] []

Eröffnet werden diese kurzen Sequenzen nach einem betonten Turnübernahme-Signal des Erziehers („So!“) durch eine suggestivrhetorische Frage, die im ersten Ausschnitt vom Jungen, in den folgenden drei Beispielen aber immer vom Erzieher ausgeht: „Sieht das gut aus?“ (Beispiel 28, Segment 03). Darauf folgt eine knappe Antwort: „Nu klar!“ (Beispiel 28, Segment 05), die in den letzten beiden Fällen vom Erzieher wiederholt wird. Im ersten Ausschnitt ist bereits seine Reaktion fast gleichlautend der Frage des Jungen: „Ist das fest?“ „Is‘ fest!“ (Beispiel 26, Segmente 04-06). Die Interaktionszüge folgen fließend aufeinander und werden von z.T. ausladenden Gesten, Blickkontakten und lautmalerischen Äußerungen begleitet, wobei die Überlappungen nonverbaler Handlungen zunehmen. Im letzten Beispiel kommt es nicht nur zu einer verbalen Wiederholung, sondern darüber hinaus zu einer gestischen Nachahmung, als der Junge den prüfenden Blick des Erziehers auf das Bastelobjekt und dessen Handbewegungen wiederholt (vgl. Beispiel 29, Segmente 02-07). Darüber hinaus verlaufen in dieser Sequenz die Bewegungen beider Oberkörper teilweise synchron (vgl. Beispiel 29, Segmente 12-13). Diese Sequenzen werden noch einmal genauer aus der Perspektive der IR-Theorie betrachtet. Erfolgreiche Interaktionsrituale zeichnet eine genaue Abstimmung der Interaktionszüge zwischen den Handelnden aus: „successful talk has no gaps and no overlaps“ (Collins, 2004, S. 68). Sprachrhythmen und Körperbewegungen gleichen sich z.T. bis auf Sekundenbruchteile an, die Körper berühren sich, die Blicke gehen in die gleiche Richtung und es wird regelmäßig Blickkontakt gesucht (vgl. ebd., S. 65ff., 133ff.). Durch dieses gegenseitige rhythmische „Anstoßen“ entsteht, was Collins (ebd., S. 48) als „entrainment“, also „Mitreißen“, bezeichnet. Eine solche Abstimmung zeigt sich in den aufeinander folgenden Äußerungen des Jungen und des Erziehers. Es gibt kaum Überschneidungen der verbalen Intonationsphrasen. Zwischen ihnen treten zwar mehrfach Pausen auf, die länger als 0,2 Sekunden sind, was als ungefähre Untergrenze eines vom Menschen wahrnehmbaren Zeitabschnittes gilt (vgl. ebd., S. 68). Bei Einbezug der nonverbalen Anteile zeigt sich aber, dass exakt an diesen Stellen Blicke oder Gesten in die

294

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

Interaktionen eingeflochten sind. Besonders in den letzten drei Sequenzen nähern sich die Sprachrhythmen des Erziehers und des Jungen an. Die Abstände zwischen den betonten Silben sind fast identisch. Im Beispiel 26 unterlegen die Sprecher in den Segmenten 06 und 07 ihre Aussage jeweils mit einer Geste, die dem Sprachrhythmus angepasst ist. Die Interaktionsrituale zwischen dem Erzieher und dem Jungen entsprechen dem, was Collins (ebd., S. 69) als „high solidarity conversations“ bezeichnet. Zwischen zwei Personen entsteht um das Bastelobjekt in einer rhetorischen Frage-Antwort-Folge intensive Gemeinsamkeit. Die Sequenzen scheinen wie Wechselgesänge oder Motivationszurufe zu funktionieren, in denen sich die Handelnden sich gegenseitig ihrer Identität versichern. Im Sinne des Statusaspektes befinden sie sich im Zentrum dieser Rituale und wirken zudem situativ in ihrer Position gleichwertig, da sie beide abwechselnd die Rolle des Fragenden und des Antwortenden übernehmen (vgl. ebd., S. 115ff.). Damit profitieren sie gleichermaßen von der emotionalen Energie des Rituals. Dieser Zusammenhang wurde bereits bei genauerer Analyse einer anderen Sequenz aus dieser Bastelsituation deutlich (vgl. Beispiel 14). Aus dieser ritualtheoretischen Einschätzung lassen sich Schlussfolgerungen für die motivatorische Wirkung dieses Beobachtungslernens ziehen (vgl. Bussey & Bandura, 1999, S. 686ff.). Es kann davon ausgegangen werden, dass die Teilnehmenden die positiven Erfahrungen aus solchen Interaktionsritualen wiederholen wollen: „The symbols that represent these interactions hold deep connotations of pleasure for group members, and this helps make them sacred objects to defend, as well as reminders of group interactions that members would like to reestablish in future encounters” (Collins, 2004, S. 66). In diesem Zusammenhang sei noch einmal darauf hingewiesen, dass Collins’ (vgl. ebd., S. 50) Ritualbegriff ausdrücklich zwischenmenschliche Alltagsbegegnungen einschließt. Wenn sich funktionierende Interaktionsrituale auf in vorherigen Erfahrungen emotional aufgeladene Symbole beziehen und sich emotionale Energie im Sinne einer „expectation of being able“ (ebd., S. 119) in Bezug auf diese Symbole niederschlägt, kann aus der zitierten Sequenz auf Vergangenes und Zukünftiges geschlossen werden: Der Erzieher und der Junge können sich auf bereits erlebte Interaktionsrituale beziehen, die sie auf die hier empirisch vorliegende Bewältigung dieser Situation vorbereitet

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit

295

haben. Zudem werden sie zukünftig in ähnlichen Begegnungen die Erwartung mit sich tragen, einem solchen Ritual gewachsen zu sein. Solche Selbstwirksamkeitserwartungen haben einen hohen motivatorischen Einfluss auf das Verhalten von Individuen (vgl. Bussey & Bandura, 1999, S. 692; Kapitel 4.3.5). Die intensiven Interaktionsrituale wirken also in doppelter Weise motivierend: Die Teilnehmenden entwickeln ein Interesse, wieder an solchen Ritualen teilzunehmen, weil sie als besonders positive Erfahrungen erinnert werden. Zusätzlich schreiben sie sich die Fähigkeiten zu, den damit verbundenen Herausforderungen gewachsen zu sein. Der weitere Lebensverlauf des Jungen aus der zitierten Situation ist nicht bekannt. Es kann aber angenommen werden, dass er handwerkliche Herausforderungen und diesbezügliche Kooperationen mit anderen nicht nur nicht meiden, sondern auch mögen wird. Auch in einer anderen, bereits mehrfach zitierten Situation ist eine Sequenz enthalten, die als Beispiel für ein Beobachtungslernen gedeutet werden kann. Der erste Transkript-Ausschnitt betrifft das Vorführen einer Handlung durch den Erzieher. Ein Standbild illustriert die beschriebenen Interaktionszüge:

296

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

Abbildung 18:

Beobachtungslernen: Vorführen (Standbild aus Situation 1_2_1)

Beispiel 30: 01 02 03 04

E: J: E:

05

J:

06

E:

07

J:

08 09 10

E: J: E:

11

J:

((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 20:08:68121:14:206)) ((E und J arbeiten parallel)) [ ] [((folgt mit Blick Handlungen von E)) ] [wir wollten doch ] [((folgt mit Blick Handlungen von E)) ] [] [((folgt mit Blick Handlungen von E)) ] [der bergfried ((wendet sich vom angeklebten Korken ab))] [((folgt mit Blick verzögert Handlungen von E)) ] [] [((Blick wechselt zwischen Korken und Handlungen von E)) ]

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit 12 13

E:

14

J:

15 16

E:

17 18 19

J: E:

20 21

J:

22 23 24 25 26 27 28 29 30

E: J: E: J: E: J: E: J: E:

31

J:

297

= [=] [((schneidet aus)) ] ((stellt Zahnstocherdose zur Seite)) [((wendet Blick zur Handlung von E))] ((nimmt ein rotes Stück Filz)) kann ich ma ganz kurz die schere haben (.) einmal? [((nimmt die Schere aus der Hand von J))nur für die fahne] [((folgt mit Blick Handlungen von E)) ] [ okee] [((folgt mit Blick Handlungen von E)) ] [warte ma ich mach jetz hier ((schneidet (6.0) ))] [((folgt mit Blick Handlungen von E)) ] [ ] [((folgt mit Blick Handlungen von E))] [((klebt Fahne mit Heißkleber an Zahnstocher (13.0) ))] [((folgt mit Blick Handlungen von E)) ] [((steckt Fahne auf den Turm der Burg)) ] [

Der Junge verfolgt mit seinen Blicken fast ununterbrochen die Arbeitsgänge des Erziehers. Aufgrund seiner andauernden Aufmerksamkeit enthält die Sequenz auffällig viele Überlappungen (vgl. Segmente 02-11). Ohne Berücksichtigung dieser stummen Interaktionszüge würde sich das Geschehen fälschlicherweise in weiten Teilen als eine „One-Man-Show“ des Erziehers darstellen. Tatsächlich nimmt der Junge aber mit seinen Blicken Anteil an der Handlung. Als der Erzieher ein Stück Filz mit einem Zahnstocher als Fahne auf einem der Türme der „Ritterburg“ befestigt, scheint er seine Bewegungen genau „aufzuzeichnen“ (vgl. Segmente 30-21). Das folgende Standbild verdeutlicht das:

298

Abbildung 19:

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

Beobachtungslernen: Aufmerksamkeit (Standbild aus Situation 1_2_1)

Nach über zehn Sekunden stummer Aufmerksamkeit kommentiert er das Ergebnis schließlich euphorisch mit den Worten: „So, ‘ne wunderschöne Fahne, Herr P.“ (Segment 31). Das Gesehene wird damit vom ihm symbolisch zusammengefasst. Auf die besondere Bedeutung kleinster Zeiteinheiten für Interaktionsrituale ist bereits verwiesen worden. Trotz der im Vergleich dazu enormen „Interaktionspause“ hält der Junge an seiner Aufmerksamkeit fest (vgl. Segmente 28-29). Das ist einerseits dadurch zu erklären, dass diese Phase der Stille mit nonverbalen Interaktionszügen aus Blicken und Handbewegungen angefüllt ist. Zum anderen ist das Symbol der Interaktion – die „Ritterburg“ und insbesondere ihre rote Fahne – im Sinne der IRTheorie mit so viel emotionaler Energie aufgeladen, dass der Junge von der gleichförmigen Handlung gefesselt bleibt. Auf seine hohe Aufmerksamkeit verweist auch sein oben zitierter Diskursmarker nach Abschluss der Handlung (vgl. Segment 31). Er setzt ihn in ähnlicher Weise, wie der

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit

299

Erzieher vorher den Beginn der stillen Interaktionszüge kennzeichnete: „So, bitteschön.“ (Segment 26). Anschließend wendet sich der Junge wieder seinem Teilprojekt zu. Knapp zwei Minuten später greift er das Erlebte aber erneut auf und schlägt vor, die Handlung zu wiederholen: Beispiel 31: 01

J:

((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 23:41:75823:48:132)) wir könn ja noch ne fäh noch n fähnchen bauen ZWEI

Es geht dem Jungen um „noch ein Fähnchen“ (Segment 01). Der Vorschlag bedeutet eine weitere symbolische Wiedergabe des Beobachteten. Gleichzeitig greift er nach dem Material, das der Erzieher vor ihm verwendet hat. Damit leitet er bereits die Umsetzung des Modellverhaltens ein, die er kurze Zeit später auch praktisch beginnt:

Abbildung 20:

Beobachtungslernen: Nachahmen (Standbild aus Situation 1_2_1)

300

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

Beispiel 32: 01

E:

02 03

J:

04

((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 23:51:98724:01:777)) ja (1.0)

Der Junge nimmt ein weiteres Mal Bezug auf seine Erfahrung mit dem Modell: „aber das da vorne“ (Segment 03). Der Erzieher hatte die erste Fahne an ihrer Vorderseite gezackt ausgeschnitten. Bussey und Bandura (1999, S. 687) sprechen von „cognitive rehearsal“. Auch hier scheinen die Mechanismen des Beobachtungslernens zu wirken (vgl. ebd., S. 686ff.; Kapitel 4.3.5). Die entsprechenden Phasen werden auffällig: Der Junge verfolgt mit großer Aufmerksamkeit eine Handlung (vgl. Beispiel 30), wiederholt sie zuerst symbolisch (vgl. Beispiele 30-32), um sie dann selbst auszuführen (vgl. Beispiel 32). Schließlich wird er für seine Handlung gelobt: Beispiel 33: 01

E:

02

J:

03

E:

04

J:

05

E:

06

J:

07

E:

((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 24:40:00424:44:837)) [die kann so bleiben ] [((Blick geht von der Fahne in seiner Hand zu der auf dem Turm))] [] [((Blick geht wieder zurück zur Fahne in der Hand)) ] die muss doch nicht [] [((Blick folgt der Fahne)) ]

Der Erzieher sagt: „Die sieht doch auch toll so aus!“ (Segment 03). Die Überzeugungskraft und die damit verbundene motivatorische Wirkung dieser Rückmeldung können aber in Frage gestellt werden. Der Erzieher handelt gegen Ende der Bastelsituation offensichtlich unter Zeitdruck. Die Blicke des Jungen drücken Zweifel an seinem Gelingen aus (vgl. Segmente 02, 04). Seine Fahne sieht anders aus als die des Erziehers. Allerdings zeigte sich vorher auch hier phasenweise ein enger Austausch um die rote Fahne als stark emotional aufgeladenes Symbol. Wie der Hammer für den anderen

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit

301

Jungen (vgl. Beispiele 22-29) wird dieser Bedeutungsträger in Zukunft seine eigene motivatorische Wirkung entfalten, da er mit gelungenen Interaktionsritualen und mit Selbstwirksamkeitserwartungen verbunden ist (vgl. Collins, 2004, S. 66, bzgn. auf McClelland, 1985). Es kann vermutet werden, dass dieser Junge in seinem Leben noch weitere Fahnen euphorisch malen, ausschneiden oder vielleicht sogar schwenken wird.195 Auch in der ebenfalls bereits mehrfach zitierten Aufnahme mit einer Erzieherin und einem Mädchen ist eine Sequenz enthalten, die als Vorführen und Nachahmen in Bezug auf die Arbeit mit dem Hammer gedeutet werden kann. Ähnlich wie der Junge in den weiter vorn zitierten Ausschnitten (vgl. Beispiele 22-29) versucht das Mädchen, einen Nagel einzuschlagen. Als das nicht gelingt, wendet es sich in der folgenden Sequenz an die Erzieherin: Beispiel 34: 01

M:

02 03 04 05 06 07

E:

08 09 10 11

M: E:

12 13 14 15 16 17

E: M: E:

M: E:

M:

M: E:

((Ausschnitt aus Situation 8_1_2, 15:57:21716:41:612)) nee ((legt Hammer auf den Tisch)) ich schaff das grad [nich mehr so ] [((wendet sich M zu))] soll ich dir ma helfen? (-) warte ich mach dir ma n anfang (.) warte (2.0) n loch haste ja schon [((schlägt den Nagel ein)) ] [((blickt zu M und lächelt))] ((wendet sich wieder dem Teilprojekt zu)) ((betrachtet das Ergebnis)) [] ((kurzer Blick zur Seite von E)) das (.) ding> ((nagelt)) ((seufzt ohne aufzuschauen über ihr Teilprojekt gebeugt))

Wie der Erzieher in der Bastelsituation um das „Vogelhaus“ (vgl. Beispiel 14) macht auch die Erzieherin hier einen „Anfang“ (vgl. Segmente 03-07). Das Mädchen vollendet daraufhin den Arbeitsgang (vgl. Segmente 08-15). In dieser Sequenz die Phasen eines Beobachtungslernens zu erkennen, fällt schwerer als in den Interaktionen mit Erziehern und Jungen (vgl. Bussey & Bandura, 1999, S. 686ff.). Das Handeln der Erzieherin als Modell wird von dem Mädchen zwar anfangs verfolgt, es wendet seine Aufmerksamkeit aber wieder ab und dem Bastelobjekt zu: „Das Haus zittert.“ (Segment 06). Nicht die handwerkliche Tätigkeit, sondern das Objekt und seine „animistische“ Betrachtung scheinen im Fokus seiner Aufmerksamkeit zu liegen. Das beobachtete Tun der Erzieherin wird im Anschluss auch nicht verbalisiert, sodass keine Bewertung des kognitiv-symbolischen Niederschlags möglich ist. Während das Mädchen in der Wiederholung des Gesehenen selbst auffällig sicher hämmert, beobachtet die Erzieherin es mit Abstand, drückt aber mit einem Lächeln ihre Anteilnahme an seinem Handeln aus (vgl. Segment 09). Nach Abschluss des Arbeitsganges ignoriert sie das Geschehen, obwohl das Mädchen zwei Diskursmarker in seine Intonationsphrasen einbaut (vgl. Segmente 16, 21). Die Erzieherin beschäftigt sich weiter mit ihrem Teilprojekt und kommentiert vor allem ihr eigenes Gelingen (vgl. Segmente 17-19). Da der Nagel aber nicht fest hält, muss der Arbeitsgang im Anschluss wiederholt werden: Beispiel 35: 01 02 03 04 05 06 07 08 09

M: E: E: E: M: E: M:

((Ausschnitt aus Situation 8_1_2, 16:41:61217:42:374)) ((dreht mit den Fingern die angenagelte Perle)) ey cool (blickt zur Seite von M)) ((etwas fällt vom Tisch auf den Boden)) na toll ((E und M sehen auf den Fußboden)) ((lacht)) ( )[((hebt den Gegenstand auf))] [doch das geht (.) komm her ] ((beugt sich über das Bastelobjekt und sieht hinein) aber auf der anderen seite ist noch kein loch glaub ich

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit 10 11 12

E: M: E:

13 14 15 16 17 18 19

M: E: M: E:

20 21 22 23

M:

M:

E:

24

M:

25 26 27 28 29 30

E: M: E:

303

nee= =nee:: (3.0) was lange währt wird gut (-) so:: ((steckt den Nagel wieder an das Objekt)) nochma hinlegen genau (1.0) so:: los (.) jetzt hau nochma droff hier (1.0) jetz los (.) ((E hält das Objekt, M schlägt mit dem Hammer schräg auf den Nagel, sodass er wieder abfällt)) huch ((beide lachen 3.0 Sek., M blickt zu E)) ((drückt den Nagel mit dem Finger in das Brettchen)) stell dir vor du bist in der [werkstatt ] [((hebt und senkt kurz den Blick))] so or guck ma das kannste auch reindrücken drück ma (.) mibbn finger (.) drück ma [((drückt den Nagel fest)) ] [ich glob du hast das schon rischtsch gemacht] a:ch (.) fertsch (1.0) ((stellt das Bastelobjekt wieder auf))

Die Erzieherin äußert motivierende Sprechbeiträge, wie: „Los, jetzt hau‘ nochma‘ drauf hier! Jetzt los!“ (Segment 17), oder Lob: „Hervorragend, siehst‘e!“ (Segment 30). Charakteristische, einen gelingenden Handlungszug abschließende Interaktionsrituale wie weiter vorn, in denen sich beide zueinander und zur Handlung in Beziehung setzen und denen eine motivatorische Wirkung zugeschrieben werden könnte, treten jedoch nicht auf (vgl. Beispiele 26-19). Die gemeinsame Tätigkeit mit dem Hammer wird für die Erzieherin und das Mädchen viel weniger zum Mittelpunkt eines verbindenden Rituals des Vorführens und Nachahmens als dort. Sie entwickeln ein paralleles Arbeiten an verschiedenen Teilprojekten, zwischen denen ihre Aufmerksamkeit hin und her geht. Die direkte Zusammenarbeit mit konkreten Anleitungssituationen wirkt wie eine Unterbrechung dieser Grundstruktur. Allerdings ist auch hier nicht auszuschließen, dass diese Unterschiede sich weniger aus dem Interaktionsritual selbst ergeben, sondern durch andere Einflüsse bestimmt sind. So ist das Mädchen etwas älter und geschickter im Umgang mit dem Hammer, was ein paralleles Arbeiten erst möglich macht, während der Junge noch Anleitung braucht.

304

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

In den zitierten Sequenzen des Vorführens und Nachahmens zwischen Fachkräften und Kindern zeigt sich eine praktische Didaktik, die z.T. als sozial-kognitives Beobachtungslernen beschrieben werden kann. Besonders in den Ausschnitten aus der ersten in diesem Abschnitt bearbeiteten Aufnahmesituation deutet sich dabei eine besondere kontextuelle Rahmung an. Für den Erzieher und den Jungen wird die handwerkliche Zusammenarbeit zu ihrem „Bastelobjekt“, das sie genauso gestalten, wie es die Handelnden mit der „Ritterburg“ und dem „Hexenhaus“ tun. Während die Erwachsenen und die Kinder in diesen Situationen aber wiederholt auf eine gemeinsame Sinnstruktur Bezug nehmen (vgl. Kapitel 8.4.3), bewegen sich der Erzieher und der Junge sicher durch ihr „Projekt“, ohne umfangreiche Explikationen in ihre Handlungen integrieren zu müssen. Geteilte Strukturmuster – wie die beschriebenen motivierenden Interaktionsrituale – stehen ihnen wie selbstverständlich zur Verfügung. Manche Sequenzen können als implizite indexikalische Verweise auf das gemeinsame Vorhaben interpretiert werden, das hier kein materielles Objekt, sondern eine Form der Beziehung ist. 8.4.5

Herausfordern, Motivieren und Helfen

In den Bastelsituationen sind Sequenzen enthalten, in denen die Fachkräfte die Kinder bei der Ausführung eines Arbeitsschrittes unterstützen, der sie allein noch überfordert. Neben dem didaktischen Aspekt enthalten solche Interaktionen insbesondere motivatorische Äußerungen. Im Folgenden werden diesbezüglich zwei Sequenzen genauer betrachtet, die sich in Aufbau und Inhalt ähneln. Die Kinder sind bereits im Vorschulalter und sollen in beiden Fällen mit der Zange etwas abkneifen. Das erste Beispiel stammt aus der Aufnahme mit einem Erzieher und einem Jungen, in der eine „Ritterburg“ entstand: Beispiel 36: 01 02 03 04 05

E: J: E: J:

((Ausschnitt aus Situation 1_2_1, 07:47:24708:17:210)) ((hält eine mit Draht umwickelte Papprolle in der Hand)) ((seitlich zugewandt, Blick auf Hände von E)) = =

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit 06

E:

07

J:

08 09 10 11 12 13

E: J: E: J: E: J:

14 15

E:

16

J:

17 18 19 20 21 22 23 24

E: J: E: J: E:

25

J:

26 27 28 29 30 31 32

E: J:

J: E:

E: J: E:

305

[((greift nach Zange))] [willste ma versuchen?] [((nimmt Zange)) ] [((nimmt Papprolle, wendet sich zu J))] [((wendet sich zu E, setzt Zange an) ] pass auf ( ) so und jetz so doll wie de kannst = nee das war richtich [so doll wie de kannst zusamm ] [((zieht Schultern nach oben, Anstrengungsmimik))] (.) hat geklappt = =((öffnet Zange)) [so: ] [((hebt Blick, richtet sich auf und klappt Zange zusammen))] ((biegt Draht an Papprolle)) [auch> ] [((beugt sich vor, stellt Rolle ab)) ] = =[der erste turm] [jetz hamm_wer ]

Zu Beginn deutet der Erzieher eine Kooperation bei der Ausführung des Arbeitsschrittes an: „Jetzt knipsen wir das hier einfach ab.“ (Segmente 02, 04). Im Widerspruch dazu beginnt er selbst, die Handlung auszuführen. Sein „wir“ ist rhetorischer Natur, wie in der sogenannten „Krankenschwesternsprache“. Nachdem der Junge stumm an der Interaktion teilnimmt, dabei mit seinen Blicken die Handlungen des Erziehers allerdings genau verfolgt, reagiert er mit einer Wortwiederholung, deren Sinn unklar bleibt (vgl. Segmente 04-05). Möglicherweise erinnert er damit den Erzieher unbewusst an seine Anwesenheit und an sein Interesse an der Situation. Nachdem dieser den Jungen bisher ignoriert und bereits die Zange angesetzt hat, lädt er ihn nun deutlich ein mitzuwirken (vgl. Segmente

306

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

06, 08). Im Anschluss wird die Handlung gemeinsam durchgeführt. Beide befinden sich in gespiegelten Körperhaltungen einander gegenüber. Die Zusammenarbeit erfordert Abstimmung, da dem Jungen die Funktionalität der „Kombinationszange“, die an einer bestimmten Stelle eine Schneide zum Durchkneifen von Drähten hat, offensichtlich nicht bekannt ist (vgl. Segmente 11-14). Auffällig sind die ausgeprägt motivatorischen Sprechbeiträge des Erziehers: „Pass auf! So, und jetzt so toll wie du kannst!“ […] „So toll wie du kannst zusammen!“ […] „Drücken, drücken, drücken, drücken!“ (Segmente 12, 15, 19). Währenddessen zeigt das Gesicht des Jungen eine Mimik, die auf Anstrengung deutet. Er zieht die Schultern nach oben, also würde er die Muskulatur anspannen (vgl. Segment 20). Der Erzieher kommentiert das Gelingen auffällig mit einem kehligen und langgezogenen „Ja!“ (Segment 21). Sein nächster Sprechbeitrag lässt einen „Befehlston“ anklingen: „Auf, die Zange!“ (Segment 22). Der Junge öffnet daraufhin sofort die Zange (vgl. Segment 23). Anschließend versucht er, den Diskurs über deren Funktionalität noch einmal aufzugreifen, mit dessen bisheriger Lösung er offensichtlich nicht zufrieden ist. Seiner Meinung nach hätte es auch so funktioniert, wie er es tun wollte. Obwohl er seinen Sprechbeitrag mit einer deutlichen körperlichen Annäherung an den Erzieher verbindet und ihn dabei auch berührt, wird er von ihm ignoriert (vgl. Segmente 27-29). Letzterer setzt stattdessen im anschließenden Interaktionszug inhaltlich an seinen Diskursmarker aus dem Segment 24 an (vgl. Segment 30). Mit dem Verweis auf den „ersten Turm“ beenden beide die Sequenz, was vom Erzieher mit einer Geste der rechten Hand unterstrichen wird (vgl. Segmente 31-32; Abbildung 21). Während der Interaktionszüge kommt es zu keinem Blickkontakt. Der Sequenz wohnt zu Beginn eine gewisse Komik inne, da der Junge mit seiner kurzen wortwiederholenden Vokalisation in Segment 05 sicher unbewusst den rhetorischen Plural des Erziehers persifliert, indem er damit deutlich macht, dass tatsächlich mehrere Personen anwesend und an der Handlung beteiligt sind. Der Erzieher bleibt aber auf das Objekt fokussiert. Das Kind neben sich nimmt er kaum wahr. Offensichtlich steht er unter Zeit- oder Prüfungsdruck, den er aber weniger auf eine ko-konstruktive Pädagogik, sondern vor allem auf das entstehende Bastelobjekt bezieht. Darauf deuten auch seine große Hektik und der Imperativ in manchen Hinweisen, die diesen und andere Ausschnitte aus der Aufnahme prägen.

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit

307

Trotz der Ignoranz zeigt sich der Junge, wie es bereits in anderen Sequenzen sichtbar wurde, interessiert am Objekt und am Handlungsprozess. In seinen Sprechbeiträgen offenbart sich ein Bedürfnis nach Austausch mit dem Erzieher und Anerkennung durch ihn (vgl. Beispiele 17-19). Die besonders motivatorischen Interaktionszüge können verschieden interpretiert werden. Mit seinen Ausrufen und der abschließenden Markierung des Gelingens betont der Erzieher die Leistung des Jungen (vgl. Segmente 19, 21). Seine Freude erinnert dabei an die gepressten Ausdrücke von Begeisterung, wenn bei Sportübertragungen zu Hause vor dem Fernseher „gejubelt“ wird. Es kann schwerlich geklärt werden, ob das Abschneiden von zwei Strängen Basteldraht einer besonderen Kraftanstrengung bedarf. Bei der Herstellung des nächsten Turms eine knappe Minute später verzichtet der Erzieher allerdings auf eine Wiederholung des Angebotes und gibt die Zange nicht aus der Hand, während der Junge es auch nicht einfordert. Daraus kann geschlossen werden, dass das Abkneifen des Drahtes tatsächlich eine Herausforderung darstellt. Möglicherweise inszeniert aber vor allem der Erzieher zumindest zu einem gewissen Anteil die Verrichtung von „Schwerstarbeit“. Der klare gemeinsame Fokus auf das Bastelobjekt und das gegenseitige rhythmische Anstoßen durch die motivatorischen Ausrufe des Erziehers und ihre „Beantwortung“ durch die Anstrengungsgesten und -mimiken des Jungen verweisen auf ein funktionales Interaktionsritual, das sich auf den Turm als zentrales Symbol bezieht (vgl. Collins, 2004, S. 47ff., 65ff.). Daher ist es nicht verwunderlich, dass beide in den abschließenden Interaktionszügen der Sequenz dieses Objekt noch einmal ins Zentrum eines vermutlich verbindenden Mikrorituals setzen. Sie wenden ihre Blicke parallel auf die Papprolle. Anschließend machen sie sich gegenseitig verbal auf diesen geteilten Fokus aufmerksam. Das Wort „Turm“ wird wiederholt (vgl. Segmente 28-32). Die Interaktion enthält in ähnlicher Weise wie bereits weiter vorn in Bezug auf andere Sequenzen beschrieben eine Aufeinanderbezugnahme der Beteiligten in Verbindung mit einem Verweis auf die Handlung: „Der erste Turm.“ „Jetzt haben wir einen Turm.“ (Segmente 30-32; vgl. Beispiele 26-29). Ein Standbild aus dieser Sequenz illustriert das Phänomen eindrücklich:

308

Abbildung 21:

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

„Der erste Turm“ (Standbild aus Situation 1_2_1)

Im Folgenden wird eine Sequenz aus einer Aufnahme mit einem Erzieher und einem Mädchen betrachtet. Trotz der ähnlichen Konstellation gibt es grundlegende Abweichungen. Während der Junge steht, sitzt das Mädchen neben dem Erzieher. Außerdem agieren beide in einer ausgeprägt parallelen Struktur. Die besteht zwar auch zwischen dem Jungen und dem Erzieher. Die Arbeit am gemeinsamen Objekt führt sie aber regelmäßig wieder zusammen. Im Gegensatz dazu realisieren die Handelnden hier zwei zwar ähnliche, aber unabhängige Teilprojekte, nämlich jeweils eine Figur von sich selbst. Im folgenden Ausschnitt werden die „Beine“ der Figur des Mädchens hergestellt. Der Erzieher hat dafür kurz vorher Zahnstocher in einen Korken gesteckt und dabei seine Anstrengung gestisch und mit Lautäußerungen unterstrichen. Das Mädchen, das seiner Handlung genau zugesehen hat, möchte nun die „Beine“ kürzen:

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit

309

Beispiel 37: 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32

M: E:

33

M:

34 35

E:

M: E: M: E: M: E: M: E: M: E: M: E: M: E: M: E: M: E: M: E: M: E: M: E:

((Ausschnitt aus Situation 4_1_1, 11:43:54112:26:669)) und noch abschneiden mit der zange [ ] [((wendet sich zu E, greift nach Zange))] ((nimmt Zange)) ((beugt sich über das Bastelobjekt)) ((richtet sich auf, Blick auf Hände von M)) hier unten? (.) genau das is hier da genau [((setzt Zange an)) ] [( ) bissl abkneifen] oahr [(unverständlich) ] [greift nach Objekt] [( ) so jetz hier richtich kräftich> ] [((legt linke Hand auch an die Zange))] ((drückt Zange zusammen, hebt Schultern)) ((knipsendes Geräusch)) wunderbar ((setzt Zange erneut an)) moment (1.0) ( )kee ((drückt))((knipsendes Geräusch)) [ ] [((richtet sich auf, linke Hand greift nach Objekt))] [((beugt sich wieder über das Objekt))] [((rechte Hand legt Zange auf Tisch)) ] ((drückt etwas fest)) [ ((wendet sich ab))] [((nimmt Bastelobjekt)) ] [((legt Zange zur Seite)) ] [((nimmt Strohhalm))(unverständlich)] [((greift nach Tüte mit Unterlegscheiben, wendet Blick zur Seite))] [((hält Strohhalm an Bastelobjekt)) ] ((beugt sich vor, greift nach Bastelobjekt vor sich)) so: ((beugt sich noch weiter nach vorn))

Nachdem das Mädchen zuerst zur Schere greift, wird ihm vom Erzieher die Zange angeboten (vgl. Segmente 01-02). Er erklärt die Funktionalität des Werkzeuges mit Worten und Gesten, worauf es sich noch einmal rückversichert und eine bestätigende Antwort erhält (vgl. Segmente 03-12). Das Mädchen versucht, die Handlung durchzuführen. Seine Lautäußerung deutet auf Anstrengung. Anschließend scheint es, den Erzieher um Hilfe zu bitten. Der Sprechbeitrag ist allerdings unverständlich, wird von ihm aber so interpretiert (vgl. Segmente 13-14). Er übernimmt das Bastelobjekt, damit

310

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

das Mädchen beide Hände an die Zange legen kann und motiviert es: „So, jetzt hier richtig kräftig!“ (Segment 15). Als das Mädchen die Zange zusammendrückt, zieht es wie der Junge in der vorherigen Sequenz die Schultern hoch, was auf Muskelanspannung deutet. Der Erzieher kommentiert das Gelingen: „Wunderbar!“ (vgl. Segmente 17-19). Anschließend wird der Vorgang in gleicher Weise wiederholt. Der Erzieher hält das Objekt und das Mädchen bedient das Werkzeug. Dabei äußert er sich kaum noch motivatorisch, sondern sagt nur zweimal relativ tonlos: „Okay.“ (vgl. Segmente 20-23). Nach Abschluss der Handlung wird das Werkzeug von dem Mädchen abgelegt und anschließend vom Erzieher noch weiter am Rand des Tisches positioniert (vgl. Segmente 26, 30). Beide wenden sich wieder voneinander ab und richten ihre Blicke auf die jeweiligen Objekte direkt vor sich. Der Erzieher beendet die Sequenz mit einem Diskursmarker (vgl. Segment 35). Auch in diesem Ausschnitt ist kein Blickkontakt enthalten. Anders als in der vorherigen Sequenz ergeben sich keine gespiegelten Körperhaltungen. Die Handelnden übernehmen die körperliche Haltung der parallelen Struktur in die Phase der direkten Kooperation. Der Erzieher beginnt und beendet den Arbeitsgang mit einer Handbewegung zu seinem Objekt, was als nonverbaler Diskursmarker in Bezug auf die Struktur der Handlung interpretiert werden kann. Die Abfolgen von Standbildern, die jeweils von Anfang und Ende der beiden Sequenzen sowie der dazwischenliegenden Zusammenarbeit stammen, dokumentieren die unterschiedlichen Grundhaltungen:

Abbildung 22:

Gespiegelte Haltungen (Abfolge von Standbildern aus Situation 1_2_1)

8.4 Formen intensiver Zusammenarbeit

Abbildung 23:

311

Parallele Grundstruktur (Abfolge von Standbildern aus Situation 4_1_1)

Während die vorherige Sequenz von Hektik und Lautstärke geprägt war, verläuft die Zusammenarbeit hier leiser und ohne Aufregung. Der Erzieher unterstützt das Mädchen einfühlsam und zurückhaltend bei seinem Vorhaben. Er erklärt die Funktionalität des Werkzeuges, lässt es die Zange erproben und leistet erst Unterstützung, als er explizit dazu aufgefordert wird. Nach Abschluss der Handlung wendet er sich wieder ab. Das Mädchen legt das Werkzeug zur Seite und arbeitet weiter, während es dabei leise vor sich hin spricht. Mit den wortarmen Interaktionen ist es zufrieden. Anders als der Junge macht das Mädchen keine weiteren Versuche, die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich zu ziehen. Das Werkzeug ist ausreichend besprochen und nach seiner Benutzung uninteressant. Der Junge hat allerdings auch kein eigenes Bastelobjekt, dem er sich zuwenden könnte. Die motivatorischen Anteile des Erziehers sind unauffälliger als im ersten Beispiel. Es genügt „richtig kräftig“ zu drücken (vgl. Segment 15). Es ist möglich, dass die Handlung einfacher ist als beim Trennen des Drahtes und er daher weniger Notwendigkeit zu Motivation sieht. Die Haltung des Mädchens verweist allerdings auf eine Herausforderung (vgl. Segment 17). Denkbar ist aber auch, dass sie mit ihrer Anstrengungspose das Verhalten des Erwachsenen nachahmt. Kurz vor der zitierten Sequenz begleitet der Erzieher seine eigene Handlung mit einem deutlichen „Anstrengungsgeräusch“. Das Mädchen nimmt mit der Zange nur eine halbe Minute später eine ähnliche Körperhaltung ein wie er und begleitet ihren ersten Versuch auch lautmalerisch. Auch diese Interaktionszüge enthalten ein gegenseitiges rhythmisches Anstoßen in einem Interaktionsritual (vgl. Segmente 11-19). Die gemeinsame Handlung wird hier aber nicht hervorgehoben. Die lauteste Äußerung ist der abschließende

312

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

Sprechbeitrag des Erziehers (vgl. Segment 35).196 Er beendet die Sequenz allein. Es kommt zu keiner Aufeinanderbezugnahme und zu keinem geteilten Fokus der Aufmerksamkeit wie am Ende des vorherigen Beispiels. Motivatorische und herausfordernde Handlungen sind funktionale Interaktionsrituale, denen der Rhythmus von Anzeige und Bestätigung auf natürliche Weise innewohnt (vgl. Collins, 2004, S. 65ff.). Sie bieten eine besondere Inspiration zur Herstellung von Gemeinschaft und zur gemeinsamen Inszenierung von Anstrengung. Die beiden zitierten Sequenzen unterscheiden sich allerdings deutlich. Während im ersten Ausschnitt die gemeinsame Handlung zu einem dramaturgischen Höhepunkt wird, ist sie im zweiten Beispiel nur eine kurze, unaufgeregte Unterbrechung der parallelen Grundstruktur. Besonders auffällig sind die unterschiedlichen Körperhaltungen der beteiligten Personen zueinander. Nach der Analyse der Kooperation zwischen den Kindern und den Erwachsenen in den vorangegangenen Abschnitten werden in den nächsten Kapiteln weitere auffällige Phänomene aus der Ablauflogik der Bastelsituationen beschrieben. 8.5

Bilder, Geschichten und Assoziationen

Die Fachkräfte und die Kinder begleiteten ihre Zusammenarbeit mit kurzen narrativen Einschüben. In diesen Interaktionszügen verwiesen die Handelnden auf Kontexte, die nicht in direktem Zusammenhang zur Bastelsituation standen oder vorliegende Aspekte erweiterten. Solche Phänomene haben sich bereits mehrfach in den bisher betrachteten Ausschnitten aus dem Datenmaterial angedeutet. So erinnert sich ein Junge an einen Ausflug: „Ich war einmal mit I. einkaufen, bei REWE.“ (Beispiel 3, Segmente 01-04). Ein anderer spricht ausführlich über den Aufbau von Ritterburgen – ein Wissen, das er von seinem Vater erworben hat: „Aber wir müssen auch noch ‘nen ganz großen Turm bauen, nämlich den Bergfried, […] der höchste Turm von der Ritterburg. Das hab ich von Papa.“ (Beispiel 18, Segmente 02-06). Ein Mädchen untermalt die Bastelsituation auf besondere Weise gemeinsam 196

Durch die Visualisierung der Audiodaten in der Software ATLAS.ti können die einzelnen Interaktionszüge in Bezug auf zeitliche und akustische Merkmale sehr genau analysiert werden (vgl. http://atlasti.com/wp-content/uploads/2014/05/QuickTour_a7_de.pdf).

8.5 Bilder, Geschichten und Assoziationen

313

mit seiner Erzieherin durch Verweise auf ein Märchen (vgl. Beispiele 11, 21). In diesem Abschnitt werden interaktionstheoretisch auffällige Beispiele solcher Phänomene aus dem Datenmaterial zusammengefasst und analysiert. Dabei sind die Sequenzen von besonderer Bedeutung, in denen narrative Bezüge vom Gegenüber aufgegriffen und gemeinsam mit ihm weiterentwickelt werden. Kinder und Erwachsene beziehen sowohl die Materialien als auch die hergestellten Objekte mehrfach auf Filme, die sie aus dem Kino oder Fernsehen kennen. Exemplarisch ist die folgende, mimisch und gestisch sehr dichte Sequenz zwischen einem Erzieher und einem Jungen während der Auseinandersetzung mit dem Kofferinhalt am Anfang der Bastelsituation: Beispiel 38: 01

E:

02

J:

03 04 05 06 07 08 09

E: J: E: J:

10

E:

11 12 13

J: E: J:

E: J:

14 15 16 17 18 19 20 21 22

E: J: E: J: E:

((Ausschnitt aus Situation 13_1_1, 06:02:22406:26:690)) [((hält zwei Unterlegscheiben wie eine Brille vor seine Augen))] [((blickt zu E, schmunzelt hörbar)) ] [was sind das? ] [((greift nach Unterlegscheiben in den Händen von E))] ((wendet Blick zu J)) ((hält Scheiben vor seine Augen mit Blick zu E)) reifen [] [((wendet sich ab und nickt)) ] = =denkst_e dass das reifen sinn?= =da hat da hat_n bei den kwieto da hat da waren reifen ((blinzelt zweimal)) also ((wendet Blick zu E)) so ((wendet Blick zu J)) ((wendet Blick durch die Scheiben zu E)) ((wendet Blick zu J)) [so durch ] [((legt Koffer unter Tisch, schmunzelt, nickt))]

314

8 Ethnographische Collage I – Ablauflogik

23 24

J:

25 26

E: J:

[so und wir können jetzt überlegen h. was mach_mer mit den ganzen tollen sachen] [((senkt Hände mit den Scheiben)) ] [die wir hier haben ] [((legt Scheiben auf den Tisch))]

Der Erzieher bietet die scherzhafte Deutung des Materials als Brille an (vgl. Segment 01). Den Jungen erinnern die Unterlegscheiben aber an eine Szene aus dem Animationsfilm „Lightning McQueen“197, in der eine der Hauptfiguren offensichtlich ähnlich große, runde Augen hat (vgl. Segmente 06-17). Die Vergewisserung des Erziehers im Segment 12 verweist allerdings darauf, dass seine vorherige Frage im Segment 03 neben der damit verbundenen, gestischen „Brillen-Parodie“ einen didaktischen Hintergrund hatte und er vermutlich auf die richtige Antwort „Unterlegscheiben“ hoffte. Der Junge interpretiert seinen einladenden Interaktionszug aber in eine ganz andere Richtung, nämlich in Bezug auf den Film, der ihn offensichtlich begeistert hat. Seine Ausführungen empfinden beide zwar amüsant, worauf ihre Blickkontakte und ihr Schmunzeln deuten (vgl. Segmente 20-22). Der Erzieher unternimmt aber anschließend eine ausführliche Erklärung und verweist auf den Zweck der Situation sowie des zur Verfügung gestellten Materials, um den narrativen Ausflug des Jungen zu beenden (vgl. Segmente 23, 25; Abels, 2010, S. 135). Die Handelnden können diesen Kontext des Filmerlebnisses nicht teilen, folgerichtig ergibt sich aus ihm auch kein gemeinsames Bastelprojekt. Im folgenden Beispiel tauschen sich eine Erzieherin und ein Junge über eine Folge der Serie „Yakari“198 aus. Während der Interaktion sind beide mit parallelen Teilprojekten beschäftigt. Sie gestaltet die Figur eines „Indianers“. Er bemalt eine Papprolle, die Teil eines „Wigwams“199 werden soll. In der zitierten Sequenz entwickelt sich im Vergleich zu den meisten anderen

197

„Lightning McQueen“ ist ein Animationsfilm aus dem Jahr 2006, in dem Autos als lebende Wesen dargestellt werden (vgl. Lasseter et al., 2006). 198 „Yakari“ ist eine im Vorschulalter beliebte französische Trickfilmserie über einen „Indianer“-Jungen (vgl. http://www.youtube.com/watch?v=LFxwWwgwv1c). 199 Der Begriff „Wigwam“ wird fälschlich verallgemeinernd für alle Formen von Behausungen sogenannter „Indianer“ verwendet. Ursprünglich handelt es sich dabei aber um die Unterkünfte der Algonkin in Form einer Kuppelhütte (vgl. van der Heyden, 2008, S. 369).

8.5 Bilder, Geschichten und Assoziationen

315

Aufnahmen ein besonders ausführlicher Austausch. Inspiration ist dabei die Farbe der Haare einer gebastelten „Indianer“-Figur: Beispiel 39: 01 02 03 04

E: J: E:

05

J:

06 07 08

E: J:

09

E:

10 11 12 13

J: E: J: E:

14

J:

15 16 17 18 19

J: E: J: E:

20 21

J: E:

22 23

J: E:

24 25 26

J: E: J:

27

E:

28 29 30 31 32

J: E: J: E: J:

((Ausschnitt aus Situation 20_1_2, 4:32:4496:04:038)) [((bestreicht eine Wattekugel mit Heißkleber))] [((bemalt eine Papprolle mit Filzstift)) ] ((legt Klebepistole weg, nimmt Märchenwolle)) welche haarfarbe [sollt_n der indianer haben? ] [((blickt auf Material in Händen von E))] rot (4.0) rot ist immer die

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