Die Gegenwart anders denken

In diesem Buch befasst sich Arturo Romero Contreras mit der Frage, wie Philosophie nach ihrem proklamierten Ende möglich ist. Dabei geht der Autor im ersten Teil von der Phänomenologie Husserls und ihrer Rezeption bei Fink, Heidegger und Derrida aus und stellt sich die Aufgabe, Kontext und Begründung der Behauptung, die Philosophie habe ihr Ende erreicht, ans Licht zu bringen. Im zweiten Teil wird gezeigt, dass die Vertreter des Endes der Philosophie in der Tat auf eine andere „Logik“ und „Mathematik“ hinweisen. Die Paradoxie ist ein logischer Begriff, der nur unter gewissen Bedingungen sinnvoll ist. Was sind aber die philosophischen Folgen und der daraus resultierende Denkraum, wenn man neue mathematische Gedanken und nicht-klassische Logiken akzeptiert?


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Arturo Romero Contreras

Die Gegenwart anders denken Zeit, Raum und Logik nach dem Ende der Philosophie

Die Gegenwart anders denken

Arturo Romero Contreras

Die Gegenwart anders denken Zeit, Raum und Logik nach dem Ende der Philosophie

Arturo Romero Contreras Benemérita Universidad Autónoma de Puebla Puebla, Mexiko Dissertation Freie Universität Berlin, 2015 Mit Unterstützung des DAAD

ISBN 978-3-476-04819-6 ISBN 978-3-476-04820-2  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-04820-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J.B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Für Salvador, Elba und Sabina. Meine Lehrer von

Lukas: die anders seiende Gegenwart

Danksagung Ich bedanke mich bei Dr. Hans Feger und Dr. Andreas Arndt für die ständige und großzügige Unterstützung in allen Phasen dieser Arbeit. Ein großes Dankeschön an Hyeyoung Kim, für ihre Freundschaft. Ein Dankeschön an Evelyn Meer für die Korrektur und Gema Castillo für die Hilfe mit der Gestaltung der Arbeit.

ix

Inhaltsverzeichnis I

Erster Teil: Die These des Endes der Philosophie: historisch-philosophische Darstellung

1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 2

Umriss der vorliegenden Untersuchung ____________________________________ 15 Das Ende der Philosophie als Leitfaden für eine Frage nach dem Denken nach der Philosophie: die Herrschaft der Aporie _____________________________________ 23 Aporien über Aporien: Was soll man mit ihnen tun? ____________________________ 24 Das Ende der Philosophie als Ende der Phänomenologie ________________________ 26 Das Denken (an) der Grenze ______________________________________________ 29 Öffnung und Geschlossenheit______________________________________________ 37 Das Reale _____________________________________________________________ 40 Hypothesen der Arbeit ___________________________________________________ 59

Das Ende der Philosophie als Ausgangspunkt der hier betrachteten Problematik ____ 63 Eine Epoche von Enden __________________________________________________ 64 Begrenzung der Epoche des Endes__________________________________________ 69 Einführende Merkmale des Denkens des Endes________________________________ 73 Aporien _______________________________________________________________ 84 2.4.1 Hegel als Vorläufer des aporetischen Denkens _______________________________ 86 2.5 Drei dem Denken des Endes und dem deutschen Idealismus gemeinsame Themen ____ 93 2.6 Das Ende der Philosophie im Kontext ______________________________________ 107 2.1 2.2 2.3 2.4

3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 4

Das Ende der Philosophie und die Phänomenologie als sein konkreter Ausgang ____ 111 Das Ende der Philosophie und der Anfang der Zeit ____________________________ 111 Die Reduktion der Philosophie ____________________________________________ 115 Reduktion und psychoanalytische Deutung __________________________________ 119 Die Reduktion und das Nichts ____________________________________________ 120 Die philosophische Wissenschaft und der Tod________________________________ 123 Verfall und Heilung ____________________________________________________ 124 Die paradoxe Rezeption der Philosophie ____________________________________ 129 Die Phänomenologie, die Lebensphilosophie und das Ende der Philosophie ________ 130

Husserls „Weg in die différance“ am Leitfaden der Philosophie: Die Phänomenologie als Ausgangspunkt der Dekonstruktion __________________ 135 4.1 Différance: seule une phénoménologie peut le dire ____________________________ 136 4.2 Die Problematik des Ursprungs: Was will die Phänomenologie eigentlich? _________ 137 4.3 Die Genese des Problems der Genese ______________________________________ 139 4.4 Die entscheidenden Phasen der Phänomenologie mit Hinblick auf Derrida _________ 142 4.5 Die Gewinnung der Grundbegriffe der transzendentalen Phänomenologie __________ 144 4.5.1 Wer zählt? Transzendentale und psychologische Untersuchungen zur Zahl und anderen ideellen Objekten ___________________________________________ 145 4.5.2 Die Intentionalität als Erfüllung: Alle (leeren) Meinungen streben von Natur aus nach Wissen ________________________________________________________ 148 4.5.3 Was ist so verkehrt am Historizismus und am Psychologismus?: Die Phänomenologie gegen den Skeptizismus ______________________________ 155 4.5.4 Sprache und Intentionalität: Was meinen die Worte? ________________________ 158 4.5.5 Die Achsen der Phänomenologie: Intentionalität und Reduktion ______________ 160

x

Inhaltsverzeichnis 4.6 4.6.1 4.6.2 4.6.3 4.7 4.7.1 4.7.2 4.7.3 4.7.4 4.7.5

5

Die Zeitproblematik in der Phänomenologie oder die Paradoxien einer anonymen, vorsubjektiven und vorobjektiven Selbstkonstitution ___________________________ 166 Si nemo a me quaerat, scio, si quaerenti explicare velim, nescio _______________ 166 Exkurs: Augustinus, die Zeitproblematik und die Phänomenologie ____________ 168 Auf der Jagd nach der Zeit: Diagramme auf den Spuren der Verflechtung der Zeit _______________________________________________________________ 170 Die Intersubjektivität in der Phänomenologie oder die Paradoxien eines absolut setzenden/in-einer-Vielheit-gesetzten Subjekts ______________________________ 209 Der schwerwiegende Einwand des Anderen ________________________________ 210 Exkurs: Der Philosoph désoeuvré und die unmögliche Gemeinschaft __________ 212 Wer darf „wir“ sagen? ___________________________________________________ 219 Die Vorgeschichte des Ich _______________________________________________ 228 Die nicht-gleichzeitige Gleichzeitigkeit der Ichs ____________________________ 235

Die Selbstkritik der Phänomenologie _____________________________________ 241 Die Krisis der Phänomenologie und eine letzte Meditation: Das Nichts als ergebnis der radikalsten möglichen Reduktion und der daraus entstehende paradoxe Charakter der Philosophie bei Eugen Fink __________________________________________ 241 5.1.1 Kritik und Dialektik der reinen Phänomenologie ____________________________ 245 5.1.2 Die unendliche Befangenheit, ihre unendliche Reduktion und die unvermeidliche Ontifikation _____________________________________________ 253 5.1.3 Ontifikation und Begriff (Mathematik, Logik und Grammatik) ________________ 260 5.1.4 Die aufhebende Sprache der Philosophie: Fink und Hegel ____________________ 263 5.1.5 Die Phänomenologie als transzendentaler Idealismus ________________________ 270 5.1.6 Das Leben lebt (das) Nicht(s): Leben, Logik und Natur ______________________ 272 5.1.7 Exkurs: Phänomenologie und Idealismus. Grund, Dialektik und Entfremdung __ 285 5.1.7.1 Entfremdung _________________________________________________ 297 5.2 Neue Wege in/aus der Phänomenologie: Materialismus der Lebenswelt und Paradoxien des Fleisches ________________________________________________ 300 5.2.1 Die Lebenswelt und das real-historische Leben _____________________________ 301 5.2.2 Der Chiasmus, die chair oder jenes paradoxe X _____________________________ 304 5.1

6

Coda: Das Ende der Phänomenologie oder die Ontologisierung der Phänomenologie _____________________________________________________ 317 6.1 Was bedeutet Ende im Hinblick auf die Philosophie? __________________________ 317 6.2 Die Destruktion der Philosophie und eine neue Prima Philosophia ________________ 325 6.3 Eine Aufgabe des Denkens jenseits der Welt? ________________________________ 334 6.4 Heidegger und der Idealismus ____________________________________________ 341 6.4.1 Die Philosophie im Selbstgespräch: das Absolute ___________________________ 342 6.5 Das Gespenst des Subjekts: Zeit und Raum __________________________________ 347 6.6 Die Philosophie, die ihr Anderes (nicht) hört _________________________________ 355 6.6.1 Der Spruch Anaximanders und die Befangenheit des Apeiron oder die Ur-Tragödie ___________________________________________________________ 356

7 7.1 7.2 7.3 7.4

Die Dekonstruktion zur (Ohn)macht _____________________________________ 365 Derridas doppelte Forderung: Das Wiedererlangen und den Verlust der Gegenwart gleichzeitig zu denken _________________________________________________ 365 Die différance: Das Prinzip aller Prinzipien, das kein Prinzip mehr ist Zwischen Phänomenologie und Linguistik __________________________________________ 370 Die Schrift als Aporie: Das Supplement in De la Grammatologie _________________ 377 Ce que la déconstruction n’est pas ? mais tout ! Qu’est-ce que la déconstruction ? mais rien! _______________________________________________________________ 381

Inhaltsverzeichnis 7.5 7.6

Die Dekonstruktion und die différance als Spur und Postservice _________________ Perspektiven eines kommenden Denkens: Psychoanalyse und Politik vor dem Hintergrund der Krise des Abendlandes _____________________________________ 7.7 Gerechtigkeit, Gegenwart und der Andere ___________________________________ 7.8 Was tun (mit den Paradoxien)? ___________________________________________ 7.9 Aporien der Kantischen Vernunft in Bezug auf Derrida: Serien, Unendlichkeit und différance ____________________________________________________________ 7.9.1 Exkurs: Derrida und die indische Logik ____________________________________ 7.10 Schluss des ersten Teils: Die Falte oder Paradoxien zweiter Ordnung ____________

II 8 8.1 8.2 8.3

9

xi 386 390 398 406 414 426

428

Zeiter Teil: Phänomenologie, Dekonstruktion und Psychoanalyse am Leitfaden der Logik und der Mathematik Die Logik des Endes __________________________________________________ 435 Derridas Antinomien und das Dritte ________________________________________ 436 Unendlichkeit, Zahl und Figur: eine abstrakte und formale Natur _________________ 441 Figuren und Logiken beim Denken des Endes: Dekonstruktion und Psychoanalyse___ 449 8.3.1 Mengen der Dekonstruktion: Dekonstruktion, Mathematik und Psychoanalyse __ 449 8.3.2 Diagonalisierung________________________________________________________ 456 8.3.3 Russells Paradoxon _____________________________________________________ 459 8.3.4 Gödels Unvollständigkeitssätze ___________________________________________ 460 8.3.5 Exkurs: Die Diagonalisierung der Metaphysik: Macht und Ohnmacht, Ordnung und Unordnung ________________________________________________________ 467

Die Invagination der Dekonstruktion: Der unmögliche Raum __________________ 475 Die Dekonstruktion in Lacans Spiegel ______________________________________ 496 9.1.1 Optik, Topologie und Mathematik des Unbewussten bei Lacan _______________ 502 9.2 Gauss: Der andere Raum und die andere Zahl ________________________________ 517 9.3 Quantitativer und qualitativer Raum _______________________________________ 526 9.4 Leibniz: Geometrie und Rechnung oder Raum und Unendlichkeit ________________ 530 9.5 Riemanns Raum _______________________________________________________ 538 9.5.1 Herbart und der Begriff der Mannigfaltigkeit _______________________________ 541 9.5.2 Mannigfaltigkeit und Topologie __________________________________________ 547 9.6 Hinweise auf ein Denken der Komplexität___________________________________ 554 9.1

10 Die Verknotung von Lacan ___________________________________________ 559 10.1 Das Schicksal der lettre im Raum ________________________________________ 559 10.2 Ceci n’est pas le nœud borroméen ________________________________________ 573 10.3 Lacans Knoten-Schrift _________________________________________________ 577 10.3.1 Exkurs: „Knot Lacan“ __________________________________________________ 582 10.4 Die fünf Diskurse oder eine politische Psychoanalyse _________________________ 588 10.5 Das Reale als Lacans „Sinthome“ ________________________________________ 596 11 Topologie und Logik außerhalb des Denkens des Endes _____________________ 605 11.1 Topologie ___________________________________________________________ 606 11.1.1 Landschaften des Wechsels _____________________________________________ 607 11.1.2 Andere Möglichkeiten des Raumes: Fraktale Geometrie ____________________ 625 11.2 Mehrwertige Logik: Das Ende der Logik und die Logik des Endes ______________ 633 11.2.1 Heidegger, Derrida, Lacan und das Ende des Endes ________________________ 633 11.2.2 Tertium datur: Gotthard Günther im Kontext der Kybernetik ________________ 640

xii

Inhaltsverzeichnis

11.2.3 Nicht-aristotelische Logik-Metaphysik ___________________________________ 650 11.3 Schlussbemerkungen zu Logik, Geometrie und Raum ___________________________ 676 12

Schluss: Plexus _____________________________________________________ 683

13

Literaturverzeichnis_________________________________________________ 707

14

Autorenindex ______________________________________________________ 735

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1 Vitruv: De hydraulicus machinis _________________________________________ Abbildung 2 „Le tympan de Lafaye“ ________________________________________________ Abbildung 3 Brentanos Zeitdiagramm _______________________________________________ Abbildung 4 Husserls Zeitdiagramm 1 _______________________________________________ Abbildung 5 Überschiebung _______________________________________________________ Abbildung 6 Husserls Zeitdiagramm 2 _______________________________________________ Abbildung 7 Husserls Zeitdiagramm 3 _______________________________________________ Abbildung 8 Mögliches Zeitdiagramm 1 _____________________________________________ Abbildung 9 Mögliches Zeitdiagramm 2 _____________________________________________ Abbildung 10 Projektive Ebene ____________________________________________________ Abbildung 11 Diagramm VI. Cartesianische Meditation _________________________________ Abbildung 12 Weltbefangenheit nach Fink ___________________________________________ Abbildung 13 Finks Meontik ______________________________________________________ Abbildung 14 Der Stern der Erlösung nach Rosenzweig ________________________________ Abbildung 15 Rosenzweigs logisches Schema ________________________________________ Abbildung 16 Saussure: Klang und Gedanken als Fluss _________________________________ Abbildung 17 Saussures Zeichen ___________________________________________________ Abbildung 18 Kants Antinomien, Tabelle 1 __________________________________________ Abbildung 19 Kants Antinomien, Tabelle 2 __________________________________________ Abbildung 20 Viereck von Gegensätzen nach Béziau ___________________________________ Abbildung 21 Catuṣkoṭi __________________________________________________________ Abbildung 22 Lacans sujet barré ___________________________________________________ Abbildung 23 Lacan: der Signifikant nach der Mengenlehre ______________________________ Abbildung 24 A=A/A≠A _________________________________________________________ Abbildung 25 Cantors Diagonalisierung 1 ____________________________________________ Abbildung 26 Cantors Diagonalisierung 2 ____________________________________________ Abbildung 27 Tectractys __________________________________________________________ Abbildung 28 Der Raum der Bühne _________________________________________________ Abbildung 29 Klassische Perspektive ________________________________________________ Abbildung 30 Der Strahlteiler ______________________________________________________ Abbildung 31 Lacans optisches Modell: _____________________________________________ Abbildung 32 Damián Ortega: Champ de Vision ______________________________________ Abbildung 33 Desargues Theorem _________________________________________________ Abbildung 34 Holbein: Die Gesandten ______________________________________________ Abbildung 35 Holbein: Die Gesandten, der Totenkopf __________________________________ Abbildung 36 Lacan: der Blick und das Subjekt 1 ______________________________________ Abbildung 37 Lacan: der Blick und das Subjekt 2 ______________________________________ Abbildung 38 Anamorphose _______________________________________________________ Abbildung 39 Geodäten __________________________________________________________ Abbildung 40 Lacan: Agent, manque, objet __________________________________________ Abbildung 41 Paul Klee: Variationen vom Raum ______________________________________ Abbildung 42 Reelle projektive Linie 1 ______________________________________________ Abbildung 43 Reelle projektive Linie 2 ______________________________________________ Abbildung 44 Integralrechnung ____________________________________________________ Abbildung 45 Topologische Figuren ________________________________________________ Abbildung 46 Komplexe Zahlen ____________________________________________________ Abbildung 47 Mannigfaltigkeit: Farbdarstellung der komplexen Zahlenebene ________________ Abbildung 48 Riemannsche Fläche _________________________________________________ Abbildung 49 Lacan Stepppunkt ___________________________________________________ Abbildung 50 Borromäischer Knoten ________________________________________________ Abbildung 51 Priests „Inclosure schema“ ____________________________________________ Abbildung 52 McCulloch: Neuronales Netz __________________________________________ Abbildung 53 McCulloch: Heterarchie _______________________________________________ Abbildung 54 Borromäische Ringe _________________________________________________ Abbildung 55 Borromäische Geraden _______________________________________________ Abbildung 56 Hemmung, Symptom und Angst nach Lacan ______________________________

32 33 180 187 188 199 202 202 203 206 252 254 269 281 282 373 374 417 418 424 427 451 452 453 457 457 485 490 492 495 499 506 508 510 511 513 513 516 519 526 526 527 528 535 550 551 552 553 568 573 575 576 577 578 579 581

xiv

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 57 Lacan und Knotentheorie 1: Der Raum ohne einen Punkt ____________________ 582 Abbildung 58 Lacan und Knotentheorie 2: Der Raum ohne einen Punkt von Innen ____________ 583 Abbildung 59 Lacan und Knotentheorie 3: Das Komplement der borromäischen Ringe A ______________________________________________ 584 Abbildung 60 Lacan und Knotentheorie 4: Das Komplement der borromäischen Ringe B ______________________________________________ 584 Abbildung 61 Lacan und Knotentheorie 5: Das Komplement der borromäischen Ringe von Innen ____________________________________________________ 585 Abbildung 62 Lacan und Knotentheorie 6: Hyperbolisches Dodekaeder ____________________ 585 Abbildung 63 Lacan und Knotentheorie 7: Hyperbolischer Raum A ________________________ 586 Abbildung 64 Lacan und Knotentheorie 8: Hyperbolischer Raum B ________________________ 586 Abbildung 65 Lacan: Denken oder Sein ______________________________________________ 589 Abbildung 66 Lacan: Die vier Diskurse ______________________________________________ 592 Abbildung 67 Lacan: Der kapitalistische Diskurs ______________________________________ 593 Abbildung 68 Lacan: „Le sinthome“ ________________________________________________ 597 Abbildung 69 Lacan: Schema L ____________________________________________________ 600 Abbildung 70 Lacan: Eine weibliche Logik ___________________________________________ 603 Abbildung 71 Waddington: epigenetische Landschaft A _________________________________ 608 Abbildung 72 Waddington: epigenetische Landschaft B _________________________________ 608 Abbildung 73 Dynamische Systeme: Bifurkation ______________________________________ 618 Abbildung 74 Katastrophentheorie: die Falte __________________________________________ 620 Abbildung 75 Thoms elementare Katastrophen ________________________________________ 621 Abbildung 76 Thoms Liste von archetypischen Morphologien ____________________________ 624 Abbildung 77 Cantors Menge ______________________________________________________ 626 Abbildung 78 Peano Kurve ________________________________________________________ 627 Abbildung 79 Mandelbrots Menge __________________________________________________ 627 Abbildung 80 Koch Kurve ________________________________________________________ 629 Abbildung 81 Die Dreieinigkeit als borromäische Ringe _________________________________ 631 Abbildung 82 Die Dreieinigkeit als nicht-klassische Logik _______________________________ 632 Abbildung 83 Psychoanalytischer Stern ______________________________________________ 639 Abbildung 84 Kaehrs logischer Diamant _____________________________________________ 653 Abbildung 85 Günthers Schema: Objekt-Objekt-Subjekt ________________________________ 658 Abbildung 86 Günthers Schema: Objekt und zwei Subjektivitäten _________________________ 658 Abbildung 87 Günthers Schema: Perspektiven von „Ich und Du“ __________________________ 659 Abbildung 88 Günthers Schema: eine polykontexturale Welt A ___________________________ 662 Abbildung 89 Günthers Schema: eine polykontexturale Welt B ___________________________ 663 Abbildung 90 Wahrheitswerte, Konjunktion und Disjunktion_____________________________ 664 Abbildung 91 Wahrheitswerte in Richtung einer erweiterten Logik ________________________ 665 Abbildung 92 Klassisches Kennogramm _____________________________________________ 665 Abbildung 93 Transklassisches Kennogramm _________________________________________ 665 Abbildung 94 Erweiterte kennogrammatische Tabelle___________________________________ 665 Abbildung 95 Eine verteilte Logik A ________________________________________________ 667 Abbildung 96 Eine verteilte Logik B ________________________________________________ 668 Abbildung 97 Transklassische Wahrheitswerte ________________________________________ 668 Abbildung 98 Eine verteilte Logik C ________________________________________________ 669 Abbildung 99 Eine verteilte Logik D ________________________________________________ 670 Abbildung 100 Eine verteilte Logik E _______________________________________________ 670 Abbildung 101 Diagramm der Gemeinschaft __________________________________________ 675 Abbildung 102 Günthers polykontexturale Pyramide ___________________________________ 676 Abbildung 103 Béziaus Hexagon ___________________________________________________ 677 Abbildung 104 Konzeptuelle Räume ________________________________________________ 679 Abbildung 105 Diagramm einer Kategorie ____________________________________________ 704

I Die These des Endes der Philosophie: historisch-philosophische Darstellung 1 Umriss der vorliegenden Untersuchung Ausgangspunkt dieser Arbeit ist eine der konsequentesten und radikalsten zeitgenössischen Denkweisen, nämlich jene, welche im XX. Jahrhundert das Ende der Philosophie proklamierte, dort nämlich, wo sie in Paradoxien gerät, aus denen sie nicht scheint herauskommen zu können. Das Ende der Philosophie knüpft hier an eine Aufgabe an: Jener des Denkens nach der Philosophie, gemäß der bekannten Formulierung von Heidegger.1 Dieses neue Denken ist gekennzeichnet durch eine negative und aporetische Rede, in der sich eine starke Ohnmacht des Denkens erkennen lässt. Unser Ausgangspunkt geht von einer fundamentalen Ambivalenz gegenüber diesem Denken aus. Wir glauben einerseits, dass dieses Denken zum großen Teil unbestimmt bleibt und zum Komplizen jener Philosophie wird, sie es kritisiert. Denn dieses Denken ist teils zu philosophisch, teils aber kaum mehr philosophisch. Diese Unentschiedenheit verhindert aber nicht eine Abwertung der Philosophie im Allgemeinen und damit von ihrer Begrifflichkeit und ihren Zwecken. Im Ausdruck „Ende der Philosophie“ impliziert der Teil „die Philosophie“, dass es aller Philosophie Gemeinsames zu erkennen gibt. Betont man das Ende vom genannten Ausdruck, so lässt sich eine Totalisierung der Geschichte der Philosophie sowie auch die vermutliche Möglichkeit, ihre Grenzen aufzuzeigen, erkennen. Der Ausdruck „das Ende der Philosophie“ besagt nicht zuletzt, dass das Ende nur eines sei. Das heißt, dass hier angenommen wird, dass man eine einzige Philosophie und ein einziges Ende erkennen könne. Das Denken nach der Philosophie, wenn man Heideggers Motto und Denken verfolgt, ist kein positives Denken. Mit dieser Behauptung ist Folgendes gemeint: Dieses Denken bezeichnet sich vor allem als kommendes und nicht als gegenwärtiges und bedient sich vor allem einer negativen Rede. Das heißt: Ziel und Aufgabe dieses Denkens bestehen nicht prinzipiell in der Auffassung und Veränderung der üblichen Welt und ihrer Verhältnisse, sondern im Denken ihrer Möglichkeitsbedingungen. Das heißt wiederum: Es wird davon ausgegangen, dass die Welt Resultat von Möglichkeitsbedingungen sei, welche im Denken oder in der Sprache zu verorten seien. Man kann argumentieren, das Denken des Endes mache keinen Unterschied zwischen Denken und Praxis, denn die Auslegung der Welt bedeutet seit jeher die Handlung in ihr. Jedoch geht es um diese eine transzendentale oder quasi-transzendentale Praxis, die mit der sozialen 1

Siehe Heideggers Aufsatz: Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens (1960) in: (Heidegger & Hermann, 2007). NB: Der Schriftstill kursiv und fett entspricht meinen eigenen Hervorhebungen.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 A. Romero Contreras, Die Gegenwart anders denken, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04820-2_1

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Umriss der vorliegenden Untersuchung

Handlung zum Beispiel nicht verwechselt werden darf. Ziel und Aufgabe bestehen auch nicht in der Entfaltung einer neuen systematischen Begrifflichkeit, sondern eher in einem Abbau dieser Begrifflichkeit selbst und einer Kritik am systematischen Denken, denn das System wird zum Inbegriff von Befangenheit2 und Verschließung gegenüber neuen Möglichkeiten. In Bezug auf die historischen Folgen der Philosophie zwingt sich hier die Dekonstruktion bzw. der Abbau des Systems des Idealismus und der Struktur der Metaphysik auf. Dieser Abbau gehöre zu einem Moment von Gerechtigkeit mit Hinblick auf die Geschichte und der sich in ihr ereignenden Übel und Schmerzen. Wenn aber das Fragment über die Totalität gesiegt hat, ohne dass man eine gerechte Veränderung der Welt spüren kann, oder wenn sich Totalität und Fragment nicht mehr gegenüberstehen, sondern einen neuen Zusammenhang bilden, ist es auch die Frage von Gerechtigkeit, die Philosophie erneut positiv zu denken. Wie soll man jedoch dieses „Positive“ verstehen? Nicht im Sinne einer neuen Ontologie bzw. im Sinne eines neuen „Systems“, in dem Objekte und historische Ereignisse sich zugleich in einer Ganzheit — zunächst theoretisch, danach sozial-konkret — einordnen lassen, sondern im Sinne einer neuen Prägung und Artikulation von Begriffen. Einfacher gesagt: Positiv meint nicht nur „Widerstand“ — sei es auf der Seite einer Subjektivität, die einer Ordnung abstrakt widersteht, sei es auf der Seite des Objekts als Grenze zur Subjektivität, oder sei es auf der Seite eines Subjekts, welches die Rolle eines Realen spielt, in dem die Ordnung bricht. Aber das, was das Denken des Endes überwiegend hinterlässt, ist eher der Wunsch, das Denken von der Philosophie — mit Hinblick auf eine andere Zukunft — zu befreien. Dabei wird versucht, die gezeigte Ohnmacht des philosophischen Denkens und das Diskreditieren seiner üblichen Begrifflichkeit, wie Subjekt, Objekt, Wahrheit usw. zum Zeichen des Kommenden zu machen. Dieses Kommende wäre das Jenseits einer vermutlich verschlossenen und erschöpften Philosophie. Die Erschöpfung lässt sich — diesem Denken zufolge — in den Paradoxien der Philosophie erkennen. Nicht weil es die Absicht hätte, das Paradoxe hinter sich zu lassen, sondern im Gegenteil, weil die Philosophie eben ihre paradoxe Struktur nicht anerkannt hätte. Das Denken des Endes will sich aporetisch. „Aporie“ ist ein aus der Logik stammender Begriff. Aporetisch sind grundsätzlich unentscheidbare oder Kontradiktion enthaltende Urteile. Die Bejahung der Aporie hängt mit der Infragestellung der Ursprünglichkeit der Logik zusammen. Es gehört damit zur Aufgabe des Denkens des Endes, die klassische Logik, auf die sich die Philosophie als Metaphysik stützt, zu überschreiten, unter der Voraussetzung, dass es die Herrschaft die Logik gewesen ist, welche die Philosophie zur Vollendung und zum Ende bringt. Das heißt unter der Voraussetzung, dass die Überschreitung der Philosophie die Überschreitung der Herrschaft der Logik impliziert, weil die Logik eben die Verantwortung für deren Sackgassen trägt. Da aber die Logik in der Sprache wurzelt, erfordert das Denken des Endes auch, die klassischen 2

Der Begriff „Befangenheit“ stammt von Eugen Fink und bedeutet die „natürliche Einstellung“, die die Phänomenologie durch die Epoché suspendiert. (Fink und Bruzina, 2006b, S. Z-IX 39a S.104).

Umriss der vorliegenden Untersuchung

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Begriffe und die klassische Grammatik, auf welche sich das übliche Denken der Philosophie stützt, abzubauen und zu überschreiten. Wir fragen aber: Braucht man für die Aufgabe des kommenden Denkens eine neue Grammatik und eine neue Logik, oder liegt eher die Sache dieses Denkens jenseits von Logik und Sprache, wobei uns nur noch eine indirekte, negative und immer scheiternde, der Sisyphostätigkeit ähnliche Rede bleiben würde? Letzteres scheint der Fall zu sein. Ich habe behauptet, dass unsere Position gegenüber diesem Denken ambivalent ist. Wir glauben also auch, dass die Philosophie dieses Denken des Endes nicht nur ernst nehmen, sondern auch durchqueren muss, um ihre Recht und Legitimität neu zu denken. Das Denken des Endes der Philosophie vertritt die größten Einwände gegenüber einem philosophischen Projekt im Allgemeinen sowie dessen Möglichkeiten, was uns dazu auffordert, erneut die Frage danach zu stellen, was die Philosophie sein soll und kann. Die Philosophie ist nur so ernst, wie die Leugnung ihrer Möglichkeit. Aufgabe dieser Arbeit ist es also, die These des Endes der Philosophie einer Analyse zu unterziehen. Die Behauptung, die Philosophie hätte ihr Ende erreicht, also das Denken, das ich des Endes genannt haben, ist eine Folge der Entwicklung der Paradoxien einer konkreten Philosophie: der Phänomenologie. Heideggers Motto zum Ende der Philosophie und der neuen Aufgabe des Denkens sowie Derridas Denken ergeben sich aus einer Radikalisierung der husserlschen Phänomenologie und damit auch ihrer Paradoxien. Aber diese Radikalisierung und Erweiterung der Phänomenologie öffnet letztere insbesondere zu einem Dialog mit dem Idealismus. Wir untersuchen also die Grundzüge der Phänomenologie und die Schwierigkeiten, in die sie gerät, um danach dem Ansatz vom Ende der Philosophie im Zusammenhang mit dem deutschen Idealismus nachgehen zu können. Dieses Denken des Endes untersuchen wir zuerst, und nur als Vorbereitung, bei Heidegger. Danach betrachten wir die eigentlichen Autoren dieser Arbeit: Derrida — mithlfe Lacan — als Exponenten der Rezeption des heideggerschen Diktums vom Ende der Philosophie. Derrida und Lacan haben Heidegger verschieden interpretiert, beide akzeptieren aber die Herausforderungen, denen Heidegger das kommende Denken aussetzte. Derrida und Lacan finden ein gemeinsames Territorium beim Denken des Unmöglichen. Die Unmöglichkeit ist, wie die Aporie, ein logischer Begriff. Er gehört zur logischen Tafel, welche die Urteile in aktuelle, mögliche und unmögliche unterteilt. Die gemeinte Unmöglichkeit als Begriff spielt sowohl für Derrida als auch für Lacan eine entscheidende Rolle. Lacan selbst nennt das Unmögliche das Reale als den wahren Gegenstad der Psychoanalyse. Derrida macht die Dekonstruktion, seinen größten Beitrag zum zeitgenössischen Denken im Zusammenhang mit dem Denken der Differenz, zu einem Verfahren von Gerechtigkeit. Der Kern von Differenz und Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit ist aber aporetisch und enthält einen unmöglichen Kern. Das heißt, beide erkennen im Unmöglichen die Möglichkeit eines anderen Denkens und zwar als Figur des Realen. Anders gesagt: Das Aporetische lässt sich im

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Umriss der vorliegenden Untersuchung

Gedanken des Realen zusammenfassen. Im Lauf der Arbeit wird sich zeigen, warum das Reale — verstanden als die Grenze der Philosophie und als das, was nicht symbolisiert, gedacht, oder ausgesprochen werden kann — Dreh- und Angelpunkt dieses Denkens ist. Entscheidend für die Erklärung des Endes der Philosophie ist, wie gesagt, die Phänomenologie Husserls als das Projekt einer Philosophie als strenger Wissenschaft. Husserl begegnet den für die Phänomenologie schwierigsten Paradoxien bei seinen Analysen von Zeit und Intersubjektivität. Das Denken des Endes der Philosophie bei Heidegger, die Dekonstruktion von Derrida und die Psychoanalyse von Lacan sind eng miteinander verbunden, und es gehört zur Aufgabe dieser Arbeit, dies zu belegen. Trotz der evidenten Unterschiede zwischen diesen Denkern kann man die folgende Gemeinsamkeit hervorheben: Sie gehen von einer Erschöpfung der Philosophie aus und versuchen auf verschiedene Weise, ihr Jenseits zu Erkunden und zu Erfinden. Von da an aber wird dieses Jenseits als unmöglich und danach als das Unmögliche, wir haben es hier das Reale genannt, betrachtet. Um diesen Schritt zu erklären, kann man an Freud erinnern. Er verwandelte das Adjektiv „unbewusst“ in die Instanz namens „das Unbewusste“. Das Unmögliche erfordert außerdem eine negative Rede, eine negative Betrachtung oder, wie Derrida sich äußert, eine negative (a)Theologie.3 Die Ambivalenz gegenüber diesem Denken ist bereits in Spannungen zwischen diesen Denkern zu bemerken. Derrida zwingt dem zeitgenössischen Denken eine doppelte Forderung auf: Den Verlust der Gegenwart (im Sinne von Husserls Phänomenologie), das heißt, den Verlust eines letzten Fundaments des Sinns als dessen Grund, sei es das Ich, die Natur oder das Sein, sowie den Weg, den die Gegenwart immer wieder auf verschiedene und indirekte Weise findet, gleichzeitig zu denken. Für Derrida gilt das Unmögliche als das schlechthin Reale. Es geht ihm darum, die Paradoxien des Denkens (sowohl im subjektiven als auch im objektiven Genitiv) zu denken. Lacan entwickelte seinerseits auch eine Forderung: Das Reale als verschieden vom Symbolischen (der Sprache als System von Signifikanten) und vom Imaginären (dem Bereich der subjektiven und täuschenden Identifikation) zu betrachten. Lacan nennt die Psychoanalyse eine Wissenschaft des Realen. 4 Andererseits möchten wir auch zeigen, inwiefern die Philosophie, ihre Probleme, Wege und vor allem ihre Logik mit und ohne Absicht anwesend und wirkend in diesem Denken sind. 3

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Derrida schreibt: „Le passage par l'excentricité négative est sans doute nécessaire; mais seulement liminaire […] De même qu'il y a une théologie négative, il y a une athéologie négative. Complice, elle dit encore l'absence de centre quand il faudrait déjà affirmer le jeu. Mais le désir du centre n'est-il pas, comme fonction du jeu lui-même, l'indestructible ? […] C'est ici qu'entre l'écriture comme décentrement et l'écriture comme affirmation du jeu, l'hésitation est infinie“ (Derrida, 1967b, S. 432–433). Diese Oszillation ist unendlich und macht am Ende Bejahung und Verneinung ununterscheidbar. In dem 1953 bei der Société française de Psychanalyse gehaltenen Vortrag Le symbolique, l'imaginaire, le réel etabliert Lacan die drei fundamentalen Register für die Analyse der Subjektivität. Das Gewicht jedes Registers wird sich im Verlauf von Lacans Arbeit verändern, was als Indicesfür die großen Phasen seines Denkens gelten kann.

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Begriffe, wie die „Geschichte der Philosophie“, ihr „Ende“, ein „Neubeginn“ nach ihr, die Grenzen des philosophischen Denkens, das Bewusste und das Unbewusste, das Unmögliche und das Reale usw., welche im Denken des Endes häufig auftreten, sind stark philosophisch geprägt. Und deren Ausdehnung, Gebrauch und gedankliche Argumentation sind von der Philosophie untrennbar. Es ist den Denkern des Endes bewusst, dass man die Philosophie nur durch philosophische Begriffe anfechten kann. Es ist aber zu prüfen, inwiefern und ob die Philosophie dadurch überschritten wird, was für ein neuer Raum eröffnet wird und in welchem Verhältnis das Denken des Endes zur Philosophie steht. Diese negative Rede impliziert auch ein negatives Verhältnis – sich abbauend d.h. dekonstruktiv zu sein – zum Denken des Endes der Philosophie. Wie viel aber wird tatsächlich von der Philosophie behalten, wie viel wird von ihr weggelassen? Was heißt hier das Dekonstruieren, das Abbauen, das Verschieben, das Begrenzen der Philosophie und ihrer Problematik? Ich vertrete die These, dass sich dieses Denken des Endes deutlich auf transzendentale (Husserls Phänomenologie ist hier gemeint) sowie auf idealistische Argumente stützt, welche ihre Vorgeschichte im deutschen Idealismus haben, insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem Ding an sich, dem Denken eines „absoluten Prinzips“ und der Natur als einer vorsubjektiven Subjektivität. Dass das Denken des Endes auf den Idealismus und die Phänomenologie Husserls hinweist, ist evident. Offenbar machte dieses Denken des Endes den Idealismus und die Phänomenologie zu seinem Gegenpol. Diese triviale Anmerkung wird nur dann bedeutsam, wenn man sich genau fragt, was das „nach“ in einem „nachphilosophischen Denken“ heißen soll. Außerdem deutet die Präposition „nach“ bereits eine Auffassung der Zeit an, die hinterfragt werden muss. Wir haben zu schnell angenommen, dass das Denken des Endes nicht mehr philosophisch sei, während wir nicht einmal genau wissen, wie die Philosophie endgültig zu bestimmen sei. „Post“ und „nach“ sind leere Bezeichnungen für das Denken und sie sind auch irreführend, wenn dieses Denken des Endes oberflächlich gelobt oder desavouiert wird. In beiden Fällen bestätigt man einen Bruch, der sofort eine lineare Geschichte vermuten lässt. Weiterhin verhindert die Bezeichnung „Bruch“ einen präzisen Dialog zwischen der Philosophie und ihren Nachfolgern. Die neue Herstellung der Koordinaten eines solchen Dialogs verlangen, dass man das Denken des Endes mit der klassischen Philosophie in bestimmten aber entscheidenden Punkten, und zwar mit jenen Schellings, Hegels und Husserls konfrontiert. Wir wollen in dieser Arbeit so auch zeigen, dass die Dekonstruktion der Phänomenologie die gegenseitige Kritik zwischen Schelling und Hegel wiederholt. Das Schicksal der transzendentalen Phänomenologie Husserls wiederholt das Schicksal der transzendentalen Philosophie im Sinne von Kant. Husserls transzendentale Philosophie, welche Idealismus und Empirismus zugleich hinter sich lassen wollte, begegnet in ihrer letzten Formulierung – u.a. auch dank Heideggers und Finks Interpretationen der Phänomenologie – ähnlichen Problemen,

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wie die des Idealismus bei Hegel und Schelling. Derrida als Anhänger-Kritiker-Dekonstrukteur der Phänomenologie wird erst in diesem Kontext verständlich. Hegel ist eine konstante Referenz bei Lacan, den er durch die Interpretationen von Hyppolite und Kojève rezipierte. Die Phänomenologie spielt auch eine bedeutende Rolle für ihn, vor allem in Heideggers Auffassung. Aber auch bei Lacan bedeutet die Psychoanalyse die Behauptung des Unbewussten vor dem Bewusstsein, ein Gedanke dessen Anfänge auf den späten Schelling zurückzuführen sind. Was aber ist mit Wiederholung gemeint? Sicherlich keine simple Nachahmung. Husserls transzendentale Philosophie ist nicht die von Kant, und die Kritik am n Subjektivismus koinzidiert auch nicht mit der Dekonstruktion der Phänomenologie. Eine philosophische Wiederholung meint eher eine neue Inszenierung des Vergangenen in einem neuen Kontext; die Hartnäckigkeit einer ständig wechselnden, trotzdem immer wiederkehrenden Sorge, in diesem Fall mit dem Absoluten als Anfang. Das Denken des Endes ist die Wiederbelebung der Frage nach dem Anfang und deren erneute Destruktion. Zu klären bleibt, was für ein Schicksal nun diese abendländische Frage hat. Der Knoten um das Reale als Aporie, als Unmöglichkeit, nach dem Ende der Philosophie bei Derrida und Lacan, und der Knoten zwischen Psychoanalyse, Phänomenologie und Idealismus lassen sich in vier Bereichen lesen: a) in der Metaphysik als einer Meditation über die Grenzen eines Denkens des Absoluten und die Grenze als Absolutes anhand einer Auseinandersetzung zwischen Idealismus, Transzendentalismus und Strukturalismus. Dabei entscheidet sich, ob das Denken grundsätzlich negativ gegenüber der Metaphysik sein muss, oder ob es sich positiv darstellen und entwickeln kann, ohne damit das zu reifizieren, was es denkt; entschieden wird auch, ob die Begriffe Zeit, Differenz und Schrift die Denkfiguren sind, von denen die Philosophie endlich umgeben und überschritten werde; b) in der Wissenschaft als Meditation über die Welt als das Seiende, das durch ein Transzendentales bestimmt sei und daher in ihrem „eigentlichen Wesen“ a priori erkannt werden darf; mit anderen Worten gesagt, ein apriorisches Denken der Welt führt dazu, dass deren Analyse für abgeleitet gehalten werden muss; diese Voraussetzung dehnt sich bis auf die Philosophie aus, als wäre sie nicht ursprünglich genug und lasse trotzdem ihr Wesen endgültig bestimmen; c) in der Logik als Überlegung darüber, ob das kommende Denken im Angesicht der herrschenden Paradoxien jenseits der Logik sei, oder ob es eher eine andere Logik verlangt, ohne dass das Prinzip ex contradictione sequitur quodlibet folgt; d) in der Politik als Diskussion über den praktischen Charakter des Denkens und seinen Zusammenhang mit dem menschlichen Tun in der Welt; es lässt sich fragen, ob ein Denken,

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das das Transzendentale in der Sprache verortet und damit sich einer strikten Hierarchie unterzieht, nicht jede politische Praxis als abgeleitet bzw. naiv beurteilen muss, die nicht diskursiv ist. Wir versuchen diese Arbeit mit Hinblick auf diese vier Bereiche zu entwickeln. Wir erklären nun die reziproken Beziehungen zwischen den erwähnten Bereichen. Gemäß dem Denken des Endes der Philosophie ist alle Philosophie Metaphysik, und alle Metaphysik, Vergessenheit — zuerst des Seins und danach der Differenz. Weil die Philosophie nicht alle Schichten ihrer Voraussetzungen reduziert hätte, wäre sie in den Augen des Denkens des Endes ein naives Denken. Für Lacan und Derrida lässt die Philosophie dem Paradoxen, dem nicht logisch zu Denkenden, dem Mannigfaltigen, dem Zufälligen, dem auf Identität nicht Reduzierbaren usw. keinen Platz mehr. Dies wäre das Andere der Philosophie, ihr Reales als ihr Unmögliches, soll heißen: Das Reale ist unmöglich zu denken. Oder mindestens: Innerhalb der Philosophie unmöglich zu denken, angenommen, dass die Philosophie mit Paradoxien nicht umgehen kann. Das Denken des Endes ist eine der ultimativen Grenzen, nach der alle philosophischen Begriffe, wie das Absolute, Subjekt, Objekt, Wirklichkeit, usw. (neu)interpretiert werden. Dieses Denken ist aber auch transzendental in dem Sinne, dass die Welt und das sie begreifende und erfahrende zeitliche Bewusstsein nur noch Endprodukt eines vorsubjektiven und vorobjektiven produktiven Werdens ist, welches als Möglichkeitsbedingung sowohl von Welt als auch von Subjektivität gilt. Das Denken des Endes will sich bei Heidegger ontologisch, bei Derrida aber „politisch“ oder besser, „vor-politisch“, also ursprünglicher als die Politik verstehen. Man kann argumentieren, dass Heideggers Philosophie der Faktizität bereits „praktisch“ und daher „politisch“ sei. Aber eine Spannung zwischen dem politischen und dem a-politischen Charakter ist dabei doch sehr wohl zu erkennen. Diese Faktizität ist nicht empirisch, doch der Begriff des Politischen scheint ohne weiteres empirisch zu sein. Derrida und Lacan haben diese Spannung bearbeitet. Sie haben einerseits eine nicht zu reduzierende Spannung zwischen der Tat (als Performativität der Sprache oder als psychoanalytischen Akt verstanden) und der Dekonstruktion des politischen Subjekts und deren vermutlicher Handlung (agency) erkannt, zwischen einem Ziel der Handlung (Gerechtigkeit, Öffnung der Tradition zu deren Anderem, einer Kur) und dem Verzicht auf jede Teleologie (so dass die Mittel – Analyse, Dekonstruktion – die Zwecke ersetzen und die Aporie sich als wahrer Name des Ursprungs bestätigt). Die Logik ist schließlich der Punkt, an dem sich Metaphysik, Wissenschaft und Politik kreuzen. Denn eine Überlegung über die Grenzen des Denkbaren, den Grund und das Begründete (die Begründung im Allgemeinen), die Paradoxien, das Gleiche und das Nicht-Identische, das Eine und das Andere ist vor allem eine über die Logik und Mathematik des Denkens im weiteren Sinne des Wortes. Damit ist keinesfalls gemeint, das die Logik und die Mathematik als Fächer mit ihren

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Methoden und Arten der Formalisierung der zu gehende Weg seien (so wenig lässt sich die Wissenschaft auf Philosophie, wie die Philosophie auf Logik und Mathematik reduzieren), sondern dass in ihnen vieles gedacht wurde in Bezug auf den Zufall, die Ordnung, die Unendlichkeit, die Mannigfaltigkeit, die Paradoxien usw., so dass sie die Philosophie in ihrem tiefsten Wesen betreffen und ihr erlauben, ihre Voraussetzungen zu hinterfragen und neu zu konzipieren. Das heißt, wenn das Reale das Unmögliche oder das Paradoxe ist, sollte man fragen, ob sich hier nicht eine andere philosophische Logik ankündigt. Die phänomenologische Reduktion, die Dekonstruktion und die (Psycho-)Analyse können fundamentale Begriffe der Philosophie abbauen und deren vermutliche Stabilität und NichtWidersprüchlichkeit erschüttern. Damit aber sind sie nicht von Voraussetzungen frei, besonders von logischen und mathematischen, welche ihre Argumentation leiten. Genauso wenig sind sie frei von fundamentalen Philosophemen, also von klassischen Problemen und Argumenten der Philosophie. Eine Annäherung an das Denken des Endes macht sichtbar, dass es entscheidende aber weder besprochene noch anerkannte Voraussetzungen des späten Idealismus beinhaltet. Das Ende der Philosophie manifestiert sich historisch immer anders. Es wäre ein Irrtum zu behaupten, die Philosophie hätte bisher und seit dem „Anfang des Abendlandes“ ohne Konkurrenz „regiert“. Ganz im Gegenteil war die Philosophie ständig durch eine Auseinandersetzung mit dem gekennzeichnet, was sich als nicht-philosophisch versteht oder was die Möglichkeit der Philosophie überhaupt leugnet. Eine Philosophie setzte sich bei Platon und Aristoteles den Sophisten, bei Descartes den Skeptikern, bei Kant den Empiristen, bei Husserl dem Psychologismus usw. entgegen. Das Ende der Philosophie wird besonders fragwürdig, wenn „die Philosophie“ uns als einheitlich und homogen, als monothematisch und in sich geschlossen dargestellt wird. Wenn das Denken des Endes der Philosophie eben die philosophischen metaphysischen Gedanken von arché und telos infrage stellt, so muss dieses Denken die Idee vom Anfang und Ende der Philosophie auch relativieren. Das heißt, dass Anfang und Ende nicht mehr linear verstanden werden können. Vielmehr sehen wir eine neue Räumlichkeit entstehen. Damit meinen wir den Raum der Subjektivität. Diese andere Räumlichkeit aber wäre eine Verkomplizierung der Zeit und ihrer Dimensionen, die Zusammensetzung mehrerer Achsen. Der Form des Weltalls ähnlich, aber nicht im Sinne empirischer, sondern abstrakter „Orte“, ist die „Form“ (hier das Entfalten und das Ineinandergehen von Zeit und Raum; wo die eine und der andere bereits eine Verflechtung an sich sind, welche durch das Ineinandergehen verdoppelt wird) — , was uns die Logik, zum Beispiel eine mehrwertige oder parakonsistente, stückweise in medias res, also nicht von außen, abbilden lässt. Wollen wir diese Problematik grob ausdrücken, so darf man fragen, ob die Logik der Identität und die Logik der Differenz ein Drittes in dieser Räumlichkeit findet. Diese ist nur eine der Aporien, die unser Zeitalter prägen. Aber das Paradoxe oder Aporetische

Das Ende der Philosophie als Leitfaden

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durchquert das Denken des Realen und des Endes der Philosophie von Anfang bis Ende. Diese Aporien enthüllen den unmöglichen Charakter der Metaphysik, die das Anwesende ohne Rest und Paradox denken wollte. Das Denken des Realen hingegen hat sich zur Aufgabe gemacht, dieses Andere des Anwesenden, der Gegenwart, zu denken. Man kann aber am Ende die Paradoxien der Philosophie und die des „post-philosophischen“ Denkens nicht einfach und endgültig unterscheiden, wobei das Kommende manchmal leere Geste, Metaphysik ohne Metaphysik, Philosophie ohne Philosophie bleibt. Kann die Philosophie ein Ende haben? Was bedeutet dieses Ende? Man kann konstatieren, dass das Ende der Philosophie alles ist außer eindeutig und dass die Philosophie zum einen dekonstruiert zum zweiten erneut gedacht werden soll. Der Abbau wird heute einseitig und zeigt beim unendlichen Tod der Philosophie die Verewigung ihrer Agonie. Daher wollen wir weder die (metaphysische) Gegenwart noch das Andere der Gegenwart, sondern die Gegenwart anders denken. Diese Arbeit möchte als Beitrag dazu dienen.

1.1 Das Ende der Philosophie als Leitfaden für eine Frage nach dem Denken nach der Philosophie: die Herrschaft der Aporie In diesem Abschnitt versuche ich eine grobe Skizze des Denkens des Endes der Philosophie als philosophisches Problem und als Einleitung zu dieser Arbeit zu erstellen. Fünf wichtige Merkmale kennzeichnen das Denken des Endes: a) das Paradoxe oder besser, die Aporie, die sich als letzte und endgültige Form des Denkens etabliert; b) die Aporie erfordert keine Erweiterung der übrigen Logik, sondern sie präsentiert sich als Sackgasse; c) für die Betrachtung der Aporie steht nur eine via negativa zur Verfügung; d) Zeit und Sprache gelten als letzter Horizont jeder möglichen Befragung; e) es versteht sich als eine bestimmte Negation der Philosophie, wobei die Philosophie durch das Denken des Endes sowohl suspendiert als auch in ihm subsumiert werde. Uns interessiert die Folge dieses Denkens, nämlich, dass die Aporie die letzte und endgültige Form des Denkens sei, und dass dem Denken nur eine via negativa übrig bliebe. Weiter wird die Sprache zum absoluten Medium der Aporie. Weil aber die Sprache sich ausdehnt, um die ganze Problematik der Philosophie einzuschließen, verschwindet sie als lokales Problem und drängt seine Regeln5 dem gesamten Feld des Philosophischen auf. Das aporetische Denken bringt im selben Zug drei philosophische Ansätze in Schwierigkeiten: Den apriorischer (also transzendental-hierarchischer) Prinzipien, den von Gegensätzen (= Dualismus), und den einer ultimativen Synthese von Gegensätzen im Sinne einer „hegelschen dialektischen Synthese“. 5

Es handelt sich, wie Derrida sagt, um die Regeln oder das Gesetz der Differenz, welche er auch Spiel nennt: „Mieux, le jeu de la différence dont Saussure n'a eu qu'à rappeler qu'il est la condition de possibilité et de fonctionnement de tout signe, ce jeu est lui-même silencieux. Est inaudible la différence entre deux phonèmes, qui seule permet à ceux-ci d'être et d'opérer comme tels. L'inaudible ouvre à l'entente les deux phonèmes présents, tels qu'ils se présentent“ (Derrida, 1972b, S. 5).

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Die Aporie stellt den metaphysischen ontologischen Anfang, den Dualismus und eine ultimative Versöhnung infrage. Außerdem verankert sich dieses Denken des Endes in einer Radikalisierung der Zeit als Zur-Anwesenheit-Kommen, und Von-Ihr-Zurückziehen sowohl der „Dinge“ als auch der „Subjektivität“. Das heißt, beide Pole, der subjektive und der objektive, gelten als abgeleitet, also konstituiert und nicht konstituierend. Sie sind daher ein unzureichender Ausgangspunkt für das Denken, denn sie enthalten noch viele Voraussetzungen, die reduziert werden müssen. Die Aufgabe des Denkens bestünde dann darin, das Konstituierte auf das vorsubjektiv und vorobjektiv Konstituierende zu zurückzubringen. Wir hätten einen anderen Namen für dieses Denken wählen können: z.B. Denken der Differenz oder postmetaphysisches Denken. Das Wort Ende aber kennzeichnet den epochalen Charakter dieses Denkens, den Willen zur Abgrenzung gegenüber der Tradition und den fundamentalen Werten, welche der Zeit als ultimativem Horizont des Denkens zugesprochen werden. Die Differenz ist in diesem Kontext nur noch eine Konsequenz der Radikalisierung des Zeitbegriffs bezüglich der Subjektivität, welche in der Sprache eine quasi-materialistische6 Basis gewinnt. Das Konstituierte oder das Anwesende gefährdet dann das Denken mit der Reifizierung der Gegenwart auf Kosten der Vergangenheit und der Zukunft, wo sie keine Modifikationen der Gegenwart sind. Die Reifizierung der Gegenwart hätte als Folge, beim Anwesenden befangen zu bleiben.7 Die Gegenwart ist hier das Gefängnis. Das Andere der Philosophie wäre das Andere des Wissens, das Andere des Bewusstseins, das Andere der Identität. Das Andere der Philosophie meldet sich durch die Aporie. Die „Aporien der Philosophie“ — genitivus objektivus — werden zu den „Aporien der Philosophie“ — genitivus subjektivus.

1.2 Aporien über Aporien: Was soll man mit ihnen tun? Aber dass die Aporie die letzte Form des Denkens sei, enthält bereits einen Widerspruch. Einerseits wird behauptet, dass das Denken in Aporien gefangen sei. Anderseits aber verlangt die gleiche Behauptung, dass man sich über die Aporie erhebt, damit man die Aporie als solche erkennen kann, wobei sie gewissermaßen überschritten wird. Die Aporie über die Aporie besteht darin, dass sie weder behauptet, noch verworfen werden kann. Die Philosophie beschäftigt sich mit Aporien. Wenn aber die erstere ihre Aporien zu formulieren versucht, bleibt sie in ihnen gefangen, und gleichzeitig scheint sie sich über sie zu erheben. Und trotzdem 6 7

Bei Lacan und Derrida erkennt man einen Materialismus des Signifikanten: Er ist sowohl ideell (er hat Sinn) als auch materiell (graphisch-phonetisch) und überlebt die endlichen Bewusstseine. Husserl verwendet den Ausdruck Befangenheit in seinen Texten, aber er kommt selten vor. Es ist Husserls Schuler Eugen Fink, der von der natürlichen Einstellung als von einer Befangenheit, bzw. einer Naivität spricht: „Wir sind in der natürlichen Einstellung, in ihr verfangen und befangen, daß wir sie gar nicht irgendwie abheben können, wenn wir sie nicht durchbrechen. Dieser Durchbruch aber ist gerade die phänomenologische Reduktion. So setzt also eine wirkliche Auslegung der menschliches Dasein wesenhaft ausmachenden Befangenheit in der natürlichen Einstellung das reduktive Entkommensein aus dieser Befangenheit voraus“ (Fink, 1933, S. 348).

Aporien über Aporien: Was soll man mit ihnen tun?

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bleibt das Denken weder gefangen noch gelingt es ihm, sich davon zu befreien. Die Aporie der Aporie scheint uns zu zeigen, dass die Aporien weder ganz zu akzeptieren noch ganz zu verwerfen sind. Was dieses „ganz“ bedeuten kann, ist Thema dieser Arbeit. Mit anderen Worten: Man kann die Aporie verschieden interpretieren. Man kann sie als Gefängnis deuten, in dem die Philosophie endet, weil sie ihre eigenen Aporien nicht bewältigen kann. Oder als Modus des Denkens, indem das Denken neue Wege erschließt, weil es paradox und aporetisch positiv denken kann. Die Frage könnte so lauten: Befindet sich das Denken in der Aporie, oder ist die Aporie ein Objekt des Denkens? Diese Frage könnte man auch so formulieren: Soll die Aporie einen ontologischen, bzw. vor-ontologischen Wert besitzen, oder soll sie auch aporetisch, also unentschieden bleiben? Dieses Entweder-Oder wird sich als falsch erweisen, weil die Aporien sich nicht in entweder falsch oder wahr einteilen lassen. Sie zeigen eher die Verwicklung von Wahrheit und Falschheit, den Wechsel von loci zwischen Ursache und Effekt. Es ist eine These dieser Arbeit, dass es einer anderen Logik bedarf, in der man die verschiedenen Aporien in verschiedenen „Achsen“ artikulieren kann, und in welcher verschiedene Perspektiven zusammenleben, auch wenn sie sich im Prinzip ausschließen. Damit könnte man den negativen Charakter der Aporie positiv-paradox umkehren. Damit könnte die Zeit nicht nur als Vergehen, als Aufeinanderfolge, sondern auch als Raum, als Gleichzeitigkeit schaffend, interpretiert werden. Und damit könnte man vielleicht auch das Reale nicht mehr als unmöglich denken, sondern als Paradoxon, wobei eine philosophische Logik wie ein Kompass für die Orientierung des Denkens in unbekannten Räumen dienen kann. Die Frage lautet also: Wie artikulieren wir eine philosophische Logik, die mit Gegensätzen umgehen kann, und die weder auf Dualismus noch auf Synthese beruht? Wie kann man das Aporetische, das Entgegengesetzte annehmen, ohne trivial oder mystisch zu sein? Wie kann man das Mannigfaltige weder als rein offene, unendliche, ziellose Interpretationen noch als reine Variationen des Einen, der Einheit, Identität, denken? Warum es diese Aufgabe wert ist, lässt sich in mindestens zweierlei Hinsicht beantworten. Einerseits, weil die Argumente des Denkens des Endes fragwürdig sind, und weiterer Erklärung und Kritik bedürfen. In diesem Sinne machen wir nichts anderes, als dem Gedankengang des Denkens des Endes der Philosophie strikt zu folgen. Anderseits aber verstehen wir diese Arbeit als Plädoyer gegen die politischen und praktischen Folgen jenes Denkens. Wir gehen davon aus, dass der Anfang der Philosophie, so wie wir ihn verstehen, ein mehrfacher ist. Diese Arbeit platziert sich im Knoten zwischen dem Politischen und dem Theoretischen, vorausgesetzt, dass das Politische und das Theoretische weder (ganz) verschieden noch (ganz) identisch sind. All dies entspricht der Diskussion über das Ende der Philosophie, welche auch als Ende der Metaphysik zu deuten ist. Das Theoretische und das Politische thematisieren wir vor allem in Bezug auf die transzendentale Problematik von Zeit-Raum und von Logik-Aporie,

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Umriss der vorliegenden Untersuchung

welche in der Betrachtung der Intersubjektivität und des Vorsubjektiven – sei es die Sprache, das Sein oder die Natur – auftreten.

1.3 Das Ende der Philosophie als Ende der Phänomenologie Gemäß den hier besprochenen Autoren geht die Philosophie (bzw. die Metaphysik) in ihr Ende ein8, wenn sie fundamentalen Aporien begegnet, welche einerseits auf ein neues Denken (und eine neue Praxis) hinweisen, anderseits aber zu nicht überwindbaren Sackgassen führen. Am Ende sehen wir uns mit der Tatsache konfrontiert, dass das neue Denken und die Sackgassen, die so ein neues Denken erforderlich machen, koinzidieren, oder zumindest nicht deutlich zu trennen sind. Daher braucht eine Analyse des Denkens des Endes und seiner Aporien eine Analyse der Philosophie, welche ihre Aporien gegen ihre eigene Absicht auftauchen lässt. Die lange Betrachtung von Husserl in dieser Arbeit ist bereits eine Betrachtung des aufkeimenden Denkens des Endes. Mit anderen Worten: Die Aporien der husserlschen Phänomenologie bedeuten, obwohl von ihm selbst nicht anerkannt, den Anfang des Endes der Philosophie. Oder das Ende der Phänomenologie ist der Beginn des Endes der Philosophie. Die Behauptung, die Aporie sei die letzte fundamentalste und endgültige Form des Denkens, wird zum Zentrum eines Denkens, in dem die Sprache als Struktur zum neuen Absoluten erhoben wird. Das heißt, die klassische Diskussion über das Absolute im Idealismus verschiebt sich auf das Feld der Sprache, in dem man noch das Ringen zwischen Transzendentalismus und Dialektik erkennen kann. Die Aporie präsentiert sich bereits in und nach der idealistischen Ära, gewinnt aber ihr fundamentales Medium erst in der Sprache, in welcher sich Philosophie, Anthropologie und Linguistik treffen. Das Denken des Endes zeigt richtig, dass Logik und Grammatik den Kern des metaphysischen Denkens ausmachen. Daher wollte dieses Denken der Logik den Rücken kehren mit der Motivation, dass das Zusagende jenseits jeder Logik und jeder Grammatik stünde. Ironisch ist aber, dass das Denken des Endes seine schärfste Kritik an der Metaphysik mittels der Aporie durchführen kann, und dass die Aporie ein logischer Terminus ist. Es ist mindestens die Logik, die diese Aporien der Philosophie am deutlichsten sichtbar macht anstatt sie zu verbergen. Kommt man aus dem Rahmen dieses Denkens des Endes heraus, so findet man in der analytischen Philosophie und ihrer Betrachtung der formellen Logik ähnliche Probleme: Das Paradoxon scheint die alte Voraussetzung der Wissenschaft tief zu erschüttern. Nicht umsonst findet man entscheidende Bezüge bei Lacan und Derrida auf Russell oder Gödel. Und nicht umsonst rekurrierte Gödel auf Husserl, als er auf der Suche nach einer Logik anhand der

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Der Ausdruck, dass die Philosophie in ihr Ende eingeht, ist von Heidegger. Dieser Ausdruck befindet sich im Aufsatz Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens, in dem er sich fragt: „Inwiefern ist die Philosophie im gegenwärtigen Zeitalter in ihr Ende eingegangen?“ (Heidegger und Hermann 2007). Gemeint ist, dass die Philosophie nicht einfach abrupt endet, sondern dass das Ende selbst dauert.

Das Ende der Philosophie als Ende der Phänomenologie

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Intuition — dem Intuitionismus — war.9 Es werden bei Derrida und Lacan als Vertreter eines post-philosophischen Denkens neue Begriffe, wie Struktur (weder Subjekt noch Objekt), Intersubjektivität (einer nicht objektivierenden Beziehung zum Anderen mit Hinblick auf eine radikale Historizität des Sinns), Differenz (die Differenz von Identität und Differenz) und Sinn (im Gegensatz zum Wissen oder dem Leben als Objekte der Reflexion, welche in der Sprache gründet), gewonnen. Die klassische Vorstellung einer Sammlung bzw. Synthese des Mannigfaltigen in einem Punkt oder einem sich selbst enthaltenen Bereich (dem Subjekt, einer Kategorie, der Idee) wird nun durch die Struktur von Zeit, Intersubjektivität und Sprache infrage gestellt. Denn Zeitlichkeit und Intersubjektivität (sowie Sprache, wo Zeit und Subjektivität zusammengebracht werden), kennzeichnen sich durch Spiele von Verweisungen: von einem Objekt zum Anderen, von einem Subjekt zum Anderen, von der Gegenwart zur Vergangenheit (Retention in der Phänomenologie Husserls) und zur Zukunft (Protention auch in der Phänomenologie), so dass das Wissen und das Subjekt selbst als distribuiert erscheinen. Philosophie als Metaphysik heißt hier die Leugnung dieser Struktur von Verweisungen also des Spiels von Differenzen.10 Die Sprachphilosophie nimmt mittels eines linguistic turn diese Struktur von Verweisungen 9

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Gödel findet in Husserl eine Methode aber auch eine Überzeugung nämlich, dass die ideellen Essenzen gewusst werden können, und dass diese im Alltag verwurzelt sind. Die kategoriale Intuition liefert Gödel ein Argument für die intuitionistiche Logik. Wenn axiomatische Systeme zu Widersprüchen führen, so muss man auf andere Mittel zurückgreifen. Goedel: „Husserl is a factualist not for the exact sciences but for everyday knowledge. Everyday knowledge is prescientific and much more hidden than science. We do not say why we believe it, how we arrive at it, or what we mean by it. But it is a scientific task to examine and talk about everyday knowledge, to study these questions of why, how and what. To deny that we can do this is an irrational attitude: it means that there are meaningful scientific problems that we can never solve“; in diesem Sinne ist es wahr, dass „Both Husserl and Freud considered-in different ways-subconscious thinking“; aber dieses Unbewusste ist nicht unzugänglich, darin besteht die wahre Metaphysik: „Leibniz believed in the ideal of seeing the primitive concepts clearly and distinctly. When Husserl affirmed our ability to "intuit essences," he had in mind something like what Leibniz believed. Even Schelling adhered to this ideal, but Hegel moved away from this. True metaphysics is constantly going away“; Metaphysik heißt für Gödel Intuition von Ideen im platonischen Sinne. Die Leistung von Husserl ist also unschätzbar: „Phenomenology is necessary in order to distinguish between knowing a proposition to be true by understanding it [by attaining an intuitive grasp of a proof of it] and by remembering that you have proved it. [A proposition or a proof is] a net of symbols associated with a net of concepts. To understand something requires introspection; for instance, the abstract idea of a proof must be seen [the idea ‘behind’ a proof can only be understood] by introspection“ In: (Wang, 1996, S. 166–169). Die Metaphysik bedeutet für Derrida den Rekurs auf ein transzendentales Signifikat, das das Spiel von Differenzen stoppen bzw. verhüllen will. Das transzendentale Signifikat — Objekt der Metaphysik — heißt aus dem Spiel sein (hors-jeu). Dagegen besteht die Dekonstruktion als Aufgabe des Denkens nach der Philosophie darin, das Spiel von Signifikanten als Werden ungehindert wieder herzustellen. Die Moderne wäre in diesem Sinne die Epoche des Stoppens des Werdens. Nicht weit davon entfernt wären Schillers und Goethes Berufung auf das Spiel und die Natur bei der Naturphilosophie. Schiller spricht in seinen Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen von einem Spieltrieb: „Der sinnliche Trieb will, daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will, daß die Zeit aufgehoben, daß keine Veränderung sei. Derjenige Trieb also, in welchem beide verbunden wirken (es sei mir einstweilen, bis ich diese Benennung gerechtfertigt haben werde, vergönnt, ihn Spieltrieb zu nennen), der Spieltrieb also würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren“ (Schiller, 1860, S. 51). Es ist also, als hätte das Spiel bei Derrida von jedem Zweck losgelöst, Veränderung ohne Inhalt, Werden ohne Sein; doch hat das Spiel den Sinn von Befreiung der Notwendigkeit.

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Umriss der vorliegenden Untersuchung

gegen die Behauptung auf, dass die Gegenwart sei einfach und rein anwesend. Gleichzeitig verbindet die Sprachphilosophie Zeit und Intersubjektivität. Dies ist eine Entdeckung von Husserl selbst. Sie resultiert aus seinen Analysen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins11, in welcher sich der paradoxe Charakter der Zeit bei der Subjektivität zeigt. Es ist auch bei Husserl12, wo das Problem der Intersubjektivität in den Vordergrund rückt. Husserls Analysen zur passiven Synthese13 sind in mehrfacher Hinsicht der Ausgangspunkt für das Denken des Endes. Sie enthalten aber überraschende Gedanken über den unbewussten und intersubjektiven Charakter der Subjektivität sowie Überlegungen darüber, was der nichtwissenschaftliche Boden der Wissenschaften sein kann. Ein ähnliches Schicksal erfuhren Husserls Analysen zum Zeitbewusstsein. Die in Husserliana X veröffentlichen Vorlesungen machen einen sehr kleinen Teil seiner Überlegungen aus. Die tiefsten Paradoxien dieser Analysen findet man auch in Notizen und Entwürfen seines Nachlasses.14 Aber beim Denken des Endes gerät die „klassische“ Begrifflichkeit der Philosophie pauschal in den Verdacht, rein und nichts anderes als metaphysisch, das heißt geschlossen und erschöpft zu sein, so dass nur die Flucht vor ihr legitim zu sein scheint. Metaphysik und Philosophie bedeuten dann beim Denken des Endes Befangenheit beim Gegenwärtigen. Husserl selbst trägt die Verantwortung für diese Auffassung der Philosophie als Wissenschaft des Gegenwärtigen, also durch die Evidenz. Daher muss man Husserl gegen den Strich — gegen seine eigene Absicht — lesen, damit a) das Denken des Endes intelligibel wird und b) wir die Paradoxien der Philosophie besser betrachten können. Husserl hat sicherlich nicht all seine Gedanken veröffentlicht. Die offizielle Phänomenologie, die veröffentlichen Texte sind ein sehr kleiner Teil seines Denkens. Er versuchte in seinen nicht publizierten Notizen und Entwürfen sich positiv mit den Paradoxien seiner Phänomenologie auseinanderzusetzen. Dagegen zeigen Heidegger und Derrida ständig den Rekurs aufs negative Denken, das de jure das Positive und Affirmative sein sollte. Ist aber nicht die via negativa mit ihrem strengen Verfahren auch eine negative Befangenheit? Ist nicht die Flucht in das dunkle Offene, wo die Philosophie, erschöpft und geschlossen, ihre Befreiung findet, zugleich eine Ohnmacht des Denkens? Es wird dann auf die Möglichkeit nicht naiver bzw. nicht metaphysischer Begriffe von Objekt, Realität oder Wirklichkeit, also einer nicht metaphysischen Gegenwart verzichtet. Das heißt, statt eine Weise zu finden, mit dem Paradoxen umzugehen, interpretieren die Denker des Endes der Philosophie das Paradoxe als das Unmögliche und das Unmögliche als das nicht Gegenwärtige und nicht zu Vergegenwärtigende. 11 12 13 14

Siehe: (Husserl, 1966). Siehe die V. Cartesianische Mediation in: (Husserl, Strasser, Ijsseling, van Breda & Bernet, 1973). Diese Analysen befinden sich verstreut in seinen letzten Schriften sind aber vor allem im Nachlass zu finden. Siehe dazu: (Husserl & Fleischer, 1966). Zusätzlich zu Husserliana X sind über die Zeitproblematik die Bernauer und die C-Manuskripte zu beachten: (Husserl & Lohmar, 2006).

Das Denken (an) der Grenze

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Wir fragen uns: Ist die Paradoxie das Andere des Logos oder, wie Groys sich ausdrückt, ist der Logos nicht an sich paradox?15 Und wenn das Paradoxon die Grenzen der Sprache und der Logik ans Licht bringt, darf man sich fragen, ob dieses Paradoxon zum Ausdruck gebracht werden kann. Derrida kreiert den (nicht)Begriff Différance als das (nicht) Objekt eines nicht mehr philosophischen Denkens. Diese Ur-Differenz befindet sich an der Grenze des Sagbaren.16

1.4 Das Denken (an) der Grenze Das Denken des Endes ist ein Denken der Grenze(n)17. Als Inschrift für seinen Aufsatz Tympan18 wählt Derrida Hegels Wissenschaft der Logik.19 Hervorgehoben sind die Worte Grenze und aufgehoben. Derrida erklärt, beim Denken des Endes „on plie l’Aufhebung“20. Warum aber und wozu? Die Philosophie hat immer eben diese Absicht gehabt, seine eigene Grenze zu bestimmen21. Doch begegnet die Philosophie ihrer Grenze, sagt Derrida, wenn es ihr 15

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Boris Groys schreibt: „Das genuine Denken, wenn man unter dem Denken die Aufdeckung der inneren, logischen Struktur eines Diskurses versteht, kann die logische Beschaffenheit dieses Diskurses nicht anders beschreiben als Selbstwiderspruch, als Paradox. Der Logos ist paradox“ (Groys, 2006, S. 18–19). Daher, behauptet er: „Dieses Paradox, mittels dessen Sokrates seine eigene Lage beschreibt, soll nicht eliminiert, nicht überwunden, aber auch nicht dekonstruiert werden - vielmehr begründet dieses Paradox den politischen Machtanspruch des Philosophen“ (Ebenda, S. 20). Noch zu diesem Thema sagt er: „In den letzten Jahrzehnten wurde die Suche nach den neuen glanzvollen Paradoxa sogar wesentlich intensiviert vor allem in der französischen Philosophie. Was auch immer im einzelnen über Bataille, Foucault, Lacan, Deleuze oder Derrida gesagt werden kann, das eine läßt sich nicht bestreiten: Sie reden in Paradoxa, sie bejahen das Paradox, sie streben nach dem immer radikaleren, allumfassenden Paradox, sie widersetzen sich allen Versuchen, das Paradox zu verflachen, unter die formallogisch korrekte Rede zu subsumieren. Eigentlich situieren sich diese Autoren dadurch in der besten philosophischen, nämlich platonischen Tradition. Aber gleichzeitig sehen sie sich - und zwar jeder auf seine eigene Art- als Dissidenten dieser Tradition. Für diese Autoren strahlt das Paradox nämlich nicht die Evidenz der Vernunft aus, sondern offenbart das dunkle Andere der Vernunft, des Subjekts, des Logos. Das Paradox entsteht für diese Autoren infolge der Ur-Besetzung der Sprache durch die Kräfte des Begehrens, des Körperlichen, des Festlichen, des Unbewußten, des Sakralen, des Traumatischen und/oder infolge der Materialität, der Körperlichkeit der Sprache selbst, d. h. es entsteht auf der sprachlichen, rhetorischen Oberfläche des Diskurses und nicht auf der tieferen, verborgenen Ebene seiner logischen Struktur“ (Ebenda, S. 26–27). Derrida: „Le dis- de la différence ne nous renvoie-t-il pas au-delà de l'histoire de l'être, au-delà de notre langue aussi et de tout ce qui peut s'y nommer ? N'appelle-t-il pas, dans la langue de l'être, la transformation, nécessairement violente, de cette langue par une tout autre langue ?“ (Derrida, 1972b, S. 26). Derrida: „Dans la familiarité des langues dites (instituées) par lui naturelles, celles qui lui furent élémentaires, ce discours [die Philosophie] a toujours tenu à s'assurer la maîtrise de la limite (peras, limes, Grenze)“. In: (Ebenda) Die Stelle stammt aus dem 1. Teil, 1. Buch (die Lehre vom Sein), 2. Abschinitt (Quantität), C. (die quantitative Unendlichkeit), wo die quantitativen Widersprüche des Verstandes laut den n Antinomien besprochen werden: „Die Thesis und Antithesis und die Beweise derselben stellen daher nichts dar, als die entgegengesetzten Behauptungen, daß eine Grenze ist, und daß die Grenze eben so sehr nur eine aufgehobene ist; daß nemlich die Grenze ein Jenseits hat, mit dem sie in Beziehung steht, wohin über sie hinauszugehen ist, worin aber wieder eine solche Grenze entsteht, die keine ist. Die Auflösung dieser Antinomien ist, wie die der obigen, transcendental, das heißt […]“ (Hegel, 2006, S. Lo1812:183-4). (Derrida, 1972b, S. 21); noch dazu: „[…] il s'agira presque constamment, dans ce livre, d'interroger la relevance de la limite. Et donc de relancer en tous sens la lecture de l'Aufhebung hégélienne, éventuellement au-delà de ce que Hegel, en l'inscrivant, s'est entendu dire ou a entendu vouloir dire […]“ (Ebenda, S. II). Derrida: „[…] un discours qui s'est appelé philosophie [...] a toujours, y compris la sienne, voulu dire la limite.

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Umriss der vorliegenden Untersuchung

nicht gelingt, ihr Außen zu beherrschen oder besser, seinen Willen nach Herrschaft auszuüben. Dafür gibt es kein Wort in unserer Sprache. Daher müsste man anders schreiben, um einem Denken nach der Philosophie Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Philosophie endet. Das bedeutet, sie begegnet ihren Randgängen — sie erweist sich als nicht absolut, sondern als bestimmt, als ein Text zwischen anderen.22 Dieses neue Denken findet ein Feld von Verhältnissen vor, aber kein Objekt, kein Subjekt. Die Grenze, also la marge, oszilliert zwischen Multiplizität und Einheit, ohne Versöhnung zwischen ihnen finden zu wollen23. Kann man aber dieses Feld, in dem die Philosophie eingeschrieben ist, untersuchen, aussprechen, denken?24 Dass Derrida die Wissenschaft der Logik als Inschrift gewählt hat, ist kein Zufall. Er spricht von einer „logique de la marge“25, von einer „logique de l’événement“26, einer „logique de la supplémentarité“27, und schließlich von „logique de la différence — qui peut etre alterié radicale — et non plus de l’opposition ou de la contradiction“.28 Doch ist für Derrida die Philosophie Logik und die Logik die Logik schlechthin, was die Philosophie blind für die Differenz macht29. Diese Logik ohne Logik, jenseits der Gegensätze ist einerseits die Forderung nach einem Dritten30, anderseits nur die „passage détourné et équivoque d’un différent à l’autre, d’un terme de l’opposition à l’autre“; man könnte also „reprendre tous les couples d’opposition sur lesquels est construite la philosophie […] pour y voir non pas s’effacer l’opposition mais s’annoncer une nécessité telle que l’un des termes y apparaisse comme la différance de l’autre“.31 Einer dieser Gegensätze — „fondatrice de la philosophie“, wie Derrida es formuliert hätte — ist der vom „ursprünglich vs. abgeleitet“32, der, wie jeder philosophische Gegensatz: bleibt „très dépendante et très dérivée au regard de

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[...] ce discours a toujours tenu à s'assurer la maîtrise de la limite [...] penser son autre. Son autre : ce qui la limite et dont elle relève dans son essence, sa définition, sa production […]la philosophie a toujours entendu, de son côté, se tenir en rapport avec le nonphilosophique, voire l'antiphilosophique, avec les pratiques et les savoirs, empiriques ou non, qui constituent son autre, [...] elle s'est constituée selon cette entente réfléchie avec son dehors, […] elle s'est toujours entendue à parler, dans la même langue, d'ellemême et d'autre chose […]“ (Ebenda, S. I,III). Derrida: „[…] au-delà du texte philosophique, il n'y a pas une marge blanche, vierge, vide, mais un autre texte, un tissu de différences de forces sans aucun centre de rééféérence présente […]“ (Ebenda, S. 19). Derrida: „[…] la démarcation passent ici entre dénier (pluralité de modes) et déconstruire (unité systématique d'une vrille)“ (Ebenda, S. XVI). „La multiplicité de ces tympans se laissera- t-elle analyser ? Sera-t-on reconduit, à la sortie des labyrinthes, vers quelque topos ou lieu commun nommé tympan ? C'est sur cette multiplicité, peut-être, que la philosophie, y étant elle-même située, inscrite, comprise, n'a jamais pu raisonner“ (Ebenda, S. XXIII–XXIV.). (Ebenda, S. 19). (Ebenda, S. XIII). (Ebenda, S. 184). (Derrida, 1980, S. 436). Derrida: „Ce qui n'exclut pas que selon la même logique, selon la logique même, la philosophie vive dans et de la différance, s'aveuglant ainsi au même qui n'est pas l'identique“ (Derrida, 1972b, S. 18). Derrida fodert: „Tertium datur, sans synthèse“ (Derrida, 1972a, S. 271). (Derrida, 1972b, S. 18). Derrida: „Or l'opposition de l'originaire et du dérivé n'est-elle pas encore métaphysique ?“ (Ebenda, S. 73).

Das Denken (an) der Grenze

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l’archi-écriture“.33 Das bedeutet, dass der Gegensatz „ursprünglich-abgeleitet“ seinerseits abgeleitet ist. Es ist richtig: „Le défini est donc impliqué dans le définissant de la définition“ 34, denn „Tout commence par l’intermédiaire“35. Warum aber eine Rede von archi-écriture, warum der Rekurs auf das Argument, dass die Philosophie rein abgeleitet sei? Kann man die ultimativen Grenzen der Philosophie richtig ziehen? Derrida fordert: „Tertium datur, sans synthèse“36 und er fordert auch das „concept de jeu“, dass „au-delà [... jeder] opposition, il annonce, [...] au-delà de la philosophie, l’unité du hasard et de la nécessité[…]“.37 Archi-écriture, différance, pharmakon, jeu, all diese (nicht)Begriffe spielen immer die gleiche Rolle: Sie erschüttern die festen Gegensätze der Philosophie (Natur-Kultur, Subjekt-Objekt, sensibel-intelligibel) und zeigen, wie jede Seite des Gegensatzes in die andere und ohne Synthese verkehrt. Diese sind „stille Operationen“, sie stellen nichts dar, sie bieten dem Bewusstsein keinen Inhalt an – weder sensibel noch intelligibel ist die différance unhörbar und unsichtbar.38 Sie ist nicht. Sie ist unaufhebbar. Sie liefert keine Vorstellung. Sie spielt die Rolle der Grenze, ohne damit eine Figur für das Denken gewonnen werden kann. Es geht um „Tympaniser — la philosophie“, um „L’être à la limite“39. Aber dieses Trommelfell befindet sich in einem Ohr, das eine Form ausstellt. Das Trommelfell, jene Membran als Zeichen der Grenze, zeigt sich zugleich als ein räumliches Spiel: zwischen dem Innen und dem Außen, aber auch als ein Ort: das vestibuläre System, das Labyrinth im Ohr.40 Dass sich die Philosophie — auch und besonders die von Hegel — graphisch darstellen lässt, ist für Derrida selbstverständlich. Die Philosophie präsentiert sich als eine konzeptuelle Maschine. Die zwei Merkmale der Metaphysik, beide eine Art „maîtrise appropriante“: „la 33 34 35 36 37 38

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(Derrida, 1967a). (Derrida, 1972b, S. 274). (Ebenda, S. 226). (Derrida, 1972a, S. 271). (Derrida, 1972b, S. 7). Derrida: „Or si la différance […] rend possible la présentation de l'étant-présent, elle ne se présente jamais comme telle. Elle ne se donne jamais au présent. A personne. Se réservant et ne s'exposant pas, elle excède en ce point précis et de manière réglée l'ordre de la vérité, sans pour autant se dissimuler, comme quelque chose, comme un étant mystérieux, dans l'occulte d'un non-savoir ou dans un trou dont les bordures seraient déterminables (par exemple en une topologie de la castration). En toute exposition elle serait exposée à disparaître comme disparition. Elle risquerait d'apparaître: de disparaître“ (Ebenda, S. 6). (Ebenda, S. I). Derrida: „Mais il s'agit inlassablement de l'oreille. Non seulement de la paroi abritée du tympan mais du conduit vestibulaire : « Terme d'anatomie. Cavité irrégulière qui fait partie de l'oreille interne. Vestibule génital, la vulve et toutes ses parties jusqu'à la membrane hymen exclusivement. Se dit aussi de l'espace triangulaire limité en avant et latéralement par les ailerons des nymphes [petites lèvres de la vulve], et en arrière par l'orifice de l'urèthre; c'est par cet espace qu'on pénètre en pratiquant la taille vestibulaire. E. lat. vestibulum, de la particule augmentative ve, et stabulum, lieu où l'on se tient (voy. étable), d'après certains étymologistes latins. Ovide au contraire, avec plus de raison, ce semble, le tire de Vesta parce que le vestibul contenait un feu allumé en l'honneur de Vesta [déesse du propre, de la familiarité, du foyer domestique, etc.] Parmi les modernes, M. Mommsen dit que le vestibulum vient de vestis, étant une chambre d'entrée où les Romains déposaient la toge (vestis). » Littré. Logés dans le vestibule, les récepteurs labyrinthiques de l'équilibration sont nommés récepteurs vestibulaires“ (Ebenda, S. X–XI). Man weiß, sei es nebenbei erwähnt, dass das vestibuläre System die Orientierung im Raum sichert.

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Umriss der vorliegenden Untersuchung

hiérarchie et l’enveloppement“ bilden fundamentale „complicités“, also: Si chacun des deux types est plus puissant ici (Aristote, Descartes, Kant, Husserl, Heidegger) ou là (Spinoza, Leibniz, Hegel), ils obéissent au mouvement d’une même roue, qu’il s’agisse finalement du cercle herméneutique de Heidegger ou du cercle onto-théologique de Hegel.41

Die Linie und der Kreis sind die Figuren der Metaphysik. Das Denken des Endes wird andere haben: den Chiasmus, das Möbius-Band, den Torus, z.B. Das Denken hat seine Form aber im Sinne eines Raumes, durch den die Argumente zirkulieren. Der Fluss des Werdens bewegt ein Rad — das Wissen — um seine Achse. Dabei geht keine Arbeit verloren, das Rad erreicht eine Maximierung. Diese ist der hermeneutische oder dialektische Kreis, wo Anfang und Ende sich berühren und damit eine Einheit bilden. Dafür gibt Derrida zwei Figuren: „le tympan de Vitruve“ und „le tympan de Lafaye“ 42:

Abb. 1 43

41 42

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(Ebenda, S. XV.). Derrida: „Dans le De architectura, Vitruve [...] a décrit […] la célèbre roue hydraulique qui porte son nom: un tambour ou cylindre creux est divisé par des cloisons qui s'ouvrent sur la surface du tambour. Elles s'emplissent d'eau. Arrivée à la hauteur de l'axe, l'eau passe dans le noyau et s'écoule au dehors. Le tympan de Lafaye comporte, au lieu des cloisons du tympan de Vitruve, des cloisons cylindriques suivant des développantes de cercle. On y fait l'économie des angles. En entrant dans la roue, l'eau ne se loge plus dans les angles. On réduit ainsi les chocs et du même coup la perte du travail. Je reproduis ici cette figure, hégélienne peut-être, du tympan de Lafaye (1717)“ (Ebenda, S. XV.). De hydraulicus machinis: (Vitruvvii, 1567, p. 384).

Das Denken (an) der Grenze

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Abb. 2 44 „Tympaniser la philosophie“ heißt anerkennen, dass „Tout concept est en droit et essentiellement inscrit dans une chaîne ou dans un système à l’intérieur duquel il renvoie à l’autre, aux autres concepts, par jeu systématique de différences“.45 Das „Spiel von Differenzen“ — ein Spiel, das von der Linguistik Saussures übernommen wird46, und daher den Bereich der Sprache, nicht als Logos, sondern als Schrift impliziert, liefert tatsächlich keine Figur, doch aber eine Form des Raumes. Die Philosophie lässt sich für Derrida durch ihre Logik definieren, aber dieser Logik entspricht auch eine „Räumlichkeit“. Die Philosophie stützt sich auf zwei Elemente: Hierarchie und Umgeben (enveloppement); die Philosophie ist einerseits das Grundlegende, worauf alles Empirische gegründet wird, sie ist anderseits das alles umgebende Ganze, der alles einschließende Kreis. Mathematisch gesehen ist die Hierarchie pure Transitivität47 und die Menge aller Mengen. Das Erste (Anfang) und das Zweite (das Abgeleitete), das Innen (Selbstbewusstsein) und das Außen (der Andere, autrui 44 45 46

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(Bélidor, 1819). (Ebenda, S. 11). Derrida über Saussure als Denker der Differenz und Vorgänger des Denkens der différance: „Mieux, le jeu de la différence dont Saussure n'a eu qu'à rappeler qu'il est la condition de possibilité et de fonctionnement de tout signe, ce jeu est lui-même silencieux. Est inaudible la différence entre deux phonèmes, qui seule permet à ceux-ci d'être et d'opérer comme tels. L'inaudible ouvre à l'entente les deux phonèmes présents, tels qu'ils se présentent. S'il n'y a donc pas d'écriture purement phonétique, c'est qu'il n'y a pas de phonè purement phonétique. La différence qui fait lever Tes phonèmes et les donne à entendre, à tous les sens de ce mot, reste en soi inaudible“ (Ebenda, S. 5); aber auch: „Un tel jeu, la différance, n'est plus alors simplement un concept mais la possibilité de la conceptualité, du procès et du système conceptuels en général. Pour la même raison, la différance, qui n'est pas un concept, n'est pas un simple mot, c'est-à-dire ce qu'on se représente comme l'unité calme et présente, auto-référente, d'un concept et d'une phonie. [...] La différence dont parle Saussure n'est donc elle-même ni un concept ni un mot parmi d'autres. On peut dire cela a fortiori de la différance“ (Ebenda, S. 11–12). Wenn a>b und b>c, dann: a>c

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Umriss der vorliegenden Untersuchung

auf Französisch): Dies macht den Horizont der Diskussion aus. Derrida verzichtet nicht auf Figurationen, sie sind aber unmöglicher Art, wie ein viereckiger Kreis. Oder vielleicht sind diese Figuren nur noch in einem bestimmten Raum unmöglich.48 In einer Besprechung über das nicht zu entziffernde der Nummer — also die Feststellung, dass die Nummer nicht immer auf eine bestimmte Zahl führt, stellt Derrida als ein typisches Beispiel einer dekonstruktiven Lektüre, das heißt, einer Lektüre am Leitfaden der différance dar. Zwei Aussagen, den Antinomien verwandt, kollidieren, aber ohne sich zu annullieren.49 Bei Derrida handelt es sich um eine Diskussion des Zeichens als „Verkörperung“ der Zeit. Was bedeutet das? Die Sprache ist das quasi-materialistische50 Medium, wo die Sprache seinen alten subjektiven Sitz verlassen kann. Die Zeit ist in der klassischen Philosophie das Medium der Subjektivität und deren Tätigkeit, es ist das Medium der Erinnerung und der Projektion, des Gedächtnisses und des Auffassens. Die Zeit ist der „eigentliche“ Modus der Subjektivität. Die Sprache aber befreit die Zeit vom Besitz dieser Subjektivität. Die Sprache ist die Materialität der Zeit. Wenn die „Wahrheit“ der Subjektivität die Zeitlichkeit ist, ein Ergebnis, das Derrida von Husserl und Heidegger übernimmt, und die der Zeitlichkeit das Verschieben (retard) wäre51, so darf man sagen, dass diese Verschiebung oder Verzögerung (retard) eben die différance bedeutet. Aber der (nicht)Begriff différance entstand, wie wir gesehen haben, aus der

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In La loi du genre liefert Derrida ein Beispiel davon: „[…] je parlerais d'une sorte de participation sans appartenance. Le trait qui marque l'appartenance s'y divise immanquablement, la bordure de l'ensemble vient à former par invagination une poche interne plus grande que le tout, les conséquences de cette division et de ce débordement restant aussi singulières qu'inimitables“ (Derrida, 1986, S. 256). Derrida: „Ces deux propositions se retournent l'une contre autre, se dédoublent et se contredisent l'une l'autre.. Elles forment un cercle carré: les Nombres seraient indéchiffrables parce que quelque chose en eux excède le chiffre; et pourtant ils seraient indéchiffrables parce que tout y est non pas chiffre, mais de chiffre. Indéchiffrables parce que nombrables, indéchiffrables parce qu'innombrables. Scription contra-diction à relire. Cercle de la quadrature“ (Derrida, 1972a, S. 403). Derrida: „La matérialité du « signifiant », dirait-on, fonctionne toute seule comme « symbolisme inconscient »“ (Derrida, 1972b, S. 116). Derrida: „[…] que le retard soit la destinée de la Pensée elle-même comme Discours, seule une phénoménologie peut le dire et faire affleurer en une philosophie. Car seule elle peut faire apparaître l'historicité infinie, c'est-à-dire le discours et la dialecticité infinis comme la possibilité pure et l'essence même de l'Être en manifestation. Seule elle peut ouvrir à l'Être-Histoire la subjectivité absolue du Sens en faisant apparaître, au terme de la plus radicale réduction, la subjectivité transcendantale absolue comme pure temporalité passive-active, comme pure auto-temporalisation du Présent Vivant, c'est-à-dire déjà, nous l'avons vu, comme intersubjectivité. Intersubjectivité discursive et dialectique du Temps avec lui-même en l'infinie multiplicité et l'infinie implication de ses origines absolues, donnant droit à toute autre intersubjectivité en général et faisant irréductible l'unité polémique de l'apparaître et du disparaitre. Le retard est ici l'absolu philosophique, parce que le commencement de la réflexion méthodique ne peut être que la conscience de l'implication d'une autre origine absolue, antérieure et possible en général. Cette altérité de l'origine absolue apparaissant structuralement dans mon Présent Vivant et ne pouvant apparaître et être reconnue que dans l'originalité de quelque chose comme mon Présent Vivant, cela signifie l'authenticité du retard et de la limitation phénoménologiques. Sous la grise apparence d'une technique, la Réduction n'est que la pensée pure de ce retard, la pensée pure en tant qu'elle prend conscience de soi comme retard en une philosophie“ (Husserl & Derrida, 1995, S. 170).

Das Denken (an) der Grenze

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linguistischen Differenz zwischen Signifikanten, die den relativen Wert (Sinn) eines Wortes oder eines Satzes laut Saussure bestimmt. Man erkennt den Isomorphismus zwischen Husserls Zeitlehre und Saussures Linguistik. Die Folge von Worten in einem Satz ist wie die Folge von Momenten in der sich selbst auffassenden Subjektivität. Aber die Schrift braucht keinen Geist, sie braucht nur eine Fläche, um niedergeschrieben zu werden. Der Signifikant ist einerseits Idealität — als Zeichen, das jeder verstehen muss, weil es gemeinsam ist — und Materie — Tinte oder Ton, zum Beispiel. Aber eben darum ist der Signifikant auch Figur, Strich oder Zug. Das X beispielsweise kann ein Buchstabe, eine nicht zu entziffernde Nummer oder ein Chiasmus sein. Es ist Buchstabe, unbekannte Größe und Diagramm.52 Die Philosophie der modernen Subjektivität wächst zusammen mit einer Bestimmung der Zeit als der ursprünglichsten Bedingung der Subjektivität. Zeit ist das Medium des Subjektiven schlechthin. Der Raum spielt dagegen die Rolle des Externen, des Abgeleiteten. Es sind die Paradoxien des Zeitbewusstseins bei Husserl, welche innerhalb einer transzendentalen Philosophie die Notwendigkeit einer distentio animi im Sinne Agustinus’ zeigen. Aber die weitere Bearbeitung der Zeitproblematik bei Husserl wird a) die Form der Zeit und deren Komplexität verändern, so dass die Zeit mehr Dimensionen gewinnt, und b) die Zeit darstellen als ein Spiel von Verlorengehen und Behalten, von Trennung und Kontinuität, von Innerlichkeit und Sequenz. Die Zeit ist einerseits eine Folge von Momenten anderseits ein Kontinuum. Husserl muss auch der „Räumlichkeit“ — nicht im Sinne des Seienden, sondern im Sinne der Form der Erfahrung selbst — eine andere Funktion in Bezug auf die Intersubjektivität zusprechen. Der Andere ist „außen“. Er ist außer mir und kann nicht als ein Objekt „konstituiert“ werden - der Andere geht mir voran. Ich bekomme von ihm die Sprache, mein Ich entsteht dank eines anderen Ichs. Die subjektiven Monaden brauchen eine gemeinsame Welt und einen offenen Raum zugleich. Intersubjektivität impliziert das Problem der Gleichzeitigkeit. Es ist dann die Geschichte, welche Intersubjektivität und Zeit, Differenz und Gleichzeitigkeit zusammenbringt. Die Tradition ist ein Kontinuum unter der Leitung der Idee und eine Folge von konstanten Brüchen, von Vergessenheit. Diese Geschichte ist radikal gedacht, denn sie setzt keine apriorischen und ewigen Gedanken oder Ideen voraus. Alles entsteht in der Welt und in der Zeit. Und doch ist diese Zeit nicht (ganz) empirisch, sondern transzendental. Diese Bewegung von Verinnerlichung und Entäußerung der Subjektivität erkennt Derrida im Bereich des Zeichens. Das Zeichen ist die (quasi) materielle, weil äußerliche, Stütze des Subjekts, das Moment, wodurch es sich äußert und sich zugleich entfremdet. Die kulturellen Produkte sind, wie beim Idealismus, Entäußerungen, welche aber nie wieder ganz verinnerlicht und angeeignet werden können. Derrida nennt dies das Zeit-Werden des Raumes und das Raum-Werden der Zeit.

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Siehe: La Dissémination, Kapitel XI: Le Surnombre in: (Derrida, 1972a).

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Umriss der vorliegenden Untersuchung

Die Zeit ist Zeit dank einer Verzögerung, einer Differenz zu sich selbst. Diese Verzögerung ist das Raum-Werden der Zeit. Diese Verzögerung ist die Differenz der Zeit zu sich selbst. Aber diese Differenz ist auch eine Struktur, denn diese Differenz impliziert eine Gleichzeitigkeit von verschiedenen Momenten. Doch man kann diese Ur-Gleichzeitigkeit der differierenden Momente nicht Gleichzeitigkeit nennen. Es ist eine Gleichzeitigkeit ohne Gleichzeitigkeit oder vor der empirischen Gleichzeitigkeit. Der Raum impliziert immer Gleichzeitigkeit, die Zeit, Sequenz. Eine erweiterte Räumlichkeit bestünde also darin, dass das Raum-Werden der Zeit in mehrere Richtungen erfolgt, so dass der Anfang, zu einer „Poly-archie“, zu mehreren Anfängen wird. Das heißt, wo Zeit und Raum sich selbst aus und in verschiedene Richtungen konstituieren. Diese Konstitution konfiguriert einen Raum von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. In diesem Sinne wäre die Zeit ein Raum-Schaffen. Der Raum ist der Körper der Zeit. In diesem Zeit-Raum heißt ein Ereignis: Statt-finden. Raum könnte man auch die Leere nennen, oder eine nicht ganz leere Leere. Aber wir müssen vorsichtig sein. Leere ist nicht das schlechthin Negative, oder das (ganz) Unfassbare und Unbekannte. Man kennt ein System, in dem man sich befindet, eben durch Mitteilungen und Austausch mit anderen. Dieser Raum bestimmt nicht apriori, was überhaupt geschehen kann, denn der Raum ist nicht enthaltend, sondern dürch das mit-konstituiert, was „in ihm“ ist. Ein Raum ist auch offen, und obwohl er eine Struktur hat, ist er auch freier Raum oder SpielRaum, was nicht vorhergesagt oder antizipiert werden kann. Nicht antizipieren zu können, heißt also auch, dass man manchmal antizipiert, was man für nicht „antizipierbar“ hält. Will man dem Zufall Platz machen, sollte man ihn nicht zum Gesetz erheben. Das gleiche gilt für die Differenz: Sie hört auf, wirkungsvoll zu sein, wenn sie als Ersatz der Identität oder als deren Möglichkeitsbedingung betrachtet wird. Natürlich bedeutet diese andere Räumlichkeit nicht nur die Auseinandersetzung der Tradition mit sich selbst, sondern die Kreuzung — fruchtbar oder misslungen — verschiedener Zeiten in einem offenen Raum. Gewiss bedeutet der linguistic turn eine Begrenzung der modernen Subjektivität, eine „Delogo-phallus-anthropomorphisierung“; aber er reifiziert den Bereich der Kultur. Eine weitere Reduktion sollte die Kultur der Natur aussetzen, ohne damit auf einen naiven Naturbegriff oder auf den Gegensatz Kultur-Natur zu rekurrieren. Dieser Raum sollte eben das Offene sein, wo die Befangenheit aufhört. Beim Denken dieses Raumes im Zusammenhang mit der Zeit ist vielleicht der Rekurs auf Figurationen zulässig. Nicht weil man denkt, das Bild könne den Raum darstellen. Das Bild ist nichts anderes als die vergängliche Projektion des Raums, in dem wir uns befinden. Und vielleicht erlaubt uns dieser Raum-Begriff einen anderen Zugang zur Praxis. Denn auf einer anderen Ebene heißt Praxis Öffentlichkeit, public space, also unsere Strukturen und Zusammenhänge, die Gleichzeitigkeit des nicht ganz Gleichzeitigen, das Zusammenleben, das mit — cum auf Latein — und zwischen, der Inter-Subjektivität, wo das inter nicht nur Subjektiviät enthält.

Öffnung und Geschlossenheit

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Denken des Endes, wie bereits gesehen, eine ambivalente Position in Bezug auf eine neue Logik zeigt. Das angekündigte jenseits oder nach oder auch vor der Philosophie konfrontiert sich zum einen nicht mit der Möglichkeit einer anderen Logik. Es geht davon aus, dass jede Logik abgeleitet, also unwesentlich und nicht originär sei. Die Welt, sei sie als Ökonomie, als Gesellschaft oder als konkrete Wissenschaft verstanden, erfährt ein ähnliches Schicksal: Sie wird als von einem (quasi) Transzendentalen — sei es der Sprache oder dem Sein — bestimmt, und geht daher davon aus, dass einer Kritik der Welt eigentlich immer eine fundamentalere Arbeit innerhalb der Sprache und in Bezug auf das Sein vorangeht. Zugleich aber ist diese Arbeit so „fundamental“, dass ihr Zusammenhang mit der bedingten Welt vor unseren Augen verdampft. Dieses Denken rekurriert in bestimmter Weise auf die Hierarchie — mit ihrem Rekurs auf das Originäre, auch wenn paradoxerweise — und das Umgeben, wenn es behauptet, die Philosophie sei eben von ihrem Anderen umgeben.53 Die Argumentation dieses Denkens zeigt allerdings auch noch etwas anderes: Es wird auf indirekte Weise durch den Gebrauch der Sprache immer auf eine andere Logik (im weiteren Sinne verstanden) verwiesen. Weiterhin darf man sagen, dass in der Tat nur ein Resultat der Logik privilegiert wird: die einfache und negative Aporie. Grammatik und Logik sind streng verwandt. Oft genug sagt man, etwas sei unaussprechlich, weil uns die Logik dafür fehlt. Unter Logik verstehen wir keinen transzendenten/transzendentalen Logos, keine ewige der Welt zugrunde liegende Ordnung. Die gemeinte Logik ist eine Logik der Welt, für die Welt und in Bezug auf die Welt in ihrer Zeitlichkeit. Wir befinden uns deutlich im gemeinsamen Territorium von Logik und Existenz, Sprache und Welt, Genese und Struktur. Wir sehen allerdings bei diesem Denken des Endes der Philosophie, wie die Welt und das Reale hinter dem Sinn und der Sprache verblassen. Und doch ist bei diesem Denken die Rede vom Realen grundlegend, einem Realen, das weder rein positiv (Gegenwärtig), noch rein negativ (als Flucht vor der Gegenwart) sein will. Aber es gelingt ihm nicht, beiden Forderungen gerecht zu werden. Wir sehen in dieser Position selbst jene negative Struktur von weder-noch, über die wir in Bezug auf die hier herrschende negative Rede gesprochen haben. Es sei nebenbei bemerkt, dass die Aporie eine negative Form wedernoch aber auch eine positive sowohl als auch annehmen darf.

1.5 Öffnung und Geschlossenheit Philosophie ist Metaphysik, die Metaphysik wiederum Onto-theologie. Diese heideggersche Ansicht wird von Derrida übernommen. Das Ende der Philosophie bedeutet für den letzteren

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Derrida: „La différance est non seulement irréductible à toute réappropriation ontologique ou théologique — onto-théologique — mais, ouvrant même l'espace dans lequel l'onto-théologie — la philosophie — produit son système et son histoire, elle la comprend, l'inscrit et l'excède sans retour“ (Derrida, 1972b, S. 6).

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Umriss der vorliegenden Untersuchung 54

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„la clôture de l’ontologie“ , „la clôture métaphysique“ , also „la clôture grecque-occidentale56

philosophique“. Die Philosophie wird als Metaphysik, diese als Denken einer privilegierten Form der Zeit - der Gegenwart - betrachtet. Eine Öffnung — das ist: ein Ausweg aus der Geschlossenheit (clôture bedeutet außerdem vollenden, abschließen und vielleicht auch verschließen) der Metaphysik — zur radikalen Zeitlichkeit und Intersubjektivität führe hierbei zum Denken des Anderen und der Differenz. Aber das Andere und die Differenz tauchen gegenüber dem metaphysischen Denken rein negativ auf, also als eine Subtraktion der Philosophie. Dieses Denken der Differenz soll aber das schlechthin Positive, Konstituierende sein, denn es versteht sich als „älter“ als der ontologische Ursprung, also älter als die Ontologie 58

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selbst und gilt daher als deren (quasi-

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transzendentale ) Möglichkeitsbedingung. Derrida liest die so genannte onto-theologische Tradition als ein Symptom. Die Schrift – Derridas Kernthema in seinem Werk De la Grammatologie ist die Verwandlung der philosophischen Metaphysik in eine Problematik der 60

Sprache. Die Schrift ist nichts anderes als Annahme und Bejahung dieses Symptoms. Die Öffnung der Tradition, die Überwindung der Geschlossenheit der Philosophie erfolgt, Heideggers Destruktion folgend, durch den Abbau der klassischen Begrifflichkeit der Philosophie und des Systems, in welchem sie ihre Argumente konstruiert: dem der Dekonstruktion. Die Dekonstruktion dieser Tradition als Abbau der klassischen Begriffe der 54 55 56 57

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(Ebenda, S. 24). (Ebenda, S. 58). (Ebenda, S. 75). Zum Beispiel Derrida: „Si l'être, selon cet oubli grec qui aurait été la forme même de sa venue, n'a jamais voulu dire que l'étant, alors la différence est peut-être plus vieille que l'être lui-même. Il y aurait une différence plus impensée encore que la différence entre l'être et l'étant“ (Ebenda, S. 77). Derrida: „Transcendantale serait la Différence. Transcendantale serait l'inquiétude pure et interminable de la pensée œuvrant à « réduire » la Différence en excédant l'infinité factice vers l'infinité de son sens et de sa valeur, c'est-à-dire en maintenant la Différence. Transcendantale serait la certitude pure d'une Pensée qui, ne pouvant attendre vers le Telos qui s'annonce déjà qu'en avançant sur l'Origine qui indéfiniment se réserve, n'a jamais dû apprendre qu'elle serait toujours à venir“ (Husserl und Derrida, 1995, S. 171). Derrida über die Differenz als Möglichkeitsbedingung des Zeichens: „Mieux, le jeu de la différence dont Saussure n'a eu qu'à rappeler qu'il est la condition de possibilité et de fonctionnement de tout signe, ce jeu est lui-même silencieux“ (Derrida, 1972b, S. 5). Das Spiel besteht aus Differenzen; aber was differiert? Die Differenzen selbst. Oder Differenz ist Wiederholung. Dadurch konstituiert sich der Bereich des Idealen im Sinne von Husserl: Wiederholung in Differenz, unendliche Iterierbarkeit und Unmöglichkeit einer perfekten Iterierbarkeit zugleich. In Bezug auf die Unterschrift als Betrachtung der Verschwindung des Autors in der Schrift nach Derrida erklärt er diesen Charakter der Sprache: „Je pose donc la question suivante: est-ce que cette possibilité générale est forcément celle d'un échec ou d'un piège dans lequel le langage peut tomber ou se perdre comme dans un abîme situé hors ou devant lui ? [...] Ou bien ce risque est-il au contraire sa condition de possibilité interne et positive ? ce dehors son dedans ? La force même et la loi de son surgissement ?“ (Ebenda, S. 387). Diese von Derrida gemeinte Gefahr ist das reziproke Verhältnis zwischen Differenz, Spiel und Wiederholung: „Pour fonctionner, c'est-à-dire pour être lisible, une signature [sowie jede Aussage, A.R.] doit avoir une forme répétable, itérable, imitable; elle doit pouvoir se détacher de l'intention présente et singulière de sa production. C'est sa mêmeté qui, altérant son identité et sa singularité, en divise le sceau“ (Ebenda, S. 392). Derrida: „Cette inflation du signe «langage» est l'inflation du signe lui-même, l'inflation absolue, l'inflation elle-même. Pourtant, par une face ou une ombre d'elle-même, elle fait encore signe : cette crise est aussi un symptôme“ (Derrida, 1967a, S. 15).

Öffnung und Geschlossenheit

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Philosophie bei „l’articulation d’un discours et d’une totalité historique„ ist eine „phase primordiale et indispensable, en fait et en droit, dans le développement de cette problématique“, 61

die darin besteht, „interroger la structure interne de ces textes comme de symptômes“.

In De la Grammatologie analysiert Derrida Rousseau als Beispiel dieser Tradition: dabei lässt sich das Wesentliche der Metaphysik erkennen: Rousseau als Vertreter der Metaphysik: „[S]’y résigne, il en retient les symptômes dans les contradictions réglées de son discours, il l’accepte et le refuse mais il ne l’affirme pas. Par ce dernier geste et par tout ce qui s’ordonne à lui dans la pensée de Rousseau, le sens est mis hors-jeu. Comme dans toute la métaphysique onto62

théologique, comme chez Platon déjà“. Die Dekonstruktion ist ein strategisches Verfahren, welches jenes Spiel der Differenz als eine Form radikalisierter Zeitlichkeit erkennen lässt. Diese radikalisierte Zeit gilt als Möglichkeitsbedingung aller Phänomene im Sinne Husserls. Diese Zeitlichkeit soll der Welt, Subjektivität und Intersubjektivität vorangehen. Dies erfolgt, indem das Andere vor allem als zeitliche Verschiebung und nicht als Gemeinsamkeit, als Simultaneität zu verstehen ist. Wie kann man das behaupten, wenn die Gegenwart eben Resultat einer Struktur der Zeit — im Zusammenspiel von Vergangenheit und Zukunft — ist? Wie kann man dies Behaupten, wenn eben die Signifikanten nur noch durch strukturelle Differenzen ihren Wert gewinnen? Wie kann man dies behaupten, wenn Derrida sagt: „[…] cette temporisation est aussi temporalisation et espacement, devenir-temps de l’espace et devenir- espace du temps […]“ ?

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Der Raum wird Zeit und die Zeit Raum. Der eine wird die Andere und umgekehrt. Der eine ist der Andere in différance, das Bedeutet: Der eine ist der andere, aber verschoben. Zeit und Raum sind nicht simultan. Man hat entweder Zeit oder Raum. Raum, der seine Gleichzeitigkeit der Verschiebung aussetzt, Zeit, die dank der Materialität der Sprache keine ätherische Kontinuität darstellt. Die Zeit unterbricht den Raum, der Raum unterbricht die Zeit. Verschiebung ist Unterbrechung und Entgehen bzw. Vergehen. Zum einen gewinnt die Zeit durch die Struktur von Verweisungen zwischen Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit eine gewisse Räumlichkeit, wohingegen der Raum durch die Verschiebung eine gewisse Zeitlichkeit erfährt. Aber am Ende ist es nur die Zeit, welche das Primat besitzt. Doch die Zeit ist nichts anderes als Verschiebung, also éspacement etc. Das erzeugt jedoch ein Paradoxon. Oder besser, es erzeugt ein Regressus ad infinitum, nicht des Anfangs sondern als Anfang. Der Anfang ist der Regressus. Die Aufgabe des postphilosophischen Denkens bestünde darin, dieses Unmögliche zu denken. Jene Ur-Positivität, die uns immer entgeht, könnte man das Reale bei diesem „nach-philosophischen“ Denken nennen. Derrida sagt: Was „[…] die Affirmation des Unmöglichen betrifft, so [wurde] sie stets im Namen des Realen, der 61 62 63

(Ebenda, S. 148). (Ebenda, S. 367). (Derrida, 1972b, S. 8).

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Umriss der vorliegenden Untersuchung 64

irreduzierbaren Realität des Realen vorgebracht“.

1.6 Das Reale Die so genannte Vollendung der Philosophie und das Motiv einer nachphilosophischen Ära kreuzen sich mit der Selbstbezüglichkeit des Denkens, in der sich die Philosophie ihrem eigenen Verfahren unterzieht (man muss nach Derrida plier l’Aufhebung, das phänomenologische Subjekt reduzieren, wie wir sehen werden). Autorität und Kritik waren allzu naiv also nicht genug ursprünglich. Doch sind die Philosophie und ihre Ressourcen der Zugang zu ihrer Dekonstruktion. Die Philosophie gegen sich selbst, die Philosophie ohne Philosophie, die Philosophie, die sich analysiert, ohne als Philosophie weiter überleben zu 65

wollen, die Philosophie in différance.

Vollendung heißt erstens die gelungene Selbstbezüglichkeit als Selbstbewusstsein (sich-selbsthören, sich-sehend sehen des Bewusstseins). Das Reale als Aporie impliziert dagegen das Scheitern in dieser Bewegung (sich nicht (ganz) hören können, vom Anderen (vorher) gehört zu werden), die Unterbrechung der Vollendung des Kreises des Sich-hörens als Wissen und Bewusstsein. Das Paradoxale entsteht hierbei aus einer verdoppelten Reflexivität. Das heißt, das Transzendentale wird erstmals durch das Bewusstsein reduziert (im phänomenologischen Sinn), danach wird das Bewusstsein selbst reduziert. Hegel behauptete „contradictio est regula veri, non contradictio, falsi“.66 Nun dürfte man sagen „aporia est regula veri ... contra veritas“. Die Wahrheit wird beim Idealismus, wahrer Gegenpol des Denkens des Endes der Philosophie, als Selbstbewusstsein verstanden. Die Reduktion des Bewusstseins führt wiederum zur Geschichte seiner eigenen Konstitution. Aber da das Bewusstsein immer „zu spät“ zu seiner eigenen Konstitution kommt, ist sein Anfang immer ein durch etwas ihm Fremdes Vermitteltes, d.h., der Anfang an sich ist immer als solcher verloren gegangen. Diese aporetische Verdoppelung ist nicht mehr dialektisch im Sinne Hegels. Das Denken des Endes der Philosophie ergibt sich eher aus einer Verdoppelung der transzendentalen Philosophie und stützt sich darum auf den Unterschied Grund-Begründet, Sein-Seiendes (auch wenn das Grundlegende außerhalb des Ich oder des Wissens laut dem Denken des Endes liege). Dies wiederum unterzieht sich einer phänomenologischen Reduktion, also einer Art reflexiven Negativität. Das Resultat ist eine instabile Lage und eine „autoimmunitäre“ Aggression des 64 65

66

(Derrida & Engelmann, 2006, S. 287). Derrida: „De quoi s'autoriser en dernier recours, sinon de la philosophie encore, pour disqualifier la naïveté, l'incompétence ou la méconnaissance, pour s'inquiéter de la passivité ou pour limiter le plaisir ? Si la valeur d'autorité demeurait au fond, comme celle de critique elle-même, la plus naïve ?“ (Derrida, 1972b, S. XVIII). Hegels Habilitationsschrift: (Hegel & Neuser, 1986, S. 74). Dieses Zitat wird mehrmals in dieser Arbeit auftauchen, denn es besitzt einen ausgezeichneten Charakter in Bezug auf die Möglichkeit einer Logik der Paradoxie und der Komplexität.

Das Reale

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Denkens gegen sich selbst. Derrida redet von der Autoimmunität als jenen unvermeidlichen „Contradictions that are, in fact, destined to remain; for they are aporias that have to do, once again, it seems to me, with that autoimmunitary inevitability whose effects we are constantly registering“.67 Diese Autoimmunität stammt aus dem Bereich der Biologie, zeigt aber eine gewisse Logik: It is especially in the domain of biology that the lexical resources of immunity have developed their authority. The immunitary reaction protects the “indemn-ity” of the body proper in producing antibodies against foreign antigens. As for the process of auto-immunization, which interests us particularly here, it consists for a living organism, as is well known and in short, of protecting itself against its self-protection by destroying its own immune system. As the phenomenon of these antibodies is extended to a broader zone of pathology and as one resorts increasingly to the positive virtues of immuno-depressants destined to limit the mechanisms of rejection and to facilitate tolerance of certain organ transplants, we feel ourselves authorized to speak of a sort of general logic of autoimmunization.68

Das Denken des Endes der Philosophie ist eine „Faltung“ (= Verdoppelung) der Dialektik mit Mitteln der transzendentalen Philosophie. Diese Verdoppelung kann man auf verschiedenen Ebenen sehen, vor allem aber in der Faltung einer Philosophie der Geschichte. Der Begriff Geschichte wird hier geschichtlich betrachtet und dabei Infrage gestellt. Eine Diskussion über das Ende der Philosophie impliziert offenbar eine Diskussion über den historischen Beginn der Philosophie aber mutatis mutandis auch eine über ihr Prinzip, das heißt über ihren Anfang im Sinne von Ursprung oder arché. Solch eine Diskussion über Anfang und Ende besitzt also einen Doppelsinn: Ursprung, gemäß der Philosophie, und Ursprung der Philosophie als solcher, als Diskurs. Die Dekonstruktion des philosophischen Diskurses und dabei von ihrem Begriff Anfang behauptet paradoxerweise, dass die Philosophie nicht genug ursprünglich sei, weil sie sich eben auf den Begriff Ursprung stütze. Sie bleibt dabei „naiv“. Das Denken des Endes wäre demgemäß ein ursprünglicheres Denken. Ende bedeutet auch Vollendung und Erschöpfung sowie Aufhören. Wir sehen hier deutlich eine Form der Aufhebung, wie Hegel sie gedacht hat. Die Philosophie soll nach den Denkern des Endes, besonders Derrida, ihre Auflösung als und durch die Schrift finden. Derrida übersetzt den hegelschen Begriff Aufhebung mit dem französischen Wort 67 68

(Habermas, Derrida & Borradori, 2003, S. 121). (Ebenda, S. 187–188). Da knüpft Derrida an einen alten Gedanken: „The pharmakon is another name, an old name, for this autoimmunitary logic“ (Ebenda). Vom Pharmakon hatte er in einem früheren Aufsatz eine der différance sehr ähnliche Betrachtung präsentiert: „Only a little further on, Socrates compares the written texts Phaedrus has brought along to a drug (pharmakon). This pharmakon, this ‚medicine‘, this philter, which acts as both remedy and poison, already introduces itself into the body of the discourse with all its ambivalence. This charm, this spellbinding virtue, this power of fascination, can alternately or simultaneously—beneficent or maleficent. The pharmakon would be a substance —with all that that word can connote in terms of matter with occult virtues, cryptic depth refusing to submit their ambivalence to analysis, already paving the way for alchemy —if we didn't have eventually to come to recognize it as antisubstance itself: that which resists any philosopheme, indefinitely exceeding its bounds as nonidentity, nonesence, nonsubstance; granting philosophy by the very fact the inexhaustible adversity of what funds it and the infinite absence if what founds it“ (Derrida, 1995, S. 70).

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Umriss der vorliegenden Untersuchung 69

relèver. Es geht also um „relancer en tous sens la lecture de l’Aufhebung hégélienne“. Das Ergebnis davon ist, wie bereits erwähnt: „On plie l’Aufhebung — la relève — à s’écrire autrement. Peut-être, tout simplement, à s’écrire. Mieux, à tenir compte de sa consommation 70

d’écriture“.

Schrift heißt eine Radikalisierung des Zeitbegriffs und damit der Differenz. Das Ich, das Bewusstsein, das Wissen usw. müssen dabei als konstituierte Figuren gelten, welche auf ihre Konstitutionsgeschichte zurückgeführt werden müssen. In Bezug auf den Zusammenhang von Anfang (arché) und Ende (telos) sowie deren Entwicklung als Dialektik des Geistes, wie bei Hegel, oder als passive Synthese des Ich von Retentionen und Protentionen wie bei Husserl, muss alles Subjektive seinen Ort auch in der Zeit (als Konstituiertes) finden. Differenz ist nur noch der Name für eine ur-transzendentale Unterscheidung, différance (Derrida), die einer Differenz in der Differenz. Eine unterbrochene Aufhebung (die différance) ist einerseits negativ: Sie wirkt gegen sich selbst und suspendiert das dritte Moment der Aufhebung. Anderseits will dieses Denken des Endes der Philosophie anhand der Differenz ein Drittes einführen, das die klassischen Gegensätze der Philosophie vermeidet, überwindet und einschließt. Das heißt, dieses Denken verlangt auf der einen Seite das höchste Prinzip der klassischen Logik, das tertium non datur, im Namen einer anderen Logik zu suspendieren. Auf der anderen Seite bestätigt dieses Denken die klassische Logik, in deren Rahmen das Denken als Aporie und ihre Überwindung als unmöglich betrachtet werden kann. Eine Aporie ist eine solche nur innerhalb bestimmter Regeln. Das Reale ist, unter dem Primat des Motivs Ende der Philosophie, der Name einer Aporie in der Philosophie im Moment ihrer Verdoppelung als Geschichtsphilosophie, was sich in einer paradoxen Logik widerspiegelt. Das Reale ist der Name eines Problems, oder genauer gesagt, einer Aporie. Es geht um das Reale gegen das Reale selbst. Denn das Reale ist in den Augen der Denker des Endes der Philosophie ein naiver Begriff, er ist metaphysisch, wenn man so will. Das Reale ist die Unmöglichkeit des Realen, oder real ist nur das Unmögliche. Im eigentlichen Sinn ist das Reale Streitsache, die Angel zwischen Philosophie und Nicht-Philosophie (sei es Dekonstruktion oder Psychoanalyse), in ihm liest man die Grenzen der Philosophie und die Grenzen der NichtPhilosophie, da wo die erstere sich in die zweite verkehrt, und wo wiederum die letztere auf die erstere verweist - wo beide sich kreuzen. Im Namen des Realen befragen wir die Abstraktionen des Denkens des Endes der Philosophie. Aber dabei beachten wir dieses Denken und die Frage wie es das Reale als Unmöglichkeit und Aporie gedacht hat. Das Reale konjugiert und organisiert bei diesem Denken das Paradoxe 69 70

(Derrida, 1972b, S. II). (Ebenda, S. 21).

Das Reale

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selbst. Mit anderen Worten: „Real“ ist der Name der zum Absoluten erhobenen Paradoxie, die das „post-philosophische“ Denken beherrscht und die besagt: „vom Realen kann/soll/darf man nicht sprechen“. Daraus folgt eine negative Rede, die Rede über das Unmögliche und die Angst vor dem Positiven. Warum diese Angst? Denn „Metaphysik“ bedeutet einerseits die Aporien der Philosophie, anderseits aber deren politische Konsequenzen. Die Metaphysik gilt hier als „Ursache“ der technischen Welt (woraus laut Heidegger Krieg und Totalitarismen resultieren) und nach Derrida eines Ethnozentrismus, sowie nach Lacan „Grund“ für die Unmöglichkeit zu Genießen. Differenz, Loch, Leere usw. sind das neue Vokabular von Dekonstruktion und Psychoanalyse. Sie sind nicht die Namen einer Ontologie, wonach die Philosophie suchte, sondern einer Meontik, mit Finks Worten eine Betrachtung des mé ón, d.h. eine Philosophie des Nichts. Die Post-Philosophie findet das Reale als Leere vor, als Mangel oder als Verschiebung der Präsenz. Diese Leere aber ist die der Philosophie selbst. Man darf also fragen, ob der Mangel, von der 71

die Psychoanalyse spricht, oder das fehlende Zentrum nicht der leere Ort wäre, den Gott hinterlassen hat. Dieses Loch mag so groß sein, wie einst Gott war. Der Mangel ist vielleicht der Kenotaph Gottes. Die Psychoanalyse wäre auf konsequente Weise das Mausoleum Gottes. Alles erinnert an ihn, weil er das Subjekt strukturiert (als der Andere), sofern er fehlt. Die Paradoxie der Psychoanalyse besteht darin, dass sie ihre Positivität (als therapeutische Technik, als Bündel von operativen Begriffen) durch die Behauptung einer Negation von Gott erlangt. Aber der Mangel weist immer auf das Fehlende hin. Das Entscheidende in der Psychoanalyse besteht also darin, zu wissen, ob das Reale wirklich eine Begegnung mit etwas Anderem ist, oder ob es sich bloß um noch einen anderen Diskurs über die Unmöglichkeit der Metaphysik (in beiden Sinnen des Genitivs: das Unmögliche innerhalb der Metaphysik und die Metaphysik als das Unmögliche) handelt. Entscheidend ist auch, ob diese Rede über das „Loch“ nur die Bestätigung des fehlenden Gottes oder eher ein positiver Diskurs sein kann. In Bezug auf Derrida lässt sich fragen, ob die Differenz, oder genauer, die différance, nicht die Weise sei, Gott vor seinem absoluten Verschwinden zu retten, weil man weiterhin von ihm spricht, wenn auch von seiner Abwesenheit. Bei Derrida gibt es keinen Mangel, auch keine Parusie, es gibt nur das An-kommen (à-venir). Es gibt keine Totalität, sondern nur das Messianische als Geste ohne Messias. Diese Differenz gilt als Index einer unendlichen Gerechtigkeit ohne Jüngstes Gericht, Unendlichkeit ohne Aktualität, der Andere ohne Antwort. Die différance ist das Warten auf die Ankunft an sich, ohne an die Ankunft zu glauben: Warten auf Godot. Weil nichts kommt und nichts Positives kommen soll, damit die Ankunft offen bleibt, bleibt das Ereignis nur eine formelle Möglichkeit des Unmöglichen.

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Derrida: „[…] un centre organisateur; […] cette loi formelle vaut pour tout philosophème. Cela pour deux raisons qui s'accumulent: [aber] […] Le philosophe n'y trouvera jamais que ce qu'il y a mis ou, du moins, ce qu'en tant que philosophe il a cru y mettre“ (Ebenda, S. 272).

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Umriss der vorliegenden Untersuchung

Es geht hier um ein Transzendentales ohne Intuition und ohne Phänomen: es ist das Ereignis. Die Frage nach dem Realen verbindet Idealismus und Transzendentalismus, Realismus und Empirismus mit Psychoanalyse und (Post)strukturalismus. Deren Verfolgung zeigt uns zunächst den Untergang jener klassischen Idee an, dass das Reale vernünftig und zu verwirklichen sei, sowie nun auch die heutige herrschende Formulierung, die, wie oben gesagt, behauptet: Vom Realen kann man nicht Sprechen ... jedoch spricht man von dieser Unmöglichkeit und damit vom Unmöglichen selbst. Man spricht eigentlich von zwei Unmöglichkeiten: jener der Philosophie und jener der PostPhilosophie. Denn das Ende der Philosophie bedeutet die Erschöpfung ihrer Möglichkeiten. Das bedeutet nicht nur einen Stillstand, sondern das Auftauchen grundlegender Paradoxien, welche die Philosophie als innerlich unmögliches Unternehmen ausstellen. Aber, diese PostPhilosophie betrachtet ihr Reales auch als Unmöglichkeit gegenüber einer herrschenden und allumfassenden Philosophie. Man kann heute sagen, dass Philosophie (als Metaphysik verstanden) und Post-Philosophie (als Denken des Realen als Unmöglichkeit) deswegen einig 72

sind, weil sich beide ohnmächtig gegenüber der Welt präsentieren.

Aber es wäre vielleicht richtig zu sagen, dass Identität (Hauptbegriff des Idealismus) und Differenz (Hauptbegriff des Endes der Philosophie) als wahrer arché ineinander gehen, dass beide in verschiedenen Diskursen die Welt auf ihrer Weise beherrschen, so dass man nicht mehr annehmen kann, dass die letztere Widerstand gegen die erstere leiste. Was hat allerdings der Widerstand gegen die Philosophie mit Dekonstruktion der Philosophie zu tun? Will nicht das Denken des Endes ein ursprünglicheres Denken als die Philosophie sein. Das ist richtig: Das Denken des Endes will einerseits grundlegend sein, „älter als die Philosophie“, also ursprünglicher. Es will aber anderseits eine äußerliche zum Teil politische Strategie sein, die 73

der Herrschaft der Philosophie widersteht.

Aber Philosophie und différance leisten sich

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gegenseitig Widerstand. 72

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Daher der Gedanke, den Odo Marquard (Marquard, 1987) uns vorstellt: Die Ohnmacht der Vernunft weist auf eine Ermächtigung des „Nicht-Ich“ hin; die „Hoffnung“ auf eine „andere Welt“ liegt also nicht mehr in der Vernunft, sondern im Extra-Vernünftigen (als sollte die Vernunft paradox-frei sein). Was man abwägen muss, ist, ob das Extra-Vernünftige, also das Paradoxe, das Zufällige, das Andere als Unvernünftig oder Vorvernünftig betrachtet werden soll. Derrida: „[L]a différance [...] rend possible la présentation de l'étant-présent“ (Ebenda, S. 6), sie ist Möglichkeitsbedingung aber gleichzeitig sagt Derrida: „il faut ici se laisser renvoyer à un ordre [...] qui résiste à l'opposition, fondatrice de la philosophie“ (Derrida, 1972b, S. 5), zu „un «nouveau» concept d'écriture qui correspond aussi à ce qui a toujours résisté à l'ancienne organisation des forces, qui a toujours constitué le reste, irréductible à la force dominante qui organisait la hiérarchie — disons, pour faire vite, logocentrique“ (Ebenda, S. 393); einerseits ist die Philosophie zum Ende gekommen, erschöpft; anderseits ist sie aber „ce que nous appellerons le logocentrisme : métaphysique de l'écriture phonétique (par exemple de l'alphabet) qui n'a été en son fond […] que l'ethnocentrisme le plus original et le plus puissant, en passe de s'imposer aujourd'hui à la planète“ (Derrida, 1967a, S. 11). Paradoxerweise ist die différance „L'ordre qui résiste à cette opposition [die philosophische], et lui résiste parce qu'il la porte“ (Derrida, 1972b, S. 5). Die différance widersteht der Philosophie, ihre Aneignung, aber die Philosophie widersteht auch die différance : „Quelle est la résistance spécifique du discours philosophique à la déconstruction? [...] C'est la maîtrise infinie que semble lui assurer l'instance de l'être (et du) propre ; elle lui permet d'intérioriser toute limite comme étant et comme étant la sienne propre“ (Ebenda, S. 5:XIII).

Das Reale

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Vom (metaphysischen) Realen kann man nach dem Ende der Philosophie nicht sprechen. Von ihm sprechen zu können würde bei diesem Denken bedeuten, dass die Vernunft, das Bewusstsein oder der Sinn absoluten Charakter besitzen würden, und dass der Mensch — als Besitzer dieser Macht des Wissens — die Welt als Vorstellung ohne Rest auffassen könnte. Das Reale ist mit dieser Perspektive eine Begrenzung (so wie Kant die Kritik verstand, wo der transzendentale Schein gezeigt wird, damit sich die Vernunft nicht täuscht) und eine Warnung gegen die hybris des (absoluten) Idealismus, eine Begrenzung und daher eine negative Einstellung. Dem Ding an sich ähnlich ist das Reale beim Denken des Endes die Grenze des Denkens. Diese Grenze ist aber kein richtiges Jenseits, sie befindet sich im Denken selbst, in seiner Form, so dass kein mysteriöses und transzendentes Ding zu postulieren wäre. Es gibt nichts hinter dem Vorhang und doch sehen wir uns nicht nackt auf der Bühne. Das „Geheimnis“ ist die Form selbst, die die Welt in Kategorien teilt, einteilt und verteilt. Das Denken des Endes ist eines der Endlichkeit, es behauptet, dass die Vernunft nicht originär, sondern dass sie in der Zeit zustande gekommen ist. Gegen die Hybris der Vernunft behauptet dieses Denken eine nicht aufzufassende Differenz. Die Vernunft zu begrenzen bedeutet, die Geburt der Vernunft selbst zu zeigen. Die Geschichte der Vernunft soll daher nicht vernünftig sein. Aber sich über die Vernunft und das Bewusstsein zu erheben, um Vernunft und Bewusstsein zu begrenzen, um ihre Ansprüche, ihre Hybris, zu denunzieren, impliziert zugleich einen noch größeren Anspruch - eine vor-ursprüngliche Region. Der Trieb der Vernunft realisiert sich gegen sich selbst, er unterzieht sich seinem eigenen Verfahren, findet aber am Ende keine reine Vernunft als Resultat vor, sondern ein Labyrinth, Paradoxien, die die Vernunft gleichzeitig anfechten und bestätigen. Eine Aporie ist eine Position der Unentscheidbarkeit. Aber wo soll die Unentscheidbarkeit ihren Platz finden? Sollen wir also in den Paradoxien der Vernunft verbleiben? Sollen wir sie auf eine Ur-Differenz zurückführen? Dürfen wir diese Ur-Differenz noch philosophisch betrachten? Oder aus einer anderen Perspektive ausgedrückt: Wird dabei die Unentscheidbarkeit als fundamental behauptet (sie wird zu einem Transzendentalen), oder ist die Unentscheidbarkeit an sich unentscheidbar (man verwendet die Aporien und die Dekonstruktion als diskursive und nicht als (vor)ontologische Strategien)?

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In seinem Aufsatz: Is Derrida a trascendental Philosopher? stellt sich Richard Rorty zwei Weisen vor, wie man Derrida lesen kann: Entweder als einen transzendentalen Philosophen oder als einen ironischen Denker: „For years a quarrel has been simmering among Derrida's American admirers. On the one side there are the people who admire Derrida for having invented a new, splendidly ironic way of writing about the philosophical tradition. On the other side are those who admire him for having given us rigorous arguments for surprising philosophical conclusions. The former emphasize the playful, distancing, oblique way in which Derrida handles traditional philosophical figures and topics. The second emphasize what they take to be his results, his philosophical discoveries. Roughly speaking, the first are content to admire his manner, whereas the second want to say that the important thing is his matter – the truths that he has set forth“ (Rorty, 1991, S. 119).

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Umriss der vorliegenden Untersuchung

Das transzendentale Denken will sich an die Vergangenheit (die transzendentale Geschichte der Vernunft), sowie auf die Zukunft (die Verwirklichung und das Agieren in der Welt, also die Praxis) richten. Es ist ein Denken vom Wesen als dem Ge-wesenen und der Zukunft als dem An-kommenden. Oder es ist ein Denken des Abbaus des geschichtlich Sedimentierten und ein Denken der Effekte im hic et nunc. Aber dieses hic et nunc ist nur Resultat abwesender Kräfte, welche allein durch Differenz konstituiert werden, welche einer Ur-Differenz gehorchen, die einerseits als quasi-transzendentale, anderseits nur als eine diskursive Strategie zu verstehen ist. Das Reale der Gegenwart verschwindet in der Unmöglichkeit der Gegenwart, welche durch eine auch unmöglich vorzustellende Differenz konstituiert wird. Diese Differenz ist am Ende das einzig Reale. Die Unmöglichkeit eines Realen und die Unmöglichkeit, etwas Reales zu denken, machen das Unmögliche zum Realen selbst. Das Raum-Werden der Zeit und das Zeit-Werden des Raumes, von dem Derrida spricht, zeigen auch ein doppeltes Resultat. Einerseits müssen wir das Ende der Philosophie im strikten Sinne als einen Bruch verstehen: Als Punkt in der Linie der Zeit konstituiert dieser Bruch ein Davor und ein Danach, das ist das Zeit-Werden des Raums. Anderseits aber, wenn wir das RaumWerden der Zeit betrachten, müssen wir die Form der Zeit anders als eine Linie interpretieren. Die Gegenwart als Resultat zeigt sich als eine Struktur, als eine verwickelte Form (Derrida selbst spricht, Merleau-Ponty folgend, von Falten und Chiasmen), wobei der Verlauf der Zeit sich eher als eine Meta-morphose, als eine bloße Folge (wie in einer Linie) von Momenten zeigt. Dürfen wir nicht gleichzeitig vom Realen als Unmöglichkeit als auch vom logischen Raum 76

reden, in dem das Unmögliche nur noch eine Stelle in einer größeren Struktur ist? In diesem Sinne bietet sich vielleicht erneut die Möglichkeit an, unsere philosophische Logik zu erweitern. Die klassische Logik bietet immer nur zwei Werte: falsch und wahr oder möglich und unmöglich oder Sein und Nichtsein usw. Ihre Erweiterung impliziert eine Veränderung der in ihr möglichen Werte und dabei der ganzen logischen Struktur, in der wir denken. In dieser Arbeit beschäftigt uns die Möglichkeit einer erweiterten Logik anhand Gotthard Günthers Werk. Die Kritik an der Philosophie kann in einem doppelten Sinne verstanden werden. Der Ruf nach dem Anderen versteht sich einerseits als eine Distanzierung gegenüber der Philosophie. Das heißt, eine Distanzierung gegenüber dem klassischen Feld der Philosophie mit Blick auf neue Regionen, welche nach anderen Annäherungsweisen verlangen. Die Philosophie soll auf diese 76

Als Erklärung dieses Satzes lasst uns ein Beispiel geben. Die Unmöglichkeit gehört zum logischen Quadrat von Aristoteles. In Uhrzeigersinn haben wir links oben anfangend A, E, O, I. A = alle S sind P; E = kein S ist P; O = einige S sind nicht P; I = einige S sind P. In Modallogik kann man die Tafel so interpretieren: A = es ist notwendig, dass „S ist P“; E = es ist unmöglich, dass „S ist P“; O = es ist möglich, dass „S ist nicht P“; I = es ist möglich, dass „S ist P“. Die Unmöglichkeit ist nur noch eine Möglichkeit in der Tafel möglicher Urteile. Auf der anderen Seite kann man behaupten, dass sich das schlechthin Unmögliche jenseits der klassischen Logik befinde. Es wäre daher unmöglich, das Unmögliche logisch zu betrachten. Man braucht den paradoxen Charakter dieser Situation nicht weiter zu erklären.

Das Reale

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Weise ihr Primat verlieren. Das Denken des Endes soll daher der Philosophie widerstehen. Auf der anderen Seite will aber das postphilosophische Denken nicht nur den Blick auf das Andere richten, sondern es will auch Einfluss auf das hic et nunc haben. Erinnern wir daran, dass laut dem Denken des Endes die Metaphysik nicht nur innerlich unhaltba ist (sie enthält unentrinnbare Paradoxien), sondern dass sie auch praktische Effekte hat, welche man als das 77

Übel der Welt betrachten kann: Sei es als Ethnozentrismus, sei es als die Möglichkeit der Vernichtung des Menschengeschlechts, also als Krieg. Die Philosophie sollte daher Verantwortung für die heutige Welt tragen, wenn sie wirklich ihre Herrschaft ausübt. Wie ist dies mit der Hypothese kompatibel, dass die Philosophie ihrem Ende begegne? Im selben Moment, in dem sie sich auflöst, überträgt sie ihre Voraussetzungen, und damit ihre Herrschaft auf die Wissenschaften. Das ist eben die These Heideggers: Die Wissenschaften sind die Vollendung der Philosophie. Die doppelte Forderung besteht darin, ein neues Denken zu entwickeln, das Einfluss auf die Welt hat, und gleichzeitig Abstand vom (klassischen) Denken zu nehmen. Mit anderen Worten: Man verlangt nicht nur eine radikale Veränderung der „Sache des Denkens“, sondern auch eine radikale Veränderung unserer Stellung gegenüber dem Denken selbst. Diese ist die Herausforderung des Denkens des Endes. Explizit im Denken des Endes wird die These verteidigt, dass die Philosophie das Andere ständig verdrängt hat. Wie kann man dem Anderen als Möglichkeit oder Unmöglichkeit (das heißt, dem Offenen, dem Potentiellen, dem Zufälligen, dem Paradoxen usw.) und der Realität (dem Tatsächlichen, dem Reich des Kalküls, dem Erfahrenen) gleichzeitig treu bleiben? Aber: Wie kann man gleichzeitig der Endlichkeit und der Unendlichkeit des Denkens, dem Konkreten und Konstituierten, sowie dem Konstituierenden der Reduktion jeder Voraussetzung und ihrer Annahme — damit wir nicht nur einer via negativa folgen, sondern wieder über die Welt zu sprechen vermögen — Gerechtigkeit widerfahren lassen? Das ist Derridas Forderung,78 der er selbst nicht zu folgen vermag. Dieses Reale positiv zu denken und die damit zusammenhängenden Paradoxien auf die Welt (d.h. auf die Politik auf die 77

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Derrida betrachtet die Metaphysik bzw. die Philosophie als „l'ethnocentrisme le plus original et le plus puissant, en passe de s'imposer aujourd'hui à la planète“ (Derrida, 1967a, S. 11). Heidegger erklärt die Atombombe als Resultat einer bestimmten Offenbarung des Seins unter dem Primat der Wissenschaften, welche ihrerseits Resultat der Philosophie sind: „Der Mensch starrt auf das, was mit der Explosion der Atombombe kommen könnte. Der Mensch sieht nicht, was lang schon angekommen ist und zwar geschehen ist […] Worauf wartet diese ratlose Angst noch, wenn das Entsetzliche schon geschehen ist? Das Entsetzende ist jenes, das alles, was ist, aus seinem vormaligen Wesen heraussetzt. Was ist dieses Entsetzende? Es zeigt und verbirgt sich in der Weise, wie alles anwest, daß nämlich trotz allem Überwinden der Entfernungen die Nähe dessen, was ist, ausbleibt“ (Heidegger, 2000b, S. 168); also: „Die Philosophie endet im gegenwärtigen Zeitalter. Sie hat ihren Ort in der Wissenschaftlichkeit des gesellschaftlich handelnden Menschentums gefunden. Der Grundzug dieser Wissenschaftlichkeit aber ist ihr kybernetischer, d. h. technischer Charakter. Vermutlich stirbt das Bedürfnis, nach der modernen Technik zu fragen, im gleichen Maße ab, in dem die Technik die Erscheinungen des Weltganzen und die Stellung des Menschen in diesem entschiedener prägt und lenkt. Die Wissenschaften werden alles, was in ihrem Bau noch an die Herkunft aus der Philosophie erinnert, nach den Regeln der Wissenschaft, d. h. technisch deuten“ (Heidegger und Hermann 2007, S. 72). Siehe unten: 7.1 Derridas doppelte Forderung: Das Wiedererlangen und den Verlust der Gegenwart gleichzeitig zu denken.

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Wissenschaften, auf die Logik und die Philosophie) anzuwenden, war der stets kontradiktorische Versuch Lacans, der aber auch bei Derrida gefunden werden kann. Aber man sieht bei beiden eine Unentscheidbarkeit zwischen einem Realen als rein Negativem und einem durch Paradoxien positiv zu betrachtenden Realen. Im Namen des Realen und des Wirklichen protestiert man gegen die herrschende(n) Abstraktion(en) im Denken. Die philosophische Tradition ist für Derrida abstrakt bzw. naiv, in 79

der das Reale (das Andere, die Differenz) immer unterdrückt werden musste. Aber eine Berufung auf das Reale bestünde auch darin zu fragen, ob dieses vermutlich unterdrückte Reale nicht allzu abstrakt dargestellt wird. Eine Berufung auf das Reale wäre in dieser Hinsicht die Behauptung einer Unvollständigkeit (sei es im philosophischen, wissenschaftlichen, logischen, ethischen oder politischen Sinne) des herrschenden Verstehens. Real kann man das Andere nennen, das zum Verständnis, zum Wissen, zur Gegenwart oder zur Wirklichkeit (wieder) gebracht werden muss/kann/soll, sei es als Wissen oder als Praxis. Das Unterdrückte sollte bei diesem Verfahren befreit, das Vergessene wieder erinnert, das Verhüllte aufgedeckt werden. Die primäre und unerkannte Realität dieses Realen verwandelt sich so in eine neue von allen erkannte Wirklichkeit, in welcher der Unterschied von Realem und Idealem verschwinden soll, aufgehoben werden muss. Das Reale meldet sich nun aber beim Denken des Endes der Philosophie in einer ganz fremden Form. Denn eine Berufung auf das Reale gilt auch als Indiz dafür, dass sich bereits etwas, wenn auch auf indirekte Weise, gemeldet hat, das noch nicht anerkannt wurde, aber auch nicht völlig anerkannt werden kann. Es geht also um die Betrachtung des Anderen als des Neuen, das nicht unter vorhandenen Kategorien als deren Element subsumiert werden kann, und trotzdem eine gewisse Positivität als paradoxes Auftauchen besitzt. Symptom, Unbewusstes, Ereignis, das Andere könnte man es mit Vorbehalt nennen. Obwohl verschieden, sind all diese Begriffe durch einen Bezug auf das Andere als Paradoxie verbunden. Das Symptom verbindet sich hier mit einer Ohnmacht der Vernunft und des Wissens, dieses Reale zu begreifen. Das Symptom ist Zeichen des Anderen. Nicht in dem Sinne, dass wir dadurch einen externen Bezug (Referenz) erreichen würden. Das Andere ist anders, weil es nicht gedacht werden kann, es ist das Andere des Denkens (im philosophischen Sinne) selbst. In diesem Moment verliert all die Logik der Entfremdung und deren Überwindung, d.h., das Streben nach Vereinigung und Versöhnung ihren Sinn. 79

Derrida: „Le logocentrisme, cette époque de la parole pleine a toujours mis entre parenthèses, suspendu, réprimé, pour des raisons essentielles, toute réflexion libre sur l'origine et le statut de l'écriture, toute science de l'écriture qui ne fût pas technologie et histoire d'une technique, elles-mêmes adossées à une mythologie et à une métaphorique de l'écriture naturelle“ (Ebenda, S. 64). Merkwürdig ist auch diese rhetorische Stelle: „Dira-t-on dès lors que ce qui résiste ici, c'est l'impensé, le réprimé, le refoulé de la philosophie ?“ (Derrida, 1972b, S. XXIV); oder sogar: „Si le mot « histoire » ne comportait en lui le motif d'une répression finale de la différence, on pourrait dire que seules des différences peuvent être d'entrée de jeu et de part en part « historiques »“ (Ebenda, S. 12) und: „Toute la pensée de Nietzsche n'est-elle pas une critique de la philosophie comme indifférence active à la différence, comme système de réduction ou de répression a-diaphoristique?“ (Ebenda, S. 18).

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Das Unbewusste ist irreduzibel, d.h., es kann nicht (direkt) gewusst/bewusst werden. Was vermisst wird, ist allerdings eine positive Philosophie des Indirekten anhand der nicht zu reduzierenden Paradoxien des Denkens. Man kann an dieser Stelle argumentieren, dass die Paradoxien des Denkens auf die Praxis hinweisen. Oder dass das Paradoxe, sofern es positiv einen Überschuss (negativ einen Mangel) mit sich bringt, auf eine bestimmte Negation im Sinne Hegels hinweist. Das Paradoxe besteht allerdings darin, dass Praxis, Negation, Bestimmung und andere Begriffe dekonstruiert werden können und müssen, bevor sie verwendet werden können. Aus diesem Grund werden die Dekonstruktion und das Denken des Realen zu den Prolegomena jeder kommenden Philosophie. Das Reale kann nicht gedacht werden. Damit wird gemeint, dass im Vergleich zur klassischen Philosophie beim Denken eine neue Ebene eingeführt wird. Subjekt, Objekt, Wahrheit, Wissen, Ego, transzendental usw. All dieser Begriffe sind unzureichend. Das Unbewusste kann verschieden gedacht werden. Einerseits als positiven Grund (als Sein bei Heidegger), anderseits aber als bloße Funktion (bzw. als Differenz, wie bei Lacan und Derrida). Aber das Unbewusste weist auch auf die Sprache als jenes System von Kategorien hin, welche sich verselbstständigt haben und als Apriori der Subjektivität gelten, sowie auf das Reale, welches sich jenseits jeder Sprache befindet. Es lässt sich wiederum fragen, ob das Umgehen mit dem Realen Auswirkungen auf die Welt hat, oder ob es eher die Grenzen jeder Auswirkung und damit die Ohnmacht des Subjekts aufzeigt. Man kann das Reale — im Unterschied zum Wirklichen (das Hegel folgend eine Synthese des Realen und des Idealen ist) als das betrachten, was nicht aufgehoben werden kann, das sich trotzdem im Bewusstsein meldet, auf indirekte Weise — als Symptom, als Paradoxon, als Fehlleistung usw. Die Ontologie stützt sich auf die Differenz Grund-begründet (bzw. SeinSeiendes). Eine „Vor-Ontologie“, wie sie das Denken des Endes ist, betrachtet dagegen die Differenz Grund-begründet als abgeleitet. Die ontologische Differenz wird auf eine UrDifferenz reduziert. Diese Differenz ist ein Prinzip, das kein Prinzip mehr ist. Denn es ist die Möglichkeitsbedingung jeder Begrifflichkeit (sie baut auf Systemen von Differenzen und zugleich deren Unmöglichkeitsbedingung auf), denn diese Differenzen konstituieren und dekonstruieren Differenzen, so dass das Spiel von kreierenden und destruierenden Differenzen nie stoppt. Das ist aber die Sprache: Weder (rein) sensibel noch (rein) intelligibel, weder (rein) empirisch noch (ganz) ideell und trotzdem empirisch und ideell. Dies zeigt eine erste Begegnung mit der Sprache. Eine noch tiefere Beschäftigung damit zeigt aber eine neue Dimension, die der Zirkulation. Die 80

Sprache lässt sich in größeren Begriffen, wie Kommunikation und Übermitteln 80

oder auch

Régis Debray unterscheidet zwischen Kommunizieren — communiquer — und Übermitteln — transmettre; dazu schreibt er: „[…] transmission can serve as a regulatory and classificatory term in view of its tripartite signification: material, diachronic, and political [...] Commonly understood, ‚communicating‘ making familiar, making known. Its bias of meaning immediately with the immaterial, with conventions and codes, with the more narrowly linguistic. One speaks, on the other hand, of ‚transmitting‘ physical property as well as ideas. Commercial bills, assets and real estate, a child's balloon can all be transmitted in the sense of handed

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Austausch einordnen. Die Ähnlichkeiten zwischen Markt und Kommunikation bzw. Übermittlung sind leicht zu erkennen. Bereits bei Saussure basierte die Linguistik, auf die sich Derrida und Lacan stützen, auf ökonomischen Begriffen. Der wichtigste davon ist der Wert, definiert als relativ: „La linguistique travaille donc sur le terrain limitrophe ou les éléments de deux ordres se combinent; celle combinaison produit une forme, non une substance“.81 Wir wollen hier die drei möglichen Bedeutungen von Form in diesem Kontext kurz erwähnen. Wir haben zum ersten auf die Form der Ware oder des Zeichens (laut Saussure die Verbindung zwischen Signifikat und Signifikant), zum zweiten den relativen Wert zwischen Zeichen, und zum dritten die Form der sozialen Zirkulation von diesen Zeichen in der Kommunikation hingewiesen. Derrida spricht in diesem Sinne von einer Struktur, die der Post ähnelt und alle drei erwähnten Bedeutungen von Form impliziert: „[...] tout ce que je dis de la structure cartepostalée de la marque (brouillage, parasitage, divisibilité, itérabilité and so on) se trouve sur le réseau. Cela vaut pour tout système en télé-, quels qu’en soient le contenu, la forme ou 82

le support“.

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over or down, as can orders and instructions or papal power. What is said of forms said of forces: in mechanics, the term transmission applied to power and movement that are carried across-transmitted-by mechanical means, dynamically converted to different forms of motion. This alloy of material agencies and human actors is well suited to the vast and bustling agitation of infinite motive forces that, in a succession of historical instances, characterizes what used to be called ,an idea that stirs the masses‘. Idea that convocation, mobilization, jumble engines and persons, passwords and icons, vehicles, sacred rites and sites. [...] transports essentially through space, transmission essentially transports through time. Communication prompts an instantaneous response between parties, by synchronizing and connecting them like a thread: a communicative network runs its course between contemporaries (sender and receiver present to one another simultaneously at either end of the line). Transmission takes its course through (diachronically), developing and changing as it goes. A thread plus drama, it living to the dead, most often when the senders are physically absent. [...] Human beings communicate; rarely do they transmit meanings. Communication's horizon is individualistic. Its onean-one matrix of sender to receiver has marked for a good while now the study oft he more industrialized, general diffusion of messages (circulation, broadcasting, the wide of language and ideas) based on a one-toall relation. (Widespread cultural diffusion media really began with Gutenberg and not McLuhan and with the practice of engraving before that of photography). The contrast is thus stark, to my way of thinking, between the warmer and fuzzier notion of communication and the militant, suffering nature of the struggle to transmit. Here the communicational fiction of the lone individual producing and receiving meaning gives way to people establishing membership in a group (even if only one they seek to found) and to coded procedures signaling that group's distinction from others. [...] Everything is a message, if you will-from natural to social stimuli or from signals to signs-but these messages do not necessarily constitute an inheritance. Legacies are never the effect of pure chance. [...] At most, one can define an act of transmitting as a telecommunication in time, where the machine is a necessary but not sufficient interface and in which the network will always mean two things. For the pathway or channel linking senders and receivers can be reduced to neither a physical mechanism (sound waves or electric circuit) nor an industrial operating system (radio, television, computer) as it can be in the case of diffused mass information. The act of transmitting adds the series of steps in a kind of organizational flowchart to the mere materiality of the tool or system. The technical device is matched by a corporate agent. life by instinct, the transmitted heritage cannot be effective without a project, a projection whose essence is not biological. Transmission is duty, mission, obligation: in a word, culture“ (Debray, 2000, S. 1–5). (Saussure, Bally, Sechehaye, Riedlinger, Mauro & Calvet, 1995, S. 157). (Derrida, 1987, S. 249–250). Es handelt sich hier um die „[…] structure de la langue [jedoch Derrida] préfère dire ici, pur de raisons essentielles, la structure de la marque ou de la trace […]“ (Ebenda, S. 47). Diese ist die Struktur der Erfindung selbst, immer neu, immer schon eine Wiederholung als: "invention de la marque ou de la trace- […] [und] désigne le paradigme de toute invention“, so dass „[…] si toute invention, comme invention de trace et trace d'invention, devient alors mouvement de différance et d'envoi, […] le dispositif postal en

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Die Sprache konstituiert hier ein neues Medium (das das Bewusstsein ersetzt), in dem die Differenz als philosophisches Prinzip statt der Identität regiert und der metaphysische Begriff der Substanz als Grund des Seins an Bedeutung verliert dank dem Begriff von Struktur, welche auch dynamisch und unvollständig ist. Dieses System definiert sich durch das Gehen und Kommen, also durch das Schicken und Empfangen, daher die Wichtigkeit des Begriffs Zirkulation, wobei Anfang und Ende nicht nur ständig sich ergeben, sondern auch nie im Voraus vorgegeben sind. Diese Zirkulation mag als Kommunikation, Übermittlung, Schicksal — Ge-schick, wie Heidegger sagt — oder Erbe interpretiert werden. Voraussetzungen für diesen Gedanken sind allerdings eine verteilte Subjektivität als eine Intersubjektivität, welche nicht mehr als Einheit, als unum, interpretiert wird und ein Medium, ein Raum, in dem dieses Tradieren und Austauschen stattfindet. Hat die Zeit beim Denken des Endes einen Raum in diesem Sinne? Ist der Raum des Austauschs untersuchbar oder eher unaussprechlich, wie das Reale? Gibt es eine kritische Ökonomie des Zeichens, mit welcher man die Rätsel des Signifikanten und seines Wertes, wie Marx es in Das Kapital versucht hat, durch eine Analyse des logischen Raumes der Zirkulation erklären kann? Gewiss hat sich Derrida nie für das Reale als solches interessiert. Dieser Begriff gehört deutlich zu den philosophischen Termini der Philosophie der Präsenz, welche dekonstruiert werden können und müssen. Dieser philosophische Begriff spielt in der Metaphysik die Rolle der Evidenz (vor allem bei Husserl), wobei nicht nur jedes „falsche“ Bewusstsein und jeder Schein aufgelöst werden müssen. Evidenz, Selbstbewusstsein, Geist, Gemeinschaft usw. sind Namen gescheiterter Theorien des Realen. Die Rehabilitierung des Begriffs das Reale verdanken wir 83

Lacan. Er ist es, der die Psychoanalyse als eine Wissenschaft des Realen, nicht ohne Ironie,

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reçoit un privilège […]“ (Ebenda, S. 48). Die Post ist die Metapher, die das Schicken der différance kondensiert. Dieses Schicken (envoi) stammt aus Derridas kritischer Übersetzung von Heideggers Diskussion über das Sein als Schicksal, Ge-Schick und Gabe: „Au-delà d'une clôture de la représentation dont la forme ne pouvait plus être linéaire, indivisible, circulaire, encyclopédique ou totalisante, j'ai tenté de retracer une voie ouverte sur une pensée de l'envoi qui, pour être, comme le Geschick des Seins dont parle Heidegger, d'une structure encore étrangère à la représentation, ne se rassemblait pas encore avec lui-même comme envoi de l'être à travers l'Anwesenheit, la présence puis la représentation. Cet envoi pré-ontologique, en quelque sorte, ne se rassemble pas. Il ne se rassemble qu'en se divisant, en se différant. Il n'est pas originaire ou originairement envoi-de (envoi d'un étant ou d'un présent qui le précéderait, encore moins d'un sujet, ou d'un objet par et pour un sujet). Il ne fait pas un et ne commence pas avec lui-même, bien que rien de présent ne le précède ; il n'émet qu'en renvoyant déjà, il n'émet qu'à partir de l'autre, de l'autre en lui sans lui. Tout commence par le renvoi, c'est-à-dire ne commence pas. Dès lors que cette effraction ou cette partition divise d'entrée de jeu tout renvoi, il y a non pas un renvoi mais d'ores et déjà, toujours, une multiplicité de renvois, autant de traces différentes renvoyant à d'autres traces et à des traces d'autres“ (Ebenda, S. 142); auch diese Stelle: „Repartons de cette pensée de renvoi depuis laquelle Heidegger relance finalement la pensée de l'être comme pensée du don, et de ce qui donne à penser, du « es gibt Sein », de la dispensation ou de l'envoi de l'être (Geschick des Seins). Cet envoi n'est pas l'émission d'un missile ou d'une missive mais je ne crois pas qu'en dernière instance on puisse penser l'un sans l'autre. J'ai souvent essayé, ailleurs, d'accentuer la divisibilité et l'irréductible dissémination des envois. Ce que j'ai appelé la «destinerrance» ne nous donne même plus l'assurance d'un envoi de l'être, d'un rassemblement de l'envoi de l'être“ (Ebenda, S. 181). Der Derridaschen Grammatologie ähnlich, ist die Wissenschaft des Realen unmöglich. Wir erinnern an Derridas Stellung in De la Grammatologie gegenüber dem „Objekt“ dieser unmöglichen Wissenschaft: „Par l'allusion à une science de l'écriture bridée par la métaphore, la métaphysique et la théologie, l'exergue ne doit pas seulement annoncer que la science de l'écriture — la grammatologie — donne les signes de sa libération à travers le monde grâce à des efforts décisifs. […] Nous voudrions surtout suggérer que, si nécessaire et si

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verstanden wissen wollte. Lacan sagt dazu: „[I]l faut définir la cause inconsciente, ni comme un étant, ni comme un οủκ ὄν, un non-étant […] elle est un μή ὄν […] une fonction de 84

l’impossible sur quoi se fonde une certitude“. Die Begierde (désire) zeichnet sich dann als 85

ein „élément nécessairement en impasse, insatisfait, impossible, méconnu“, denn deren Befriedigung ist immer paradoxal also „Quand on y regarde de près, on s’aperçoit qu’entre en 86

jeu quelque chose de nouveau — la catégorie de l’impossible“.

Worauf weist diese Idee des Unmöglichen hin, und wie ist sie zu betrachten? Lacan antwortet: „Cette fonction de l’impossible n’est pas à aborder sans prudence, comme toute fonction qui se présente sous une forme négative Je voudrais simplement vous suggérer que la meilleure façon d’aborder ces notions n’est pas de les prendre par la négation. Cette méthode nous porterait ici à la question sur le possible, et l’impossible n’est pas forcément le contraire du possible, ou bien alors, puisque l’opposé du possible, c’est assurément le réel, nous serons 87

amenés à définir le réel comme l’impossible“. Diese Anerkennung des Unmöglichen als des Realen konstituiert die Achse des psychoanalytischen Unternehmens in den späten Seminaren von Lacan. Sind wir aber berechtigt, Derridas Philosophie am Leitfaden der Frage nach dem Realen durchzuführen? Sind wir dazu berechtigt, Derrida anhand einer oder mindestens mit Blick auf eine Kategorie der Psychoanalyse Lacans auszulegen? Wir wollen in dieser Arbeit aufmerksam machen auf das Unmögliche als zentrale Kategorie des Denkens des Endes. Das Unmögliche präsentiert sich als paradoxes Denken und als Gegenpol der idealistischen Philosophie Hegels und Husserls. Dieses paradoxe Denken tritt in dem Moment auf, in dem die Philosophie vermutlich zu ihrem Ende kommt. Neben diesem Ende wird ein neuer Bereich eröffnet: der des Anderen, welches nun unter der reflektierenden Praxis der Dekonstruktion und der Psychoanalyse zu erkunden ist. Derridas Begriff des Unmöglichen wird, wie gesagt, im Namen des Realen verwendet. Was

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féconde qu'en soit l'entreprise, et même si, dans la meilleure hypothèse, elle surmontait tous les obstacles techniques et épistémologiques, toutes les entraves théologiques et métaphysiques qui l'ont limitée jusqu'ici, une telle science de l'écriture risque de ne jamais voir le jour comme telle et sous ce nom. De ne pouvoir jamais définir l'unité de son projet et de son objet. De ne pouvoir écrire le discours de sa méthode ni décrire les limites de son champ. Pour des raisons essentielles : l'unité de tout ce qui se laisse viser aujourd'hui à travers les concepts les plus divers de la science et de l'écriture est au principe, plus ou moins secrètement mais toujours, déterminée par une époque historico-métaphysique dont nous ne faisons qu'entrevoir la clôture. Nous ne disons pas la fin. L'idée de science et l'idée d'écriture — donc aussi de science de l'écriture — n'ont de sens pour nous que depuis une origine et à l'intérieur d'un monde auxquels ont déjà été assignés un certain concept du signe (nous dirons plus loin le concept de signe) et un certain concept des rapports entre parole et écriture. Rapport très déterminé malgré son privilège, malgré sa nécessité et l'ouverture de champ qu'il a réglée pendant quelques millénaires, surtout en Occident, au point d'y pouvoir aujourd'hui produire sa dislocation et dénoncer lui-même ses limites“ ( Derrida, 1967a, S. 14). (Lacan, 1973, S. 117). (Ebenda, S. 141) (Ebenda, S. 152). (Ebenda, S. 152).

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bedeutet dies? Diese Behauptung Derridas lässt sich anhand Lacans Werk interpretiert. Lacans Begriff des Realen bedeutet eben das Unmögliche gegenüber der Philosophie des Bewusstseins von allem im Sinne Husserls. Außerdem gilt für Derrida, das Unmögliche nicht mehr als Gegensatz des Möglichen88 zu denken. Das ist das Paradoxe des Denkens des Endes der Philosophie, welches für uns in den Figuren von Dekonstruktion und Psychoanalyse seinen Ausdruck findet. Diese Merkmale sind ausreichend, um den Vergleich vom lacanschen Begriff des Realen und Derridas Dekonstruktion plausibel zu machen. Ist aber der Name Denken des Endes angemessen? Wir interpretieren in erster Linie Derrida, aber auch Lacan als Nachfolger Heideggers, in dem der letztere das Ende der Philosophie proklamiert. Es geht daher nicht um eine „inhaltliche“ Kategorie, sondern um einen Gestus mit gewissen Voraussetzungen. Entscheidend ist die Überzeugung, dass die Philosophie impraktikabel ist, wobei aber ein neuer Bereich sich öffnet oder mindestens öffnen muss: der des Anderen. Die Dekonstruktion wird daher im Namen des Realen praktiziert, das realer als jedes Ding, jede Gegenwart und jedes Sein ist. Das Reale der Dekonstruktion besteht aber nach Derrida in seinem unmöglichen Charakter, wo aber das Präfix „Un“ keine negative Funktion mehr hat. Das Un-mögliche entspricht demnach nicht mehr dem Gegensatz zum Möglichen. Das Positive der Dekonstruktion besteht darin, dass sie einen Zugang zu etwas ermöglicht, was der Gegenwart entgeht, d.h. das hier und jetzt ohne Gegenwart, das Aktuelle, für das es keinen Begriff gibt. Dieses Ankommen findet aber weder im Sein (Ontologie), noch in der Welt (Phänomenologie) statt. Jenes ist real wie ein Trauma, hic et nunc, aber nicht in der Gegenwart, d.h., es kann nicht objektiviert, präsentiert, wahrgenommen oder gedacht werden (wie das Reale von Lacan). Diese irreduzible Realität ist pure Bejahung trotz dessen negativen Auftretens: Sei es in der Form einer doppelten Negation („weder Ontologie noch Phänomenologie“, „weder Empirismus noch Relativismus“); sei es in der Form des Widerstandes (sie widersteht der Wiederaneignung); sei es in der Form des Abbaus (als Dekonstruktion des Logozentrismus, des Linguistizismus, des Ökonomismus); sei es in der Form der Abgrenzung (im Namen des Realen, aber nicht im Sinne von Objektivität, Wahrnehmung oder Denkbarkeit); sei es in der Form des Unmöglichen durch die Verneinung jedes möglichen Prädikats (Ereignis ohne Gegenwart, Ereignis ohne Sein, Ereignis ohne Welt, allerdings hier und jetzt, als wäre Real ohne Realität). 88

Derrida: „[…] ich habe beschlossen, den größten Nachdruck auf das Wort, ‚möglich‘ zu legen. Also reden wir vom, ‚Sprechen‘, vom ‚Ereignis‘, vom ‚ist es‘, aber vor allem von ‚möglich‘, das ich sehr schnell in ‚unmöglich‘ verkehren werde. Ich werde gleich zu zeigen versuchen, inwiefern die Unmöglichkeit, eine gewisse Unmöglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, oder eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, uns dazu zwingt, nicht nur das ‚Sprechen‘ und das ‚Ereignis‘, sondern auch das, was das Wort ‚möglich‘ in der Geschichte der Philosophie besagt, anders zu denken. Anders gesagt, werde ich versuchen zu erklären, warum und wie ich das Wort ‚möglich‘ in diesem Satz verstehe, in dem ‚dieses ‚Möglich‘ nicht einfach ‚verschieden von‘ oder ‚das Gegenteil von‘ ‚unmöglich‘ ist […]“ (Derrida, 2003, S. 16).

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Diese paradoxe Konstruktion des Realen als etwas Unmögliches jenseits von Phänomen und Sein, allerdings hier und jetzt stattfindend, verschiebt und verzögert jede Frage nach dem Was des Realen. Im Namen des Realen verblasst das Reale. Das Reale ist beim Denken des Endes der Name sowohl davon, was außerhalb der Philosophie bleibt als auch davon, was Ziel und Rechtfertigung eines post-philosophischen Denkens ausmachen würde. Das heißt, die Philosophie ist nicht nur unmöglich (sie führt zu Aporien, die ihrem ultimativen Ziel widersprechen), sondern sie hat trotzdem Wirkungen, denen sich ein nach-philosophisches Denken entgegensetzen will. Aber Rechtfertigung und Aufgabe dieses Denkens kollidieren. Sobald dieses Denken begonnen wird, wird es in derselben Bewegung „verunmöglicht“, also „wegen Eröffnung geschlossen“. Dieses Denken hat sich „Denken des Unmöglichen“ genannt. Was ist aber unmöglich, die Philosophie, ein postphilosophisches Denken, oder beides? Beim Denken des Endes tauchen aber Aporien über die Aporien oder Aporien zweiter Ordnung auf. Wir erwähnen sie nur hier mit dem Vorbehalt, dass wir sie später genauer erklären und begründen. Die Metaphysik kann nicht wirklich enden, sie lässt ihre Macht in allen Bereichen des Lebens erkennen, und trotzdem ist sie schon seit langem tot und erschöpft. Die Metaphysik ist allmächtig und doch unter ihren eigenen Voraussetzungen unhaltbar (de facto) und unmöglich (de jure). Das heißt, sie wirkt auch da, wo sie bereits kritisiert und ihre Legitimität unterminiert wurde, denn sie hat ein gespenstisches Wesen, sie hört nicht auf, auch wenn sie bereits unter Verdacht gerät, auch wenn sie als erschöpft erscheint und ihrer Legitimität in Zweifel gezogen wird. Aber das Denken des Anderen sollte eigentlich das Gespenstische 89

vertreten als ein Denken des weder (rein) Anwesenden noch des (rein) Abwesenden.

Das Denken des Gespenstischen gehört sicherlich in das Denken des Endes, und doch ist es die Philosophie, welche in diesem Denken zurückkehrt. Beim Denken des Endes erscheint die 89

Derrida: „[…] la spectralité [est] [...] irréductible à l'ontologie - dialectique de l'absence, de la présence ou de la puissance[…]“; „une « spectrographie » [artikuliert sich] avec la chaîne d'un discours déconstructif (sur le spectre en général, la différance, la trace, l'itérabilité, etc.)“ (Eingeführte Seite im Buch, ohne Nummer); wie bereits gesehen, beginnt alles bei Derrida mit dem Wiedererscheinen: „[…] tout commence par l'apparition du spectre“ (S.22); und ein „spectre est une incorporation paradoxale, le devenir-corps, une certaine forme phénoménale et charnelle de l'esprit. Il devient plutôt quelque « chose » qu'il reste difficile de nommer : ni âme ni corps, et l'une et l'autre“ [die Logik des „weder noch“ und „sowohl als auch“; A.R.] (S.25); das Gespenst nennt sich auch ein „revenant“ (S. 27); Derrida erklärt: „répétition et dernière fois, voilà peut-être la question de l'événement comme question du fantôme qu'est-ce qu'un fantôme ? qu'est-ce que l'effectivité la présence d'un spectre, c'est-à-dire de ce qui semble rester aussi ineffectif, virtuel, inconsistant qu'un simulacre ? Y a-t-il là, entre la chose même et son simulacre, une opposition qui tienne ? Répétition et première fois mais aussi répétition et dernière fois, car la singularité de toute première fois en fait aussi une dernière fois. Chaque fois, c'est l'événement même, une première fois est une dernière fois. Toute autre. Mise en scène pour une fin de l'histoire. Appelons cela une hantologie. Cette logique de la hantise ne serait pas seulement plus ample et plus puissante qu'une ontologie ou qu'une pensée de l'être (du « to be », à supposer qu'il y aille de l'être dans le « to be or not to be », et rien n'est moins sûr). Elle abriterait en elle, mais comme des lieux circonscrits ou des effets particuliers, l'eschatologie et la téléologie mêmes. Elle les comprendrait, mais incompréhensiblement. Comment comprendre en effet le discours de la fin ou le discours sur la fin ? L'extrémité de l'extrême peutelle être jamais comprise ? Et l'opposition entre to be et not to be ? Hamlet commençait déjà par le retour attendu du roi mort. Après la fin de l'histoire, l'esprit vient en revenant, il figure à la fois un mort qui revient et un fantôme dont le retour attendu se répète, encore et encore“ (31-32): alle Zitate aus (Derrida, 1993b).

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Philosophie als singuläres, also ein einziges Phänomen und als vielfältiges, d.h. als ein Netz heterogener Inhalte, als ein notwendig zu wiederholendes (denn die Geschichte ist an sich ein stetiges Widerholen) und als notwendig vergangenes (als nicht mehr praktikabel). Aber die Philosophie öffnet sich hier ihrem Anderen, wenn, und nur wenn sie scheitert. Da kündet sich das Kommende an. Das Kommende und das Andere haben kein Bestehen außerhalb dieser scheiternden Philosophie. Diese Unangemessenheit der Philosophie mit sich selbst, wegen des sich in ihr angekündigten Anderen, bedeutet ihr Ende und das Ankommen des Anderen, das sich als Bruch präsentiert. Das heißt, die Philosophie gewährt die Möglichkeit eines kommenden Denkens, nur wenn und solange sie scheitert, d.h. solange dieses Scheitern andauert. Die Philosophie soll allerdings nicht völlig scheitern, denn sie ist die Basis vom Denken des Anderen als solchen: Das Andere parasitiert die Philosophie und daher folgt eine abwechselnde Bewegung zwischen Behauptung und Widerlegung der Philosophie. Schließlich soll das Andere nicht ankommen, um anders zu bleiben. Da es nicht ankommen kann, impliziert das Andere die indirekte Behauptung der Gegenwart. Die letztere bleibt, was immer sie war und ist, während sich das Andere in seiner Ohnmacht ankündigt. Doch wie gesagt, ist dieses Denken des Endes zweideutig. Es zeigt die Grenzen der Philosophie sowie die großen Züge und Bedingungen eines anderen Denkens auf. Gleichzeitig aber gerät es selbst in Sackgassen, nicht nur in Aporien zweiter Ordnung, also Aporien von Aporien, sondern auch in performative Gegensätze, was nichts anderes bedeutet, als dass Ziel und Rechtfertigung, zum Mittel, und die Mittel zum Zweck selbst werden. Die Kritik bzw. Dekonstruktion, Psychoanalyse oder Abbau der Philosophie sollte dem Ziel dienen, ein kommendes Denken zu erschließen. Dieses Ziel geht im Prozess verloren, währenddessen sich die Kritik verselbstständigt. Es verhält sich so, dass alles, was sich einst als zu Bekämpfendes, wie die Entfremdung, und als zu Erreichendes, wie die Aneignung, präsentierte, sich eher verkehrt: Die Entfremdung erscheint als strukturell, die Aneignung als Illusion. Es handelt sich also mehr um eine Kritik der Philosophie als Antwort auf das Übel der Welt als eine Kritik an der Philosophie an sich. Aber das Übel verschwindet nicht mit der Kritik der Mittel, die Welt verzichtet auf die alten Antworten, ist aber dieselbe Welt, welche Antworten auf das Übel sucht. Noch weiter ist vielleicht die herrschende Welt eher aporetisch an sich, als was man herkömmlicherweise zu denken pflegt. Vielleicht ist das Paradoxon nicht, was die Philosophie infrage stellt, nicht eine Gegen-Figur der Welt, sondern das, was unsere heutige Welt am besten beschreibt. Die negative Auffassung der Aporie führt gewissermaßen zu einer Abstraktion, soweit da konzeptuelle Mittel für die Entfaltung eines neuen positiven Denkens fehlen. Das Reale als Unmöglichkeit führt wegen ihrer Unerreichbarkeit vonseiten der Welt zu einer Ohnmacht. Dieses aporetische Denken will aber konkret und wirkungsvoll sein. Man kann nur bezeugen, dass sich hier, trotz jeder Absicht, eine neue einfache Trennung, also ein Gegensatz von

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Positivität und Negativität, von Möglichkeit und Unmöglichkeit, von Realem und Realität durchgesetzt hat. Es ist, als müsse man diese Entscheidung treffen: Entweder UrsprünglichkeitNegativität-Abstraktion-Ohnmacht-Aporie oder Konstituiertes-Sein-Positivität-IllusionLogik-Übel innerhalb des bereits Vorhandenen. Das Ende der Philosophie ist der Name für ein Denken, das die Philosophie mit philosophischen Mitteln dekonstruiert. D.h., eine Selbstbezüglichkeit der Philosophie wird in Gang gesetzt, woraus sich das Paradoxe und Aporetische ergibt und hieraus einen neuen (paradoxen) Anfang machen will. Der neue Anfang kann und soll allerdings nicht positiv sein. Ganz im Gegenteil: Der „neue Anfang“ kennzeichnet sich durch eine originäre Offenheit, das heißt, durch eine fundamentale Unbestimmtheit und daher einen Mangel an Inhalt. Dieser neue Anfang ist nichts anderes als die Kraft gegen die Aufstellung eines positiven Prinzips. Aber diese Aufgabe selbst wird im Lauf des Prozesses sinnlos, weil die klassischen Begriffe der Philosophie wie Anfang, Denken, Endzweck den Zusammenhang verlieren, in denen sie einst Bedeutung hatten. Gleichzeitig aber agiert inmitten dieses Denkens ein nicht anerkanntes und nicht entwickeltes philosophisches Motiv, das wegen eines Mangels an Ressourcen, abstrakt bleibt. Das Unternehmen führt zum Scheitern, weil eine artikulierte Begrifflichkeit fehlt, dieselbe, welche dem Denken des Endes erlaubt, die Grenzen der Philosophie und die Notwendigkeit eines post-philosophischen Denkens zu formulieren. Das Reale als nicht mehr logisch, als nicht mehr denkbar, als nicht mehr erffassbar, das heißt, als Anderes ist es das Resultat des Denkens des Endes. Daraus folgt, dass das Andere sowohl unzugänglich als auch notwendig sein muss. Wie oben gesagt, haben die Reflexionen über Zeit und Intersubjektivität, vor allem nach Husserls Phänomenologie, in diesem Zeitalter in einem Sprachdenken eine neue Heimat gefunden. Wir werden unten kurz sehen, wie Husserls Theorie über das Zeitbewusstsein bereits den Kern für eine Kritik der Bewusstseinsphilosophie enthält, und dass diese der Vorbereitung eines Denkens des Zeichens dient. Husserls Bewusstseinsphilosophie und Saussures Theorie des Zeichens sind zwei Auffassungen der Zeit und des Bezugs zum Anderen. Aus der Ausdehnung der Sprache als absolutem Medium und Bedingung der Erfahrung folgt ihre Verabsolutierung. Die Aporie zweiter Ordnung besteht hier darin, dass die Sprache nicht nur (an sich) spricht, sondern dass sie über sich selbst spricht— einem bewusstlosen Selbstbewusstsein ähnlich. „Grammatik“, „Linguistik“, oder „Sprache“, sind nicht nur Wörter zwischen anderen, welche auf andere Wörter verweisen. Sie benennen eine Totalität, auch wenn sie nicht geschlossen ist. Zu behaupten, dass die Sprache kein Außen habe, d.h., dass es keine Metasprache gebe, ist bereits ein übersprachliches, metalinguistisches Urteil, das die Totalität als Sprache überblickt. Sobald wir sagen, wir seien von der Sprache durchaus bestimmt, haben wir uns gleichzeitig 90

über die Sprache erhoben, sie wird zum Objekt der Reflexion. Und doch geschieht dies nur 90

Schelling hatte bereits auf dieses Problem des unendlichen Werdens im Rahmen der Bewusstseinsphilosophie

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mittels der Sprache. Dies ist die Aporie. Ist die Aporie die Form des Denkens schlechthin, oder können wir das Aporetische selbst denken, oder beides? Besteht also nicht das Aporetische darin, dass die Verabsolutierung der Sprache zu ihrer Begrenzung, ihre Begrenzung zu ihrer Ausbreitung führt? Diese Paradoxien bestätigen die Beharrlichkeit der Logik bei diesem Denken. Und es ist die Rede über das Reale als Unmöglichkeit, welche diese Aporie erkennen lässt. Die Rede bei Denkern des post-philosophischen Zeitalters ist dann gewissermaßen von einer anderen (nicht klassischen) Logik und vom Realen als Unmöglichkeit (d.h. als einer nicht einfachen Präsenz für ein Bewusstsein oder als einer nicht einfachen Bedeutung eines Signifikanten) geprägt. Man sieht noch, wie die Logik und das Reale in einem Denken der Unmöglichkeit koinzidieren, wo die Aporie die Grenzen des Möglichen und des Unmöglichen setzt und sich gleichzeitig über das Reale selbst erhebt. Dass das Reale im klassischen Sinne 91

ein unhaltbarer Begriff ist, hat dieses Denken des Endes am deutlichsten gezeigt. Die „Realität“ ist ein naiver Begriff der Produkte des Verstandes oder einfach ein vorläufiges Resultat anderer (z.B. linguistischer) Kräfte. Doch ist das Reale ein immer wiederkehrendes

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hingewiesen. Die Erfahrung findet beim jungen Schelling statt als eine unendliche Reihe stets strömender Vorstellungen, wobei sich fragen lässt, wie sich das Ich darüber hinaus erhebt, um behaupten zu können, dass überhaupt eine Reihe in ihm stattfindet: „Ferner, indem ich frage: wie kommt es, daß ich vorstelle, erhebe ich mich selbst über die Vorstellung“ (I,2,16). Schelling beruft sich nicht auf die transzendentale Einheit der Apperzeption, die Kant in der Kritik der Reinen Vernunft dargestellt hatte als die Einheit alle meiner Vorstellungen. Schelling will diese Reihe in ihrer Produktion auffassen: „Die bloße Succession der Vorstellungen, äußerlich angeschaut, gibt den Begriff der mechanischen Bewegung. Aber die Seele soll nicht nur diese Succession, sondern sie soll sich selbst in dieser Succession, und (weil sie nur ihre Thätigkeit anschaut) sich selbst als thätig in dieser Succession anschauen. Thätig aber ist sie in dieser Succession nur, insofern sie producirt, und durch dieses unendliche Produciren die Succession der Vorstellungen unterhält. Sie soll also sich selbst in ihrem Produciren, in ihrem selbstthätigen Uebergehen von Ursache zu Wirkung anschauen“ (I,1,385). Wir werden allerdings sehen, dass das, was wir das Denken des Endes der Philosophie nennen, auch in Schelling einen Vorläufer eines Denkens des Unbewussten, des Vorsubjektiven und des Vorobjektiven haben. Diese andere Stelle vom jungen Schelling mag uns zeigen, dass der deutsche Idealismus keine einfache Bewusstseinsphilosophie ist und im engen Zusammenhang mit dessen Kritik steht: „Das unendliche Ich aber kennt gar kein Objekt, also auch kein Bewußtseyn und keine Einheit des Bewußtseyns, Persönlichkeit. Mithin kann das letzte Ziel alles Strebens auch als Erweiterung der Persönlichkeit zur Unendlichkeit, d.h. als Zernichtung derselben vorgestellt werden. - Der letzte Endzweck des endlichen Ichs sowohl als des Nicht-Ichs, d.h. der Endzweck der Welt ist ihre Zernichtung, als einer Welt, d.h. als eines Inbegriffs von Endlichkeit (des endlichen Ichs und des nicht-Ichs). Zu diesem Endzweck findet nur unendliche Annäherung statt - daher unendliche Fortdauer des Ichs, Unsterblichkeit“ (I,1,201-2). Alle Zitate aus: (Schelling und Hahn, 1998). Das Reale ist in seinem metaphysischen Sinne nur noch eines der Namen des nicht zu vollendenden Ziels der Philosophie. Es ist unmöglich. Aber die Sache des nach-philosophischen Denkens ist auch sowohl unmöglich als auch das Unmögliche. Die Philosophie geht paradoxerweise in ihr Ende ein, im Moment, in dem sie sich dessen bewusst wird, dass ihr Ende, ihr Ziel unerreichbar ist. Diese Unerreichbarkeit unterscheidet sich von dem unendlichen Prozess eines im n Sinne gedachten Fortschritts. Das Ziel ist nicht einmal jener nur in der Unendlichkeit zu erreichende Punkt. Die Aufgabe des Denkens des Endes besteht auch nicht in jeder unendlichen (die Unsterblichkeit supponierenden) Tat, dass sich seinem Ziel asymptotisch nähert. Diese Prämisse ist beim Denken des Endes nicht mehr gültig. Die Unendlichkeit hat keine Richtung und kein Ziel mehr.

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Problem. Weder die Grammatik noch die Logikanalysen haben dieses Problem verschwinden lassen. Das Reale tritt beim Denken des Endes sowohl als Aporie (am Anfang war die Aporie, sie ist nicht zu unterlaufen, wir sind in ihr zerrissen) als auch als das Jenseits der Aporie auf, als ein Drittes. Man kann nicht bestreiten, dass wenn Realität und Begriff oder Realität und Sprache zusammenfallen, die Realität selbst verschwindet zugunsten des Begriffs oder der Sprache. Man kann aber auch nicht ohne Widerspruch behaupten, dass Ding und Begriff, oder Signifikant und Referenz, zwei getrennte Instanzen seien. Eine dritte Möglichkeit neben Identität und Gegensatz ist das Reale als Differenz-Indifferenz, als etwas jenseits der Sprache und des Denkens. Diese Differenz-Indifferenz entgeht immer dem Denken und der Sprache. Aber weil sie demzufolge unaussprechlich und undenkbar ist, ist sie immer dem Risiko ausgesetzt, im Dunkeln zu bleiben. Differenz, Identität, Indifferenz. Man sieht leicht wie eng die Realität, das Reale und die Logik miteinander verbunden sind. Man brauchte eine andere Logik, damit vom Realen gesprochen werden kann, ohne die philosophischen Sackgassen zu wiederholen. Realität und Real sind nicht zu verwechseln. Realität mag mit der erscheinenden Welt identifiziert werden. Real ist das originäre, das nicht zu Hintergehende. Wir haben heute mehr Mangel an Realität als an Realem. Doch muss man das letztere analysieren, bevor man seinen Zusammenhang mit der Welt und der Praxis in ihr verstehen kann. In dieser Arbeit beschränken wir uns darauf, das Problem zu formulieren und die Serie von Aporien deutlich zu machen. Ich begrenze mich zunächst auf die Frage, warum und unter welchen Bedingungen das Ende der Philosophie proklamiert werden konnte, und danach, wie dieses Denken in Bezug auf das Problem der Aporie und des Realen zu charakterisieren ist. Diese ist die Aporie des Realen (im subjektiven und objektiven Sinne des Genitivs: Das Reale wird als Objekt des Denkens und als solches aporetisch). Wir wollen die ersten Indizien dafür geben, welche die großen Aporien des zeitgenössischen Denkens anhand des Denkens des Endes der Philosophie sind, und wie sie sich auf die Philosophie und deren eigene Paradoxien (besonders da, wo sie bereits aufgetreten sind: beim deutschen Idealismus) beziehen. Denn es ist eben die große Frage des Idealismus, wie man Realität und Logik, ohne einseitigen Dogmatismus und ohne einseitigen Kritizismus denken kann. Aporie ist weiterhin ein logischer Terminus, der beim hier betrachteten Denken im Zusammenhang mit einer Diskussion über das Reale als Präsenz steht. Aporie und Sprache, Sprache und Logik, Logik und Zeit, Zeit und Raum konstituieren hier die Anhaltspunkte, wodurch Identität und Differenz, Andersheit und Präsenz, Ende und Anfang, also die ganze Kritik-Dekonstruktion der klassischen Philosophie durch das Denken des Endes diskutiert werden. Das Andere der Philosophie versteht sich auch als das Andere der Vernunft bzw. des logos. Dieses Andere aber verliert immer mehr an Bedeutung als dunkler Grund, als regelloser

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Anfang. Aber nehmen wir an, dass die Aporien und Paradoxien im 20. Jh. in der Logik und dem philosophischen Denken zu Hauptmotiven wurden, und zwar nicht als „ketzerische“ Tendenz, sondern als einem jedem System innewohnendes Merkmal, so muss man behaupten, dass das Außen in der Entfaltung des Innen auftritt, das heißt, dass das vermutlich Andere ein Resultat (als Aporie) der Entfaltung der Vernunft ist. Nicht durch eine Einklammerung des Logos oder durch dessen Reduktion gelangt man in die „uralten Regionen“ des Regellosen, des Unsagbaren oder des Undenkbaren. Der Logos selbst ist paradox, wobei Ordnung und Nicht-Ordnung nur noch als relative Bezeichnungen gelten können. Es ist die Zeit gekommen, in der man deutlich sagen kann, dass sich das Andere, das Regellose, das Unendliche, das Paradoxe nicht mehr dem Logos entgegensetzen. Vom Denken des Endes ausgehend kann man aber diesen Ansatz sowohl leugnen als auch annehmen. Das Denken des Endes sucht das Andere der Philosophie in ihrem Außen und in ihrem paradoxen Innen. Dabei verabschiedet man sich auch von jener klassischen Vorstellung des Logos als einem axiomatischen-transzendentalen System, einem hierarchischen und ganz durchsichtigen System, wie es der Fall beim Selbstbewusstsein ist. Soll nun aber der philosophische Anfang nur einer sein? Soll der Anfang entweder ganz geleugnet oder ganz akzeptiert werden? Oder soll man mit Derrida behaupten, dass alles mit einer Wiederholung beginnt? Aber was, wenn es mehrere Anfänge gäbe? Was, wenn der Anfang kontext-abhängig wäre? Was, wenn die Paradoxien, während sie die Grenzen eines Denkens zeigen, auch dessen Erweiterung nicht nur einfordern, sondern gerade ermöglichen?

1.7 Hypothesen der Arbeit Die bisher auf sehr abstrakte Weise formulierte Problematik des Endes der Philosophie als Problematik des Realen als Aporie ist von großer Komplexität und bedarf der genauen Auseinandersetzung mit den verschiedenen philosophischen Begrifflichkeiten und den Differenzen zwischen den einzelnen Konzeptionen. Derrida und Lacan bedienen sich einigen Worten und Wörterspielen, die nicht auf dem ersten Blick zu begreifen sind. Die Sprache steht nicht mehr im Dienst der Produktion von Sinn, sondern sie soll uns eher auf die Bedingungen des Sinns aufmerksam machen. Weder Derrida noch Lacan beabsichtigen, uns den Sinn des Sinns zu erklären. Dieses Vorgehen würde nur den Sinn bestätigen als das letzte, wonach man fragen kann, also das Unhinterfragbare. Der Sinn versteht sich, vor allem in der Phänomenologie Husserls, als die Anwesenheit der Sachen selbst im Bewusstsein, d.h. als Evidenz. Die Sprache geht allerdings der Evidenz voran, sie ist ihre Bedingung. Diese Bedingung des Sinnes darf keinen Sinn haben. Warum? Weil man in eine petitio principii geraten würde. Die petitio principii impliziert einen Bruch in der Hierarchie zwischen dem Definierenden und dem Definierten. Aber diese Hierarchie ist nicht unbegrenzt gültig. Der absolute Idealismus Schellings und

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Hegels macht solchen Widerspruch zum Kern der Selbsterkennung des Bewusstseins. Dieses Bewusstsein bedeutet den Sinn als Selbstbewusstsein. Das Denken des Endes muss den Sinn für abgeleitet halten (Selbstbewusstsein inbegriffen) und trotzdem immer noch sprechen können. Dies erfordert eine lokalisierte und strategische Arbeit mit der Sprache, damit sie sich auf indirekte Weise als Bedingung des Sinnes erweisen kann. Allerdings kommen wir mit diesen Überlegungen nicht allzu weit. Wir verstehen noch nicht, wie man darauf kommt, zu behaupten, dass die Philosophie zum Ende gekommen sei, und dass dieses Ende mit der Aporie, mit der Differenz und mit der Sprache verknüpft ist. Historisch gesehen wissen wir nicht, ob dieses Ende ein notwendiges Resultat der Philosophie und ihrer Entwicklung selbst ist, oder ob es von außerhalb der Philosophie kommt. Wo soll man mit der Betrachtung des Endes der Philosophie beginnen? Hierfür gibt es zwei Antworten: zum einen an der Stelle, wo sie sich selbst für vollendet hält und zum anderen dort, wo die Philosophie ihre eigene Daseinsberechtigung unterläuft und als „nicht mehr möglich“ erscheint. Der deutsche Idealismus erfüllt die Bedingung der ersten Antwort, weil er sich selbst für vollendet hält. Diese Vollendung ist allerdings paradox, denn nicht nur Hegel hat seine Philosophie in Hinblick auf ihre Vollendung entwickelt. Aus anderen Gründen soll auch Schelling als „Vollender des deutschen Idealismus“ verstanden werden, vorausgesetzt, dass er seine Grenzen skizziert mit Blick auf eine noch tiefere Philosophie, welche sich mit dem Unbewussten und der Natur Gottes als vorvernünftig beschäftigt. Welche Philosophie entspricht der zweiten Antwort. Die Phänomenologie Husserls. Es sind seine Untersuchungen zum Zeitbewusstsein und zur Intersubjektivität, welche die unentrinnbaren Aporien der Phänomenologie ans Licht bringen. Als zeitgenössische Philosophie bzw. zeitgenössisches Denken gelten Hegel und Husserl als die zwei wichtigsten Referenzen. Ob berechtigt oder nicht gilt Hegel als Philosoph der Totalität und der Geschlossenheit des absoluten Wissens; Husserl gilt seinerseits als der letzte Philosoph des Bewusstseins, der die Evidenz in ihm begründen wollte. Womit sollen wir nun beginnen? Wir wollen Derrida und Lacan als zwei Denker interpretieren, die sich Heideggers Motto, dass die Philosophie zum Ende gekommen sei, zu eigen machen. Wir haben uns vor allem auf Derrida konzentriert, weil er sich konkret und ausdrücklich mit den oben genannten Philosophen auseinandersetzt. Lacan hilft uns das Denken des Endes bei Derrida zu kennzeichnen, aber manchmal auch Derrida selbst zu kritisieren. Wenn Derrida den Fokus unserer Aufmerksamkeit leiten soll, ist es sinnvoll, Derridas Verhältnis zu bestimmten Philosophen nachzugehen, bei denen man die genannten Paradoxien der Philosophie nachvollziehen kann. Derridas Werk beginnt historisch mit einer Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls, besonders mit einer Diskussion über die Rolle der Zeit und der Schrift im Bewusstsein. Aber der Kern von Derridas Denken als Differenz kann auf Husserls paradoxe Betrachtung der Zeit zurückgeführt werden. Diese Betrachtung der Zeit als Differenz ist auch bei Heidegger zu beobachten und konstituiert den anderen fundamentalen

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philosophischen Bezug von Derrida. In diesem Kontext möchte ich die folgenden Hypothesen aufstellen: 1. Ein Verständnis der Subjektivität als zeitliches Phänomen schlechthin beim Denken des Endes mündet in ein Verständnis der Subjektivität als Sprache. Mit anderen Worten: Die Sprache nimmt die Problematik der Zeitlichkeit an. Dies zeigt sich in einer Analyse von Husserls Phänomenologie sowie ihrer Kritiker. Zu beachten sind drei große Probleme: Zeitlichkeit und Intersubjektivität sowie davon ausgehend das Zeichen. 2. Bei Derrida und dem Denken des Endes findet eine Verabsolutierung der Zeit zulasten des Raumes statt. Das heißt: Die Verschiebung gilt als das Absolute, wohingegen sich die Simultaneität als metaphysisch versteht, als entspräche sie jenem homogenen Zeit und Raum der n Philosophie. Es wird keine Simultaneität des Heterogenen formuliert. 3. Diese Philosophie des Endes als einer Philosophie der Subjektivität als zeitliches und sprachliches Phänomen richtet sich gegen den metaphysischen Begriff von Identität sowie gegen den Begriff vom Grund (arché auf Griechisch) und findet ihre Vorgeschichte und Argumentationen wesentlich in einer Diskussion, die dem deutschen Idealismus nahesteht. Diese Philosophie begründet sich in den Diskussionen über das ápeiron, den unbewussten Grund, den Gedanken, dass das Bewusstsein und das Objektive nicht originär seien und dass ein regloses Werden immer der Ordnung und dem Anwesenden zugrunde liege und vorangehe. All dies steht im engen Zusammenhang mit der romantischen Naturphilosophie, in welcher die Philosophie einen neuen Raum in der Zeit-Sprachphilosophie findet. 4. Das Reale der Welt erscheint in diesem Denken des Endes als bloß konstituiert gegenüber einem kreierenden, konstituierenden Werden, das als das wirklich Reale betrachtet wird. Dieser Gedanke ist „material-transzendental“, das heißt, der Grund ist nicht mehr (ganz) subjektiv, auch nicht „anwesend“, sei es als Selbstbewusstsein oder als Ding. Es ist also kein Seiendes, kein Subjekt, aber doch transzendental, wenn auch außerhalb des Subjekts. Diese starke Trennung von Konstituierendem und Konstituiertem bleibt streng transzendental, das heißt hierarchisch, und wiederholt alte Probleme der klassischen transzendentalen Philosophie. Das Denken des Endes will sowohl das Transzendentale als auch dessen Infragestellung beibehalten. Diese notwendige Spannung aber ist nicht erweiternd, sondern selbstannullierend, woraus eine negative Sprache folgt. Dies führt zu einem Verschwinden der Welt und der Realität. Diese Diskussion findet in den „hohen Regionen des Transzendentalen“ statt, während die Welt in ihr eher als abgeleitet betrachtet wird. 5. Das Denken des Endes weist auf eine nicht natürliche Natur, auf eine radikalisierte Zeit und auf die Sprache als unhintergehbares Element hin und findet seine ausgezeichnete Form in der Paradoxie bzw. der Aporie. Die Paradoxie lässt durch die folgenden Kriterien analysieren: der Transzendentalismus (Hierarchie), das Prinzip Tertium Non Datur (starke Trennung von einem

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Dritten, das nur noch als unmöglich betrachtet werden kann (es wird das Reale in diesem Denken des Endes genannt) und die Transitivität (der Anfang: arché) ist entweder das „Einfach-einzig-allererste“ oder es ist ganz einfach unmöglich (wobei die Oszillation zwischen der Unmöglichkeit des Anfangs und der Unmöglichkeit als Anfang besteht). 6. Die Problematik der Philosophie kommt zu ihrem Ende in einer doppelten Form der Aporie. Eine Aporie gibt es nur innerhalb einer gewissen Logik, einer gewissen Teilung und Verteilung des Möglichen, des Aktuellen und des Unmöglichen, einer Definition vom Anwesenden und Abwesenden usw. Das Denken des Endes erfordert einerseits eine andere philosophische Logik. Andererseits konstruiert es sich auf der Basis einer sehr klassischen Logik, damit sich der das Unmögliche, das Undenkbare, das Unsagbare, als Probleme formulieren lassen. 7. Diese andere Logik hätte die Aufgabe, die Verhältnisse zwischen dem Möglichen, dem Aktuellen und dem Unmöglichen neu zu denken. Damit hätte der Raum als Simultaneität eine neue Rolle angesichts eines strengen Werdens, das nichts bestehen lässt. Diese andere Logik hätte als Aufgabe, die Paradoxien der Sprache neu zu formulieren, damit ein anderes Verständnis des Realen entstehen kann, in dem die starke Hierarchie und die Transitivität relativiert werden. Die Aporie resümiert und verkörpert in hervorstechender Weise diese Problematik. Diese sind die allgemeinen Hypothesen dieser Arbeit, welche nun belegt werden müssen. Neben der Textanalyse von Autoren, die sich dem Denken des Endes der Philosophie gewidmet haben, werden wir zugleich jene anderen Autoren betrachten müssen, bei denen die Philosophie ihre Aporien erahnen lässt und das Denken des Endes selbst antizipiert. Um einen ausreichenden Zugang zur Problematik zu sichern, wollen wir uns mit den verschiedenen geschichtlichen Momenten jener Philosophie beschäftigen, die uns helfen sollen, das Denken des Endes kritisch zu hinterfragen. Dies erfordert besonders eine Betrachtung der Phänomenologie und ihrer Entwicklung als solcher, aber auch eine punktuelle Referenz auf Argumente des deutschen Idealismus’. Eine sorgfältige und ausreichende Beschäftigung mit der Geschichte dieses Idealismus sprengt den Rahmen dieser Arbeit. Trotzdem wird es notwendig sein, an der einen oder anderen Stelle das Verhältnis des Denkens des Endes zur Philosophie deutlich zu machen. Den Einstieg in die Diskussion über das Denken des Endes der Philosophie wird im folgenden Abschnitt betrachten.

2 Das Ende der Philosophie als Ausgangspunkt der hier betrachteten Problematik Ausgehend von der Proklamation des Endes der Philosophie im endenden XIX. und beginnenden XX. Jahrhundert entwickelte sich in vielen Bereichen der geistigen Tätigkeiten die Überzeugung, dass sich damit ein neuer Beginn des Denkens ankündige. Hauptziel war es, die Bedingungen für ein postphilosophisches Denken zu etablieren, das vor allem den logischmetaphysischen Rahmen der Philosophie überspringen sollte. In dieser Hinsicht sollte man dieses Ende als eine Auseinandersetzung des Denkens mit den Grenzen der Philosophie überhaupt verstehen. Diese Grenzen sollten sowohl inhaltlicher als auch historischer Natur sein: Unsere Zeit, so wurde behauptet, sei jene, in der sich die Möglichkeiten der Philosophie erschöpft hätten; aber diese Erschöpfung (oder der Tod) koinzidiere mit dem kommenden Denken (als Ereignis). Diese Erschöpfung wird jedoch nicht durch eine neue Epoche oder Gestalt des Denkens überwunden. Denn die Rede von einer neuen Epoche würde nur den metaphysischen Gedanken stärken, dass die Geschichte der idealistischen Vorstellung als einer Reihe von Gestalten des Bewusstseins und letztlich des Selbstbewusstseins nahe käme. Die beabsichtigte Überwindung der Philosophie bietet sich dann in paradoxen Formulierungen gegenüber sich selbst und gegenüber der Philosophie an. Das Paradoxe scheint also hier eine doppelte Rolle zu spielen. Es zeigt sich zum einen, dass es Paradoxien gibt, die die Philosophie nicht bewältigen kann und gleichzeitig ihre Voraussetzungen erschüttert. Es ist zweitens anzumerken, dass die Paradoxie beim Denken des Endes jene privilegierte Form ist, die die Philosophie am meisten herausfordert, und welche die Bedingungen eines kommenden Denkens konturierte. Ende bedeutet deswegen nicht Aufhören, auch nicht Aufheben, obwohl es mit beiden verwandt ist. Das Ende ist vielmehr eine Grenze in mehrfachen Sinn: zwischen Philosophie und Nichtphilosophie, zwischen der gewesenen und der kommenden Philosophie, zwischen der Philosophie und der Philosophie als innerer Spannung mit sich selbst. Das Denken des Endes ist mithin ein Denken der Grenzen im Allgemeinen. Denn, wenn die Philosophie das Denken aller ultimativen Grenzen ist (das Fundament, das Absolute, die Ganzheit, sind Beispiele dieser Tendenz), so ist das Denken des Endes eine Überlegung über die Grenzen dieser vermutlich ultimativen Grenzen. Daraus ergibt sich, dass das Denken des Endes dabei auch eines des Endes als Grenze ist. Und samt der Frage nach den Grenzen der Philosophie wird die Frage nach den Grenzen der Logik, des Logos und des Denkens überhaupt gestellt, worauf sich die Philosophie stützt und gestützt hat. Das Denken des Endes reflektiert nicht zuletzt über das Ende des Denkens selbst, wobei das Problem angegangen wird, ob das Denken ein Anderes hat, oder ob es dieses Andere denken kann, ohne es zu reduzieren.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 A. Romero Contreras, Die Gegenwart anders denken, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04820-2_2

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Das Ende der Philosophie als Ausgangspunkt

Diese paradoxen Formulierungen begleiten den ganzen Diskurs über das Ende und spiegeln eine Spannung wider zwischen etwas positiv Kommendem jenseits der Paradoxie und der Philosophie und dem Verbleiben in der Paradoxie wider; zwischen der Paradoxie als Aporie, d.h. als Mangel an Auswegen und Bestätigung der Macht des Anderen und der Entfaltung der Paradoxie als einer neuen Logik und einer neuen Auffassung von Zeit, Raum und Intersubjektivität.

2.1 Eine Epoche von Enden Diese, unsere Zeit, ist überwiegend die deklarierte Epoche der Enden. Nehmen wir die folgenden Zitate als eine Konstellation von Indizien dafür, ohne dass wir daraus voreilige Schlüsse ziehen. Nietzsche ist vielleicht nicht der erste, wohl aber der bekannteste Botschafter des „Todes“ von Gott und damit auch des Zeitalters der Enden. In der Fröhlichen Wissenschaft liest man die berühmte Stelle: „Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, — ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! […]“ und gleich fragt er sich nach einer Orientierung in diesem neuen leeren Raum, in dem wir nun sind: Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? […].92

Aber die explizite Formel des Todes der Philosophie und die Ankündigung eines kommenden Denkens erscheinen zum ersten Mal bei Heidegger im Aufsatz Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens. In diesem Aufsatz sieht man sich mit starken Behauptungen konfrontiert, die man als Heideggers allgemeine Thesen über die Metaphysik im Zusammenhang mit der Geschichte des Abendlandes und seines Schicksals deuten kann: „Philosophie ist Metaphysik“;93 „Die Philosophie endet im gegenwärtigen Zeitalter“;94 „Das Ende der Philosophie zeigt sich als der Triumph der steuerbaren Einrichtung einer wissenschaftlich-technischen Welt und der dieser Welt gemäßen Gesellschaftsordnung“ und es bedeutet den „Beginn der im abendländisch-europäischen Denken gegründeten Weltzivilisation“;95 „Das Ende der Philosophie ist der Ort, dasjenige, worin sich das Ganze ihrer Geschichte in seine äußerste Möglichkeit versammelt. Ende als Vollendung meint diese Versammlung“96; in diese nun vollendete Geschichte der Philosophie gehören laut Heidegger die „transzendentale Ermöglichung der Gegenständlichkeit der Gegenstände“, sowie die „dialektische Vermittlung der Bewegung des absoluten Geistes, des historischen Produktionsprozesses, als der wertensetzende Wille zur Macht“, so dass diese „Rede vom Ende

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(Nietzsche, 1988c, S. 480–481). (Heidegger und Hermann, S. 69). (Ebenda, S. 72). (Ebenda, S. 73). (Ebenda, S. 71).

Eine Epoche von Enden

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der Philosophie“ dann „die Vollendung der Metaphysik“ bedeutet.97 Michel Foucault spricht auch in Les mot et les choses von einem Tod, nämlich dem des Menschen: […] à travers une critique philologique, à travers une certaine forme de biologisme, Nietzsche a retrouvé le point où l’homme et Dieu s’appartiennent l’un l’autre, où la mort du second est synonyme de la disparition du premier, et ou la promesse du surhomme signifie d’abord et avant tout l’imminence de la mort de l’homme […].98

Der Tod des Menschen hängt mit dem Gottes zusammen. Jacques Derrida schreibt in De la Grammatologie über das „Ende des Buches“ als Medium als das der Metaphysik,99 wobei die „Geschichte der Metaphysik“ eher als Moment und Gattung der Schrift (eines allumfassenden Begriffs) erscheint: […] l’unité de tout ce qui se laisse viser aujourd’hui à travers les concepts les plus divers de la science et de l’écriture est au principe, plus ou moins secrètement mais toujours, déterminée par une époque historicométaphysique dont nous ne faisons qu’entrevoir la clôture. Nous ne disons pas la fin. […] Tout se passe donc comme si ce qu’on appelle langage n’avait pu être en son origine et en sa fin qu’un moment, un mode essentiel mais déterminé, un phénomène, un aspect, une espèce de l’écriture.100

Derrida schrieb mehrmals über das Motiv des Endes, das, genau wie beim Begriff Anfang, immer mit einer Wiederholung beginnt. So ist das Ende auch ein „Zitat“ des Vergangenen und kein einfaches Aufhören. Derrida spielt mit dem doppelten Sinn von fin als Ende und Zweck und erkennt im Motiv des Endes eine tiefe Ambivalenz. Die Vollendung und die Erschöpfung des Begriffs vom Menschen sind nicht leicht zu trennen und lassen sich bereits in der griechischen Metaphysik im aufkeimenden Zustand erkennen. Das Ende des Menschen signalisiert in unserer Epoche sowohl das Aufhören des Humanismus als auch die Entstehung einer neuen Anthropologie; sowohl den Untergang der Philosophie als auch ihren Gipfel. Derrida schreibt: L’unité de ces deux fins de l’homme, l’unité de sa mort, de son achèvement, de son accomplissement est enveloppée dans la pensée grecque du télos, dans le discours sur le télos, qui est aussi discours sur l’eidos, sur l’ousia et sur l’aletheia. Un tel discours, chez Hegel comme dans toute la métaphysique, coordonne indissociablement la téléologie à une eschatologie, à une théologie et à une ontologie. La pensée de la fin de l’homme est donc toujours déjà prescrite dans la métaphysique, dans la pensée de la vérité de l’homme.101

Soll das heißen, dass die Philosophie seit jeher ihr eigenes Ende verordnet hat, dass ihr Zweck (telos) ihr Tod ist? Es ist aber Heideggers Denken, sagt Derrida, welches das Paradoxon mit seiner Frage nach dem Sein eröffnet, denn: Dans la pensée et la langue de l’être, la fin de l’homme a depuis toujours été prescrite et cette prescription n’a 97 98 99 100 101

(Ebenda, S. 70). (Foucault, 1966, S. 353). Siehe Kapitel 1 La fin du livre et le commencement de l'écriture in: De la Grammatologie: (Derrida, 1967a). (Ebenda, S. 14,18). (Derrida, 1972b, S. 144).

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Das Ende der Philosophie als Ausgangspunkt

jamais fait que moduler l’équivoque de la fin, dans le jeu du telos et de la mort. Dans la lecture de ce jeu, on peut entendre en tous ses sens l’enchaînement suivant : la fin de l’homme est la pensée de l’être, l’homme est la fin de la pensée de l’être, la fin de l’homme est la fin de la pensée de l’être. L’homme est depuis toujours sa propre fin, c’est-à-dire la fin de son propre. L’être est depuis toujours sa propre fin, c’est-à-dire la fin de son propre.102

Das heißt, das Endende überlebt und überlistet sein Ende. Soll das heißen, dass die Philosophie ihr Ende überlistet? Dass die Philosophie immer nach der Philosophie kommt? Nietzsche hätte in Derridas Augen diese Ambivalenz Anlass seines Denkens des Übermenschen anders gedacht: La différence entre l’homme supérieur et le surhomme […] signaleraient à la fois […] le partage qui s’annonce peut-être entre deux relèves l’homme. […] Le premier est abandonné à sa détresse avec un dernier mouvement de pitié. Le dernier — qui n’est pas le dernier homme — s’éveille et part, sans se retourner sur ce qu’il laisse derrière lui. Il brûle son texte et efface les traces de ses pas. Son rire alors éclatera vers un retour qui n’aura plus la forme de la répétition métaphysique de l’humanisme ni sans doute davantage, « au-delà » la métaphysique, celle du mémorial ou de la garde du sens de l’être, celle de la maison et de la vérité de l’être. Il dansera, hors de la maison, cette aktive Vergeszlichkeit, « oubliance active » cette fête cruelle (grausam) dont parle la Généalogie de la morale. Nul doute que Nietzsche en a appelé à un oubli actif de l’être : il n’aurait pas eu la forme métaphysique que lui impute Heidegger.103

Derridas Forderung ist hier: man muss de jure die Philosophie wiederholen, ohne ihre Form de facto erneut im Gang zu setzen. Die Philosophie nach der Philosophie ist ihre Wiederholung aber ohne Philosophie. Lyotard spricht auch vom Ende der großen Erzählungen, vom: „[…] decline of the unifying and legitimating power of the grand narratives of speculation and emancipation “104, denn „We no longer have recourse to the grand narratives — we can resort neither to the dialectic of Spirit nor even to the emancipation of humanity as a validation for postmodern scientific discourse […]“.105 Auf indirekte Weise behaupten auch Freud und Marx den Tod der Philosophie, soweit beide den philosophischen Anspruch auf Ursprünglichkeit und Totalität anfechten. Die berühmte Anmerkung von Marx in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie behauptet, dass der Fehler der Philosophie darin besteht, zu glauben, dass es möglich sei die Philosophie zu verwirklichen ohne sie aufzuheben.106 Wichtig ist vor allem die Rolle, die diese Gedanken für die Rezeption von Marx als Denker einer Praxis im Gegensatz zum bloßen Denken spielten. Unabhängig davon, ob man Marx zu Recht eine solche Vereinfachung zusprechen kann, ist dieser Gedanke von großer Bedeutung, sofern er mehrere Diskussionen im XX. Jahrhundert beeinflusste. Marx’ Anhänger deuten in dieser Hinsicht das Ende der Philosophie als ihre eigene Vollendung, aber diese Vollendung heißt nicht mehr Philosophie, sondern ihre Verwandlung in eine Praxis, welche die Philosophie als Abstraktion historisch und konkret negiert. 102 103 104 105 106

(Ebenda, S. 161). (Ebenda, S. 163). (Lyotard, 1984, S. 38). (Ebenda, S. 60). (Marx und Engels, 1976, S. 384).

Eine Epoche von Enden

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Freuds Äußerungen über die Philosophie waren stets diskret, jedoch stellte er deutlich fest, dass das Unbewusste von nun an Primat vor dem Bewusstsein und daher vor der Philosophie besitze. Freud zeigt von Beginn an das paradoxe Feld des Triebs, jener Türangel und „Beziehung zwischen dem Körperlichen und Seelischen“, von dem „weder die spekulative Philosophie noch die deskriptive Psychologie oder die an die Sinnesphysiologie anschließende sogenannte experimentelle Psychologie [...] etwas Brauchbares zu sagen“107 hätten. Das Feld des Unbewussten eröffnet sich mit der skandalösen Behauptung, „daß es unbewußtes Denken und ungewußtes Wollen gibt“.108 Weil aber die Philosophie Willen und Denken immer auf die Seite des Bewusstseins gelegt hat, müsste sie Stille demgegenüber wahren. Die Psychoanalyse Freuds begrenzt sich nicht auf den Bereich der medizinischen Therapie, sondern sie erobert progressiv das Feld der ganzen Kultur und erklärt sich als Phänomen Resultat unbewusster Kräfte: „Wir glauben, die Kultur ist unter dem Antrieb der Lebensnot auf Kosten der Triebbefriedigung geschaffen worden [...] Unter den so verwendeten Triebkräften spielen die Sexualregungen eine bedeutsame Rolle; sie werden dabei sublimiert, d. h. von ihren sexuellen Zielen abgelenkt und auf sozial höherstehende, nicht mehr sexuelle, gerichtet“; diese Triebe weisen auf die „ursprünglichen Ziele“ der Gesellschaft, auf jenes „heikle(s) Stück ihrer Begründung“ hin; für die Kritiker reserviert Freud diese Zeilen: „[…] Die Gesellschaft macht also das Unliebsame zum Unrichtigen, bestreitet die Wahrheiten der Psychoanalyse mit logischen und sachlichen Argumenten aber aus affektiven Quellen, und hält diese Einwendungen als Vorurteile gegen alle Versuche der Widerlegung fest“.109 Die Argumente gegen die Psychoanalyse mögen „logisch“ sein, können jedoch aufgrund ihrer „affektiven“ Quellen falsch sein. Falsches und Wahres lässt sich für Freud nur in Bezug auf das Unbewusste mit seinen unbewussten Gedanken und seinem unbewussten Willen bestimmen. Das Ende der Philosophie heißt im Hinblick auf die Psychoanalyse das Ende ihres Primats. Die Psychoanalyse verschiebt das Bewusstsein und damit die ganze Philosophie (eine bloße Tätigkeit jenes Bewusstseins) auf eine sekundäre Ebene, und macht sie von anderen Kräften abhängig. Der Gedanke ist nicht neu. Der Charakter des Bewusstseins war eine zentrale Diskussion im postkantischer Idealismus. Während das Bewusstsein seine Vorstellungen in sich selbst immer findet, weiß es nicht, wie es auf sie gekommen ist. Das Bewusstsein kennt nicht die Geschichte seiner eigenen Konstitution. Selbstbewusstsein ist der Name für die Erinnerung dieser Geschichte durch die Konstruktion eines Systems, in dem sich das ganze Wissen aus der subjektiven Tätigkeit ableiten lässt. Die Psychoanalyse ist dagegen der Name jener Unmöglichkeit, diese unbewusste Geschichte ganz bewusst (=zum Wissen) zu machen. Ich bin der Meinung, dass diese „Entthronung“ der

107 108 109

(Freud, 1924, S. 13). (Ebenda, S. 15). (Ebenda, S. 16).

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Das Ende der Philosophie als Ausgangspunkt

Philosophie vonseiten der Psychoanalyse nur dank des Werks von Lacan möglich war. Lacan platziert explizit die Metaphysik (=die Philosophie) auf der Seite der Hysterie: „Ce n’est pas un mauvais usage d’employer l’hystérie dans un emploi métaphysique; la métaphysique, c’est l’hystérie“. Hysterie und Unbewusstes hängen hierbei als „nicht wissen, wovon man spricht“ zusammen: „L’inconscient s’origine du fait que l’hystérique ne sait pas ce qu’elle dit, quand elle dit bel et bien quelque chose par les mots qui lui manquent. L’inconscient est un sédiment de langage. [...] „C’est ça l’inconscient, on est guidé par des mots auxquels on ne comprend rien“.110 Der Philosoph weißt nicht, woher sein Diskurs kommt, wie er durch das Unbewusste konstituiert wird. Die Philosophie zählt lediglich als ein Diskurs unter anderen. Lacan stellt im Seminar L’Envers de la Psychanalyse vier strukturelle Diskurse vor: „[…] l’universitaire, du maître, de l’hystérique et de l’analyste“, plus einen möglichen fünften, den kapitalistischen111. Der Philosoph agiert manchmal auf der Seite des universitären, manchmal auf der Seite des hysterischen Diskurses. In beiden Fällen spielt der „Herr“112 eine entscheidende Rolle, sei es als selbst behauptetes, sei als angefochtenes Wissen. Den Diskurs des Analysten definiert Lacan im Gegensatz dazu als Empfänger von jenem Freudschen Spruch: „Wo es war, soll Ich werden. C’est là où c’était le plus-de-jouir, le jouir de l’autre, que moi, en tant que je profère psychanalytique je dois venir“.113 Der Diskurs des Analysten ist die Kehrseite (l’envers) des „Diskurses des Herrn“, als der Philosophie: Der erstere also „doit se trouver à l’opposé de toute volonté, au moins avouée, de maîtriser“.114 Daraus folgt dieser merkwürdige Schluss Lacans: „Comment pourrait-on appréhender toute cette activité psychique autrement que comme un rêve, quand on entend mille et mille fois en cours de journée cette chaîne bâtarde de destin et 110 111 112

113 114

Propos sur l'hystérie. 26.02.1977. Unveröffentlicht. Verfügbar über die Webseite der École Lacanienne de Psychanalyse. http://www.ecole-lacanienne.net Zuletzt geprüft am 2.7.2012. (Lacan, 1998, S. 47). Herr = le maître. Lacan bedient sich hier Hegels Terminologie in der Phänomenologie des Geistes. Im Teil B., IV, A präsentiert Hegel die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft als die Entfaltung des Bewusstseins in Abhängigkeit und Unabhängigkeit. Hegels Absicht besteht natürlich in der systematischen Darstellung der Entstehung des Selbstbewusstseins und Herr und Knecht gelten nur als komplementäre Figuren auf der Suche nach Anerkennung. Für Lacan ist aber alle intersubjektive Anerkennung Täuschung und der Herr wird zu einer strukturellen und unbewussten Figur. Lacans Gebrauch von dieser Terminologie ist nicht immer rigoros, kann aber mit Rekurs auf Hegel verstanden werden. Hegel beschreibt die zwei Gestalten auf folgende Weise: „[...] die eine das selbständige, welchem das Fürsichsein, die andere das unselbständige, dem das Leben oder das Sein für ein Anderes das Wesen ist; jenes ist der Herr, dies der Knecht“ (Hegel 2006, S. HW03:150). Von dieser Vorstellung nimmt Lacan den Charakter des Subjekts als des Knechts im Sinne von „für ein Anderes sein“, weil das „Wesen“ des Subjekts immer verloren ist. Des Herrn behält Lacan nur jene Figur von (jetzt unbewusster) Macht und Beherrschung plus jene subjektive Phantasie, dass der Herr das Ding „genießt”. Während der Knecht laut Hegel dem Sein nicht abstrahieren konnte, weil er sein Leben behalten wollte, muss er mit dem Ding umgehen, es wird nur bestimmt negiert. Der Knecht betrachtet: „das Ding auch negativ und hebt es auf; aber es ist zugleich selbständig für ihn, und er kann darum durch sein Negieren nicht bis zur Vernichtung mit ihm fertig werden, oder er bearbeitet es nur“, aber „Dem Herrn dagegen wird durch diese Vermittlung die unmittelbare Beziehung als die reine Negation desselben oder der Genuß; was der Begierde nicht gelang, gelingt ihm, damit fertig zu werden und im Genüsse sich zu befriedigen“ (Hegel 2006, S. HW03:151). Der Herr ist jene gespenstische Figur, die vermutlich wirklich genießt. Das Knecht-Subjekt muss dagegen begehren und das Ding nur „bearbeiten“. (Lacan 1998, S. 61). (Ebenda, S. 70).

Begrenzung der Epoche des Endes

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d’inertie, de coups de dés et de stupeur, de faux succès et de rencontres méconnues, qui font le texte courant d’une vie humaine? Ne vous attendez donc à rien d’autre de plus subversif en mon discours que de ne pas prétendre à la solution“.115 Die Philosophie endet zusammen mit dem Primat des Bewusstseins und des Wissens. Aber die Psychoanalyse zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie keine Lösung mehr für die alten Probleme der Philosophie sucht. Diese alten Probleme verlieren an Bedeutung, wenn sich die Bedingungen der Diskussion ändern. Wir dürfen nicht vergessen, dass sowohl das Marxsche Denken als auch die Psychoanalyse sich als Praxen und nicht nur Denkweisen verstehen, und dass beide das Bewusstsein als „falsches jedoch notwendig falsches Bewusstsein bezeichnen“, weil dabei die Philosophie ihre eigenen Bedingungen nicht erfassen kann. Nicht zuletzt muss man auch Fukuyamas Spruch erwähnen, denn darin erkennt man politische und praktische Folgen, die ein Diskurs des Endes haben kann. Man kennt Fukuyamas Behauptung des Endes der Geschichte im Ausgang von Kojèves Interpretation von Hegel: „What we may be witnessing is not just the end of the Cold War, or the passing of a particular period of postwar history, but the end of history as such... That is, the end point of mankind’s ideological evolution and the universalization of Western liberal democracy as the final form of human government“.116 Das Ende als „Horizont des Denkens“ ist keineswegs homogen. Man findet nicht nur widersprüchliche Positionen, sondern auch eine innere Zweideutigkeit. Man kann darunter sowohl das Ende einer Epoche verstehen, als auch das Ende jenes Denkens, bei dem die Rede von Epochen sinnvoll ist. Man kann ebenso dieses Ende als Erschöpfung oder eben als Vollendung eines Projekts (oder beides) deuten, als unvollendetes bzw. misslungenes, jedoch zu rettendes Unternehmen oder als einen verhängnisvollen Fehler. Allerdings lassen sich die großen Merkmale des Denkens des Endes durch die Behauptung kennzeichnen, dass die Philosophie und deren Ressourcen zum einen ohnmächtig und zum anderen sekundär (= nicht originär) geworden sind. Dies führt zur Ankündigung eines kommenden Anderen — sei es in der Form eines kommenden Denkens, sei es in der Form einer kommenden Praxis, die dieses Denken bewirkt. Die praktischen Konsequenzen dieses Denkens sind aber nicht evident und verlangen eine nähere Betrachtung.

2.2 Begrenzung der Epoche des Endes Ich möchte die Epoche des Endes auf jenen Bogen begrenzen, der sich von Nietzsche bis Derrida spannt. Um die Reichweite einer solchen Untersuchung zu begrenzen, nehmen wir in dieser Arbeit Derrida als Leitfaden und davon ausgehend beziehen wir uns auf relevante Autoren, wie Husserl, Heidegger und Lacan, um das Denken des Endes besser zu 115 116

(Ebenda, S. 80). (Fukuyama, Summer 1989, S. 2).

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Das Ende der Philosophie als Ausgangspunkt

charakterisieren. Diese Epoche kennzeichnet sich durch eine zunehmende Besessenheit von der Totalität der Geschichte des Abendlands, welche als die homogene Herrschaft der Metaphysik verstanden wird. Wie relevant ist aber dieses Denken des Endes? Wie relevant ist an sich ein Diskurs über das Ende und der Beginn einer neuen Epoche im Bereich des Denkens? Ist diese Diskussion nicht eher veraltet und byzantinisch oder einem verdeckten Millenarismus eigen? Anfang des XXI. Jh. diskutiert man immer noch, ob die Philosophie überhaupt möglich sei. Zwei Beispiele davon (beide Lacans Schüler) sind Alain Badiou und Francois Laruelle. Der erste behauptet: „Je pose non seulement que la philosophie est aujourd’hui possible, mais que cette possibilité n’a pas la forme de la traversée d’une fin“117. Dagegen unternimmt Laruelle sein Projekt einer Non-Philosophie: ‚End of philosophy’ is a philosophical expression not only by virtue of its formulation but also through its meaning and as a matter of principle. It expresses philosophy in its ultimate possibility – winding around itself, gathering itself and withdrawing from thought. Philosophy encloses itself, consummates itself as a form of technique, leaving behind an empty space for a new experience of thought: 118

die Nicht-Philosophie119. Was steht eigentlich auf dem Spiel? Nichts anderes als die Art und Weise, in der man die philosophische Tradition mit ihren Denkweisen, Problemen und Begrifflichkeiten sowie ihr Verhältnis zur heutigen Welt rezipieren kann und soll. Das Denken 117 118

119

(Badiou, 1989, S. 12). Laurelle: „Heidegger and Derrida have added certain important nuances to this schema. But it still has to be understood as expressing the essence of philosophy: an autopositional essence indefinitely closing on itself, whilst missing or exceeding itself by a difference intrinsic to that identity, so that it never fully achieves either a perfect closure or a perfect opening. This is not to say that auto-positioning or auto-beginning always fails, or fails as a matter of principle. It fails only to the same degree as it succeeds because this structure – specular in nature – is divided by a difference or alterity that remains subordinated to its identity, the whole forming a dyadic/triadic structure that is equally and simultaneously open and closed. [...] Non- philosophy is not a return to identity or to its primacy in the wake of twentieth-century philosophy’s orgy of alterity and difference. It is not some sort of reaction. […] Non- hilosophy is founded in another experience of identity. It conceives of identity precisely as that to which it is impossible to direct thought towards intentionally – whether as object or horizon. It conceives of identity as something that cannot be attained via transcendence [...] although nonphilosophy also begins in immanence [wie die Philosophie, A.R.] and remains within it, it does not take the form of a self-encompassing movement in which identity merely functions to close or seal the circle. In nonphilosophy, identity as such is no longer a function of anything else“ (Laruelle, 2003, S. 173–175). Laurelle: „Heidegger and Derrida have added certain important nuances to this schema. But it still has to be understood as expressing the essence of philosophy: an autopositional essence indefinitely closing on itself, whilst missing or exceeding itself by a difference intrinsic to that identity, so that it never fully achieves either a perfect closure or a perfect opening. This is not to say that auto-positioning or auto-beginning always fails, or fails as a matter of principle. It fails only to the same degree as it succeeds because this structure – specular in nature – is divided by a difference or alterity that remains subordinated to its identity, the whole forming a dyadic/triadic structure that is equally and simultaneously open and closed. [...] Non- philosophy is not a return to identity or to its primacy in the wake of twentieth-century philosophy’s orgy of alterity and difference. It is not some sort of reaction. […] Non- hilosophy is founded in another experience of identity. It conceives of identity precisely as that to which it is impossible to direct thought towards intentionally – whether as object or horizon. It conceives of identity as something that cannot be attained via transcendence [...] although nonphilosophy also begins in immanence [wie die Philosophie, A.R.] and remains within it, it does not take the form of a self-encompassing movement in which identity merely functions to close or seal the circle. In nonphilosophy, identity as such is no longer a function of anything else“ (Laruelle, 2003, S. 173–175).

Begrenzung der Epoche des Endes

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des Endes ist eine Interpretation der Philosophie in Hinblick auf ihre Grenzen und ihr „Jenseits“. Es ist eine Interpretation der Philosophie ausgehend von ihren Resultaten im Verständnis von Zeit, Raum und Intersubjektivität in Bezug auf den heutigen politischen, sozialen und wissenschaftlichen Zustand der Welt. Und es ist nicht zuletzt eine Überlegung über die Grenzen des Denkbaren und des Sagbaren. Denn das Denken des Endes will zugleich die Grenzen der Logik, der Grammatik und des Vorstellbaren zeigen und spielt mit der Idee, dass wir nun mit einem Nichts konfrontiert sind, über das sich nichts sagen lässt. Die Leere und das Paradoxe, das Scheitern und die Stille, das Unmögliche und das Tragische besetzen die Stelle des Realen. Das Ende der Philosophie muss man also in zweierlei Hinsicht betrachten: Zum einen als eine Denkströmung, die, vom philosophischen Diskurs ausgehend, sich von ihm distanzieren will; zum zweiten als Streitsache, weil seine Interpretation der Philosophie fragwürdig und manchmal inkonsistent ist. Anders ausgedrückt: Das Ende der Philosophie ist eine Diskussion über die Grenzen und Aufgaben des Denkens nach dem umstrittenen Ende der Philosophie. Wie verhalten sich nun all die Enden (von Gott, vom Menschen, von der Geschichte usw.) zum Ende der Philosophie? Warum dürfte man das letztere als Index für die anderen Enden gelten lassen? Warum diese privilegierte Referenz auf die Philosophie und nicht auf Gott, auf den Menschen, auf die Wahrheit, auf die Subjektivität usw. annehmen? Die Rede vom Ende der Philosophie will so ausgiebig wie die Philosophie sein. Und die Philosophie ist jener Diskurs, der die Begriffe Mensch, Subjektivität, Wahrheit, Gott usw. systematisch artikuliert. Nicht umsonst spricht Heidegger von der Philosophie als einer Ontotheologie, wo Sein und Gott immer zusammen gedacht werden. Drei Objekte machten die klassische Metaphysik aus: Gott, die Seele und die Welt. Man kann sagen, dass in der Moderne Gott als Gedanke, die Seele als Mensch und die Welt als wissenschaftliche Natur weiterleben. Das Denken des Endes radikalisiert die Kritik der Metaphysik und ihre subjektiven Voraussetzungen. Das Ende der Philosophie impliziert die Erweiterung der Kritik an der Metaphysik bis hin zur Philosophie selbst mit den eigenen Mitteln der Philosophie. Nicht nur Gott und Mensch sterben. Auch die Welt, als Transzendenz und Sein verstanden. Die Welt bietet keine sichere Instanz für die Objektivität und Konkretheit, sie schwebt im Äther der Sprache. Gibt es aber eine Philosophie? Gibt eine Philosophie? Gibt es eine Philosophie? Eine Philosophie, mehrere Philosophien, mehrere Diskurse, was ist der breiteste Rahmen? Ist Philosophie, Wissen, Spekulation, Intuition, Konstruktion? Wie hat sich die Philosophie im Zusammenhang mit der Politik, mit der Wissenschaft, mit der Macht ergeben? Hat sie wirklich die Welt regiert, oder war sie immer eine ohnmächtige Illusion? Man kann diese Diskussion nicht weiterbringen, wenn man nicht vorübergehend die Philosophie historisch als eine betrachtet.120 120

Der Anfang einer Analyse erschöpft die untersuchte Sache nicht. Der Anfang ist nur noch ein Beginn. Wollen wir aber nicht rein ein dunkles Wort durch ein gleich dunkles Wort ersetzen, dann ist man berechtigt — im hegelschen Sinne— daran zu erinnern, dass das erste Wort immer unvollständig ist, dass man immer mit halb

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Das Ende der Philosophie als Ausgangspunkt

Die Philosophie verstand sich, besonders beim Idealismus und bei der Phänomenologie, als Wissenschaft der Wissenschaft, als Reflexion ihrer selbst, ihrer Geschichte, und daher als deren bewusste Vollendung und als Vollendung im Bewusstsein als Wissen. Mit dem Ende der Philosophie wird behauptet, dass diese Wissenschaftslehre unmöglich und abgeleitet sei. Das heißt, die Philosophie lässt sich als solche beim Denken des Endes an zwei privilegierten Stellen erkennen: Dem deutschen Idealismus und der Phänomenologie. Beide vollenden die philosophische Geschichte. Aber noch einmal: Warum aber soll uns dieses Thema überhaupt beschäftigen? Warum soll man den Appell, dass die Philosophie geendet hat, ernst nehmen? Warum sollte man nicht einfach weiter philosophieren, warum sollte man nicht einfach Ethik, politische Philosophie oder Hermeneutik weiter betreiben? Die Philosophie ist nur so groß, wie ihre Einwände, so kräftig, wie ihre Unmöglichkeit, so lebendig, wie für tot erklärt. Wenn die Geschichte der Philosophie in den Augen der Denker ihres Endes darin besteht, ihre Unmöglichkeit, ihr Anderes zu unterdrücken, so ist es auch der stetige Anspruch der Philosophie, die Leugnung ihrer selbst ernst zu nehmen, und die letzten Konsequenzen aus dieser Leugnung zu ziehen - auch wenn das bedeuten würden, sich von der Philosophie zu verabschieden. Die einzige mögliche Philosophie ist jene, die ihre eigene Auflösung nicht fürchtet. Die Kraft des Denkens entsteht aus ihren eigenen Grenzen. Und es sind diese historischen Grenzen, welche nun überprüft werden müssen. Wir spielen mit den Grenzen und untersuchen dabei die Grenzen selbst. Wenn das Denken des Endes der Philosophie ihre eigenen Grenzen aufzeigt, so produziert es die notwendige Spannung für ein riskantes, aber produktives Denken. Man könnte sagen, dass das Denken ein begriffliches Spiel von identifizieren und unterscheiden, bejahen und negieren ist. Dabei werden Grenzen etabliert, überwunden oder verkompliziert und daraus ergibt sich ein Spiel von teilen, verteilen und einteilen. In einer Überlegung über das Ende der Philosophie wird zugleich über den Begriff des Endes als Grenze reflektiert, also über die Grenzen zwischen dem Aktuellen, dem Möglichen und dem Unmöglichen, zwischen dem Richtigen, dem Ungerechten und dem Neutralen, zwischen dem Zufall, der Notwendigkeit und dem Freien, zwischen dem Denken selbst und der Praxis usw. Diese Begriffe konstituieren Räume von Möglichkeiten. So eine Reflexion wäre allerdings einseitig, wenn sie ganz von außen durchgeführt würde. Jede Behauptung über die Grenze muss zugleich eine Behauptung „an der Grenze“ sein. Denn das Denken des Endes erfordert, dass die Worte selbst diese Grenzen im Spiel setzen und „inszenieren“. Das heißt, die Grenze ist kein Thema, über das man spricht, sondern eine Operation mit den Worten selbst. Die Grenzen werden nicht direkt gezeigt, sondern man sieht dabei nur die Effekte. Die Schwierigkeit in der Auseinandersetzung mit dem Denken des Endes besteht daher im konstanten Wechsel von Perspektiven und Ebenen dank dieser komplexen Grenze. Das Wort falschen Ausgangspunkten beginnen kann, und dass das erste ausgesprochene Wort immer Voraussetzungen hat. Am Ende weiß man vielleicht besser, was man gemacht hat. Am Ende wovon? Ende gibt es, wo es proklamiert wird. Denn Ende ist ein Appell, ein Moment für die Reflexion.

Einführende Merkmale des Denkens des Endes

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Spiel ist in diesem Kontext entscheidend. Derrida wird die Grenze eben als ein Spiel interpretieren, in dem die klassischen Begriffe der Philosophie, ihre Hierarchien und Strukturen umgewälzt werden. Soll man am Ende ein allumfassendes Spiel als letzte Bedingung des Denkens annehmen? Das steht auch auf dem Spiel. Es ist richtig, wie das Denken des Endes behauptet, dass die Philosophie ihre eigene Grenze, ihr Anderes nicht bestimmen kann. Daraus folgt aber nicht, dass die Philosophie von ihrem Anderen bestimmt wäre. Die Philosophie (das ist eine These dieser Arbeit) ist nicht bloß abgeleitet, bloß von ihrem Anderen bestimmt. Sie spielt mit. Aber, ob die Philosophie nach ihrem Ende etwas zu sagen hätte, hängt davon ab, ob sich dieses Spiel beschreiben lässt, ob es Regeln und Formen aufzeigt. Eine Diskussion über die Grenzen des Denkens (im objektiven und subjektiven Genitiv) scheint einerseits eine kritische Aufgabe — im Sinne von Kant –, andererseits das Thema des Denkens des Endes schlechthin zu sein. Denn es ist nun nicht das Denken, welches die Grenzen setzt, sondern es ist das Denken selbst, welches begrenzt wird. Nicht durch die Praxis oder die Intuition, oder eine andere Instanz. Das Denken zeigt seine Grenzen durch seine Paradoxien. Das Denken des Endes untersucht die Möglichkeitsbedingungen der Philosophie als historischen Projekts. Und es untersucht auch, warum die Philosophie als Projekt ihrem Zweck nach unmöglich ist. Diese Paradoxie ist grundlegend für ein Verständnis des Denkens des Endes. Der Ausdruck „die Paradoxien der Philosophie“ bedeutet dann: die Paradoxien, mit denen die Philosophie umgeht (ihr „Objekt“), und die Paradoxien, die die Philosophie ausmachen (als wäre die Philosophie ein Resultat und nicht ein Prinzip). Die Frage nach dem Ende der Philosophie ist demzufolge die Frage nach dem Unterschied zwischen Philosophie und Nicht-Philosophie/Anti-philosophie/Post-philosophie. Es handelt sich deutlich um ein Präfix der Begrenzung: „nicht-“, „anti“, „post“: Negation, Widerspruch, Folge. Das Denken des Endes will sich der Art und Weisen der klassischen Philosophie nicht unterziehen. Aber die Negation soll nicht als absolute Negation verstanden werden, der Widerspruch muss sich eher in Differenz verkehren, die Folge soll nicht mehr linear sein. Der Leitfaden für eine Frage nach dem Ende der Philosophie besteht also selbstverständlich in der Analyse dieser Grenze, also in den Kontinuitäten und Diskontituitäten sowie deren Merkmalen zwischen der Philosophie und ihrem Ende. Eine solche Fragestellung wird erst da möglich, wo man den Übergang oder Übergänge zwischen der einen und dem anderen und umgekehrt zeigen kann.

2.3 Einführende Merkmale des Denkens des Endes A) Das Ende der Philosophie als Epoche Wir haben bereits auf allgemeine Merkmale des Denkens des Endes hingewiesen. Jetzt gilt es, dieses Denken genauer zu charakterisieren, um dieser Untersuchung eine konkrete Struktur zu geben. Im letzten Paragraphen haben wir darauf aufmerksam gemacht, dass die Frage nach dem Denken des Endes eine Überlegung über Grenzen ist, und dass diese Grenzen paradoxen Charakters sind. Die Grenzen der Philosophie sind zunächst historisch, wie die Philosophie selbst. Das Denken des Endes adoptiert offenbar einen historischen Diskurs. Die Philosophie

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Das Ende der Philosophie als Ausgangspunkt

begegnet ihrem Ende, wird behauptet wird, in unserer Epoche. Dies erlaubt eine Verknüpfung vom Ende der Philosophie mit den Geschehnissen unserer Epoche. Dieses Ende lässt sich als Aufhören und als Vollendung zugleich interpretieren. Eine Vollendung setzt einen Anfang und eine historische Entwicklung voraus. Diese selbstverständliche Beobachtung erweist sich als unerlässlich für unsere Untersuchung, denn das Denken des Endes entspringt einer Diskussion mit dem Historizismus und gilt als eine kritische Auseinandersetzung mit den Begriffen von Zeit und Geschichte. Diese Auseinandersetzung musste einerseits die Form einer Zurückgezogenheit anderseits aber die einer Radikalisierung des Begriffs von Geschichte annehmen. Die Radikalisierung des Zeitbegriffs bringt paradoxerweise seinen Verfall mit sich. Wie kann das sein? Die Radikalisierung des Zeitbegriffs bringt eine Historisierung des Geschichtsbegriffs selbst mit sich. Diese sogenannte Historisierung des Geschichtsbegriffs erfolgt durch eine doppelte Kritik an der Philosophie der Gegenwart – jener Philosophie, in der Vergangenheit und Zukunft als bloße Modifikationen der Gegenwart gelten. Eine Vergangenheit, die teleologisch auf unsere Gegenwart zeigt, ist eine geschlossene. Eine Zukunft, die einen Plan vollendet, auf den unsere Gegenwart zeigt, und vom dem sie geleitet wird, ist auch keine offene. Die Infragestellung einer Philosophie der Gegenwart geht von der Voraussetzung einer Vergangenheit aus, die niemals gegenwärtig (bewusst) war und die keinen teleologischen Charakter besitzt. Die Zukunft bietet sich dementsprechend als das schlechthin Kommende, als das Andere an, das in keinem Zusammenhang zur Gegenwart, zum Anwesenden steht. Hier kehrt sich die klassische und transzendentale Bestimmung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft um. Die Gegenwart ist nicht mehr der absolute Punkt des Selbstbewusstseins, von dem aus die Vergangenheit durch das Denken nachträglich bestimmt und die Zukunft durch den Willen verwirklicht wird. Zukunft und Vergangenheit haben in diesem neuen Denken Vorrang gegenüber der Gegenwart. Die Gegenwart ist nun das Resultat von ihrem Anderen, also dem der Vergangenheit und der Zukunft. Diese Struktur der Zeit nimmt beim Denken des Endes eine transzendentale oder quasi-transzendentale Struktur an. Warum das Denken des Endes von Bedeutung für die Rezeption der Geschichte der Philosophie und für die Aufgaben und Möglichkeiten des heutigen und kommenden Denkens ist, soll nun kurz geklärt werden. B) Das Denken des Endes und das transzendentale Denken Man kann in der Geschichte der Philosophie zwei Höhepunkte in der Reflexion der Geschichte und der Zeit erkennen: den deutschen Idealismus und die husserlsche Phänomenologie. Das Denken des Endes geht historisch gesehen von der letzteren aus, bezieht sich aber ständig auf den ersteren. Zunächst wollen wir die These vertreten, dass das Denken des Endes der Philosophie an einem transzendentalen oder quasi-transzendentalen Ansatz festhält, so dass jedes sowohl praktische als auch theoretische Unternehmen seinen quasi-transzendentalen Möglichkeitsbedingungen verpflichtet bleibt. Warum sprechen wir von einem quasi-

Einführende Merkmale des Denkens des Endes

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transzendentalen Ansatz? Weil das Denken des Endes zum einen den Transzendentalismus anficht, zum zweiten ihn auf einer neuen Ebene wiederholt. Wie dies geschieht ist noch zu klären. Dieser quasi-Transzendentalismus weist zwei verwandte Quellen auf: Kant und Husserl als transzendentale Denker. Transzendentaler Idealismus und Phänomenologie sind die zwei Achsen, die das Denken des Endes verständlich machen. Die Philosophie erhebt sich nach Kant bei Fichte, Schelling und Hegel über alle Wissenschaften als Denken aller ultimativen Bedingungen, von welchem aus sich alles andere denken lasse, insbesondere die Trennung Subjekt-Objekt, bzw. Sein-Denken. Diese allererste Bedingung ist beim Idealismus ein historisches Resultat für das Bewusstsein, es ist aber wahrer Anfang (Prinzip, arché). Der beim Denken des Endes der Philosophie durchgeführte Abbau der Philosophie verzichtet keineswegs auf diesen originären Anspruch, er wiederholt ihn nur außerhalb des Bewusstseins. Dabei werden fundamentale Denkweisen des transzendentalen Denkens, wie die Hierarchie und die Nichtigkeit der Welt, wiederholt. Dieses neue Denken etabliert sich als Prolegomena für jedes gegenwärtige und kommende Denken, und zwar vor dem bewussten Denken. Die Philosophie unterzieht sich selbst, sie betrachtet sich selbst, das Bewusstsein, das Wissen usw. als konstituiert und nicht mehr als konstituierend. In der Sprache des Idealismus würden wir von einem Verfall des Bewusstseins vom Unbedingten in das Bedingte reden. Aber wir verwenden lieber den Begriff von Ursprünglichkeit und nicht von Unbedingtheit. Die Termini originär, bzw. ursprünglich oder konstituierend gelten hier als Synonyme; ihre Gegensätze sind das Abgeleitete, das nicht-Originäre, d.h., das Konstituierte. Dieses Vokabular stammt aus Husserls Phänomenologie. Nun aber lässt sich fragen, warum das Vokabular der Phänomenologie und nicht das des Idealismus zu anzuwenden sei. Es gibt zwei Gründe dafür. Zum einen wiederholt der phänomenologische Unterschied konstituierendkonstituiert den transzendental-idealistischen Unterschied zwischen Unbedingtem und Bedingtem, Grund und Begründetem. Zum zweiten geht das Denken des Endes bei Heidegger und Derrida aus einer expliziten Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls hervor, in welcher dieses Vokabular sowohl kritisiert als auch zum Teil übernommen wird. Husserls Phänomenologie wird in dieser Arbeit Gegenstand einer Betrachtung ihrer Grundbegriffe sein. Für den Moment genügt die folgende Behauptung: Die Phänomenologie versucht das ganze Wissen auf die Erfahrung eines Subjekts bzw. eines Ego zu stützen. Diese Erfahrung heißt Evidenz und ist absoluter Besitz von jenem Subjekt. Das Ego gilt da als absoluter Grund aller Erfahrung und definiert sich als das schlechthin Konstituierende, während die Objekte der Erfahrung sich als konstituiert erweisen. Husserl definierte das Bewusstsein als grundsätzlich intentional; das bedeutet Bewusstsein von etwas, wo der subjektive Pol Noesis und das Korrelat Noema heißen. Dieses Verhältnis findet seine innerste „Wahrheit“ da, wo Noesis und Noema zusammenfallen, wo das Bewusstsein aktive Selbstkonstitution bedeutet. Dieses Resultat von Husserls Philosophie stellt sich aus einer

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phänomenologischen Untersuchung des Zeitbewusstseins heraus. Die Zeit ist dabei der eigentliche und der wesentlichste Charakter des Ego und die Zeitkonstitution des Bewusstseins, eine Selbstkonstitution. Dieses phänomenologische Subjekt gilt für das Denken des Endes dagegen als konstituiert, also als abgeleitet. Das Sein geht bei Heidegger dem Subjekt voraus. Eine Zuspitzung dieses Denkens findet man bei Derrida, der das Sein auch im Namen einer noch ursprünglicheren und auch vorsubjektiven Schrift reduziert. Der fragende Philosoph wird zum (quasi)Objekt, nicht aber von sich selbst durch Reflexion, sondern von etwas Anderem. Er wird von etwas Fremdem wirklich konstituiert. Das Subjekt findet nicht seine eigene Spur in der Welt, sondern es findet in sich eine andere Spur die „Spur des Anderen“, des Fremden, dessen, was nicht sein eigenes Werk ist. Dieses Andere führt zur konstitutiven Entfremdung des Subjekts, welche nicht mehr zu überwinden ist. Außerdem entdeckt sich dieses Subjekt nicht nur als konstituiert, sondern als Teil einer Struktur von Verweisungen von Zeichen, die man mit Vorbehalt Welt nennen kann, welche das Denken nicht mehr umfassen kann. Das Subjekt ist nicht mehr Anfang und Ende der Welt, ihr Autor, sondern es befindet sich in medias res. Eine Folge des Denkens des Endes ist, dass diese Struktur von Zeichen die Möglichkeitsbedingung des Denkens überhaupt sei, welche wiederum nicht mehr gedacht werden kann. Doch kann man darüber nachdenken. Man kann doch das Konstituiert-Sein des Denkens mindestens auf indirekte Weise denken. Ferner kann man sich diese signifikante Struktur vorstellen und nicht nur in ihr gefangen sein. Oder man ist in ihr, aber nicht ganz in ihr. Sonst wäre es für uns ganz unmöglich, das Problem selbst zu formulieren. Wir hätten als erfahrende und denkende Subjekte keine Ahnung, dass wir konstituiert sind, wir hätten überhaupt keinen Zugang zu diesem seltsamen Bereich. Die erste Frage, die man dem Denken des Endes stellen kann ist: Wie erfolgt diese indirekte Rekonstruktion jener Struktur von Verweisungen, wie ist sie überhaupt möglich? Abseits dieser Frage und ihrer möglichen Antworten müsste man zumindest eine paradoxe Situation anerkennen. Und es ist dieser paradoxe Charakter der Philosophie, vom dem das Denken des Endes ausgeht. C) Das Denken des Endes und das Andere der Gegenwart Ein anderes Paradoxon dieses Denkens besteht darin, dass es nicht erlaubt, auf das versprochene Kommende überzugehen. Denn jedes Denken und jede Praxis, die auf die Gegenwart, auf die Vergegenwärtigung oder Verwirklichung hinweisen, stehen im Verdacht, metaphysisch, also nicht originär genug, also konstituiert und daher illegitim zu sein. So tief ist die Kritik alles Gegenwärtigen, wie die Kluft zwischen dieser Kritik und der Welt. Das hier angekündigte Andere, als Kritik und notwendige (jedoch nie anerkannte) Voraussetzung der Bewusstseinsphilosophie darf nicht vergegenwärtigt werden. Warum? Die Gegenwart und die Vergegenwärtigung sind beim Denken des Endes nur abgeleitete Prozesse, die abhängig vom Anderen sind. Das Andere ist nicht nur Bedingung der Gegenwart, sondern auch das, was nie vergegenwärtigt werden kann.

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An dieser Stelle entsteht eine Zweideutigkeit. Es wird einerseits behauptet, dass die Gegenwart als philosophischer Begriff eine enge und unvollständige Auffassung des Absoluten sei. Diese Auffassung hat sehr konkrete politische, soziale und ökonomische Folgen auf unserer Welt, weil sich unser Wissen und unsere Institutionen darauf stützen. Die Welt soll anders sein, könnte der Imperativ lauten. Auf der anderen Seite wird aber gleichzeitig behauptet, dass die Welt ein Gefängnis sei, dass die Radikalität des Anderen darin besteht, dass es verschieden von der Welt und allem Anwesenden sei. Es gibt nichts Neues unter der Sonne der Gegenwart, könnte das Motto dieses Ansatzes lauten. Implizit wird gesagt, dass die Welt selbst nicht anders sein kann, denn sie ist bei diesem Denken des Endes das Reich des Anwesenden und daher des Konstituierten, des Fertigen gegenüber dem Offenen und immer Ankommenden, niemals sich zu Vergegenwärtigenden. Es wäre aber ungerecht, zu behaupten, dass das Denken des Endes ein rein transzendentaler Ansatz sei. Denn es kritisiert auch den strikten Transzendentalismus eines Bewusstseins und zwar durch Argumente, die man dem absoluten Idealismus Schellings und Hegels und seiner Dialektik zusprechen würde. Das Denken des Endes zeigt die Verwicklung von Anfang und Ende, die Umkehrung des Bedingten ins Unbedingte und des Unbedingten ins Bedingte durch den Rekurs auf ein sich selbst produzierendes Werden, wenn auch nun außerhalb des Bewusstseins. Es ist als hätte sich das Subjekt von der Subjektivität losgesagt. Das vorher subjektive Denken lebt weiter als unbewusstes Denken121 in der Sprache, als eine Art unbewusste List der Vernunft, aber entfernt von menschlichem Sinn und Zweck. Gott lebt weiter als soziales Anderes, als Ordnung und Legitimität des sozialen Bandes, aber ohne dessen religiösen Charakter und ohne Glauben. Die Welt lebt weiter aber nicht als bewusste Vorstellung, sondern als unbewusste Signifikanten. Es ist ein Wissen ohne Wissen, oder ein 121

Vergisst man nicht, dass dies eben die These Freuds war: Es gibt ein unbewusstes Denken. An dieser These hält Lacan fest. Achten wir darauf, was Kant sagt, so ist das Denken wie ein System von Äquivalenzen zu betrachten. Die Gedanken haben den Wert von Vorstellungen. Oder anders gesagt: Die Welt ist eine Menge von Vorstellungen. Diese Vorstellungen finden eine Referenz zueinander durch Urteile. Aber sie sind Äquivalent angesichts einer oberen Einheit, die der Apperzeption. Das Ich ist das universelle Äquivalente, worauf alle Vorstellungen hinweisen, und wo sie ihren Wert bekommen. Freud erkennt auch zwei formelle Verfahren beim Traum, welche auch die zwei Verfahren des Unbewussten im Allgemeinen sind: Die Verdichtung und die Verschiebung — Achtung auf Derridas rétard als Gesetz des Spiels von Differenzen —. Juranville fragt: „Quel est, bien plus, l'objet de cette pensée inconsciente, si toute pensée établit des équivalences dans les déterminations conferées à un certain objet?“ (Juranville, 1984, S. 23). Die Antwort wird von Lacan deutlich gegeben: Verdichtung und Verschiebung sind zwei formelle Verfahren auf der Ebene des Signifikanten: Metapher und Metonymie, also: „La métaphore est radicalement l'effet de la substitution d'un signifiant à un autre dans une chaine, sans que rien de naturel ne le prédestine à cette fonction de phore, sinon qu'il s'agit de deux signifiants, comme tels réductibles à une opposition phonématique“ (Lacan, 1966, S. 890) und auch „la métonymie : la partie pour le tout“ (Ebenda, S. 70), other: „c'est dans le mot à mot de cette connexion que s'appuie la métonymie“ (Ebenda, S. 506). Dylan Evans erinnert daran, dass Lacans Auffassungen der Metapher und der Metonymie dem Linguisten Roman Jakobson verdanken: „On the basis of a distinction between two kinds of aphasia, Jakobson distinguished two fundamentally opposed axes of language: the metaphorical axis which deals with the selection of linguistic items and allows for their substitution, and the metonymic axis which deals with the combination of linguistic items (both sequentially and simultaneously). Metaphor thus corresponds to Saussure’s paradigmatic (which hold in absentia) and metonymy to syntagmatic relationships (which hold in praesentia)“ (Evans, 1996, S. 111). Das Unbewusste ist ein Denken ohne Denken. Subjektivität ohne Subjekt. Es ist eine unbewusste Operation mit Äquivalenzen, wo die Vorstellung durch Vorstellungsrepräsentanten (Freud) oder Signifikanten (Lacan) ersetzt werden.

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Nicht-Wissen, dessen negatives Präfix — nicht — uns wieder in die Diskussion über die Negation bringt. Der späte Schelling sprach auch vom Verzicht auf das Wissen zugunsten des Subjekts als Ekstase und Erstaunen. Er nannte dies ein Nicht-Wissen,122 ein Begriff, der nicht weit entfernt vom Denken Enden des Endes steht. Aber wir sind auch nicht beim späten Idealismus. Es gibt ebenso eine Rede von der Vollendung des Idealismus, das heißt, von seinem Ende. Man darf sich fragen, wann das Ende der Philosophie beginnt, und ob dieses Ende an sich Dauer aufweist. D) Die Abgrenzung des Denkens des Endes gegenüber der Philosophie Die Philosophie wird in diesem Zeitalter des Endes unwiderruflich zur Metaphysik und nichts anderem als Metaphysik und soll bei dieser ihrer letzten Krise123 ihr Anderes erahnen lassen.

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Schelling: „Aber Philosophie ist nicht demonstrative Wissenschaft, Philosophie ist, um es mit Einem Wort auszusprechen, freie Geistesthat; ihr erster Schritt ist nicht ein Wissen, sondern vielmehr ausdrücklich ein Nichtwissen, ein Aufgeben alles Wissens für den Menschen. So lang Er noch wissen will, wird ihm jenes absolute Subjekt zum Objekt werden, und er wird es eben darum nicht an sich erkennen. Indem er sagt: ich, als ich, kann nicht wissen, ich - will nicht wissen, indem Er sich des Wissens begibt, macht er Raum für das, was das Wissen ist, nämlich für das absolute Subjekt, von dem gezeigt ist, daß es eben das Wissen selbst ist. In diesem Akt, da er sich selbst bescheidet, nicht zu wissen, setzt er eben das absolute Subjekt als das Wissen ein. In dem Akt dieses Einsetzens werde ich nun freilich seiner inne als des Ueberschwänglichen. Dieses Innewerden könnte man wohl auch ein Wissen nennen. Aber es muß gleich dazu gesetzt werden: es ist ein Wissen, das in Ansehung meiner vielmehr ein Nichtwissen ist. Jenes absolute Subjekt ist nur da, sofern ich es nicht zum Gegenstande mache, d.h. nicht weiß, mich des Wissens begebe; sowie aber dieses Nichtwissen sich wieder aufrichten will zum Wissen, verschwindet es wieder, denn es kann nicht Objekt seyn. Man hat dieses ganz eigenthümliche Verhältniß sonst wohl auszudrücken gesucht durch das Wort intellektuelle Anschauung. Anschauung nannte man es, weil man annahm, daß im Anschauen oder (da dieß Wort gemein geworden) im Schauen das Subjekt sich verliert, außer sich gesetzt ist: intellektuelle Anschauung, um auszudrücken, daß das Subjekt hier nicht in das sinnliche Anschauen, in ein wirkliches Objekt verloren sey, sondern verloren, sich selbst aufgebend in dem, was gar nicht Objekt seyn kann. Allein eben weil dieser Ausdruck erst der Erklärung bedarf, so ist es besser, ihn ganz bei Seite zu setzen. Eher könnte man für jenes Verhältniß die Bezeichnung Ekstase gebrauchen. Nämlich unser Ich wird außer sich, d.h. außer seiner Stelle, gesetzt. Seine Stelle ist die, Subjekt zu seyn. Nun kann es aber gegen das absolute Subjekt nicht Subjekt seyn, denn dieses kann sich nicht als Objekt verhalten. Also es muß den Ort verlassen, es muß außer sich gesetzt werden, als ein gar nicht mehr Daseyendes. Nur in dieser Selbstaufgegebenheit kann ihm das absolute Subjekt aufgehen in der Selbstaufgegebenheit, wie wir sie auch in dem Erstaunen erblicken“ (Schelling und Hahn, 1998, S. I,9,2289). Es wird Krise mit Anführungszeichen geschrieben, weil eine Rede davon im klassischen Sinne beim Ende der Philosophie nicht mehr möglich ist. Das Wort Krise bezeichnet von selbst ein Problem, das eine Lösung verlangt: Sei es eine Versöhnung des Geteilten, sei es eine subjektive Entscheidung bei einem Scheideweg, sei es eine vermutliche Rückkehr zu den Anfängen. Eine Rede vom Ende der Philosophie zieht die Möglichkeit in Erwägung, dass es keine Krise überhaupt gibt, dass die Probleme der Philosophie, nur Scheinprobleme sind. Am Ende muss eine Rede vom Ende der Philosophie paradoxerweise konkludieren, dass es nichts eigentlich endet. Denn es war die Philosophie, welche vom Ende im ontologischen Sinne sprach. Lass uns dies erklären. Sagt man, dass die Philosophie in einer Krise ist, akzeptiert man sie. Es gehört zu der Philosophie selbst, um ihr Ende zu reden. Die Philosophie spricht von nichts anderem als ihrem Ende als ihrer Vollendung. Seitdem die Geschichte das philosophische Denken geprägt und gestalten hat, hat sich die Philosophie als Prozess verstanden. Dieser Prozess ist Selbst-Vollzug. Eine Rede über das Ende der Philosophie wäre dann das Ende des (philosophischen) Endes oder das Ende eines letzten Endes. Das ist, die Philosophie stoppt zu enden, suspendiert ihre Teleologie. Nur wenn die Philosophie nicht stoppen kann, heißt es, dass sie keine Teleologie hat. Doch kann diese Rede vom Ende der Philosophie der Versuchung nicht widerstehen, das Pathos der Philosophie zu wiederholen.

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Metaphysik heißt Philosophie des Gegenwärtigen oder, wie Heidegger sich ausdrückt: Denken des Seins als des Seienden. Das Denken des Endes will eine noch ursprünglichere Ebene als die des Seienden (und damit des Gegenwärtigen) entdecken. Diese Ebene soll im Vergleich zum Gegenwärtigen ursprünglicher (älter als jeder philosophischer Ursprung), breiter (umfassender als jede universale Aussage), nicht mehr (rein) vernünftig (sie lässt sich nicht mehr durch die klassische Vernunft verstehen, oder kurz, sie lässt sich nicht mehr verstehen), für den Logos bedingend (sie versteht sich als Möglichkeitsbedingung von Vernunft und Logos), wirklicher (sie ficht den Gedanken der Realität an, nur weil dahinter eine noch realere, jedoch nicht mehr objektivierbare Realität besteht) und unbestimmter (Gedanken und Begriffe reichen nicht aus, um dies aufzufassen) sein. Man erkennt hier dass die Adjektive, die Intensität beschreiben — wirklicher, ursprünglicher, breiter — die Frage offen lassen, ob diesem Anderen eine bestimmende Funktion zugemutet werden kann. Wenn das Andere die ultimative Möglichkeitsbedingung sein soll, kann es als erstes „Prinzip“ gedacht werden. Wie man aber ein Prinzip denkt (hier eine via negativa), unterscheidet sich davon, wie dieses Prinzip wirkt. Das Denken des Endes interpretiert dieses Quasi-Prinzip im produktiven Sinne, als welt- oder sinn-machend. Da es aber nicht mehr rein subjektiv ist, muss man die Frage aufstellen, wie die konkret erfolgt. Es wird manchmal von einer negativen (a)Theologie gesprochen. Das ist richtig. Sehen wir aber auch die Ähnlichkeiten mit jener Steigerung der Prädikate vom Empirischen ausgehend in Richtung des Unbedingten, wie beim Gottesbeweis. Nicht-philosophisch, nicht-logisch, nicht-vernünftig usw. Dies bedeutet für die Philosophie weder (auf neue und verschiedene Weise) philosophisch noch antiphilosophisch sowie weder (in neuer und verschiedener Weise) logisch noch unlogisch zu sein, denn es hat diese Struktur des Weder-Noch oder die einer inneren Unruhe dank einer nicht lösbare Selbstbeziehung der Philosophie mit sich selbst. Denn das Andere der Philosophie ist nicht bloß „etwas Anderes“, der Philosophie Fremdes, sondern die Philosophie selbst, welche in unlösbare Aporien gerät und sich gegen sich selbst richtet, wenn sie über sich selbst spricht, ohne ihre Ursprung und Ziel, Sinn und Einheit beherrschen und sichern zu können. Die Philosophie scheint gleichzeitig nicht wirklich enden zu können, denn sie ist der notwendige Pol ihrer Negation. Diese Negation ist selbst-kritisierend, nicht in dem Sinne, dass man den letzten Grund oder die ultimative Struktur sucht, sondern im Sinne einer paradoxen konstruktiven-destruktiven oder positiv-negativen Selbstbezüglichkeit. Wir werden diese Lage des Denkens genauer betrachten, wenn wir Eugen Finks Phänomenologie analysieren. Die Philosophie verfügt bei ihm über keine transzendentale Sprache, deswegen braucht die Philosophie eine sich selbst kritisierende Sprache, eine selbstironische Rede. Die Grenze zwischen Philosophie und Nicht-Philosophie ist nicht einfach zu finden, denn sie hat nicht die Form einer Grenze wie etwa zwischen zwei Ländern. Mit Recht bezieht man eine Grenze auf eine Teilung, auf eine Trennung. Doch ist der Begriff Grenze hier viel breiter zu

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verstehen. Inbegriffen sind Grenzen des Denkens, der Sprache, des Verstehens oder der Vernunft. Alle diese Grenzen zeigen verschiedene Arten von Grenzen auf, die letztendlich zu Paradoxien von Selbstreferenz — und daher Iteration — führen.124 Die Paradoxien des Denkens haben in Kants Antinomien eine wichtige Vorgeschichte. Es war für ihn die Arbeit der Vernunft, alle ihre Trennungen zu überwinden. Die Antinomien entstehen bei Kant, aus einem transzendenten Gebrauch der Vernunft. Die Begriffe des Verstandes kann man legitimerweise nur auf den Inhalt der Intuition anwenden. Dieser Unterschied zwischen dem Empirischen und dem Transzendentalen ist aber logisch problematisch. Die Logik des XX. Jahrhunderts hat gezeigt, dass logische deduktive Systeme Paradoxien nicht entrinnen können. Die Antinomie, wie der Name schon sagt, stellt uns zwei entgegensetzte Sätze vor. Es gibt kein Drittes. Das klassische Prinzip tertium non datur (also ein Drittes ist nicht gegeben) zeigt auch die Grenzen der Logik. Es ist in dieser Arbeit noch zu diskutieren, ob dabei ein Drittes eingeführt werden kann, oder ob sich die Aporie eben nur auf zwei Positionen beziehen kann, bei dem ein Drittes unmöglich wäre. Denn das Denken des Endes ist nicht bloß dialektisch. Es entnimmt der Dialektik die Annahme, dass das Allererste immer schon vermittelt ist, leugnet aber zugleich, dass die Vermittlung gewusst und durchaus gedacht werden kann. Das heißt, das Denken des Endes nimmt das Vermittelnde und macht es zum Vermittelten, in dem das Vermittelnde noch einmal zum Vermittelten wird usw. Es gibt kein Drittes im hegelschen Sinne. Doch ist das Andere der Philosophie für sie selbst ein Drittes. Die Philosophie stützt sich gemäß dem Denken des Endes auf Gegensätze: sensibel intelligibel, Intuition - Denken, Körper - Seele, Innen - Außen, Ich - Nicht Ich, Subjekt - Objekt, usw. Diese Gegensätze wiederholen den dualistischen Charakter der Logik. Das Paar wahr falsch, die zwei Werte der klassischen Logik, haben ihre ontologische Interpretation im Paar Sein - Nichts und ihre gnoseologische Lektüre im Paar Ich - Nicht-Ich. Das Denken des Endes präsentiert sich als ein Drittes gegenüber den Gegensätzen der klassischen Logik und der auf ihr aufgebauten Metaphysik. Dieses Dritte ist aber, wir werden es sehen, unmöglich im Rahmen eines Denkens des Endes der Philosophie, während es gleichzeitig die einzige Rechtfertigung für dieses Denken ist, dass es ein Drittes gebe. Das Dritte wird also als ein Denken jenseits der Philosophie und ihrer Widersprüche, beim Denken des Endes im Rahmen eines Paradoxons formuliert. Das Dritte ist ein Weder-NochWert. Die klassische Logik wird einerseits negiert: das kommende Denken ist weder-noch 124

Der zeitgenössische Logiker Graham Priest spricht von den limits of cognition, limits of conception, limits of iteration und den limits of thought, welche die n Antinomien sehen lassen, und schließlich die limits of language, anhand der Probleme von Selbstreferenz als letztem Paradoxon zwischen Transzendenz und Immanenz. Siehe dazu: (Priest, 2002).

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gegenüber der Philosophie; diese gleiche Logik wird anderseits akzeptiert, denn dieses Dritte im Denken wird als unmöglich betrachtet, weil es kein Drittes gibt. Oder noch anders: Das Denken des Endes geht davon aus, dass die klassische Logik, die Logik schlechthin ist. Das Ziel des Aufbaus der Philosophie besteht darin, dieses Dritte, dieses Jenseits der Philosophie, zu erkunden oder mindestens (paradox) ahnen zu lassen. Anderseits muss diese Aufgabe unmöglich sein. Warum? Weil das Mögliche eine Funktion der klassischen Logik und der Philosophie ist. Das Mögliche ist das bereits Vorhandene, während das Denken des Anderen eher das Ereignis, das nicht zu antizipierende Ankommen untersucht. Das Ziel von Heideggers Daseins-Analytik, von Lacans (Psycho)Analyse oder von Derridas Dekonstruktion, als Vertreter der „nachphilosophischen“ Ära, kann nicht selbst, sondern nur in der Form des Paradoxen und Unmöglichen auftreten. Was soll man aber unter Möglichkeit und Unmöglichkeit verstehen? Das Denken des Endes der Philosophie vertritt nicht nur die These, dass die Philosophie nicht ursprünglich sei, sondern dass sie durch Gegensätze125 konstruiert sei, wo nur eine Seite der Gegensätze das Primat (das Intelligible über dem Sensiblen, die Seele über dem Körper, das Subjekt über dem Objekt, usw.) besitzt. Wir haben gesagt, dass das Denken des Endes keine Dialektik (im Sinne von Hegel) akzeptiert. Zum selben Resultat — dem Vollzug und dem Ende — führen sowohl Gegensätze, als auch ihre Versöhnung, sei es als reine coincidentia oppositorum, sei es als vermittelte Identität. Weder empirisch noch ideell, weder (ganz) transzendental noch (ganz) dialektisch, weder (einfache) Identität noch (einfache) Differenz. In diesen negierenden Zeilen soll das Kommende sich erahnen lassen. Es kann sich nicht präsentieren, denn das Anwesende ist der Bereich der Philosophie. Man erfährt diesbezüglich, dass das angekündigte Neue nicht ankommt und nicht ankommen kann, sondern dass es in der Form eines nie gut zu machenden Versprechens bleibt, während das Endliche (die Welt) ihre letzte Form erreicht zu haben scheint. Alles (de jure) und nichts (de facto) endet. Das Ende der Philosophie präsentiert sich dann als eine unendliche Agonie der Philosophie. Wir beobachten in der Philosophie ein Nichtenden-können und ein Nicht-mehr-sein-können zugleich. Das Ende verewigt sich als Prozess, vollendet sich aber nicht, und das vermutlich Endende kehrt immer wieder, sei es als das Verdrängende, sei es als das Verdrängte. Wie könnte man ein neues Denken entfalten, wenn die gesamte Begrifflichkeit der Philosophie nicht nur infrage gestellt, sondern auch (teilweise) verboten wurde? Wir erklären diesen Satz. Das Denken des Endes destruiert (Heidegger) und dekonstruiert die Sprache der Metaphysik, um das Kommende (das Dritte) kommen zu lassen. Das Andere hat nicht mehr die Form der Gegenwart, nicht mehr die Form eines philosophischen Inhalts, daher kann es nicht gedacht, nicht angeschaut werden. Diesen Abbau aber braucht die Sprache der Philosophie — die Sprache schlechthin, mit 125

Die Prinzipien tertium non datur, von Identität und Nicht-Widerspruch machen die Trinität der klassischen Logik aus.

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welcher die Philosophie ihre Begriffe konstruiert hat —, die gegen sich selbst gerichtet werden soll. Die Philosophie hat kein einfaches Außen und kein einfaches Danach — auch kein einfaches Davor. Aber die Erfindung von Worten, von alternativen Grammatiken und vor allem das Verbot, auf philosophische Worte zu rekurrieren, impliziert ein doppeltes und inkonsistentes Spiel. Manchmal ist das philosophische Wort — verschoben — erlaubt, manchmal ist das philosophische Wort absolut verboten. Es ist willkürlich. Doch es wird zu viel auf die Worte reflektiert und zu wenig auf die Argumente, auf die Strukturen. Die Philosophie ist laut dem Denken des Endes etwas Unmögliches, ein unmöglicher „Traum“, quasi una fantasia im Sinne von Täuschung. Doch scheint es auch, dass die Philosophie keine bloße Erfindung ist, sondern dass sie tief verwurzelt in der natürlichen Sprache ist. Die Philosophie koinzidiert hier de facto mit der natürlichen Sprache. De jure ist die Philosophie aber unvollständig, abgeleitet. Sie ist die Ganzheit, während sie Nichts ist. Ein Zufall, aber allgegenwärtig und allmächtig. Heidegger und Derrida sprechen von der ganzen abendländischen Tradition ohne Ausnahme, die von der Philosophie ununterbrochen regiert wurde. Nichts scheint dieser enormen Kraft entkommen zu sein. Das Andere der Philosophie kann man nicht sagen, sie ist zu solide, sie hat alles in unserer geschichtlichen Existenz zu tief geprägt. Aber auf der anderen Seite ist die Philosophie zu schwach, sie zeigt ihre nicht überwindbaren Paradoxien, sie zeigt ihr Ende, ihre Grenze, sie zeigt, dass sie ein Zufall in der Geschichte war. Man verleiht der Philosophie manchmal viel Wichtigkeit manchmal zu wenig. Manchmal wird sie für willkürlich gehalten. Daher die damit zusammenhängende Ambivalenz: Die Philosophie ist manchmal ein all umfassendes Gefängnis — Derrida spricht von clôture und repression126 — manchmal ist sie nur ein begrenzter abgeleiteter Bereich. Ist vielleicht der Abbau dieser Philosophie beim Denken ihres Endes zu abstrakt, zu allgemein, zu undifferenziert? Manchmal ist bei diesem Denken die Philosophie zu präsent (das Transzendentale ist leicht zu erkennen) und manchmal ist die Abkehr von derselben Philosophie zu pauschal. Zu philosophisch und nicht philosophisch genug bezeichnet eine gewisse Willkür. Eine gewisse Abstraktion fällt diesem Denken zu. Nach dem negativen, dekonstruktiven Moment des Abbaus der Philosophie 126

Groys (2006) betont, dass der Logos nicht als von Paradoxien überfordert und überschritten darf gesehen werden (siehe Fußnote 15). Ganz im Gegenteil: Der Logos zeigt sich seit Platon als unvermeidlich paradox. Dem könnte man hinzufügen, dass die Paradoxie da entsteht, wo das Denken versucht, seine eigenen Grenzen zu überschreiten. Es ist das Denken der Totalität, der Unendlichkeit, des Absoluten, das, was die eigentliche Welt des Paradoxen enthült. Sich mit lokalen bzw. endlichen Wahrheiten begnügen zu wollen, schließt eher das Paradoxe aus. Man darf auch den Gedanken erwägen, ob die Geschichte vom Abenland tatsächlich aus der systematischen Unterdrückung des „Anderen“ besteht. In seinem Aufsatz Oublier Foucault (1977) fragt sich Baudrillard, ob die Auffassung der westlichen Geschichte als Unterdrückung nicht in dem Moment möglich ist, wo sie außer Kraft getreten ist. In diesem Sinne kommen Foucault, Derrida und andere „zu spät“. Sie sprechen über eine verschwundene Welt. Es ist nicht, dass unsere modernen Gesellschaften keine Unterdrückung, Beobachtung und Strafe (d.h. Kontrolle) mehr ausüben, sondern dass daneben eine noch stärkere Kraft entstanden ist. Diese Kraft ist die des Gebots, des Befehls, des Imperativen. Aber vielliecht dürfen wir auch fragen, ob das „Andere“ seit jeher „dialektischer“ gewessen ist, dass es einmal die Rolle des zu Unterdrückenden, einmal die des Gesuchten und Gewollten gespielt hat. Verbot und Gebot gehÜoren zusammen.

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fehlen einfach die Mittel für den Aufbau eines anderen Denkens. Das negative Verfahren verunmöglicht ein positives und effektives Denken. Ende ist ein mehrdeutiges Wort. Auch beim Denken des Endes. Ein Ende als Aufhören der Geschichte, also der Zeit ist sicherlich eine contradictio in adiecto. Darum muss ein Denken des Endes davon ausgehen, dass das Ende entweder ein nicht zu erlebender Horizont ist (also ein Grenzwert einer unendlichen Funktion) oder, dass es lediglich den Anfang von etwas Anderem bedeutet. Das Ende im Allgemeinen ist so undenkbar wie das Ende der Zeit oder des Raumes. Ein Ende ist also entweder ein eschatologischer Horizont, das projizierte Ende aller Dinge, oder nur eine Grenze (limes), ein Aneinandergrenzen zwischen Epochen oder Momenten. Diese Zweideutigkeit soll nicht unbeachtet bleiben. Was kann ein „neuer Anfang“ in Bezug auf das Ende der Philosophie bedeuten: ein „neues Denken“? Ein neues Verhältnis zum Denken? Wäre dieser neue Anfang ein neues Denken, eine neue Praxis oder die Auflösung vom Unterschied Praxis-Denken? Bedeutet vielleicht das Ende der Philosophie das Ende des philosophischen Denkens über das Ende (z.B. der philosophischen Teleologie, oder des Endzwecks) oder ist es eher ein Denken, das sich als Ende versteht? Heißt Ende Vollendung, Misslingen, Erschöpfung oder einfach Aufhören? Diese Mehrdeutigkeit gehört zum Denken des Endes und lässt bald denken, dass das Ende keine einfache Trennungslinie ist. Dieses Denken des Endes beschäftigt sich nicht nur mit der vermutlichen Erschöpfung der Philosophie wegen der ihr inne wohnenden Aporien, sondern auch mit ihrem Zusammenhang mit der Welt. Das heißt, die Philosophie wird im Zusammenhang mit dem Übel der Welt interpretiert. Dies ist auch der Grund, warum die Philosophie als notwendiger Moment oder zufälliger Fehler, als (un)vollendetes oder erschöpftes Projekt, eine grundlegende Schuld für den heutigen Zustand der Welt tragen muss. Dagegen soll eine noch ursprünglichere Ebene — d.h.: das Nachphilosophische — jenseits der Grenzen der Philosophie das sein, was uns von der Geschlossenheit der letzteren befreien sollte. Dieses neue Denken betrachtet aber sein Ziel als unerreichbar, als das schlechthin Unmögliche und zeigt zugleich eine (gewollte) Ohnmacht gegenüber der Welt. Die Welt ihrerseits erscheint trotz (oder eben wegen) ihrer durch die Dekonstruktion offen gelegten Inkonsistenz, welche die Inkonsistenz der Philosophie selbst ist, unverletzlich. Diese ursprünglichere Ebene als freies Spiel oder als freier Raum kollidiert außerdem mit der Tatsache, dass dabei Begriffe wie Ursprung, Freiheit und Befreiung ihren Sinn verlieren. Damit verliert auch die Idee von Rechtfertigung und Zweck (dies würde eine Teleologie implizieren) an Bedeutung, so dass das Verhältnis von Philosophie und Welt, Philosophie und Nach-Philosophie trüb wird. Das nachphilosophische Denken etabliert die Aporie als Form des Absoluten. Oder besser gesagt, die Unmöglichkeit des metaphysischen Absoluten wird zum Absoluten selbst, zur Unmöglichkeit als Absolutes.

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2.4 Aporien Denkt man nun daran, was Aporia, das Kennzeichen des Denkens des Endes, bedeutet. Aus dem griechischen poros, Weg, Passage, plus das alpha privativum, bedeutet das Wort keinWeg, Ausweglosigkeit, Sackgasse. Zu begreifen, worin der Unterschied zwischen einer Geschlossenheit der Philosophie und einer Sackgasse als Prinzip des nachphilosophischen Denkens bestünde, sollte uns erklären, welche Form die Grenze zwischen beiden hat. Die Aporie ist die Form der Grenze zwischen Philosophie und Nichtphilosophie. Derrida definiert die entscheidende Rolle der Aporie in seinem Denken als eine Bewegung „non pas contre ou à partir de l’impasse mais, d’une autre manière, selon une autre pensée, peut-être plus endurante, de l’aporie [...]“ als „une certaine impossibilité comme non-viabilité, comme non-voie un chemin barré, il s’agit de l’impossible ou de l’impraticable (diaporeô est ici le mot d’Aristote, il signifie « je suis dans l’embarras, je ne m’en sors pas, je ne peux rien faire »)“.127 Der Ort dieser Aporie zeigt sich ausgezeichnet in einer Zeitanalyse: Par exemple donc, et c’est plus qu’un exemple parmi d’autres, il est impossible de déterminer le temps aussi bien comme étant que comme non-étant. [...] Le maintenant est mais il n’est pas ce qu’il est [...] En tant qu’il a été, il n’est plus. Mais en tant qu’il sera, comme l’avenir ou la mort […] il n’est pas encore“.128 Diese Aporie ist seit langem bekannt in der Geschichte der Philosophie aber: „Aristote, «tout en reconnaissant que cette argumentation n’éclaire rien » (218a) « répète l’aporie sans la déconstruire »“.129 Was heißt dann eine Aporie zu dekonstruieren und gleichzeitig zu behaupten? Derrida schreibt: „[J]’essayai alors de démontrer, allant ainsi dans le sens de Heidegger, que la tradition philosophique en particulier chez Kant et jusque chez Hegel, ne faisait qu’hériter de cette aporétique […] Mais justement, au lieu de m’en tenir à une simple confirmation du diagnostic heideggerien qui voit [...] d’Aristote à Hegel, une hégémonie du concept vulgaire du temps en tant qu’il privilégie le maintenant (nun, jetzt), j’orientai cette confirmation même, tour en l’appuyant, vers une autre suggestion. [...]“, diese lautet: Et si donc l’aporie exotérique restait d’une certaine manière irréductible, appelant en tout cas une endurance, disons plutôt une expérience autre que celle qui consisterait à opposer, de part et d’autre d’une ligne indivisible, un autre concept, un concept non vulgaire au concept dit vulgaire? [...] Et s’agit-il à cet égard d’un ou bien ou bien ? Peut-on parler cet en quel sens d’une expérience de l’aporie ? De l’aporie comme telle ? Ou inversement : une expérience est-elle possible qui ne soit pas expérience de l’aporie ?130

Es handelt sich bei Derrida um eine Diskussion über die Grenze, um eine Diskussion über die 127 128 129 130

(Derrida, 1996, S. 32–33). (Ebenda, S. 33). (Ebenda, S. 33–34). (Ebenda, S. 34–35).

Aporien

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philosophische Logik, also um […] la frontière comme limite (oros, Greze, ces déterminations du maintenant présent, du nun ou du jetzt que souligne Heidegger) ou la frontière comme tracé (grammè, Linie, etc.)“.131 Es geht hierbei um „un même devoir qui, de façon récurrente, interminablement, se dédouble, se fissure, se contredit sans cesser de rester le même, à savoir le seul et même « double impératif contradictoire », et cela sans céder à aucune dialectique“; dies, die Aporie, gilt „comme condition de la responsabilité et de la décision.132

Diese doppelte Forderung ähnelt zweifellos den n Antinomien. Aporie und Antinomie sind verwandt. Bei Derrida sind sie aber nicht unbedingt identisch: Aporie plutôt qu’antinomie : le mot antinomie s’imposerait jusqu’à un certain point puisqu’il s’agissait bien, dans l’ordre de la loi (nomos), de contradictions ou d’antagonismes entre des lois également impératives. L’antinomie mérite ici plutôt le nom d’aporie dans la mesure où elle n’est ni une antinomie « apparente ou illusoire », ni une contradiction dialectisable au sens hégélien ou marxiste, ni même une « illusion transcendantale dans une dialectique de type kantien », mais une expérience interminable.133

Die Aporie ist das Wesen der Philosophie, auch wenn sie nicht von ihr selbst anerkannt wird. Der einzige Unterschied zwischen Philosophie und Nichtphilosophie besteht darin, laut Derrida, dass die Nichtphilosophie die Aporie nicht nur beerbt, sondern sie zugleich dekonstruiert. Wir werden erklären müssen, was diese Dekonstruktion bedeutet. Zumal man sagen darf, dass diese Dekonstruktion ein Widerstand ist. Ein Widerstand gegen was? Es ist der Widerstand, der die Aporie gegen eine dialektische oder kritische Betrachtung leistet, in der sie sich als sekundär erweisen würde. Die Aporie besteht nicht nur im inneren Wesen der Philosophie. Diese kannte immer schon die Aporie, auch wenn sie sie niemals als irreduzibel anerkannt hat. Ein neues Verständnis des Begriffs von Aporie soll nun ein Denken ermöglichen, das uns in die Lage versetzt, die Philosophie zu überwinden, uns von ihr und ihrer Geschlossenheit zu befreien, durch „l’errance d’une pensée fidèle et attentive au monde irréductiblement à venir qui s’annonce au présent, par-delà la clôture du savoir“134. Jenseits der Geschlossenheit steht die Differenz als der ursprünglichste Gedanke; die Begriffe der

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Derrida zitiert mehrere seiner Werke, in denen er diese Problematik entwickelt: Es handelt sich dabei um „la limitrophie paradoxale de Tympan et des marges, marches ou marques, de l'indécidabilité – et la liste interminable de tous le quasi-concepts dits indécidibles qui son autant de lieux ou de dislocations aporétiques – qu'il s'agisse du double bind et de toutes les doubles bandes de Glas, travail du dueil impossible, de l'impraticable opposition entre incorporation et introjection dans fors, dans Mémoires pour Paul de Mali et Psyché Invention de l'autre (la déconstruction y est expressément définie comme une certaine expérience aporétique de l'impossible), qu'il s'agisse du pas et de la paralyse de Parages, de la « contradiction non dialectisation », d'une date anniversaire que « n'arrive qu'à s'effacer » dans Schibboleth, de la itérabilité, à savoir des conditions de possibilité comme conditions d'impossibilité un peu partout, en particulier dans Signature événement contexte et dans Limited inc, de l'invention de l'autre comme l'impossible dans Psyché, des sept antinomies de la discipline philosophique das Du droit à la Philosophie, don comme l'impossible (Donner le temps...) et surtout, près de ces lieux où les questions de responsabilité juridique, éthique ou politique concernent aussi les frontières géographiques, nationales, ethniques ou linguistiques, j'aurais été tenté d'insister sur la formalisation la plus récente de cette aporétique dans L'autre cap (daté de la guerre du Golfe)“ (Ebenda, S. 35–37). (Ebenda, S. 37). (Ebenda, S. 37). (Derrida, 1967a, S. 14)

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Das Ende der Philosophie als Ausgangspunkt

Philosophie, wie: „étant et être, ontique et ontologique, «ontico-ontologique»“ sind nur „dérivés au regard de la différence“.135 Was wäre aber eine Befreiung von der Geschlossenheit der Philosophie? Wenn sie eine Begrenzung auf den Bereich des Abgeleiteten mit sich bringt, sollte das postphilosophische Denken etwas Offenes, ein freies Spiel anbieten, das eben frei von jeder Positivität sein muss, um radikal zu sein. Dieses freie Spiel kann sich aber leicht in ein Gefängnis verwandeln, wenn sich das „Frei von Etwas“ ständig gegen ein „Frei für Etwas“ richtet. Diese „negative Freiheit“, diese Unruhe gegen alles Konstituierte und daher Abgeleitete mit Hinblick auf das allererste Konstitutiv und das damit zusammenhängende Problem, dass dieses Konstitutive nur im Konstituierten (schlechten) Ausdruck (durch eine Verdinglichung) finden kann, ist auch ein negatives Gefängnis, ein „Nicht Entstehen/Konstituieren“ zulassen. Obwohl es Heidegger ist, der das Ende der Philosophie proklamiert, wird dessen aporetischer Charakter erst bei den „Strukturalisten“ und „Poststrukturalisten“ deutlich, unter ihnen besonders Lacan und Derrida. Obwohl die Behauptung des Endes der Philosophie, der Geschichte, des Abendlands usw. in unserer Zeit sehr verbreitet ist, beschäftigen wir uns exklusiv mit nur einem Denken, das vor allem Heidegger und Nietzsche rezipiert und sich mit beiden intensiv auseinandergesetzt haben. Die Rezeption von Freud und Marx, die zwei anderen entscheidenden Figuren für dieses Denken, wurden weithin durch das Denken von Heidegger und Nietzsche vermittelt. Den Begriff vom Denken des Endes der Philosophie soll man deswegen nicht innerhalb einer konstanten und immer expliziten Auseinandersetzung von Philosophie und „Nach-Philosophie“ verstehen, sondern als das Umgehen der Philosophie mit ihren eigenen Grenzen. Derrida und Lacan, die zwei Autoren, deren Denken in der Form von Dekonstruktion und von Psychoanalyse uns besonders beschäftigen wird, haben gemeinsam, dass sie sich als ein Denken nach dem Ende der Philosophie verstehen, bei denen die Aporie (=das Unmögliche) zum ultimativen Horizont wird.

2.4.1 Hegel als Vorläufer des aporetischen Denkens Wir haben gesagt, dass die Gegenpole des Denkens des Endes der deutsche Idealismus und die Phänomenologie seien. Hegel spielt aber eine besondere Rolle in der Diskussion. Er wird zum einen als „Vollender“ des Idealismus und der Philosophie der Anwesenheit betrachtet. Zum anderen wird ihm aber zugestanden, dass er den transzendentalen Idealismus am tiefsten kritisiert hat durch die Entwicklung eines dialektischen Denkens, in dem die traditionelle Logik von antecedens und consequens nicht mehr gilt. Hegel schrieb symptomatisch in seiner Habilitationsschrift, wie bereits erwähnt: contradictio est regula veri, non contradictio, falsi. Diese andere Logik befindet sich bereits beim jungen Schelling, es ist allerdings Hegel, der sich explizit der „Dialektik“ als Weg für die Darstellung des Absoluten bedient. 135

(Ebenda, S. 38).

Aporien

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Hegel hat das traditionelle tertium non datur136 (TND) suspendiert, das hierarchische Denken - besonders das transzendentale - kritisiert und es aus der Perspektive des absoluten Idealismus interpretiert. Die Vitalität Hegels lässt sich in zeitgenössischen Diskussionen nach dem Ende der Philosophie beobachten. Es wird zum Beispiel diskutiert, ob seine Dialektik und die damit zusammenhängende Suspendierung des TND zu einer mehrwertigen Logik (Günther137), zu einem Dialetheismus (Priest138), zu einer unendlichen Negativität139 oder sogar zu einem absoluten nicht überwindbaren Gegensatz140 führen kann. Diese zeitgenössischen Diskussionen über das TND werden uns am Ende dieser Arbeit beschäftigen. Nicht umsonst sagt Derrida von seinem eigenen Projekt: „On plie l’Aufhebung — la relève — à s’écrire autrement. Peut-être, tout simplement, à s’écrire. Mieux, à tenir compte de sa consommation d’écriture“.141 Das Denken des Endes bleibt vielleicht Hegel treu, soweit es die Behauptung der Vollendung der Philosophie und deren Geschichte akzeptiert und soweit es auch eine Auseinandersetzung mit den Grenzen der Logik und der Sprache mit Hinblick auf eine Überwindung der starren Gegensätze der Philosophie impliziert. Das Denken des Endes will aber gleichzeitig die Aporie behaupten und die Gegensätze überwinden. Sollte dann die klassische Philosophie aus einer Reihe von Gegensätzen bestehen, so ist der Ansatz eines postphilosophischen Denkens, die Suche nach einem dritten Wert, nach etwas jenseits der klassischen sogenannten aristotelischen Logik oder nach einer anderen Logik ohne Rekurs auf eine Synthese. Sollte die Philosophie auch darin bestehen, die Präsenz ihres Objekts zu sichern, sei es durch eine naive Unmittelbarkeit (Empirismus), sei es durch den Versuch, die originäre Struktur von Verweisungen auf eine vermittelte Identität — im Sinne von Hegel — zu reduzieren, so bestünde dieses nachphilosophische Denken in der gleichzeitigen Behauptung der Vermittlung (gegen den Empirismus) und des Empirismus (gegen die vollendete Identität), also in der unendlichen Oszillation zwischen einem „vermittelten“ Empirismus und einer nie vollendeten 136

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Natürlich mussten auch die damit zusammenhängenden Prinzipien der klassischen Logik eine fundamentale Veränderung durchmachen. Die Prinzipien von Identität und ausgeschlossenem Dritten bekommen hier auch eine andere Form. Hegels Behauptung, dass „contradictio est regula veri, non contradictio falsi“ antizipiert diese Wendung in der Logik. Dieser Autor suggeriert, dass es nicht zwangsläufig ist, sich nur auf zwei Werte zu begrenzen: wahr oder falsch (logisch gesehen), Subjekt oder Objekt (ontologisch gesehen). Man kann sich immer, ganz formell her gesehen, auf ein Drittes berufen, das außerhalb des Gegensatzes steht. Siehe dazu: (Günther, 1991) Dialetheismus ist die Behauptung, dass es wahre Gegensätze gibt. Angesichts einer unvermeidlichen Selbstreferenz in der Logik sieht man sich mit zwei Möglichkeiten konfrontiert: Um ein regressus ad infinitum zu vermeiden, entweder rekurriert man auf ein rein erstes Prinzip, oder man akzeptiert die Kontradiktion. Dies gilt nicht für innerweltliche Sätze, sondern nur für den Satz, welche über die Totalität der Sprache oder der Logik spricht. Siehe dazu: (Priest 2002). Man kann hier an Derrida, aber auch an Nancys Werk über Hegel denken, wo das negative Verfahren, sich gegen alles Positive richtet. Wir werden dies unten besprechen. Der Name von Nancys Werk über Hegel „Die Unruhe des Negativen“ ist in diesem Sinne sehr glücklich. Siehe (Nancy, 2011). Žižek setzt Hegels Absolute dem lacanschen Reale gleich und interpretiert beide als die von Lacan postuliere originäre und strukturelle subjektive Spaltung. Sozial her gesehen wäre auch diese Spaltung einem sozialen Antagonismus vergleichbar. Siehe dazu: (Žižek, 2000). (Derrida, 1972b, S. 21)

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Das Ende der Philosophie als Ausgangspunkt

vermittelten Identität142. Mit anderen Worten: Wir sehen bei diesem Denken die Suche nach einem Dritten, nach einer anderen Logik, nach einer anderen Auffassung der Präsenz und das Beharren darauf, am Paradoxen festzuhalten. Diese Spannung macht das problematische Verhältnis zu Hegel aus. Wir haben gesagt, die trennende Linie zwischen Philosophie und Nichtphilosophie ist weder einfach noch deutlich. Unter Ende sollte man bei diesem Denken nicht das absolute Aufhören oder Verschwinden der Philosophie, sondern deren fundamentale Entthronung, den Untergang ihres Anspruchs, ihrer Legitimität und ihres Rechts verstehen. Doch diese „untergehende“ Philosophie soll laut dem Denken des Endes durch ein neues Denken143 ersetzt / umgeben werden. Die Philosophie umfassen und überwinden, anfechten und begründen, dekonstruieren und davon ausgehend erklären: Diese doppelten Aufgaben hat sich das Denken des Endes zur Aufgabe gemacht. Unberücksichtigt in den Theorien bleibt allerdings die Tatsache, dass diese Forderung eine starke Ähnlichkeit mit der hegelschen Aufhebung — jenem Prozess von Aufhören und Behalten des Vergangenen — zeigt. Die Aufgabe des Endes der Philosophie ist mit dem hegelschen Begriff der Aufhebung streng verbunden und will eine Alternative dazu anbieten. Es gibt in dieser der hegelschen Aufhebung ähnlichen „Dialektik“ eine ewige Unruhe zwischen Verwerfung und Annahme der Philosophie. Die Philosophie kann beim Denken des Endes nicht wirklich enden. Das würde implizieren, auf das tranzendentale Argument verzichten, was ein Risiko von Naivität und falscher Unmittelbarkeit mit sich bringt. Kant hat bekanntlich seinen transzendentalen Idealismus entwickelt als Kritik von Metaphysik und Empirismus zugleich. Dem Empirismus ist der ganze Prozess der subjektiven Konstitution der Vorstellungen nicht bewusst. Seine Naivität besteht darin, dass er die Entstehung der Objekte der Erfahrung nicht erklären kann, sondern er nimmt die Wahrnehmungen, wie er sie findet. Derrida wird diesen Gedanken auf paradoxe Weise behalten. Er braucht das transzendentale Denken, das er kritisiert, als Schutz vor der Naivität des Empirismus.

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Unten werden wir diese Behauptung besprechen, aber es ist bemerkenswert, dass dieses Denken unversöhnliche Züge einer transzendentalen (im Sinne eines Prius als Apriori der Welt) und einer absoluten (wo jedes hierarchische Denken, wie das Transzendentale, ihre Struktur in Paradoxien verliert), einer Positiven (im Sinne vom mittleren-späten Schelling, wo ein dunkler Grund dem Bewusstsein und der Dingwelt vorangeht, sei es als Wille, als Gott oder als Sein) und einer negativen (im Sinne einer unaufhörlichen Unruhe des Negativen, wo nichts Gegebenes durchhält und, wo es keine endliche Einheit erreicht wird) Philosophie zeigt. Man braucht nicht von all den neuen Figuren zu sprechen, die im Laufe des 20. Jh. in Reih’ und Glied vorbeigezogen sind: Vom neuen Menschen bis zur neuen Gesellschaft, von der neuen befreiten Sprache bis zum neuen nun erst wirklich konkreten Denken. Humanisten und Antihumanisten (im Sinne von Heidegger), Modernisten und Postmodernisten teilten hier die Hoffnung des Einbruchs des Neuen inmitten einer erschöpften und vorhersehbaren Welt. Die wahre Figur dieser Hoffnung mit Hinblick auf das Kommende ist vielleicht das Denken des Ereignises. Eine geduldige Arbeit sollte erklären, ob und inwiefern das hier betrachtete Denken ihre Vorgeschichte im göttlichen Vermögen des creatio ex nihilio hat. Offensichtlich aber hat das heutige Denken des Ereignises eine deutliche Vorgeschichte beim Apostel Paulus und dem jüdischchristlichen Messianismus. Dazu siehe Taubes (Taubes, Assmann, Assmann, Folkers, Hartwich & Schulte, 1993) und Badiou (Badiou, 1997).

Aporien

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Da sich das Denken des Endes mit der Aporie des philosophischen Diskurses beschäftigt, muss die Philosophie existieren, um stets dekonstruiert zu werden. Aber auf der anderen Seite muss das Denken des Endes auch das Transzendentale und seine rationale Totalisierung der Welt vermeiden durch den Rekurs auf einen gewissen Empirismus. Was von der Philosophie einerseits angenommen und andererseits verworfen wird, ist der Inhalt dieses Streits. Diese Spannung kann sich aber selbst annullieren, wenn es keine Differenz zwischen Akzeptanz und Annahme gibt. Wenn eine Akzeptanz sich direkt und unmittelbar in Verwerfung verkehrt, dann ist diese Spannung keine Spannung mehr, sondern eine Annullierung oder eine bloß abstrakte Vorstellung vom Spiel von Annahme und Verwerfung der Philosophie. Betrachtet man die Philosophie als Metaphysik und diese als „Philosophie des Bewusstseins“ und diese wiederum als „Philosophie der Identität“, so ist ein postphilosophisches Denken nicht metaphysisch und damit nicht im Bewusstsein begründet. Es ist nur ein Produkt und nicht der Ausgangspunkt von Sinn und Identität, es ist Differenz. Jedoch soll die Differenz nicht den Platz der Identität besetzen, sondern sie muss die Identität problematisieren. Dies bedeutet, dass auch Differenz manchmal der Identität Raum machen muss, um ihre eigene Reifizierung zu vermeiden. Und wenn wir sagen würden, dass hier eine radikale Unentscheidbarkeit zu befolgen ist, so nimmt man diese Unentscheidbarkeit wieder als Prinzip, so dass sie auch Raum für das Spiel mit der Entscheidung machen muss. Die Unentscheidbarkeit muss auch entscheidbar sein. Die Differenz, als der Identität vorangehend, annulliert sich nicht nur selbst, sie ersetzt die Funktion der Identität als Prinzip und wird zu einem Ersten Prinzip. Die Differenz ficht die Existenz eines „Anfangs von allem“ an, und wird dabei selbst zu einem neuen paradoxen Anfang. Inwiefern ein (problematisches) Prinzip, das offensichtlich von der Philosophie stammt, anzunehmen oder zu verwerfen sei, ist im Denken des Endes nicht genug diskutiert. Was die Waage zur Identität oder Differenz neigt, kann nicht selbst im Streit der Philosophie oder der Nichtphilosophie liegen, sondern in einem Bezug auf die Welt und ihr Übel. Aber die Spannung Philosophie und Nichtphilosophie inkludiert auch eine Diskussion über den Unterschied oder Nicht - Unterschied von Theorie und Praxis. Die Postphilosophie ist eine Negation der Philosophie. Was für eine Negation gemeint ist, soll hier erörtert werden. Es genügt hervorzuheben, dass die Negation als das totale Aufhören der Philosophie keinen absoluten Charakter besitzen kann. Die Negation sollte bestimmt im Sinne Hegels sein. Es wird in dieser Arbeit behauptet, dass das Denken des Endes in „Abstraktionen“ gerät, wenn diese Negation ihre Bestimmtheit verliert. Eine Trennung von Mittel und Zweck hat hier keinen Sinn, denn die Negation ist zugleich Bejahung. Aber eine abstrakte Negation kennzeichnet sich dadurch, dass Mittel und Zweck sich wieder trennen. So werden Kritik und Abbau der Tradition (die Mittel) zum Zweck, und der Zweck verschwindet hinter dem negativen Verfahren. Das Zeichen einer bestimmten Negation ist die

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Das Ende der Philosophie als Ausgangspunkt

Gewinnung eines neuen Feldes. Die Unendlichkeit als regressus ad infinitum spiegelt eher den Abgrund einer nicht bestimmten und nicht bestimmenden Negation wider. Aber bereits die Behauptung, es handele sich beim Ende der Philosophie nicht um das reine Aufhören deutet darauf hin, dass eine andere Negation im Spiel ist. Der Ort, den die Philosophie hinterlässt, bleibt einerseits leer. Anderseits aber ist der Anspruch des hier betrachteten neuen Denkens nicht bescheidener als der der Philosophie. Keinem entgeht dabei eine neue Gigantomachie gegen die Gigantomachie der Philosophie, eine neue Hybris gegen die philosophische Hybris, eine letzte große Erzählung gegen alle großen Erzählungen. Dieser Ort, den die Philosophie hinterlässt, wird dementsprechend auch neu besetzt. Denn was ist die Metaphysik zum großen Teil gewesen als eben dieser Wille zum Anfangen / Verlangen nach Anfang, der Wille, systematisch das falsche (oder den Schein) anzuzeigen und die Ursprung - Ordnung (je nachdem, ob man das Statische, das Genetische oder die Verknotung von beiden betrachtet) der Welt zu entdecken, das heißt, offen zu machen? Ist nicht der Wille, ursprünglicher als die Philosophie zu sein, ein ganz philosophischer Zug, die Geste der Philosophie par excellence? Das klare Bewusstsein, man hätte nichts außer der „Sprache der Philosophie“, um die Philosophie und die philosophische Sprache selbst zu „überwinden“, führt eben dazu, dass man, Angesichts eines Verloren-Gehen des Ziels einer Dekonstruktion der Philosophie, nicht mehr dazwischen unterscheiden kann, was in der Philosophie noch neue Möglichkeiten birgt. Der Ausdruck Das Ende der Philosophie setzt voraus, die Philosophie sei nur eine, so wie ihr Ende, was nicht sicher ist. Es ist nicht eindeutig, inwiefern diese Geschichte der Philosophie nicht zu anderen Geschichten außerhalb des Abendlandes gehört. Der Westen ist außerdem nicht berechtigt zu behaupten, dass seine Geschichte die ganze Menschengeschichte sei bzw. umfasse. Die Idee, dass die Geschichte linear144 und nur eine sei145, dass man über die 144

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Es ist nicht überflüssig, an dieser Stelle aufmerksam zu machen auf den Gebrauch des Adjektivs „linear“. Linear heißt heute in diesem Kontext so viel wie „vereinfachen“. „Linear“ heißt also eine einfache Relation von Grund-Effekt, Vorher-Nachher, Transzendental-Empirisch, usw. Man kann auch im mathematischen Sinne von linearen Funktionen reden, im Sinne einer polynomischen Funktion vom ersten Grad. Aber topologisch gesehen sind alle Linien eindimensionale, kontinuierliche Mannigfaltigkeiten. Es ist aber nicht eindeutig, was man unter nicht-linear verstehen sollte. Hier wollen wir den Blick darauf richten, dass der Ausdruck „die Geschichte der Philosophie“ implizit eine lineare Darstellung vertritt. Im Lauf der Arbeit wird immer deutlicher, wie eng die philosophische sowie die gegen-philosophische Argumentation und eine gewisse Mathematik eng verbunden sind. Punkt und Linie haben einen Wert als Abbildung und Metapher, aber auch als mathematisch-philosophischen, also argumentativen Begriff. Strukturalismus und Poststrukturalismus, die uns später beschäftigen werden, sind ohne diesen Bezug auf die formellen Disziplinen, wie Logik und Mathematik, unverständlich. Es sei hier nur kurz Husserl erwähnt, einen fundamentalen Philosophen für die strukturalistische Strömung. Bei Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des Zeitbewusstseins lässt sich am deutlichsten das Verhältnis Subjektivität-Zeit aber auch der quasi mathematische Charakter der Zeit erkennen. Man könnte hier den Einwand erheben, dass die mathematische Zeit nur äußerlich sei, während die phänomenologische Erfahrung eher richtig kontinuierlich und innerlich gelebt sei. Diese Behauptung wird bald diskreditiert, wenn man darauf achtet, mit welcher Beharrlichkeit Husserl versuchte, das innerste des Zeitbewusstseins in Diagrammen darzustellen. Die größte Entdeckung Husserl bestünde vielleicht darin, diese starke Trennung vom rein Kontinuierlichen und dem rein Getrennten, der Linie als purer Differenzierung und als Serie von Punkten infrage zu stellen. Die Zeit erscheint überall als Serie und als Mannigfaltigkeit, als Kontinuum und als Reihe. Siehe dazu den Band Husserliana X

Aporien

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Philosophie, über das Abendland, oder über den ihnen zusammenhängenden Logos im Allgemeinen sprechen darf (um deren ultimatives „Wesen“ darzulegen), ist etwas zu Beweisendes und nicht ein Ausgangspunkt. Diese Ideen sind allenfalls eine Voraussetzung, die einer Überprüfung bedarf. Dem Denken des Endes sind Ausdrücke wie die folgenden geläufig: Die ganze Geschichte von Platon bis Hegel (oder Husserl oder Heidgger), die ganze westliche Zivilisation, usw. Diese gehören auch in die genannte Gigantomachie und sind nicht ohne weiteres anzunehmen. Weiter ist auch die Kette von Äquivalenzen, welche wir auch beim Denken des Endes der Philosophie erkennen (Philosophie = Abendland = Geschichte = Metaphysik = Bedingung unserer Welt = Quelle allen Übels), höchst fragwürdig.146 Man kann verschiedene Geschichten des Abendlands schreiben, und man kann dabei auch immer mehrere Kontinuitätslinien finden. Das ist aber unwesentlich. Das Denken muss nicht nur die Bretter der menschlichen Spiele zeigen, wo die Regeln und das Regellose, das Mögliche und das Unmögliche, die Wiederholungen und das Unwiederholbare, die Form des Denkens und des Agierens, sowie die Form ihrer Beziehungen in Betracht kommen. Es muss diese Spiele mit der Welt verbinden, damit die Strukturen und deren Realität sichtbar werden. Oder noch anders gesagt: Man muss zeigen, wie das Unbedingte der Differenz die aktuellen Dinge bedingt, um sich einer klassischen Ausdrucksweise zu bedienen147. Wir wollen uns nicht mit

146

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(Husserl, 1966) und für eine sorgfältige Analyse von Husserls Diagrammen: (Schnell, 2002). Diese innere gelebte Zeit und die Geschichte der Wissenschaft als menschlichen Projekts stehen bei Husserl argumentativ im strengen Zusammenhang. Das man die Zeit als eine Reihe (als 1 und als Serie) von Erlebnissen oder Texten, als einen Zirkel, eine Kreuzung von Linien, als eine Fläche, usw. interpretiert, ist von entscheidender Bedeutung. Derrida in De la Grammatologie: „[…] cette époque de l'onto-théologie [...] cette philosophie de la présence, c'est-à-dire […] la philosophie[…]“ (S. 23-4); „Le concept d'histoire est donc le concept de la philosophie et de l'épistémè [...] l'histoire est l'histoire de la philosophie. Ou si l'on préfère, il faut prendre ici à la lettre la formule de Hegel : l'histoire n'est que l'histoire de la philosophie“ (S. 405); „[…] la métaphysique, c'est-à-dire en particulier l'idée philosophique de l'épistémè ; celle aussi d'istoria […]“ (S.20); „[…] l'ethnocentrisme qui, partout et toujours, a dû commander le concept de l'écriture [...] ce que nous appellerons le logocentrisme: métaphysique de l'écriture phonétique [...] qui n'a été en son fond [...] que l'ethnocentrisme le plus original et le plus puissant [...] et [qui] command[e] en un seul et même ordre [...] [a] le concept de l'écriture [...] [b] l'histoire de la métaphysique qui, malgré toutes les différences et non seulement de Platon à Hegel (en passant même par Leibniz) mais aussi, hors de ses limites apparentes, des présocratiques à Heidegger, a toujours assigné au logos l'origine de la vérité en général [...] [c] le concept de la science ou de la scientificité de la science — ce que l'on a toujours déterminé comme logique […]“ (S.10-11); „[…] l'histoire de l'Occident, donc [...] de la métaphysique […]“ (S. 13); „[…]un « concept vulgaire du temps » [...] de la Physique d'Aristote à la Logique de Hegel [...] détermine toute l'ontologie classique [...] Il est intérieur à la totalité de l'histoire de l'Occident, à ce qui unit sa métaphysique à sa technique“ (S 105). Also Ontotheologie ist Philosophie der Anwesenheit ist die Philosophie ist der Begriff der Geschichte ist die episteme ist die Geschichte ist die Geschichte der Philosophie ist die Metaphysik ist die Geschichte vom Abendland ist Logozentrismus ist Ethnozentrismus und leitet den Begriff von Schrift, die Geschichte selbst der Metaphysik sowie den Begriff von Wissenschaft und dabei auch verbindet Metaphysik und Technik in diesem Logozentrismus „en passe de s'imposer aujourd'hui à la planète“ als „répression logocentrique“ (S. 74), als „répression historique,“ (83) und als „voeu pieux et violence historique d'une parole rêvant sa pleine présence à soi“ (S. 58). Alle Zitate aus: (Derrida, 1967a). Es fällt zum Beispiel auf, wie viel Heideggers oder Derridas Geschichte der Philosophie (als Metaphysik oder Logozentrismus interpretiert) besprochen werden, und wie kaum die Rede davon ist, was für ein Zusammenhang zwischen Metaphysik und Kapitalismus, Metaphysik und Armut, Metaphysik und Ethnozentrismus, Metaphysik und Ausbeutung besteht. Es wird behauptet, nicht bewiesen. Es wird viel über die Philosophie diskutiert, nicht aber über das Verhältnis von Philosophie und Welt. Es wird einfach

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Das Ende der Philosophie als Ausgangspunkt

dem Ende der Philosophie im Allgemeinen beschäftigen. Wir nehmen die angeführten Zitate nur als Indizien eines gedanklichen Motivs, das dem Denken mögliche und unmögliche Wege zeigt und vorschreibt. Die Aporien sind kein gedankliches Vergnügen; sie strukturieren das Denken und die Sprache, mit der unsere Welt gestaltet wird. Die Aporien bieten sich als unsere heutigen Ressourcen, um unsere Gegenwart zu denken. Unser Interesse besteht eben darin, den Zusammenhang Philosophie – Ende-der-Philosophie, sowie die daraus resultierenden Verhältnisse MachtOhnmacht, Abstraktion-Real, Möglichkeiten-Unmöglichkeiten gegenüber dieser Welt, deutlich zu machen. Bleiben wir aber nicht hinter Marx zurück, wenn wir uns „bloß“ mit dem Ende der Philosophie und deren Paradoxien beschäftigen, als hätten sie Konsistenz, Wert und Sinn außerhalb eines historischen sozialen Kontextes? Was ist zudem diese Reflexion außerhalb einer diskursiven Kette, außerhalb eines bestimmten Interesses, außerhalb all des vom Kontext Abhängigen? Die hier betrachteten Denker berücksichtigen Marx’ Werk und wir auch. Praxis und Theorie stehen wie alle Gegensätze der Philosophie in einer paradoxen Beziehung, welche erklärt werden muss. Derrida und Lacan kannten seine Kritik der politischen Ökonomie und sind davon ausgegangen, dass auch seine Begrifflichkeit im Mittelpunkt der Diskussion von Philosophie und Nichtphilosophie steht, und zwar in Bezug darauf, was Praxis, was Denken, was das Wirkliche, was das Gespenstische, was das Gründende und das Begründete sowie deren Verhältnisse seien. Auf dem Spiel steht eben das Verhältnis von Welt und Philosophie. Angenommen, dass diese Trennung nur ein Ausgangspunkt ist, der sich im Laufe der Diskussion als falsch erweisen kann. Man kann auf das Wirkliche als etwas vom Denken Verschiedenes nicht verzichten, zumal wenn das Denken und seine Sprache leer, also ohnmächtig und abstrakt zu werden scheinen. Anderseits kann man nicht leugnen, dass eine Trennung zwischen beiden absurd ist, denn man müsste danach ihre Relation erklären. Würde man einen philosophischen Terminus a priori über den anderen erheben, geriete man in einen Teufelskreis: Hat das Denken ein prius und ist dieses prius die Aporie? Gegenstand dieser Arbeit ist also das Verständnis beim Denken des Endes der Grenzen zwischen Gegensätzen, das Spiel zwischen Dialektik und Begründung, zwischen Sequenz und Simultaneität, Begründung und dem Realen als prius. Die Kritik am Privileg der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit und der Zukunft etabliert sich beim Denken des Endes als eine Aufgabe, die jeder Diskussion über konkrete Vorstellungen des Realen oder Idealen angenommen, auf ganz traditionell transzendentale Weise, dass die Philosophie das Apriori alles Empirischen sei, so dass eine Analyse der konkreten Welt überflüssig, weil abgeleitet, sein muss. Es gehört zum Denken des Endes der Philosophie die paradoxe Tatsache, dass die Philosophie in dem Moment endet, wo sie alles in sich eingeschlossen hat. Das Ende der Philosophie bestreitet einerseits Hegels Philosophie, es akzeptiert sie zum anderen auch. Das heißt, es wird nicht bestritten, dass Hegels Philosophie wirklich das Reale als bewussten Inhalt umfassen kann. Es wird eher bestritten, dass das Bewusstsein, eine Totalität ausmachen könnte. Das Andere des Bewusstseins lässt die hegelsche Vorstellung des Bewusstseins unangetastet. Das Andere muss ganz anders sein. Trotzdem begegnet die Philosophie ihrem Anderen in sich selbst, durch innere Paradoxien und nicht durch den Bezug auf etwas Anderen (Realismus).

Drei dem Denken des Endes und dem deutschen Idealismus gemeinsame Themen

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vorangehen muss. D.h., die Frage nach dem Anderen ist ein Prolegomenon zur Frage nach dem Anwesenden. Weil man aber diese Frage nach dem Anderen insofern nicht stellen kann, als das Andere über jeder hermeneutischen Frage hinausgeht, wird die Beschäftigung mit der Gegenwart verzögert und damit vernachlässigt. In diesem Abschnitt wurde das Verhältnis vom Denken des Endes zu Hegel betrachtet. Die Problematik beschränkt sich aber nicht auf diesen Autor. Das Denken des Endes existiert aufkeimend in der Romantik, aber ihre Grundlinien sind im Kontext der Tradition Kants und des deutschen Idealismus im Allgemeinen zu finden. Im Folgenden stelle ich dieses Verhältnis dar.

2.5 Drei dem Denken des Endes und dem deutschen Idealismus gemeinsame Themen In dieser Arbeit wird die These vertreten, dass das Denken des Endes seine Vorgeschichte im deutschen Idealismus hat. Wir haben Hegel als Vorläufer des paradoxen Denkens erwähnt. Aber die Verhältnisse zum Idealismus lassen sich in vielen Bereichen erkennen. Nicht nur zeigt sich das Denken des Endes als eine Auseinandersetzung mit dem Idealismus, sondern das erstere akzeptiert grundlegende Prämisse von der letzten, welche dazu führen, ähnliche Probleme lösen zu müssen. In diesem Abschnitt wollen wir nur auf die gemeinsame Problematik und Begrifflichkeit zwischen dem Denken des Endes und dem deutschen Idealismus hinweisen. Da der Schwerpunkt dieser Arbeit auf der Analyse des Denkens des Endes im Kontext der Phänomenologie und der Psychoanalyse liegt, soll dieser Abschnitt nur einen groben Rahmen liefern für eine breitere Kontextualisierung unserer Problematik.

A) Das Bewusstsein als Zeit und Sprache: Passivität und Objektivität Der Ausgangspunkt der Arbeit ist das genannte Ende der Philosophie. Es wurde gezeigt, dass dieses Denken des Endes auf paradoxen Motiven beruht, und dass Hegel und Schelling Vorgänger dieses Denkens sind. Hegel und Schelling sind für uns wichtig unter den folgenden Voraussetzungen: a) Beide üben Kritik an Kants transzendentalem Denken, erstens durch die Infragestellung eines ersten Prinzips und zweitens durch eine Radikalisierung des transzendentalen Denkens außerhalb des Bewusstseins. Hegel kritisiert die Notwendigkeit eines solchen Prinzips in der Philosophie und appelliert an eine immanente Kritik der Vernunft. Der späte Schelling hingegen vertieft sich in das transzendentale Denken durch den Rekurs auf einen nicht bewussten und nicht vernünftigen ersten Grund; b) beide Positionen gelten als eine Antizipation von Husserls Problematik in der Phänomenologie. Der Übergang von Husserl und seiner transzendentalen Philosophie zu ihren Paradoxien aufgrund der Betrachtungen des Anderen — der Zeit und der

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Das Ende der Philosophie als Ausgangspunkt

Intersubjektivität — ist implizit eine Infragestellung des Versuches einer Prima Philosophia, welche Husserl immer beabsichtigte. Die Destruktion bzw. Dekonstruktion der Phänomenologie Husserls (von ihm ungewollt angefangen, von Heidegger und Derrida bewusst weitergeführt) ist der Abbau einer Philosophie des transzendentalen Subjekts und seines Anspruchs auf Evidenz. So wie Hegel und Schelling in verschiedenen Weisen das transzendentale Subjekt infrage stellen, wird bei Husserl und der Dekonstruktion seiner Phänomenologie auch das transzendentale Denken kritisiert und auf einer neuen Ebene neu gedacht. Der Abbau der Phänomenologie Husserls und damit einer Tradition der Philosophie als subjektiver Wissenschaftslehre ist mutatis mutandis eine Wiederholung der Geschichte des Idealismus von Kant bis zum späten Schelling. Dies wird dadurch ersichtlich, dass sich das Denken des Endes und die nach- Ära gemeinsamen Problemen ausgesetzt sehen. Wir wollen diese Probleme hier nur kurz erwähnen. Der junge Schelling argumentierte in der Weiterführung von Kants transzendentaler Apperzeption: Wenn ich eine in der Zeit gegebene Folge von Vorstellungen einheitlich auffassen kann, dann heißt es, dass ich mich über dieser Folge erhoben habe.148 Husserl untersuchte auch die Konstitution von zeitlichen Objekten im Bewusstsein, wie etwa die von Melodien. Eine Folge von Tönen hat nur da Sinn, wo diese Folge in einem Ganzen vereinigt werden kann. Sieht man von jedem Inhalt ab (in diesem Fall den Tönen), muss das Bewusstsein seinen eigenen zeitlichen Verlauf einheitlich auffassen können, damit es ihm gelingt, Erfahrung überhaupt zu haben. Husserl betrachtet hier das idealistische Problem der Einheit des Bewusstseins. Schelling wusste allzu gut, dass eine intellektuelle Anschauung (eine Beobachtung des transzendentalen Bewusstseins vom transzendentalen Bewusstsein) weder empirisch noch unmittelbar bewusst sein kann, dass es keine Erfahrung damit gibt. Für Schelling gibt es also eine bewusstlose Geschichte des Bewusstseins. Husserl entdeckt auch in seinen Untersuchungen über das Zeitbewusstsein die Notwendigkeit einer passiven Synthese, also einer nicht objektivierenden und daher nicht bewussten Erfahrung. Diese passive Synthese heißt Gegenwart und sie entsteht aus einer Verknüpfung von Vergangenheit (Retention) und Zukunft (Protention) in der zeitlichen Folge von Jetzt-Momenten. Die Problematik der unbewussten Geschichte des Bewusstseins und die ihrer ideellen zeitlichen Einheit findet beim Denken des Endes, besonders bei Derrida und Lacan, eine neue Formulierung im Rahmen einer Diskussion über die Sprache. Wenden wir also den Blick auf 148

Schelling: „Ferner, indem ich frage: wie kommt es, daß ich vorstelle, erhebe ich mich selbst über die Vorstellung; ich werde durch diese Frage selbst zu einem Wesen, das in Ansehung alles Vorstellens sich ursprünglich frei fühlt, das die Vorstellung selbst und den ganzen Zusammenhang seiner Vorstellungen unter sich erblickt. Durch diese Frage selbst werde ich ein Wesen, das, unabhängig von äußeren Dingen, ein Seyn in sich selbst hat. Also trete ich mit dieser Frage selbst aus der Reihe meiner Vorstellungen heraus, sage mich los vom Zusammenhang mit den Dingen, trete auf einen Standpunkt, wo mich keine äußere Macht mehr erreicht“ (Schelling und Hahn, 1998, S. I,2,16).

Drei dem Denken des Endes und dem deutschen Idealismus gemeinsame Themen

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die Folge von Signifikanten in einer linguistischen Kette. Für Derrida ist das phänomenologische Subjekt nur noch ein Resultat dieser Kette. Die Kette von Signifikanten ersetzt die Folge von Jetzt-Momenten der Phänomenologie. Oder besser gesagt: Die Signifikanten gelten für Derrida als die wahren Träger von Retentionen und Protentionen, die Husserl im Bewusstsein verortet hatte. Diese Folge von Signifikanten ist aber nicht nur passiv (wie das Ur-Bewusstsein bei Schelling und Husserl), sondern auch teilweise materiell. Die Signifikanten sind sowohl ideell (ihr Sinn ist nur intersubjektiv möglich) als auch materiell (die Sprache braucht eine materielle Stütze, wie Töne oder Tinte). Diese materielle Stütze ist weniger als die klassische Materie (daraus entsteht kein Materialismus) und mehr als sie (denn diese Materialität ist auch quasi-ideell). Und die Idealität der Sprache ist auch weniger als die Idee oder der hegelsche Begriff (diese Idealität heißt nur Sinn und ist radikal zufällig) aber mehr als sie (denn diese Idealität geht über die Subjektivität hinaus). Diese Idealität der Sprache ist sicherlich mit der „Vernunft“ verbunden, aber nicht mit subjektiven Tätigkeiten, sondern mit einem gewissen Formalismus. Dieser Formalismus der Sprache ist nicht nur Möglichkeitsbedingung der Vernunft, sondern auch das, was dem Zufälligen und dem abstrakten Raum schafft. Für Derrida und Lacan als Denker des Endes ist die Sprache eher ein Spiel von Signifikanten, bei dem sich das Subjekt nur im Moment seines eigenen Verschwindens meldet149. Nach Lacan ist das Subjekt das, was ein Signifikant für einen anderen Signifikanten repräsentiert150. Das heißt, das Subjekt ist die Vermittlung der Sprache und nicht das Vermittelnde. Das Subjekt wird gesprochen. Oder, wie Heidegger sagt, „die Sprache spricht“.151 Nun will man aber wissen, wie diese These überhaupt zu vertreten ist, wenn das Bedingtsein des Subjekts durch das Subjekt selbst gedacht wird, was eine Erhebung über die Sprache hinaus 149

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Die Schrift ist Testament, Verhältnis zum Tod des Subjekts. Oder das Subjekt ist nur zum Tode: „[…] l'écriture est autre que le sujet, en quelque sens qu'on l'entende. Elle ne pourra jamais être pensée sous sa catégorie ; de quelque manière qu'on la modifie, qu'on l'affecte de conscience ou d'inconscience, celle-ci renverra, par tout le fil de son histoire, à la substantialité d'une présence impassible sous les accidents ou à l'identité du propre dans la présence du rapport à soi. [...] Or l'espacement comme écriture est le devenir-absent et le devenirinconscient du sujet. Par le mouvement de sa dérive, l'émancipation du signe constitue en retour le désir de la présence. Ce devenir — ou cette dérive — ne survient pas au sujet qui le choisirait ou s'y laisserait passivement entraîner. Comme rapport du sujet à sa mort, ce devenir est la constitution même de la subjectivité. A tous les niveaux d'organisation de la vie, c'est-à-dire de l'économie de la mort. Tout graphème est d'essence testamentaire. Et l'absence originale du sujet de l'écriture est aussi celle de la chose ou du réfèrent“ (Derrida, 1967a, S. 100). Lacan erklärt: „L'effet de langage, c'est la cause introduite dans le sujet. Par cet effet il n'est pas cause de luimême, il porte en lui le ver de la cause qui le refend. Car sa cause, c'est le signifiant sans lequel il n'y aurait aucun sujet dans le réel. Mais ce sujet, c'est ce que le signifiant représente, et il ne saurait rien représenter que pour un- autre signifiant : à quoi dès lors se réduit le sujet qui écoute. Le sujet donc, on ne lui parle pas. Ça parle de lui, et c'est là qu'il s'appréhende, et ce d'autant plus forcément qu'avant que du seul fait que ça s'adresse à lui, il disparaisse comme sujet sous le signifiant qu'il devient, il n'était absolument rien. Mais ce rien se soutient de son avènement, maintenant produit par l'appel fait dans l'Autre au deuxième signifiant“ (Lacan 1966, S. 835). (Heidegger, 1985, S. 10).

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voraussetzt. Es ist eben diese Erhebung über die Sprache, die paradoxerweise unsere Bedingtheit zur Sprache erkennen lässt. Und es ist auch die These, dass die Sprache nicht überwunden werden kann, was eben erlaubt, die die Sprache zum denkbaren Objekt zu machen. Mit anderen Worten: Das Denken des Endes verbietet eine Meta-Sprache (einen Standpunkt außerhalb der Sprache), aber dieses Verbot erfordert eine Totalisierung der Sprache, was bereits eine metasprachliche Ebene bedeutet. Die zeitliche Folge, die Kant mit dem inneren Sinn identifiziert, gewinnt beim Denken des Endes ihre äußerliche und quasi-materialistische Unabhängigkeit. Aber diese quasi-materialistische Unabhängigkeit kann nur durch eine gewisse indirekte Reflexion anerkannt werden, welche das Denken des Endes nicht erklären kann.

B) Der Unterschied real - ideal Hält man die Trennung real - ideal für unhaltbar, dann muss man ihre Entstehung erklären. Schelling wollte erstmals die Trennung Subjekt - Objekt durch den Rekurs auf eine transzendentale und vorgeschichtliche Ebene überwinden. Dies erforderte eine intellektuelle Anschauung. Aber er wollte auch die Wirklichkeit der Vernunft deutlich machen. Dafür stellt er sich zur Aufgabe, eine Geschichte des Bewusstseins zu verfassen, wo Realität und Idealität in einem Prozess verknüpft werden, wo sie sich als Momente eines einheitlichen Prozesses erweisen. Schelling hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich das empirische Subjekt innerhalb der Spaltung zwischen Idealität (Subjekt) und Realität (Objekt) befindet. Das heißt: Für das alltägliche Bewusstsein ist die Trennung von Subjekt und Objekt ein Faktum. Die Ur-Einheit Subjekt-Objekt oder Real-Ideal ist nur noch einer Ur-Intuition (der intellektuellen Anschauung) zugänglich. Und daher ist es nur die Philosophie, die diese Einheit behaupten kann. Diese Perspektive ist vor-geschichtlich. Aber „unsere Welt“ ist kennzeichnet durch eine bewegliche, aber nichtsdestoweniger hartnäckige Realität und nur deswegen spricht man von Erfahrung. Nur deswegen gibt es Geschichte überhaupt. Diese „Realität“ ist niemals flüssig genug, um zu verschwinden, und niemals fest genug, um definitiv aufgefasst werden zu können. Sollte man diesen Gegensatz real-ideal infrage stellen, dann sollte man auch erklären a) wie sich das Denken über jene Ur-Region erheben kann; b) wie der „Verfall“ weg von dieser Ur-Region in die gespaltene Welt (Subjekt-Objekt, real-ideal), also in die Realität stattfindet; und c) wie solche Ur-Region überhaupt zugänglich152 und denkbar ist. Für Schelling liegt dem Unterschied Subjekt-Objekt eine originäre intellektuelle Anschauung zugrunde, welche sich später trennt und sich auf der Suche von Selbsterkenntnis des Bewusstseins setzt; diese Suche erzeugt die Geschichte des Bewusstseins als eine von Selbstbewusstsein. Demzufolge sollte das Denken des Endes nicht nur die bewusste Erfahrung auf ihre Möglichkeitsbedingungen zurückführen. 152

Sollte diese Ur-Region das Bewusstsein durchaus bestimmen, könnte sie nie als solche erkannt werden.

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Es sollte auch den umgekehrten Weg einschlagen können: von der Sprache in die Welt. Schelling entging diese Forderung nicht und in seinem System des transzendentalen Idealismus erklärte er die transzendentale Philosophie als nur einen Weg, welcher durch einen inversen ergänzt werden sollte: die Naturphilosophie, die die Effektivität der Begriffe des Verstandes in situ erkennt, wobei Hegels Philosophie des Geistes die soziale Wirklichkeit des Begriffes darstellt. Man kann nicht einfach behaupten, dass der Unterschied zwischen ideal und real nur eine ideelle Differenz sei. Denn auch diese ideelle Differenz ist ganz real. Das für sich selbst reale und ideale Sein des Bewusstseins: Das war Schellings und Hegels Absicht in den frühen Jahren des absoluten Idealismus. Auch der Signifikant hat in Derridas und Lacans Denken diesen doppelten Charakter: sowohl ideal als auch real. Das Reale des Signifikanten bedeutet wie gesagt ihre Materialität und eine gewisse Räumlichkeit. Das Ideale des Signifikanten meint ganz genau seine Wiederholbarkeit, und dass es gemeinsam, intersubjektiv ist. Die Synthese von Empirischem und Idealem wird für das Denken des Endes nicht vom Subjekt gemacht, sondern von der Sprache. Das Subjekt findet in der Sprache bereits die Synthese, es ist kein Autor. Wie diese Synthese erfolgt, bleibt aber im Dunkeln. Schelling wusste, dass nicht nur für das empirische Bewusstsein, sondern auch für ein transzendentales, die Begegnung mit dem Realen nicht reduziert (im phänomenologischen Sinne) werden kann, und dass die Überwindung der Trennung Subjekt-Objekt durch die Philosophie auch politische und soziale Konsequenzen haben sollte. Denn für Schelling, Kant folgend, besteht die Philosophie in einem theoretischen und einem praktischen Teil. Die theoretische Philosophie heißt für den jungen Schelling Erinnerung des transzendental Geschehenen, aber praktische Philosophie heißt die Verwirklichung des Ideellen durch die Bestimmung des Willens. Diese Orientierung zum Praktischen lässt erkennen, dass die Überwindung der Trennung Subjekt-Objekt nicht nur in Gedanken erfolgen kann. Husserls Philosophie klammert den naiven Glauben an die Welt (an das Reale) durch eine Epoché aus. Danach folgen die sukzessiven Reduktionen in Richtung des puren transzendentalen Ego (noesis) und seines Korrelats (noema) als pure immanente Erfahrung. Derrida findet aber in dieser puren Region die Kontamination des bereits Reduzierten, das heißt, im reinen Ego findet Derrida etwas dem Ego Fremdes: Den Signifikanten, der Möglichkeitsbedingung jenes Ego ist. Aber das Verfahren, die Dekonstruktion, ist eine Art phänomenologische Reduktion. Kann das Reale phänomenologisch reduziert werden? Also ist man durch die Reduktion berechtigt, über diese Ur-Region zu reden? Oder wird nicht dabei eine Art Ur-Intuition voraussetzt? Derrida spricht jedoch von der irreduzierbaren Realität des Signifikanten im Subjekt. Diese Realität ist aber nicht natürlich, sie existiert in einem halb-idealisierten und in einem halbempirischen (also im transzendental-empirischen) Bereich. Diese ist die Realität der Sprache

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für das Subjekt. Sie hat aber nichts zu tun mit der „Natur“ oder der „Wirklichkeit“. Am Anfang war nicht die Tat, sondern das Wort, nicht das Verbum, sondern die Schrift, hätte Derrida sagen können. Die Kultur hat sozusagen immer bereits angefangen und sie ist der absolute Beginn. Es geht um die Kultur vor der Kultur. Aber bin ich in dieser Kultur nicht praktisch, also performativ dazu gezwungen, eine induzierbare nicht kulturelle Realität anzuerkennen, auch wenn sie nicht objektiv bestimmt werden kann? Vermutet nicht derjenige, der spricht, dass seine Wörter nicht nur Wörter sind? Es reicht nicht zu sagen, das „real“ und „ideal“ Wörter sind, um die Differenz nur auf sprachliche ebene zu begrenzen. Man muss nicht nur den Glauben am Realen erklären sondern, auch die „Erfahrung“ des Realen als etwas Reales, auch wenn es abgeleitet sei.

C) Selbstreferenz Transzendentaler und absoluter Idealismus sind kein transzendentaler Realismus, sondern eben der Versuch einer Synthese des Realen und des Idealen. Die Welt entsteht dabei nicht aus dem Kopf eines Subjekts, sondern aus einer (intersubjektiven) Tätigkeit und der Begegnung mit dem Fremden. Schelling und Hegel kritisieren Kants Gedanken, es gäbe eine Welt (Ding) an sich, dass außerhalb unserer Vernunft liege. Sie kritisieren somit, dass die Vernunft ein subjektives Halluzinieren, pure Zufälligkeit sei. Die Erweiterung der Sprache zum Absoluten, also der Ersatz des Subjekts durch die Sprache als Instanz, in welcher der Sinn entsteht, muss ähnliche Probleme lösen. Wenn wir sagen, es gebe nichts außer der Sprache, dass sie alles sei, dann machen wir die Sprache zum Objekt, wir betrachten sie als „etwas“, und so wird sie begrenzt, d.h., sie ist nicht mehr das Ganze. Sagen wir „die Sprache“, so nennt sich die Sprache in ihrer Ganzheit bzw. sie macht sich zu einem Objekt als Ganzheit. Diese Paradoxien zeigen die Sprache sowohl als das absolute Medium als auch als ein Objekt zwischen anderen. Der Idealismus begegnete ähnlichen logischen Problemen bezüglich des Ich. Das Ich musste sowohl Objekt (um real zu sein) als auch Subjekt (das Nennende) sein, und zwar in einer Relation von Selbstbezüglichkeit. Was beim Idealismus Selbstbewusstsein war, wird beim Denken des Endes zu unbewusster Selbstbezüglichkeit der Sprache. Die additionale Komplikation besteht darin, dass dieser unbewusste Kreis nicht nur Möglichkeitsbedingung des empirischen Ich sein soll — wie die absolute Identität beim Idealismus, welche vor dem empirischen Bewusstsein steht —, sondern auch Möglichkeitsbedingung des transzendentalen Ichs. Eine Möglichkeitsbedingung hat nur innerhalb des Ego als kategoriale Struktur Sinn. Wie ist also eine solche vor dem Subjekt zu verstehen, als Subjektivität ohne Subjekt? Kann man die Kategorien der Subjektivität auf das Vorsubjektive anwenden? Kann man empirische Befunde der Linguistik (den Signifikanten vor allem) auf eine vortranszendentale Ebene erheben?

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D) Die Grenzen der Vernunft In Schellings System des transzendentalen Idealismus ist die Vernunft als Ich sowohl das Begrenzte als auch das Grenzen-Setzende. Damit das Ich real für sich sein, damit es sich selbst anschauen kann, muss es sich begrenzen. Aber diese Begrenzung wird gleichzeitig überwunden, oder sie wird behalten und überschritten zugleich. Das Denken des Endes versteht sich als eines der Endlichkeit und der Begrenzung der Vernunft durch etwas ihr Fremdes. Die Philosophie wäre in diesem Rahmen nur noch Resultat einer Hybris der Vernunft, das heißt, ein Resultat der illegitimen Erhebung der Philosophie auf den Rang des Absoluten. Doch weist das Denken des Endes eine Ambivalenz auf. Die Philosophie ist für das Denken des Endes etwas Abgeleitetes, Lokales, usw. Gleichzeitig aber wird die Welt als Resultat dieser Vernunft betrachtet, wobei das Andere undenkbar und unaussprechlich wäre. Wie kann das Abgeleitete (die Philosophie) de facto (die Geschichte der Welt ist die Geschichte der Philosophie) aber nicht de jure (die Philosophie ist nicht ursprünglich, sondern bereits ein Resultat) verantwortlich für den Zustand der Welt sein? Von diesem Problem absehend, wird es deutlich, dass ein Denken, das die Geburt der Vernunft durch eine noch ursprünglichere Ebene erklären will, noch übertriebener ist als die Philosophie selbst. Daher müssen Derrida und Lacan als Denker des Endes behaupten, dass das Andere der Vernunft, weder gesagt noch gedacht werden kann. Und trotzdem wird davon gesprochen. Nicht nur wird von diesem Anderen gesprochen und damit argumentiert, sondern es wird davon ausgegangen, dass man dabei die Geburt der Vernunft, des Bewusstseins, des Wissens und des Abendlands miterleben kann. Die Zufälligkeit von Welt und Vernunft bringt uns zu einer Ur-Region, der Welt vor der Welt, dem Apeiron. Wie unterscheidet sich diese Ur-Region, was die hybris angeht, von Hegels Verständnis der Logik als „die Gedanken Gottes vor der Schöpfung“? Ist die hybris nicht vielleicht größer, soweit es versucht wird, hinter — also tiefer, in Richtung eine ursprünglichere Ebene — Welt, Subjekt, Logik und Vernunft zu gehen? Diese Region, von der man nicht mehr sprechen dürfte, ist vor-vernünftig, sie ist unbewusst. Schellings Ur-Geschichte des Bewusstseins war, wenn auch nicht unbewusst, mindestens bewusstlos. Wie hängt das Unbewusste mit den Paradoxien im Kontext des Denkens des Endes zusammen? Das Unbewusste ist nichts anderes als die Paradoxien des Bewusstseins, dessen Fehlleistungen, dessen leeren Stellen, dessen Schweigen usw. Das, was die Philosophie immer verdrängt hat, was sie nicht anerkennen wollte, soll nun durch das Denken des Anderen ans Licht kommen. Und doch kann dies nicht wirklich geschehen, denn das Andere muss im Dunkel bleiben, um anders zu sein. Wie erfolgt dann der Diskurs über das Andere, über das Unbewusste, über das Vorvernünftige, usw.? Durch eine Nachahmung des Unbewussten. Das heißt, wenn das Unbewusste der

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Philosophie in ihren Paradoxien besteht, so besteht der Diskurs über dieses Unbewusste in der systematischen „Unterbrechung“ der Philosophie, also in der Hervorhebung ihrer Paradoxien und Sackgassen. Mit anderen Worten: Die Rede vom Anderen will anders bleiben und will nichts mit der (bloßen) Welt (des Sinns) zu tun haben. Das Denken des Anderen will vom Anderen das Transzendentale des Sinns haben, kann aber den Übergang vom Anderen zum Selben, von der Differenz zur Identität nicht erklären. Schelling und Hegel richteten ihre ersten philosophischen Bemühungen gegen Kants Begriff vom Ding an sich. Der Grund sollte bei Schelling nicht ein bloßes Prinzip im Sinne eines ersten Glieds, sondern ein absolutes sein, aus dem sich alles andere ableiten lasse. Der Grund wird in diesem neuen Kontext problematisch, weil er den klassischen Begriff von Grund ins Schwanken bringt. Das „Erste“ ist nur ein Erstes, das sich entfalten und damit vollenden muss. Dieses Erste (hier das Ich), das sich zeitlich entfaltet, ist von Anbeginn bereits komplex, kein Axiom, sondern eine instabile Entgegensetzung und daher ein Spiel von Begrenzung und Grenzüberschreitung. Das Denken des Endes ist bei Derrida ein Denken der Grenzen und der Wiederholung. Die Grenze ist das Paradoxon. Das Paradoxon entsteht aus der Wiederholung. Sein Gesetz lautet: alles beginnt mit seiner Wiederholung. Der naive Grund: etwas Anwesendes ist abgeleitet. Der einzige Grund ist also die Wiederholung. Nicht von einem Element, sondern von der Wiederholung einer anderen Wiederholung usw. Wir haben daher einen regressus ad infinitum als Grund. Angesichts dieser Schwierigkeit kann man auf zweierlei Weise vorgehen: a) entweder akzeptieren, dass eine metaphysische Begründung unmöglich ist, weil sie zu Paradoxien führt; oder b) das Paradoxon des Grundes zum Grund machen. Derridas Gedanke, dass alles mit einer Wiederholung beginnt, kann man auf Hegels Lehre, in der alles Unmittelbare eine Vermittlung vorausetzen muss, zurückführen. Für Hegel gilt, dass ein Beginn nur im Zusammenhang mit einem Ende und einer Entfaltung möglich ist. Eben darum ist jeder Anfang unvollständig und bedarf weiterer Entfaltung bzw. Vermittlung. Aber dass es einen dunklen nie aufgehenden Grund alles Seienden, allen Sinnes, und zwar als UrDifferenz gibt, ist leicht auf Schelling zurückzuführen. Die différance bewegt sich also zwischen einer unterbrochenen, unendlichen Dialektik und einer Tendenz zum dunklen (Ab)Grund. Das Medium ist aber nicht mehr der Geist oder das Wissen, sondern die Sprache oder ihre begriffliche Radikalisierung, die Schrift.

E) Die Sprache als Absolutes Die Erhebung der Sprache auf ein Absolutes bedeutet eine Kritik am Begriff des Absoluten als Wissen im Bewusstsein. Mit anderen Worten: Die Verabsolutisierung der Sprache, welche im Denken des Endes stattfindet, ersetzt das Absolute im Bewusstsein durch das Absolute als (paradoxes) Unbewusstes. Es ist eigentlich die romantische Philosophie schellingscher und

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herderscher Abstammung, die uns die Mittel liefert für ein Verständnis der Sprache als Absolutes außerhalb des Subjekts. Die Sprache sollte das Subjekt vor dem Subjekt sein. Die Sprache sollte nicht nur die Synthese vom Sensiblem und Intelligiblem vollziehen, sondern auch eine schöpferische Tätigkeit vor dem Bewusstsein verwirklichen. Die Absicht beim Denken des Endes, sowohl Idealismus als auch Empirismus zu meiden, führt auch zu einer transzendentalen Geschichte, teils empirisch — das heißt, sie hat einen Anfang in der Welt und in der Zeit im Gegensatz zu „platonischen“ Ideen — , teils ideell — Objekt und Welt finden im Sinn ihre Heimat; und der Sinn, in der Sprache gegründet, zeigt sich von nun an als intersubjektiv und historisch. Heidegger eröffnete Derrida und Lacan, wie bereits gesagt, das Feld des nachphilosophischen Denkens. Heideggers Denken steht auf den ersten Blick dem deutschen Idealismus viel näher als die Ansätze Derridas und Lacans. Aber eine Beobachtung von Heideggers Denken wird zeigen, dass die Sprache als absolutes Medium ein Erfordernis des Idealismus ist. Ein Meilenstein im Denken des Endes ist Heideggers Rezeption von Kant in seiner Schrift Kant und das Problem der Metaphysik153. Heidegger interpretiert Kants Schematismus als Lehre einer transzendentalen Einbildungskraft als gemeinsame Wurzel, also als Grund, von Sinnlichkeit und Verstand: Wenn der gelegte Grund nichts dergleichen ist wie ein vorhandener Boden, sondern wenn er den Charakter der Wurzel hat, dann muss er so Grund sein, dass er die Stämme aus sich hervorwachsen lässt, ihnen Halt und Bestand verleiht. Damit ist aber schon die gesuchte Richtung gewonnen, in der die Ursprünglichkeit der n Grundlegung innerhalb ihrer eigenen Problematik erörtert werden kann. Diese Grundlegung wird ursprünglicher, wenn sie den gelegten Grund nicht einfach hinnimmt, sondern wenn sie enthüllt, wie diese Wurzel für die beiden Stämme Wurzel ist. Das bedeutet aber nichts Geringeres, als die reine Anschauung und das reine Denken auf die transzendentale Einbildungskraft zurückzuführen.154

Die Einbildungskraft „produziert“ im transzendentalen Sinn sowohl Sinnlichkeit als auch Verstand. Sie ist deren Möglichkeitsbedingung und erfolgt bei Heidegger als Zeit, dem laut Kant eigentlichen subjektiven Medium. Man erkennt leicht einen Hamann und Humboldt nahestehenden Ansatz, nämlich dass die Synthese von Sinnlichkeit und Begriff nicht in der subjektiven Spontaneität stattfindet, sondern in der Sprache.155 153 154 155

(Heidegger, 1991). (Ebenda, S. 138). Hamann: „Nicht nur das ganze Vermögen zu denken beruth auf Sprache [...] sondern Sprache ist auch der Mittelpunkt des Mißverstandes der Vernunft mit ihr selbst [...] Laute und Buchstaben sind also reine Formen a priori [...] die wahren ästhetischen Elemente aller menschlichen Erkenntnis und Vernunft [...] Die älteste Schrift war Malerei und Zeichnung, beschäftigte sich also ebenso früh mit der Ökonomie des Raums, seiner Einschränkung und Bestimmung durch Figuren [...] Entspringen aber Sinnlichkeit und Verstand als zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis aus Einer gemeinschaftlichen Wurzel, so daß durch jene Gegenstände gegeben und durch diesen gedacht werden; zu welchem Behuf nun eine so gewalttätige, unbefugte, eigensinnige Scheidung desjenigen, was die Natur zusammengefügt hat! [...] [die] Volkssprache [gibt uns ]das schönste Gleichnis für die hypostatische Vereinigung der sinnlichen und verständlichen Naturen, den gemeinschaftlichen Idiomenwechsel ihrer Kräfte, die synthetischen Geheimnisse beider korrespondierenden und sich widersprechenden Gestalten a priori und a posteriori, samt der Transsubstantiation subjektivischer

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Aber es ist erst das Zusammenfügen von Zeit und Sprache, was Heideggers Denken am tiefsten prägt. Die transzendentale Einbildungskraft mag für Heideggers Kantlektüre die Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand sein, aber diese Einbildungskraft heißt die eigentliche Erzeugung der Zeit aus der Zeit selbst – im Sinne von Husserls Phänomenologie zum inneren Zeitbewusstsein, jetzt aber vom anonymen Sein aus gedacht – oder Temporalisierung durch Selbstaffektion: Der reine innere Sinn ist die reine Selbstaffektion, d.h. die ursprüngliche Zeit. Was den Horizont der Transzendenz bildet, sind die reinen Schemata als transzendentale Zeitbestimmungen. [...] Als [reine Selbstaffektion] ist sie [die Zeit] auch die Bedingung der Möglichkeit des vorstellenden Bildens, d.h. Offenbarnmachens, des reinen Raumes. Aus der Einsicht in die transzendentale Funktion des reinen Raumes folgt keineswegs die Zurückweisung des Vorranges der Zeit. Es erwächst vielmehr nur die positive Aufgabe zu zeigen, daß in gewisser Weise entsprechend wie die Zeit auch der Raum zum Selbst als einem endlichen gehört und daß dieses, freilich auf dem Grunde der ursprünglichen Zeit, seinem Wesen nach, ‚räumlich’ ist.156

Derridas Denken erwächst aus dieser Auseinandersetzung mit der Zeit und der Sprache, oder der Sprache als Zeit. Er interpretiert die Differenz als Verzögerung (retard)157 aber auch als „produktiv“158. Derrida erkennt in Heideggers Lektüre von Kant, dass „l’imagination transcendantale semble échapper à la domination du présent donné dans la forme de la Vorhandenheit et de la Gegenwärtigkeit“; das postphilosophische Denken heißt für Derrida das Jenseits von „la clôture grecque-occidentale-philosophique“, welches „s’annonce dans certaines fissures calculées du texte métaphysique“ (S.75); in diesem Sinne behauptet er : „ce qui nous donne à penser au-delà de la clôture ne peut être simplement absent“, denn „Absent, ou bien il ne nous donnerait rien à penser ou bien il serait encore un mode négatif de la présence“ daher, „Il faut donc que le signe de cet excès soit à la fois absolument excédant au regard de toute présence-absence possible [...] de quelque manière informulable par la métaphysique comme telle“ (S.76); was sich ankündigt, ist die Spur (trace): „la présence alors

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Bedingungen und Subsumtionen in objektive Prädikate und Attribute durch die copulam eines Macht- oder Flickwortes zur Verkürzung der langen Weile und Ausfüllung des leeren Raums in periodischen Galimathias per These und Antithese [...] Wörter haben also ein ästhetisches und logisches Vermögen. Als sichtliche und lautbare Gegenstände gehören sie mit ihren Elementen zur Sinnlichkeit und Anschauung, aber nach dem Geist ihrer Einsetzung und Bedeutung, zum Verstand und Begriffen. Folglich sind Wörter sowohl reine und empirische Anschauungen, als auch reine und empirische Begriffe: empirisch, weil Empfindung des Gesichts oder Gehörs durch sie bewirkt - rein, insofern ihre Bedeutung durch nichts, was zu jenen Empfindungen gehört, bestimmt wird. Wörter, als unbestimmte Gegenstände empirischer Anschauungen, heißen nach dem Grundtext der reinen Vernunft, ästhetische Erscheinungen. Folglich sind nach der ewigen Leier des antithetischen Parallelismus, Wörter als unbestimmte Gegenstände empirischer Begriffe, kritische Erscheinungen, Gespenster, Nicht- oder Unwörter, und werden durch ihre Einsetzung und Bedeutung des Gebrauchs zu bestimmten Gegenständen für den Verstand. Diese Bedeutung und ihre Bestimmung entspringt, weltkundigermaßen, aus der Verknüpfung eines zwar a priori willkürlichen und gleichgültigen, a posteriori aber notwendigen und unentbehrlichen Wortzeichens mit der Anschauung des Gegenstandes selbst und durch dieses wiederholte Band wird dem Verstand eben der Begriff vermittels des Wortzeichens als vermittels der Anschauung selbst mitgeteilt, eingeprägt und einverleibt“ Über den Purismus der reinen Vernunft in: (Hamann, 1825). (Heidegger, 1991, S. 198–200). Siehe Derridas Einleitung zu Husserls Ursprung der Geometrie: (Husserl und Derrida, 1995). Siehe besonders den Aufsatz La Différance in: (Derrida, 1972b).

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est la trace de la trace, la trace de l’effacement de la trace [...]“ (S. 76-77). 159 160 Nun findet diese noch mystisch formulierte Differenz eine Verkörperung in der Sprache durch die Berufung auf Saussures formale Linguistik. Das Zeichen und der Signifikant erfordern bereits eine Reduktion des Sinns auf ein formales System. Die Sprache als Apriori des Denkens lässt sich auf eine bestimmte Rezeption von Kants Transzendentalismus zurückführen. Denn die Funktion des Transzendentalen bleibt die gleiche, nur eben außerhalb des bewussten Subjekts: Ein Raster von formellen Kategorien präformiert die mögliche Erfahrung und erlaubt a priori synthetische Urteile. Die Sprache ist hier kein Mittel mehr, sondern das wahre Transzendentale. Oder vielleicht nicht einmal die Sprache, sondern vielmehr ihre abstrakteste Funktion: die Differenz. Welt, Subjekt und Sprache werden strikt reduziert, aber der transzendentale Ansatz verstellt sich nicht.161 Das Andere befindet sich beim Denken des Endes nicht schlechthin außerhalb der Subjektivität, sondern, wie gesagt, außerhalb des bewussten Subjekts. Denn die Subjektivität findet ihr Anderes in sich selbst, kann sich aber mit sich selbst nicht versöhnen. Die hegelsche Aufhebung wirkt immer noch im Hintergrund, aber als „unterbrochen“. Jedoch darf man fragen, ob man so schnell auf die von Hegel beabsichtigte „Versöhnung“ verzichten kann. Denn die Differenz, vermutlicher Anführer einer kommenden Gerechtigkeit, vermischt sich 159 160

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Alle Zitate aus: (Ebenda). Ferraris liest in dieser Linie die Spur (trace) als eine Entwicklung des kantischen Schematismus als Radikalisierung des Zeitgedankens: „Spiegare in che modo la traccia stia all'origine della sensazione e della coscienza è un compito titanico, [...] E anche se lo si facesse, il risultato sarebbe un fallimento, perché l'esplicitazione delle strutture comporterebbe una nuova rimozione. Più modestamente, si tratta di mettere in guardia contro delle soluzioni affrettate, che riducano 1'esperienza al linguaggio, o a una conoscenza tacita e priva di mediazione, o, ancora, che cerchino le origini della struttura in una qualche regione della realtà sociale o psichica, sia essa il potere, l'inconscio, i rapporti di produzione. L'idea di fondo è che se fosse possibile trovare una struttura o una realtà ultima, un fondamento assoluto della nostra esperienza, questo avrebbe la forma della traccia. L'idea di Kant [...], dass una volta che si siano trovate le categorie attraverso cui l'io si riferisce al mondo, bisogna ancora individuare qualcosa di intermedio, parte sensibile, parte insensibile, che assicuri il passaggio dalle forme pure dell'intelletto (le categorie) alla sensibilità [...]“ führt uns zu einem „elemento intermedio, questo «terzo» tra sensibilità e intelletto“ zu einem „schema, qualcosa che sta alla base sia della costituzione della idealità e del senso, sia della passività con cui ci rapportiamo all'esperienza, e trova che questo schema è il prodotto di una facolta misteriosa, l'mmagmazione produttiva o trascendentale. Derrida propone: [...] L'immaginazione trascendentale è la traccia, che risponde sia ai caratteri della passività (una traccia si iscrive, una impressione si deposita), sia a quelli dell'attività, giacché l'intelletto si avvale di parole e di concetti iterabili in un codice, cioè, ancora una volta, di tracce“ (Ferraris, 2003, S. 65). Quentin Meillassoux hat den Begriff „Korrelationismus“ geprägt als den transzendentalen Ansatz per excellence: „[…] the central notion of modern philosophy since Kant seems to be that of correlation. By ‘correlation’ we mean the idea according to which we only ever have access to the correlation between thinking and being, and never to either term considered apart from the other […] henceforth […] the argument according to which one cannot think the in-itself without entering into a vicious circle, thereby immediately contradicting oneself, […] the relation is in some sense primary: the world is only world insofar as it appears to me as world, and the self is only self insofar as it is face to face with the world, that for whom the world discloses itself […] The ‘co-’ (of co-givenness, of co-relation, of the co-originary, of copresence, etc.) is the grammatical particle that dominates modern philosophy, its veritable ‘chemical formula’ [...] ever since Kant, to discover what divides rival philosophers is no longer to ask who has grasped the true nature of substantiality, but rather to ask who has grasped the more originary correlation: is it the thinker of the subject-object correlation, the noeticonoematic correlation, or the language-referent correlation?“ (Meillassoux, 2008, S. 8– 9).

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ständig mit der Ungleichheit der Welt. Derrida wusste, dass die Differenz (in seiner frühen Beschäftigung mit Husserl „retard“162 genannt und in Marxʼ Gespenster mit Shakespeares Ausdruck als „out of joint“ gekennzeichnet) sowohl auf die Zerrissenheit der Welt (aufgrund der Gewalt) als auch auf die kommende Gerechtigkeit hinweist.163

F. Differenz und Natur Dieses Subjekt vor dem Subjekt, das die Sprache beim Denken des Endes verkörpert, hat auch seine Vorgeschichte im Idealismus. Die Romantik hat das Transzendentale nicht nur in der Sprache gesucht, sondern auch in der Natur. Natur und Sprache wurden dabei eng verbunden. Damit meinen wir nicht die sentimentale Poesie als bukolische Vorstellung einer verlorenen Natur. Schelling definierte die Natur in seiner Naturphilosophie als eine Vorgeschichte des Ich, als unbewussten Geist, als Intelligenz vor der Intelligenz. Schelling spricht der Natur Tätigkeit, Kreativität und innere Legalität zu, was Kant nur dem denkenden Subjekt zuerkannte. Aber diese Natur zeigte auch einen dunklen und nicht auffassbaren Charakter, einen dunklen Grund, aus dem die Vernunft stammt, der von ihr nicht entziffert werden kann. In einem berühmten Fragment von Goethe erkennt man diese kontradiktorischen Gedanken der Naturphilosophie: „Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort [...] Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie; was war, kommt nicht wieder [...] Wir leben mitten in ihr und sind ihr fremd. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrät uns ihr Geheimnis nicht: […] Sie baut immer und zerstört immer, und ihre Werkstätte ist unzugänglich [...] Sie spielt ein Schauspiel [...] Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch rückt sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig, und ist kein Moment Stillestehen in ihr. [...] Gedacht hat sie und sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur. [aber] Auch das Unnatürlichste ist die Natur. [...] Sie freut sich an der Illusion. Wer diese in sich und andern zerstört, den straft sie als der strengste Tyrann. Wer ihr zutraulich folgt, den drückt sie wie ein Kind an ihr Herz […] Sie spritzt ihre Geschöpfe aus dem Nichts hervor und sagt ihnen nicht, woher sie kommen und wohin sie gehen. Sie sollen nur laufen. [...] Sie hat wenige Triebfedern, aber nie abgenutzte, immer wirksam, immer mannigfaltig. [...] Leben ist ihre schönste Erfindung, und der Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben. Sie hüllt den Menschen in Dumpfheit ein und spornt ihn ewig zum Licht. Sie macht ihn abhängig zur Erde, träg und schwer und schüttelt ihn immer wieder auf. […] Man gehorcht ihren Gesetzen, auch wenn man ihnen widerstrebt; man wirkt mit ihr, auch wenn man gegen sie wirken will. [...] Sie hat keine Sprache noch Rede; aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht. […] Sie macht Klüfte zwischen allen Wesen, und alles will sich verschlingen. Sie hat alles isoliert, um alles zusammen zu ziehen. […] Sie ist alles. [...] Sie ist rau und gelinde, lieblich und schrecklich, kraftlos und allgewaltig. Alles ist immer da in ihr. [...] Sie ist ganz, und doch immer unvollendet. [...] Jedem erscheint sie in einer eigenen Gestalt. Sie verbirgt sich in tausend Namen und Termen und ist immer dieselbe. […] Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst.164

Derridas Worte über die Differenz und seine Erfindung, die différance, sind merkwürdig, 162 163 164

(Husserl und Derrida, 1995). Siehe (Siehe Derrida, 1993b.). (Goethe & Böhler, 1977, S. 28–31).

Drei dem Denken des Endes und dem deutschen Idealismus gemeinsame Themen

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sofern sie Goethes Worten ähneln. Derrida sagt uns über das Verhältnis différance-denkendes Subjekt der Philosophie: „La différance est non seulement irréductible à toute réappropriation ontologique ou théologique — onto-théologique — mais, ouvrant même l’espace dans lequel l’onto-théologie — la philosophie — produit son système et son histoire, elle la comprend, l’inscrit et l’excède sans retour“165; die différance ist „etwas“, dass das Denken ermöglicht aber es umgibt. Die différance zeigt uns das Offene, das freie Spiel: „Le concept de jeu [...] s’annonce […] audelà de la philosophie“166 als „l’unité du hasard et de la nécessité dans un calcul sans fin“; das Spiel ist eine Tätigkeit ohne Tätigkeit, die nicht subjektive Einheit von Gesetz und Zufall. Jeder Begriff, jedes Wort ist „en droit et essentiellement inscrit dans une chaîne ou dans un système à l’intérieur duquel il renvoie à l’autre, aux autres concepts, par jeu systématique de différences“; damit zeigt sich, dass für Derrida die différance ein produzierendes Werden ist, ein Spiel von Differenzen, aus dem sich die Welt ergibt. Genauso wie das Spiel der Natur bei Goethe ist die différance ein kindliches Spielen der Differenzen mit sich selbst: „ces différences jouent : dans la langue, dans la parole aussi et dans l’échange entre langue et parole“167; aber diese Differenzen sind, wie die Gestalten der Natur, nur vorläufige Produkte: „ces différences sont elles-mêmes des effets. Elles ne sont pas tombées du ciel toutes prêtes“168. Die différance verorndet nicht die Differenzen, wohin sie gehen und erklärt nicht woher sie kommen, denn sie stammen aus anderen Differenzen, das heißt, dass die différance nicht mehr teleologisch ist. Das radikale Werden, „le devenir“ richtet sich gegen jede „archéologie“, d.h., jede „téléologie und jede „eschatologie“, gegen jenen „rêve d’une présence pleine et immédiate fermant l’histoire, transparence et indivision d’une parousie, suppression de la contradiction et de la différence“169, sei es durch den Begriff Anfang, der die Zukunft im Voraus bestimmt, sei es in der Form eines Endzwecks, was die Geschichte auch anderen Möglichkeiten verschließt. Trotz dieses negativen Charakters der différance als Befreiung von allem Festen, ist sie Quelle aller Schöpfung: Die différance ist: „« constitution originaire » du temps et de l’espace, diraient la métaphysique ou la phénoménologie transcendantale dans le langage qui est ici critiqué et déplacé“.170 Ja, die Sprache der Phänomenologie wird kritisiert und verschoben und auf diese Weise behalten. Die différance bleibt, wie die Natur, passive und unbewusste Schöpfung, Kreation ohne Objektivieren. Aber die différance verrät uns ihr Geheimnis nicht: „le jeu de la différence […] ce jeu est lui-même silencieux“.171

165 166 167 168 169 170 171

(Derrida, 1972b, S. 6). (Ebenda, S. 7). (Ebenda, S. 12). (Ebenda, S. 12). (Derrida, 1967a, S. 168). (Derrida, 1972b, S. 8). (Ebenda, S. 5).

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Das Ende der Philosophie als Ausgangspunkt

Sie ist nicht nur ein Spiel des Lebens, sondern ein Spiel zwischen Leben und Tod: Die différance erweist sich durch eine schöpferische „économie de la mort“, durch einen „rapport à la présence impossible, comme dépense sans réserve, comme perte irréparable de la présence, usure irréversible de l’énergie, voire comme pulsion de mort et rapport au tout-autre interrompant en apparence toute économie“172. Aber diese différance verpflichtet uns zu einer „Schwere“ zu: „La matérialité du « signifiant »“173. Die différance, sagt Derrida, ist Möglichkeitsbedingung der Begrifflichkeit, aber auch ihre Unmöglichkeitsbedingung, denn, wenn diese Begrifflichkeit der Vernunft erlaubt, Vorstellungen zu schaffen, so impliziert die différance auch jene Bewegung, die diese Vorstellungen „ins Spiel setzt“, wo sie sich ständig dank dem Spiel von Differenzen ändern; und diese Differenzen, weil sie historisch sind, werden ständig kreiert und vernichtet. Wenn nicht „rau und gelinde, lieblich und schrecklich, kraftlos und allgewaltig“ ist, die différance „l’économique et le non-économique, le même et le tout-autre, etc.“, und ist daher „cet impensable“174. Die différance ist jener „Ursprung ohne Ursprung“, erstes Prinzip und doch immer „offen“, unvollendet, weil sie ein Spiel ist. Die différance, genauso wie die Natur, „verbirgt sich in tausend Namen und Termen“, wobei Derrida konkludiert: „Il n’y aura pas de nom unique, fût-il le nom de l’être. Et il faut le penser sans nostalgie […] Il faut au contraire l’affirmer, au sens où Nietzsche met l’affirmation en jeu“175; denn „Telle est la question qui s’inscrit dans l’affirmation jouée de la différance. Elle porte (sur) chacun des membres de cette phrase : « L’être/ parle/partout et toujours/à travers/toute/langue. »“.176 Wir leben inmitten der différance und sind ihr fremd; sie ist: „à la fois […] détour économique qui, dans l’élément du même, vise toujours à retrouver le plaisir où la présence différée par calcul (conscient ou inconscient) et d’autre part [...] rapport à la présence impossible“177, rapport au tout-autre. Eben darum können wir nicht aus der différance, aus ihrem Spiel heraustreten (das war der „metaphysische Traum“, die sogenannte Philosophie der Anwesenheit) und wir können auch nicht in ihr tiefer gehen. Sie hat keine Sprache, aber sie schafft die Sprache durch das Spiel von Differenzen. Goethe sagt, „Auch das Unnatürlichste ist die Natur“, und Derrida bestätigt es: On pourrait [...] reprendre tous les couples d’opposition sur lesquels est construite la philosophie et [...] pour y voir non pas s’effacer l’opposition mais s’annoncer une nécessité telle que l’un des termes y apparaisse comme la différance de l’autre, comme l’autre différé dans l’économie du même (l’intelligible comme différant du sensible, comme sensible différé; le concept comme intuition différée — différante; la culture comme nature différée — différante; […] tous les autres de la physis — tekhnè, nomos, thesis société, liberté, histoire, esprit, etc. — comme physis différée ou comme physis différante. Physis en différance.178

172 173 174 175 176 177 178

(Ebenda, S. 20). (Ebenda, S. 116). (Ebenda, S. 20). (Ebenda, S. 29). (Ebenda, S. 29). (Ebenda, S. 20). (Derrida, 1967a, S. 18).

Das Ende der Philosophie im Kontext

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2.6 Das Ende der Philosophie im Kontext Nun, dass wir die Thematik des Denkens des Endes grob skizziert, und auf den Bezug zum deutschen Idealismus hingewiesen haben, zwingt sich auf, einen Leitfaden zu bestimmen. Von den aus verschiedenen Kontexten entstammenden Enden der Philosophie ist die von Heidegger eröffnete Linie jene, welche heute noch das zeitgenössische Denken am tiefsten prägt. Marxismus und Psychoanalyse zählen sicherlich zu den großen Anfechtern der Philosophie und gehören zur Vorgeschichte des Endes der Philosophie. Sie haben die Philosophie angefochten durch den Ruf nach einer Praxis. Neben Freud und Marx ist Nietzsche179 der dritte heilige Vorfahr im Pantheon dieser Tradition der Anfechtung der Philosophie. Viele Denker der 20. Jahrhunderts identifizieren sich mehr mit ihm als mit Heidegger. Die Bejahung eines puren, vor-ursprünglichen, produktiven Werdens als eines Spiels von Erscheinungen180, welches jeden Bezug auf Wahrheit verweigert, scheint Nietzsche näher als Heidegger zu stehen. Aber dieses dreifache Pantheon sprach letztendlich ausgezeichnet durch den Mund des Propheten Heidegger. Es geht hier nicht darum zu diskutieren, wer von den erwähnten Autoren am deutlichsten oder besten zum Motiv des Endes der Philosophie beigetragen hat. Das bedeutungsvolle hierbei besteht lediglich darin, dass unter ihnen Heidegger, besonders nach der so genannten Kehre, sich als jener Denker zeigt, der das Ende der Philosophie ankündigt und zur Rückkehr zum Anfang181 des abendländischen Denkens aufruft. Dabei erkennt man aber die tragische und paradoxe Struktur dieses Unternehmens, für das letztendlich jede Lösung fehlt. Nihilismus nennt Heidegger dieses Zeitalter des Endes der Philosophie. In diesem Sinne spricht Heidegger jenseits von Heil und Übel: „Doch im gleichen Maße wie die Möglichkeiten für eine unmittelbar wirksame Heilung schwinden, hat sich auch schon das Vermögen des Denkens verringert. Das Wesen des Nihilismus ist weder heilbar noch unheilbar. Es ist das Heil-lose, als dieses jedoch eine einzigartige Verweisung ins Heile“.182 179 180

181

182

Siehe dazu Foucaults Aufsatz Nietzsche, Freud, Marx in: (Wahl, Vattimo & Foucault, 1967, S. 183–192). In dieser Linie befinden sich als ausgezeichnete Beispiele Derrida (siehe besonders sein Buch Éperons: Les Sytyles de Nietzsche (Derrida, 2010) und den Aufsatz La Différance (Derrida, 1972b), Deleuze (siehe sein Buch Nietzsche et la Philosophie (Deleuze, 1997) und Blanchot (siehe den Aufsatz Sur un changement d'époque : l'exigence du retour (Blanchot, 1969). Heidegger versteht unter Anfang den griechischen arché, jenes „von wo aus“. Heidegger stützt für sein Verständnis des Grundes auf Aristoteles: „Aristoteles faßt seine Auseinanderlegung der mannigfachen Bedeutungen des Wortes ἀρχὴ also zusammen: Πασὦν μὲν οὖν κοινὸν τῶν ἀρχῶν τὸ πρῶτον εἶναι ὅθεν ἢ ἒστιν ἢ γίγνεται ἢ γιγνώσκεται. (Metaphysik Δ1, 1013a-17 ssq). Hiermit sind die Abwandlungen dessen herausgehoben, was wir »Grund« zu nennen pflegen: der Grund des Was-seins, des Daß- eins und des Wahrseins. Darüber hinaus aber wird noch das zu fassen gesucht, worin diese »Gründe« als solche übereinkommen. Ihr κοινόν ist τὸ πρῶτον ὅθεν, das Erste, von wo aus... Neben dieser dreifachen Gliederung der obersten »Anfänge« findet sich eine Vierteilung des αἴτιον (»Ursache«) in ὑποκείμενον, τὸ τί ἦν εἶναι, ἀρχὴ τῆς μεταβολῆς und οὗ ἕνεκα (Metaphysik Δ2, 1013 b 16 ssq), die in der nachkommenden Geschichte der »Metaphysik« und »Logik« leitend geblieben ist“ (Heidegger, 1995, S. 124). (Heidegger, 1976, S. 388).

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Das Ende der Philosophie als Ausgangspunkt

Ja, das Heile ist verwiesen worden und doch koinzidiert es mit der größten Ratlosigkeit. Der Stern am Himmel dieses Milleniums-Pathos sind die folgenden Worte Hölderlins: „[…] wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“.183 Heidegger greift bekanntlich diese Wörter auf. Aber Kur und Krankheit lassen sich bei Heidegger nicht mehr unterscheiden, und der anfänglich Weg zur Heilung erfährt eine Reifizierung (er wird zum Zweck selbst), während Anfang und Endzweck sich verdunkeln. Die ideelle Einheit von Anfang und Ende der Geschichte des Abendlands zerfällt, so dass nicht nur der Maßstab von Gut und Böse, sondern auch jede Orientierung verloren geht.184 Bei Nietzsche war noch der Übermensch (durch Annahme des Willens zur Macht), bei Marx der Sozialismus (durch einen dialektischen Materialismus mit Hinblick auf die Aufhebung des sozialen Antagonismus und der damit zusammenhängenden Abstraktionen des Kapitalismus), bei Freud eine therapeutische Psychoanalyse (durch Interpretation des Unbewussten im Dienste des menschlichen Genusses und gegen den repressiven Charakter der Gesellschaft), was das Ende der Philosophie erlösen könnte und zwar durch eine positive Einstellung und Tätigkeit in der Welt. Keiner wird bestreiten, dass bei ihnen die großen Züge einer Befreiung noch erkennbar sind. Mit Heidegger gerät dieses Denken in Schwierigkeiten. Denken und Praxis erfahren ein impasse, das trotzdem mit dem Kommenden selbst zu koinzidieren scheint. Das neue Denken enthüllt sich als tragisch und paradox und dabei auch als ursprünglicher als die Vernunft, das Bewusstsein und das Sagbare. Steckt hinter dem Paradoxon noch eine ursprünglichere Wurzel, oder ist das Paradoxon die ultimative Wurzel, woraus die Philosophie, 183 184

(Hölderlin, 1992, S. 463). Kant sprach von einem Verlangen der Vernunft nach Orientierung, wenn das Denken überhaupt keinen Fuß in der objektiven Welt findet, wo es sich eher mit einem Raum, dem „unermeßlichen und für uns mit dicker Nacht erfüllten Raume des Übersinnlichen“, beschäftigt. Übersinnlich heißt so viel wie unbedingt. Im Vergleich zu Kant bewegt sich das Denken des Endes nicht mehr inmitten der Unterscheidung Subjekt-Objekt, denn deren Legitimität als die letzte Instanz ist auch fragwürdig geworden. Daher ist die Unterscheidung intelligibel-sensibel auch nicht treffend. Trotzdem bleibt die Situation strukturell die Gleiche, denn das Denken sieht sich mit dem (objektiv) undenkbaren konfrontiert und tritt in einen offenen Raum ein, den man aber nur mit dem üblichen Denken und deren üblichen Wörtern erkunden kann. Was heißt sich im Denken orientieren? Im üblichen Sinn heißt es, sag Kant, „[…] aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont eintheilen) die übrigen, namentlich den Aufgang zu finden. [...] [aber] Zu diesem Behuf bedarf ich aber durchaus das Gefühl eines Unterschiedes an meinem eigenen Subject, nämlich der rechten und linken Hand“ (Kant, 2007, S. Akad. (1905ff.), S. VIII:134). Der Bezug ist nicht umsonst: Das Ende der Philosophie versteht sich als ein Ende innerhalb des Abendlands. Was ist allerdings Abendland ohne Morgenland? Das ist, die Behauptung eines Endes ist davon unzertrennlich, was das abendländische Projekt im Vergleich zu dessen „Außen“ bestimmt. Daran anschließend, darf man sich auch fragen: Was ist diese Geschichte der Philosophie ohne die Geschichte des Nicht-philosophischen? Was ist die Geschichte der Philosophie – als etwas Begrenztes – ohne ihren Beginn und ihr Ende, ohne ihre Vorgeschichte und deren Nachgeschichte? Was heißt sich zum Anderen zu öffnen ohne eine gewisse Orientierung, das ist, mit gewissen Kenntnissen über den Raum, im wir uns bewegen? Kant suggeriert: sich im Denken orientieren heiße, „logisch, zu orientiren. [...]“ als ein „von bekannten Gegenständen (der Erfahrung) ausgehend, sich über alle Grenzen der Erfahrung erweitern“, wo es „gar kein Object der Anschauung, sondern bloß Raum für dieselbe findet [...]“; diese Orientierung gründet laut Kant im „Recht des Bedürfnisses der Vernunft“ (Ebenda, S. Akad. (1905ff.), S. VIII:137), also im menschlichen Bedürfnis mit Hinblick darauf, was das Denken dazu anzubieten hat. Wir wollen diesen Bezug auf den Raum und die Orientierung im Auge halten.

Das Ende der Philosophie im Kontext

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ohne es zu wissen, stammt? Doch entsteht das Gefühl des Unheils bei diesem Paradoxon. Da wo die letzten philosophischen Antworten auf das Übel der Welt schwinden, erfährt das Übel selbst nicht das gleiche Schicksal: es besteht. Auch wenn dieses Übel sich nicht mehr wie zuvor nennen lässt — wir verfügen nicht mehr über die üblichen Begriffe, wie Entfremdung, Schein, Schwäche des Lebens, Vergessen des gesunden Menschenverstandes usw. —, bleibt doch das klare Bewusstsein vom Übel selbst. Woher kommt dieses Übel, woher die Welt; soll man das Übel eher als konstitutiv betrachten und damit aufhören, es als Unheil zu betrachten? Wo ist das Übel zu verorten, in der Welt oder in ihren Bedingungen? Ist das Paradoxe des Denkens konstitutiv oder abgeleitet, ist das Paradoxon die ultimative Form des Denkens? Ersetzen wir nicht die Unmöglichkeit einer Ontologie durch eine Ontologie der Unmöglichkeit oder durch eine Ontologie als Unmöglichkeit und Ohnmacht?

3 Das Ende der Philosophie und die Phänomenologie als sein konkreter Ausgang Es wird in dieser Arbeit das Ende der Philosophie als geistiges Ereignis untersucht, welches die Philosophie mit sich selbst und ihren Grenzen konfrontiert und zwar in der privilegierten Form der Aporie, welche zum Prinzip erhoben wird. Dieses Prinzip gilt als das Reale, das einzig Wirkliche, dessen Merkmal es ist, unmöglich zu sein. Im oben stehenden Paragraphen versuchte ich, in groben Zügen dieses Denken des Endes und die damit zusammenhängenden Probleme vorzustellen. Wir haben allerdings diese Probleme noch nicht systematisiert. Wir zeigten lediglich anhand einiger Beispiele, dass unsere Epoche eine des Endes ist. Das Ende soll nicht als ein bloßes Aufhören verstanden werden. Es geht nicht um eine lineare Geschichte der Philosophie und danach einen Wendepunkt, nach dem etwas ganz Neues entstehe. Ganz im Gegenteil, der Begriff Ende steht für eine Grenze. Das Denken des Endes ist eines von Grenzen. Die Begrenzung der Philosophie erfolgt dabei durch eine Begrenzung ihrer Begriffe: Bewusstsein, Ich, Wissen usw. Diese Begrenzung ist, wie gesagt, paradox. Um dieses paradoxe Verfahren gegen die Philosophie zu verstehen, muss man genau wissen, gegen welche Rezeption der Philosophie sich das Denken des Endes richtet. Die Philosophie zeigt sich für das Denken des Endes in „vollendetem Zustand“ bei Hegel und Husserl. Deswegen haben wir kurz auf die gemeinsamen Probleme zwischen Idealismus und dem Denken des Endes hingewiesen. Wir erreichen jetzt den Punkt, an dem man der Formulierung des Denkens des Endes genauer nachgehen muss.

3.1 Das Ende der Philosophie und der Anfang der Zeit Die Frage nach dem Ende der Philosophie und den Aufgaben des Denkens wurden von Heidegger explizit in einem Aufsatz formuliert185. Heidegger behauptet dort: „Das Ende der Philosophie zeigt sich als der Triumph der steuerbaren Einrichtung einer wissenschaftlich-technischen Welt [...], (als die) vollständige Verwirklichung aller (ihrer) Möglichkeiten“. Als Aufgabe des Denkens nach der Philosophie aber gebe es „eine erste Möglichkeit […] eine Aufgabe […], die weder der Philosophie als der Metaphysik noch gar den aus ihr herkommenden Wissenschaften zugänglich wäre […]“.186 Der Triumph der Philosophie ist hier der Triumph der Wissenschaften, welche die Welt steuerbar machen. Die Aufgabe des Denkens nach der Philosophie müsse sich dann durch eine von den Wissenschaften verschiedene Denkweise und zwar durch eine noch ursprünglichere charakterisieren. Doch wie ist diese Ursprünglichkeit zu verstehen? 185 186

(Heidegger und Hermann 2007). (Ebenda, S. 73).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 A. Romero Contreras, Die Gegenwart anders denken, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04820-2_3

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Das Ende der Philosophie und die Phänomenologie

Der wesentliche Charakter der Wissenschaft besteht für Heidegger im Vorrang der Gegenwart gegenüber jenen Zeiten — Zukunft und Vergangenheit — welche sich durch das Abwesende kennzeichnen. Wissenschaft bedeutet das absolute Privileg des Anwesenden und der Vergegenwärtigung des Abwesenden innerhalb des Bewusstseins. Die neue Aufgabe des Denkens bestünde also darin, das zu denken, was breiter als die Gegenwart ist. Das heißt: das Offene, oder die Lichtung im Sinne von Unverborgenheit (ich erinnere an Heideggers Begriff von Wahrheit als a-letheia, als Enthüllung und „Unverborgensein“). Diese Unverborgenheit versteht sich ontologisch „älter“ als die Wissenschaft, weil die erstere die Möglichkeitsbedingung der letzteren sein soll. Die Gegenwart oder Anwesenheit, also das philosophische oder wissenschaftliche Wissen im Medium der Evidenz im Bewusstsein, ist nur noch eine begrenzte und bestimmte Form des Entbergens — der genannten aletheia (griechisch für Wahrheit). Die aletheia versteht sich dagegen als das ursprünglichste „Ent-bergen“ bzw. als Offenbarung des Seins, welches das Seiende in seiner Ganzheit bestimmt. Einfacher gesagt: Das philosophische Wissen, welches keine anderen Voraussetzungen zu haben glaubt, erweist sich noch als durch etwas anderes bestimmt. Der Sinn des Seins liegt im Verstehen, das im Vergleich zur Vernunft nicht bewusst, nicht objektivierend ist. Dieses Verstehen ist radikal zeitlich zu verstehen: Die Gegenwart besitzt kein Privileg mehr im Kontext der Geschichte, und Vergangenheit und Zukunft bieten sich als eigenständige Formen und nicht als Modifikationen jener absoluten Gegenwart an. Heideggers Absicht, das Entbergen des Seins „als Sein“ als Zugang zum Ursprünglichen zu vollziehen, ist deutlich von der Phänomenologie geprägt. Schon in seinen ersten Vorlesungen wurde klar, dass er die Phänomenologie für richtig, jedoch unzureichend hielt. In den frühen Vorlesungen Die Grundprobleme der Phänomenologie (1919-1920) behauptet er: „[…] es müßte […] feststehen, daß die phänomenologische Forschung heute das Zentrum der philosophischen Problematik gewonnen und aus deren Möglichkeiten ihr eigenes Wesen bestimmt hat. Das ist aber […] nicht der Fall“, man könne sogar sagen, „daß die phänomenologische Forschung, in ihrer Grundtendenz begriffen, nichts anderes darstellen kann als das ausdrückliche und radikalere Verständnis der Idee der wissenschaftlichen Philosophie, wie sie in ihrer Verwirklichung seit der Antike bis zu Hegel […] angestrebt wurde“.187 Die Phänomenologie ist für Heidegger keine Philosophie stricto sensu. Sie will eher eine „philosophische Vorwissenschaft [sein], die [der] […] Logik, Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie den Boden bereitet“, wobei sie damit „den traditionellen Bestand der philosophischen Disziplinen“188 übernimmt. Diese Situation der Phänomenologie ergibt sich laut Heidegger daraus, dass sie ihrem Wesen nicht gewachsen ist. Heidegger sagt in dieser Epoche seines Denkens: „Wir behaupten nun: Das Sein ist das echte und einzige Thema der Philosophie“189; aber fügt folgendes hinzu: was aber „Wenn Sein der verwickelste und dunkelste Begriff wäre? Wenn das Sein auf den Begriff zu bringen die dringlichste und immer wieder neu zu ergreifende

187 188 189

(Heidegger & Hermann, 2005, S. 3). (Ebenda, S. 3). (Ebenda, S. 15).

Das Ende der Philosohie und der Anfang der Zeit

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Aufgabe der Philosophie wäre?“190 Noch 40 Jahre später — im oben zitierten Aufsatz: Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens (1964) — hält er an der Frage nach dem Sein fest. Dh das Verständnis der Wahrheit als aletheia verschleiert ihren phänomenologischen Hintergrund nicht. Derrida erkennt diese Filiation an, in dem Heidegger auf die Metaphorik des Lichts (im Sinne von Zur-Anwesenheit-Kommen) beharrt.191 Wenn Phänomenologie bedeutet, das Ursprüngliche zum Ausdruck zu bringen, dann hat Heidegger den Begriff der Phänomenologie nur radikalisiert und gegen seine eigene Voraussetzung (die Bewusstseinsphilosophie) gerichtet. Die Bewusstseinsphilosophie thematisiert das Sein als Seiendes, das heißt, als etwas rein Gegenwärtiges — für das Bewusstsein, welches sich durch eine kontinuierliche (selbst)-Synthese, also Identität, kennzeichnet. Die Bewusstseinsphilosophie versteht sich bei Husserl als Wissenschaft. Aber für Heidegger ist die Frage nach dem Sein den Wissenschaften nicht zugänglich. Denn diese denken das Sein als Gegenwart, während das Sein eine Struktur von zeitlicher selbstVerhüllung ausweist. Heidegger beschreibt diese Struktur durch seine Lektüre Anaximanders: „Das Sein entzieht sich, indem es sich in das Seiende entbirgt“192, d.h., das Entbergen des Seienden verbirgt das Sein als solches. Die Wissenschaften — d.h., die wissenschaftliche Betrachtung — verbergen die Frage nach dem Sein. Heidegger fragt sich: „Was durchzieht im Grunde überall das Anwesende?“ und antwortet: „de[r] Grundzug des Anwesenden [ist]: ἡ ἀδικία […]“; Heidegger liest Anaximander, als behauptete dieser: „das Anwesende sei in der ἀδικία, d. h. aus der Fuge“.193 Der Ausdruck „aus der Fuge“ bedeutet, dass die Gegenwart selbst eine komplexe Struktur von Anwesenheit und Abwesenheit besitze. Heidegger erklärt: „Das Anwesende ist als das Anwesende, das es ist, aus der Fuge“; nun ist „Das Anwesende […] das je Weilige“, und „Die Weile west als die übergängliche Ankunft in den Weggang“194, als „Die Weile […] zwischen Hervorkommen und Hinweggehen“; also schließt Heidegger: „In dieses Zwischen ist das Je-Wellige gefügt. Dieses Zwischen ist die Fuge, der gemäß von Herkunft her zu Weggang hin das Weilende je gefügt ist“.195 Mit anderen Worten: Das Seiende entsteht in einer Struktur von Hervorkommen und Hinweggehen durch einen Bruch in der Gegenwart selbst. Die Wissenschaften 190 191

192 193 194 195

(Ebenda, S. 19). Derrida in Les fins de l’homme : „[…] si Heidegger a radicalement déconstruit l'autorité du présent sur la métaphysique, c'est pour nous conduire à penser la présence du présent. Mais la pensée de cette présence ne fait que métaphoriser, par une nécessité profonde et à laquelle on n'échappe pas par une simple décision, le langage qu'elle déconstruit. C'est ainsi que la prévalence accordée à la métaphore phénoménologique, à toutes les variétés du phainesthai, de la brillance, de l'éclairement, de la clairière, de la Lichtung, etc., ouvre sur l'espace de la présence et la présence de l'espace, compris dans l'opposition du proche et du lointain. De même que le privilège reconnu non seulement au langage, mais au langage parlé (voix, écoute, etc.) consonne avec le motif de la présence comme présence à soi [wie in der husserlschen Phänomenologie. A.R.]“ (Derrida, 1972b, S. 157–159). (Heidegger, 2003b, S. 337). (Ebenda, S. 354). (Ebenda). (Ebenda, S. 354–355).

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Das Ende der Philosophie und die Phänomenologie

würden, so Heidegger, von einer kontinuierlichen, bruchlosen Gegenwart ausgehen; denn sie beschäftigen sich mit fertigen Objekten und nicht mit dem zeitlichen Charakter alles Anwesenden. Diesen Behauptungen werden wir weiter unten nachgehen. Es genüge hier einfach der Hinweis darauf, dass das Sein sich auf einen Übergang bezieht, das heißt, nicht nur auf die Anwesenheit, sondern auf das zur Anwesenheit Kommen und damit auch auf das Herkommen und Hingehen, das Vergangene und das Zukünftige. Da aber Zukunft und Vergangenheit keine Struktur des anwesenden Seienden aufzeigen, sondern die Struktur des Anwesenden im Allgemeinen, sind sie keine Modifikationen der Gegenwart. Diese Struktur der Zeit führt dazu, dass die Gegenwart aus den Fugen gerät, dass sie zur ἀδικία, Ungerechtigkeit, wird. Ungerechtigkeit hat hier keine moralische oder politische Bedeutung. Heidegger meint eher den Bruch, das Zerlegen der Zeit selbst. Die Wissenschaften und die Philosophie als Wissenschaft der Wissenschaften, soweit sie der Gegenwart verpflichtet sind, hätten laut Heidegger keinen Zugang zu dieser ursprünglichen Lage. Eine quasi-transzendentale Zeit ist hier der Schlüssel für das Verständnis einer Frage nach dem Sein im Sinne von Fug und Un-Fug, also inmitten eines konstanten Zur-Anwesenheit-Kommens und Von-Ihr-Weggehens. Wie soll man diese Ungerechtigkeit oder diesen Bruch in der Gegenwart verstehen? Derrida erweitert Heideggers Denken in diesem Sinne, wenn er diese ἀδικία neu interpretiert. Er beschreibt diese gespaltete Anwesenheit als „Un maintenant disjoint ou désajusté, « out of joint », un maintenant désajointé qui risque toujours de ne rien maintenir ensemble dans la conjonction assurée de quelque contexte dont les bords seraient encore déterminables“.196 Seit der frühen Einführung Derridas zu Husserls Ursprung der Geometrie197 lässt sich dieser Gedanke erkennen. Die Zeit ist grundsätzlich „out of joint“ und daher ist „Le retard […] l’absolu philosophique“.198 Die Philosophie endet, so scheint es, wenn die Zeit als Kategorie verabsolutisiert wird. Derrida erkennt diesen absoluten Charakter der Zeit bei Husserl, wobei aber der letztere diese Entdeckung nicht weiter verfolgt hätte. Absolut ist für Derrida die Verzögerung des phänomenologischen Subjekts in Bezug auf sich selbst, d.h., die Anwesenheit alles Seienden im Bewusstsein schließt das Subjekt selbst aus. Derrida interpretiert die Phänomenologie Husserls als die Entdeckung einer radikalen „subjectivité transcendantale absolue comme pure temporalité passive-active, comme pure auto-temporalisation du Présent Vivant, c’est-à-dire […] comme intersubjectivité […] discursive et dialectique du Temps avec lui-même en l’infinie multiplicité et l’infinie implication de ses origines absolues“199; wobei diese „implication“ eben Temporalisierung heißt, als die „impossibilité se 196

(Derrida, 1993b, S. 21). (Husserl und Derrida, 1995). (Ebenda, S. 170). Siehe Fußnote 51. 199 (Ebenda, S. 170). 197 198

Die Reduktion der Philosophie

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reposer dans la maintenance simple d’un Présent Vivant [...] l’impuissance à s’enfermer dans l’indivision innocente de l’Absolu originaire“, und „cette impuissance et cette impossibilité se donnent en une conscience originaire et pure de la Différence“, deswegen folgt: „Transcendantale serait la Différence“.200 Mit anderen Worten: Das Subjekt bzw. das Bewusstsein und mithin die Wissenschaften sind ein zeitliches Produkt, eine Ablagerung von Zeiten, welche sich nicht im Wissen sammeln lassen. Philosophie heißt dann so viel wie Denken der Anwesenheit. Jenseits der Philosophie stünde hingegen ein Denken der Differenz. Später in seinem Werk nennt Derrida diese ursprüngliche Differenz, différance.201

3.2 Die Reduktion der Philosophie Mit dem Titel dieses Abschnitts meine ich die Anwendung der phänomenologischen Reduktion auf die Philosophie. Ich erläutere die Bedeutung der Reduktion erst im Husserl gewidmeten Kapitel. Für den Moment kann man sagen, dass die Reduktion in einem Verfahren besteht, in dem das Begründete auf das Grundlegende gebracht wird. Das Resultat ist, dass das, was für die letzte Instanz des Wissens gehalten worden war, auf eine noch tiefere Ebene zurückgeführt (=reduziert) wird. Die Reduktion der Philosophie bedeutet dementsprechend ihre Zurückführung auf eine noch ursprünglichere Ebene. Diese Zurückführung gilt dann als eine Begrenzung des philosophischen Anspruchs auf Absolutheit. Derrida behauptet, wie Heidegger, dass die Philosophie nun ihre endgültigen Grenzen zeige und, dass sich damit auch erst eine neues Denken ankundige: „La différance est non seulement irréductible à toute réappropriation ontologique ou théologique — onto-théologique — mais, ouvrant même l’espace dans lequel l’onto-théologie — la philosophie — produit son système et son histoire, elle la comprend, l’inscrit et l’excède sans retour“.202 Die différance wäre demnach kein Thema mehr für die Philosophie, sondern für eine besondere „Wissenschaft“, die Grammatologie. Aber diese Wissenschaft ist keine Wissenschaft mehr, denn alle Wissenschaften gehören zu der nun für abgeleitet gehaltenen Philosophie, weil alle Wissenschaften die Philosophie de facto voraussetzen. Und da ein Objekt unbedingt zum Verständnis der Wissenscahaften gehört, muss man Folgendes zusammenfassen: Die différance ist das Nicht-Objekt einer Nicht-Wissenschaft — der Grammatologie: […] la science de l’écriture — la grammatologie — donne les signes de sa libération à travers le monde grâce à des efforts décisifs. […] Nous voudrions surtout suggérer que, si nécessaire et si féconde qu’en soit l’entreprise, et même si […] elle surmontait tous les obstacles techniques et épistémologiques, toutes les entraves théologiques et métaphysiques qui l’ont limitée jusqu’ici, une telle science de l’écriture risque de ne jamais voir le jour comme 200 201 202

(Ebenda, S. 171). Siehe den Aufsatz La Différance. In: (Derrida, 1972b). (Ebenda, S. 6).

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Das Ende der Philosophie und die Phänomenologie

telle et sous ce nom. De ne pouvoir jamais définir l’unité de son projet et de son objet. De ne pouvoir écrire le discours de sa méthode ni décrire les limites de son champ. Pour des raisons essentielles : l’unité de tout ce qui se laisse viser aujourd’hui à travers les concepts les plus divers de la science et de l’écriture est au principe, plus ou moins secrètement mais toujours, déterminée par une époque historico-métaphysique dont nous ne faisons qu’entrevoir la clôture. Nous ne disons pas la fin.203

Man könnte auch sagen: Der Nachfolger der Philosophie ist die Grammatologie. Die letztere aber ist eine unmögliche Wissenschaft, sie ist nicht nur paradox, sondern, sie gefährdet sogar die Idee von Wissenschaft. Sie ist ein unmögliches Projekt vor allem deswegen, weil sie sich zur Aufgabe macht, eine niemals anwesende Vergangenheit und eine immer zu kommende Zukunft zu denken. Diese quasi-Wissenschaft als „Transcendantale[,] serait la certitude pure d’une Pensée qui, ne pouvant attendre vers le Telos qui s’annonce déjà qu’en avançant sur l’Origine qui indéfiniment se réserve, n’a jamais dû apprendre qu’elle serait toujours à venir“.204 Die Grammatologie ist immerzu im Kommen begriffen, und sie hat seit jeher angefangen. Das Ende der Philosophie heißt dann nicht ihr Aufhören, sondern ihre Schließung — clôture —, ihre Vollendung-Erschöpfung, wie Heidegger im Aufsatz das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens sagt.205 Anzumerken ist, dass sich die Philosophie trotz ihres unzureichenden Charakters als völlig notwendig zeigt.206 Der Nachfolger der Philosophie ist keine Philosophie mehr: Dies bedeutet vor allem, dass sie keine Wissenschaft mehr sein kann. Welche Rolle spielt also die Wissenschaft in der Philosophie, so dass Heidegger und Derrida sie zu ihrem Gegenpol machen? Warum verhält es sich so, dass für beide das Andere der Philosophie keinen Platz in der Wissenschaft mehr haben kann? Warum soll das nach der Philosophie Kommende eben die Philosophie Umfassen sowie deren Möglichkeitsbedingung - und nicht einfach anders sein? Warum will diese NichtWissenschaft oder Nicht-Philosophie, also das Denken nach dem Ende der Philosophie ursprünglich sein, das heißt: Warum will es so ein entscheidendes Vokabular der Phänomenologie — und vor allen ihre philosophisch grundlegende Unterscheidung GrundBegründet — behalten? Weil das Denken des Endes nicht auf die transzendentale Funktion des Prinzips verzichtet. Es liegt nahe, dass eine Radikalisierung des Transzendentalismus seinen klassischen Begriff infrage stellt, aber ihn zugleich erweitert bzw. verschiebt. 203 204 205

206

(Derrida, 1967a, S. 13–14). (Husserl und Derrida, 1995, S. 171). Heidegger: „[M]eint die Rede vom Ende der Philosophie? Zu leicht verstehen wir das Ende von etwas im negativen Sinn als das bloße Aufhören, als das Ausbleiben eines Fortgangs, wenn nicht gar als Verfall und Unvermögen. Dem entgegen bedeutet die Rede vorn Ende der Philosophie die Vollendung der Metaphysik. Indes meint Vollendung nicht Vollkommenheit, demzufolge die Philosophie mit ihrem Ende die höchste Vollkommenheit erreicht haben müßte. Uns fehlt nicht nur jeder Maßstab, der es erlaubte, die Vollkommenheit einer Epoche der Metaphysik gegen eine andere abzuschätzen. Es besteht überhaupt kein Recht, in dieser Weise zu schätzen. Platons Denken ist nicht vollkommener als das des Parmenides. Hegels Philosophie ist nicht vollkommener als diejenige Kants. Jede Epoche der Philosophie hat ihre eigene Notwendigkeit“ (Heidegger und Hermann 2007, S. 70). Also dass: „[…] une époque historico-métaphysique doit déterminer enfin comme langage la totalité de son horizon problématique“ (Derrida, 1967a, S. 15).

Die Reduktion der Philosophie

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Husserl versteht seine Phänomenologie als eine Wissenschaft der Wissenschaft. Demzufolge sind Heideggers und Derridas Positionen gegenüber der Phänomenologie zweifach: Sie implizieren einerseits eine neue Vollendung von Metaphysik — Hegel gilt als der erste Vollender. Anderseits aber legt die Phänomenologie die Basis für eine radikale Infragestellung der ganzen philosophischen Tradition — Idealismus und Empirismus inbegriffen — und zwar durch eine systematische Reduktion des Gegebenen auf die konstituierenden Schichten: zunächst auf das Ego (=Ich), danach auf das Sein, schließlich auf die différance. Die différance als Quasi-Begriff bestätigt und radikalisiert die phänomenologische Reduktion als Verfahren, um das Gegebene mit Hinblick auf die schlechthin konstituierende „Region“207 abzubauen. Derrida: Cette altérité de l’origine absolue apparaissant structuralement dans mon Présent Vivant [d.h., die différance, A.R.] et ne pouvant apparaître et être reconnue que dans l’originalité de quelque chose comme mon Présent Vivant, cela signifie l’authenticité du retard et de la limitation phénoménologiques. Sous la grise apparence d’une technique, la Réduction n’est que la pensée pure de ce retard, la pensée pure en tant qu’elle prend conscience de soi comme retard en une philosophie.208

Man assoziiert Derrida mit dem Terminus Dekonstruktion. Das Wort Dekonstruktion ist eine Übersetzung der heideggerschen Destruktion209. Dé-construction verweist auf das Präfix „dé“ — aus dem Lateinischen dis- bedeutend: „auseinander“ oder „in eine andere Richtung“ — und die Wurzel „construct-“, welche mit dem Verb construere gemacht wird. Construere besteht aus dem Präfix con — mit, zusammen — und dem Verb struere — anhäufen, bauen. Mit dem Verb Struere baut man auch das Wort Struktur. Déconstruction heißt also eine Struktur auseinandersetzen oder abbauen. Heidegger verwendet den Begriff Destruktion nicht nur in seinem Werk Sein und Zeit. Auch in seinen letzten Seminaren hält er an dem Begriff fest. Er sollte dann gelesen werden als destruere bzw. Ab-bauen der sedimentierten Strukturen, die den Sinn des Seins verhüllen210. Eugen Fink sagt in seiner 6. Cartesianischen Meditation211 (welche 207

208 209

210

211

Husserl unterscheidet in seiner Phänomenologie zwischen verschiedenen Regionen des Seins, welche verschiedene Bereiche der phänomenologischen Forschung ausmachen. Husserl spricht von Regionen als bestimmten Gattungen des Seins. In Ideen schreibt er: „Jede konkrete empirische Gegenständlichkeit ordnet sich mit ihrem materialen Wesen einer obersten materialen Gattung, einer »Region« von empirischen Gegenständen ein. Dem reinen regionalen Wesen entspricht dann eine regionale eidetische Wissenschaft oder, wie wir auch sagen können, eine regionale Ontologie. [...] Demnach wird also jede lieh dem Umfange einer Region einordnende empirische Wissenschaft, wie auf die formalen, so auf die regionalen ontologischen Disziplinen wesentlich bezogen sein. […] Jede Tatsachenwaffenschaft (Erfahrungswaffenschaft) hat wesentliche theoretische Fundamente in eidetischen Ontologien“ (Husserl, 1913, S. 19). (Husserl und Derrida, 1995, S. 170). In Lettre à un ami japonais: „Entre autres choses, je souhaitais traduire et adapter à mon propos les mots heideggeriens de Destruktion ou de Abbau. Tous les deux signifiaient dans ce contexte une opération portant sur la structure ou l’architecture traditionnelle des concepts fondateurs de l’ontologie ou de la métaphysique occidentale“ (Derrida, 1987, S. 388). Heidegger verrät in einem der Seminare in Le Thor „de(n) eigentliche(n) Name(n) der befolgten Methode […]: die »Destruktion«, — die streng als de-struere, >Ab-bauen< und nicht als Verwüsten verstanden werden muß. Was aber wird abgebaut? Antwort: was den Sinn von Sein verdeckt, die übereinander angesammelten Strukturen, die den Sinn von Sein unkenntlich machen. Ferner trachtet die Destruktion danach, den anfänglichen Sinn von Sein freizulegen. Dieser anfängliche Sinn ist die Anwesenheit. Dieser Sinn durchherrscht alles griechische Verstehen des Seins, ohne daß es darum weiß“ (Heidegger 2005, S. 337). (Fink, 1988).

118

Das Ende der Philosophie und die Phänomenologie

Husserls Cartesianischen Meditationen hinzugefügt werden sollte) über die Reduktion: „Die Welt und das Seiende in ihr [in der Philosophie] aus seinen letzten transzendentalen Ursprüngen in der konstituierenden Subjektivität zu begreifen, ist nichts anderes als die Durchführung der phänomenologischen Reduktion“.212 Fink zufolge heißt die Reduktion eine „konstitutive Rückfrage in das in den aktuellen Habitualitäten implizierte sedimentierte leistende Leben“213, d.h., eine geistige Tätigkeit, in der das denkende Subjekt sich von seinem alltäglichen bewussten Leben trennt und sich durch eine methodische Frage zu einer transzendentalen Subjektivität erhebt. Die transzendentale und daher originäre Subjektivität ist ein zuerst anonymes Leben vor jeder bewussten und objektivierenden Leistung: „Die transzendentale Reflexion impliziert „kein etwa schon vorbestehendes Sichselbstwissen des transzendentalen Ich, sondern eröffnet und erschließt dieses transzendentale Ichleben allererst, hebt es aus einer Verborgenheit und ‚Anonymität’, die so alt ist wie die Welt“; wobei Anonymität „ein transzendentaler Begriff“ ist, der jene Weise „bezeichnet [...] in der die transzendentale Weltkonstitution verlaufen ist, eben im Modus der Selbstverschlossenheit und Selbstvergessenheit, im transzendentalen Modus: natürliche Einstellung“.214 Wenn Derrida die Philosophie als eine Art Geschlossenheit und Naivität präsentiert, lässt sich erkennen, dass er die Philosophie selbst reduzieren will. Die Reduktion im radikalen Sinne begrenzt sich weder auf das bewusste Ich noch auf seinen Erlebnisstrom, wie Husserl das zeitliche Bewusstsein charakterisiert. Reduktion heißt auch nicht die Gewinnung eines festen und im Voraus gegebenen Ego, sondern eben das „Zu sich selbst kommen“ des anonymen, konstituierenden, werdenden Lebens, das damit aus der Verborgenheit und Vergessenheit hervorkommt. Dieses ständige „Zu sich selbst kommen“ der phänomenologischen Subjektivität interpretiert Derrida, wie oben erwähnt, als jene autotemporalisation du présent vivant. Es ist mittels einer radikalisierten Reduktion, dass Derrida folgend die Phänomenologie ihre Stärke und ihre Grenzen zeigt. Ich möchte unterstreichen, dass dabei noch nicht entschieden ist, ob diese Reduktion tatsächlich eine neue Ebene der Subjektivität bzw. Vorsubjektivität enthüllt, oder ob sie ein leeres Verfahren ist, welche immer wieder auf jede neue phänomenologisch entdeckte Ebene oder „Region“, wie Husserl sich ausdrückte, angewandt werden kann. Die Destruktion der Geschichte der Metaphysik und der Philosophie kann sich als das Abbauen dessen verstehen, was die radikale und ursprüngliche Zeit verhüllt und damit vermeidet, dass das schlechthin Originäre gedacht wird. Diese Verhüllung gilt auch als Hindernis der Philosophie, ihren eigenen bedingten Ursprung zu erkennen. Die Destruktion und die Dekonstruktion sind mit der Reduktion eng verbunden, beide sind im Sinne einer Rückfrage zu verstehen, d.h., im Sinne einer Frage, die vom Anwesenden 212 213 214

(Ebenda, S. 4). (Ebenda, S. 6). (Ebenda, S. 15).

Reduktion und psychoanalytische Deutung

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ausgehend durch eine Zurückführung die letzten Bedingungen des Seienden sucht. Reduktion bedeutet nun „re-ducere“, also zurück-bringen; aber wohin? An den Anfang. Die Reduktion übernimmt Husserl von Descartes’ Meditationes215. So wie Descartes dem Wissen einen durch Gewissheit gesicherten Boden verleihen sollte, so will auch Husserl die ganze Wissenschaft auf das Ego gründen. Dafür bedient er sich der phänomenologischen Reduktion. Heidegger und Derrida verfolgen ein ganz anderes Ziel und verwenden jedoch auch eine gewisse Form von Reduktion. Als es gesagt wurde, dass die unsrige eine Epoche von Enden sei, wurden Freud und seine Psychoanalyse erwähnt. Diese interessierte Heidegger kaum. Ganz anders Derrida, der nicht nur Husserl, sondern auch Heidegger und die ganze philosophische Tradition durch die Augen der Psychoanalyse versteht. Phänomenologie, Hermeneutik und Psychoanalyse sind nicht weit voneinander entfernt. Die Phänomenologie bedeutet Ana-lyse, also den Abbau von Strukturen. Destruktion und Dekonstruktion sind in diesem Sinne Analysen, Auseinanderbringen. Derridas Verwendung der Psychoanalyse richtet sich nach ihrem analytischen Charakter.

3.3 Reduktion und psychoanalytische Deutung In welchem Zusammenhang stehen nun Destruktion und Analyse? Unter Analyse versteht man herkömmlicherweise etwas zergliedern, damit man die Bestandteile gewinnt. Analyse stammt eigentlich aus lysis — Auflösung — und dem Präfix ana — hinauf. Sie bedeutet allgemein lösen (wie ein Problem) so viel wie auflösen (wie ein Körper auf seine Bestandteile). Im erweiterten Sinne kann man darunter „freilegen“ verstehen. Das griechische Verb ἀναλύω bedeutet auch „rückgängig machen“, wie Penelope, die ein Totentuch webte, um es nachts wieder aufzutrennen. Freud versteht das Verfahren seiner Psychoanalyse (die „Analyse“) als Deutung. Die Traumdeutung oder Analyse der Träume bedient sich einer „Technik [,welche] mit der psychoanalytischen zusammenfällt“216. Diese Technik besteht aus einer Zurückführung des Manifesten in den latenten Inhalt des Traumes, vom bewussten Leben des Ich ins unbewusste – d.h. anonyme – Leben, von den sinnlosen Vorstellungen des Traumes in die paradoxe Wunscherfüllung.217 Es geht dabei nicht um eine endgültige „Entzifferung“ des Unbewussten, 215 216 217

Wir werden dies unten ausführlich besprechen. Der Bezug sind die Cartesianische Meditationen, wo Husserl explizit die Reduktion mit Descartes methodischem Zweifel vergleicht. Siehe (Husserl, 1992a). (Freud, 1910, S. 35). Freud in seinen Fünf Vorlesungen: „Sie sehen von dem scheinbaren Zusammenhang der Elemente im manifesten Traum ganz ab und suchen sich die Einfälle zusammen, die sich bei freier Assoziation nach der psychoanalytischen Arbeitsregel zu jedem einzelnen Traumelement ergeben. Aus diesem Material erraten Sie die latenten Traumgedanken ganz so, wie Sie aus den Einfällen des Kranken zu seinen Symptomen und Erinnerungen seine versteckten Komplexe erraten haben. An den so gefundenen latenten Traumgedanken ersehen Sie ohne weiteres, wie vollberechtigt die Rückführung der Träume Erwachsener auf die Kinderträume ist. Was sich jetzt als der eigentliche Sinn des Traumes dem manifesten Trauminhalt substituiert, das ist immer klar verständlich, knüpft an die Lebenseindrücke des Vortages an, erweist sich als eine Erfüllung unbefriedigter Wünsche. Den manifesten Traum, den Sie aus der Erinnerung beim Erwachen kennen, können

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Das Ende der Philosophie und die Phänomenologie

sondern um einen Prozess von formaler Umschreibung. Der latente und der manifeste Inhalt sind nur „in différance“. Derrida denkt eben die psychoanalytische Psyché als eine Art différance: „Les deux valeurs apparemment différentes de la différance se nouent dans la théorie freudienne: le différer comme discernabilité, distinction, écart, diastème, espacement, et le différer comme détour, délai, réserve, temporisation“.218 Freud macht die Struktur der Psyché durch die Deutung zugänglich. Es ist die Interpretation, die den doppelten Charakter (bewusst-unbewusst) der Subjektivität verständlich macht. Und so wie Freud die Fehlleistungen und die Träume als Durchbrüche des Unbewussten ins Bewusstsein interpretiert, so will Derrida den Moment, in dem „problème du langage [...] envahi comme tel l’horizon mondial des recherches les plus diverses“ als „un symptôme“219 der Metaphysik lesen. Derrida hätte sagen können: Die Metaphysik hat nur die Differenz verschieden verdrängt, es geht darum, die Differenz als solche, als différance zu denken. Die Philosophie, sowie „Les sciences positives et classiques de l’écriture ne peuvent que réprimer ce type de question“.220 Freud sagt, Fechner folgend, dass „der Schauplatz der Träume ein anderer ist als der des wachen Vorstellungslebens“.221 Über die Philosophie, welche sich mit dem Bewusstsein beschäftigt, sagt Derrida: „Il fallait que sa propre limite ne lui restât pas étrangère. Il s’en est donc approprié le concept, il a cru dominer la marge de son volume et penser son autre. La philosophie a toujours tenu à cela : penser son autre“.222 Ihr Anderes denken bedeutet aber es zu beherrschen und in das bewusste Leben zu integrieren. Die Randgänge jenseits des „philosophischen Bandes“ sind jener andere Schauplatz, auf den das kommende Denken seinen Blick richten soll. Freud wollte sich nicht vom wissenschaftlichen Bestreben trennen. Die Psychoanalyse wurde immer als eine Wissenschaft gedacht. Es ist aber dieses Subjekt der Wissenschaft, welches durch die Psychoanalyse infrage gestellt — nicht negiert, sondern problematisiert — wird. Diese Paradoxie der Psychoanalyse spiegelt nur eine Spaltung des Subjekts wider, in der die Einwände gegen die Psychoanalyse als Wissenschaft eben die Kraft der Psychoanalyse ausmachen.

3.4 Die Reduktion und das Nichts Trotz der Unterschiede ist Heidegger, Derrida und der Psychoanalyse Freuds eine Art Technik der Zurückführung gemeinsam. Das heißt, sie sind „strukturelle-historische“223 Verfahren. Auf 218 219 220 221 222 223

Sie dann nur beschreiben als eine verkappte Erfüllung verdrängter Wünsche“ (Ebenda, S. 35–36). (Derrida, 1972b, S. 19). (Derrida, 1967a, S. 15). (Ebenda, S. 43). (Freud, 1925, S. 52). (Derrida, 1972b, S. I). Die Rückfrage ist sowohl begrifflich als auch historisch gedacht. Die erste Rückfrage wird von Husserls

Die Reduktion und das Nichts

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dem Spiel steht also die Konstitution nicht nur der Welt oder ihres Sinns, sondern des Subjekts selbst. Es geht also um die Temporalisierung der Subjektivität als ihre eigne unbewusste (passive) Konstitution, bei der das (bewusste) Subjekt zum Prozess seines eigenen Ursprungs sozusagen immer zu spät kommt. Das Bewusstsein zeigt sich als Ort einer Entstellung, welche eine Art Reduktion-Destruktion-Analyse verlangt. Die Reduktion ist im engen Sinne nur noch innerhalb eines intentionalen Bewusstseins möglich. Die Destruktion ist dagegen ein historisch-systematisches Verfahren, um die Schichten des Geschichteten — des Sedimentierten —, das den vergessenen Anfang verhüllte, abzubauen. Die Analyse ist bei der Psychoanalyse eine Deutung des Symptoms, um die Willenserfüllung zu Wort kommen zu lassen. Doch ist allen der Gedanke gemeinsam, dass das Bewusstsein auf etwas anderes, also auf das, woraus es entsteht, zurückgeführt werden muss. Aber wozu? Es gibt eine Grundfrage und eine praktische Frage. Das Bewusstsein präsentiert sich auf zweierlei Weise: Einerseits als Ort einer Insuffizienz oder einer Nicht-Ursprünglichkeit: Das Bewusstsein ist nicht die letzte Instanz, aus der die Welt produziert wird; aber anderseits gilt es als Ort eines Schmerzes oder eines Unbehagens. Die Psychoanalyse ist sowohl ein Diskurs über das Unbewusste als auch eine klinische Methode. Das Klinische spielt bei der phänomenologischen (Husserl) und der hermeneutischen Tradition (Heidegger) die Rolle einer Warnung der Menschheit, die ihren wahren Boden vergessen hat. Aber auch Derrida wirft der Philosophie vor, die Differenz verdrängt zu haben. Beim Denken des Endes gilt: Das Bewusstsein als Gegenwart spricht ihre Insuffizienz aus, weist damit aber auf etwas Vergangenes und etwas Kommendes hin. Das Vergangene ist „Ur-vergangen“, es war niemals anwesend und kann daher niemals zum Bewusstsein kommen. Das Kommende ist auch wesentlich von einer Verwirklichung, z.B. des Potentiellen oder des Versprochenen, verschieden. Ganz im Gegenteil, das Bewusstsein zeigt „fertige Produkte“ nicht bewusster Vorgänge, welche auf den Prozess ihrer Konstitution zurückgeführt werden müssen, damit sich die Möglichkeit etwas Anderen, also die Möglichkeit des Ankommens des Anderen überhaupt, eröffnen kann. Alles Konstituierte wird als Geschlossenheit gedeutet, nicht als Wirklichkeit, sondern eben als clôture. Weil die bewussten Vorgänge nicht nur nicht-originär sind, sondern auch eine Entstellung mit sich bringen, bieten sie Wirklichkeit an. Die Rückführung des Bewussten auf das Unbewusste weist auf das rein Potentielle hin, auf jene Region, in der andere Prozesse stattfinden, welche nicht mehr streng wissenschaftlich, also im Element der Evidenz, verstanden werden können. Es ist, als handele es sich um einen Schritt zurück in jene Richtung, wo die Entscheidung, die zu dieser Welt führte, noch nicht getroffen war. Es ist also, als wollte diese destruktive Rückfrage ein Weg in die Unentscheidbarkeit sein, damit das Wirkliche sich von seiner „Festigkeit“ befreien kann. Die Destruktion ist die praktisch-interpretierende Kraft gegen die sedimentierten Strukturen, die den Anfang oder die Paradoxien des Anfangs verdecken. statischer Phänomenologie vertreten; die zweite oder historische gehört in die dynamische Phänomenologie, zunächst als inneres Selbstbewusstsein und danach als Geschichte.

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Das Ende der Philosophie und die Phänomenologie

Anderseits wird nach dieser Destruktion behauptet, dass die reale Wirkung des Bewusstseins, des Logozentrismus oder der Metaphysik überhaupt nicht ursprünglich sei. Das Abgeleitete hat gegen seinen Ursprung „aufbegehrt“. Dieser andere paradoxe durch die Destruktion sichtbar gemachte Ursprung ist aber kein Anwesendes mehr; er ist kein Seiendes. Es kann nicht thematisiert oder objektiv betrachtet werden. Deswegen ist dieser Ursprung auch etwas Stummes und Leeres oder es ist etwas Grundloses für die Vernunft. Der Anfang ist hier kein Grund im klassischen Sinne, sondern er ist ein Abgrund zugleich, d.h., dass der Grund nichts Anwesendes, nichts Positives ist. Der in der Geschichte vergessene Boden ist eigentlich nichts, oder besser, das Nichts. Dieser andere und vermutlich ursprünglicherer Anfang zeigt sich einerseits als nicht hintergehbar, anderseits als ein Abgrund, der ins Uferlose, in einen Regress in die Unendlichkeit führt. Freuds Fehlleistungen ähnlich meldet sich das Andere in der Form eines Bruchs im bewussten Diskurs – durch einen Fehler oder einfach durch die Stille. Dieser Bruch führt uns in ein anderes Nichts, das Unbewusste, das nichts anderes ist als die paradoxe Struktur des Bewusstseins. An dieser Stelle lässt sich fragen: Ist das Nichts also ein Loch, ein Bruch im Wissen? Ein Wissen vom/im Bruch? Oder kann das Nichts selbst ein „Objekt“ des Denkens werden? Den Bezug auf das Nichts als ultimatives Resultat der Phänomenologie verdankt man Eugen Fink. Er spricht von einer Fortführung der Phänomenologie, also einer „Phänomenologie der Phänomenologie“ im Sinne einer „transzendentalen Methodenlehre“ als „meontische(r) Philosophie des absoluten Geistes“224, vom griechischen μή ὂν, nicht-sein.225 Für Fink – es wird später dargestellt werden – folgt aus den Grenzen der Phänomenologie eine Verdoppelung, als eine Phänomenologie der Phänomenologie oder philosophische Meontik. Diese Meontik, das heißt, diese Besinnung auf das Nichts ist für Heidegger dagegen das Tor zum Denken nach der Philosophie. Lacan interpretiert den freudschen Begriff Trieb im XI Seminar Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse226 auch im Sinne einer Meontik. Das Unbewusste zeichnet sich beim ersteren durch eine gewisse Kausalität aus. Die Begierde – désir – hat causa aber keinen Grund. Das Objekt der Begierde ist bei Lacan „[…] cet objet privilégié, découverte de l’analyse [...] dont 224 225

226

(Fink 1988, S. 183). Das Ziel der Triebe ist kein Objekt im Sinne vom Seienden – das Objekt der Begierde ist per definitionem verloren – sondern eine Bahn: „[…] penchons-nous sur ce terme de but, et sur les deux sens qu'il peut présenter. Pour les différender, j'ai choisi ici de les noter dans une langue où ils sont particulièrement expressifs, l'anglais Aim — quelqu'un que vous chargez d'une mission, ça ne veut pas dire ce qu'il doit rapporter, ça veut dire par que chemin il doit passer. The aim, c'est le trajet. [...]“, das um das Objekt als Leere umkreist: also „[…] cet objet, qui n'est en fait que la présence d'un creux, d'un vide, occupable, nous dit Freud, par n'importe quel objet, et dont nous ne connaissons l'instance que sous la forme de l'objet perdu petit a. L'objet petit a n'est pas l'origine de la pulsion orale. Il n'est pas introduit au titre de la primitive nourriture, il est introduit de ce fait qu'aucune nourriture ne satisfera jamais la pulsion orale, si ce n'est à contourner l'objet éternellement manquant“ (Lacan 1973, S. 163-4). Das ist: Die Leere wird selbst zum Objekt, das die Begierde verursacht, durch das Schaffen einer Topologie des Unbewussten. Die Verfolgung eines verlorenen Objekts offenbart eine Bahn, ein trajet, eine Topologie der Leere oder eine Meontik, mit der sich die Psychoanalyse beschäftigt. (Ebenda).

Die philosophische Wissenschaft und der Tod

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la réalité même est purement topologique, de cet objet dont la pulsion fait le tour, de cet objet qui fait bosse, [...] l’objet a“227: ein „objet «paradoxal», «unique»“.228 Also, sagt Lacan: […] il faut définir la cause inconsciente, ni comme un étant, ni comme un οὐκ ὂν, un non-étant, —comme le fait, je crois Henri Ey, un non-étant de la possibilité. Elle est un μή ὂν, de l’interdiction qui porte à l’être un étant malgré son non-avènement, elle est une fonction de l’impossible sur quoi se fonde une certitude.229

3.5 Die philosophische Wissenschaft und der Tod Heideggers und Derridas Ansätze kritisieren den wissenschaftlichen Anspruch der Phänomenologie und wollen auf ihren paradoxen Grund hinweisen. Die Leere oder das Nichts der Meontik, von der gesprochen wurde, bietet bei beiden Autoren noch eine zusätzliche Verbindung zum Tod. Nicht nur ist der Grund dem Tod ähnlich, sondern auch die Kraft der Methode, die Destruktion selbst. Anders gesagt: Die Methode (im Sinne von Weg des Denkens) vernichtet jedes mögliche Objekt, oder Methode und Objekt fallen zusammen, aber nur in und als Destruktion. Wenn Heidegger und Derrida die Wissenschaft kritisieren, darf man sich fragen, was dann am besten die Philosophie als Wissenschaft definiert. Es gehört zur wissenschaftlichen Selbstverständnis der Philosophie, alles Beständige und Konstituierte, also alles Vererbte infrage zu stellen, wenn keine Evidenz dafür vorliegt. Descartes ist in diesem Sinne exemplarisch, wie Husserl immer wieder betont. Es ist richtig, dass die Philosophie seit jeher die Frage nach einem ultimativen Grund immer wieder aufgeworfen hat, und dass das Ziel dieser Suche darin bestanden hat, ihr Außen endgültig bestimmen und damit reduzieren zu können. Aber damit hängt ein Trieb nach Reduktion und Destruktion des Beständigen ab. Sprach aber nicht Hegel von einer ungeheuren Kraft des Negativen, also der Reflexion? Eine Vorstellung in ihre ursprünglichen Elemente auseinanderlegen, ist das Zurückgehen zu ihren Momenten, die wenigstens nicht die Form der vorgefundenen Vorstellung haben, sondern das unmittelbare Eigentum des Selbsts ausmachen. Diese Analyse kommt zwar nur zu Gedanken, welche selbst bekannte, feste und ruhende Bestimmungen sind […] Die Tätigkeit des Scheidens […] die Kraft und Arbeit des Verstandes [...] der absoluten Macht […] [diese] ist die ungeheure Macht des Negativen [...] die Energie des Denkens, des reinen Ichs; [weiter sagt er, diese Macht sei das] Furchtbarste, und das Tote festzuhalten das, was die größte Kraft erfordert […] [Hegel konkludiert] Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes […] indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet […] [die Macht des Negativen ist nicht] als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgend etwas anderem übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt […] [letztendlich ist] Dieses Verweilen […] die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt. 227 228 229 230 231

230 231

(Ebenda, S. 232). (Ebenda, S. 241). (Ebenda, S. 117) (Hegel 2006, S. HW03:35-36). Eine Betrachtung der Negativität in allen Bereichen überschreitet die Grenzen dieser Arbeit. Trotzdem ist es entscheidend zu sehen, dass diese Negativität, die Hegel der Wissenschaft zuspricht, vor allem durch eine

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Das Ende der Philosophie und die Phänomenologie

Ist es nicht eben die „Kraft des Bewusstseins“, welche kein Seiendes, kein Ewiges bestehen lässt? Also ist es nicht die Wissenschaft durch die Reflexion, welche uns vom Seienden „befreit“ und uns einen gedanklichen „Zugang“ zum Tod und dem Nichts schafft? Ist die Reflexion nicht die immer das Seiende reduzierende Kraft, die Hegel eben darum mit dem Tod assoziierte? Descartes gilt als Ausgangspunkt für die Phänomenologie Husserls und als ausgezeichnete Figur des Skeptizismus, den Hegel mit der negativen Kraft der Reflexion verbindet. Descartes folgend, bringt Hegel diese Negativität mit dem Skeptizismus und diesen mit der Philosophie zusammen: Der Skeptizismus vollendete die Ansicht der Subjektivität alles Wissens und setzte allgemein an die Stelle des Seins im Wissen den Ausdruck des Scheinens. Die letzte Spitze ist der Skeptizismus: die Form des Seienden und des Wissens des Seienden wird ganz zunichte gemacht. Skeptizismus ist Philosophie, die jedoch nicht System genannt werden kann, noch sein will“; es ist dann die Aufgabe des „denkende[n] Skeptizismus […] von allem Bestimmten und Endlichen aufzuzeigen, daß es ein Wankendes ist [...] [denn] Von allen Vorstellungen vom Wahren kann die Endlichkeit aufgezeigt werden, da sie eine Negation, somit einen Widerspruch in sich enthalten. […] Die positive Philosophie kann über ihn dies Bewußtsein haben: sie hat das Negative des Skeptizismus in ihr selbst, er ist nicht ihr entgegengesetzt, nicht außer ihr, sondern ein Moment derselben [...].232

Wie ist die Wissenschaft Grund-legend oder Grund-vernichtend? Sie ist vielleicht beides. Sie ist Kritik an der Transzendenz der Welt und am Empirischen überhaupt mit Hinblick auf das Bestimmende, das nicht bestimmt werden kann, es ist das Unbedingte als Unendlichkeit oder Freiheit bzw. Befreiung.

3.6 Verfall und Heilung Warum überhaupt ein Denken nach der Philosophie? Gibt es überhaupt einen Grund dafür? Oder steht diese Frage vor jeder Rechtfertigung vor jedem praktischen Interesse? Warum „im Allgemeinen“ denken und nicht bloß in der Welt agieren? Philosophie und „Postphilosophie“ teilen einen Willen zum Ursprung, den Willen, das Gegebene zu reduzieren, und mithin das Neue als das ganz Andere hervorkommen zu lassen. Ist aber diese Frage bloß eine „Sache des Denkens“?

232

Produktionsweise im Sinne von Marx betrieben wird, dass sie sehr praktisch und voller konkreter Konsequenzen ist. Hegels Aussage über die Macht des Negativen ähneln z.B. Marx' Äußerungen zur revolutionären Macht der Bourgeoisie: „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen“ (Marx und Engels, 1972, S. 465). (Hegel 2006, S. HW19:358-9).

Verfall und Heilung

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Das Denken des Endes muss davon ausgehen, wie die Philosophie selbst, dass die Welt selbst nicht ist, was sie sein sollte oder könnte. Das Sollen und das Können sind die Tore zum Anderen durch einen Imperativ und durch die Möglichkeit. Das Sollen ist aber leer, wenn es nicht im Realen begründet ist. Und dieses Reale muss wiederum die Potenz besitzen, von sich selbst aus anders zu sein. Nun aber, wenn der Übergang vom Aktuellen in das Mögliche nur dem vom Potenziellen in das Aktuelle folgt, dann ist die Zukunft bereits entschieden. Eine Verwirklichung impliziert mutatis mutandis eine Aktualisierung des bereits Gegebenen. Vorausgesetzt wird dabei, dass es so etwas existiert, wie das Gegebene. Das ganz Andere vermutet also das ganz Identische. Das Denken des Endes müsste dann belegen, dass die Phänomenologie, vom der es ausgeht, zu einem widersprüchlichen und zur Geschlossenheit führenden Denken führt. Die Reduktion selbst geht davon aus, dass die Welt ein Gefängnis ist. Diese Behauptung ist nur dann haltbar, wenn wiederum vorausgesetzt wird, dass Welt = Bewusstsein sei. Der Wille, über die Welt hinaus zu gelangen, hätte keine Rechtfertigung, wenn die heutige Welt nicht mit einem Übel und einem Schmerz verbunden wäre. Aber die Reduktion findet nicht mehr auf der Ebene der Welt statt. Sicherlich verlässt niemals der reflektierende Phänomenologe die Welt, und doch ist seine Reflexion nicht mehr „anzuwenden“, denn sie bewegt sich in einer Region, in der das Empirische verschwunden ist. Dieser Gedankengang ist fundamental, denn das Denken des Endes verbindet die Geschichte der Metaphysik und seine Mündung in die Wissenschaften mit dem „Übel“ der Welt. Politik, Wirtschaft, Ökonomie, Technik, all dies lasse sich nach der Phänomenologie, aber auch nach dem Denken des Endes, aus einer noch ursprünglicheren Ebene des Denkens ableiten. Ein neuer Zugang zum paradoxen Anfang sollte eine Befreiung in dem Sinne ermöglichen, dass unser Raum von Möglichkeiten neu geschaffen wird. Es geht nicht um eine Verwirklichung, sondern um einen Schritt zurück in das Potenzielle (bzw. in die „Möglichkeitsbedingungen“), damit das uns heute Unmögliche in einer Weise spielt, dass sich unser Raum von tatsächlichen Möglichkeiten erweitert. Diese neuen Möglichkeiten sollten, einen neu zurückzulegenden Weg anbieten. Der heutige Weg, dem die Welt folgt, wäre dagegen Resultat einer quasi-transzendentalen Struktur, die nicht im Denken, sondern in der Sprache aufbewahrt ist und von ihr seine Kraft ausübt. Husserl spricht von einer Krise der Wissenschaften, Heidegger von einer Seinsvergessenheit und Derrida von Differenzvergessenheit, die als Ethnozentrismus verstanden werden soll. Im Hintergrund stehen selbstverständlich der Kapitalismus, der Krieg und der Kolonialismus. Die letzteren müssen aber nicht direkt diskutiert werden, weil sie als Resultate anderer Prozesse gelten. Ohne jede Wirkung aber wären sowohl Philosophie als auch Postphilosophie nutzlos. Wirkung heißt aber weder Nützlichkeit noch Anwendbarkeit. Die Frage ist nicht, ob die Philosophie ein „Werkzeug“ sei. Was jedoch implizit zu besprechen ist, ist das Verhältnis von Denken und Welt. Husserl ruft auf eine Erinnerung der von den Wissenschaften vergessenen Lebenswelt;

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Das Ende der Philosophie und die Phänomenologie

Heidegger richtet seine Erinnerung auf die Seinsgeschichte, Derrida stellt seine Dekonstruktion in den Dienst einer kommenden Gerechtigkeit. Nicht nur hat die Wissenschaft einen negativen (Skeptizismus) und einen positiven Weg (unbewusste-bewusste Produkte) zurückgelegt, sondern sie hat sich auch zwischen Reinheit und Anwendbarkeit bewegt - zwischen einer schrankenlosen Befragung (unbedingt) und einer immer mit Blick auf die Welt gerichteten Tätigkeit. Sie ist sowohl Entdeckung der Möglichkeitsbedingungen als auch Teleologie (Endzweck), Erinnerung und Verwirklichung. Aber Möglichkeitsbedingungen und Endzwecke sowie Erinnerung und Verwirklichung gehen über das Empirische hinaus und müssen daher den Weg zurück zu ihm rekonstruieren. Aber es lässt sich nun fragen, ob diese hierarchische Vorstellung, in der die Welt ein Endprodukt ist, nicht bereits einen Dualismus (Welt-konstituieren vs. Welt-konstituiert) angenommen hat. Es lässt sich fragen, ob diese Wiederholung des transzendentalen Ansatzes eben die Philosophie bestätigt, anstatt sie zu dekonstruieren. Es ist nicht zuletzt die Frage zu beantworten, ob Begriffe, wie die Welt oder natürliche Einstellung (wie Husserl sagt), nicht schon problematisch genug sind. Der Unterschied Welt-Weltkonstitution (das letzte Kriterium für eine phänomenologische Perspektive) stützt sich auf die Erfahrung, dass sowohl die alltägliche Welt als auch auf die meisten Begriffe der Wissenschaften mit der Grundbedingung rechnen, dass sie weder genau noch ewig sind. Aber was soll die Welt bedeuten? Gibt es eine rigorose Instanz des Seienden? Ist das Konstituierte immer „geschlossen“, als würde es an keinem „ontologischen“ Prozess teilnehmen? Dieses Zurückkehren zum Ursprünglichen, von dem die Rede beim Denken des Endes ist, bietet sich dann als Ort der Möglichkeit an und daher als Möglichkeit eines bestimmten Heilens überhaupt. Aber da das Gewesene (daher das Wortspiel von Hegel und Heidegger mit dem Wort Wesen als dem Ge-wesenen, dem schlechthin Vergangenen) eben Gewesenes ist, ist die Rückkehr zu ihm eine Wiederholung mit Hinblick auf das (heilende) Kommende. Mit anderen Worten: Die Möglichkeiten des Kommenden erfolgen aus der Wiederholung des Vergangenen. Das Mögliche wird aus der Vergangenheit herausgeholt. Dieser Blick in die Zukunft ist das einzige, das die Rückkehr rechtfertigt. Das gilt sowohl für Husserl als auch für Heidegger und Derrida. Die Zweideutigkeit besteht darin, dass der positive Anfang immer unzureichend ist. Der Anfang bietet sich nur durch ein negatives Verfahren und als seit jeher verloren an. Daher ist der philosophische Anfang immer ein nicht originärer. Diese Ursprungslosigkeit des philosophischen Anfangs präsentiert Heidegger als die Geschichte eines Verfalls. Als Zeichen des Nicht-Gewollten spricht Heidegger in Der Spruch des Anaximander von jenem „Verfall des Denkens in die Wissenschaften und in das Glauben“ als „das böse Geschick des Seins“ (In der Auflage von 1950 nuanciert er dieses Böse, damit es 233

nicht im moralischen Sinne verstanden wird: „...aber nicht >SchlechtY: Es handelt sich um eine Einbettung, wenn die Funktion injektiv und stetig ist, so dass X ein Teil (Unterraum) von Y ist. D.h.: X vererbt die Topologie von Y. Die Funktion impliziert einen Homomorphismus zwischen X und f(x). Es handelt sich um eine Immersion, wenn die Funktion kontinuierlich (differenzierbar) aber nicht unbedingt injektiv ist. Die Kleinflasche z.B. kann nicht in R3 eingebettet werden und ihre Immersion impliziert doppelte Punkte oder Singularitäten. In diesem Fall die drei Dimensionen von R3 reichen nicht aus um alle Punkte der Kleinflasche zu abzubilden. In unserem Beispiel ist die stereographische Projektion eine Immersion der Sphäre (S2) in die Ebene (einen zweidimensionalen euklidischen Raum). Dadurch geht Information verloren und entstehen Singularitäten (doppelte Punkte z.B., wie die Pole der Sphäre). Trotzdem wird in der Abbildung eine wesentliche mathematische Struktur erhalten.489 Ist das aber immer noch Phänomenologie? Worin liegt der Unterschied zwischen dem bloßen Spekulieren und einer fundierten Konstruktion und zwischen dieser Art Konstruktionen und der Evidenz im strengen Sinn? Die Beiträge der Bernauer Manuskripte sind weit davon entfernt, abschließend zu sein. Das absolute Bewusstsein fundiert, erklärt aber nicht den objektiven Inhalt der Intentionen höherer

489

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stereographic_projection_in_3D.png Luciano Boi interpretiert die Topologie und die Geometrie in diesem Sinne und erinnert diesbezüglich an einem anderen Mathematiker, William Thurston: „Thurston’s results are surprising and beautiful. They offer powerful geometric estimation on the one hand, and deep spatial visualization and imagination on the other. Although he showed a real interest for studying the inner geometry and topology of two-dimensional manifolds, his favourite subject was the realm of three-dimensional manifold and their intricate and multilayered structures, very likely because he believed that some of the most intriguing and profound mathematical mysteries of our human beings life was cached by the dimensions three and four of space. And, in this sense, these “low” dimensions could have captured precious information and clues about our intuition, perception and grasping of space“ (Boi, 2014).

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Husserls „Weg in die différance“

Stufe. Man kann nicht mit Sicherheit sagen, wie grundlegend der Grund ist oder ob der Grund eigentlich begründet war. Wir erinnern nur an Husserls Unterscheidung von sinnlichen und kategorialen Intuitionen; das Kategoriale ist in der Wahrnehmung fundiert, ist aber nicht eins mit ihr. Es bleibt offen, wie konstitutiv die Zeit für alle Phänomene ist. Dass alles auf dem Zeitbewusstsein beruht, bedeutet nicht, dass die objektiven Inhalte an sich zeitlich sind. Die Selbst-Auffassung des absoluten Flusses ist auch zweideutig: Husserl erklärt nicht wirklich den negativen Charakter der Zeit bzw. was leer bedeutet, wenn er Retentionen und Protentionen als „ärmer“ im Vergleich zu der Gegenwart (dem Moment mit höchster Kernhaftigkeit) bezeichnet. Alle Begriffe zeigen auch einen doppelten Charakter: Wahrnehmung, Intentionalität, Auffassung, was die Ko-Konstitution von Welt (objektiv) und Bewusstsein (präobjektiv durch Selbst-Erfassung) impliziert. Aber Husserl umkreist immer ähnliche Probleme. Da ist immer die Gefahr eines unendlichen Regresses, wodurch eine SelbstErfassung erforderlich wird; aber diese Selbst-Erfassung annulliert die Negativität der Zeit. Das Bewusstsein scheint aus mehreren Richtungen zu sich selbst zu kommen und rein aus diesen entgegengesetzten Strahlen zu entstehen, als würden alle Zeiten so ursprünglich sein wie die anderen; aber Husserl gibt der Gegenwart, also nur einer von ihnen, den absoluten Vorrang und nennt Retentionen und Protentionen nur Modifikationen. Die Gegenwart ist einerseits der pure Moment der Gabe und anderseits die ganze Verflechtung. Die Zeit ist in und gleichzeitig außerhalb der Zeit: Sie muss entweder zu spät ankommen und deren Konstitution verpassen – was ein Widersinn ist für einen selbstkonstituierenden Fluss – oder die Distanz annullieren und die Zeit als Form denken. Husserl greift all diese Gedanken auf und konkludiert: Die Gegenwart ist allüberspannendes, sozusagen allwissendes Bewusstsein von sich selbst und all seinen intentionalen Beständen - potentiell birgt ihre Struktur Allwissenheit der Welt in sich - als ideale Möglichkeit, sofern wir nur in Rechnung ziehen, dass der Dunkelheitshorizont, in dem Vergangenheit und Zukunft des Bewusstseinsstroms verschwimmen, und der (die) Vollkommenheit der Selbstwahrnehmung des Bewusstseins beschränkt, eine zufällige Schranke ist, die in infinitum erweitert gedacht werden kann, so dass als ‚Idee’ erwächst ein allwissendes ‚göttliches’ Bewusstsein, das sich selbst in vollkommener Klarheit umspannt. Auch das ‚endliche’ Bewusstsein ist allwissend, auch seine Intentionalität umspannt ganze Vergangenheit und Zukunft, aber nur partiell klar, im Übrigen in einer Dunkelheit, die eine Potentialität für Klarheiten und Wiedererinnerungen ist.490

Ist ein göttliches Wesen die Lösung für die Paradoxien des Zeitbewusstseins? Wie haben uns in diesen Paragraphen auf Husserls Zeitdiragramme konzentriert. Dabei wurde den unzertrennlichen Zusammenhang zwischen Zeit und Raum gezeigt. Es wurden auch mehrere von Husserl verwendete mathematische Begriffe in den entsprechenden Zeitanalyen hervorgehoben. Wichtig darunter war der Begriff von Mannigfaltigkeit, der vom Mathematiker 490

(Husserl, Bernet & Lohmar, 2001, S. 45–46).

Die Intersubjektivität in der Phänomenologie

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Bernhard Riemann geprägt wurde. Dieser Begriff gilt in der Mathematik als Grundlage für die Topologie. Eine Mannigfaltigkeit ist eigentlich eine Verallgemeinerung vom klassischen Begriff vom Raum. Es gibt mehrere Räume und diese lassen sich durch qualitative Merkmale beschreiben. In der heutigen Topologie werden Konzepte, wie Kontinuität, Diskontinuität, Zusammenhang, Grenze, Innen, Außen, Nachbarschaft (oder qualitative Nähe), dafür verwendet. Was hat aber das zu tun mit der Phänomenologie? Husserl unterscheidet in den Logischen Untersuchungen zwischen formaler Logik und formaler Ontologie. Die erste soll die formalen Eigenschaften und Verhältnisse zwischen Sätzen erklären. Die zweite soll die Verhältnisse und Verbindungen zwischen Objekten ans Licht bringen. Die formale Ontologie nimmt bei Husserl die Form einer Mereologie (Theorie von Ganzen und Teilen) an. Logik und Mathematik nehmen deren entsprechende Orte in dieser frühen Darstellung der Phänomenologie an. Die Aufgabe einer Mereologie besteht in der Bestimmung der Objektivität im Allgemeinen (=etwas Überhaupt). Objekte sin entweder Ganzheiten oder sie gehören einer Ganzheit. Dabei werden Relationen von Abhängigkeit und Unabhängigkeit entschieden. Dadurch bestimmt man das Hauptverhältnis „Teilheit“ (Teil-von-etwas-sein) genau so, wie die Mengenlehre das Hauptverhältnis Zugehörigkeit feststellt. Mittels dieses Verhältnisses lassen sich andere Verhältnisse, wie Durschnittmenge, Summe, Produkt, usw., bestimmen. Die Topologie erlaubt ähnliche Operationen. Definiert man einen topologischen Raum, so kann man die Verteilung von dessen konstituierenden Punkten bestimmen: Kontinuität, Diskontinuität, z.B. Durch die Topologie kann man die Teile eines Ganzen durch vershiedene Kriterien identifizieren: Trennbarkeit (z.B. Unabhängigkeit, nicht zusammenhängende Räume) oder Unterscheidbarkeit (z.B. durch mathematische Singularitäten, Grenzen, Schwellen, Pregnanzen oder Auffälligkeiten bzw. Pregnanz). Die Topologie kann also eine Mereologie ausmachen, aber wie wir sehen werden, soll man die Topologie in weitem Sinne verstehen. Der Begriff Raum kann nicht nur auf den naiven Raum angewandt werden. Man spricht von begrifflichen, logischen, perzeptiblen oder sogar sozialen Räumen. Die Topologie gilt also zum einen als eine formale Ontologie. Zum anderen aber spielt die Topologie eine noch größere Rolle: Sie soll als Modell einer ontologischen Diskussion dienen.

4.7. Die Intersubjektivität in der Phänomenologie oder die Paradoxien eines absolut setzenden/in-einer-Vielheit-gesetzten Subjekts Wie am Anfang dieser Arbeit gesagt, ist die Intersubjektivität eines der fundamentalen Themen für Derridas Rezeption der Phänomenologie. Davon ausgehend, kritisiert Derrida den vermutlich geschlossenen (monadologischen) Charakter der phänomenologischen Subjektivität durch den Rekurs auf eine gewisse Exteriorität. Der Andere ist die Bezeichnung für den Nächsten, der nicht intentionell erfasst werden kann. Mit anderen Worten: Der Andere

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Husserls „Weg in die différance“

ist für mich keine Objektivität. Aber er ist auch keine Fortsetzung meiner eigenen Subjektivität. Er ist ein Drittes. Aber wie dieser Andere zu charakterisieren ist, muss zunächst geklärt werden.

4.7.1 Der schwerwiegende Einwand des Anderen Die Gestalt-Theoretiker waren Zeitgenossen Husserls. Wir erinnern an einen von ihnen, Köhler, und dessen Experimente mit Affen. Sie waren für ihre Fähigkeit bekannt, plötzlich die Elemente der Umgebung rein geistig neu zu ordnen, um mit dieser neu gewonnenen Konfiguration (=Gestalt) ein Problem zu lösen. Der Raum und seine Elemente wurden plötzlich durch und in einem rein psychischen Akt (also nicht reell) neu geordnet. Es geht dabei nicht um die geometrischen Figuren, die laut der Gestalttheorie von der Wahrnehmung erkannt werden, sondern um die abstrakte Auffassung der Verhältnisse der dastehenden Dinge und ihre plötzliche Veränderung durch einen psychischen Akt. Ein anderer Psychologe, Vygotsky, schrieb aber Folgendes darüber: Köhler failed to take account of an important fact, namely, that primates cannot be taught (in the human sense of the word) through imitation, nor can their intellect be developed, because they have no zone of proximal development […] human learning presupposes a specific social nature and a process by which children grow into the intellectual life of those around them [...] Thus, the notion of a zone of proximal development enables us to propound a new formula, namely that the only ‚good learning’ is that which is in advance of development […] Language arises initially as a means of communication between the child and the people in his environment. Only subsequently, upon conversion to internal speech, does it come to organize the child´s thought, that is, become an internal mental function.491

Sind ein soziales und ein „individuell-geometrisches“ Verständnis psychologischer Akte überhaupt zu vereinbaren? Natürlich sind die Wahrnehmung und die Sprache zwei sehr verschiedene Funktionen. Und doch behauptet Husserl, dass die Wahrnehmung die Grundlage aller anderen psychischen Akte sei. Wir zeigten im oberen Paragraphen, dass Husserls Zeitlehre eine geometrische Komponente enthält. Köhlers Gestaltpsychologie könnte als eine Theorie der Räumlichkeit der Wahrnehmung interpretiert werden, wonach die „geometrische“ Form der Verhältnisse, also ihre Struktur, durch die Praxis umgeformt werden kann. Der Raum bekommt eine neue Form. Es ist aber schwierig, sich vorzustellen, wie das immanente Zeitbewusstsein eine andere Form haben kann. Für eine Theorie der Veränderung braucht man ein Gebiet, wo die Verhältnisse eben veränderlich sind. So einen Bereich findet man selbstverständlich in der Intersubjektivität. Warum aber sollte man in der Phänomenologie von der individuellen Monade auf die Intersubjektivität übergehen, wenn Husserl behauptete, dass nur die gelebte Evidenz von Bedeutung sei? Gibt es etwas wie ein soziales Empfinden? Husserl wird aber in seiner Betrachtung der Intersubjektivität zeigen, dass das Ich kein Ausgangspunkt, sondern eher das Resultat eines Prozesses ist, dass das Gemeinsame dem Individuellen vorangeht. Wir sehen also bei Husserl einen ähnlichen 491

(Vygotskij, 1978, S. 88–89).

Die Intersubjektivität in der Phänomenologie

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Übergang wie der zwischen Köhler und Vygotksy. Ich rekurriere hier auf zwei Psychologen, weil die Phänomenologie selbst aus der Reduktion der Psychologie entstanden ist. Brentanos Lehre war psychologischer Art und doch galt sie als Ausgangspunkt für Husserls Theorie der Intentionalität. Für Husserl gilt: Jede Psychologie muss phänomenologisch reduziert werden, um philosophisch relevant zu werden. Schaltet man die natürliche Einstellung aus, so bleibt die Tatsache übrig, dass neue Erfahrung, besonders bei der Entwicklung, durch die Anderen vermittelt ist. Die Zone der nächsten Entwicklung ist ein Differenzial zwischen Bewusstseinen, welche den Charakter einer Antizipation zu haben scheinen. Sieht man auch von der Idee der Entwicklung ab, dann wird deutlich, dass die Anderen eine Art Protention ermöglichen, denn sie sind für mich jedes Mal das Potenzielle und daher mein „Horizont“. Man kann hier leicht eine Art Topologie der Intersubjektivität erkennen, wenn man die intersubjektiven Verhältnisse strukturell versteht. Was passiert also, wenn man anerkennt, dass die innere Rede, die internal speech, und dadurch auch das objektivierende Vermögen von Anderen stammen? Und was passiert, wenn alle meine Idealitäten und Objektivitäten mit anderen geteilt werden, vor allem weil sie für jedermann wiederholbar sind (und sein müssen, um überhaupt gemeinsam zu sein)? Bedeutet das nicht, dass sie nicht wirklich in mir, in der Einsamkeit meiner Seele, konstituiert worden sind? Entweder haben die Anderen, ohne Ausnahme, meine eigene Konstitution und ich kommuniziere nur die in mir konstituierten Idealitäten oder die Idealität entsteht strikt zwischen uns. Dies sind die beiden Möglichkeiten: Entweder hat die Intersubjektivität die Form eines (klassischen) Subjekts (des Einen, des Verschlossenen) oder sie ist wirklich anders, nämlich verteilt (man würde von Mannigfaltigkeit, Zerstreuung, Masse sprechen). Das mag den eigentlichen Unterschied zwischen dem Subjekt und dem mannigfaltigen gemeinsamen Sein ausmachen: Die Verhältnisse zwischen allen entstehen beim Letzteren rein aus der Kommunikation, aus dem Austausch, und nicht aus einer bereits vorhandenen Einheit. Hier aber eine Präzisierung: Ist es adäquat, hier von Kommunikation zu sprechen? Sollte man sie nicht, wie Régis Debray sagt, von der Übermittlung (transmettre) unterscheiden? Kommunizieren besteht darin, sagt er: […] eine Information im Raum innerhalb ein und derselben räumlich-zeitlichen Sphäre zu tansportieren, und Übermitteln darin, eine Information in der Zeit zwischen unterschiedlichen räumlich-zeitlichen Sphären zu transportieren. Die Kommunikation hat einen soziologischen Horizont [sie verschafft Gesellschaft], und ihr Sprungbrett ist eine interindividuelle Psychologie [...] Die Übermittlung hat einen historischen Horizont, und ihr Startsockel ist eine technische Leistung (sie benutzt einen Träger) [sie verschafft Kultur, A.R.].492

Kommunikation und Übermitteln mit ihren linguistischen und materiellen Charakteren zeigen sich als essentiell für die Intersubjektivität. 492

(Debray, 2003, S. 11).

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Husserls „Weg in die différance“

Übermitteln, Lehren, Teilen und Verteilen: Es handelt sich dabei um die Frage nach der Intersubjektivität, welcher Husserl in der V. Cartesianischen Meditation nachgeht, um das Problem nach Regeln des Solipsismus zu beheben. Bekanntlich ist der Ausgangspunkt dieser Meditationen das Ego, das meditierende Ich, das die Epoché, nämlich die Ausschaltung alles Anderen, alles Fremden bzw. Transzendenten, durchgeführt hat. Die Meinungen der Anderen sind hier eingeschlossen. Dadurch befindet es sich in der Einsamkeit seiner Eigensphäre. Konsequenterweise fragt sich Husserl: Wenn ich, das meditierende Ich, mich durch die phänomenologische Epoché auf mein absolutes transzendentales ego reduziere, bin ich dann nicht zum solus ipse geworden, und bleibe ich es nicht, solange ich unter dem Titel Phänomenologie konsequente Selbstauslegung betreibe? Wäre eine Phänomenologie, die Probleme objektiven Seins lösen und schon als Philosophie auftreten wollte, nicht als transzendentaler Solipsismus zu brandmarken?493

4.7.2 Exkurs: Der Philosoph désoeuvré und die unmögliche Gemeinschaft „Je suis « je » (j’existe) seulement si je peux dire « nous » (et cela est vrai aussi de l’ego cartésien, dont la certitude est pour Descartes lui-même une certitude commune, la plus commune, mais que nous partageons seulement, à chaque instant, comme un autre...)“.494 Dies sind nicht Husserls Worte, sondern stammen von Nancy, es sind aber doch Worte einer (post)phänomenologischen Tradition oder Worte, die sich mit der Phänomenologie, welche als letztes und radikalstes Unternehmen der (metaphysischen) Philosophie verstanden wird, beschäftigen. Dass das meditierende Ego auch befähigt sein muss, „wir“ zu sagen, ist Husserls Herausforderung und Schwierigkeit im Werk Cartesianische Meditationen. Ohne dies müsste eine gemeinsame und allen zugängliche Welt für unhaltbar erklärt werden. Sowohl die Wahrnehmung der geteilten Welt als auch die notwendig gemeinsamen kulturellen Objekte setzen eine transzendentale Intersubjektivität voraus. Die gemeinsame Wahrnehmung supponiert bereits eine ursprüngliche „Natur“ für alle Menschen, noch bevor die Wissenschaft sich eine Vorstellung davon macht. Die Gemeinsamkeit der kulturellen Welt ermöglicht ihrerseits die „Überlieferbarkeit“ und die „Wiederholbarkeit“ ideeller Objekte. Denn Ersteres verleiht den Letzteren Bestand und Leben. Welchen Platz nimmt die Gemeinschaft in der Phänomenologie, d.h., strikt gesagt, inmitten einer egologischen Befragung ein? Was ist also das Gemeinsame, was die „Vergemeinschaftung“ und wo steht das Ego demgegenüber? Genau dies sind die relevanten Fragen: Welches Verhältnis gilt zwischen den verschiedenen Egos, stehen sie gegenüber, daneben, darunter? Ist der Andere für das Ego bloßer Gegenstand (intentionales Korrelat), während es selbst ein Hypokeimenon davon ist, oder stehen die Monaden nebeneinander, d.h.,

493 494

(Husserl, Strasser, Ijsseling, van Breda & Bernet, 1973, S. 121). (Nancy, 1999, S. 258).

Die Intersubjektivität in der Phänomenologie

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sind sie Mitmenschen? Und wenn beide „zusammen“ sind, sind sie es in einem Dritten, in einer Welt? Präpositionen drücken deutlich eine Räumlichkeit aus, die nicht mit dem „weltlichen“ Raum verwechselt werden darf. Sie zeigen eher etwas wie einen Topos und die Verhältnisse, die hier erlaubt sind. Weil aber die Phänomenologie auf Evidenz basiert, muss also das Ego der Ort aller Bewährung, auch des Anderen, sein. Wie verträgt sich das, die Immanenz des Ego, mit einer radikalen Intersubjektivität, d.h. mit einem relativen Auseinandersein der Monaden? Im Folgenden wird die Aussage von Nancy näher betrachtet, bevor auf Husserls Bemühungen um die Intersubjektivität eingegangen wird. Der Rekurs auf Nacy und dessen Bertachtung der Gemeinschaft wird dadurch rechtfertigt, weil wir hier den Raum als Medium des Gemeinsamen denken wollen. Im Laufe der Arbeit wird diese These deutlich werden. Die Gemeinschaft (communauté), sagt Nancy, „pourrait bien être, en même temps que le mythe le plus ancien de l’Occident, la pensée toute moderne du partage par l’homme de la vie divine : la pensée de l’homme pénétrant dans l’immanence pure“.495 Wir fragen aber: Hängen die moderne Vorstellung von Gemeinschaft und der Mythos unbedingt und eindeutig zusammen? Weiter, sagt Nancy, ist der Mythos das agierende Motiv, das die Tat als Werk (Oeuvre) durchführen will. Sei es als Staat, als Wissenschaft oder Volk: Ständig ist die Rede von Vollendung und Erfüllung, dem Moment, wo die Gemeinschaft zu sich selbst als versöhnter Gemeinschaft, als Ganzheit – alles Fremde ist überholt, vermittelt zugunsten der Selbstheit– kommt. Nancys Überlegungen über die Gemeinschaft, denen wir uns hier einleitend bedienen, gelten als Rahmen für eine Befragung der Phänomenologie. Ohne dies würden wir kaum bemerkt haben, inwiefern die Phänomenologie Husserls die Dekonstruktion und die Rede über das Ende der Philosophie geprägt hat. Sollten wir diese Aussage ernst nehmen, so muss man den Blick nicht darauf richten, was Husserl gelungen ist, sondern darauf, wie er immer wieder vorgegangen ist. Dieses Vorgehen betrifft mehr als das Ego, mehr als das Wissen und die Evidenz. Es geht eher um die unermüdlich gestellte Rückfrage, den Schritt rückwärts in Richtung des Allerersten. Es geht um die Reduktion vom Konstituierten zum Konstituierenden, vom Statischen zum Genetischen, von der naiven Welt zu der dunklen und immer problematischen – sogar aporetischen – Region des „Prä-“ (präobjektiv, präsubjektiv, präphänomenologisch usw.) und damit auch zu einer Urregion, auch wenn und besonders wenn diese Originalität die des Ego gefährdet, infrage stellt oder gar negieren muss. Man darf sich aber dabei fragen, ob dieses „Prä“ nicht nur „älter“ als alles Konstituierte, sondern ob es überhaupt konstitutiv sei, d.h., ob aus dieser Region tatsächlich eine wirkliche und gemeinsame Welt entstehen könne.

495

(Ebenda, S. 31).

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Husserls „Weg in die différance“

Aber wie soll sich aus diesem alten und unerforschlichen Magma der Welt etwas Positives ergeben. Anders ausgedrückt: Die Urregion des Präphänomenologischen könnte unaussprechlich und daher unzugänglich sein. Aber phänomenologisch unzugänglich bedeutet nicht absolut unzugänglich. Nancy warnt ständig: Gemeinschaft ist weder Tätigkeit noch Werk, auch nicht deren gegenseitige Dialektik, sie ist keine Tathandlung, wenn man sich so ausdrücken will; sie ist also kein Sich-selbst-Erzeugen, kein Sich-selbst-Gestalten und letztlich kein In-sich-Gehen und Bleiben. Eine Gemeinschaft, die Oeuvre herstellt, lässt sich vom Mythos der Immanenz (=Mythos überhaupt) (ver)führen, denn: Le mythe est […] l’auto-figuration transcendantale de la nature et de l’humanité, ou bien plus exactement l’autofiguration — ou l’auto-imagination — de la nature comme humanité et de l’humanité comme nature [...] l’humanisation de la nature (et/ou de sa divinisation), et de la naturalisation de l’homme (et/ou de sa divinisation)496 [und mündet unvermeidlich in] toutes les violences de la subjectivité.497

Der Mythos der absoluten Gemeinschaft, der puren Immanenz im Reich des Denkens, der Liebe oder des Gesetzes hat als einziges Werk den Tod: „L’immanence, la fusion communielle n’enferme pas une autre logique que celle du suicide de la communauté qui se règle sur elle“.498 Von „l’Allemagne nazie“, in der „la logique du sacrifice de tous ceux qui, dans la communauté « aryenne », ne satisfaisaient pas aux critère de la pure immanence“ herrschte, bis zum Mythos des tragischen Liebespaars („Le suicide ou la mort commune des amants“); vom hegelschen Staat, „dont la réalité ne se présente jamais autant que lorsque ses membres donnent leur vie dans une guerre dont le monarque, présence-à-soi effective de l’Etat-Sujet, aura seul et librement pris la décision“ bis zum „l’homme rendu égal à lui-même ou à Dieu, à la nature et à ses œuvres propres“ - alles sind Beispiele einer „communauté de mort — ou de morts“; es handelt sich hier, sagt Nancy, um „L’homme accompli de l’humanisme, individualiste ou communiste“ und um „l’homme mort“, denn „la mort n’y est pas l’excès immaîtrisable de la finitude, mais l’accomplissement infini d’une vie immanente : c’est la mort elle-même rendue à l’immanence, c’est enfin cette résorption de la mort que la civilisation chrétienne en est venue, comme en dévorant sa propre transcendance, à se proposer en guise d’œuvre suprême“, und wo das Höchste, Erhabene, aber auch das Einzige „sans doute l’immolation pour la communauté“ selbst499 ist. Was hat aber all dies mit der Phänomenologie und deren Monaden zu tun? Handelt es sich um ethisch-politische Probleme von Gemeinschaften, die an einen Mythos glauben? Oder handelt es sich hierbei um echt transzendentale Angelegenheiten? Nancy merkt an: Depuis Leibniz, il n’y a plus de mort dans notre univers : d’une manière ou d’une autre, une circulation absolue du sens (des valeurs, des fins, de l’Histoire...) comble ou résorbe toute négativité finie, tire de chaque destin 496 497 498 499

(Ebenda, S. 138). (Ebenda, S. 88). (Ebenda, S. 36). (Ebenda, S. 36–38).

Die Intersubjektivität in der Phänomenologie

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singulier fini une plusvalue d’humanité ou de surhumanité infinie. Maïs cela suppose, précisément, la mort de chacun et de tous dans la vie de l’infini.500

Die Gemeinschaft, die dem Mythos nicht verfällt, ist diejenige, in der das Ich sagt: „Ego sum mortuus“, denn „je est autre chose qu’un sujet“501. Und weiter: „Ce qui n’est pas un sujet ouvre et s’ouvre instantanément sur une communauté, dont la pensée à son tour excède les ressources de la métaphysique du sujet“, die Gemeinschaft ist kein „lien d’une vie supérieure, immortelle ou transmortelle, entre des sujets“502; die Gemeinschaft besteht eher aus „je qui ne sont pas des moi“503, d.h., sie impliziert keine „communion qui fusionne les moi en un Moi ou en un Nous supérieur“504; die Gemeinschaft ist, sagt Nancy, die „conscience extatique de la nuit de l’immanence“505 und deswegen „l’interruption de la conscience-de-soi“, also „je n’ai jamais une telle conscience comme ma conscience“.506 Die Gemeinschaft muss anders definiert werden und zwar als „la « perte » [...] l’impossibilité de leur immanence“. Immanenz ist, müsste man sagen, bloßer, vielleicht transzendentaler Schein. Das Werk des Todes (die Opfer der Einzelnen zugunsten des Organismus) und der Tod als Werk (die Selbst-Vernichtung der Gemeinschaft als einzige Tat) sind nicht Modi der Gemeinschaft, sondern deren Verfälschung. Allerdings muss Nancy, um dies behaupten zu können, trotz allem die Rhetorik des Transzendentalismus beibehalten: Existenz und Gemeinschaft: „Chacune est la mise en jeu de l’autre“507 so dass „l’existence est elle-même le transcendantal“; die Gemeinschaft ist „régime ontologique“508 und besagt –„dans un lexique mal approprié“– „une « socialité » originaire ou ontologique“.509 Aber wie ist ein Ausdruck als geeignet oder nicht geeignet zu bewerten, wenn eben bei Nancy das Eigene (das Immanente, dem Ego oder der Gemeinschaft Eigentliche) als Begriff angefochten wird? Warum noch die Rede von Ontologie und Transzendentalismus ? Dieses Transzendentale ohne Ego, ohne Ich, wirkt unter keiner „assomption fusionnelle“ mehr, sondern es wirkt „dans un espace de pensée incommensurable avec toutes les problématiques de la socialité et de l’intersubjectivité (et jusqu’à la problématique husserlienne de l’alter ego)510. Stimmt das? Gibt es eine nicht phänomenologische Sprache, um diese Gemeinschaft zum Ausdruck zu bringen? Spricht man nicht trotz allem von der unaussprechlichen Gemeinschaft? Und wenn ja, wie erfolgt das?

500 501 502 503 504 505 506 507 508 509 510

(Ebenda, S. 38). (Ebenda, S. 41). (Ebenda, S. 41). (Ebenda, S. 42). (Ebenda, S. 41). (Ebenda, S. 52). (Ebenda, S. 52). (Ebenda, S. 225). (Ebenda, S. 84). (Ebenda, S. 72). (Ebenda, S. 40).

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Husserls „Weg in die différance“

Die Gemeinschaft bei Nancy muss immer negativ auftreten: Sie basiert auf keinem Ego, sie ist nicht mehr subjektiv, sie ist nicht Immanenz, sie ist kein Mythos, sie ist keine Substanz, kein Projekt überhaupt. Aber diese „Negation“ ist jene vom Mythos. Die Gemeinschaft ist „aktiv“: „[I]nterruption de la conscience-de-soi“511, „résistance à la fusion“512 und „cette résistance est le fait de l’être-en-commun comme tel“513, es ist eine Pflicht: „Il faut l’interrompre“514; aber all dies erfolgt ganz passiv, denn die Gemeinschaft „assume l’impossibilité de sa propre immanence“515. Gemeinschaft ist die passiv-erfolgende Unterbrechung etwas an sich Unmöglichen. Diese Annahme hat daher zur Folge, dass der Mensch „ne se transfigure pas du tout“ und Mensch bleibt, „dénué d’immanence aussi bien que de transcendance“516; also weil „donnée avec l’être et comme l’être, bien en deçà de tous nos projets“, sagt Nancy der Gemeinschaft: „Il nous est impossible de la perdre“.517 Worin besteht denn das Risiko des Mythos? Im Glauben an eine Phantasie und ihre ontischen Effekte? Denn im Bereich des Ontologischen erfolgt keine Veränderung. Unterbrechen bedeutet folglich ein Annehmen, bedeutet, immer wieder zu sagen, dass die Gemeinschaft unmöglich ist und dass sie eben aus dieser Unmöglichkeit besteht. Diese Unmöglichkeit, diese Ohnmacht ist dann „l’espacement de l’expérience du dehors, du hors-de-soi“518, „partagée entre des Dasein“519 oder eher zwischen Singulären, wo aber die Letzteren, „ces êtres singuliers, sont eux- mêmes constitués par le partage, ils sont distribués et placés ou plutôt espacés par le partage qui les fait autres : autres l’un pour l’autre, et autres, infiniment autres pour le Sujet de leur fusion, qui s’abîme dans le partage, dans l’extase du partage : « communiquant » de ne pas « communier »“520. Richtig ist: Eine Gemeinschaft, die nicht mehr die Form eines Ego hat, bestünde nur aus reiner Kommunikation, sie verliefe von dem Einen zum Anderen und beide sollten im Moment der Kommunikation konstituiert werden. Es gibt nur „l’être singulier, qui n’est pas l’individu“. Aber: Was kann man dann noch sagen und noch weiter tun? Die Gemeinschaft ist demzufolge nur die „exposition des singularités les unes aux autres“521, aber die „« singularité » désignerait précisément ce qui, chaque fois, forme un point d’exposition, trace une intersection de limites, sur laquelle il y a exposition“.522 D.h.: „Exposition“ ist das Komparieren von Singularitäten durch Kommunikation, aber kommuniziert wird nur deren Grenze, welche diese Singularitäten ihrerseits konstituiert; die Schnittstelle zweier Grenzen bildet einen „Aussetzungspunkt“, ohne dass es allerdings je einen 511 512 513 514 515 516 517 518 519 520 521 522

(Ebenda, S. 53). (Ebenda, S. 53–54). (Ebenda, S. 54). (Ebenda, S. 116). (Ebenda, S. 42). (Ebenda, S. 190). (Ebenda, S. 87). (Ebenda, S. 50). (Ebenda, S. 64). (Ebenda, S. 64). (Ebenda, S. 224). (Ebenda, S. 223–224).

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„espace commun“ gibt, denn „seule la limite est commune, et la limite n’est pas un lieu, mais elle est le partage des lieux“523. Aus dem Gesagten folgt schließlich: „Rien ne peut avoir lieu“.524 Die Rede wird zirkulär, aber nicht „dialektisch“. Da Ziel und Endzweck sich folglich auch innerhalb einer mythologischen Gemeinschaft befinden und als Wert und Tätigkeit (als œuvre) zu verstehen sind, muss die Gemeinschaft ihr eigenes Ziel sein: „Dans l’ex-position, dans l’être-abandonné-au- monde — l’essence est exposée. A quoi est-elle exposée ? A rien d’autre qu’à soi.525” Aber wie? War nicht die Gemeinschaft „l’interruption de la conscience-de-soi“? Und zwar als „conscience extatique de la nuit de l’immanence“? Die Gemeinschaft ist bei Nancy immer anders, eine Gemeinschaft der Anderen (autrui), sie ist daher auch immer anders als sie selbst: „Soi n’a pas de nominatif, mais est toujours décliné“.526 Es geht hierbei darum, „d’aggraver jusqu’au défoncement, et via la pensée de l’être et de sa différe/ance, la pensée hégélienne du Soi“527. Nancy nennt dieses Denken „cette voix de l’interruption : la littérature“528; denn „« la littérature » fait le partage“529, sofern sie „interrompt le mythe“.530 Man muss nicht davon ausgehen, der Mythos sei außerhalb der Literatur, sie wird zum Mythos, wenn sie nach einem Werk strebt: „En un sens“, schreibt Nancy, „la littérature ne vient que de la littérature, et y retourne“.531 Aus diesem Grund muss sie sich selbst unterbrechen: „La littérature s’interrompt : c’est en quoi, essentiellement, elle est littérature (écriture) et non mythe“.532 Dieses Aus- und Auflösen ist die „venue de l’existence à l’existence“533 als „désœuvrement“, welcher „dans la communication du retrait de la singularité sur la limite même où celle-ci se communique exemplaire, sur la limite où elle fait et défait sa propre figure et son propre exemple“534 stattfindet. Nancy konkludiert: „La communauté du mythe interrompu, c’est-à dire la communauté qui est en un sens sans communauté, ou bien le communisme sans communauté est notre destination“.535 Aber wer spricht hier? Keiner und alle? Besteht nicht das Risiko eines Dogmatismus? Wie sind wir auf diese Resultate, auf diese Ergebnisse gekommen? Entsteht nicht das Ende des Mythos und aller allumfassenden Erzählung auf der Basis eines vermuteten allumfassenden Mythos (der Literatur und des Risikos des Mythos selbst)? Warum sollten wir dem entgehen, was an sich unmöglich ist, d.h., unterbricht nicht der Mythos sich selbst? Ist der Mythos nicht bereits 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535

(Ebenda, S. 182). (Ebenda, S. 251). (Ebenda, S. 205). (Ebenda, S. 206). (Ebenda, S. 205). (Ebenda, S. 157). (Ebenda, S. 161). (Ebenda, S. 161). (Ebenda, S. 164). (Ebenda, S. 179). (Ebenda, S. 255). (Ebenda, S. 195). (Ebenda, S. 177).

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seine eigene Unterbrechung? Den Mythos meint eben die Trennung zwischen Logos und Mythos. Worin besteht dann das Ablehnen des Mythos? Einfach in der Literatur als Geste? Als Literatur, die von ihrer Unmöglichkeit spricht, und damit, ihrem Konzept nach, erfolgreich wird? Ist diese Literatur nicht allzu anpassungsfähig, allzu bequem zu sich selbst? Was kann noch gemacht, gesagt werden, wenn das ab sofort ins Positive (= hier ins Mythologische) verwandelt würde, sofern „la singularité de l’être singulier divise sans fin l’être et les étants“536, bevor etwas bestehen kann? Ohne Transzendenz und ohne Immanenz, für alle und niemanden, zu sich kommend und sich selbst auflösend, älter als alles Sein und zugleich ontologisch (im deklinierten Sinne: für sich, für den Anderen usw.), eine Gemeinschaft von flüchtigen und anonymen Singularitäten - ist dem etwas hinzuzufügen? Verliert man dabei nicht die Welt und das Transzendentale im Namen eines „endlichen Transzendentalen“? Die Welt hört nicht auf, begründet, bloß empirisch zu sein, während das Transzendentale sich von allem Inhalt befreit. Hier haben wir ein leeres Transzendentales (Möglichkeitsbedingung) für eine nicht bestehende Welt, einen Grund, der nichts begründet, der nicht einmal das Einfachste der Erfahrung erklären kann. Diese Überlegungen Nancys sind nicht dem rein Empirischen zuzuordnen, sie gehören auch nicht zu einer fundierten Ebene, welche schließlich einer phänomenologischen Begründung bedürfen würde. Diese Gedanken betreffen die Phänomenologie als Projekt, deren Struktur sowie deren tiefstes Streben. Husserl weiß sehr gut, dass diese neue Dimension – die intersubjektive – seiner Philosophie mittelbar und unmittelbar auf eine konkrete Gemeinschaft mit ihren ethischen Verpflichtungen zielt: die der echten abendländischen Wissenschaftler. Husserls Unternehmen versteht sich auch als Reaktivierung einer immer wieder durch Skeptizismus gefährdeten Gemeinschaft, die überdies in Vergessenheit zu geraten droht. Nancy warnt vor diesem Mythos: dem Mythos der verlorengegangenen Gemeinschaft. Deswegen schreibt er: Die „Gesellschaft n’est pas venue, avec l’Etat, l’industrie, le capital“, die Gesellschaft „ne s’est pas faite sur la ruine d’une communauté“; eher müsste man sagen, dass „la Gesellschaft — la « société », l’association dissociante des forces, des besoins et des signes — a pris la place de quelque chose pour quoi nous n’avons pas de nom ni de concept“.537 Aber was ist das, was doch verloren gegangen ist, was war vorher das Gemeinsame? Und noch wichtiger: Was ist das, was in der Gemeinschaft (historisch) verändert werden kann? Das ist eine regelrecht historische Frage. Husserl zeigt in seinen Ausführungen zwei Formen des von Nancy definierten Mythos: der Mythos als Kehre zum Vergessenen und als absoluter Anfang im hic et nunc. Die Geschichte wird zum Umweg, den die Methode (der richtige Weg) zur Erlangung des Ursprünglichen erfordert. Nancy aber lässt die Gemeinschaft in der „Heiligkeit“ ihrer Ferne bleiben, „deçà de

536 537

(Ebenda, S. 191). (Ebenda, S. 34).

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tous nos projets“, jenseits jeder Geschichte – „l’histoire est notre forme moderne du mythe“538, „la constitution ontologique du sujet lui-même“539 – stattdessen muss man sich, laut ihm, an das „Ereignis“ wenden: „Nous serions en suspens“, in ewiger Schwebe, denn „ou bien quelque chose arrive vraiment, que nous ne pouvons saisir dans notre représentation, ou bien rien n’arrive du tout“540. Nicht zu bemerken, nicht zu erfassen, nicht zu verstehen, für kein Subjekt, für keine Gemeinschaft, sondern für sich selbst in der Anonymität des Ereignisses. Das ist die Gemeinschaft bei Nancy - endlich, allzu endlich und dabei gar nicht weltlich, Lob der Faktizität, aber Elend des Engagements, Erstaunen in der Lähmung. Und trotzdem wollen wir Nancys Worte nicht nur ernst nehmen, sondern auch als Kontrapunkt zu Husserls Problematik der Intersubjektivität auffassen. Es ist bereits eine phänomenologische Schwierigkeit, wie eine Philosophie der Evidenz damit umgehen soll. Phänomenologisch entscheidend sind dieses Ego und dessen Verhältnis zum alter Ego, weil es die Möglichkeit des Philosophierens ist, die auf dem Spiel steht. Damit hängen nicht nur eine Philosophie der „Essenzen“, sondern eine ganze Betrachtung des Denkens zusammen und damit auch ein Verständnis der Vernunft und deren praktischen Wert. Husserl sieht richtig, dass eine „Entdeckung“, wie die der Intersubjektivität, die Wissenschaft als philosophisches Projekt in hohem Maße betrifft. Nancys Gedanken sind von fundamentaler Bedeutung, weil sie zeigen, dass die Gemeinschaft nicht mehr ein Super-Ich sein kann, also ein Ego, das die anderen Egos in sich einschließt. Die Frage lautet infolgedessen, wie sich diese Egos miteinander verbinden und ob sie überhaupt als Egos betrachtet werden müssen.

4.7.3 Wer darf „wir“ sagen? Doch nun zurück zur eigentlichen Fragestellung: Muss man die Gegenwart, hier die „SelbstKonstitution“ der Gemeinschaft, anders denken, d.h., anders als ein Ego, anders als Wissen, anders als Objektivierung, oder muss man schlicht das Andere der Gegenwart und deswegen aller Konstitution annehmen? Daraus resultieren mehrere Fragen. Sind die räumlichen Metaphern bei Nancy, wie Grenze, Raum, Ausdehnung541, Teilung und Verteilung, und die ständige Rede von espace542 bloße Mittel seiner Literatur oder eher Zeugnis einer 538 539 540 541 542

(Ebenda, S. 245). (Ebenda, S. 246). (Ebenda, S. 246). Nancy: „L'être- ici existe d'abord selon la division des lieux, selon une extension — partes extra partes — qui fait que chaque singularité est étendue (au sens de Freud : « La psyché est étendue »)“ (Ebenda, S. 72–73). Nancy: „[…] c'est d'abord la question de la communauté qui doit être remise en jeu, car c'est d'elle que dépend la nécessaire redistribution de l'espace. (27-8) Quelle est l'opération propre de l'espace ? L'espace espace — « der Raum räumt », comme l'écrit Heidegger. Qu'est-ce qui est espacé dans et par l'époque ? non pas des points de l'espace, déjà espacés, mais les points de la temporalité elle-même, qui ne sont rien d'autre que les présents du temps qui toujours adviennent et toujours disparaissent“ (Ebenda, S. 250).

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aufkeimenden und vielleicht möglichen Topologie (obwohl unter anderen Prämissen)? Die Frage nach der Gemeinschaft betrifft nicht nur das rein positiv Gemeinsame, sondern auch das, was zwischen uns liegt, den Zwischenraum zwischen mir und dir, zwischen uns und den anderen (nicht nur Menschen). Ist dies eine Grenze oder ein Raum, ein mit uns und der Welt verschwindender Limes oder eine richtige Ausdehnung, also Verbindungen in einer bestehenden Welt? Die Gemeinschaft ist sicherlich ontologisch, aber kann sie nicht immer verloren gehen, zumindest tendenziell? Muss sie nicht verloren gehen können, damit eine Verantwortlichkeit überhaupt Sinn macht? Ist das Gemeinsame immer das Negative, was den Formen, dem Wissen, dem Subjekt und vor allem der Darstellung entgeht? Hat dieses Entgehen nicht selbst eine Form, wie die Zeit bei Husserl? Ist die Zeit eine andere Form, von der Intersubjektivität verschieden, oder sind beide Variationen des Gleichen, nämlich zwei Formen des Fremden? Der andere Name des Subjekts, dessen Evidenz und dessen Konstitution in der und als Geschichte sowie die Geschichte des Verlorenen mögen vielleicht ein Mythos sein – wir müssen es näher betrachten –, aber Nancy kann weder konkret ausdrücken noch zum Schweigen bringen, was sich in seinen Worten bereits ankündigt. Die Wiederherstellung der Gemeinschaft ist nicht die Tätigkeit der Philosophie, wie denkt man aber das, was tatsächlich vergessen, oder genauer gesagt, was tatsächlich in der Welt im Namen des Gemeinsamen zerstört wurde, also wie denkt man das Wiedergewinnen ohne das Wiederherstellen? Welchem Maß bedient man sich, um das Übel der Welt zu beurteilen? Wir haben den Mythos und wir haben dessen (Selbst)Unterbrechung, für alles andere, für das, was gewesen ist und sein könnte, haben wir weder Namen noch Begriffe. Muss man nicht deswegen die Gegenwart anders denken? Husserls Argument in der 5. Meditation ist relativ einfach, obwohl voller Schwierigkeiten für seine Phänomenologie. Anders als die frühen Zeitvorlesungen ist die 5. Meditation im Kontext einer reifen Phänomenologie entstanden und stellt mehr eine Schwierigkeit als eine erkundende Analyse dar; doch: Sind die Paradoxien dieser Meditation vielleicht von größerer Bedeutung als deren Auflösung? Die Zeitvorlesungen sind vom Charakter einer Untersuchung geprägt und kommen oft zu erstaunlichen Ergebnissen; die Meditationen dagegen haben als Aufgabe, die wichtigsten Resultate einer bereits entwickelten Phänomenologie festzuhalten. Dazu gehört auch die Erhebung möglicher Einwände, unter denen der vom Solipsismus der wichtigste ist. Das Verfahren kennen wir bereits: Das alter Ego muss sich innerhalb der reduzierten Sphären der Eigenheit, d.h. innerhalb des eigenen Ego, konstituieren lassen, und die phänomenologische Analyse muss alle Intentionen sowie deren abgestuften Zusammenhang zeigen, bis das Ich vom alter Ego in ihm selbst zeugen kann; es ist die Erfahrung (Sinn) der Anderen, die phänomenologisch fundiert werden soll. Die Antwort von Husserl auf den Einwand vom Solipsismus schließt eigentlich drei Elemente mit ein. Ungeklärt vom Standpunkt der Egologie her ist nicht nur, wie der Andere sich in mir

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konstituiert, sondern auch, wie es überhaupt möglich ist, dass eine Gemeinschaft von unabhängigen Monaden ein und dieselbe Welt teilen kann. Die Welt gilt als objektiv, nur weil sie mit Anderen geteilt wird, aber die Anderen sind an sich „objektiv“, in dem Sinne, dass sie nicht „bloße Vorstellung und Vorgestelltes […]“, keine „synthetische Einheiten möglicher Bewährung in mir“543 sind. Außerdem bin ich auch für die Anderen, werde demzufolge auch in ihnen konstituiert. Äußerlichkeit ist das Merkmal des Realen, sein Auseinandersein, daher fragt sich Husserl: „Haben wir also dem transzendentalen Realismus nicht Unrecht getan?“ 544

Ich-Du-Welt scheint hier die Grundstruktur zu sein und zu klären ist, ob eines dieser Elemente, besonders das Ich, das absolute Privileg gegenüber den anderen besitzen kann. Es stellt sich demgemäß die Frage, ob die Welt durch mehrere Ichs – wo sie nicht nur Replik von den anderen sind, wo das Subjekt als Distribution verstanden werden kann – mit-konstituiert wird, d.h., ob die Welt geteilt, eingeteilt und verteilt, jedoch nicht zerstreut wird, und inwiefern ich sagen kann, dass der Andere meinen Gegenstand und meinen Gegenstand sei. Beantwortet werden muss auch die Frage, wie die Anderen eben Andere für mich sind, wie diese Welt für uns alle da ist, und warum jedes Ego trotz allem seine eigene Erfahrung hat und haben muss. Von Anfang an betont Husserl, die Welt sei gemeinsam, aber auch persönlich gelebt. Die Anderen sind mein Spiegel, aber auch kein Spiegel überhaupt: „Der Andere verweist seinem konstituierten Sinne nach auf mich selbst, der Andere ist Spiegelung meiner selbst, und doch nicht eigentlich Spiegelung“.545 Eine absolute Spiegelung macht den Anderen überflüssig oder er ist eben kein Anderer. Gar keine Spiegelung würde auch bedeuten: gar keine Gemeinschaft und vor allem gar keine gemeinsame Welt. Es folgt daraus auch, unabhängig davon, ob dies von Husserl bemerkt wird oder nicht, dass die Welt sowohl verbinden als auch trennen muss; identischer Empfang der Welt sichert deren Objektivität, aber so haben die Monaden nur Kopien der Welt, sie würden auch keine Intersubjektivität ausmachen. Mit anderen Worten: Der Andere ist ein Spiegel, d.h. sowohl präobjektive Anerkennung als auch narzisstische Verkennung (wie Lacan es gesagt hätte). Eine absolute Übereinstimmung führt zu einer trivialen Verdoppelung, eine unendliche Differenz ermöglicht keinen Zugang zum anderen, mit dem ich aber die Welt teile und nicht nur diese konkrete Welt, sondern die Welt im Allgemeinen. Dem müsste man hinzufügen, dass ich die Welt mit Anderen teile, „bevor“ sie diesen oder jenen Sinn für mich hat, das Gemeinsame der Welt, auf der elementarsten Ebene, entsteht weder aus der Sprache noch aus der „Kultur“, das „für-alle-da“ ist sozusagen bereits in einer „transzendentalen Natur“ vorhanden, selbst wenn zwei gegebene Kulturen keinen direkten Kontakt (gehabt) haben. Husserl fragt sich diesbezüglich: Ist es möglich, „daß mehrere getrennte, d.i. miteinander nicht 543 544 545

(Husserl, Strasser, Ijsseling, van Breda & Bernet, 1973c, S. 121). (Ebenda, S. 121). (Ebenda, S. 125).

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vergemeinschaftete Monadenvielheiten koexistieren, deren jede also eine eigene Welt konstituiert, also zwei ins Unendliche getrennte Welten, zwei unendliche Räume und RaumZeiten?“. Darauf antwortet er: „[...] aber diese beiden Welten sind dann notwendig bloße Umwelten dieser Intersubjektivitäten und bloße Aspekte einer einzigen, ihnen gemeinsamen objektiven Welt. Denn die beiden Intersubjektivitäten stehen nicht in der Luft“.546 Die Epoché erfordert die Ausschaltung alles Fremden, alles Transzendenten. Wenn der Andere sich vom Ego konstituieren lassen muss, muss die Phänomenologie so vorgehen, wie sie es immer tat. Der erste Schritt in Husserls Analyse der Intersubjektivität ist also die Ausschaltung des Fremden, allen Verweisens auf andere Ichsubjekte547 und damit zusammenhängend auf diese Welt „Für-jedermann-da“.548 Angenommen, wie Husserl sagt, dass phänomenologisch zu zeigen sei, „wie mein ego innerhalb seiner Eigenheit unter dem Titel ‚Fremderfahrung’eben Fremdes konstituieren kann“549, scheint sein Unternehmen, prima facie, ein Paradoxon zu enthalten. Wenn das Eigene das Fremde konstituieren kann, dann gehört das Fremde in das Eigene und ist deswegen gar nicht fremd. Wenn aber das Eigene das Fremde nicht konstituieren kann, so hat das Ich keine Erfahrung des Anderen überhaupt und bleibt, wie im anderen Fall, in sich selbst verschlossen. Weiter aber, weil wir uns bereits im Bereich des reduzierten Ego befinden, wäre es das Ego selbst, welches sagen würde, dass es den Anderen nicht konstituieren kann. Aber der Andere ist eben da und zu erklären ist genau wie, nicht ob. Sonst würde das Ego sagen, dass es nicht das konstituiert, was es erfährt, nämlich dass es nichts konstituiert, was es doch konstituiert. Natürlich braucht man eine feinere Unterscheidung bei den Begriffen Phänomen und Erfahrung, denn Husserl hat betont, er möchte das Fremde „als eben Fremdes“ konstituieren lassen. Die Erfahrung als Phänomen, das Phänomen als Konstitution, darin liegt all die Problematik. Hier zeigen sich die typischen Paradoxien von Einschließung und Transzendenz jeder (sog. naiven) Mengenlehre, eine Aussage, die man im Zusammenhang mit dem lesen sollte, was Husserl in seinen Zeitvorlesungen sagt, nämlich dass das Ich bzw. das Bewusstsein nicht als ein Sack zu verstehen sei. Aber was würde passieren – im Rahmen dieser 5. Meditation –, wenn das Ich seine Grenze in sich selbst finden würde? Husserl wird sagen, dass es keine Evidenz, sondern nur eine Appräsentation der Anderen gebe. Eine Appräsentation hat denselben Charakter wie die Erwartungen in Husserls Zeitlehre. Würde aber dabei nicht das Ich seine Grenze in sich selbst, als Evidenz der nicht Evidenz des Anderen, finden und damit auch sich selbst als Ich negieren, also als Sphäre der absoluten Eigenheit? Paradoxerweise würde all dies nur in der reduzierten Sphäre der Phänomenologie, d.h. nach der Reduktion, stattfinden! Welche Logik bietet sich hier an? Was ist Ich, was ist der Andere? 546 547 548 549

(Ebenda, S. 166–167). (Ebenda, S. 127). (Ebenda, S. 34). (Ebenda, S. 126).

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Sind sie zwei neue Formen vom Paar Ich und Nicht-Ich, welche letztlich ihre Struktur in der klassischen, zweiwertigen Logik von Sein und Nicht-Sein, im tertium non datur finden? Sollte das Ich nun sagen, dass es auch ein Anderer ist: Würden wir etwas, außer einer unendlichen Iteration, gewinnen? Transzendenz, Immanenz, Schließung, Öffnung - können wir dieser Trennung auf der rein logischen Ebene immer noch vertrauen oder, umgekehrt, solche Unterscheidungen bloß verwerfen? Husserl sagte, die Außergewöhnlichkeit der Zeit betreffend: „Für all das fehlen uns die Namen“550; aber fehlt uns nicht vor allem eine (andere) Logik? Husserl geht in der 5. Meditation davon aus, dass die typische phänomenologische Reduktion auf die Eigensphäre nicht radikal genug sei. Er spricht vielmehr von einer Reduktion mit ungewöhnlichem Sinn, bereits innerhalb des reduzierten Ego: „Abstrahiere ich von den Anderen [d.i., die Reduktion der natürlichen Einstellung wird durchgeführt] in gewöhnlichem Sinne, so bleibe ich allein zurück. Aber solche Abstraktion ist nicht radikal, solches Alleinsein ändert noch nichts an dem natürlichen Weltsinn des Für-jedermann-erfahrbar“.551 Die neue Reduktion schaltet nicht nur das Fremde, sondern auch das „Für-jedermann-da“ der Welt sowie die Anderen, mit denen das Ich, dieses reduzierte Ego, diese Welt notwendig teilt, aus. Die Welt und die Anderen auf die Weise zu bewahren, wie sie sich in der natürlichen Einstellung darbieten, würde ihnen nicht Rechnung tragen. Sie würden für selbstverständlich angenommen und würden ihren fundamentalen Charakter nicht enthüllen, sie blieben reine Meinung. Das Fremde und die Anderen werden also ausgeschaltet und Husserl beginnt, deren Charakter phänomenologisch zu beschreiben. Was bleibt nach dieser Reduktion übrig? Was bleibt in der Eigensphäre, nachdem alles zum Schweigen gebracht wurde? Ein Leib. Mein Leib, eine „eigenheitliche ‚Natur’“, also eine nicht mehr fremde. Dem Ego eigen bleibt eine „einheitlich zusammenhängende Schicht des Phänomens Welt“; der Leib ist ein Körper, der einzige in der Tat “[...] der nicht bloßer Körper ist, sondern eben Leib, das einzige Objekt innerhalb meiner abstraktiven Weltschicht, dem ich erfahrungsgemäß Empfindungsfelder zurechne, […] das einzige, in dem ich unmittelbar schalte und walte“552. Diese reduzierte Natur steht dem (reduzierten) Ego nicht mehr gegenüber, es ist eine „lebendige“ und empfindliche Natur, die sich selbst und das Andere in ihr fühlt. Durch „Kinästhesen“ kann man „leiblich handeln“ und die Welt tätig wahrnehmen, man kann, z.B., „mittelst der einen Hand die andre, mittelst einer Hand ein Auge usw. wahrnehmen […] wobei fungierendes Organ zum Objekt und Objekt zum fungierenden Organ werden muß“553.

550 551 552 553

(Husserl, 1966, S. 75). (Husserl, Strasser, Ijsseling, van Breda & Bernet, 1973c, S. 125). (Ebenda, S. 128). (Ebenda, S. 128).

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Der Leib zeigt sich hier als eine ausgedehnte und differenzierte Fläche, als ein räumliches, erfahrendes Ego. Was bleibt? Der Leib, der ich bin. Diese „Ausdehnung“ kann als relatives Anderssein interpretiert werden, als relatives Auseinandersein oder, überspitzt formuliert, als eine Eigenheit, die sich in keinem Moment als Ganzheit darbietet. Weder der Augenblick (was die Zeit betrifft) noch der Punkt (was die Räumlichkeit angeht), also weder das Jetzt noch das Hier sind Elemente (Einfachheiten), sondern ein Resultat, und doch sind beide originär. Diese komplizierte Verwicklung erklärt Husserl wie folgt: Sollte sich gar zeigen lassen, daß alles als Eigenheitliches Konstituierte, also auch die reduzierte Welt, zum konkreten Wesen des konstituierenden Subjekts als unabtrennbare innere Bestimmung gehört, so fände sich in der Selbstexplikation des Ich seine eigenheitliche Welt als drinnen, und andererseits fände das Ich, geradehin diese Welt durchlaufend, sich selbst als Glied ihrer Äußerlichkeiten und schiede zwischen sich und Außenwelt.554

Wie soll man dieses Ineinander-Gehen des Inneren und des Äußeren verstehen? Der Andere, soweit reduziert, gehört bereits zur Eigensphäre. Das Eigenheitliche aber kann keine Erfahrung an sich und von sich haben, denn Erfahrung ist immer eine vom Anderen. Die Welt ist, laut Husserl, Bestimmung des konstituierenden Ego, aber das Ego kann nur erfahren, wenn es in einer Welt ist – auch sich selbst. Da aber die Welt niemals auf einmal, sondern durchlaufend, also durch Abschattungen gelebt wird, kann sich das Ego auch nicht ganz erfassen. Leib bedeutet eine räumlich begrenzte Erfahrung. So, wie sich beim Zeitbewusstsein das Ego innerhalb von Retentionen und Protentionen befindet, ist das räumliche Ego sowohl Ausdehnung (sogar Sack) als auch Punkt (Glied der Welt), ein von anderen Orten umfasstes Hier. Die Rede ist nicht von Objekten, die sich lediglich im Raum befinden, sondern von einer gelebten Räumlichkeit, welche immer ausgebreitet und lokalisiert ist. Deswegen hat das Ego als eigentlichste Erfahrung die Welt und das bringt mit sich, dass seine eigene Erfahrung, d.h. die Erfahrung von sich selbst, auch zur Welt gehören muss: Das Ego findet sich selbst in der Welt. Nur so kann Husserl das folgende Paradoxon erklären: „Ich, das reduzierte Menschen-Ich (psychophysische Ich), bin also konstituiert als Glied der Welt, mit dem mannigfaltigen Außermir, aber ich selbst in meiner Seele konstituiere das alles und trage es intentional in mir“.555 Mit dem Ausdruck immanente Transzendenz kennzeichnet Husserl diese scheinbare Paradoxie. Aber könnte man sich nicht mit gleicher Rechtfertigung des Ausdrucks transzendente Immanenz bedienen? Oder verlieren hier eher sowohl Immanenz als auch Transzendenz ihren Sinn? Alle Erfahrung konstituiert sich intentional in mir, in meinem Eigenen, durch (Selbst) Explikation; mein Eigenes, sagt Husserl, „enthüllt sich ursprünglich in der erfahrendexplizierenden Blickrichtung auf mich selbst, auf mein wahrnehmungsmäßig und sogar apodiktisch gegebenes Ich-bin und seine in der kontinuierlichen einheitlichen Synthesis der 554 555

(Ebenda, S. 129). (Ebenda, S. 129).

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ursprünglichen Selbsterfahrung verharrende Identität mit sich selbst“556. Die Rede ist dann von einer Selbstkonstitution bzw. Selbstauslegung. Nicht weil die Selbstauslegung selbst und allein den Sinn des Fremden, also der Welt, sowie der Anderen enthüllt; das Eigene wirkt vielmehr als ein Ort, ein von-dem-aus man lebt. Husserl sagt: Die „Erfahrung von Fremdem (Nicht-Ich)“ als „Erfahrung von einer objektiven Welt und darunter von Anderen (Nicht-Ich in der Form: anderes Ich)“ ist ein Faktum557. Die Selbstauslegung begegnet in sich einem Faktum, das wiederum mich in eine Welt und eine Gemeinschaft platziert. Husserl fügt hinzu, „daß die für mich Anderen nicht vereinzelt bleiben, daß sich vielmehr (in meiner Eigenheitssphäre natürlich) eine mich selbst einschließende IchGemeinschaft als eine solche miteinander und füreinander seiender Ich konstituiert, letzlich eine Monadengemeinschaft, und zwar als eine solche, die (in ihrer vergemeinschaftetkonstituierenden Intentionalität) die eine uns selbe Welt konstituiert“.558 Diese „transzendentale Intersubjektivität hat durch diese Vergemeinschaftung“ ihrerseits „eine intersubjektive Eigenheitssphäre“.559 Was bedeutet aber eine intersubjektive Eigenheitssphäre überhaupt? Hat der einzelne Mensch Zugang oder ein intentionales Verhältnis zu dieser ausgebreiteten, ausgedehnten Gemeinschaft? Woraus besteht sie und was ist deren bestimmte Leistung? Darf man ihr die gleichen Kategorien wie der einzelnen Monade zusprechen? Auffassung, Wahrnehmung, Zeitbewusstsein, Evidenz, Selbstkonstitution und besonders Intentionalität: Passt all dies zur transzendentalen Intersubjektivität? Welches sind die Schritte von der Wahrnehmung zur Sichtbarkeit kultureller Produkte, von der Erinnerung zur Geschichte, von der Selbstbezüglichkeit einer Monade zum Austausch zwischen Monaden? Solchen Fragen geht Husserl in den Cartesianischen Meditationen nicht nach. Nach Husserls Analysen finde ich die Anderen, die Welt und mich selbst vor jeder thematischen Auslegung als bereits da seiend vor. Aber die Anderen finde ich nicht wie meinen eigenen Leib. Sie sind ursprünglich nicht unmittelbar zugänglich. Bis hierher hat man eher eine Feststellung als ein grundlegendes Phänomen. Husserl hat vor allem gesagt, dass der richtige Begriff für Erfahrung, im erweiterten Sinne, Welt sei, und dass das Ego, auch sich selbst, nur als Welt erfahren könne, also durchlaufend, und das erfolge gleichzeitig in der Welt. Gesagt wurde auch, dass dieses Durchlaufen, dieses Glied-der-Welt-Sein, wodurch und wie sich der Leib jeweils erfahre, im Ego intentional erscheine, d.h., das Ego zeuge davon. Zu bestimmen ist nun die Funktion der Anderen im Zusammenhang mit einer „für-jedermannda“ seienden Welt sowie meine Beteiligung als Glied dieser Welt und einer Gemeinschaft. Das Ich hat nicht auf der einen Seite die Erfahrung des eigenen Leibs und auf der anderen Seite eine ebensolche der fremden Welt und anderer Leiber. Mein Leib ist auch Körper, er ist 556 557 558 559

(Ebenda, S. 132). (Ebenda, S. 136). (Ebenda, S. 137). (Ebenda, S. 137).

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zugleich für mich und für die Anderen. Es wäre kein Fehlgriff, Marx an dieser Stelle zu zitieren, wenn er treffend sagt, was es bedeutet, ein lebendiger Körper zu sein: „Gegenstand, Natur, Sinn außer sich haben oder selbst Gegenstand, Natur, Sinn für ein drittes sein ist identisch“.560 Natur, Außer-sich-Sein und Für-ein-Drittes-Sein - wenn sie auch nicht das Gleiche bedeuten, dann stehen sie doch in enger Beziehung zueinander. Der Körper der Anderen gilt für mich allerdings nicht als bloßer Körper, sondern eben als Leib. Welche Prüfung, welche phänomenologische Analyse, vom eigenen Leib ausgehend, bietet Husserl? Die Anderen kann ich nicht ganz original erfahren: „Erfahrung ist Originalbewußtsein“ und obwohl ich „im Falle der Erfahrung von einem andern Menschen“ sagen kann, „der Andere stehe selbst ‚leibhaftig’ vor uns da“, muss man bald zugeben, „daß dabei eigentlich nicht das andere Ich selbst, nicht seine Erlebnisse, seine Erscheinungen selbst, nichts von dem, was seinem Eigenwesen selbst angehört, zu ursprünglicher Gegebenheit komme“, denn sonst „wäre das Eigenwesentliche des Anderen in direkter Weise zugänglich“ und daher „bloß Moment meines Eigenwesens, und schließlich er selbst und ich selbst einerlei“561. Genau genommen sind die Anderen weder „leibhaftig“ da noch abwesend; sie sind „mit-da“, nicht aber „selbst-da“ – nicht die Struktur der Selbstheit, sondern die des Mit ist an dieser Stelle gemeint – sie werden für Husserl mittels eines „Mitgegenwärtig-Machens“, einer „Appräsentation“562, zugänglich. Zweideutig ist hier natürlich der Begriff „Konstitution“, weil Husserl nicht sagt, wie man eine Appräsentation in mir und ein Mit-da zu artikulieren hat. Die Anderen in mir und das Ich zwischen den Anderen sind nicht symmetrisch. „Mit“ hätte nicht mehr den Charakter einer bloß in mir erfüllten Intention, sondern den eines Austausches. Konstitution war im Prinzip der absolute Boden der Erfahrung, der absolute Boden alles für mich Geltenden. Die Geltung einer logischen Aussage z.B. liegt aber genau darin, dass sie von mehreren geteilt wird. Meine Bewährung von Anderen hat eine andere Bedeutung als die Bewährung von Wahrnehmungen, welche tatsächlich allein in mir stattfinden. Konstitution scheint hier eher beglaubigen zu bedeuten, in dem Sinne, dass das Ego sowohl glaubt und bestätigt als auch teilnimmt und bezeugt. Vorbild des „Mit“ und der „Appräsentation“ der Anderen ist einerseits die Erinnerung im Hinblick auf meine Gegenwart: „Ähnlich ist […] innerhalb meiner Eigenheit [...] meine Vergangenheit nur durch Erinnerung gegeben […]“, Letztere wird durch „Einstimmigkeitssynthesen der Wiedererinnerung“ wiedergegeben, und „wie meine erinnerungsmäßige Vergangenheit meine lebendige Gegenwart transzendiert als ihre

560 561 562

(Marx und Engels, 1990, S. 578). (Husserl, Strasser, Ijsseling, van Breda & Bernet, 1973c, S. 139). (Ebenda, S. 139).

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Modifikation, so ähnlich das appräsentierte fremde Sein das eigene“.563 Aber anderseits ist der Andere mir nicht vorgegeben, d.h., er gehört nicht zu vergangenen, einst gegenwärtigen Zeitphasen. Die Appräsentation findet auch im räumlichen Wahrnehmen enge Verwandtschaft: „In der äußeren Erfahrung“ wird mit der „eigentlich(en) gesehene(en) Vorderseite eines Dinges stets und notwendig eine dingliche Rückseite appräsentiert“564, mit dem Unterschied, dass die Anderen eine „Seite“ sind, die ich niemals zu einer echten und aktuellen, leibhaftigen Evidenz bringen kann. Zwischen einem fernen, nicht zu vergegenwärtigenden Ort und einer vergegenwärtigten, vergangenen Zeit bewegt sich die seltsame „Erfahrung“ anderer Ichs. Man gerät hier in Versuchung, mehrere topologische Argumente einzuführen, welche neu entstandenen Begriffen im Kontext der Geschichte und der Gemeinschaft Rechnung tragen würden. Zunächst denkt man an den möglichen Übergang von einem Uni-versalismus zu einem Pluri-versalismus, von den Vertikalen (z.B. dem Raum, dem bloß Gleichzeitigen) und Horizontalen (der Zeit, dem bloß Nacheinanderfolgenden) zu einer Diagonale, die beides verbindet, oder zur Gleichzeitigkeit beider Achsen. Zu bedenken ist, dass die ohnehin schon komplizierte Topologie der Zeit, die Husserl in seinen Zeitanalysen zeigt, angesichts der Intersubjektivität noch komplizierter wird. Denn der mehrdimensionale Charakter der Zeit müsste mit der Mehrdimensionalität der Intersubjektivität verbunden werden. Und noch weiter wäre auch zu klären, ob die Begegnung zwischen verschiedenen Traditionen die Komplexität nicht noch zusätzlich steigert. Resultat davon wäre nichts Geringeres als die Behauptung, dass der Anfang (arché) verteilt ist und dass er sich weder auf eine Einheit noch auf eine formlose Multiplizität reduzieren lässt. Außer der Intentionalität nennt hier Husserl die Motivation, die im Prozess der Appräsentation wirkt, als fundamentalen Teil der Intersubjektivität. Die Intentionalität richtet sich an einen Gegenstand, die Motivation dagegen ist eine Art innerer Kausalität, so grundlegend, dass Husserl sie als „die Gesetzlichkeit des geistigen Lebens“565 bezeichnet. Ferner schreibt er, überraschenderweise: [Eine] Motivation [...] [handelt ] von Erlebnissen beliebiger Art, und zwar entweder von solchen, die ‚Niederschläge’ aus früheren Vernunftakten, Vernunftleistungen sind oder nach ‚Analogie’ von solchen als apperzeptive Einheiten auftreten, ohne von der Vernunftaktion wirklich gebildet zu sein, oder von solchen, die völlig vernunftlos sind“ [wie] die Sinnlichkeit, das sich Aufdrängende, Vorgegebene, das Getriebe in der Sphäre der Passivität […] [weiter führt er an:] Das einzelne darin ist im dunklen Untergrunde motiviert, hat seine ‚seelischen Gründe’ […] [und dabei] spricht man in der ‚ichlosen’ Sphäre von dem Ich, das motiviert worden ist […] [nun aber: zu beantworten bei jeder Motivation ist die Frage:] Wie komme ich darauf, was hat mich dazu gebracht? [dies sind] „die ‚Motive’, welche […] oft tief verborgen [sind], aber durch ‚Psychoanalyse’ zutage zu fördern. Ein Gedanke ‚erinnert’ mich an andere Gedanken, ruft ein vergangenes Erlebnis in die Erinnerung zurück usw. In manchen Fällen kann das wahrgenommen werden. In den meisten Fällen aber ist die Motivation zwar im Bewußtsein wirklich vorhanden, aber sie kommt nicht zur Abhebung, sie ist unbemerkt oder unmerklich

563 564 565

(Ebenda, S. 144–145). (Ebenda, S. 139). (Husserl & Biemel, 1991, S. 220).

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(‚unbewußt’).566

Von Begehren zu reden, wäre hier kein Irrtum. Und wenn Intentionalität und Motivation sich kreuzen, werden das Ich und die ichlose Sphäre, das aktuell wahrgenommene (intentional) und das bloß begehrte Objekt (Ziel oder Motivation eines Akts) sowie Präsentation und Appräsentation „permeabel“. D.h., es gäbe Wechselwirkungen zwischen beiden. Für Husserl beginnt die Geschichte des Geistigen nicht mit dem Ich. Oder anders: Es gibt eine Geschichte der Entstehung des Ich welche man als unbewusst verstehen kann.

4.7.4 Die Vorgeschichte des Ich Husserls Phänomenologie ist eine Philosophie der Evidenz und daher der Wahrnehmung. Appräsentation heißt in der 5. Meditation so viel wie Analogisieren, obwohl nicht im bildlichen Sinne. Die Paarung wird uns aufgrund einer „Motivation“ – von einer Wahrnehmung ausgehend – erklärt. Husserl präsentiert seine Position: „Nehmen wir nun an, es tritt ein anderer Mensch in unseren Wahrnehmungsbereich“, d. h., „ein Körper auf“, dann „muß der Körper dort, der als Leib doch aufgefaßt ist, diesen Sinn von einer apperzeptiven Übertragung von meinem Leib her haben“, weil „[...] nur eine innerhalb meiner Primordialsphäre jenen Körper dort mit meinem Körper verbindende Ähnlichkeit das Motivationsfundament für die ‚analogisierende’ Auffassung des ersteren als anderer Leib abgeben kann“.567 Wie gesagt, die Bedeutung von „Konstitution“ erweist sich in dieser Argumentation als schwach und inkonsistent. Was soll das heißen, dass ich die Körper anderer Egos aufgrund der Erfahrung meines eigenen Leibes als Leib erkenne? Das wäre von Grund aus verkehrt. Erst einmal, weil ich, wie Husserl es gesagt hat, kein Bild von meinem Leib habe, sondern lediglich Kinästhesen, da ich dieser Leib selbst bin. Er steht nicht als Modell für die Erkennung anderer Körper als Leiber zur Verfügung. Ferner brauche ich keinen Körper zu sehen, um andere Menschen zu erkennen. Die Sprache als Medium jeder Mitteilung wird hier vermisst. Nimmt man diese Erklärung für Husserls letztes Wort, was die Intersubjektivität anbetrifft, so muss sie als gescheitert gelten. Dieses fragwürdige Verfahren stellt nicht nur den Begriff Konstitution infrage, sondern es spricht von einer Mehrdeutigkeit dessen, was als „Erstes“ und was als „Zweites“ zählen soll. Es gibt kaum andere Stellen, wo die Terminologie Husserls so unscharf ist. Denn diese Übertragung von meiner eigenen Erfahrung auf die Erfahrung anderer Ichs ist entweder unerklärlich – wie kann ich Leiber auf bloße Körper übertragen, d.h., wie kann man diese Kluft überbrücken, wenn ich nur in Bildern denke? – oder überflüssig, weil die Intersubjektivität bereits in Kraft ist, bevor ich den Anderen erfasse. Letzteres scheint der Fall zu sein. Die Reduktion setzt eine gemeinsame Welt voraus: Wenn ich mich, als Phänomenologe, auf mein eigenes Ego reduziere, trage ich trotzdem bereits alle kulturellen 566 567

(Ebenda, S. 222). (Husserl, Strasser, Ijsseling, van Breda & Bernet, 1973c, S. 139).

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Produkte, sogar die Sprache, in mir. Husserls Darstellung birgt noch andere wichtige Spannungen in sich. Seine ersten philosophischen Schritte sind davon ausgegangen, dass die ohne weiteres angenommene Transzendenz der Dinge eigentlich auf einem intentionalen Sinn beruht. Eine anfängliche Kluft zwischen „Ich“ und „Objekt“ kann nicht mehr überwunden werden, sie ist an sich widersprüchlich. Gleicherweise ist eine radikale Transzendenz der Anderen noch eine andere Version des Dings-an-sich. Husserls terminologische Unsicherheiten zeugen von einer Spannung innerhalb seiner phänomenologischen Entdeckung, einer nicht zu überwindenden Sackgasse, aber damit auch von einer neuen Logik. Welt und Horizont, Abschattungen und Vergegenwärtigungen sollten die (relative) Transzendenz der Welt intentional thematisieren. Paarung, Appräsentation und Einfühlung (was Husserl als Theorie der Fremderfahrung definiert) sind die Versuche, mit der Transzendenz der Anderen umzugehen. Auf halbem Weg fragt man sich, ob Transzendenz und Immanenz gleichermaßen unzutreffend sind und, damit zusammenhängend, die Rede von einem absoluten Ego sowie von einer absoluten Andersheit. Die Paarung scheint diesbezüglich nichts anderes zu sein als das normale und ununterbrochene Erkennen anderer Ich als Ich, sogar aufgrund des bloßen Ansehens ihrer Körper, aber nur, weil eine Gemeinschaft bereits und seit jeher supponiert werden muss. Die Gemeinschaft erstreckt sich vom Vorsubjektiven und von der aus der Natur kommenden Erfahrung bis zur übernatürlichen, historischen Übermittlung der Welt. Husserl hat schon die Erfahrung anderer Ich mit der meiner eigenen Vergangenheit verglichen: Davon gibt es keine Wahrnehmung. In diesem Modus des Zeitbewusstseins zeigt sich „der unerreichbare Limes der Erinnerungsanschauung“, sonst „wäre es aber Gegenwart“. Aus demselben Grund kann die „Einfühlung [...] nicht Wahrnehmung werden“568. Das bedeutet Gegenwart im engsten und primärsten Sinne: Wahrnehmung und diese, eine auf das Ich bezogene, Erfahrung. Das meditierende Ich, der anfangende Philosoph, der Phänomenologe ist es, der seine absolute Gegenwart relativiert; erstmal, wenn er erkennt, dass sich die Zeit nur aus Verflechtungen von Gegenwärtigem und Nicht-Gegenwärtigem konstituiert, und danach, wenn er sich selbst in eine Gemeinschaft platzieren muss. Natürlich folgt daraus die Frage, ob das Ich selbst nicht einer (transzendentalen) Genese unterworfen sei. Husserl beantwortet diese Frage positiv: In meiner alten Lehre vom inneren Zeitbewusstsein habe ich die hierbei aufgewiesene Intentionalität eben als Intentionalität, als Protention vorgerichtet und als Retention sich modifizierend, aber Einheit bewahrend, behandelt, aber nicht vom Ich gesprochen, nicht sie als ichliche (im weitesten Sinn Willensintentionalität) charakterisiert. Später habe ich die letztere als in einer ichlosen (‚Passivität’) fundierte eingeführt. Aber ist das Ich der Akte und der daraus entspringenden Akthabitualitäten nicht selbst in Entwicklung?569

568 569

(Husserl, Kern, Boehm & Ijsseling, 1973a, S. 598). (Ebenda, S. 594–595).

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Husserls „Weg in die différance“

Ich bin, wie Husserl sich äußert, ein „Kind der Zeit […] in einer weitesten Wir-Gemeinschaft, die ihre Tradition hat, die wieder in neuer Weise Gemeinschaft hat mit den generativen Subjekten, mit den nächsten und fernsten Vorfahren“, diese Tradition „hat auf mich ‚gewirkt’, ich bin, was ich bin, als Erbe“.570 Was ist dann das „Meine“, das „von mir aus original (urstiftend)“ Erzeugte? Denn „all mein Eigenes ist fundiert, teils durch diese Vorfahrentradition, teils durch Mitfahrentradition“; also „Gedanken gehen in mich ein“571 und das Ich ist urstiftend nur angesichts dieser Tradition und deren Eindringens in es. Auch Erfahrungen kann man „unmittelbar gemeinsam“ haben, in der „Gemeinschaft der Einfühlung“, und wir „haben auch Übernahme von Erfahrungen durch Nachverstehen von Erfahrungen, die wir nicht selbst als originale haben, die wir ohne weiteres im Mitglauben aufnehmen“; ferner wird gesagt: „Wir übernehmen mittelst der Sprache Mitteilungen über das, was ‚da und dort ist’, nämlich gemäß der fremden Erfahrung und Beschreibung“.572 All das spricht nicht nur für ein retentives und protentionales, sondern für ein durch Andere sich bildendes Bewusstsein. Dieses kann nun aber nicht mehr nur selbstbildend sein, sonst würde das Ego sich selbst aus dem Nichts erschaffen; die Anderen könnten dieses Ego auch nicht selbst erzeugen; ganz im Gegenteil - es wird in eine Gemeinschaft anderer Ich hineingeboren, also: Die Strukturanalyse der urtümlichen Gegenwart (das stehend lebendige Strömen) führt uns auf die Ichstruktur und die sie fundierende ständige Unterschichte des ichlosen Strömens, das durch eine konsequente Rückfrage auf das, was auch die sedimentierte Aktivität möglich macht und voraussetzt, auf das radikal Vor-Ichliche zurückleitet.573

Des „ersten Aktes“: Was wäre „seine Unterlage?“574 Husserls Ansatz geht in zwei Richtungen: Das Vor-Ich muss seit jeher die Struktur eines Ich haben, obwohl auf leere Weise, als Form reiner Möglichkeit. Einen Urhorizont, allerdings einen leeren, welcher die Erbmasse der Generationen bekommen wird, hat tatsächlich das Neugeborene. Dieses Vor-Ich sei noch nicht (geistig) lebendig, sagt Husserl, und trotzdem habe es sozusagen eine „Ur-bereitschaft“, Mensch zu werden. Und so verhält es sich: „Die Lebendigen wecken den Unlebendigen“, das Urkind „wird affiziert“ und „bekommt Hyle als erste Fülle, ersten Anteil an der Welt der wachen, der lebendigen Ichsubjekte, die miteinander schon in lebendigem Konnex sind und mit denen es damit in einen ersten geburtlichen Konnex tritt“.575 Auf diese Weise kommt die Einfühlung zustande, durch die „Eltern“, welche sich bereits „in einer Allgemeinschaft von lebendigen Ich in der historischen Allzeitlichkeit, der sie 570 571 572 573 574 575

(Husserl, Kern, Ijsseling, Breda & Bernet, 1973b, S. 223). (Ebenda, S. 223). (Ebenda, S. 223). (Husserl, Kern, Boehm & Ijsseling, 1973a, S. 598). (Ebenda, S. 604). (Ebenda).

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angehören“, befinden; „Instinktiv“ orientiert sich das Urkind nach seinen Kinästhesen auf die Dinge, nur dass diese weder richtige Dinge sind noch in eine Welt hineingehören, weil die Welt als Welt für das Kind noch keinen Sinn hat – er hat sich noch nicht, in beiden Sinnen des Wortes, konstituiert. Dieses Kind nimmt trotzdem etwas wahr, aber „ohne Reflexion auf sich, ohne ausgebildete Zeitlichkeit, ohne verfügbare Wiedererinnerungen, strömende Gegenwart mit Retention und Protention“576 und selbstverständlich ohne Sprache. Hier tappt Husserl wirklich im Dunkeln, aber ihm entgeht nicht die Tatsache, dass diese ersten und für das konstituierte Ich dunklen Tage des Lebens auf die Anderen bezogen sind. Nicht nur den Kinästhesen bedient sich das Kind, es konstituiert sein Verhältnis zu den Anderen durch die Mutter und zwar durch die „Erfüllung des Begehrens; wenn sie kommt und da ist, so tritt Erfüllung ein“.577 Eine solche Erfüllung ist noch nicht Einfühlung. Alles ist hier unsicher und problematisch. Die Einfühlung muss, wie der Leerhorizont, vorher vorhanden sein, damit das Kind in die gemeinsame Welt hineingebracht werden kann. Wir wissen aber, dass das Urkind von der Welt gar nichts weiß, das sein Ich sich noch nicht entwickelt hat, dass es die Anderen braucht, um überhaupt der Mensch zu werden, der es a priori im Kern schon ist. Für Einfühlung braucht man Mitteilungen der Anderen und Mitteilungen machen den intersubjektiven Verkehr aus. Ferner: Wir alle, „Subjekte der Welterfahrung“, auch von Anfang an, „haben die endlos offene Welt nach [unseren] bekannten Wirklichkeiten und unbekannten Möglichkeiten je von uns aus, jeder von sich aus durch die Vermittlung der Anderen und letztlich ihrer Mitteilungen“ und alle „sprachliche Mitteilung“ trägt zum „Erfahrungssinn der Welt, in der wir handelnd leben“578, bei. Husserl beschrieb diese erste Beziehung als „Verkehr – Konnex durch Mitteilung“, als Voraussetzung für gemeinsame Namen und gemeinsame Dinge; also „Das Kind lernt von der Mutter gesprochene Laute als Verweisungen, als Zeichen verstehen, die auf Bezeichnetes hinlenken“.579 Eine Einfühlung in eine gemeinsame und objektive Welt kann ohne Sprache gar nicht geschehen. Das „Sprechen, das Nennen der gemeinsamen Dinge“, vollzieht sich in Akten, in einem „Ich-Du-Konnex“, und dabei werden Zeichen von den geteilten Dingen in einem Grundkonnex erzeugt, „damit Andere sie erkennen“. 580 Durch diesen Ich-Du-Konnex bin „ich in den Anderen, die Anderen in mir als Mitgeltung vollziehend“, so versteht sich dieser Konnex „im ändernden Handeln“ als „praktische Einigung, praktischer Streit; praktische Hemmung durch einander, praktische Durchführung, ein neues, verändertes Objekt erzeugend, das nun aber Objekt für alle ist“; obwohl alles immer nur „für mich“ ist, hat es einen „Bedeutungscharakter für mehrere, für alle, aber mit Subjektbezogenheiten [...] innerhalb der

576 577 578 579 580

(Ebenda, S. 605). (Ebenda, S. 220). (Ebenda, S. 220). (Ebenda, S. 606). (Ebenda, S. 607).

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Husserls „Weg in die différance“

Gemeinschaft“.581 Jede Sprache ist aber eine bestimmte Sprache, die sich in einer bestimmten Kultur entwickelt. Und trotzdem haben wir gesehen, dass die Welt uns allen, trotz der kulturellen Zugehörigkeiten, a priori gemeinsam ist. Außerdem: Wie könnte das Kind die Sprache ohne eine gemeinsame, vor-sprachliche Welt lernen, wie würden sich die Worte auf etwas beziehen? Sonst bräuchte das „Ich“ keinen Körper überhaupt, es würde sich in der Luft der Worte bewegen, der Leib wäre absolut überflüssig. Letzterer ist nicht nur ein bloßer Körper, er ist das „von-dem-aus“ der Erfahrung, er ist das Lokalisierende und Singularisierende. Weiter hat Husserl auch behauptet, der Konnex entstehe aus dem Austausch nicht nur von Worten, sondern auch von Begierden und, sagt er zusätzlich dazu, Trieben. Worte begehren nicht, obwohl man durch und in Worten begehrt. Im Trieb liegt, sagt Husserl, „die Bezogenheit auf den Anderen als Anderen und auf seinen korrelativen Trieb“.582 Immer tastend schreiten diese kleinen und unvollendeten Entwürfe Husserls fort; bemerkenswert ist seine (beabsichtigt oder nicht) Annäherung an die Psychoanalyse. Er geht noch einen Schritt weiter in diese Richtung, wenn er behauptet: „[D]ie Primordialität ist ein Triebsystem“; diesem Triebsystem entspräche dann eine Triebintentionalität (eine Gemeinschaft von Trieben), wo die Begierde sich an die Erfüllung richtet und wovon die Beziehung Mutter und Kind eine Vorstufe583 wäre. Das Begehren ist nicht angeboren, die einzelnen Triebe werden durch die Gemeinschaft mitkonstituiert. Es ist eine Frage der Gemeinschaft und nicht des Individuums, welche Triebe in ihr produziert und reproduziert werden. Triebe weisen einmal auf die Menschlichkeit, einmal auf die Natur hin. Sie sind „Menschbildend“ und trotzdem verwurzelt in der Natur. Der intersubjektive Trieb584 zeigt sich nun auch als eine „universale Triebintentionalität“, „die jede urtümliche Gegenwart als stehende Zeitigung einheitlich ausmacht und konkret von Gegenwart zu Gegenwart forttreibt derart, dass aller Inhalt Inhalt von Trieberfüllung ist“; dies würde in so einer Weise erfolgen, „dass in 581 582 583

584

(Ebenda, S. 607). (Ebenda, S. 594). Dazu sagt Husserl: „Indessen ist die Frage, ob nicht, und notwendig, Triebintentionalität, auch die auf Andere (geschlechtlich-sozial) gerichtete, eine Vorstufe hat, die vor einer ausgebildeten Weltkonstitution liegt- mag die Weltkonstitution auch nicht so weit reichen wie für den Menschen als ‚Vernunftwesen‘. Ich denke hier an die Probleme Eltern, oder vor allem, Mutter und Kind, die aber auch im Zusammenhang der Kopulationsproblematik erwachsen. Die Primordialität ist ein Triebsystem“ (Ebenda, S. 594). Pugliese schrieb in einem Artikel zu Husserls Ttriebsphäre: „Die Forschung zum Trieb [...] erweitert […] die Analyse der Tendenz, welche schon in einer früheren Phase als Grundstruktur der angeborenen Teleologie des Bewusstseins herausgestellt worden war. Der Trieb besteht in einer unmittelbaren Tendenz, die aus dem Inneren des Bewusstseins hervorkommt. Er quillt aus dem ersten Kontakt mit der Welt hervor, aus der vorreflexiven Konstitution, aus dem vorprädikativen Wahrhaben einer Welt, und sein Verlauf beabsichtigt, die Aufmerksamkeit des Ichs zu erwecken. Der Trieb scheint mir insofern als genetische Brücke zwischen tieferen und höheren Dimensionen des Ichs zu funktionieren. In der Ausübung dieser verbindenden Funktion erweckt er allerdings ein eigenes Subjekt, das Husserl in den E-Manuskripten als ,,Urkind’’ kennzeichnet“. Der Trieb wird „weder als bloß natürliche, für eine Philosophie des Bewusstseins unerhebliche Tatsache, noch als bloße niedere Stufe des Willens interpretiert“, denn „der Trieb gehört vielmehr zur transzendentalen Struktur des Ichs als einer der in der Konstitution mitwirkenden Faktoren [...] Er ist im Leib tief verwurzelt und spielt zugleich eine wichtige Rolle in der Auffassung der Welt“; sie folgt daraus: „In diesem Rahmen erweist sich der Trieb als ,,transzendentales Faktum’“ (Pugliese, 2009, S. 142).

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jeder primordialen Gegenwart transzendierende Triebe höherer Stufe in jede andere Gegenwart hineinreichen und alle miteinander als Monaden verbinden“585. Diese Vorstellung, sagt Husserl, „würde zur Auffassung einer universalen Teleologie führen, als einer universalen Intentionalität als sich einstimmig in der Einheit eines totalen Erfüllungssystems erfüllenden“, als einer „absoluten ‚Simultaneität‘ aller Monaden, durch wechselseitiges unmittelbares und mittelbares Transzendieren von Trieben vergemeinschafteten Monaden“.586 Schließlich lässt sich behaupten, daraus ergebe sich eine: Unendlichkeit von Monadenstufen [...] mit Stufen der Ich- und Weltentwicklung [...], dabei die Unendlichkeit der Stufen von animalischen Monaden, der tierischen, vortierischen, andererseits bis hinauf zum Menschen, andererseits der kindlichen und vorkindlichen Monaden - in der Ständigkeit der ‚ontogenetischen‘ phylogenetischen Entwicklung.587 Diese universale Teleologie neigt zu einer immerfort sich „‚steigernden’ totalen Intentionalität in der fortwachsenden Lebendigkeit einer einheitlichen bewusstseinsmäßigen Monadengemeinschaft“; diese Monadengemeinschaft ist zum Schluss „universal konstituierte Triebgemeinschaft“ und „ihr entspricht im Strömen jeweils horizonthaft schon seiende Welt, wonach sie in sich immer wieder Monaden zur gesteigerten Ausbildung, zur ‚Entwicklung‘ bringt und immer schon gebracht hat“; dieser Trieb „schafft“ nicht nur verschiedene Ich-Zentren, er vollzieht sich, nach Husserl, in einer „Totalität der Monaden in Abschlagszahlungen zum Selbstbewusstsein, zuhöchst universal als Menschengemeinschaft“; diese scheinbar universelle und nicht nur menschliche Gemeinschaft aber mündet kurioserweise im emporgestiegenen „Willen der Welterkenntnis [...] in der europäischen Kulturmenschheit als universale positive Wissenschaft schaffend.588

Gegen den für Husserl selbstverständlichen Schluss aus diesen Gedanken erheben sich seine eigenen Überlegungen. Die Triebgemeinschaft erzeugt Ich-Zentren und diese erzeugen sich gegenseitig durch Begierden, vom (Vor)Tierischen bis zur menschlichen Welt. Die Natur wird nun aber noch eine zusätzliche Rolle in der Intersubjektivität spielen: Die „Dingwelt“ inkludiert alle „Menschen (und Tiere)“, so dass „die Intersubjektivität als Korrelat der Objektivität - vor der Objektivierung der Menschen“589, verstanden werden muss. Das bedeutet: Die Welt, obwohl sie nur durch Worte zur Objektivität gebracht werden kann, ist bereits irgendwie und seit jeher da, nicht als ein unbestimmtes, gleichgültiges „Es“, sondern als das, trotz aller Zugehörigkeit, die Menschen konkret Verbindende. Wäre dem nicht so, so wären im Prinzip alle Objekte kulturell exklusiv, anderen Kulturen verschlossen. Natürlich wäre hier der Ort für eine Theorie interkultureller Verständigung590, d.h. für eine Hermeneutik. 585 586 587 588 589 590

(Husserl, Kern, Boehm & Ijsseling, 1973a, S. 595). (Ebenda, S. 595). (Ebenda, S. 595). (Ebenda, S. 595–596). (Ebenda, S. 607). Husserl: „Jeder Mensch versteht zunächst einem Kerne nach und mit einem unenthüllten Horizont seine konkrete Umwelt bzw. seine Kultur, eben als Mensch der sie historisch gestaltenden Gemeinschaft. Ein tieferes Verständnis, ein solches, das den Horizont der für das Verständnis der Gegenwart selbst mitbestimmenden Vergangenheit eröffnet, ist jedermann aus dieser Gemeinschaft prinzipiell möglich, in, einer gewissen nur ihm möglichen Ursprünglichkeit, die einem mit dieser Gemeinschaft in Beziehung tretenden Menschen aus einer anderen Gemeinschaft verschlossen ist. Zunächst versteht er die Menschen der fremden Welt, wie notwendig, als Menschen überhaupt und als solche einer gewissen Kulturwelt; von der aus muß er sich erst schrittweise die weiteren Verständigungsmöglichkeiten schaffen. Er muß von dem allgemeinst

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Husserls „Weg in die différance“

Das ist aber nicht Husserls Absicht: Die Kulturwelt betreffend, sagt er, „so ist auch sie als Welt von Kulturen orientiert gegeben auf dem Untergrunde der allgemeinen Natur und ihrer raumzeitlichen Zugangsform, die für die Zugänglichkeit der Mannigfaltigkeiten der Kulturgebilde und Kulturen mitzufungieren hat“.591 Man darf sich die Frage stellen, ob hier die Begriffe Objekt und Objektivität für diese gemeinsame „Urnatur“ passend sind. Eine Vorstellung von all dem könnte man gewinnen, wenn man sich die Begegnung zwischen der Alten und der Neuen Welt 1492 vorstellen würde: Eine Begegnung fremder Leiber, die bei Weitem das überschreitet, was sie voneinander durch das Lernen der jeweils anderen Sprache verstehen konnten. Das Gemeinsame bedeutet nicht gemeinsamen Sinn; Streit oder Übereinstimmung, Förderung oder Hemmung sind gleichermaßen möglich. Sobald die Intersubjektivität Begehren und Willen einschließt, ist die Macht nicht mehr auszuschließen, was Husserl zu sehen anfängt: „Nun ist im Fall des Willensstreites in der Vergemeinschaftung in Frage die ‚Macht’“.592 Wie vertragen sich beide Gedanken - der einer teleologischen, nach Übereinstimmung strebenden und der einer a priori offenen Intersubjektivität? Offensichtlich nicht gut. Diese Welt „vor der Objektivierung“ impliziert zugleich eine Gemeinschaft mit Tieren – ein immer wiederkehrendes Thema bei Husserl –, mit denen Menschen auch Akte, wie Wahrnehmung oder Gedächtnis, teilen, und daher gewissermaßen eine gemeinsame Welt sowie einen nicht-sprachlichen Zugang irgendwelcher Art zu ihr haben. Von Tieren bis zu den nicht lebendigen Dingen ergibt sich eine Abstufung, wo das „Intersubjektive“ kontinuierlich in die nicht lebendige Welt herabsteigt; gleichzeitig ist alles, Dinge, Tiere und Menschen, „fürdie-anderen-da-seiend“. Man sollte sich nicht zur Schlussfolgerung verleiten lassen, dass das „Vor-prädikative“ und „Vor-sprachliche“ das Eigentlichste sei, eher müsste man sagen, die Welt entspringt der Natur und der Sprache zugleich, wie aus zwei Quellen, die trotzdem verbunden sind. Man sieht hier die kontradiktorischen Forderungen der Phänomenologie: a) Eine scharfe Trennung Natur-

591 592

Verständlichen aus sich erst Zugang zu dem Nachverstehen immer größerer Schichten der Gegenwart und von da der historischen Vergangenheit erschließen, das dann wieder für ein erweitertes Erschließen der Gegenwart hilft“ (Husserl, Strasser, Ijsseling, van Breda & Bernet, 1973c, S. 160–161). (Ebenda, S. 162). Das Zitat geht weiter: „In der Deckung ist es z.B. so, dass ich gegen seinen Willen, seine Absicht mich in meinem Willen wende, aber er tut doch, und ich kann es nicht hindern. Er verhindert mein Tun, mein leibliches, indem er mich leiblich bindet oder mich mit dem Tod bedroht, oder er zwingt mich, indem er mir geistig Böses zuzufügen droht, das ich nicht verhindern könnte, als was über meinem Vermögen wäre. Indem er so sich verhält, kann es sein, dass mein negativer Wille als das verbleibt – als ohnmächtiger Wille. Es kann auch sein, dass ich mich füge, meinem negativen Willen, meinem Willen wider ihn, entsage. Ja, er kann mich evtl. zwingen, meinem gesamten Wollen als selbsteigenem zu entsagen, um ihm zu Dienste zu sein. Ich werde zum Sklaven, und dann kann ich es sein im entsagenden Willen, im mich bloss Fügen und ihm in allem zu Willen Sein, ihn in meinem Wollen wollen zu lassen, oder ich kann seinen Willen in der Weise ganz in mich aufnehmen, dass ich nicht mehr bloss um des Zwangeswillen ihm diene, sondern der bezwungene Wille zum freien Willen wird, ohne noch gegen ihn mich innerlich ‚aufzubäumen‘“ (Husserl, Kern, Boehm & Ijsseling, 1973a, S. 510).

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Kultur vorauszusetzen, weil die Reduktion eben das Natürliche einklammert und die rein geistige Welt in den Vordergrund rückt; b) den Unterschied Natur-Kultur aufzuheben, soweit die reine phänomenologische Erfahrung sich nur auf das Erlebte stützt und nicht auf begriffliche Konstruktionen; c) den Sinn wieder in einer „Natur“ zu verorten, die nicht mehr wissenschaftlich ist. Die Phänomenologie zeigt gleichzeitig das „Vor“ und die „Erfüllung“, den Anfang wie das Ende, und beide bilden nicht die Form eines Kreises, sondern sind eng miteinander verflochten; es handelt sich in Bezug auf die Zeit von einer Verflechtung der Intentionalität. Das Zeitbewusstsein besteht aus „intentionalen Strahlen“, die sich aufeinander ausrichten, sie formen ein Bündel, eine Webe, keine Linie, weder eine gerade noch eine geschlossene (Kreis). Ähnlich ist die Gemeinschaft eine Verflechtung von gegenseitigen Intentionalitäten: Sprachliche Mitteilungen und Triebe, welche die konkreten Ichs „zum Leben“ bringen. Wie Carr593 behauptet, sollte man nos cogitamus sagen, da die Anderen mir als cogitatum cogitans594 gegeben werden; aber auch „parallel to the solipsistic level, it is necessary to provide a theory not only of the community’s world but also of the community’s own beingfor-itself, that is, a theory of its givenness to itself“, genauso „like an ego“ muss die Gemeinschaft als „self-constituting“595 verstanden werden. Jetzt muss nur noch vorausgesetzt werden, dass das „Wir“, die Gemeinschaft, nicht nur menschlich sein kann.

4.7.5 Die nicht-gleichzeitige Gleichzeitigkeit der Ichs Was ist diese Gleichzeitigkeit verschiedener Ich-Zentren? Wenn wir bereits gesehen haben, dass das Zeitbewusstsein eine Verflechtung von Zeiten, von Gegenwärtigem und NichtGegenwärtigem ist, wäre das Gemeinsame nicht eine Verflechtung von Verflechtungen, eine Gleichzeitigkeit des nicht ganz Gleichzeitigen? Wiederholen wir Husserls Argumentation noch einmal: Der Einzelne schaltet die natürliche Einstellung aus (Reduktion), er entdeckt seinen Leib als „eigentliche Natur“, sein Leib ist ausgedehnt, verweltlichend, er ist in dieser Welt, aber er hat eigentlich keine Welt, sondern er ist als Welt; gleicherweise hat er keinen Leib, sondern er ist sein Leib und als Leib. Danach aber, scheint es, entdeckt er zufällig einen anderen Menschen. Diese „Kontingenz“ enthüllt aber, dass eine Gemeinschaft, die diese kontingente Begegnung möglich macht, vorher da war. Das Ego versucht nun zu klären, wie die Anderen, die erste wahre Transzendenz – soweit mir eine eigene „Natur“ korrespondiert – mit ihm eine Welt teilen. Das Ego sieht gleich, dass es selbst eine Konstitutionsgeschichte hat, dass es innerhalb einer bereits existierenden Gemeinschaft in die Welt kommt. Die Phänomenologie wird zur transzendentalen 593 594 595

(Carr, 1973, S. 14–35). (Ebenda, S. 29). (Ebenda, S. 31).

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Entwicklungsgeschichte des Ich. Das Ich entsteht, es ist ein „Produkt“. Aber dieses Ich supponiert schon andere Ichs und zwar in der Form einer Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft - woraus hat sie sich entwickelt? Aus sich selbst offensichtlich, aus dem gegenseitigen Verkehr. Die Gemeinschaft im genetischen Sinne ist nicht Gedächtnis, sondern Geschichte, Tradition und Erbe. Weil aber diese Gemeinschaft auch in den Trieben verwurzelt ist, weil die Intersubjektivität eine „Ur-Welt“ – die Rede ist hier nicht von meinem Körper, meiner eigentlichen, sondern von der gemeinsamen Natur – voraussetzt, die allen und keinem gehört, müsste man sagen, dass sie auch kontinuierlich der Natur entspringt. Das bedeutet, die „Natur“ antizipiert den Menschen596, welcher sie wiederum „konstituiert“ bzw. versteht und interpretiert. Diese Interpretation erschöpft nicht die Natur, die immer in ihrer Unbestimmtheit für alle da ist und verbindend wirkt, bevor überhaupt eine Sprache in Erscheinung tritt. Des Weiteren sind schon viele menschliche Akte in anderen Lebewesen antizipiert (Wahrnehmung, Mitteilung, Trieb, Gedächtnis, Sensibilität, Zeitbewusstsein usw.). Tiere konstituieren auch ihre „Welt“ und wir wissen auch auf indirekte Weise davon. Trotzdem ist die Kluft zwischen Menschen und Tieren nicht zu überwinden. Nur an dieser Stelle würde man vielleicht mit einer strikten Phänomenologie brechen können, nur an diesem Punkt, wo das Gemeinsame nicht mehr rein menschlich – auch nicht göttlich – ist, weil es in die uferlose, jedoch zum Teil indirekt, zum Teil direkt zugängliche Natur versinkt. So könnte man mit Bertrand Russell sagen: „Kant spoke of himself as having effected a ‘Copernican revolution’, but he would have been more accurate if he had spoken of a ‘Ptolemaic counter-revolution’, since he put Man back at the centre from which Copernicus had dethroned him“.597 So gehört jede strikte Phänomenologie zu dieser Gegen-Revolution, zu einer erneuten Ptolemaischen Wende. Husserls Denken ist jedoch viel komplizierter: Obwohl das „Ich“ von einer Welt, von einer Gemeinschaft, von einer Geschichte, von Gegenwart und Zukunft (originär und nicht originär) umgeben ist, hat es Vorstellungen davon. Es „trägt“ all dies intentional in sich. Wir sehen dann immer eine auftretende doppelte Forderung: Das Ich ist der Anfang der Welt als Erfahrung, persönliche Erfahrung ist allerdings in der Gemeinschaft fundiert; die Gemeinschaft ist das an sich erste Sein598, aber sie setzt ihrerseits eine Natur voraus. Die Natur hat nur in der Objektivität, und diese in der Sprache, Geltung, aber die Natur ist für 596

597 598

Diese Antizipation findet nicht nur „evolutionstheoretisch“ statt; wenn das Ich und die Gemeinschaft miteinander verflochten sind, dann folgt daraus, dass die Natur auch im Voraus Verflechtung und gegenseitiges Hinweisen sein muss. Eine solche Vorstellung findet man in der Systemtheorie, wo die „Natur“ eher als ein Netz von Verhältnissen verstanden wird. (Russell & Slater, 1997, S. 9). „Das an sich erste Sein, das jeder weltlichen Objektivität vorangehende-und sie tragende, ist die transzendentale Intersubjektivität, das in verschiedenen Formen sich vergemeinschaftende All der Monaden“(Husserl, Strasser, Ijsseling, van Breda & Bernet, 1973c, S. 182–183).

Die Intersubjektivität in der Phänomenologie

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jedermann da, vor der menschlichen Objektivierung. Diese Natur ist ein strukturelles Element der Gemeinschaft; es gibt Kommunikation zwischen Anwesenden, Übermittlung zwischen Abwesenden und immer Vermittlung durch die Welt: Sie orientiert sich an der eigenen Gemeinschaft, weist aber auf eine uns allen gemeinsame Natur hin. Diese Natur wird intentional getragen und muss doch, wie gesagt, vor jeder Intention, jeder „Objektivierung“ da sein. Das Ich ist zwischen den Anderen, es ist sogar „Resultat“ der Anderen, von denen es alles geerbt hat, was es ist; aber es trägt eine „verinnerlichte“ Gemeinschaft in sich, denn sonst könnte man diese Gemeinschaft gar nicht denken. Sie wäre dem einzelnen Denker unvorstellbar und unzugänglich, davon hätte er keine Ahnung. Es gibt also eine Kluft: die Anderen leben nicht mein Leben, andere Kulturen verstehen die meine nicht wirklich, Menschen haben keinen Zugang zum Tier, zur nicht wissenschaftlichen Natur usw. Und trotzdem gibt es eine originäre Gemeinschaft, eine gewisse Kontinuität: Ich in den Anderen und die Anderen in mir, alle „Kulturen“ als Abschattungen der Menschen, die Tiere als Teil der einen Welt, die Natur als ewige zugängliche Voraussetzung für eine gemeinsame Existenz. „Subjekte“, Tiere, Dinge und Natur unterscheiden sich, werden aber durch das „Gemeinsame“ verbunden, das aber nichts anderes ist, als das reziproke Hinweisen. Dieses Dritte ist kein Körper, kein Subjekt, keine Natur, sondern deren Verflechtung. Müsste man nicht sagen, dass diese Schwierigkeiten mit dem Begriff Anfang zu dessen Annullierung oder besser zu dessen Komplizierung führen? Wird der Anfang negiert oder multipliziert? Ist „kein Anfang“ das Gleiche wie „mehrere Anfänge“ oder die Vermehrung des Anfangs? Der Mensch ist vor der Natur antizipiert worden und verschafft sich Gemeinschaft, wo aber die Mitglieder, weil mit-einander, in-ein-ander und auch getrennt, nicht in eins fallen können. Die Intersubjektivität scheint teleologisch zu sein, sie strebt nach Wissen und Übereinstimmung, aber sie zeigt sich auch als Streit und Beherrschung von Trieben, wobei man nicht sagen kann, dass objektive Übereinstimmung das „Erste“, Streit das „Zweite“ wäre. Die Intersubjektivität ist der Ort aller Geltung, aber Geltung ist immer kulturell gebunden, die ganze Menschheit ist tendenziell Vollendung dieser Objektivität durch Abschattungen, aber diese hat in den europäischen Wissenschaften, genauer gesagt in ihrem teleologischen Geist, ihre perfekteste Gestalt. Die Gemeinschaft ist absolut a priori und trotzdem ist sie nichts außer ihrer konkreten und praktischen, sogar leiblichen Existenz, d.h., die Gemeinschaft ist vielleicht jenseits und diesseits aller menschlichen Projekte, aber sie ist auch nur lokalisiert, hier oder da, in dieser Zeit, mit diesem Leib, mit diesen oder jenen Beziehungen; der Leib vermeidet, dass die Existenz bloß in den sprachlichen wortlosen Mitteilungen untergeht. Wenn man die V. Meditation im Zusammenhang mit den zum großen Teil unorganisierten und unsystematischen Gedanken, die in den drei Bänden der Husserliana zur Intersubjektivität gesammelt sind, liest, kann man all diese Argumentation rekonstruieren und verfolgen. Das Werk Husserls hat dieses besondere Merkmal: Man sieht sich einerseits mit den veröffentlichten Texten und anderseits mit zahlreichen Texten, Entwürfen und Notizen aus dem Nachlass konfrontiert. Letztere sind häufig anregender, sie bergen außergewöhnliche

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Husserls „Weg in die différance“

Darlegungen und schwer zu begründende Aussagen, welche man versucht, mit den veröffentlichten Werken im (problematischen) Zusammenhang zu lesen, damit man plausible Argumente gewinnen kann. Wir versuchten hier wichtige Gedanken zur Sprache zu bringen. Aber Husserl wollte mit den unterschiedlichsten Untersuchungen immer das gleiche Resultat erreichen: die Möglichkeit einer unbeirrbaren (philosophischen) Wissenschaft und eines objektiven, unbestreitbaren Wissens. Trotz des Vergleichs der Intersubjektivität mit dem Raum und der Äußerlichkeit der Zeit, trotz der Tatsache, dass die Anderen keine strikte Evidenz, also leibhaftig, liefern, trotz dessen, dass er sich eine Gemeinschaft mit mehreren Zentren und aus deren Verkehr entstehend gedacht hat, schließt er seine Meditationen mit Agustin: in interiore homine habitat veritas. Als ob Husserl die Phänomenologie vor ihren eigenen Resultaten retten wollte. Er hält an der Innerlichkeit, an der Evidenz, an der strikten Wissenschaft fest. Die Theorie der Fremderfahrung umschreibt er in einer „transzendentalen Ästhetik“599 und die Entdeckung der Intersubjektivität beschränkt er noch einmal auf „mein mir selbst apodiktisch gegebenes ego“600, wenn deutlich geworden ist, dass alle Intersubjektivität auf ständige und ununterbrochene Kommunikation und Übermittlung beruht. Denn die sogenannte Verflechtung entsteht aus dem Austausch selbst. Die phänomenologische Auslegung reduziert sich auf ein „Verfahren im Rahmen reiner Intuition, oder vielmehr der reinen Sinnesauslegung durch erfüllende Selbstgebung“601, all das im Gegensatz zur Fremderfahrung, die keine Evidenz liefern kann. Die Annahme, dass aller Sinn sich aus der Tradition ergibt, verstößt gegen Husserls Überzeugung, eine voraussetzungslose Wissenschaft gründen zu können, er glaubt, er habe eine Philosophie ohne „übernommene Voraussetzungen oder Hilfsgedanken aus der historischen metaphysischen Tradition“ entwickelt. Er will den Sinn, „den diese Welt für uns vor jedem Philosophieren“602 hat, in der Philosophie selbst haben. Die Kompossibilität, um sich eines Begriffs von Leibniz zu bedienen, anderer Ich und anderer Welten befindet sich, nach Husserls schlüssigen Worten, bereits im Ego, was diese praktische Folge hat: „Hier sind Ich und meine Kultur das Primordinale gegenüber jeder fremden Kultur“.603 Wie kann das sein, wenn die Gemeinschaft eben durch und im Austausch und Verkehr entsteht? Husserl scheint den Ort meiner Position mit dem Privileg meines Standpunktes zu verwechseln. Von mir aus bedeutet nicht mit meinem Maßstab. Die Phänomenologie zeigt auch eine innere Spannung in der Darstellung einer apriorischen – vorichlich, vor-objektiv, vor-prädikativ, vor-philosophisch, vor-zeitlich, vor-räumlich – und einer in der Objektivität und den europäischen Wissenschaften vollzogenen Gemeinschaft. Husserl weiß sehr gut, das Problem der Objektivität ist nicht von der ethisch-religiösen Dimension zu trennen: Seine „universale konkrete Ontologie“ oder „auch universale und konkrete Wissenschaftslehre, diese konkrete Logik des Seins“, sein „an sich erstes

599 600 601 602 603

(Ebenda, S. 173). (Ebenda, S. 166). (Ebenda, S. 177). (Ebenda, S. 177). (Ebenda, S. 162).

Die Intersubjektivität in der Phänomenologie

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Wissenschaftsuniversum aus absoluter Begründung“, also das „System des universalen Apriori“ oder „systematische Entfaltung des Universalen, im Wesen einer transzendentalen Subjektivität, also auch Intersubjektivität eingeborenen Apriori, oder des universalen Logos alles erdenklichen Seins“ gilt als Grundlage aller „ethisch-religiösen Probleme“.604 Dafür muss die Phänomenologie als Vorbild perfekter Wissenschaft Folgendes erfüllen: „Für solche, so ursprünglich gestaltete Begriffe kann es keine Paradoxien geben“.605 Weil aber Husserl nun weder die Geschichte noch die „ethischen“ Probleme beiseitelassen kann, weil nun das Problem „anderer Kulturen“ und damit der Geltung der europäischen Wissenschaft in den Vordergrund rückt, weil alles Begründete auf das Grundlegende zurückgeführt werden muss, so muss auch die Phänomenologie sich selbst der radikalsten Selbst-Kritik unterwerfen, daher ist „die weitere und letzte Problematik der Phänomenologie [...] die Problematik ihrer Selbstkritik“.606 Die Paradoxien gehören insbesondere zu dieser Selbstkritik. Was sich in Husserls Gedanken zeigt, ist eine tiefe Spannung zwischen seinem Verständnis der Wissenschaften und den Resultaten und Forderungen seiner Phänomenologie. Dieses Verständnis der Wissenschaften ist von fundamentaler Bedeutung für unsere Untersuchung des Denkens des Endes, sofern Heidegger, Derrida und Lacan eben die husserlsche Vorstellung der Wissenschaften übernehmen. Der erste Schritt zu einer Selbstkritik der Phänomenologie ist selbstverständlich die Analyse der phänomenologischen Begriffe, weil die Phänomenologie „in ihrem Vorgehen keine vorgegebenen Wirklichkeiten und Wirklichkeitsbegriffe hat, sondern ihre Begriffe von vornherein aus der Ursprünglichkeit der Leistung (der selbst in ursprünglichen Begriffen gefaßten) schöpft“; diese Begriffe wären, laut Husserl, die, „welche alle formalen Demarkationen der Formidee eines möglichen Seinsuniversums überhaupt, also auch einer möglichen Welt überhaupt vorzeichnen und demnach die echten Grundbegriffe aller Wissenschaften sein müssen“607. Begriffe, Bausteine einer Wissenschaft, müssen auch aus der Erfahrung gewonnen werden. Daraus ergibt sich die Frage, ob man nicht eine transzendentale Sprache, also eine solche, die die natürliche Sprache reduziert hat, braucht. Das ist die These Eugen Finks, die auch Derrida übernimmt. Diese These hängt mit der Selbstkritik der Phänomenologie zusammen, denn alle Wissenschaften müssen in Worten ihren Ausdruck finden. Die Sprache ist aber höchst paradox: Sie kann weder rein objektiv noch rein subjektiv sein, sie gehört zur Subjektivität und zugleich konstituiert sie diese. Gibt es keinen Platz für Paradoxien in der Phänomenologie? Das verlangt offensichtlich eine Kritik der Sprache und deren Verständnis. Man braucht für jede Philosophie eine Kritik der Sprache und deren Beziehung zu den Dingen, zum Denken, zum Tun (dem praktischen) usw., aber auch eine Überlegung darüber, ob die Sprache mit der Sprache erfasst werden kann. Wäre eine Sprache, welche im Prinzip nichts 604 605 606 607

(Ebenda, S. 39). (Ebenda, S. 180). (Ebenda, S. 178). (Ebenda, S. 180).

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Husserls „Weg in die différance“

objektiv und endgültig erfassen kann, die endgültige Vernichtung der Phänomenologie, bevor sie mit ihren Auslegungen angefangen hat? Und was wären dann diese phänomenologischen Analysen: nur „sekundärer“ oder bloßer „Schein“? Ferner müsste man die Frage beantworten, ob die Sprache sich selbst konstituieren kann, und wenn ja, wie das überhaupt zu behaupten – d.h. mit welcher Begründung – und zu beweisen wäre, ohne dass man ein Denken, das über der Sprache wäre, voraussetzen möchte. „Alle Rationalität des Faktums liegt ja im Apriori“608, behauptet Husserl. Das ist die wahre und definitive transzendentale Aussage. Eben darum kann man sagen: Wie man das Apriori versteht, entscheidet über das eigentliche Schicksal der Phänomenologie. Die Sprache, das Apriorische und die damit zusammenhängenden Paradoxien sind Thema der Selbstkritik der Phänomenologie, welche wir jetzt anhand Eugen Finks und anderer Nachfolger Husserls darstellen möchten.

608

(Ebenda, S. 181).

5. Die Selbstkritik der Phänomenologie Die Phänomenologie versteht sich als eine Explizit-Machung der denkenden Subjektivität. Ihre Aufgabe besteht in der methodischen Reduktion des Gegebenen, um die konstituierende Ebene bewusst zu gewinnen. Aber die Phänomenologie selbst zeigt Voraussetzungen, die reduziert werden müssen. Kann die Phänomenologie sich selbst reduzieren? Ist sie imstande, sich selbst zu erklären? Diese Selbstkritik der Phänomenologie konstituiert die letzte Phase ihrer Entwicklung und öffnet Derrida die Tür für ein „postphilosophisches“ (=postphänomenologisches) Denken.

5.1 Die Krisis der Phänomenologie und eine letzte Meditation: Das Nichts als Ergebnis der radikalsten möglichen Reduktion und der daraus entstehende paradoxe Charakter der Philosophie bei Eugen Fink „Eine Krisis unserer Wissenschaften schlechthin, kann davon ernstlich gesprochen werden?“609, fragt sich Husserl in seinem Werk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie610. Er räsoniert darüber, ob so eine Krise stattfinde und wie sie zu verstehen sei. Dabei taucht das Motiv nicht zum ersten Mal in Husserls Schriften auf. Bereits in der Arithmetik-Schrift ist die Rede von einer Unsicherheit in den Grundlagen der Mathematik; in den Logischen Untersuchungen von einem Mangel an Strenge seitens der Logik, und so war jede Etappe der Phänomenologie eine Anfechtung einer bestimmten Wissenschaftsebene. Die Phänomenologie, diese unermüdliche Suche nach einem ersten Ursprung der Erfahrung, hat niemals ihr Ziel aus den Augen verloren: die Wissenschaft zu begründen, d.h., eine Wissenschaftslehre zu werden. Für Husserl sind alle Wissenschaften, wie oben dargelegt wurde, Naivitäten zweiter Stufe, da sie der natürlichen Einstellung verhaftet sind. Eine Wissenschaftslehre, eine Begründung allen Wissens im absoluten Sinn, erfolgt nur dann, wenn diese Welt mit ihren Glauben und Habitualitäten reduziert worden ist. Das für die tatsächlichen Menschen charakteristische anonyme und passive Leben der transzendentalen Subjektivität muss bewusst zu sich selbst kommen. Das Alpha und Omega der Phänomenologie ist daher die Reduktion. Durch sie trennt sich das meditierende Ego von der naiven Welt und den naiven Anderen – wir erinnern an die V. Cartesianische Meditation – und zeugt nun vom verdeckten transzendentalen Leben. Phänomenologisch gesehen, führt die Reduktion zum einen auf einen letzten Grund, auf den Konnex Welt-Subjektivität (d.h. den Konnex Ich-DuEs), zum anderen, auf den Abgrund der Genese, wo die Zeit sich selbst vor jedem Ich, vor der

609 610

(Husserl, van Breda & Ijsseling, 1976, S. 1). (Ebenda).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 A. Romero Contreras, Die Gegenwart anders denken, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04820-2_5

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Die Selbstkritik der Phänomenologie

Differenz Ich-Du und vor jedem Objekt konstituiert. Angesichts der Zeit allerdings gilt jeder Grund für die Phänomenologie als etwas Konstituiertes. Die Reduktion, die in erster Linie ein primordiales Ego enthüllte, muss jetzt dieses Ego einbeziehen, um dem werdenden Konstituieren Zugang zu verschaffen. So führt die Reduktion gleichzeitig zu einem Subjekt, zu einer Welt und zu einer Intersubjektivität, wo alle objektive Erfahrung sich konstituiert. Da aber alles Konstituierte auf dessen Genese zurückgeführt werden muss, entdecken wir nun mittels der fortgeschrittenen Reduktion die paradoxe Region des „Prä“ (bzw. „Vor“). Bei Husserl war bereits die Rede vom „Präobjektiven“, dem „Präsubjektiven“ und dem „Vorich“. Es fragt sich nun, wie weit diese Reduktion durchgeführt werden kann und muss, um die Aufgabe der Phänomenologie zu erfüllen. Ist die Phänomenologie auch eine Naivität wie die anderen Wissenschaften und inwiefern? Wie soll die Phänomenologie die Genese interpretieren, wenn die Evidenz (die lebhafte Erfahrung) dabei unmöglich wird? Könnte die Aussage „Krisis der Wissenschaften“ in diesem Kontext nun auch auf die Phänomenologie zutreffen, wenn es ihr nicht gelingt, diesen Grund darzustellen und die Konstitutionsgeschichte des Wissenschaftlichen überhaupt zu verfolgen? Husserl schreibt: „Die Krisis einer Wissenschaft besagt doch nichts minderes, als daß ihre echte Wissenschaftlichkeit, daß die ganze Weise, wie sie sich ihre Aufgabe gestellt und dafür ihre Methodik ausgebildet hat, fraglich geworden ist“.611 Husserls Vermutung in den Cartesianischen Meditationen, welche sich Fink zu eigen macht, ist, dass die Phänomenologie auch von einer Naivität betroffen sei. Gleichzeitig, während Fink diesen Gedanken über die Naivität der Phänomenologie entwickelt, stellt Husserl in der Krisisschrift seine neuen Überlegungen zur Lebenswelt, den Versuch einer neuen Begründung der Wissenschaften im Hinblick auf eine lebendige, allerdings vergessene Basis der Erfahrung vor. Abgesehen davon, dass die Phänomenologie auch in Kritik gerät, wendet sich Husserl nicht nur an die Wissenschaften, sondern auch an die Philosophie: „[...] das mag für die Philosophie zutreffen, die ja in unserer Gegenwart der Skepsis, dem Irrationalismus, dem Mystizismus zu erliegen droht“.612 Die Motive sind dabei auch nicht neu: Gegen Skepsis und Relativismus und deren Bastionen – Psychologie und Historizismus – hat sich Husserl in den Logischen Untersuchungen erhoben. Was meint aber Husserl mit „Krisis“ im Rahmen der Krisisschrift? Infrage gestellt werden weder die empirischen Methoden der jeweiligen Wissenschaften noch deren „Inhalt“; fraglich geworden ist eher das Wissen als Unternehmen „im Ausgang von den allgemeinen Klagen über die Krisis unserer Kultur und von der dabei den Wissenschaften zugeschriebenen Rolle“613.

611 612 613

(Ebenda, S. 1). (Ebenda, S. 1). (Ebenda, S. 3).

Die Krisis der Phänomenologie

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Fraglich geworden ist nicht das, was die Wissenschaften tun, sondern was sie nicht tun; wichtiger als das, was sie sind, ist, wie sie sein sollten oder auch, ob sie überhaupt etwas mehr leisten können, als das, was sie bereits geleistet haben. Es geht nicht nur darum, ob die Wissenschaften erschöpft sind, unvollendet oder den Weg verfehlt haben. Es geht eigentlich um das „Rätsel der Subjektivität“, das allen Wissenschaften zugrunde liegt, um die Herrschaft der positiven Wissenschaften und der damit zusammenhängenden versprochenen denn „[B]loße Tatsachenwissenschaften machen bloße „prosperity“614, Tatsachenmenschen“.615 Krisis geht jedoch tiefer, denn die „Krisis unserer Kultur“ ist kein metaphysischer Gedanke, sie lässt sich im Weltkrieg selbst erkennen, einem Krieg, der deutlich an einer „Umwendung der öffentlichen Bewertung“ der Wissenschaften mitwirkt, an dem, „was Wissenschaft überhaupt dem menschlichen Dasein bedeutet hatte und bedeuten kann“.616 Diese Umwendung der Werte erinnert unmittelbar an die von Nietzsche angekündigte Umkehrung aller Werte. Dieser Parallelismus kommt nicht von ungefähr, wir werden sehen, dass Nietzsche, obwohl von Husserl nicht direkt besprochen, dank Fink eine entscheidende Rolle in der späten Phänomenologie spielt. Die Umkehrung aller (wissenschaftlichen) Werte scheint im Krieg gewissermaßen ihre Erfüllung zu finden. Die Wissenschaft, sagt Husserl, wird „in der jungen Generation [...] zu einer feindlichen Stimmung“617; alle deren Werte, wie Einheit, Fortschritt, Aufbau einer universellen Gesellschaft, Vernunft usw., werden von da an zu Gegenwerten im Namen der Zerstreuung, des Abbaus und des Unvernünftigen als wahre Devise der Philosophie und danach der postphilosophischen Ära. Erinnern wir nun an Nietzsches Worte: Ehemals nahm man die Veränderung, den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit, als Zeichen dafür, dass etwas da sein müsse, das uns irre führe. Heute umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurtheil uns zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein anzusetzen, uns gewissermaßen verstrickt in den Irrtum, necessitiert zum Irrtum; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei uns darüber sind, daß hier der Irrtum ist.618

Für Husserl ist dieser Gedankengang über die Vernunft mindestens zweideutig, denn er will einerseits die Wissenschaften bejahen und verteidigen und sie anderseits anfechten und kritisieren, um den wahren Begriff von Wissenschaftlichkeit gewinnen zu können. Husserl beruft sich deshalb auf eine Geschichte und eine Tradition der Wissenschaft und auf ein zu erreichendes Ziel, um dieser Anfechtung, dieser Krise der Wissenschaften zu trotzen. Was soll aus der Welt werden, […] wenn die Geschichte nichts Weiteres zu lehren hat, als daß alle Gestalten der geistigen Welt, alle den 614 615 616 617 618

(Ebenda, S. 3). (Ebenda, S. 4). (Ebenda, S. 3–4). (Ebenda, S. 4). (Nietzsche, 1988a, S. 77).

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Die Selbstkritik der Phänomenologie

Menschen jeweils haltgebenden Lebensbindungen, Ideale, Normen wie flüchtige Wellen sich bilden und wieder auflösen, daß es so immer war und sein wird, daß immer wieder Vernunft zum Unsinn, Wohltat zur Plage werden muß?619

Wir werden der husserlschen Rekonstruktion der fundamentalen Geschichte der Wissenschaften nicht nachgehen. Auch verweilen wir nicht bei seinen letzten Analysen zum Grund des „Verfalls“ der Wissenschaften. Der Fokus richtet sich im Folgenden darauf, wie die Phänomenologie ihre eigene Methode – die Reduktion – auf sich selbst anwendet und wie diese Auseinandersetzung mit sich selbst den Weg für Derridas Denken ebnet. Wie dieser Weg für die bei Husserl paradox aufkeimende und sich selbst kritisierende Phänomenologie vorbereitet wird, erkennt man in Finks VI. Cartesianische Meditation.620 Dieses Werk, das mit Husserls Zustimmung entstand, ist der Versuch, die Phänomenologie schließlich systematisch darzustellen und damit deren Resultate und deren ultimativen Aufgaben deutlich zu machen. Diese VI. Meditation, die die anderen fünf vervollständigen sollte, will selbst die Naivität der Phänomenologie ans Licht bringen und davon ausgehend ihre Radikalität und das in ihr latente Prinzip vollständig entwickeln. Fink beabsichtigte in seiner VI. Meditation „eine Reihe von Problemen, die in Husserls Philosophie latent geblieben sind, zu formulieren“; vor allem „ist in der Phänomenologie Husserls der Gedanke einer Phänomenologie der Phänomenologie, einer Reflexion auf das Phänomenologisieren, ein wesentliches Moment der systematischen Konzeption“, so dass „die Exposition des Problems einer transzendentalen Methodenlehre […] hier bei aller Nähe zu Husserls Philosophie durch den Vorblick auf eine meontische Philosophie des absoluten Geistes bestimmt“621 ist. Wenn nämlich die naive Phänomenologie sich mit dem Sein beschäftigt, so beschäftigt sich die Phänomenologie der Phänomenologie mit einem Vor-Sein (als Konstitution des Seins) als etwas Nicht-Seiendem (μή ὂν) und mit einem absoluten Leben (als Geist verstanden), das nicht mit dem des Menschen verwechselt werden darf. Die Rückfrage der Phänomenologie, die sich an das transzendentale Ego richtet, findet ihre Fortsetzung in einem absoluten, werdenden Anfang. Alles Konstituierte, sogar das Ego, muss sich in diese dunklen Anfänge vertiefen. Fink verfasst seine VI. Meditation mit dem Ziel, aus der „Naivität der ‚Méditations Cartésiennes’, welche in der unkritischen Übertragung der auf Seiendes bezogenen Erkenntnisweise auf die phänomenologische Erkenntnis der Bildung (Konstitution) des Seienden besteht“, herauszuführen. Mit dem Ausdruck „Phänomenologie der Phänomenologie“ enthüllt Fink „die Aporie, ob und wie der Horizont, von dem her letztlich ‚Sein’ verstanden werden soll, selbst ‚seiend’ ist, ob und wie das Sein der Zeitigung des Seienden bestimmbar ist“.622 619 620 621 622

(Husserl, van Breda & Ijsseling, 1976, S. 4). (Fink, 1988). (Ebenda, S. 183). (Ebenda, S. 184).

Die Krisis der Phänomenologie

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Die Fragen Finks sind daher die folgenden: Was ist das Leben des Lebens, wie konstituiert sich das Konstituierende, was ist die Bedingung alles Seins? Die relevantesten Passagen dieser VI. Meditation sind vielleicht die, denen Husserl nicht oder nur unter Vorbehalt zugestimmt hat, sobald sie eine kritische Stellung gegenüber der Phänomenologie beziehen. Im Entwurf eines Vorwortes623 hebt Fink die Unstimmigkeiten mit Husserl hervor: Husserl findet den Gegensatz zwischen dem konstituierenden und dem phänomenologisierenden Ich zu stark betont, findet die Schwierigkeiten der transzendentalen Prädikation übertrieben, verteidigt den individuellen Begriff des philosophierenden Subjekts gegen die in dieser Schrift allerdings unausdrücklich gemachte Reduktion des als individueller Geist beginnenden philosophierenden Subjekts in die vor aller Individuation liegende Lebenstiefe des absoluten Geistes. Husserl bestreitet, dass nur ‚scheinbar’ der Mensch philosophiere, weil das transzendentale Ego ja selbst der ‚Mensch’ sei (allerdings durch selbstapperzeptive Konstitution). D.h. Husserl verlegt den Unterschied zwischen transzendentalem Subjekt und dem Menschen nicht noch in die Dimension der Individuation.624

Finks Rezeption der Phänomenologie und seine ganze Auffassung finden ihren Ursprung zum großen Teil in diesen Unstimmigkeiten mit Husserl. Daraus entstehen alle seine Begriffe, wie die „Ent-humanisierung“ des transzendentalen Ego; das Verständnis zweier Stufen der Phänomenologie: als „regressiv“ und als „konstruktiv“; die Leugnung der Möglichkeit einer transzendentalen Sprache und, damit verbunden, das Zugeständnis, dass der Phänomenologe seine Resultate in der natürlichen Sprache mitteilen muss, und dabei von der reduzierten Subjektivität wieder zur konstituierten Welt „zurückkommt“; und schließlich die Reduktion des Ego auf einen vor jeder Individuation absoluten Geist.

5.1.1 Kritik und Dialektik der reinen Phänomenologie Diese letzte phänomenologische Meditation sprengt den Rahmen der von Husserl skizzierten Phänomenologie, versteht sich selbst allerdings, mit Recht, als deren notwendige Fortsetzung. Die VI. Meditation Finks oder Idee einer transzendentalen Methodenlehre benennt sich nach dem letzten Teil der Kritik der reinen Vernunft. Finks Meditation sowie Kants Überlegungen zu einer Methodenlehre gelten als Bekämpfung des (transzendentalen) Scheins, als notwendige Disziplin und Kanon, aus denen ein korrekter Gebrauch der Vernunft abgeleitet werden kann. Dabei kann sich Finks Phänomenologie allerdings nicht mit einer Architektonik oder einem Kanon im Sinne von Kant begnügen. Die finksche transzendentale Methodenlehre nimmt die Form einer Reduktion aller Naivität an, was bei ihm die Reduktion alles auf das Sein Bezogene, auch und besonders des phänomenologischen Ego – als letzter „Schutzwall“ der Phänomenologie – und dessen von der empirischen Wissenschaft abgeleiteter Methodik, bedeutet.

623 624

(Ebenda, S. 183). (Ebenda, S. 183).

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Die Selbstkritik der Phänomenologie

Thema der transzendentalen Methodenlehre ist dementsprechend der phänomenologischtheorisierende Zuschauer625. Nicht mehr die Welt (das Sein), nicht mehr deren subjektive Konstitution (der egologische Pol) – die zwei Pole der Intentionalität – sind das Hauptthema, sondern das Verhältnis von beiden beim phänomenologischen Zuschauer, der durch den Vollzug der Reduktion entstanden ist. „Der traditionelle ‚spekulative’ Idealismus“, schreibt Fink, „desavouiert die Welt als bloße Erscheinung, uneigentliches Sein; die Phänomenologie desavouiert philosophisch das Sein“626, denn Philosophie des Seins bedeutet „Befangenheit im Sein“; das ist eine natürliche Einstellung, welche von der Phänomenologie reduziert werden muss. Dem aber müsste man Folgendes hinzufügen: Eine „Ontologie des Subjekts“ ist auch naiv, Fink bezeichnet sie als einen „transzendentalen Schein“.627 Die Reduktion betrifft dann nicht nur die Welt, sondern auch das Ego. Fink bedient sich, wenn auch nicht explizit, einer modifizierten schellingschen Aussage: „Das ‚Ich’ ist der nie aufgehende Rest in der weltbefangenen Philosophie“.628 Husserl ging davon aus, das empirische und das transzendentale Ich seien nicht verschieden, dass es das wirklich erfahrende Ich sei, welches die Reduktion vollziehe und sich auf die Höhe des transzendentalen Ich erhebe. Für Fink aber sind beide Ich zu trennen. Und anders als beim absoluten Idealismus vom jungen Schelling629, wo das absolute Ich dem empirischen Ich vorangeht, fordert Fink auch eine Reduktion des Ich schlechthin. Fink verlangt vom meditierenden Phänomenologen nicht nur eine Ent-Weltlichung (durch Epoché zu erreichen), sondern auch eine Ent-Ichlichung.630 Es sei hier daran erinnert, dass es Husserl war, der die Phänomenologie ständig als ein Rückfragen, als ein Zurückgehen auf das „Vor“, das „Prä“ praktiziert hat, sogar das Ich wies – in den Schriften zur Intersubjektivität – auf ein Vor-Ich hin. Neben der VI. Cartesianischen Meditation und den Anmerkungen Husserls dazu liegen Finks Entwürfe und Notizen in einer Gesamtausgabe vor.631 Diese Entwürfe und Notizen sind nicht nur für das Verständnis dieser VI. Meditation unerlässlich, sondern auch für eine breitere Perspektive auf die mit Husserl geplante Bearbeitung der fünf vorausgehenden Meditationen. Dabei sieht man deutlich Finks

625 626 627 628 629

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(Ebenda, S. 13). (Fink und Bruzina, 2006b, S. Z-IX 10b S. 94). (Ebenda, S. Z-IX 39a S.104). (Ebenda, S. Z-IX 39a S.104). „Sollte demnach das Princip aller Philosophie das empirisch-bedingte Ich seyn (worin im Grunde der Dogmatismus und der unvollendete Kriticismus übereinkommen), so wäre alle Spontaneität des Ichs, theoretische und praktische, ganz unerklärbar [...]“ Daher: „Das vollendete System der Wissenschaft geht vom absoluten, alles Entgegengesetzte ausschließenden Ich aus. Dieses als das Eine Unbedingbare bedingt die ganze Kette des Wissens, beschreibt die Sphäre alles Denkbaren, und herrscht durch das ganze System unsers Wissens als die absolute alles begreifende Realität“ (Schelling und Hahn, 1998, S. I,1,176). (Fink und Bruzina, 2006b, S. Z-IX 39a S.104). Unter dem Namen Phänomenologische Werkstatt wurden in zwei Bänden die Entwürfe und Notizen publiziert, die Fink während seiner Zusammenarbeit mit Husserl verfasste. Fink, E. Phänomenologische Werkstatt. Eugen Fink Gesamtausgabe. Band 1 —Die Doktorarbeit und erste Assistenzjahre bei Husserl — (Fink und Bruzina, 2006a) und Band 2 — Bernauer Zeitmanuskripte, Cartesianische Meditationen und System der phänomenologischen Philosophie — (Fink und Bruzina, 2006b).

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Interesse am deutschen Idealismus, besonders an Hegel und dessen Philosophie des Geistes. Aber bereits im oben zitierten „Entwurf eines Vorwortes“ ist der Bezug auf Hegel in der Umwandlung des „transzendentalen Lebens“ in eine Philosophie des „absoluten Geistes“ sichtbar. Trotz der offensichtlichen Nähe zu Hegel scheint Fink immer gleichermaßen ein Schellingianer zu sein, was man auf den ersten Blick nicht unbedingt vermuten konnte. Auch Schellings Absicht war es, hinter das Sein und das vernünftige Subjekt zu schauen und nach dem werdenden Anfang zu fragen. Die Welt mit ihrer immanenten entsprechenden Rationalität sowie ihrer Notwendigkeit war bei Schelling in ihrer Ganzheit und angesichts deren Anfangs nur noch ein zufälliges (End)Produkt. In der Freiheitsschrift632 befindet sich die berühmte Stelle, wo Schelling den dunklen Grund verkündet: Nach der ewigen That der Selbstoffenbarung ist nämlich in der Welt, wie wir sie jetzt erblicken, alles Regel, Ordnung und Form; aber immer liegt noch im Grunde das Regellose, als könnte es einmal wieder durchbrechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden. Dieses ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde bleibt. Aus diesem Verstandlosen ist im eigentlichen Sinne der Verstand geboren.633

Die Ähnlichkeit zwischen Finks und Schellings Ansätzen lässt sich nicht verleugnen. Statt des regellosen Anfangs wendet sich Fink allerdings an eine verabsolutierte Temporalität oder, genauer gesagt, an eine absolute Zeitigung, wo Welt und Ego als Endprodukte verstanden werden. Die Zeitigung ist nicht eine dem Ich oder der Welt immanente Temporalität, sondern die Geburt der Zeit selbst, der Übergang vom Nicht-Sein zum intentionalen Korrelat Welt-Ego und zur Monadengemeinschaft, von der die husserlsche Phänomenologie spricht. Der Unterschied besteht vielleicht darin, dass Fink eine absolute und wissenschaftliche Methode, die Reduktion, zur Verfügung stellen will. Das Regellose – Schellings Ausdruck – wäre, Fink zufolge, der Weltbegrifflichkeit vielleicht allzu nah, aber der Grundgedanke scheint im griechischen μή ὂν – Finks Ausdruck – präsent zu sein. Seine meontische Philosophie bedeutet den Ersatz des Anfangs (sei es als Vernunft, als Wille, als Subjekt oder als Sein), des phänomenologischen Subjekts, durch das Nichts. Was ist aber ein Anfang außerhalb der Subjektivität im traditionellen Sinne verstanden? Kann man das noch Phänomenologie nennen? In diesem Zusammenhang wird ein biblischer Bezug plausibel, denn Welt und Ego erscheinen als creatio ex-nihilio. Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, d. h. am Anfang aller Zeit. Das Nichts ist aber kein bloßes Nichts, sondern nur das Welt/Ich-Schaffende. Nietzsche – ein privilegierter Philosoph in Finks Universum – hat das Ich ebenfalls zum (zufälligen) Produkt gemacht.634 Ferner wird Fink Nietzsches Idee vom Spiel aufnehmen und weiterentwickeln, wobei Derrida diese wohl am konsequentesten weiterführt. 632 633 634

(Schelling und Hahn, 1998). (Ebenda, S. I,7,359-60). Siehe Fußnote 244.

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Wir sehen, wie aus sehr verschiedenen Perspektiven Schelling und Nietzsche Finks Ansatz nahestehen. Die Reduktion des Ego und der Welt auf tiefere konstitutive Kräfte gehört weder zum Glauben noch zum Atheismus allein. Fink bezieht sich auf keinen Willen (göttlichen oder nicht, wie Nietzsche und Schelling), auf keine ursprüngliche Entscheidung. Er betreibt hierbei eine Art Agnostizismus, der durch eine gewisse Wissenschaftlichkeit geprägt ist. Aus Finks Perspektive folgt auch die Tatsache, dass die Welt als eine Befangenheit verstanden wird, entweder, wie beim späten Schelling, als reine Notwendigkeit oder, im phänomenologischen Sinne, als in eine Richtung (vom Konstituierenden zum Konstituierten) verlaufende, gestufte und determinierte Ordnung. Die Welt hat hier keine eigene Freiheit, sie ist grundsätzlich gestuft und auf phänomenologische Schichten gegründet, welche sich schließlich auf das Ego stützen. Dieses Ego behält seine Macht über alle Erfahrung, es findet aber seinen eigenen Grund-Abgrund im Nichts. Die Welt ist für Fink prinzipiell begreifbar, wissenschaftlich strukturiert und dem Ego unterworfen, das Ego hingegen dem Nichts. Nur aus der Perspektive des Nichts gelingt es, Welt und Ego zu hinterfragen und letztlich beide als zufällig zu kennzeichnen. Ist diese quasitheologische These, welche nun im Dienste der Anfechtung von Welt und Ego in ihrer Ganzheit zu verstehen ist, nicht gleichzeitig eine Infragestellung von Welt und Ich und gleichzeitig die Bestätigung deren unbeweglicher Ordnung? Denn sie verweisen auf das Nichts635, dieses aber wahrt Stille gegenüber ihnen. Mit anderen Worten: Das Nichts ist das Prinzip aller radikalen und absoluten Befragung oder eher: das Prinzip aller Befragung des Ich und des Seins. Aber über das Nichts lässt sich nichts sagen, weil alle Begriffe immer Welt-gebunden sind. D. h., das Nichts bringt kein Wissen über das Sein mit sich und das Sein liefert keine angemessenen Begriffe, um das Nichts zu definieren. Noch anders gesagt: Das Sein weist auf das Nichts zurück, vom Nichts aber lässt sich nichts ableiten. Dieses Nichts soll bei Fink als eine Negativität verstanden werden. Schellings unvordenklicher Abgrund trifft auf Hegels immanente Negativität. In den zwei Bänden von Finks Gesamtausgabe – Phänomenologische Werkstatt – taucht Hegels Begriff der Negativität mehrmals auf, Fink spricht oft von der von Hegel hervorgehobenen „ungeheueren Macht des Negativen“636. Diese Negativität spielt bei Fink allerdings keine Rolle innerhalb eines Aufhebungsprozesses, wodurch man wieder zum Positiven gelangen würde, sondern das Negative deckt sich mit der Reduktion, als würde Hegels Dialektik bei Fink schließlich auf Schellings dunklen Grund führen, und beide auf Husserls Reduktion.

635 636

Wir werden sehen, dass dieses Nichts als das Versprechen des „Offenen“ und „Möglichen“ gegenüber dem „verschlossenen“ Ego und der bereits „bestimmten“ Welt gilt. (Fink und Bruzina, 2006a, S. VI/18a. S.305).

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Man kann erkennen, dass Fink dem Idealismus die Mittel der Phänomenologie zur Verfügung stellen wollte. Diese besondere Unentschiedenheit zwischen Hegel und Schelling, zwischen einer negativen, allumfassenden Dialektik eines Prozesses der Idealisierung und dem Gedanken eines nie aufgehenden Restes, eines dunklen und unbewussten Prinzips hinter der Dialektik, sind die beiden Pole von Finks Philosophie und zum großen Teil auch des Denkens des Endes. Aber diese Philosophen koexistieren nicht in Ruhe, denn ein „schellingianisierter“ Hegel richtet sich gegen einen „hegelianisierten“ Schelling und umgekehrt. Unter einem „schellingianisierten Hegelianismus“ könnte man jenen philosophischen Ansatz verstehen, der sich der Negativität als einer „meontischen“, d.h. einer unermüdlichen reduzierenden Kraft bedient, wo sich keine Positivität durchsetzen kann. Ein „hegelianisierter Schelling“ würde einen philosophischen Ansatz vertreten, der von einem, von der Vernunft nicht zu hintergehenden, Rest ausgeht, wobei aber alles in den Dienst eines Ego gestellt wird. Dabei wird aber Hegels Kritik an der Idee eines Jenseits nicht berücksichtigt: Es wird mit Begriffen über etwas gesprochen, was über allen Begriffen stehen sollte. Mit anderen Worten: Der „schellingianisierte Hegel“ destruiert jeden Begriff durch einen anderen Begriff mittels einer unermüdlichen Reduktion, erreicht aber niemals das Positive (sei es als Ursprung, sei es als Welt-Produkt), weil er auf einen Aufhebungsprozess verzichtet hat; der „hegelianisierte Schelling“ hingegen beruft sich auf das Andere, auf den dunklen ursprünglichen Grund, aber dafür konstruiert er eine ganze Reihe von Begriffen und schließlich eine ganze Philosophie des Bewusstseins. Beide Ansätze geraten in konstante Spannung. Der Gewinn ist allerdings bei Fink der, dass in der Phänomenologie zum ersten Mal die Möglichkeit auftaucht, die Totalität der Philosophie, die Totalität deren Geschichte und die Totalität der Welt, also die Totalität des Seienden und des Seins zugleich, zu hinterfragen, durch einen Bezug auf ein absolutes und radikales Anderes: das Nichts. Das Sein und auch die ontologische Differenz, Heideggers ultimative und radikalste Begriffe in seinem ontologischen Denken, sind für Fink ausschließlich auf die eine Seite der phänomenologischen Gleichung begrenzt, sie werden in Frage gestellt und in ihrer Ganzheit zugänglich, aber nur vor dem Hintergrund eines noch ursprünglicheren Nichts. Damit sehen wir uns mit einem bekannten Problem der philosophischen Tradition konfrontiert: Nämlich, wie man vom Nichts redet, wie man es anwesend oder mindestens zugänglich, also intelligibel (aber dann müsste man wiederum neu denken, was intelligibel, was sensibel, jenseits eines bloßen Gegensatzes sein könnte) macht, ohne die Distanz des Nichts aufzuheben. Dies ist Finks Problem sowie das Hauptproblem einer radikalisierten Phänomenologie, aber auch das der Dekonstruktion und der Psychoanalyse als Vertreter des Denkens des Endes. Das Unbewusste oder das Andere sind, wie es sich unten erweisen wird, verschiedene Namen dieses Nichts. Finks Anliegen besteht nun darin, die Phänomenologie von ihrer Befangenheit in der Welt zu befreien und daraus eine neue Metaphysik zu formulieren. Fink führt an: „Wenn die Phänomenologie an Stelle aller und jeder Metaphysik treten will, wenn sie Metaphysik in einem neuen und uralten Sinne sein will, dann muß sie auch auf die höchsten und letzten

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Fragen, […] zu antworten vermögen“; dies sind die „generativen Probleme“ und sie sind weiter in zwei Fragen, der nach der Geburt und der nach dem Tod637, besonders präsent. Hinter ihnen steckt kein Sein mehr, weil „Geburt kein ontisches Ereignis, sondern die extremste Möglichkeit des Daseins nach unten ist. Hinter die ‚Geburt’ zurückverlegbar ist Nichts“.638 Geburt und Tod sind auch keine intentionalen Objekte, sie sind nicht in phänomenologischem Sinne gegeben, sie sind eher „Ränder der Weltlichkeit“639. Aus diesem Grund sind beide nur durch „Konstruktion“ denkbar. Wo die Phänomenologie nicht mehr wahrnehmen, im engen Sinne konstituieren kann, konstruiert sie ihre Objekte und in so einer Konstruktion liegt bei Fink „die Problematik der generativen Zeit und damit der objektiven Weltzeit“.640 Geburt und Tod sind, wie gesagt, Ränder der Welt, des Ontischen, aber „nicht Ränder des transzendentalen Lebens“, denn „die Ränder der Zeit […] [sind] die Zeitlichkeit selbst“.641 Mit Hinblick auf dieses Nichts und auf Finks Interesse an Hegel darf man sich mit Recht fragen, ob für Hegel nicht der Mensch, als Geist verstanden, eben diese Nichtigkeit ist. Heißt es doch in einer Passage der Jenaer Realphilosophie: Dies [ist] die Nacht, das Innere der Natur, das hier existiert—reines Selbst. In phantasmagorischen Vorstellungen ist es ringsum Nacht; hier schießt dann ein blutig[er] Kopf, dort ein[e] andere weiße Gestalt plötzlich hervor und verschwinden ebenso. Diese Nacht erblickt man, wenn man dem Menschen ins Auge blickt—in eine Nacht hinein, die furchtbar wird; es hängt die Nacht der Welt hier einem entgegen.642

Hinsichtlich dieser Problematik schrieb Kojève – ungefähr zum gleichen Zeitpunkt wie Fink643 – über Hegel: „La suppression « dialectique », voire révolutionnaire du Monde ... présuppose la « négation », la non acceptation du Monde donné dans son ensemble“.644 Weiter: „L’Homme n’est pas un Être qui est: il est Néant qui néantit para la négation de l’Etre“.645 Als hätte Fink Kojèves Gedanken sehr genau verfolgt, konkludiert er: „Hegels Philosophie ist dogmatisierte Meontik“.646 Fink verlangt eine Entmenschlichung, damit das Nichts durch phänomenologische Reduktion erreicht werden kann. Wenn aber der Mensch selbst eine Nichtigkeit – in diese Richtung interpretiert Kojève die Ausführungen Hegels– ist, fragt es sich, ob die Differenz zwischen Anthropologie, Ontologie und Meontik so groß ist, wie Fink 637

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644 645 646

Fink sagt an derselben Stelle auch: „Nicht mehr kann jetzt einfach geradehin über Geschichte ontologisch geredet werden, sondern auch Geburt und Tod als Themen für Grundprobleme verlangen erneut den Rückgang in die Konstitution, m.a. W. den Rückgang in die Dimension, in der sich so etwas wie Tod als Tod konstituiert. Die Rede von Konstitution ist hier in einer formalisierten Weise genommen. Die konstitutiven Fragen sind hier von einer ungeheuren Verwicklung“ (Fink und Bruzina, 2006b, S. Z-X 16a-b. S.122). (Fink und Bruzina, 2006a, S. Z-IV 68a S.247). (Ebenda, S. Z-IV 9b S.213). (Fink und Bruzina, 2006b, S. Z-X 17a. S.123). (Fink und Bruzina, 2006a, S. Z-IV 9b S.213). (Hegel & Hoffmeister, 1969, S. 180–181). Im Übrigen nach Heideggers Sein und Zeit. Sein und Zeit wurde 1927 und die VI. Cartesianische Meditation 1930-1932 verfasst; Kojèves Vorlesungen zu Hegel wurden in den Jahren 1933-1939 an der École des Hautes Études vorgetragen. (Kojève, 1947, S. 33). (Ebenda, S. 548). (Fink und Bruzina, 2006a, S. Z-XI 75a S.168).

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behauptet. Wir lassen diese Frage offen. Die echte und tief vollzogene Reduktion verlangt bei Fink auch die Reduktion des Ego. Paradoxerweise war es einzig und allein dieses Ego, welches, Husserl zufolge, eine Reduktion überhaupt durchführen kann. Wer reduziert also? Wer bezeugt dieses Nichts? Welche Methode steht zu diesem Zweck zur Verfügung? Wie spricht man vom Nichts? Dies sind die Fragen einer Phänomenologie der Phänomenologie bzw. der transzendentalen Lehre, wie Fink sie in der VI. Cartesianischen Meditation stellt. Man darf an dieser Stelle an Husserls Worte in den Cartesianischen Meditationen erinnern, dass die letzte Problematik der Phänomenologie die ihrer Selbstkritik sei. Genau diese Aufgabe übernimmt Eugen Fink. Die Phänomenologie gibt der Gegenwart Vorrang gegenüber anderen Zeiten, auch gegenüber der von Husserl entdeckten Verflechtung der Zeiten. Darin bestand bereits Heideggers Kritik an Husserl, eine Kritik, die von Fink selbst berücksichtigt wird. Aber auch Heideggers Hermeneutik der Faktizität sowie die später formulierte Differenz Sein/Seiendes müssen sich laut Fink der radikalisierten Reduktion unterwerfen, sofern sie immer noch mundan sind. Die Philosophie enthüllt sich als grundsätzlich mit dem Nicht-Sein beschäftigt. Fink ordnet die Phänomenologie Husserls am Leitfaden der Cartesianischen Meditationen neu und interpretiert sie sowie die ihnen vorangehende phänomenologische Arbeit als grundsätzlich naiv oder, besser gesagt, in der Welt befangen. Fink versteht die Phänomenologie Husserls nach dem Schema der Kritik der reinen Vernunft. Daraus resultiert die Teilung der Phänomenologie in eine Elementarlehre, mit dem Weltphänomen, und eine Methodenlehre, die sich mit dem transzendentalen Zuschauer beschäftigt. Fink präsentiert in seiner VI. Cartesianischen Meditation seine Kritik am ganzen phänomenologischen Projekt von innen her, deswegen wird die Phänomenologie nicht umformuliert, sondern eher, ihrer Methode nach, so weit wie möglich geführt. Die größte Leistung der finkschen Philosophie liegt in einer Radikalisierung der phänomenologischen Methode. Leitfaden seiner Untersuchung sind also nicht das Ego, die Intentionalität oder die Evidenz, sondern das phänomenologische Projekt, das er wohl von Husserl rezipiert hat. Ausgenommen der Resultate der phänomenologischen Untersuchungen hat Husserl, bei jeder neuen Arbeit, immer wieder von vorne angefangen und hat sich dieser unermüdlichen Suche sein ganzes Leben lang gewidmet. Der ewige „Anfänger“, der hartnäckige Philosoph auf der Suche nach dem Anfang übertrifft alle Resultate der Phänomenologie, alles aus ihr Gewonnene, und verewigt sich als Stellung. Es ist das wichtigste Erbe der Phänomenologie, nichts als Fertiges bestehen zu lassen, sondern alles Konstituierte auf die es konstituierenden Prozesse zurückzuführen und diese, sofern sie von der Weltbefangenheit betroffen sind, wieder einer Reduktion zuzuführen. Nicht die beabsichtigte Wissenschaftslehre, sondern Husserls Verfahren ist somit das Vorbild dieser unaufhebbaren Einstellung. Die phänomenologische Reduktion des Menschen, schrieb Fink im Anschluss an Husserl, konstituiert den transzendentalen Zuschauer. Dieser radikale Vollzug der Reduktion eröffnet erst den phänomenologischen Bereich. Fink veranschaulicht dies mit

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einem Schema, das im Folgenden durch andere Stellen der VI. Cartesianischen Meditation ergänzt wird:647

Abb. 11 647

(Fink, 1988, S. 11–13).

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Phänomenologie heißt in erster Linie Reduktion. Zum einen, weil dadurch die absolute und transzendentale Ebene der Subjektivität gewonnen wird, zum anderen, weil dadurch die so konstituierte Subjektivität wiederum die Geschichte ihrer Konstitution darstellt. Von daher gibt das „Verständnis der phänomenologischen Reduktion“ den Sinn einer transzendentalen Methodenlehre vor648. Letztere zeigt sich in der VI. Cartesianischen Meditation als die Suche nach dem transzendentalen Zuschauer, d.h. nach dem Phänomenologisieren und dessen Leistungen: als Reduzieren, als regressives Analysieren, als „Konstruktion“, als theoretisches Erfahren, als Ideieren, als Prädikation, als Verwissenschaftlichen und schließlich als transzendentaler Idealismus.

5.1.2 Die unendliche Befangenheit, ihre unendliche Reduktion und die unvermeidliche Ontifikation Grundlage aller Phänomenologie ist die Reduktion, sowohl für Husserl als auch für Fink. Fink wird dennoch feiner unterscheiden zwischen zwei Momenten innerhalb der Reduktion: der Epoché und der eigentlichen Reduktion und deren Stufen: „Verstehen wir unter Epoche Glaubensenthaltung, so können wir unter dem Begriffe des „Reduzierens“ verstehen alle die transzendentalen Einsichten, in denen wir die Befangenheit-in-einer Geltung sprengen und die Geltung überhaupt erst als Geltung erkennen“.649 Husserl hat wohl behauptet, die Epoché lasse alles, wie es ist, nur aber ohne den Glauben an die Existenz einer transzendenten Welt. Daher erkennt man oft in seinen Analysen (beabsichtigte) Parallelismen zwischen Psychologie und Phänomenologie, wo Letztere nur eine „wissenschaftliche“ und transzendentale Form der Ersteren zu sein scheint. Ein Blick auf die Zeitanalysen und die Problematik der Intersubjektivität lässt allerdings diese Absicht schnell verblassen. Die genetische Phänomenologie öffnet die Frage nach einer der Psychologie fremden, radikalen Zeitigung und die Intersubjektivität übersteigt die Tragweite des meditierenden Ego durch die analogische Konstitution des Anderen. Konsequenterweise muss man der Reduktion eine inhaltliche Veränderung gegenüber der natürlichen Einstellung zuschreiben. Wie gezeigt, führt aber die Epoché bei Fink noch nicht in die Tiefen des transzendentalen Lebens, noch nicht ins Nichts. Durch die Epoché und die damit verbundene „Ausschaltung aller Glaubenssetzungen produziert sich der phänomenologische Zuschauer selbst“, durch eine „Entmenschlichung“ oder Aufhebung des Menschen.650 Daraus folgt die eigentliche Reduktion auf die transzendentale Subjektivität und die Ur648

649 650

(Ebenda, S. 10). Auch diese Stelle: „Die Phänomenologie der phänomenologischen Reduktion ist das erste Problem der transzendentalen Methodenlehre; und zwar „erstes“ nicht nur als das notwendig einleitende, sondern als das Fundamentalproblem“ (Ebenda, S. 32). (Ebenda, S. 44–45). (Ebenda, S. 43).

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Zeitigung, und erst ab diesem Punkt beginnt die Radikalität der Reduktion in Richtung des Nicht-Seins, des μή ὂν. Damit kann man auf die eingangs gestellte Frage zurückkommen: Wer phänomenologisiert? Nicht der Mensch phänomenologisiert, auch nicht die transzendentale Subjektivität (=das transzendentale Leben). Letztere schafft die Welt, sie ist das Wovon-aus des konstitutiven Werdens, während die Welt und der Mensch eher das Endprodukt oder das Wohin dieses Werdens651 sind. Fink bietet diese Zeichnung an652:

Weltbefangenheit

Transzendentales Subjekt Abb. 12 Finks Ansatz beinhaltet zweierlei: Zwischen Konstituiertem und Konstituierendem besteht sowohl ein Dualismus als auch ein Monismus, je nachdem, wie man deren Verhältnis betrachtet. Einerseits steht das Konstituierte (die Welt) dem Konstituierenden (die transzendentale Subjektivität) gegenüber, es sind zwei ganz getrennte, d.h. dualistisch verstandene, Bereiche. Anderseits sind sie die beiden Pole eines Kontinuums, es besteht eine weltschaffende Tendenz. Der transzendentale Zuschauer gehört nicht zum Kontinuum, er entsteht aus der Reduktion. Aber, wenn anwesend, bewegt er sich in entgegengesetzter Richtung: vom Konstituierten auf das Konstituierende, vom Sein auf das Nicht-Sein zu. Fink unterscheidet zum einen zwischen Welt (stets konstituiert) und transzendentalem Leben und zum zweiten zwischen beiden und dem phänomenologischen Zuschauer. Dieser Zuschauer, Produkt der Reduktion, ist ein Drittes: Weder produktiv noch produziert, absolut notwendig, damit das transzendentale Leben zu sich selbst kommen kann, ist es auch zufällig, denn die Reduktion hat keinen Grund, weder in der Welt, welche nur alles passiv rezipiert, noch im transzendentalen Leben; vielmehr ist es Offenbarung ohne Reflexion. Unter Nichts muss man jenes Prinzip oder Anfang verstehen, der, im Gegensatz zum idealistischen, ursprünglich pure Gabe ohne Rückkehr, ohne Selbstbezüglichkeit ist. Allerdings spielt der Phänomenologisierende, ohne jede Notwendigkeit, eben diese Vermittlerrolle. 651 652

(Ebenda, S. 49). Nach: (Fink und Bruzina, 2006b, S. Z-IX VII/6c S. 91). Mit freundlicher Genehmigung von © Arturo Romero Contreras 2018. All Rights Reserved.

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Es tauchen somit in diesem Kontext drei in einer Einheit verbundene Ich auf: „natürlich eingestelltes Menschenich, transzendental-konstituierendes Ich und transzendentalphänomenologisierendes Ich“.653 Der Terminus Ich mag irreführend sein. Fink hat bereits über Ent-Ichlichung als richtige Fortsetzung der phänomenologischen Reduktion gesprochen. Man wird gleich sehen, warum die transzendentalen Ausdrücke nur analogen Charakters sein können. Nicht der Mensch phänomenologisiert, sondern der transzendentale Zuschauer, sagt Fink; dieser Zuschauer aber phänomenologisiert im Menschen, daher muss sich der Mensch selbst ent-menschen. Dieser Zuschauer braucht nicht „entmenscht“ zu werden, weil er von Anfang an nichts Menschliches an sich hat. Dies ist allein die Aufgabe des Menschen, damit die Resultate der Phänomenologie zum Ausdruck kommen und der stumme Zuschauer eine Stimme haben kann. Aber ist es richtig zu sagen, dass der Mensch reduziert bzw. die Epoché vollzieht? Fink dazu: „Die phänomenologische Erkenntnis ist nie durch mundane, sondern immer durch phänomenologische motiviert“.654 Im Menschen äußert sich etwas nicht Menschliches. Fink akzeptiert die Differenz Sein-Seiendes aber als mundan. Auf der anderen Seite steht das NichtSein, wobei wir nun mit der Differenz Sein/Nicht-Sein rechnen müssen; schließlich ist das Phänomenologisieren das Andere in Bezug auf die Opposition Sein-Nicht-Sein (=Welttranszendentales Leben), woraus sich folgende Gegenüberstellung herleiten lässt: {[(Sein/Seiendes)/Nicht-Sein]}/Phänomenologisieren. Das transzendentale Ego ist nicht mehr der „Ort“, wo alles Erfahren stattfindet, der letzte Grund. Nun aber, wenn die Reduktion den phänomenologischen Zuschauer produziert, wenn sie nur aus transzendentalen Gründen vollzogen wird, und wenn die transzendentale Subjektivität ursprünglich nur Welt schaffend und nicht durch Phänomenologie selbstreflektierend ist, dann kann man schlussfolgern, dass die Reduktion ein pures Ereignis (wirklich absolut unmotiviert), ein Urereignis ist: die Unruhe im transzendentalen sowie im menschlichen Leben. Das erste pure und transzendentale Leben schafft nur Welt, das menschliche Leben ist dagegen nur noch konstituiert; aber das Phänomenologisieren bringt eine Zäsur mit sich, einen Einschnitt, wodurch die transzendentale Subjektivität aus ihrem anonymen konstituierenden Leben erwacht und zu sich selbst kommen kann.655 Erkennt man an dieser Stelle nicht einen neutestamentlichen Bezug, nämlich die philosophische Auslegung eines theologischen Arguments? Wie soll man jenes Ereignis interpretieren, das sowohl die Quelle der Welt als auch die Welt, durch die bewusste Anwesenheit des Nicht-Seins im Sein und in der Welt, erschüttert? Weder rein Welt-schaffend noch bloß konstituiert, sondern durch die Reflexion sich verbindend, sich jedoch auf ein in der menschlichen Zeit stattfindendes, pures Ereignis stützend - zeigt sich nicht hier eine Dreieinigkeit des Ich? Mit anderen Worten: Das 653 654 655

(Fink, 1988, S. 43). (Ebenda, S. 39). (Ebenda, S. 124).

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transzendentale Leben offenbart sich ohne Reflexion, die Welt ist nur Geschöpf dieser Offenbarung; beide sind getrennt. Allerdings ist dieses Leben der Grund der Welt; dann plötzlich, aus reiner gratia, meldet sich ein Drittes, das dem Ersten die Reflexion ermöglicht, während es für das Zweite als Zeichen etwas Überirdischen in der Welt gilt. Man kann sich die Frage stellen, ob diese („neue“) Metaphysik Finks das ist, was das („alt“) Metaphysische, das Naive und Welt-befangene in Husserls Phänomenologie anfechten kann. Endet Husserls Phänomenologie bei Fink dort, wo die Idealisten anfingen, nun aber in der „eigentlichen“ reduzierten Einstellung und nicht im Welt-befangenen Philosophieren? Ist das Nichts der eigentliche Name Gottes, die Welt der Offenbarung, das Eintreten des phänomenologischen Zuschauers, der des Ereignisses, der Ankunft? Nun ist die Spannung zwischen der christlichen und der heidnischen Interpretation bei Fink so anwesend wie bei den Idealisten, weil – im Gegensatz zu einer deutlich christlich geprägten Interpretation – der Ursprung der Welt hier nicht personalisiert werden kann und er vielmehr zu der dunklen Zeit vor jeder Individuation tendiert. Der christlich-jüdische Gott scheint sich hier mit dem griechischen áperion zu decken. Wie seit mehr als 2000 Jahren beharrt Gott darauf, griechisch zu sprechen. Im oben stehenden Schema sehen wir die beiden Teile der Elementarlehre: die regressive und die konstruktive Phänomenologie. Man hat bisher von der Reduktion als eigentliche phänomenologisch transzendentale Aufgabe und Leistung gesprochen. Aber trotz dessen, dass die Reduktion den Kern des Phänomenologisierens ausmacht, zeigt Fink eine von Husserl nicht erkannte Ebene der Forschung, eine Zwischenstufe, auf halbem Weg zwischen radikalem Nichts und der gegebenen Welt. Es ist ferner nicht so deutlich, welche Rolle das NichtGegebene in seinem Schema spielen soll. Die Methodenlehre beschäftigt sich tatsächlich nicht nur mit dem transzendentalen Zuschauer, wie sie behauptet, ihre Aufgabe besteht auch darin, die Phänomenologie in all ihren Ebenen und Schichten richtig zu entwickeln. Weiter wird Fink den Zuschauer als Moment verstehen, wobei die ganze Methodenlehre, statt einer Architektonik zu dienen, eher zum Vermittler eines (dialektischen) transzendentalen Idealismus wird, als fände Husserls Phänomenologie endlich im verachteten Idealismus den geeignetsten Gesprächspartner. Etwas über das Problem des Nicht-Gegebenen wurde antizipiert, als über Geburt und Tod bei Fink gesprochen wurde. Erinnerung und Intersubjektivität – zwei Themen, bei denen das Problem des Anderen und des NichtGegebenen auftauchte –, gehören bei Fink – trotz der Entwicklungen Husserls außerhalb der Cartesianischen Meditationen – zur im breiten Sinne verstandenen Gegenwart. Sie sind auch „mundan“. Tod und Geburt dagegen, sowie all das, was gar nicht vergegenwärtigt werden kann, sind Bestandteile der konstruktiven Phänomenologie. Das ist ein deutliches Zeichen für die Radikalisierung der Trennung zwischen Gegenwart und Nicht-Gegenwart bei Fink. Neben Tod und Geburt erkennt auch Fink als Themen einer konstruktiven Phänomenologie „die weltlichen Phänomene der frühkindlichen Entwicklung, soweit eben diese Frühzeit jenseits unserer Erinnerungsreichweite liegt“, also „alles Fragen […] in der Psychologie

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unter den Titeln ‚Ursprung der Raumvorstellung, der Zeitvorstellung’“; sowie jeder Bereich, in dem die Phänomenologie „nicht intuitiv verfahren“ kann, d.h., wenn es ihr nicht gelingt, „die archaischen Aufbauprozesse wirklich zu einer gegenwärtigen oder erinnerungsmässigen Selbstgegebenheit [zu] bringen“; auch außerhalb der phänomenologischen intuitiven Tragweite gelten als Aufgabe der konstruktiven Phänomenologie „alle die Probleme […], die die Ganzheitsform der intersubjektiven Monadengemeinschaft betreffen, vor allem die Totalitätsform der monadischen Historie“.656 Wie kann das Nicht-Gegebene trotzdem mundan sein? Was sind diese Randgänge der Welt, zwischen ihr und dem transzendentalen Leben? Sind dies nicht die wahren Themen der Phänomenologie und nicht nur das transzendentale Leben, das sich dadurch kennzeichnet, sich zu verbergen? Oder was ist der eigentliche Unterschied zwischen dem weltlich NichtGegebenen und dem absolut anfänglichen Nichts? Die Konstruktion dient tatsächlich, obwohl Fink es nicht anerkennt, der Welt (sofern nicht gegeben) und dem transzendentalen Leben zugleich. Denn wie nennt man das, was uns übrig bleibt, wenn die Intuition, die Evidenz, uns nicht mehr zur Verfügung steht? Und hat sich nicht Husserl in seinen Zeitanalysen bereits einer Konstruktion (von Projektion war die Rede oben, im entsprechenden Abschnitt) bedient? Was sind seine Zeichnungen und Diagramme außer Versuche, das Nicht-Gegebene mithilfe der Phänomenologie zu konstruieren? Müsste man sich an dieser Stelle, eben wegen Finks Radikalität und weil er über die Welt hinauskommen will, nicht einer negativen (A)Theologie zuwenden? Bruzina fragt sich aber zu diesem Thema: Warum richtet sich Fink trotzdem klar und entschieden gegen jeden Mystizismus, „which would define the ‘Absolute’ as Nothing in the via negationis?“657 Fink ist ein Philosoph, denn, obwohl die Philosophie zum „Phänomen des ‚Abgrundes’“, dem „Abgrund des Nichts“ führt, ist die Aufgabe der Philosophie: „Dieses ‚Nichts’ aus der Leere seines dialektischen begrifflichen Bestehens zu reißen in die Erlebtheit der philosophischen Frage“; sie, die Philosophie, „kann sich nicht begnügen mit dem stammelnden Tiefsinn, sondern als Phänomenologie ist sie analytisch und deskriptiv“658. Der Meontik, der Entmenschlichung, der Reduktion alles Seienden und alles Seins entspricht auch eine Ontifikation. Angenommen, dass Sein und Zeit „die Grundformel für die Transzendentalphilosophie“659 sind, ist das „Problem der Ontifikation der Zeit selbst [...] das Problem der Thematisierung des meontischen Ursprungs“; also die „Zeit ist vorgängig vor aller Gegenständlichkeit“, denn sie „ist die „Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung“.660 Fink fragt sich jedoch: „Aber ist die Zeit nicht selbst wieder? Grundproblem Heideggers! Ebenfalls Husserls!“661 Fink will ein Transzendentalphilosoph sein, aber diese Behauptung, 656 657 658 659 660 661

(Ebenda, S. 70–71). (Bruzina, 1997, S. 80). (Fink und Bruzina, 2006a, S. Z-IV 57b. S.240-1). (Ebenda, S. Z-IV 57b. S.241). (Ebenda, S. Z IV 66b. S. 246). (Ebenda, S. Z IV 66b. S. 246).

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dass die Zeit sei, würde den ganzen Transzendentalismus sprengen. Diese Spannung gehört zu Finks Ansatz. Fink versteht sich als ein Philosoph. Gefordert wird demnach eine Verwandlung des Problems des Nichts in eine artikulierte Sprache. Für Fink gilt demzufolge: „Metaphysische Begriffe sind Entnichtungsbegriffe“; bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass „alle me-ontischen Begriffe, gleichlautend mit ontischen, doch diesen gegenüber transzendental, sie insgesamt übersteigend, […] gleichsam geladen vom Nichts [sind]“; dieses besondere Nichts ist kein Resultat einer Subtraktion, „sondern (im Bilde bleibend) das Nichts, das im ‚Abziehen’ sich offenbart, und nicht im Endresultat“, daher ist „Die innerste Leidenschaft des Philosophen […] der Kampf mit dem Nichts, dem Nichts das Sein entreißend sich zu vernichten, um Gott zu entnichten“; also sind die „Entnichtungsbegriffe […] in ihrer Bedeutungsfunktion von einer eigentümlichen ‚dynamischen’ (nicht ‚statischen’) Struktur: die Bedeutung ist nie abgesetzt und zur Ruhe gekommen, sondern ist in sich unruhig, fordert vom den Begriff Gebrauchenden eine Verwandlung, nämlich die Rückversetzung in Schwierigkeit, ein Un-Seiendes mit Seinsbegriffen zu treffen“; diese strikt philosophische Aufgabe verlangt einen „λόγος ἁμάρτικος“.662 Fink sagt weiter: „Dieser zielverfehlende, zu kurz tragende Logos ist nicht mit einer ‚Unzulänglichkeit’ behaftet, die zu beseitigen wäre“, sondern „diese ‚Unzulänglichkeit’ ist die in diesem Felde einzig mögliche Weise des Zulangens“, denn „die ‚Unzulänglichkeit’ ist kein objektiver Befund, sondern ein transzendentaler“.663 Die Ontifikation ist die immer inadäquate Übersetzung transzendentaler Befunde in mundane Begriffe. Deswegen muss die Sprache diese Befunde und ihre entsprechende Unangemessenheit zugleich äußern. Dies ist eine protestierende Sprache, unruhig, widersprüchlich, „dialektisch“. Warum? Weil es keine transzendentale Sprache gibt. Nach der Reduktion verliert das Ich „seine Beschränktheit der natürlichen Einstellung, aber keineswegs verliert es die in der natürlichen Einstellung erworbenen Habitualitäten und Dispositionen, es verliert nicht seine ‚Sprache’“.664 Hat der Mensch je die Welt und ihre Begriffe verlassen? Nein. Es ist allerdings der transzendentale Zuschauer, der in der Welt, so wie es das transzendentale Leben seit jeher gemacht hat, erscheinen will. Die Reduktion ist nicht menschlich, diese kann nicht wirklich in der Welt vollzogen werden. Die Voraussetzungslosigkeit ist selbst eine Voraussetzung, allerdings nur für den Menschen. Der transzendentale Zuschauer, also sein Reich, ist nicht von dieser Welt und doch ist es (und vielleicht nur) für die Welt. Die allererste Frage, die wichtigste und entscheidendste, ist folgende: Was teilt die Sprache vom transzendentalen Leben mit? D.h.: Kann sie etwas außer eines ewigen Ringens mit sich selbst sagen? Mit anderen Worten: Wird die Sprache, die das transzendental Absolute äußern will, etwas anderes sagen können, außer dass sie nichts darüber sagen kann? Spricht dieses Nichts wirklich, sagt es der Welt etwas? Wie 662 663 664

(Ebenda, S. Z-VI 18a S.305). (Ebenda, S. Z-VI 18a S.305). (Fink, 1988, S. 94).

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gut vertragen sich a) dieser Wille zum Philosophieren, zum analytischen Darstellen, b) die unermüdliche Reduktion, die nichts bestehen lässt, also auch nicht die meontischen Begriffe, weil sie, vom Nichts geladen, gegen ihre eigenen Grenzen, Klarheit und erkennbaren (=weltlichen) Bezug protestieren müssen und c) die notwendige Ontifikation oder „Weltlichkeit“ aller Sprache? Das Wissenschaftlich-Philosophische, die seltsame und bloß formale Reduktion und die immer unzureichende Sprache prallen aufeinander. Die Reduktion droht ständig mit einem unendlichen Regress, denn sie richtet sich unerbittlich, immer wieder, gegen alles Konstituierte, bis der Begriff „Konstitution“ selbst aporetisch wird, weil selbst das konstituierende Ego der Zeit unterworfen ist. Die Phänomenologie scheint auch aus anderen Gründen unmöglich zu sein, denn kann man je sicher sein, dass sie eindeutig genug und vertrauenswürdig ist, wenn sie immer in einer „natürlichen Sprache“ durchgeführt wird? Selbst wenn die Reduktion möglich wäre, müsste das ganze phänomenologische Unternehmen niedergelegt werden. Unermüdlich war Husserl in seiner Suche nach dem allerersten Anfang, aber unermüdlich ist auch die Reduktion, auch gegen den anfänglichen Ausgangspunkt, auch gegen den Anfang, gegen jeden Anfang, weil er ständig, rückblickend, als zu naiv erscheint. Ist die Reduktion nicht losgelöst, als „wollte“ sie, wie ein Trieb, endlich Befriedigung in etwas nicht Reduzierbarem finden? Ab-solutum, diese Absolution, von der Fink spricht, bedeutet eben das: losgelöst … von allem Konstituierten. Absolutum bedeutet auch Absolvieren (Vollenden) sowie Befreien, Freisprechen (Absolution) oder Entbinden. Der Mensch verbindet sich mit dem Absoluten, das Absolute entbindet sich vom Menschen. Es lässt sich demzufolge fragen: Kann etwas ganz und rein konstituierend sein, ohne sich am Konstituierten zu beteiligen? Und wenn Reduktion und das konstituierende Werden so eng verbunden sind, sind sie nicht vielleicht zwei Seiten des Gleichen oder eher die konstante Abschaffung dessen, was konstituierend zu sein scheint? Wie soll das interpretiert werden: methodologisch oder ontologisch, vor-ontologisch, vormethodologisch oder warum nicht vor-ontologisch-methodologisch, also vor der Aufteilung in Ontologie und Methodologie? Die Reduktion war bei Husserl eine Methode, nun ist sie (vor)ontologisch, das bedeutet, transzendental. Die Reduktion ist nun eine losgelöste Methode, ohne Bezug auf die Welt, sie ist schonungslos, allmächtig, aber wofür? Philosophie und Sprache verbinden sich eng in diesem Terrain. Neben den in der Philosophie bekannten, indirekten Wegen (Formale Anzeige, Verkleidungsbegriffe – bei Heidegger –; Transzendentaler Schein/denken als ob – bei Kant –) bietet Fink die folgenden an: a) protestierende Begriffe, b) ironische Begriffe, c) maskierte Begriffe und d) Entnichtungsbegriffe. Angesichts des Gesagten scheint der λόγος ἁμάρτικος nicht über die Ironie hinaus kommen zu können. Eine Voraussetzung dafür, dass die Unangemessenheit der Sprache nicht bloß willkürlich ist, dass die Begriffe immer noch etwas sagen können und somit die bloße Ironie überwinden, ist, dass eine Analogie, eine Ähnlichkeit, zwischen dem transzendental Ausgedrückten und dem Ausdruck überhaupt existiert. Sonst hat

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die Rede von Unangemessenheit überhaupt keinen Sinn (Romero Contreras, 2016a). Fink sagt wohl, dass diese Begriffe analogisch seien, aber was für eine Analogie ist hier gemeint? Lässt das nicht erneut die alte ontologische Diskussion über das Sein und dessen Analogien aufkeimen? Dies ist aber bereits der Fall. Unterschied nicht der Pseudo-Dionysius Areopagita drei Wege: die via affirmativa, die via negativa und die via eminentiae, also die Bejahung, die Subtraktion und die Steigerung? Und sind das „Vor-“, das „Prä-“, nicht eben eine Steigerung der weltlichen Genese, eine Verdoppelung, der Archi-Anfang vor dem Anfang? Die Paradoxien vermehren sich. Warum sollte man die Reduktion auch akzeptieren? Warum darf man die Reduktion nicht reduzieren, also nicht durch sich selbst vernichten? Wann stoppt sie, wann erlangt sie das Positive? Oder sind die Ironie und die Masken der Ersatz des Positiven, die (nietzscheanische) Verkündigung des Spiels als Absolutes? Keine dieser Fragen wird bei Fink schlüssig beantwortet. Aber von großer Wichtigkeit ist nicht nur die Seite des Absoluten, der Blick, der ins Leere schaut, sondern auch das Verhältnis zur Welt.

5.1.3 Ontifikation und Begriff (Mathematik, Logik und Grammatik) Es wurde bereits oben gesagt, der Metaphysik unterliegen eine Logik sowie eine Mathematik. Zur Logik gehört in erster Linie die Prädikation als Form der Denkensäußerung (und des Denkens überhaupt); dabei findet man: Subjekt, Objekt, Kopula, Syllogismen, Urteile usw. als sprachliche Artikulation des Ontologischen als ontologische Struktur der Sprache selbst. Ansatz der Metaphysik ist es immer gewesen, das Sein ohne Rest in die Sprache zu integrieren. Dabei aber ist die Mathematik das strukturelle Komplement der Logik beim metaphysischen Denken, denn Einheit, Vielheit, Folge, Endlichkeit, Unendlichkeit, Grenze usw.: All das sind mathematische Begriffe, welcher sich die Metaphysik seit jeher bedient hat. Die Ontifikation, von der Fink spricht, vollzieht sich notwendig mithilfe solcher logischen und mathematischen Begriffe. Entscheidend an dieser Stelle ist, ob die Sprache immer undifferenziert ontisch ist, oder ob diese Begriffe einen Unterschied beim Ausdrücken der phänomenologischen Befunde machen. Kant ist z.B. in der Kritik der reinen Vernunft davon ausgegangen, dass die Mathematik uns a priori synthetische Urteile liefern kann, weil sie auf die Intuition beruht, nämlich auf die reinen Formen der Sinnlichkeit: Zeit und Raum. Russell und Frege, aber auch Husserl, sind die entscheidenden Figuren im Hinblick auf die Überwindung dieser psychologischen Auffassung von Mathematik. Die universelle Geltung ihrer Resultate sowie die Vorgehensweise ihrer Beweise sind genügender Beleg dafür, dass die Mathematik keinen empirischen bzw. intuitiven Bezug braucht. Der Unterschied zwischen diesen Autoren liegt allerdings darin, dass für Frege überhaupt kein Subjekt als Garantie der Gültigkeit logischer Gesetze notwendig ist. Husserl ist diesbezüglich zweideutig: Das diesen Gesetzen zugrunde liegende Subjekt ist nicht empirisch, sondern transzendental; es erfährt die Welt in transzendentaler Weise; aber wie bereits gesehen,

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zeigen die phänomenologischen Analysen immer deutlicher, dass dieses transzendentale Subjekt auch Voraussetzungen hat, dass es – soweit es sich selbst auffasst – immer seine eigene ihm nicht zugängliche Genese supponiert. „Subjekt“ ist hierbei nicht unbedingt ein Synonym für „Selbstbewusstsein“. Dies gilt auf der Seite des Subjekts. Aber seitens des „Dinges“ ist noch zu sagen, dass das „Gemeinte“ nicht nur auf die Vorstellung reduziert werden kann. Zählen und Beurteilen sind subjektive Operationen. Dabei tauchen allerdings Zeichen auf, welche nicht erlebbar sind. Die logischen und mathematischen Gesetze sind subjektive Befunde und doch nicht psychologisch erfahrbar. Denn die allgemeine Gültigkeit der Logik z.B. kann nicht auf dem Individuum beruhen. Doch weil sich die Logik und die Mathematik historisch entwickeln, brauchen sie einen Bezug auf einen Zeitpunkt. Es ist wohl richtig, nach Gödels Theorem, dass eine axiomatische Arithmetik sich mit einer Entscheidung konfrontiert sieht: Sie ist entweder unvollständig oder widersprüchlich. Aber eben darum verlangt Gödel auf einer neuen Ebene einen Rekurs auf die Intuition. Bekanntlich hat er Husserls Arbeit herangezogen. Was wäre eine nicht naive Intuition, was ein Zugang zur Welt, der sowohl mittelbar als auch unmittelbar, also beides zugleich, wäre? Müssen wir nicht letztlich Sinn (also alles, was verstanden werden kann) und Gegenwart (im phänomenologischen Sinne) gleichsetzen? Koinzidiert demnach alles Verstandene genau mit „meiner Erfahrung“? Kann man das Erlebte dem Nicht-Erlebten entgegensetzen? Logik und Mathematik, jenseits deren Formalisierung, sind in der Sprache eingebettet. Unter Logos soll man nicht nur Sprache und Logik, sondern auch Mathematik verstehen – den Konflikt zwischen beiden eingeschlossen. Dass die Metaphysik oder eine Philosophie immer in der Sprache verwurzelt ist, war bereits so verschiedenen Denkern wie Hegel und Nietzsche, zwei Hauptquellen für Fink, bewusst. Hegels Wissenschaft der Logik geht bekanntlich davon aus, wie wir bereits geziegt haben, dass die Denkformen in der Sprache herausgesetzt und niedergelegt sind.665 In Gegenrichtung, aber vom gleichen Merkmal der Sprache ausgehend, sagt Nietzsche: Der Irrtum hat „unsre Sprache zum beständigen Anwalt“, sie ist für uns „ein grobes Fetisch“, auf dem eine Sprach-Metaphysik aufgebaut wurde, „auf Deutsch: d(ie) Vernunft“; das „Sein“ ist nicht dem „Ich“ gegenüberzustellen, denn „aus der Konzeption ‚Ich’ folgt erst, als abgeleitet, der Begriff ‚ein’“. Irrtum ist das Ich als Vernunft sowie als Wille, nämlich zu glauben, dass „Wille ein Vermögen ist“; von daher sind Eleaten gleicherweise wie die Atomisten vom gleichen Irrtum betroffen, beide „unterlagen […] der Verführung ihres Seins-Begriffs“; Gott, die Krone der Metaphysik, scheint allerdings Bestand zu haben. Nietzsche schließt in elegischem Ton: „Die ‚Vernunft’ in der Sprache: o was für eine alte betrügerische Weibsperson! Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik 665

Siehe Fußnote 249.

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glauben“.666 Selbst, wenn man nicht mehr an die Sprache glaubt, wird sie verwendet. Die Sprache ist keine Sache von Glauben, sondern von Gebrauch. Oder man glaubt mit der Handlung selbst. Und wenn die Metaphysik in der Sprache verwurzelt ist, heißt das, dass man nicht nur die metaphysischen Begriffe und Ausdrücke ändern müsste, sondern die der Sprache zugrunde liegenden logischen und mathematischen Strukturen. Die meontischen Begriffe, falls das Wort immer noch zutrifft, wie die Ironie, das Spiel von Masken innerhalb der Sprache usw. Damit wollte Fink die phänomenologischen Befunde ausdrücken und deswegen müssten sie gegen sich selbst protestieren, weil sie auch davon zeugen müssten, dass sie, weil in der natürlichen Sprache geäußert, immer inadäquat sind und inadäquat bleiben werden. Außer Betracht ließ Fink allerdings, was einen guten (oder schlechten) Begriff ausmacht gegenüber einem richtigeren (oder weniger schlechten). Inwieweit ist die Sprache Deckung und Verhüllung und inwieweit ist sie selbst die Öffnung?667 Trägt die Verhüllung wegen der Sprache nicht selbst einen Index von etwas Anderem bzw. des Anderen? Weisen also die Welt und ihre Sprache nicht immer auf andere mögliche und unmögliche Welten hin? Weiter darf man fragen: Besteht ein klarer Unterschied zwischen einer tiefen offenbarenden Sprache und einer verschlossenen und verhüllenden, oder ist jede Sprache gleichermaßen richtig wie unangemessen? Dies sind die entscheidenden Fragen. Die Philosophie wird nichts sagen können, es versteht sich: nichts Legitimes, also Gültiges, wenn sie nicht ihr Recht, zu sprechen, wiedergewinnt, wenn es ihr nicht gelingt, zu zeigen, dass die Sprache überhaupt etwas sagen kann, d.h. zu zeigen, dass die Sprache spricht und nicht nur spielt, dass sie eines glücklicheren oder unglücklicheren Ausdrucks fähig ist, dass sie sich manchmal treuer, manchmal trügerischer verhält, dass sie, obwohl weder ganz voll noch ganz leer, als Horizont jene Grenze hat, nach der sie entweder zur Leere, wo sie nichts mehr sagt, oder eher zum Meinen, wo etwas Reales stückweise sich meldet, ohne dass es sich sofort im Ausdruck vernichtet, tendieren kann. Dies ist das Ringen des Denkens des Endes und seine Voraussetzung dafür, zu reden, sein Recht zum Wort: Eine Rechnung mit einer gewissen Sprachphilosophie zu begleichen zu haben. Eine Auslegung der Sprache und deren Beziehungen mit der Logik, dem Sein, dem Nichts, dem Können und der Ohnmacht: Dies ist die Voraussetzung, die Fink der Philosophie stellt. Bei Fink meldet sich radikal diese notwendige Propädeutik, nämlich, dass jeder Inhaltsfrage (den phänomenologischen Analysen, als Evidenz, als Analogie oder Konstruktion verstanden) eine Methodenfrage, also eine Methodenlehre, vorangeht. Was eine letzte Begründung der Philosophie sein sollte, kehrt sich einfach um in eine von ihr nicht zu beantwortende „VorFrage“. Aber diese Auseinandersetzung mit der Sprache beginnt genau da, wo die (Nicht)Philosophie behauptet, jenseits jeder Mathematik und jeder Logik zu sein. Denn man 666 667

(Nietzsche, 1988a, S. 77–78). Im politischen Sinne, wir werden es später bei Derrida sehen, fragt es sich gleichermaßen, inwieweit die Sprache der Metaphysik nur noch „verhüllend“, also „ideologisch“ und einer Dekonstruktion bedürftig ist, oder ob sie immer auch „kritisch“ sein kann.

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kann nichts in der Sprache artikulieren, wenn die Strukturen dafür fehlen, auch wenn man die Begrenztheit dieser Strukturen zeigen möchte!

5.1.4 Die aufhebende Sprache der Philosophie: Fink und Hegel Wenn aber die Sprache (zusammen mit der Grammatik) nicht phänomenologisch reduziert werden kann, und wenn sie geladen von Logik und Mathematik ist, fragt es sich, ob Erstere auch, erfolgreich oder überhaupt, gegen eben diese Logik und diese Mathematik protestiert und wie tiefgreifend sie das machen kann. Wäre nicht vielleicht der starke Unterschied GrundBegründet bereits ein logisches Vorurteil? Wie sicher kann man sein, dass Reduzieren kein bloßes Sprachspiel ist? Dies ist der nächste entscheidende Punkt: Verlangt die Phänomenologie, sich in einer immer bloß weltlich verstandenen Sprache zu äußern, welche niemals angemessener sein kann, als sie es bereits ist, oder würde sie auch (oder stattdessen) verlangen, die Sprache der Welt zu ändern, um den transzendentalen Befunden gerecht zu werden? Sind „die Logik“ und „die Mathematik“ (falls sie nur eins sind) immer und a priori, per definitionem, in der Welt „gefangen“, als wäre jede Entwicklung bei ihnen überflüssig gegenüber den „ultimativen“ Fragen? Aber die Dialektik, von der Fink spricht, die Rede von Aporien, die ausweichende Ironie, all dies macht nur in Bezug auf eine Begrifflichkeit, in der Logik und Mathematik eingeschlossen sind, Sinn. Die finkschen Aporien sind nur für eine bestimmte Logik aporetisch – das Mögliche und das Unmögliche, das Widerspruchsfreie oder das Widersprüchliche: All dies erscheint auf der Leinwand der Logik – wobei man sagen muss, etwas müsse sein und nicht sein zugleich (so verhalten sich die protestierenden Begriffe). Man kann entweder die Logik und die Mathematik anfechten und „verlassen“ wollen (das meint, nicht wirklich verlassen, sondern nur dagegen protestieren) oder man kann die Logik und die Mathematik, in denen die transzendentalen Argumente formuliert wurden, verändern und erweitern, damit ihr Verhältnis zum Transzendentalen sich auch modifiziert. Inwieweit wird der „Zugang“ zum philosophischen Absoluten von der Logik und Mathematik, welche hier für unangemessen und verhüllend gehalten werden, vorbereitet und ermöglicht? Man hat hier selbst im oberen Absatz entweder-oder geschrieben. Aber auch diese Entscheidung ist gewissermaßen einer (oppositionellen) Logik unterworfen, welche neu gedacht werden müsste. Fink bezieht Hegels Begriff Aufhebung in seine eigene Philosophie ein, er setzt die von der Reduktion erforderte Entmenschlichung einer Aufhebung des Menschen gleich. Für ihn ist Hegels Absicht „die Aufhebung von Sein (Gegenstand) und Wissen“ im Bewusstsein, was „phänomenologisch interpretiert“ so viel heißt wie die „Aufhebung der ‚natürlichen Einstellung’“ durch den „Vollzug der phänomenologischen Reduktion“.668 Fink kontrastiert 668

Das ganze Zitat lautet: „Die ohnmächtige Entgegengesetztheit von Gegenstand und Erkenntnis (also die

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dann ontologische Philosophie – als „Substanz (Subjekt [ist] eine Substanz)“669 – und meontische Philosophie – „Philosophie des sich selbst aufhebenden Subjekts“ –670; diese Aufhebung bedeutet die Vernichtung aller Erscheinungswahrheiten671, des Menschen sowie allen Seins. Substanz (oder Objekt) und Subjekt werden zugleich reduziert; die Folgen sind nicht so klar: Man könnte sagen, dass sowohl die Welt (die phänomenologische Auslegung des „Objekts“) als auch das Ego (das phänomenologische, transzendentale Ich) etwas „Abgeleitetes“ seien. Man kann allerdings auch behaupten, das Reale sei nicht mit dem Vorstellbaren, das „Subjekt“ nicht mit einem Selbst-Bezug (Selbstauffassung oder Selbstbewusstsein) zu identifizieren. Aber in demselben Moment begegnet man dem alten philosophischen Problem: Wie haben wir Kenntnis von diesem Subjekt und diesem Realen jenseits jeden Ausdrucks? Es gibt, nebenbei gesagt, direkte und indirekte Verhältnisse, Intuition und Konstruktion, Anwesenheit und Zeichen usw. Fink selbst muss anerkennen, der Unterschied ist gleichzeitig notwendig und zu überwinden; eine feste Trennung führt zum Dualismus, der muss aber erklären, wie beide Seiten (Subjekt und Objekt oder Mensch und phänomenologischer Zuschauer) sich verbinden. Eine nicht vermittelte Einheit kann nicht artikuliert werden. Aber ein „vermitteltes Verhältnis“ hat nicht jede Frage beantwortet. Denn Vermittlung verlangt Selbstbezug, Selbstbezug bedeutet zweierlei: a) absolute Selbstauffassung und b) paradoxe Iteration (=unendlicher Regress: Wenn das Subjekt nicht nur ein Objekt, sondern das Verhältnis von beiden denkt, sieht es aber nicht die Beziehung vom neuen vermittelnden Subjekt und der Vermittlung selbst; es ist das Problem des Zuschauers. Man kann jede Relation beobachten, aber das Beobachtende gehört nicht zum Beobachteten, dafür braucht man einen neuen übergeordneten Zuschauer usw.). So musste Fink schlussfolgern, dass Welt und transzendentales Leben einerseits einander entgegengesetzt sind und anderseits ein Kontinuum ausmachen, dass der transzendentale Zuschauer sowohl vom Menschen als auch vom transzendentalen und anonymen Leben verschieden ist, und trotzdem ist er die Vermittlung dieses Lebens und äußert sich in der (menschlichen) Welt. Es scheint, als wäre der Unterschied von einer „Parallaxe“672 abhängig. Ferner sieht Fink auch, dass die Welt, obwohl „nur“ eine zu reduzierende Verhüllung der echten Subjektivität, eigentlich eine „Wirklichkeit“, ein „Wohin“, eine Äußerung und deswegen eine „Realität“, obwohl nur als Produkt, das seine Genese „vergessen“ hat, ist.

669 670 671 672

ontologische Auffassung der Erkenntnis) ist die natürliche Einstellung. Der gemeine Idealismus bleibt dieser Entgegensetzung verhaftet, wenn er auch die Gleichung so gestaltet, daß er alles auf eine Seite bringt, alles zur Subjektivität macht und auf der Seite des Objekts nur Null stehen läßt. Das ist nach Hegel „Reflexionsphilosophie“ Die Entgegengesetztheit wird nur als Moment der Selbstapperzeption des Absoluten erkannt. (Fink und Bruzina, 2006b, S. Z-XV 76a S.295-6). (Ebenda, S. Z-XV 131a S. 316). (Ebenda, S. Z-XV 132a S.316). (Fink, 1988, S. 129). Siehe dazu (Romero, 2018).

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Ist das Phänomenologisieren die Mitteilung des transzendental reduzierten phänomenologischen Tuns in der mundanen Sprache, so ist die Phänomenologie, aus Finks Sicht, die „‚synthetische’ Einheit der antithetischen Bestimmungen“, aber, erklärt er, „die hier vorliegende ‚Synthesis’ ist keine ‚Aufhebung’ einseitiger Wahrheiten in einer sie als Momente umfassenden höheren Wahrheit“; seine Synthese hat kein übersteigendes allumfassendes drittes Moment. Soll aber die transzendentale Phänomenologie die alte Metaphysik aufheben673, so braucht sie allerdings auch ein drittes Moment, d.h. eine modifizierte Aufhebung, die nicht dem Begriff eines „ens realissimum“, sondern eines „nihil nihilissimum“ korrespondiert, wobei das Wort Ursprung die positive Bestimmung dieses Nichts ist.674 Das Nichts hebt das Sein und das Subjekt auf. Aber der transzendentale Zuschauer entnichtet das Nichts durch Rekurs auf eine mundane Sprache. Finks Ansatz wäre vielleicht eine Aufhebung plus einen Chiasmus oder eine Dialektik, deren Resultate aus verschiedenen Perspektiven ablesbar sind. Macht der Ausdruck Dialektik mit Verzweigungen überhaupt Sinn? In Anbetracht dessen, dass bei Fink Hegels Dialektik erwähnt wird, ist ein Bezug auf Letzteren nicht überflüssig. Wir erinnern daran, dass Hegels Dialektik einer Auseinandersetzung mit der Logik und deren begrenzter Interpretation sowie mit deren höchstem Prinzip, dem tertium non datur (TND), entspringt. Wir erinnern an die ersten zwei von Hegels Habilitationsthesen: „Contradictio est regula veri, non contradictio falsi“ und „Syllogismus est principium Idealismi“675, d.h., der Syllogismus bleibt als Struktur des Logos, damit der Logos selbst logischen Charakter besitzen kann, aber dadurch überschreitet er auch das TND als starre Form des Denkens. Nicht nur die Relation Form-Inhalt wird modifiziert, auch das Verhältnis zur Sprache erfährt eine radikale Veränderung. Nicht der bloße Widerspruch und nicht die bloße unvermittelte Vereinigung gelten hier als adäquate Darstellung des Absoluten, sondern nur ein plastischer Gebrauch der Sprache und des sich in ihr bewegenden Syllogismus. Hegel sagt in der Vorrede zur 2. Ausgabe der Wissenschaft der Logik: „Die Darstellung keines Gegenstandes wäre an und für sich fähig, so streng ganz immanent plastisch zu sein als die der Entwicklung des Denkens in seiner Notwendigkeit“, daher, sagt er, „ein plastischer Vortrag erfordert dann auch einen plastischen Sinn des Aufnehmens und Verstehens“676, zu dem man auch des Schreibens hinzufügen müsste. Sich auf die „Erwähnung [jener] Platonischer Darstellung“ beziehend, wo er sagt, er habe „seine Bücher über den Staat siebenmal umgearbeitet“, antwortet Hegel: Ein Werk „ als der modernen Welt angehörig“, mit einem tieferen Prinzip und umfangreicherem Material, müsste

673 674 675 676

„Diese Wandlung und Aufhebung der Metaphysik in der transzendentalen Phänomenologie gilt es / in ihrer ganzen Tragweite zu begreifen“ (Fink und Bruzina, 2006b, S. Z-X 16a-b S.122). (Ebenda, S. Z-XV 80a S.296). (Hegel & Neuser, 1986, S. 74). (Hegel, 2006, S. HW05:30-1).

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dann siebenundsiebzigmal durchgearbeitet werden677, nicht weil es „komplizierter“ wäre, sondern weil sein Inhalt sich nicht direkt auf einmal, wie aus der Pistole678, nicht als Prinzip oder Anfang, nicht einmal als „Ursprung“ oder als Resultat, sondern nur als Prozess679 darstellen lässt. Aber wie verhalten sich Sprache und Aufhebung? Dazu äußert sich Hegel in den ersten Paragraphen der Wissenschaft der Logik: Aufgehoben ist nur das Ideelle, es „ist ein Vermitteltes, es ist das Nichtseiende, aber als Resultat, das von einem Sein ausgegangen ist“; das Wort „Aufheben hat in der Sprache den gedoppelten Sinn, daß es soviel als aufbewahren, erhalten bedeutet und zugleich soviel als aufhören lassen, ein Ende machen“, weiter „ist das Aufgehobene ein zugleich Aufbewahrtes, das nur seine Unmittelbarkeit verloren hat, aber darum nicht vernichtet ist“; dialektisch gesehen ist etwas „nur insofern aufgehoben, als es in die Einheit mit seinem Entgegengesetzten getreten ist“; Sein und Nicht-Sein – womit die hegelsche Logik beginnt – sind nur Momente, aber „in ihrer Einheit sind sie als diese Bestimmungen verschwunden und sind nun etwas anderes“, denn „Sein ist Sein und Nichts ist Nichts nur in ihrer Unterschiedenheit voneinander; in ihrer Wahrheit aber, in ihrer Einheit sind sie als diese Bestimmungen verschwunden und sind nun etwas anderes“; beide Bestimmungen sind auf dieser neuen Stufe „dasselbe“ und „haben eine verschiedene Bestimmung; im Werden waren sie Entstehen und Vergehen; im Dasein als einer anders bestimmten Einheit sind sie wieder anders bestimmte Momente“.680 Die natürliche Sprache bewahrt ein widersprüchliches Potenzial, das die Basis der Logik ausmacht. Die Schlussfolgerung ist deutlich: Die Sprache muss sich auf sich selbst beziehen. Die Frage ist, ob diese Relation nur ironisch sein kann, oder ob Ernsthaftigkeit und Ironie notwendig entgegengesetzt sein müssen. Finks Vorbehalt gegenüber dem hegelschen Begriff Aufhebung kann als ein Vorbehalt gegenüber der Einheit des Bewusstseins und der Einheit des Werdens im Bewusstsein gelesen werden. Fink beharrt darauf, dass der transzendentale Zuschauer, das transzendentale Leben und der Mensch nie identisch sind. Daher bedarf die Phänomenologie zweier komplementären Vorgehen: der Konstitution und der Konstruktion. Das phänomenologische Feld ist nicht mehr ganz einheitlich. Ist aber der Begriff bei Hegel nicht auch gewissermaßen konstruktiv? Ich meine, setzt die Aufhebung nicht bereits eine Distanz, ein Verhältnis zum Tod voraus? Das Aufgehobene ist das Seinende nach seinem Tod, das meint, nach dem Tod seiner Unmittelbarkeit. Der Tod ist der eigentliche Anfang des Geistigen, das Lebendige hört auf, zu sein, wird aber wiederbelebt im Begriff, in einer rein geistigen Existenz. Geist ist der Name eines Lebens nach dem Leben. 677 678 679

680

(Ebenda, S. HW05:33). (Ebenda, S. HW03:31). „Denn die Sache ist nicht in ihrem Zwecke erschöpft, sondern in ihrer Ausführung, noch ist das Resultat das wirkliche Ganze, sondern es zusammen mit seinem Werden; der Zweck für sich ist das unlebendige Allgemeine, wie die Tendenz das bloße Treiben, das seiner Wirklichkeit noch entbehrt, und das nackte Resultat ist der Leichnam, der die Tendenz hinter sich gelassen“ (Ebenda, S. HW03:13). (Ebenda, S. HW05:113-5).

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In ihm wird das konkrete Leben, das „hier“ oder „da“, „jetzt“ oder „später“ sagt, zwar nicht wieder lebendig, aber es bekommt nachträglich seinen Sinn und Ort, seine Rechtfertigung im Ganzen. Wie tot dieses unmittelbare Leben ist, wie viel von ihm im Begriff aufbewahrt wird: Das sind hier die problematischsten Fragen. Die Idee eines Grundes (sei es als Sein oder Nichts) ficht eben diese Selbst-Suffizienz des Begriffs an; der Begriff dagegen kritisiert die Einfachheit und Fertigkeit jeden Anfangs und jeden Ursprungs. Wenn der Ursprung an sich werdend ist, existiert er dann überhaupt? Und vertragen sich Grund und Aufhebung? Wird nicht der Grund nur immer partiell aufgehoben? Aber was wäre eine Logik mit Stufen von Negationen? Die Rede über die Aufhebung und die Synthese bei Fink betrifft deutlich die Grenzen der Philosophie und des Denkens überhaupt. Deswegen gilt er in dieser Arbeit als Vorgänger des Denkens des Endes. Die Phänomenologie erwies sich beim späten Husserl und in Finks Werk als eine Philosophie der absoluten Synthese vor dem Subjekt. Die Synthese ist vorbewusst und kann unbewusst bleiben. Die transzendentale Reflexion ist gewissermaßen willkürlich. Es besteht in der Epoché keine Notwendigkeit dazu. Aber nach dem Erwachen des transzendentalen Zuschauers wird die klare Ordnung und das konstituierende Verhältnis von Nichts und Sein erschüttert. Der transzendentale Zuschauer ist ein „Supplement“ und erlaubt es, die Frage nach dem Ursprung neu zu stellen. Die Frage nach dem Ursprung bedeutet für Fink „das Stoßen des Daseins an seine Grenzen und seine Tiefen“ und „führt zur Erschütterung aller Bodenständigkeit“; damit, sagt er, „beginnt die Absolution: Ablösung der Instände“, was „kein existenzielles Verhalten mehr“, sondern „Hintersichspringen der Reflexion [...] Phänomen des ‚Abgrundes’“681sei. Der Ausdruck „Ablösung der Instände“ ist die „phänomenologische“ Auffassung des Absoluten, die Absolution von allem Weltlichen (angenommen, dass der bloße Mensch von einer unaufhebbaren Naivität682 betroffen sei), eine Art doch unvollständiger Aufhebung, weil dieses Absolute nur die Befreiung, aber keine Verwirklichung (keine „Produktion“ außer den Äußerungen des transzendentalen Zuschauers) bedeutet. Hegels Begriff von Aufhebung ist ausgesprochen missverständlich. Formell gesehen vollzieht sie die Bewegung der Identität: „Das reine Selbsterkennen im absoluten Anderssein“.683 Vom phänomenologischen Standpunkt (im hegelschen Sinne) her aber, der in der Phänomenologie des Geistes dargestellt wird, beginnt die Erfahrung mit dem Verschwinden, mit dem Tod und Vernichtung des unmittelbar Lebendigen, damit diese ungeheure „Macht des Negativen“ ihre Herrschaft etablieren kann; danach aber besteht das eigentliche Sich-Erkennen in der

681 682 683

(Fink und Bruzina, 2006b, S. Z-IV 57b S. 240). (Ebenda, S. Z-XI 36a-b S. 150). Das Zitat von Hegel lautet weiter: „[…] dieser Äther als solcher, ist der Grund und Boden der Wissenschaft oder das Wissen im Allgemeinen. Der Anfang der Philosophie macht die Voraussetzung oder Forderung, daß das Bewußtsein sich in diesem Elemente befinde“ (Hegel, 2006, S. HW03:29).

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Wiedergutmachung des „Inhaltes“ (=Objekt von sich selbst sein). Da erkennt man das Streben nach Abstraktion, Negativität und Vernichtung, aber da ist auch der „Wille“ zur Äußerung, im breiteren Sinne: zur Wirklichkeit zu kommen. Aber das Sterben des unmittelbaren Lebens, die Herrschaft der universellen Abstraktion und das entstehende Leben des Geistes – jene konkrete Universalität – sind drei Momente, die man hinterfragen sollte. „Das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken“684 ist für Hegel, in der Phänomenologie des Geistes, die Aufgabe der Philosophie. Gibt es allerdings ein Drittes zwischen Substanz und Subjekt außer ihrer Aufhebung? Bei Fink besteht die Frage nach dem Zusammenhang von der begrifflichen Auffassung des Absoluten und der Verwirklichung des Begriffs. Ist die Welt immer schon alles, was sie sein kann, (d.h. das höchste in objektiver Form oder als das Konstituierte) oder ist innerhalb der Welt ein echter und nicht (ganz) antizipierbarer, jedoch denkbarer Umschwung möglich? Damit zusammenhängend: Wie ändert sich die Welt in Bezug auf den Begriff des (philosophischen) Absoluten und wie spiegeln wiederum die Weltbedingungen unseren Begriff des Absoluten wider? Sind also bei Fink die Welt und deren Begriffe nur noch Arten des Befangenseins? Ist das Nichts wirklich der einzige Weg, wodurch ein hypostasiertes Subjekt und ein hypostasiertes Objekt (als Welt verstanden) infrage gestellt werden können? Was bleibt aber danach? Die unendlichen Proteste der Sprache? Was ist dann die Entnichtung, der Kampf des Philosophen, damit das Nichts positiv die Welt durchdringen kann? Finks Aufhebung kehrt allerdings nicht zum Sein, zur Dynamik des Geistes (wie bei Hegel), zurück; ganz im Gegenteil, sie meidet den Strom des Lebens (das transzendentale Leben endet in der Welt, der phänomenologische Zuschauer ist die Forelle, die in Gegenrichtung schwimmt, nur um das Nichts zu finden), des sich Offenbarens, aber versucht, das Nichts (=das Konstituierende) in die Sprache zu bringen. Nicht weil die menschliche Sprache dem gewachsen wäre, sondern weil sie eine mysteriöse Analogie zwischen beiden Reichen etabliert. Ohne diese Analogie wäre die Sprache ganz und gar nutzlos für die Phänomenologie. Eine direkte Sprache hingegen, die das Transzendentale ohne weiteres widerspiegeln würde, würde Finks Unterscheidung zwischen Welt und Nichtsein unbrauchbar machen. Das Ego hat keinen (direkten) Zugang zu dessen Konstitution, vor ihm und nach ihm steht das Nichts; dahinter steckt kein Prozess im eigentlichen Sinne; dialektisch ist das Phänomenologisieren nicht das transzendentale Leben an sich. Das sich Äußern des anonymen Lebens führt zu keinem Selbstbewusstsein, nur noch das Ereignis namens Reduktion ermöglicht seinen Selbstbezug. Der Mensch sieht sich in dieser Reduktion verschwinden, aber hierfür bekommt er, durch eine protestierende Sprache, den Blick in die kreierende Leere.

684

(Ebenda, S. HW03:23).

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Das Dritte ist für Fink, wie gesagt, keine allumfassende Einheit. Der „phänomenologische Idealismus“, stellt er fest, „muß gerade aus dem Begriff des Absoluten den Begriff des Seins eliminieren“685, denn: „Das in aller Ontologie ausgeschlossene Dritte ist das Absolute!!“686 Fink liefert folgendes Schema687:

1. S est P

Positive

S ist P

2. S non est P

Negative

S nichtet P

3. S est Non-P

Limitative

S ist Non-P

Welt = Worin von Sein und Nichts. Sein – Nichts

Meontisch

Abb. 13 Das Schema bezieht sich auf Kants Einteilung der Urteile, wie sie in §9 der Analytik der Begriffe in der Kritik der Reinen Vernunft, in einer Tafel, präsentiert wird. Nach der Quantität sind die Urteile: allgemeine, besondere oder einzelne; nach der Qualität: bejahende, verneinende oder unendliche (limitative); nach der Relation: kategorische, hypothetische oder disjunktive; nach der Modalität: problematische, assertorische oder apodiktische. Die Bejahung entspricht dem Positiven (S ist P), die Verneinung dem Negativen (S ist nicht P), die unendliche Bejahung dem Limitativen (S ist nicht-P). Kant sagt im §22 seiner Logik: „Im bejahenden Urtheile wird das Subject unter der Sphäre eines Prädicats gedacht, im verneinenden wird es außer der Sphäre des letztern gesetzt, und im unendlichen wird es in die Sphäre eines Begriffs, die außerhalb der Sphäre eines andern liegt, gesetzt“; als Anmerkung fügt er hinzu: „Das unendliche Urtheil zeigt nicht bloß an, daß ein Subject unter der Sphäre eines Prädicats nicht enthalten sei, sondern daß es außer der Sphäre desselben in der unendlichen Sphäre irgendwo liege; folglich stellt dieses Urtheil die Sphäre des Prädicats als beschränkt vor“.688 Das Meontische ist nicht nur eine Verneinung; etwas Nichtseiendes ist eine Bejahung, die nur die Sphäre des Seins limitiert. Dieses Dritte ist die Limitation des Seins (und des Subjekts) und 685

686 687 688

Fink: „Das Absolute ist kein ‚ens realissimum‘, sondern ‚nihil nihilissimum‘. Die ‚positive‘ Bestimmung desselben als ‚Ursprung‘ (origo)“ (Fink und Bruzina, 2006b, S. Z-XV 80a S.296). (Ebenda, S. Z-XV 81b-c S.297). Nach: (Ebenda, S. Z-XV 81b-c S.297). (Kant, 2007, S. IX:1034).

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die Bejahung des Offenen und Unbestimmten.

5.1.5 Die Phänomenologie als transzendentaler Idealismus Finks abschließender Gedankengang in der VI. Cartesianischen Meditation betrifft die Verwandlung der Phänomenologie in einen transzendentalen Idealismus. Es ist jedoch keine Überraschung trotz seines konstanten Bezugs auf Hegel: Die echte „Vollendung“ der Tradition liegt nicht in der Tradition selbst – wir sahen, sie ist weltbefangen –, sondern in dem, als was diese die Tradition erst erkennen lässt, nämlich eben als weltbefangen. Die philosophische Struktur dieser Tradition bleibt aber relativ unberührt, verliert allerdings ihre Legitimität. So sagt Fink: „Die die ganze transzendentale Methodenlehre leitende Frage nach dem Phänomenologisieren kommt zur letzten Beantwortung in der Bestimmung der absoluten Wissenschaft“ und „ist der transzendentale Idealismus diejenige philosophische Weltinterpretation, die prinzipiell keinen Gegenbegriff haben kann“, aber unter dem Vorbehalt, dass diese neue Wissenschaft sich nicht mehr an die Evidenz und die Strenge der mundanen Wissenschaften halten kann.689 Aber kann man dies immer noch mit Recht eine Wissenschaft nennen? Gleich danach behauptet er, in dieser absoluten Wissenschaft vollende „sich der Entwurf der Idee einer transzendentalen Methodenlehre, die sich nun selbst im Begriff der absoluten Wissenschaft in einer gewissen Weise aufhebt, sofern die antithetische Unterscheidung von transzendentaler Elementarlehre und Methodenlehre in der letzten Synthesis des absoluten Wissens verschwindet“; diese Wissenschaft wird schließlich verstanden als „die Wirklichkeit des Fürsichseins des Absoluten“, als „das System der lebendigen Wahrheit, in dem es sich selbst absolut weiß“.690 Wie bereits gesehen, entspricht dem phänomenologischen Idealismus auch eine gewisse Aufhebung, wo die Elementarlehre und die Methodenlehre zu Momenten werden. In gleicher Weise verbinden sich dialektisch die Welt, das transzendentale Leben und das Phänomenologisieren: Das genannte Leben besteht nur in seinem reinen sich Äußern, dabei ist es aber ganz und gar unbewusst, pure (transzendentale) Konstitution ohne Produkt; die Welt hingegen ist reines Produkt, absolute Passivität oder nur konstituiert; beide sind einander entgegengesetzt. Gleichzeitig aber, weil die Konstitution eben etwas konstituiert, um konstitutiv zu sein, sind beide nur noch Momente des Konstituierens. Damit ist keine transzendentale Reflexion im Spiel. Die (mundane) Philosophie kann stattfinden, aber das transzendentale Leben weiß nichts von sich selbst. Dafür braucht es ein Ereignis: die transzendentale Reduktion. Diese ist weder wesenhafte Tätigkeit des transzendentalen Lebens noch mundane Leistung. Ein drittes Ego vollzieht die Reduktion und produziert sich selbst in dieser Reduktion. Dieses dritte Ego läuft in Gegenrichtung zur Äußerung, d.h., es verweltlicht

689 690

(Fink, 1988, S. 169). (Ebenda, S. 169).

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sich nicht, es schafft keine Welt. Dieses Ego reflektiert das Phänomenologisieren, das eben durch es und nur von ihm selbst durchgeführt werden kann. Aber diese Selbstbezüglichkeit schließt sowohl die Welt als auch das transzendentale Leben ein. Der eigentliche Selbstbezug ist der dieses Lebens, das durch das Phänomenologisieren zu sich selbst kommen kann. Und weil dieses Leben im sich Äußern besteht, ist das Phänomenologisieren dieser Welt auch verpflichtet. Das phänomenologische Ich kommuniziert (also verweltlicht und vergemeinschaftet) seine Reflexion in mundanen Begriffen. So entsteht eine protestierende, immer mundane Sprache, in der versucht wird, das nicht Mundane, d.h. das Nichtseiende, das Meontische, auszudrücken. Der Mensch wird im Menschen aufgehoben, aber damit weiß der Mensch auch, dass er nicht derjenige ist, der wirklich phänomenologisiert; weiter weiß er auch, dass nicht er, sondern das phänomenologisierende Ego weiß, dass nur das Nichts das Absolute sein kann. Dieses Nichts allerdings ist nicht „gar nichts“, sondern eben das Unendliche, das das Sein limitiert. Es ist nur die Asymmetrie zwischen Sein und Nichts, weswegen Finks Denken nicht in eine hegelsche Aufhebung mündet. Es ist weiter der Unterschied zwischen dem reell kreierenden Charakter des transzendentalen Lebens und dem bewussten Konstituieren, was Sein und Wissen relativ getrennt hält. Schließlich ist es der nur in eine Richtung laufende Prozess KonstitutionKonstituiert, was den transzendentalen Charakter von Finks Denken bestätigt. Dies versteht Fink als das „erhabene Sichselbstbegreifen des Absoluten“691 und dessen via regia ist die Rückfrage: „Aller Weg zu den konstituierenden Tiefenschichten ist Abbau, ist Rückgang, ist Regreß“692, dadurch, dass „wir die Voraussetzungen und Grundlagen des mundanen Idealismus (und seines Gegenbegriffs: des mundanen Realismus) destruieren“, besonders die „Interpretation der intramundanen Subjekt-Objekt-Beziehung, in der These vom ontologischen Primat des mundanen Subjekts“; die Phänomenologie vertritt keine „Verabsolutierung des ‚Bewusstseins’, sie ist deswegen keine Immanenzphilosophie“.693 Immanenz und Transzendenz machen das Produkt Welt aus, daher ist das Nichts keine Transzendenz; die abschließenden Worte Finks in diesem Sinne lauten: „Während der mundane Idealismus Seiendes durch Seiendes zu erklären versucht, stellt die ontologische Weltthese des transzendentalen Idealismus die Interpretation des Seins aus der ‚vor-seienden’ Konstitution dar“.694 Das Vorseiende ist das Absolute, dem nichts gegenübergestellt werden kann. Sein und Zeit ist für Fink, wie gesagt, die Grundformel aller Transzendentalphilosophie. Die Zeit, die Genese, die Konstitution, die Unterscheidung zwischen Konstitutivem und Konstituiertem, das Werden, der unaussprechliche Ursprung, das Nichtseiende als echtes 691 692 693 694

(Ebenda, S. 170). (Fink und Bruzina, 2006a, S. 323). (Fink, 1988, S. 177). (Ebenda, S. 178).

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(Nicht)Objekt der Phänomenologie: Dies ist das Terrain der neuen Phänomenologie oder der Post-Philosophie. Auch wenn Fink immer noch von Philosophie spricht, hat er auch gesagt, sie sei in ihrer ganzen Geschichte nichts anderes als Welt-Philosophie und deswegen nicht absolut und nicht aufzuheben. Endlich schien die Philosophie radikal genug zu sein, sie stellt sich in ihrer Ganzheit infrage, weil nun das Sein aufgehört hat, die letzte Grenze der Philosophie zu sein. Die leibnizsche Frage „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ wird nun ironisch. Warum nicht vielmehr nichts? Warum eigentlich nicht das Nichts? Wir stehen vor dem Nichts. Jedoch verzichtet Fink nicht auf den transzendentalen Ansatz und den Anspruch auf das Absolute, weil nun das Meontische eben die Stelle besetzt, die das Sein frei gelassen hat. Diese Phänomenologie ist strukturell Philosophie, inhaltlich Meontik und dadurch führt sie de facto eine neue Trennung ein, die eine Auslegung des Lebens zu überschreiten versucht.

5.1.6 Das Leben lebt (das) Nicht(s): Leben, Logik und Natur Nach dem oben Gesagten kann man sich fragen: Warum spricht Fink trotz allem von Subjektivität695 (= die Lebenstiefe des absoluten Geistes)? Was ist eine vorseiende, vormenschliche, nicht-individualisierte Subjektivität? Warum spricht er von einem transzendentalen Leben? Warum überhaupt die Rede von Wissenschaft (=die Bezeichnung der Phänomenologie als absolute Wissenschaft), von Selbstbezüglichkeit (das Zu-sich-selbstKommen des transzendentalen Lebens)? Husserls letztes phänomenologisches Unternehmen, die Krisisschrift, hat sich auf die Suche nach einem neuen Boden für die Wissenschaften gemacht: die Lebenswelt. Zunächst vergessen und anonym, sollte diese Lebenswelt in das neue (rationale und bewusste) Leben integriert werden. An diesem Scheideweg stand Husserl: zwischen einer niemals zu befriedigenden Reduktion, die alles Gesagte als „konstituiert“ interpretieren muss, und der Suche nach einem ersten, nicht zu hinterfragenden, Anfang. Für Fink aber, wir haben es gesehen, hat die Methode, die Reduktion, Vorrang vor dem phänomenologischen Boden, sogar vor dem von Husserl verkündigten Leben, denn dieses (inter)subjektive Leben Husserls wird auch als weltbefangen interpretiert. Charakteristisch für Husserls Krisisschrift ist, dass er sich weder eindeutig für das Leben noch für die Vernunft entscheidet. Eine Synthese (oder Dialektik) ist explizit nicht vorhanden; Husserl beruft sich allerdings gleichzeitig auf die vorsubjektive Ebene und auf den notwendigen nachträglichen Schritt, auf das Moment des Sammelns, in dem das reine Leben rational (selbst) aufgefasst wird. Damit präsentiert er die alte Spannung der Phänomenologie in einem neuen Gewand: Der Ursprung lässt sich nur nachträglich darstellen, aber, noch wichtiger, der Ursprung an sich scheint diese Struktur der Nachträglichkeit zu haben. Anders: Das Leben, das zu sich selbst 695

Wir sind, sagt Fink in der VI. Cartesianischen Meditation, „vorgestossen in die Ursprungsdimension alles Seins, in den konstitutiven Quellgrund der Welt: in die Sphäre der transzendentalen Subjektivität“ (Ebenda, S. 3).

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kommt, kommt immer nachträglich, als könnte es sich selbst niemals erreichen, eben darum, weil sein Wesen darin besteht, sich von sich selbst zu trennen, um es selbst zu sein. Auf dem Spiel steht bei Husserl die Entstehung der Wissenschaften und der Rationalität, welche, es war sein unerschütterlicher Glaube, die Menschheit leiten sollte. Aber wie soll man die Wissenschaft ohne wissenschaftliche Grundlagenerklären, wenn es seit den logischen Untersuchungen Husserls Meinung war, dass das Empirische (Geschichte und Psychologie waren damals die Vertreter des Empirismus und folglich des Skeptizismus) kein gültiges und immerwährendes Wissen liefern kann? Husserls Lösung ist auch nicht neu, die Idee im n Sinne wird eine gewisse Teleologie sichern, laut derer das Wesen seit jeher von sich selbst in einer nicht ganz entwickelten Form antizipiert worden ist. Das bedeutet: Husserl erlaubt sich, von einem Vor-Ich zu reden, nur weil es potenziell ein vollwertiges Ich enthält. Husserls Vorgeschichte des Ich ist ein potenzielles Ich, das aber nicht scheitern kann und von keiner möglichen Abweichung gefährdet ist. Finks Vorsein will absichtlich dieses Paradoxon vermeiden und spricht deswegen von einem nicht menschlichen, also nicht „ichlichen“, wissenschaftlichen Leben. Was kann also das Leben für eine Phänomenologie sein? Wer lebt? Die anonyme Subjektivität, der transzendentale Zuschauer, der Mensch oder nur ein die drei anderen Ich verbindender, absoluter Geist? Und welche Rolle spielt der Tod in dieser Verwicklung? Beschäftigt sich der Mensch nicht nur mit Leichen aus dem ersten Leben, weil die Sprache (und die mundane Wissenschaft) gegenüber der Tätigkeit des Lebens immer zu spät kommt? Oder tragen die Sprache oder die Wissenschaft eine gewisse Lebendigkeit in sich? Heideggers Vorwurf an Husserl war es, die Welt, Grundstein der Faktizität, durch eine Abstraktion überschreiten zu wollen. Das phänomenologische Ich befinde sich aber immer schon in der Welt, einer Sprache verpflichtet usw. Finks Antwort darauf war, dass die Faktizität, eben weil sie auf die Welt bezogen sei, auch reduziert werden müsse. Die ganze Analytik des Daseins bedarf nach Fink einer echten phänomenologischen Reduktion. Fink weiß aber ganz genau, dass eine Reduktion vom Menschen nicht zu vollziehen ist, daher bleibt nur das dritte Ich, der phänomenologische Zuschauer, von dem diese Leistung gefordert werden kann. Aber dann, weil er nicht menschlich ist, bedarf er im Grunde genommen keiner Reduktion! Die Reduktion ist daher eine Methode und keine Methode zugleich. Sie ist der Name eines menschlichen Verfahrens im Dienst der philosophischen Wissenschaft und auch eine Zäsur im Absoluten, weil sie ganz unmotiviert und grundlos ist. Weiter aber muss das Leben, wie Husserl in der Krisisschrift behauptet, den Grund für alle Vernunft legen, denn, wie er sagt, wird die Wissenschaft leer, wenn sie ihren Boden vergisst. Ist dieser Boden also Grund oder Abgrund, das Aktuelle (das Sein) oder das Mögliche (ein werdendes Vorsein, das die Welt als Endprodukt hat)? Man beginnt zu ahnen, dass vielleicht die Reduktion an verschiedenen Orten vollzogen werden kann, und dass vielleicht eine (immer aporetische) Philosophie des Ursprungs sich in eine der

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Multiplizität der Anfänge verwandeln kann. Auch zu stellen wären diese Fragen: Ist alles Weltliche bloß Konstituiertes oder besitzt es eine gewisse eigene Potentialität? Ist das Nichts nur noch konstituierend und gar nicht konstituiert? Aber wenn man von ihm spricht, wenn es entnichtet und ontisiert wird, wird es ganz und gar verfälscht, oder lässt sich etwas Wahres von ihm sagen? Impliziert nicht eine Rede von Produktion außerhalb des Bewusstseins eine Art Natur, oder mindestens eine denaturierte Natur? Wir gehen dennoch diesem Weg noch nicht nach. Wenn das transzendentale Leben bei Fink mit dem Nichts koinzidiert, darf man sich konsequenterweise fragen: Wo „befindet“ sich das Nichts? Im Menschen (wie Kojève in Übereinstimmung mit Hegel sagt), im Zuschauer (der weder konstituierend noch konstituiert ist und daher überhaupt keinem Ort zuzuordnen ist) oder im richtigen transzendentalen Leben? Sind die drei Ich drei Nichts, drei Leben? Wo wäre dann das Positive, das sich Darstellende, ohne das die Phänomenologie bloßer Skeptizismus wäre? Was bleibt also für die Philosophie oder ihre Nachkommen übrig, wenn der positive Teil, also der Rückgriff auf die Ursprünge, höchst fragwürdig wird? Man kann immer argumentieren, dass die Reduktion sich gegen den Fetischismus des Gegebenen richtet. Ist aber die Reduktion nicht eine fetischisierte Methode vor allem bei Eugen Fink? Kann etwas reduzieren, ohne etwas anderes vorauszusetzen? Husserls fetischisierte Reduktion führt unbedingt in den Skeptizismus, den er vermeiden wollte. Der Fetischismus besteht in diesem Kontext nicht in der Verdinglichung, sondern auch in einer Flucht vor dem Dinglichen. So geschieht dies auch bei Finks Anwendung von Hegels Negativität; die Dialektik wird zu einer Art Skeptizismus, wo die Aufhebung scheitert. Der Philosoph muss den Weg des Skeptikers zurücklegen und versuchen, aus dessen Schwierigkeiten mit eigenen Mitteln herauszukommen. Aber gelingt dies der Phänomenologie unter diesen Bedingungen? Das ist das wahre Rätsel: Wie die Kritik, die Destruktion, die Skepsis, die Epoché und der methodische Zweifel ins Positive verkehrt werden können und auch, was unter „positiv“ verstanden werden soll. Der abstrakte unendliche Schluss, der behauptet, dass das uns Negative an sich das höchst Positive, Bejahende sei, reicht nicht aus. Das Positive wird bei Fink gewissermaßen zum Synonym für Verfälschung, für bloß konstituiertes Sein, während die Philosophie oder die Post-Philosophie behauptet, das Nichts und das reine Werden (ohne Produkte) seien das einzig Würdige. Ein Werden ohne Produkte - diese Vorstellung liegt der deutschen Romantik nahe. Man kann sagen, es gibt zwei Nihilismen: Einmal den, der die Zeit gerinnen lässt und damit die Welt zu vorhandenem Ding, Werkzeug und toter Präsenz macht; und einmal den, der, im Dienste des Offenen und des Möglichen, nichts bestehen lässt und alles Dauerhafte angreift und schließlich destruiert. Man kann sowohl weltbefangen als auch befangen im Nichts oder sogar beides sein: Die Sprache bindet uns an die Welt als Verfälschung des wahren Lebens, das Transzendentale in uns hingegen an die Vernichtung dieser Welt und deren Begriffe.

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Allerdings sagt auch Fink, wie bereits erwähnt, die Entnichtung sei die Aufgabe des Philosophen und dass die Welt kein Nichts sei: „Die meontische Philosophie ist keine Flucht ins Nichts, sondern die Welttreue in vertieftem Sinne: das Endliche, das Sein, die Zeit - wird nicht preisgegeben (weggelassen) zugunsten einer mystischen Versenkung in das Nichts, sondern geholt aus dem Nichts, ‚geschöpft’. Der Philosoph wird so zum ‚Weltschöpfer’ [...] Das Sein: die Welt ist notwendig“.696 Wie wird aber der Philosoph ohne positive Begriffe zum Weltschöpfer? Und, wie gesagt, erfordert nicht diese Betrachtung des Nichts auch die Bereitstellung von neuen Begriffen bzw. neuen Logiken für die Welt? Fink selbst erkennt, Hegel folgend, dass das Dritte ein Problem für die Weiterführung der Philosophie sei. All dies kommt in der Diskussion über die Aufhebung zum Ausdruck. Man sieht einerseits die Konfrontation der Rechte des Lebens mit den Rechten der Vernunft im Hinblick auf die Logik und anderseits die Rechte des positiven Endlichen und des Unendlichen als radikale Offenheit. Sehen wir uns dies genauer an. Wie Bruzina betont697, muss Husserls Berufung auf das Leben in der Krisisschrift als wahrer Grund der Vernunft mit der Lebensphilosophie konfrontiert werden, besonders mit den Kritiken, die behaupten, die Phänomenologie sei nur noch eine Abstraktion, ein Denken vom quellenden Leben getrennt, eine Flucht vor der Endlichkeit in die Wolken der Ewigkeit, eine ganz verdächtige Verallgemeinerung der Wissenschaft, die ihre eigenen Voraussetzungen nicht mehr anerkennt: „Ist am Ende die Ratio nicht so eine schöne Lebenslüge?“698, sagt Fink Nietzsche folgend. Warum, will man fragen, darauf beharren, das Leben kopfüber zu interpretieren, und sagen, die Vernunft sei das wahre Leben, während es eher so zu sein scheint, dass die Vernunft Werkzeug und Erfindung des Lebens in seinem Dienst ist? Gilt es auch für dieses transzendentale Leben, wie bei Nietzsches Begriff „Leib“, dass es kein Ich ist, aber tut, d.h., ein Ich produziert? Das transzendentale Leben bei Fink ist konstitutiv, aber nicht mehr im Sinne von „sich-bekunden“ (Biemel), es wird nun produktiv und daher zum wahren, nun aber bewusstlosen Subjekt, d.h., es ist pure Produktivität ohne produziert zu werden, pure Offenbarung, ohne ursprünglich auf sich selbst zurückzuverweisen: „Konstitution = Ontopoiesis“699. Dies ist die Spannung bei Fink: die Rückkehr des Lebens zu sich selbst als absolute Wissenschaft, d.h. als Geist oder als das rein produktive, schrankenlose, vorsubjektive und vorindividuierte Leben. Ist man nicht wieder gewissermaßen zwischen Hegel und Schelling, zwischen einer unaufhörlichen, jedoch immer scheiternden Aufhebung (Wissenschaft) und

696 697 698 699

(Fink und Bruzina, 2006b, S. Z-IX V/3a S.86). Siehe besonders die ausführliche Diskussion im 6. Kapitel: „Life and Spirit, and Entry into the Meontic“ (Bruzina, 2004). (Fink und Bruzina, 2006a, S. Z-V VIII/1b S.324). (Fink und Bruzina, 2006b, S. Z-XI. II/10b S.133).

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einem dunklen, immer verdunstenden Anfang (vorichlich), zwischen der Nachträglichkeit des Denkens und der Originalität des Ursprungs, dem reinen Bewussten und dem radikalen Unbewussten? Die Präposition „zwischen“ wurde bewusst gewählt, weil seit den letzten Mäandern der Phänomenologie keine Grenze mehr besteht, die nicht in demselben Moment, in dem sie aufgestellt wird, bereits überwunden wird; und es gibt gleichzeitig keine Überwindung, die das Gespenst der überwundenen Grenze an einer Rückkehr hindert. Das Meontische kann nur mundan interpretiert werden, und den mundanen Begriffen gelingt es trotz allem, durch „Proteste“, auf das Transzendentale hinzuweisen. Fink sagt in einer späten Schrift: „Je ursprünglicher Daseinsphänomene sind, desto enigmatischer erscheinen sie uns“700, daher unsere conditio humana. Und weiter: Das Verstehen hat sozusagen selber eine doppelte und zweideutige Aufgabe: einmal die Konkretion als Fülle der mannigfaltigen, gleichursprünglichen Daseinselemente, den ganzen, einheitlichen, bunten, in hellen und dunklen Farben gewirkten ‚Teppich des Lebens’ anzuzeigen - und andererseits die Elemente zu ‚isolieren’, ‚abstraktiv’ herauszuheben.701

Das Verstehen muß in die gelebte Lebenstotalität Unterschiede setzen, muß Risse ziehen, Umrisse fixieren – aber auch die Fixationen wieder aufheben, die gesetzten Unterschiede in die bewegte Lebensganzheit zurücknehmen [...]“, so darf „[d]ie Begriffsbildung [….] nicht in einer festen Schematik erstarren, sie muß sich immer wieder verflüssigen, muß offen bleiben für die tiefen Zweideutigkeiten, für das rätselhafte Doppelgesicht der Lebensphänomene“; unsere sprachlichen Methoden und Begriffe und ganz besonders „die daseinsanalytische Begriffsbildung [...] [sind dann] wesenhaft ‚dialektisch’; und „das hat seinen Grund im Wesen des Lebens“, aber im Leben selbst, „als dem All-Einen, haust die ‚ungeheure Macht des Negativen’“; diese Negativität […] zersetzt und zerreißt es [das Leben] immerfort, treibt es in die Vielfalt des Unterschiedenen, Abgegrenzten, Vereinzelten hinaus – und immer wieder gewinnt es seine allumfangende Identität zurück; es unterläuft die Gegensätze, verbindet das Getrennte, sammelt das Zerstreute [aber] das Eine zerbricht immer wieder ins Mannigfaltige und das Mannigfaltige wird unablässig geeint.702

Man könnte diesen späten Text Finks als den Versuch interpretieren, die Hierarchie und die Entgegensetzung zwischen Sammeln und Zerstreuung zu überwinden. Man kann aber die Hierarchie und die Entgegensetzung ohne eine entsprechende Logik nicht überwinden. Wollten wir nun Finks Argument über die Sprache radikalisieren, so gilt dies für jede Aussage, die aus dem Mund der Phänomenologie stammt; warum sollte man dem Wort Meontik mehr als dem Wort Sein vertrauen? Wenn man die Sprache nicht reduzieren kann, ist dann nicht alles Sagen verdächtig? Warum dann das Nichts, und nicht eben weniger als das, warum nicht die 700 701 702

(Fink, 1979, S. 301). (Ebenda, S. 301). (Ebenda, S. 301–302).

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Stille? ... Weil wir auch über die Stille reden können. Auch wenn wir als Philosophen strikte Stille wahren würden, so hätte diese Stille trotzdem performative Wirkungen auf die Welt. Alles Fehlende, jeder Mangel wird durch das Fehler- und Mangelhafte umrissen ... und trotzdem bleibt noch mal ein Loch, eine nicht zu positivierende Zäsur, … von der wir reden … aber wir reden nicht nur von der einen oder der anderen Seite, sondern von deren Verhältnis zueinander, auch wenn wir wissen, dass dieses Verhältnis nicht das Verbundene umschließt – als wäre es ein Sack –, sondern es durch eine Grenze trennt und verbindet, auch wenn wir uns selbst auf einer Seite der Gleichung befinden. Wie weiß man, dass man nicht weiß? Was versteht man unter Wissen und unter dem logischen Operator nicht? Jede Grenze gegenüber dem Denken wird überschritten, aber die Überschreitung ist niemals ganz vollzogen, ein Rest bleibt, der gedacht wird... Zwischen Hegel und Schelling zu sein, bedeutet auch, sich zwischen Leben und Logik zu bewegen, d.h. zwischen Welt und Meontik; Letzteres sogar in doppeltem Sinne: die Welt als das logisch in der Sprache Artikulierbare und die Welt als das Vor-ichliche; aber auch die Meontik als das Vorgehen des menschlichen Lebens (durch Negation) und als produktives Leben selbst. Verhüllt durch eine niemals deutlich bearbeitete Rezeption des deutschen Idealismus, wurden seine Motive durch die Phänomenologie auf einer neuen Ebene wiederholt, nicht als Komödie, sondern als zweite „Tragödie“, als verdoppelter Nihilismus. Es sei daran erinnert, dass der „Nihilismus“ als Fatalität der Vernunft sich erstmals bei Jacobi präsentierte703 und danach bei Heidegger (über Nietzsche) wieder als Schicksal des hochtechnisierten und der Wissenschaft verfallenen Abendlandes interpretiert wird. Diese neue Inszenierung, diese Wiederholung, zeigt sich am deutlichsten im Streit über die Interpretation und Rezeption der Phänomenologie nach Husserl und Fink, im Streit über das Leben und die Vernunft, genauer gesagt im Streit darüber, ob das Denken nur noch ein objektivierendes Verhalten gegenüber den Dingen aufstellen kann. Ding und Gegenstand - was sind das aus der Perspektive einer Lebensphilosophie, außer bloßen Leichen, was sind die Begriffe und die Logik, was ist die „kalte Vernunft“ außer einem toten Produkt des Lebens? Aber wiederum, wie soll man das „kosmische Leben“ bezeichnen, wenn nicht als Natur? Das sind nicht Nietzsches Worte, sondern sie stammen von Goethe, von Schelling, (dem jungen) Hegel, Hölderlin oder Novalis, den wahren Vorfahren der (letzten Problematik der) Phänomenologie. Mit Recht sagt Marqard, es gebe in der n Nachfolge (und mutatis mutandis auch in der Diskussion der Phänomenologie mit der Lebensphilosophie) drei Naturbegriffe704: a) Triebnatur (das meint: Begierde, Bedürfnis, Überdruck, Not, Unlust, flüchtige Befriedigung usw., von Hobbes vertreten; darüber hinaus hebt Marquard hervor, dass die Hobbeschen 703 704

Siehe Brief an Fichte und die Anklage von Spinozismus: (Jacobi, 2004). (Marquard, 1987, S. 55–57).

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passions, desire und right of nature nur durch ein law begrenzt werden können; die Triebnatur ist die Gesellschaft, wo der primitive Naturzustand die Welt beherrscht); b) Kontrollnatur (Natur ist hier Gegenstand der exakten Naturwissenschaften als Erfahrung oder Evidenz; sie ist durch Beobachtung und Mathematik manipulierbar; es regiert eine absolute Gesetzmäßigkeit und der Mensch ist Herr und Eigentümer der Natur; vertreten von Descartes und Kant) und schließlich c) Romantiknatur (Idee des Organismus, schöne oder heile Lebendigkeit, Unschuld, Naivität; durch Ästhetik, Kunst und Gefühl geprägt und von Novalis und Rousseau vertreten). Triebnatur und Romantiknatur sind die zwei Formen einer vom Menschen, vom Ich und vom Wissen emanzipierten Natur gegenüber einer „entmächtigten“ Vernunft und einem ohnmächtigen Ich, das bedeutet, „Natur kommt zum Zug da, wo die Vernunft ausfällt, wenn sie problematisch und unfähig wird“.705 Man kann sich auch fragen, ob die Meontik da zum Zug kommt, wo die Vernunft begriffsunfähig wird. Finks Worte sind diesbezüglich keine Überraschung: „Die meontische Produktivität ist der konstitutive Grund der ontischen Unproduktivität des Subjekts; die transzendentale Macht Grund seiner ontischen Ohnmacht“; produktiv (also agens) ist nicht das Subjekt, sondern die Natur (bzw. das Leben), nun aber, und im Gegensatz zu Kants Auffassung vom Leben in der Kritik der Urteilskraft und davon ausgehend vom jungen Schelling, wo es als Selbstbezüglichkeit, eine Art unbewusster Reflexivität, gedacht wird706, ist bei Fink das Leben eine vor-reflexive Kraft. Marquard sagt auch sehr treffend, dass die Ermächtigung der Natur und die Entmächtigung der Vernunft in der transzendentalen Philosophie zusammenhängen; weiter bringt diese subjektive Ohnmacht und die Ermächtigung der Natur eine Entfernung vom Menschenbild als „animale rationale in einer politischen Stadt-Welt707“. Denn was kann der Mensch gegen das seiner Welt Übergeordnete tun? Bedeutet diese Ermächtigung oder Selbstempörung der Natur nicht die menschliche mundane Ohnmacht? Husserls Krisisschrift lässt sich in dieser Hinsicht als der Versuch einer Begründung der Wissenschaften angesichts einer vernünftigen, intersubjektiven und vergemeinschafteten Stadt-Lebenswelt lesen, nicht umsonst verbindet Husserl den Krieg in der Krisisschrift mit der Umwendung der öffentlichen Bewertung der Wissenschaft (und der Vernunft) und nicht umsonst versteht Husserl die Phänomenologie als eine grundsätzliche Verantwortlichkeit. Ähnlich entdeckt Marquard in der Geschichte der phänomenologischen transzendentalen

705 706

707

(Ebenda, S. 54). Mit dem Vorbehalt, dass die Teleologie des Lebens nicht einer bestimmenden, sondern nur einer reflektierenden Beurteilung unterzogen wird, anders als bei Schellings absolutem Idealismus, wo Natur und Subjekt essentiell identisch sind. (Ebenda, S. 55–57).

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Philosophie den Zusammenhang zwischen der Opposition Entmächtigung-Ermächtigung und einem Notstand, den diese subjektive Ohnmacht enthüllt, neben einer Befreiung von der Objektivierung, eine „Situation der Hilferufe“, wo die „Triebnatur droht, die Welt zu beherrschen“.708 Husserl vertraute trotz allem einer Version der Kontroll-Natur und zeigte einen Glauben an die positiven objektivierenden Wissenschaften. Trotz Husserls Entdeckung der Horizontalität von Raum und Zeit, wo Gegenstände bloß Abschattungen einer Kontinuität ausmachen, hat Heidegger seinen Welt-Begriff – ganz genau auf diesen Horizont-Charakter achtend – tiefgründiger und radikaler betrachtet. Und sowohl Fink als auch Heidegger haben die Lektion jener Analysen Husserls zum Zeitbewusstsein radikaler interpretiert als er selbst. Bei Fink findet das Leben seine tiefste Auffassung in zwei Richtungen: als Produktivität und als Zeitigung oder als produzierendes Werden, Schellings frühem Begriff der Natur ähnlich. Fink hat aber den Zusammenhang von Kants Zeitlehre und der Lebensphilosophie deutlicher als Heidegger hervorgehoben: „Kants Theorie der Zeit als Form des inneren Sinnes: dieser apriorische Subjektivismus [gilt] als Wurzel von Historismus und Lebensphilosophie und temporalistischer Ontologie (Heidegger)“; Fink hat richtig verstanden, dass „Kants Zeittheorie nicht bloß transzendentale Ästhetik, sondern auch Analytik (Axiome der Anschauung, Schematismus) und Kosmologie (auch Theologie und Psychologie)“ ist; zu verstehen ist dann auch der Übergang von „der bekannten, in der Zeit stehenden Subjektivität zur unbekannten zeitigenden Subjektivität“.709 Die Infragestellung der Subjektivität durch eine Zeitphilosophie stammt zweifellos aus einer Radikalisierung der Subjektivität als Zeit. Weiter könnte man sagen, diese „entdeckte“ Region des „Prä“ oder des „Vor“ schöpft aus zwei Quellen: einer produktiven und einer als Zeit verstandenen Subjektivität; aber weit entfernt von jener Vorstellung, nach der die Subjektivität sich durch und in ihrer Zeitigung produziert (Selbstauffassung), wird sie ganz eingeklammert; der bleibende Rest ist eine vorsubjektive Zeitigung und eine vorobjektive Produktivität; es ist das Gespenst des Subjekts, die Subjektivität ohne Subjekt oder, besser gesagt, das Subjekt vor dem Subjekt.710 Dieses Privileg der reinen Zeit lässt die Philosophie, auch deren Kritik, im Subjektivismus befangen. Es ist nur die Logik, wenn man an Husserls Kritik gegen den Psychologismus erinnert, die den Empirismus anfechten kann, es war nur sie als abstrakte, idealisierte, für alle gültige, nicht im Empirischen begründete Wahrheit, die nicht nur eine Wissenschaft, sondern eine Gemeinschaft, um den Sinn organisiert, ermöglicht. Wenn aber die Logik auf eine innerweltliche Betrachtung der Dinge und ihrer Verhältnisse 708 709 710

(Ebenda, S. 58). (Fink und Bruzina, 2006b, S. Z-XII 36a- 38d S.201-2). Die radikallisierte phänomenologische Rückfrage intendiert, das Pontentielle, das vor-prädikative und vor allem das Nicht-Objektive, ans Licht zu bringen. Vorausgestz aber wird, dass das Seiende nicht anders sein kann, als es ist, ohne Rekurs auf einen vermutlichen Abgrund, in dem das Neue wartet, wieder in die Welt als Ereignis durchzubrechen. Dem Seienden werden seine eigenen Kräfte, sowie deren reziproken Verhältnisse (Seiendes-Seiendes und nicht Sein-Seiendes) entnommen. Aber warum, darf man fragen, sollte das Subjekt auf seine objetive Dimension reduziert werden und warum sollte das Objektive auf die Kontrolle des Seienden führen?

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reduziert wird, dann verliert man jede Möglichkeit, diesen Subjektivismus radikal zu kritisieren. Eine Philosophie der Zeitigung ist ein Subjektivismus gegen sich selbst; sie kann aber einerseits das endliche Subjekt nicht erklären bzw. seinen Ursprung aus den Regionen der Ur-Ursprünglichkeit (oder Vor-Originalität, sollte man die naive Phänomenologie als bereits im Besitz der Originalität – egologisch interpretiert – verstehen) darstellen und anderseits bedient sie sich eines Arguments des Subjektivismus selbst, nämlich der Idee von Originalität. Denn originär ist nur das, was begründet, und gegründet ist das, was als Sein von einem Subjekt (sei es logisch oder mundan) begriffen werden kann. Nun fragt es sich: Kann man die Struktur des Subjektivismus behalten, nämlich den Unterschied originär-begründet, oder produktiv-produziert oder sogar konstitutiv-konstituiert, ohne Logik, ohne Subjekt, ohne eine gewisse Kausalität? Wird nicht auf diese Weise das Gespenst des zeitigenden Subjekts behalten? Und ist es nicht deswegen, weshalb eine Philosophie der Zeit nicht nur jedem Realismus (weil er noch naiver als die Phänomenologie ist, das bedeutet, noch nicht reduziert, weil er immer noch an eine Art Transzendenz glaubt) feind ist, sondern auch die Subjektivität in dieser paradoxen und geschwächten Form verewigt? Diese Herrschaft der Zeit und des Werdens als problematischer und aporetischer Subjektivismus hat vielleicht nur noch in einer nicht naiven Interpretation des Raumes eine Alternative. Denn der Raum impliziert die Begrenzung der Subjektivität und die Auffassung dieser Begrenzung gleichzeitig. Raum heißt hier so viel wie ein Denken der Gleichzeitigkeit, wo das Subjekt selbst im Raum ist. Bekanntlich lag in Schellings Interessenbereich der Gedanke, die Natur vom menschlichen Verstand zu befreien. Ebenso bekannt ist sein Problem, den Bestand von etwas Realem, etwas vom Menschen Unabhängiges zu verteidigen (sei es als Spiegel des Subjekts, wie im System des Transzendentalen Idealismus, sei es als essentiell verschieden, als Grund, wie es sich ab der Freiheitsschrift präsentiert), währenddessen ein vernünftiger Zugang nicht versperrt wird. In einer späten Schrift schreibt er: […] der Raum ist etwas so Passives, so absolut Subjektloses, daß wir ihm unmöglich eine eigne Subsistenz zuschreiben können; er selbst kann nicht seyn, eben weil kein Subjekt in ihm ist, und doch ist er, wie nicht abzuweisen. Wie läßt sich dieser Widerspruch denken? Nicht dadurch, daß der Raum als bloße Vorstellung an dem menschlichen Subjekt haftet [...] [sonst müssten wir] uns wieder in eine leibnizische Monadenwelt, eine Welt rein und bloß geistiger Wesen flüchten […] [also] nun wenn kein Subjekt in ihm ist, so ist er doch vielleicht das Gespenst, das Phantasma eines Subjekts […] das immerfort weicht, sich gleichsam zurückzieht, um einer Vielheit Statt, d.h. eben Raum, zu geben, einer Vielheit, die statt seiner in die Wirklichkeit eintritt. Es wäre also weder Gott noch der Mensch dieses Subjekt […].711

Die Zeitigung bedeutet Werden als abstrakte Produktion, die Räumlichung hingegen meint, einer Vielheit wirklich Raum zu geben; Zeitigung ist die Trennung, die Zäsur innerhalb des Subjekts, die Räumlichung ist die Teilung und Verteilung der Orte, wo das Subjekt auf einen Platz „zurückgetragen“ wird. Nicht aber, weil damit das Subjekt seinen wahren Ort im Ganzen 711

(Schelling und Hahn, 1998, S. I,10,320-1).

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oder in der Natur fände, sondern eben, weil es damit an einer Distribution teilnimmt. Franz Rosenzweig, ein sorgfältiger Leser von Hegel und vor allem vom späten Schelling, steht diesem Gedanken, ungeachtet der theologischen Färbung bei ihm, sehr nahe, wenn er sagt: „[…] da wir versuchten, nichts mehr zu leihen, keinem andern mehr uns zu fügen, nur noch das Leben zu leben, das Leben selber, alles Leben, - und uns das eigne Leben in Nichts zerrann. Nichts, Nichts und wieder Nichts -wer gibt uns ein Leben, das etwas sei! Etwas und kein Nichts, Etwas und kein Alles, ein Etwas nur, doch das wirklich“712, denn die Welt ist für ihn „Etwas und nicht Nichts, Etwas und nicht Gott, Etwas und nicht Ich, Etwas und nicht Alles“ 713 , es gibt doch […] andres. Und da dieses Wissen nur der erste Anfang sein soll, so muß nun jenes andre, Ich wie Gott, in jedem Augenblick für sie erreichbar sein, sie erreichen. Es darf gar nicht möglich sein, von Welt zu reden, ohne nicht schon im nächsten Augenblick vom Menschen und von Gott zu reden. Die Welt kann nur Etwas sein, weil sie in jedem Augenblick hineingeschlungen ist in den Strom, dem sie und dem das andre, dem alles Etwas, angehört.714

Rosenzweig sagt, in seinem Werk wolle er „[…] lehren, als daß keiner dieser drei großen Begriffe [Gott, Mensch, Welt] des philosophischen Denkens auf den andern zurückgeführt werden kann“715; es gibt dann diese drei Elemente „nur im Übergang, in der Bewegung, im Auseinander und Ineinander und Zueinander“716, sonst „wird das Nichts zum einzigen ‚ganz andren’“717. Für Rosenzweig sind Gott, Mensch und Welt im „Raum“ verteilt. Rosenzweig liefert folgendes Schema:

Abb. 14 718 712 713 714 715 716 717 718

(Rosenzweig, 1984, c1964, S. 86). (Ebenda, S. 86). (Ebenda, S. 72). (Rosenzweig, 1984, S. 144). (Rosenzweig, 1984, c1964, S. 108). (Ebenda, S. 68). Dieses Bild ergibt sich aus Rosenzweig Darstellung seines Systems in: Der Stern der Erlösung, (Rosenzweig, 1988). Nach: (Franz Rosenzweig, 1979, S. 127). Mit freundlicher Genehmigung von © Arturo Romero Contreras 2018. All Rights Reserved. Es erlaubt aber andere nicht-theologische Auslegungen. Als Konnex

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In der Sprache des Idealismus erklärt Rosenzweig in einem Brief an Rudolf Ehrenberg vom 18.11.1917: „Nicht bloß ist die Vernunft der Grund der Wirklichkeit, sondern es gibt auch eine Wirklichkeit der Vernunft selbst“.719 Das Bedeutet für Rosenzweig eine Begrenzung der Vernunft. Aber damit ist das „Andere“ nicht bloß von ihr getrennt. Es besteht trotzdem ein Verhältnis zwischen den Termini, das aber keine einfache Gleichung ist: „Es gibt ‚in’ (oder besser: ‚an’) der Vernunft etwas Außervernünftiges (…) (weil Wahrheit stets ‚Übereinstimmung der Vorstellung mit dem Gegenstand’ (…) Übereinstimmung Getrennter ist, wobei die ‚Getrennten’ nun Verschiedene – A= B, Standpunkt des Bewußtseins, Kritik – oder auch Gleiche – A= A, Standpunkt des Selbstbewußtseins, Dialektik – sein mögen)“ und dieses Außervernünftige, „dieses Etwas an der Vernunft jenseits (logisch gesprochen: ‚jenseits’) der Vernunft ist eine Einheit, die nicht die Einheit Zweier ist: nicht als Gleichung zu formulieren, sondern Einheit abseits von Zweiheit, das Gleichheitszeichen in den beiden Gleichungen, aber, zum Unterschied von seiner Verwendung dort, nicht als Gleichheitszeichen, sondern als Wirklichkeit (…) kategorisch (‚es gibt Gleichheit "vor" aller möglichen Beziehung’). Ecce realitas“.720 Rosenzweig konfrontiert diesbezüglich Hegel und Schelling in Bezug auf den Grund aller Wirklichkeit. Rosenzweig behauptet, die „grundsätzlichen Unterschiede“ des hegelschen Idealismus tauchen „eindimensional in Gegensätzen“ auf; dagegen will er die Verhältnisse zwischen Termini „vieldimensional in Beziehungen entwickeln“, daher sagt er „nicht etwa ‚die’ Pflicht bekämpft ‚die’ Liebe, sondern diese Pflicht und diese Liebe schiebt jede andre Pflicht oder jede andre Liebe beiseite“ und somit fehlt „jede Einordenbarkeit in das System des Höheren und Niederen“.721 Schellings und Fichtes Symbole folgend bietet Rosenzweig ein „logisches“ Schema, das später als Stern dargestellt wird: A=A/A=A A=A

Abb. 15 722

B=B A=A/←← B=B

A=B A=A/ B=B

An der rechten Seite erkennt man den idealistischen Satz A=A, „das ich=ich als den Schlüssel des Ich=Nichtich“, aber diese Gleichung ist nur ein Punkt, ein „Faktum“, ein „geschichtlicher Punkt“723 in einer breiteren Struktur. Dagegen zeigt die Linke Ecke eine nicht-ganz-

719 720 721 722 723

Ich-Du-Es verstanden, gilt dieses Schema (Franz Rosenzweig, 1979, S. 127). (Ebenda, S. 128). (Ebenda, S. 134–135). Nach: (Ebenda, S. 136). (Ebenda, S. 136).

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reduzierbare Welt, die immer gewissermaßen „empirisch“ bleibt. Oben steht die reine Identität, welche dem Menschen verboten ist. Man kann hier behaupten, dass der „Anfang“ selbst an drei „Orten“ zu identifizieren ist. Diese Verteilung Ich-Gott-Welt macht für diese Arbeit Sinn, sofern sie mit jener Verteilung Ich-DuEs von Husserl strukturell identisch ist. Und es ist diese dreifache Struktur, welche eine polykontexturale Logik, wo das Prinzip tertium non datur nicht mehr unbegrenzt gilt, erlaubt. Ist diese Verteilung der Orte, das relative Auseinandersein nicht eine räumliche (und zugleich logische) Vorstellung? Im Raum befindet sich das Subjekt (das Ich) als seiend, nicht nur im weltlichen Sinne. Zeit ist wohl die Kategorie der Ekstase, das Aus-sich-selbst-Herausgehen. Kann der Raum aber nicht dieses Nichts, von dem Fink spricht, sein? Ist der Raum nicht dieses Zurückziehende, das eben die Entstehung des Geformten zulässt; ist er nicht eben die platonische Khôra, die „Amme alles Werdens […] was ein Werden hat, eine Stätte gewährt, selbst aber, den Sinnen unzugänglich, auch vom Geiste nur sozusagen durch einen Bastardschluß erfaßt und kaum zuverlässig bestimmt wird, die, welche wir auch im Auge haben, wenn wir träumen, es müsse doch notwendig das, was ist, an einem Orte sein und einen Raum einnehmen […]“724, von dem Derrida gesagt hat, es handle sich um ein triton genos?725 Sind wir nicht dazu gezwungen, zu akzeptieren, dass ein Denken der Zeit und des Raumes, falls nicht im mundanen Sinne, eine andere Logik erfordert? Lassen wir diese Diskussion für später und kehren wir zurück zum Thema Leben in der Phänomenologie. Fink hat Recht, wenn er sagt, man müsse die Wissenschaft reduzieren und sich ins Nichts vertiefen; man müsse allerdings auch der Welt entgegenlaufen. Das wird der Vorwurf der Lebensphilosophie sein, auf den Husserl und Fink, wohl aber auf verschiedene Weise, reagieren. So reduziert die mundane Phänomenologie die Abstraktionen der absoluten Philosophie. Letztere aber kann auch die Welt legitim anfechten. Welches sind dann die Rechte des Lebens und die Rechte der Vernunft? Was ist ursprünglicher, das Leben oder das Nichts, oder fallen beide zusammen? Wann ist die Vernunft Instrument des Lebens (Nietzsche folgend) und wann ist die Vernunft das „wahre“ geistige Leben (wie bei Husserl oder Hegel)? Wo findet dieses Leben sein Wohl: in der Welt (als Verwirklichung) oder im Nichts (als Rückkehr in tiefe Regionen)? Woher kommt das Übel (in) der Welt? Wie ist dies zu interpretieren? Man sieht leicht: Wenn eine Zäsur konstitutiv vom menschlichen Dasein ist, wenn der Mensch entmenscht werden muss, um Phänomenologie zu betreiben, wenn das Äußere eine Bedingung für die Welt und die Untersubjektivität aufstellt, wenn die Ekstase untrennbar mit dem 724 725

(Platon, 1978, S. 135). Derrida in Khôra: „La khôra n'est ni « sensible» ni « intelligible », elle appartient à un « troisième genre» (triton genos, 48e, 52a). On ne peut même pas dire d'elle qu'elle n'est ni ceci ni cela ou qu'elle est à la fois ceci et cela. Il ne suffit pas de rappeler qu'elle ne nomme ni ceci, ni cela ou qu'elle dit et ceci et cela. L'embarras déclaré par Timée se manifeste autrement: tantôt la khôra paraît n'être ni 'ceci ni cela, tantôt à la fois ceci et cela“ (Derrida, 1993, S. 16).

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Menschen verbunden ist, dann sind die Entäußerung, das Außer-sich-Sein und die Entfremdung kein Maßstab mehr für Übel und Elend. Husserls Berufung auf das Leben verlegt den Grund zu einer tieferen Schicht, aber soweit bei ihm die Teleologie, die Geschichte als Logos, herrscht, wird das Leben als die Selbstverwirklichung der Vernunft verstanden; neu daran ist nur der ethische Charakter der phänomenologischen Aufgabe und die Ausbreitung der geschichtlichen Dimension der Intersubjektivität. Die Wissenschaft erscheint nun als menschliches Projekt, das historisch tradiert und konstituiert wird. Allerdings darf man diesen letzten Ansatz Husserls weder missdeuten noch reduzieren, weil er eben eine gewisse Annäherung an die Lebensphilosophie, insbesondere an diejenige von Dilthey, bedeutet, der für Husserl seit den ersten Schritten der Phänomenologie als Gegenpol, als Vorbild des Psychologismus, des Historizismus und, damit verbunden, des Skeptizismus galt. Husserl befindet sich auch zwischen den Rechten des Lebens und denjenigen der Vernunft. Fink blieb diese Diskussion niemals fremd; in einem späten Text726 – also nicht in der Phase der Zusammenarbeit mit Husserl entstanden – bezieht er sich auf die Grundphänomene des menschlichen Daseins; neben dem Tod und dem Spiel, bereits anwesend in seinen ersten Schriften, findet man nun auch die Elemente Arbeit und Herrschaft. Diesbezüglich hebt er zwei Wege, zwei Zugänge zu diesem Grundphänomen hervor und implizit geht er in anderer Form dem nach, was hier der Konflikt zwischen Leben und Denken genannt wurde: Er konfrontiert Hegel und Marx. In diesem Zusammenhang vertritt Hegel für Fink die absolute Souveränität des Denkens, denn Denken=Herrschaft, d.h., weil „[…] die höchste und eigentliche Herrschaft, ihr reines Urbild, im Denken liegt“727; es ist der nous, der „herrscht, er ist die bewegende Kraft in der diakosmesis, in der Welteinrichtung, […]“, daraus folgt: Die Aufgabe aller menschlichen Herrschaft [ ist es,] ein Abbild zu sein der kosmischen Herrschaft, im Bau des Staates den Bau des Weltalls zu wiederholen, die arche unter den Menschen auf die arche zu gründen, welche den ganzen Kosmos durchmachtet [...] Nur dann wäre die Ordnung der menschlichen Dinge in der Ordnung des Kosmos selber verankert und darum beständig, wahr und gerecht.728

Weil aber die „Natur“ und, damit zusammenhängend, die Sinnlichkeit, bloße Momente in der Odyssee der Selbsterkennung sind, fragt es sich, ob Hegel „nicht im Vollzug der Herstellung der Souveränität gerade die äußeren Bedingungen einer Ausübung der Souveränität zerstört und vernichtet“; nämlich das, worüber die Herrschaft ausgeübt werden kann. Sogar eine Selbstbeherrschung supponiert mindestens eine Zäsur, zwei Teile der Subjektivität, die gegeneinander kämpfen.

726 727 728

(Fink, 1979). (Ebenda, S. 286). (Ebenda, S. 287).

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Das Denken herrscht, kann nur über sich selbst herrschen, da aber beide Teile versöhnt werden, fragt es sich, ob Arbeit und Herrschaft überhaupt einen Platz im Absoluten haben können außer deren Vernichtung. Das Denken bei Hegel tendiert in Finks Auffassung zum Nichts. Das Andere zeigt sich nur nicht mehr oder nicht unbedingt als Nichts, sondern als die anstrengende menschliche Arbeit. Dagegen erhebt sich der Materialist, der sagt, das Denken lege nicht der Welt zugrunde, weil Arbeit und Herrschaft nicht aufgehoben werden können. Weit entfernt von der Meinung, das Denken sei nichts anderes als eine schöne Lüge, wendet sich Marx in Finks Worten in zweifacher Hinsicht an die Welt: Einmal als Grund, d.h., behauptend, dass das Denken nicht der Ursprung der (menschlichen) Welt sei, sondern die Arbeit, welche notwendigerweise auf etwas anderem, wie die Natur, ausgeübt wird; und anderseits als Verwirklichung, weil wenn das philosophische Absolute auf den Ursprung der Welt hinweist, so weist die Praxis auf das Produkt namens Welt hin. Hierbei tritt das Leben als Materialismus in zwei Richtungen auf: Vor dem Denken war die Natur bereits da, aber nach dem Denken kommt die Praxis, wobei das Gedachte wieder als Ding in die Welt eintritt. Fink lässt die Frage: „Marx oder Hegel?“ offen, dokumentiert aber, dass der Unterschied zwischen beiden eher subtil ist und nichts mit der Dialektik oder der Methode der Befragung zu tun hat. Beide versuchten, die Logik und die Bewegung der sozialen Welt immanent und in Begriffen zu erfassen. Die Frage betrifft eher noch einmal die Grenzen einer bestimmten Rezeption der hegelschen Aufhebung. Die Phänomenologie findet letztendlich die tiefsten Probleme des „menschlichen Daseins“, wenn sich die Wissenschaft nicht nur die Frage nach der Idealisierung, sondern auch jene nach der Herrschaft und der Arbeit zugleich stellt.

5.1.7 Exkurs: Phänomenologie und Idealismus. Grund, Dialektik und Entfremdung Diese in der Phänomenologie stattfindende Kehre zum Leben — von Husserls Begriff von Lebenswelt ausgehend in Richtung des transzendentalen und anonymen Lebens bei Fink — dient als Grund des Bewusstseins und tendiert größtenteils dazu, das Bewusstsein als Ursprung der Erfahrung nicht mehr gelten zu lassen. Das Bewusstsein kommt zu spät zum Leben und vor allem zu seiner eigenen Geburt. Aber soll man eine weitere Reduktion durchführen, damit sich uns endlich der wahre Boden aller Erfahrung, also der Ursprung der Welt zeigt? Aber hat die Phänomenologie nicht eben darauf hingewiesen, dass die Reduktion, wie Merleau-Ponty sagt, immer unvollendbar ist? „Le plus grand enseignement de la réduction est l’impossibilité d’une réduction complète“.729 Denn dank der Struktur der Zeitigung wird die Gegenwart ständig durch Vergangenheit und Zukunft 729

Merleau-Ponty: „Voilà pourquoi Husserl s'interroge toujours de nouveau sur la possibilité de la réduction. Si nous étions l'esprit absolu, la réduction ne serait pas problématique. Mais puisque au contraire nous sommes au monde puisque même nos réflexions prennent place dans le flux temporel qu'elles cherchent à capter (puisqu'elles sich einströmen comme dit Husserl), il n'y a pas de pensée qui embrasse toute notre pensée. Le philosophe, disent encore les inédit, est un commençant perpétuel“ (Merleau-Ponty, 1976, S. VIII–IX).

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konstituiert – die Gegenwart ist also konstituiert und nicht konstituierend, Resultat und nicht Urquelle, so dass das Subjekt niemals als Grund gelten kann. Haben die letzten Schritte der Phänomenologie nicht eben gezeigt, dass die Reduktion sich in einer konkreten Sprache äußern muss, so dass der transzendentale Zuschauer wieder in die Welt fällt? Fink warnte davor: Es gibt keine transzendentale Sprache. Was ist also die Aufgabe der philosophischen Sprache und der Philosophie überhaupt, wenn nicht ironisch und selbstkritisierend zu sein, weil das transzendentale Leben einen immer abgeleiteten Ausdruck in einer konkreten Sprache findet? Nicht einmal die Poesie wäre frei von der Weltbefangenheit. Fink zeigte, dass die Phänomenologie als Bewusstseinsphilosophie (aber auch als Daseinsanalytik) immer noch naiv ist und daher wieder reduziert werden muss. Aber wer „sieht“ diese Naivität der Phänomenologie, d.h., aus welcher Perspektive gelingt es der Phänomenologie, durch ihre eigene Methode ihre Grenzen und ihre Befangenheit zu erkennen? Neben der Zeitlichkeit begegnet die Phänomenologie ihrem nächsten Einwand nach Husserl beim Problem der unmöglichen Konstitution des Anderen und damit zusammenhängend beim Problem der Intersubjektivität. Der Andere der Intersubjektivität ist jener Einwand auf die Möglichkeit eines reinen Ego, das denkt, der Anfang der Konstitution zu sein. Die Rede über das Urkind bei Husserl bestätigt ebenso weitgehend, dass der Ursprung des Subjekts passiv ist. Passive Synthese, Selbstkonstitution der Zeit (wobei die lebendige Gegenwart auch konstituiert ist), der aus dem Subjekt hervorgehende Andere (denn dieser wird niemals wirklich bewusst konstituiert): All dies sind Entdeckungen der Phänomenologie gegen die Prinzipien der Phänomenologie, wenn man diese als eine rein solipsistische Bewusstseinsphilosophie der Evidenz annimmt. Die Behauptung, die Phänomenologie nehme etwas Falsches zum Ausgangspunkt, scheint gerechtfertigt. Doch es ist dieselbe Phänomenologie, mit diesem falschen Ausgangspunkt, welche ihrem eigenen Außen begegnet. Wie kann es sein, dass die vermeintlich naive und geschlossene Phänomenologie ihre äußere Grenze so deutlich sehen kann? Die Phänomenologie Husserls nähert sich an dieser Stelle gewissermaßen derjenigen Hegels an. Husserl beginnt seine Philosophie, wie Hegel seine Phänomenologie des Geistes, mit der sinnlichen Evidenz, wobei das vermeintlich Unmittelbare eigentlich mittelbar ist, und das individuelle Bewusstsein unzureichend für eine Erklärung des sozialen Lebens ist. Die Phänomenologie Husserls begegnet auch den Paradoxien eines absoluten Ursprungs; Hegel aber nimmt das Paradoxe auf und entwickelt es als das Entgegengesetzte. Beide gehen vom Bewusstsein aus und finden die Voraussetzung für Intersubjektivität und Geschichtlichkeit, in der das Unmittelbare des Lebens nur in einer Sprache bzw. im Begriff und durch dessen Wiederholung in einem ideellen Medium, also nur vermittelt, erhalten bleibt. Der Begriff hat seinerseits seine eigene Geschichtlichkeit, denn er ist nicht von vornherein gegeben. Husserl aber, obwohl er mit den Paradoxien methodologisch nicht umgehen kann — das würde bedeuten, den transzendentalen Ansatz infrage zu stellen, der immer den

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Unterschied Grund-Begründetes supponiert —, erkennt die Unmöglichkeit eines vollkommen gelungenen Selbstbezugs des Subjekts zu sich selbst. Zeit und Intersubjektivität verhindern, dass ein absolutes Selbstbewusstsein entsteht. Die Problematik eines passiven und eventuell von außen konstituierten Subjekts eröffnet die Problematik, was sein Ursprung und Grund sein könnte, angenommen, dass beide kein Objekt des Bewusstseins mehr — keine Evidenz, nichts Konstituierbares — sind. In diesem Sinne gibt es in der Phänomenologie eine letzte Paradoxie, die zu erörtern ist. Sie betrifft nicht a priori die Möglichkeit der Reduktion, sondern ihr Ergebnis als deren eigene Negation. D.h., sie belangt die besondere Bewegung an, in der die Phänomenologie, nach der sie die Welt reduziert hat, diese wieder findet und zwar als Bedingung für die Phänomenologie selbst. Husserls letzte Untersuchungen richten sich immer mehr darauf, dass das Bewusstsein den Wissenschaften keine zureichende Grundlage anbieten kann. Das Bewusstsein verweist auf eine vorprädikative Ebene, welche allerdings ihrerseits einem Prozess der Genese — einer unbewussten Erfahrung — unterworfen ist. Es handelt sich dabei um Erfahrung ohne Bewusstsein oder, besser, um ein Subjekt des Unbewussten. Dieses Unbewusste ist jedenfalls weder natürlich noch kulturell und sowohl natürlich als auch kulturell. Denn die ideellen Objekte des Bewusstseins — d.h. der ganze Sinn — können eben nicht empirischen Quellen entspringen. So entstand die Phänomenologie als Kritik am Psychologismus bzw. Empirismus, weil er unbedingt zum Skeptizismus führt. Empirische Objekte können niemals universelle Geltung besitzen. Dies betrifft nicht nur logische und mathematische Objekte, auch die Sprache verlangt eine transzendentale Gemeinschaft von Sinn. Gezeigt wurde jedoch, dass das Bewusstsein, das diese Grundlage liefern sollte, auch begründet zu sein scheint. Das Subjekt stützt sich auf keine richtige Empirie und doch ist es historisch, es stützt sich auf keinen reinen Transzendentalismus (im Sinne von Kant) und doch sind die geistigen Objekte nicht ewig, sie entstehen in der Zeit. Aber diese Empirie kann niemals ganz empirisch beginnen, ohne das Transzendentale bereits zu supponieren, während das Transzendentale auch einer Zeit ausgesetzt ist. Der Begriff Natur im üblichen Sinne spielt hier keine Rolle mehr, sie gehört zur naiven Unterscheidung Subjekt-Objekt, welche die Struktur der phänomenologischen Intentionalität suspendiert. Weiter wäre die Natur eine Transzendenz, die schon nach der Epoché ausgeschaltet wird. Doch sind die kulturellen Objekte sowie die ganze Geschichte der Menschheit als Geschichte der Wissenschaft als ein Zu-sich-selbst-Kommen des Bewusstseins — wie Fink sich ausdrückt — kein Besitz der bewussten Subjektivität. Sie sind zu Rätseln geworden730. Das Rätselhafte ist nicht die empirische Natur, die Außenwelt als 730

Freud und Marx ist dieser Gedanke des Rätsels nicht fremd. Für Freud ist eben die Deutung des Unbewussten wie die Deutung eines Rätsels, wobei die Aufgabe darin besteht, Bilder in Worte zu verwandeln, wo das Sinnlose in einen Text übertragen wird. In Bezug auf die Träume und deren Deutung schrieb Freud: „Ich habe etwa ein Bilderrätsel (Rebus) vor mir: ein Haus, auf dessen Dach ein Boot zu sehen ist, dann ein einzelner Buchstabe, dann eine laufende Figur, deren Kopf wegapostrophiert ist u. dgl (Freud, 1915, S. 207). Marx liest auch die herrschende (bürgerliche) Interpretation der Welt nicht als etwas Falsches, sondern als sich auf „Geheimnisse“ und „Rätsel“ stützend. Denn die bürgerliche politische Ökonomie basiert auf vagen,

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transzendental — sie wurde bereits nach der Epoché reduziert —, sondern jene Geschichte des Ego ohne dessen Zutun. Dies ist seine transzendentale, ihm jedoch unbewusste Geschichte. Die Phänomenologie von Husserl weist auf eine transzendentale Theorie des Unbewussten hin, auf jene Region zwischen dem rein Empirischen — der Natur — und dem rein Geistigen — dem Selbstbewussten. Diese Region ist die einer zweiten transzendentalen Natur. Das Unbewusste ist hier nicht die Natur im Menschen, die Spuren eines „animalischen“, zu beherrschenden und dadurch zum Menschlichen zu erhebenden Lebens. Das Unbewusste heißt, die eigene Tätigkeit des Menschen ist zu einem Rätsel geworden, es sind die Produkte der Geschichte und der Intersubjektivität, die kein Besitz mehr des einzelnen Ego sind. Es ist die Objektivität, die das Leben braucht, um sich zu entwickeln, während ihm gleichzeitig seine eigenen Produkte entgleiten. Es ist der Markt des menschlichen Austauschs, sei es durch Waren, sei es durch die Sprache. Daher kann die Rede über die transzendentale Natur der Idealisten und Romantiker auf diese neue Ebene übertragen werden. Fink definierte die Phänomenologie als ein Zu-sich-selbst-Kommen des transzendentalen anonymen Lebens, als die Aneignung der Welt und als Produkt von jener Tätigkeit — Weltproduzierend —, die vor allem unbewusst verlief. Diese zweite Natur ist weder Subjekt noch Objekt, sondern die Verflechtung von verschiedenen historisch verbundenen Ich. Sie ist die Region des Austausches, also Markt, Kommunikation und Übermittlung: zwischen Menschen, kontradiktorischen oder kreisförmigen Argumenten, soweit der gesellschaftliche Prozess undurchsichtig geworden ist. Nur die genetische Analyse dieser Begriffe vermag die Rätsel der Gesellschaft zu lösen: „Jedermann weiß, wenn er auch sonst nichts weiß, daß die Waren eine mit den bunten Naturalformen ihrer Gebrauchswerte höchst frappant kontrastierende, gemeinsame Wertform besitzen - die Geldform. Hier gilt es jedoch zu leisten, was von der bürgerlichen Ökonomie nicht einmal versucht ward, nämlich die Genesis dieser Geldform nachzuweisen, also die Entwicklung des im Wertverhältnis der Waren enthaltenen Wertausdrucks von seiner einfachsten unscheinbarsten Gestalt bis zur blendenden Geldform zu verfolgen. Damit verschwindet zugleich das Geldrätsel“ (S. 62); nicht nur die Geldform ist rätselhaft. Marx spricht auch vom „rätselhafte(n) der Äquivalentform“, und von dem für die politische Ökonomie „mystischen Charakter von Gold und Silber“ (S. 72); zentral ist aber jener „rätselhafte Charakter des Arbeitsprodukts, sobald es Warenform annimmt“ (S. 85); aus dieser Form entsteht der Fetischismus als gesellschaftliche Hieroglyphe: „Die Menschen beziehen also ihre Arbeitsprodukte nicht aufeinander als Werte, weil diese Sachen ihnen als bloß sachliche Hüllen gleichartig menschlicher Arbeit gelten. Umgekehrt. Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiedenen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es. Es steht daher dem Werte nicht auf der Stirn geschrieben, was er ist. Der Wert verwandelt vielmehr jedes Arbeitsprodukt in eine gesellschaftliche Hieroglyphe. Später suchen die Menschen den Sinn der Hieroglyphe zu entziffern, hinter das Geheimnis ihres eignen gesellschaftlichen Produkts zu kommen, denn die Bestimmung der Gebrauchsgegenstände als Werte ist ihr gesellschaftliches Produkt so gut wie die Sprache. Die späte wissenschaftliche Entdeckung, daß die Arbeitsprodukte, soweit sie Werte, bloß sachliche Ausdrücke der in ihrer Produktion verausgabten menschlichen Arbeit sind, macht Epoche in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, aber verscheucht keineswegs den gegenständlichen Schein der gesellschaftlichen Charaktere der Arbeit“ (S. 88): Alle Zitate aus: (Marx und Engels, 1962). Diese Interpretation des fremd-Werdens des Geschaffenen ist nicht neu, sie konstituiert den Kern der idealistischen Philosophie als Erinnerung-Aneignung der Geschichte. Wie Gehlen notiert: „Es war Fichte, der in seinen verschiedenen, als Wissenschaftslehre bezeichneten und nie gelesenen Schriften zuerst und noch sehr abstrakt die Vorstellung durchführte, daß der Mensch »die Freiheit« realisiert, indem er die Verfügungsgewalt über die ihm entglittenen Produkte seiner eigenen Selbständigkeit wiedererlangt“ (Gehlen, 1983, S. 366).

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zwischen Mensch und Welt, zwischen Anwesenden und Abwesenden. Die Phänomenologie Husserls begegnet hierbei der Problematik des deutschen Idealismus: Das einzelne Ego ist ein Gewordenes und das menschliche Band erstreckt sich über die Generationen und verteilt sich zwischen verschiedenen Rollen oder „Orten“.731 Aber da entsteht auch die Problematik des Handelns. Denn die Phänomenologie ist Reduktion und daher Anamnese jener transzendentalen Geschichte. Der Leitfaden der Phänomenologie ist die Rückfrage. Das Transzendentale ist dabei nicht nur Möglichkeitsbedingung des Wissens — wie bei Kant —, sondern des Subjekts überhaupt, und es wird als unbewusst, jedoch sich-selbst- konstituierend verstanden. Nicht zu vergessen ist hierbei der prospektive Charakter der Phänomenologie. Die Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins maßen der Vergangenheit die gleiche Bedeutung wie der Zukunft zu. Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart wurden als drei verflochtene Pfeile verstanden, welche sich gegenseitig (partiell) erfüllen. D.h., die Zeit als Erfahrung entsteht aus drei Orten und richtet sich nach den anderen drei Orten zugleich. Daher die Rede von Verflechtung bei Husserl. Nur in der Krisisschrift taucht der Gedanke Husserls vom historischen Projekt und von der Aufgabe der Wissenschaften auf. Daraus ergibt sich nicht nur eine deskriptive Phänomenologie, wie es ständig der Fall war, sondern eine Pflicht, eine Ethik, wenn man so will. Im Zusammenhang stehen Vergangenheit und Wissen; Zukunft und Ethik-Politik. Man muss für Husserl die Wissenschaften vor der Gefahr des Skeptizismus retten, man muss sich an das Ideal der Vernunft als etwas Befreiendes halten. Husserl findet in der […] neuen Konzeption der Idee der Philosophie in der Renaissance [….] die Begründung der Autonomie des europäischen Menschentums [und zwar in jener] ‚philosophische(n)‘ Daseinsform: das frei sich selbst, seinem ganzen Leben, seine Regel aus reiner Vernunft, aus der Philosophie Geben [also] Theoretische Philosophie ist das Erste [diese Philosophie als] von den Bindungen des Mythos und der Tradition [frei, soll] ins Werk gesetzt werden [wo diese Tätigkeit] in der Welt selbst die ihr innewohnende Vernunft und Teleologie und ihr oberstes Prinzip: Gott, erkennend [ans Licht bringt; der Philosophie und deren Geschichte entspricht ein Ideal: Die] Philosophie macht [...] jeden philosophisch Gebildeten frei. Der theoretischen Autonomie folgt die Praktische. Im dem die Renaissance leitenden Ideal ist der antike Mensch der sich in freier Vernunft einsichtig Formende. [...] [E]s gilt, nicht nur sich selbst ethisch, sondern die ganze menschliche Umwelt, das politische, das soziale Dasein der Menschheit aus freier Vernunft, aus den Einsichten einer universalen Philosophie neu zu gestalten […].732

Das praktische Interesse ist vom theoretischen Unternehmen nicht zu trennen. Das Seiende und das Sein-Sollende zeigen ihren Zusammenhang. Doch erfährt die Phänomenologie ein besonderes Schicksal: Die Erinnerung, die Rückfrage und die geschichtliche Befragung zwingen sich dem Praktischen auf. Oder alle Tätigkeit versteht sich als reine Theorie.

731

732

Die hegelsche Dialektik Herrschaft-Knechtschaft in der Phänomenologie des Geistes darf als Hinweis dafür gelten, dass die Subjektivität wirklich geteilt ist, dass man nicht mehr vom „Menschen“ oder vom „Subjekt“ im Allgemeinen sprechen kann, ohne eine anfängliche Asymmetrie zu erkennen. Oder Subjektivität ist Intersubjektivität. Siehe zur Phänomenologie des Geistes: „B“, Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit des Selbstbewusstseins; Herrschaft und Knechtschaft: (Hegel, 2006, S. HW03:155). (Husserl, 1976, S. 5–6).

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Diese Tendenz aller Transzendentalphilosophie, der Theorie und der Rückfrage absoluten Vorrang zu geben, ist bereits anerkannt worden. Odo Marquard widmet sein Werk Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse der weiteren Entwicklung von Kants transzendentaler Philosophie bei seinen Nachfolgern: von Fichte und Schelling bis Freud. Marquard macht in seinem Werk auf ein Schicksal aufmerksam, das demjenigen der Phänomenologie Husserls ähnlich ist: Transzendentalphilosophie ist ihrer Tendenz nach Geschichtsphilosophie: sie ist ‚theoretische Philosophie’ und ‚praktische Philosophie’ so, daß beide Philosophien ,identisch’ d. h. Philosophien einer und derselben Handlung sind. [...] [D]ieser Vorrang der praktischen Philosophie scheint nur für die Konzeption und Intention, nicht aber für die Durchführung der Transzendentalphilosophie zu gelten [...] das Prinzip ,Verwirklichung’ regiert offenbar nur die ,Intention’, den ,Vollzug’ der Transzendentalphilosophie aber scheint es - regiert das Prinzip ,Erinnerung’ [...] faktisch der Transzendentalphilosophie das Wissen der ungewußten Geschichte wichtiger als das Tun der ungetanen […].733

Man kann diese Analyse auf Husserl und weiter auf Heidegger und Derrida übertragen. Denn: Was ist das Vorprädikative, das Vorobjektive und Vorsubjektive, wenn nicht eben eine transzendentale Geschichte des Ich, die Geschichte seiner Geburt, welche nur noch durch eine Rückfrage bzw. eine Anamnese zugänglich wird? Die Praxis ist die Erinnerung selbst, die Arbeit von Epoché und Reduktion. Aber, wenn die Geschichte des Ich auf eine Art Natur hinweist, rechtfertigt dies nicht die Frage, ob es in der Philosophie darum geht, diese transzendentale Geschichte lediglich zu kennen bzw. anzuerkennen, damit das Getane „zu sich selbst kommt“, oder auch darum, die Wege der unbewussten Praxis ans Licht zu bringen, um diese Praxis bewusst zu wiederholen? Marquard erinnert an dieser Stelle an Schellings Zur Geschichte der neueren Philosophie, wo dieser die Naturphilosophie, eines seiner ersten Projekte, als eine transzendentale Geschichte der unbewussten Tätigkeit eines uns allen gemeinsamen Ich definiert. Letztere führt nicht mehr auf das Bewusstsein oder auf den Willen — weder auf die reine noch auf die praktische Vernunft — zurück, sondern auf die Natur, auf das Objektive. Schelling behauptet: Nach Fichte also war alles nur durch das Ich und für das Ich [...] Aber näher betrachtet hat er etwas Thrasonisches oder Großsprecherisches, solang nicht gezeigt ist, wie, auf welche Weise dieß alles, was wir als existirend anerkennen müssen, durch das Ich und für das Ich ist. Die Meinung dieses subjektiven Idealismus selbst konnte nicht seyn, daß das Ich die Dinge außer sich frei und mit Wollen setzte; denn nur zu vieles ist, dass das Ich ganz anders wollte, wenn das äußere Seyn von ihm abhienge. Der unbedingteste Idealist kann nicht vermeiden, das Ich, was seine Vorstellungen von der Außenwelt betrifft, als abhängig zu denken - wenn auch nicht von einem Ding an sich, wie es Kant nannte, oder überhaupt von einer Ursache außer ihm selbst, aber doch wenigstens abhängig von einer innern Nothwendigkeit, und wenn er dem Ich ein Produciren jener Vorstellungen zuschreibt, so muß dieses wenigstens ein blindes, nicht in dem Willen sondern in der Natur des Ich gegründetes Produciren seyn.734

Das individuelle Ich ist hier kein Ursprung der Welt, denn sobald „ich für mich selbst da, ich 733

734

Weiter ist zu lesen: „Merkwürdig ist es, daß einer primär praktischen Philosophie ein Werk der theoretischen Philosophie - Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘ - als das Hauptwerk gilt. Fichtes Philosophie nennt sich nicht Tätigkeitslehre, sondern ‚Wissenschaftslehre‘. Und Schellings ‚System des transcendentalen Idealismus‘ versteht sich ebenfalls als ‚Wissenschaft alles Wissens‘“ (Marquard, 1987, S. 94–95). (Schelling und Hahn, 1998, S. I,10,92-3).

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mir bewußt bin, daß, mit dem ausgesprochenen Ich bin, ich auch die Welt als bereits - da seyend finde, also daß auch keinen Fall das schon bewußte Ich die Welt produciren kann“; eben da beginnt die Arbeit und Aufgabe der Philosophie, denn Schelling sagt: Nichts verhinderte aber, mit diesem jetzt in mir sich-bewußten Ich auf einen Moment zurückzugehen, wo es seiner noch nicht bewußt war, - eine Region jenseits des jetzt vorhandenen Bewußtseyns anzunehmen und eine Thätigkeit, die nicht mehr selbst, sondern nur durch ihr Resultat in das Bewußtseyn kommt. Diese Thätigkeit konnte nun keine andere seyn als eben die Arbeit des zu-sich-selbst-Kommens, […] Dieses bloße Resultat, in welchem sie dem Bewußtseyn stehen bleibt, ist dann eben die Außenwelt [...].735

Schelling erklärt diesbezüglich sein Vorhaben: Ich suchte […] den unzerreißbaren Zusammenhang des Ichs mit einer von ihm nothwendig vorgestellten Außenwelt durch eine dem wirklichen oder empirischen Bewußtseyn vorausgehende transscendentale Vergangenheit […] [dies erfordert] eine Erklärung, die sonach auf eine transscendentale Geschichte des Ichs führte […] Denn nur das kann zu sich kommen, was zuvor außer sich war. Der erste Zustand des Ichs ist also ein außer-sich-Seyn.736

Schelling behauptet rückblickend von diesem frühen Projekt: Das individuelle Ich findet in seinem Bewußtseyn nur noch gleichsam die Monumente, die Denkmäler jenes Wegs [der unbewussten Tätigkeit] nicht den Weg selbst […] [D]ie Aufgabe der Wissenschaft ist, daß jenes Ich des Bewußtseyns den ganzen Weg von dem Anfang seines Außersichseyns bis zu dem höchsten Bewußtseyn selbst mit Bewußtseyn zurücklege. Die Philosophie ist insofern für das Ich nichts anderes als eine Anamnese, Erinnerung dessen, was es in seinem allgemeinen (seinem vorindividuellen) Seyn gethan und gelitten hat: [...] Dieß war also der Weg, den ich zuerst und noch eben von Fichte herkommend, einschlug, um meinerseits wieder ins Objektive zu kommen,[…] ein Versuch, den Fichteschen Idealismus mit der Wirklichkeit auszusöhnen, oder zu zeigen, wie gleichwohl, auch unter Voraussetzung des Fichteschen Satzes, daß alles nur durch das Ich und für das Ich ist, die objektive Welt begreiflich sey.737

Dies sind Schellings Worte in seinen Münchener Vorlesungen (1836-7) als Erklärung seiner eigenen philosophischen Entwicklung. Dieses erste Projekt einer Philosophie mit Fokus auf die Natur als unbewussten Vorgänger des Subjekts, d.h. als dessen Vorwegnahme, lässt sich ausgezeichnet in Schellings Werk Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie erkennen: Welcher Gegenstand Objekt der Philosophie seyn soll, derselbe muß auch als schlechthin unbedingt angesehen werden. Es fragt sich, inwiefern der Natur Unbedingtheit [d.h. eine gewisse dem Subjekt ähnliche Freiheit als Autonomie oder Selbstbestimmung und Produktivität, A.R.] könne zugeschrieben werden. [...] Das Unbedingte kann überhaupt nicht in irgend einem einzelnen Ding [d.h. in etwas Konstituiertem, Abgeschlossenem, Fertigem, A.R.], noch in irgend etwas gesucht werden, von dem man sagen kann, daß es ist. Denn was ist, nimmt nur an dem Seyn Theil, und ist nur eine einzelne Form oder Art des Seyns. - Umgekehrt kann man vom Unbedingten niemals sagen, daß es ist. Denn es ist das Seyn selbst, das in keinem endlichen Produkte sich ganz darstellt, und wovon alles Einzelne nur gleichsam ein besonderer Ausdruck ist.738

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(Ebenda, S. I,10,93). (Ebenda, S. I,10,93-4). (Ebenda, S. I,10,95). (Ebenda, S. I,3,11).

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Der obige Satz gilt also auch für die Naturphilosophie: „[E]s kann in keinem einzelnen Naturding, als solchem, das Unbedingte der Natur gesucht werden“; vielmehr offenbart sich in jedem Naturding ein Princip des Seyns, das nicht selbst ist. - Daß nun aber das Unbedingte überhaupt nicht unter dem Prädicat des Seyns gedacht werden könne, folgt von selbst daraus, daß es als Princip alles Seyns an keinem höheren Seyn theilnehmen kann. Denn, wenn alles, was ist, nur gleichsam die Farbe des Unbedingten ist, so muß das Unbedingte selbst - gleich dem Licht, das keines höheren Lichtes bedarf, um sichtbar zu seyn – überall durch sich selbst offenbar werden.739

Was ist nun aber der Transscendentalphilosophie das Seyn selbst, von dem alles einzelne Seyn nur eine besondere Form ist? Wenn nach Principien derselben alles, was ist, Construktion des Geistes ist, so ist das Seyn selbst nichts anderes als das Construiren selbst, oder da Construktion überhaupt nur als Thätigkeit vorstellbar ist, nichts anderes als die höchste construirende Thätigkeit, die, obgleich selbst nie Objekt, doch Princip alles Objektiven ist“.740 Das Sein (und nicht das Subjekt) besitzt hier den Rang des Transzendentalen; es ist Möglichkeitsbedingung der einzelnen konstituierten Dinge im Sinne von einem ersten Prinzip. Das Sein ist also „arché“ des Endlichen, ohne endlich, ohne selbst Ding zu sein. Oder genauer gesagt: ohne überhaupt zu sein. Heidegger und Derrida werden sich dieser Gedanken direkt oder indirekt bedienen, sofern sie behaupten, dass das „Sein“ (bei Heidegger) oder die différance (das Prinzip, das kein Prinzip mehr ist bei Derrida) nicht seien741. Die Verwandtschaft zwischen Schellings Natur, Heideggers Sein und Derridas Schrift wird sich in dieser Arbeit immer deutlicher herauskristallisieren. Das Prinzip bringt für Schelling das Reale und das Empirische zusammen, oder das erste Prinzip gebärt beides. Dass die Natur ein unbewusster Geist ist, der in das Selbstbewusstsein einmündet, und dass der Geist seinen Grund in der Natur hat, wird bei Schelling nur dadurch garantiert, dass transzendentale Philosophie und Naturphilosophie lediglich zwei komplementäre Wege sind, die zum selben Resultat führen. Schelling: Das Objektive zum Ersten zu machen, und das Subjektive daraus abzuleiten, ist, wie so eben gezeigt worden, Aufgabe der Natur-Philosophie. Wenn es also eine Transscendental-Philosophie gibt, so bleibt ihr nur die entgegengesetzte Richtung übrig, vom Subjektiven, als vom Ersten und Absoluten, auszugehen, und das Objektive aus ihm entstehen zu lassen. In die beiden möglichen Richtungen der Philosophie haben sich also Natur- und Transscendental-Philosophie getheilt, und wenn alle Philosophie darauf ausgehen muß, entweder aus der Natur eine Intelligenz, oder aus der Intelligenz eine Natur zu machen, so ist die Transscendental-Philosophie, welche diese letztere Aufgabe hat, die andere nothwendige Grundwissenschaft der Philosophie [...], [also] da auch beide Entgegengesetzte [Naur und Transzendentalphilosophie] sich wechselseitig nothwendig sind, so muß das Resultat der Operation dasselbe seyn, von welchem Punkte man ausgeht.742 739 740 741 742

(Ebenda, S. I,3,12). (Ebenda, S. I,3,11-2). Siehe unten: 7.2 Die différance: Das Prinzip aller Prinzipien, das kein Prinzip mehr ist. Das ganze Zitat lautet: „Das höchste Ziel, sich selbst ganz Objekt zu werden, erreicht die Natur erst durch die höchste und letzte Reflexion, welche nichts anderes als der Mensch, oder, allgemeiner, das ist, was wir Vernunft nennen, durch welche zuerst die Natur vollständig in sich selbst zurückkehrt, und wodurch offenbar wird, daß die Natur ursprünglich identisch ist mit dem, was in uns als Intelligentes und Bewußtes erkannt wird.

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Bei Fink und Husserl, aber vor allem bei Heidegger und Derrida scheint allerdings dieser doppelte Weg verloren zu gehen, denn Transzendentalphilosophie und Naturphilosophie fallen zusammen. Das Ich zeigt sich als ein Produkt unbewusster Kräfte, aber es gibt keine konstituierende Intelligenz mehr. Diese Position steht Schellings reifem Werk näher. Die Naturphilosophie gehört zusammen mit der Identitätsphilosophie zu Schellings früher Philosophie. Aber in seiner mittleren Periode treibt ihn sein Drang nach Wirklichkeit noch weiter voran, dorthin, wo der Grund alles Seienden nicht mehr ins Bewusstsein dringen kann. Im Jahr 1809 erschienen, ist Schellings Werk Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit dezisiv für diese neue Richtung. Nicht nur ist dem empirischen Bewusstsein eine Auffassung des Seins unzulänglich, sondern der Grund, also das Prinzip des Seienden, scheint nun unaufhebbar zu sein. Die Differenz Sein-Seiendes lässt sich nicht mehr vom Bewusstsein reduzieren. Weiter erscheint die ganze Ordnung der Vernunft als ein Produkt und nicht mehr als Prinzip des Seienden selbst.743 Schellings Philosophie entwickelte sich, gemäß seinen eigenen Worten, progressiv, von einer negativen zu einer positiven Philosophie. So bezeichnet er seine Philosophie erst in seiner späten Periode, aus welcher die Philosophie der Mythologie und die Philosophie der Offenbarung die bekanntesten Werke sind. Diese Kehre zur positiven Philosophie bedeutet nichts anderes als den Übergang vom Begriff, vom rein Theoretischen zur Existenz, vom Was zum Dass. Für Schelling ist eine negative Philosophie eine solche, der es „nur um die Möglichkeit (das Was) zu thun ist, [...] aber es wird in ihr darum nicht deducirt, daß die Dinge existiren; negativ ist jene, weil sie auch das Letzte, das an sich Actus […] ist, nur im Begriff hat“.744 Im Gegensatz dazu wäre die positive Philosophie eine, die von der „Wirklichkeit“ ausgeht, […] denn sie geht von der Existenz aus, von der Existenz d.h. dem actu Actus-Seyn des in der ersten Wissenschaft als nothwendig existirend im Begriff (als naturâ Actus seyend) Gefundenen. Dieses hat sie zuerst nur als reines Daß (Ἓν τι), von welchem zum Begriff, dem Was (dem Seyenden) fortgegangen wird, um das so Existirende bis an den Punkt zu führen, wo es sich als wirklichen (existenten) Herrn des Seyns (der Welt), als persönlichen, wirklichen Gott erweist […].745

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Dieß mag hinreichend seyn, zu beweisen, daß die Naturwissenschaft die nothwendige Tendenz hat, die Natur intelligent zu machen; eben durch diese Tendenz wird sie zur Naturphilosophie, welche die Eine nothwendige Grundwissenschaft der Philosophie ist. [...] Oder das Subjektive wird zum Ersten gemacht, und die Aufgabe ist die: wie ein Objektives hinzukomme, das mit ihm übereinstimmt. Wenn alles Wissen auf der Uebereinstimmung dieser beiden beruht, so ist die Aufgabe diese Uebereinstimmung zu erklären ohne Zweifel die höchste für alles Wissen, und wenn, wie allgemein zugestanden wird, die Philosophie die höchste und oberste aller Wissenschaften ist, ohne Zweifel die Hauptaufgabe der Philosophie. Aber die Aufgabe fordert nur Erklärung jenes Zusammentreffens überhaupt, und läßt völlig unbestimmt, wovon die Erklärung ausgehe, was sie zum Ersten und was sie zum Zweiten machen soll. - Da auch beide Entgegengesetzte sich wechselseitig nothwendig sind, so muß das Resultat der Operation dasselbe seyn, von welchem Punkte man ausgeht“ (Schelling und Hahn, 1998, S. I,3,341-2). Siehe Fußnote 633, über den „nie aufgehenden Rest“ und die Entstehung der Vernunft aus dem dunklen Grund. (Ebenda, S. II,1,563). (Ebenda, S. II,1,563-4).

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Der grundlose Grund verortet sich für den reifen Schelling in der Existenz und nicht mehr im Begriff. Das Wirkliche und Positive, verankert in der Natur und dem Unbewussten, war ein immer wiederkehrendes Thema in Schellings Philosophie. Auch in den Jahren, in denen er ein Vertreter der negativen Philosophie, seiner eigenen Definition nach, war, bietet sich die Natur als unbewusste Geschichte des Ich an. Der Wechsel von der negativen zur positiven Philosophie besteht vor allem darin, dass Schelling auf die Illusion einer absoluten Übereinstimmung des Idealen mit dem Realen verzichtet. Vom Standpunkt der Philosophie einer absoluten Identität von Subjekt und Objekt her konnte man noch argumentieren, dass der Weg des Ich — eine transzendentale Philosophie im Sinne Kants — und der Weg der Natur — eine Naturphilosophie — zum selben Resultat führen würden. In Schellings Spätphilosophie wird die Opposition Ich-Natur aufgehoben, und die Problematik gründet nun auf der Differenz Sein-Seiendes oder Grund-Existenz. In seinen letzten Vorlesungen — Philosophie der Mythologie und Philosophie der Offenbarung — wiederholt Schelling, was er bereits in einem Entwurf zu Die Weltalter gesagt hat: „Das Vergangene wird gewußt, das Gegenwärtige wird erkannt, das Zukünftige wird geahndet. Das Gewußte wird erzählt, das Erkannte wird dargestellt, das Geahndete wird geweissagt“.746 Die Gegenwart ist der Bereich der Vernunft, der erkannt und dargestellt wird. Es ist darauf hinzuweisen, dass beim Idealismus und besonders bei Hegel die Darstellung Teil des Wahren selbst ist und keine bloß äußerliche Aufgabe.747 Die Zukunft wird geahnt und vorhergesagt. Das impliziert keine politisch-konkrete Vorstellung, diese Zukunft ist eine, die niemals gegenwärtig sein kann. Die Vergangenheit inkludiert die Geburt der Vernunft. Dieser anderen Philosophie, welche er später durch das Adjektiv „positiv“ charakterisiert, steht nur die Erzählung zur Verfügung. Warum? Weil die Problematik des Grundes eine Problematik der Genese, also eine Problematik der Zeitlichkeit ist. Alles Weltliche, alles Vorstellbare, alles Denkbare gehört zur Gegenwart. Die Geburt der Vernunft ist nichts weniger als die Geburt der Zeit selbst. Daher hat für den reifen Schelling die Geschichte keinen Reiz. Grundlegend ist die Zeit, aber nur die mythologische Zeit, wo Gott aus sich selbst geboren wird. Daher sind Mythologie und Offenbarung — das menschliche Denken vor der Vernunft und vor Gott mit Hinblick auf die Schöpfung — Thema seiner letzten Werke. Die Grenzen der Vernunft führen nicht zu einem Denken des Endlichen, sondern zu einem Denken Gottes und des Ursprungs der Zeit. Dies könnte auch als ein qualitativer Wechsel der Zeit selbst, als eine innere Selbstdifferenzierung interpretiert werden. Muss die Zeit in diesem Sinne nur einmal geboren werden? Oder ist die Zeit nicht eben ihre konstante Veränderung bzw. die Geburt der Zeit aus der Zeit, durch die 746 747

(Ebenda, I,8,199). Hegel schreibt in der Vorrede der Wissenschaft der Logik: „Das Bewußtseyn, als der erscheinende Geist, welcher sich auf seinem Wege von seiner Unmittelbarkeit und Concretion befreyt, wird zum reinen Wissen, das jene reinen Wesenheiten selbst, wie sie an und für sich sind, zum Gegenstand hat. Sie sind die reinen Gedanken, der sein Wesen denkende Geist. Ihre Selbstbewegung ist ihr geistiges Leben, und ist das, wodurch sich die Wissenschaft constituirt, und dessen Darstellung sie ist“ (Hegel 2006, S. Lo1812:IX).

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Entstehung immer neuer „Existenzen“? Anders: Ist das Zur-Anwesenheit-Kommen nicht der Bruch innerhalb der Zeit? Und ist nicht jedes Jedes-Mal ein Wendepunkt der Zeit, aber nicht in der Zeit? Die Zeit erweist sich als eine nicht bewusste Selbstkonstitution. Walter Schulz resümiert Schellings Philosophie – die Erklärung der Selbstkonstitution der Subjektivität außerhalb des reinen Denkens748 – auf folgende Weise: „Die sich selbst in der Möglichkeit ihres Setzens begreifen wollende Vernunft scheitert: sie erkennt die Unbegreiflichkeit ihrer selbst, denn ihrem Denken kommt das factum brutum ihres reinen Daß immer zuvor [….] die Vernunft erfährt, daß sie sich voraus einen Grund setzen muß, der, an ihm selbst nie in das Denken eintretend, die ständige Möglichkeit ihres Setzens ist“.749 D.h., Schellings „‚Antwort’, [...] auf die Frage nach der inneren Möglichkeit der Selbstkonstitution der reinen Subjektivität“ besteht in der „Wandlung des Selbstverständnisses der Vernunft“; das wird folgendermaßen begründet: „Die ihrer selbst gewisse Vernunft, die angesichts ihres undenkbaren Daß die Ohnmacht ihres Denkens erfährt, verzichtet darauf, sich selbst denkend zu ihrem Sein ermächtigen zu wollen, und gerade in diesem Verzicht nimmt sie sich als zu ihrem Seinsvollzug schon ermächtigt hin: sie begreift sich als ‚vermittelte Selbstvermittlung’“.750 Die bewusste Selbstvermittlung wird ihrerseits auf nicht bewusste Weise wieder vermittelt. Die Vermittlung verdoppelt sich und findet sich sowohl in der Vernunft als auch außerhalb derselben. Mit wenigen Worten ausgedrückt: Schelling ist „der Vollender des Deutschen Idealismus, insofern er dessen Grundproblem, die Selbstvermittlung, bis zum Begreifen der Unbegreiflichkeit des reinen Setzens radikalisiert“751. Es ist nicht die Leugnung der negativen Philosophie, sondern deren Vertiefung als deren Verdoppelung, was die Subjektivität vom absolut Setzenden nun auch auf Gesetztes überträgt. Doch diese Bewegung ist ganz paradox, sofern die Unbegreiflichkeit endlich begriffen wird. Wie ist eine vermittelte Selbstvermittlung, welche im Verstand gelingt, ohne darin aufgehoben zu sein, möglich? Schelling vermittelt die absolute (Selbst)Vermittlung, d.h. das Paradoxon der Subjektivität. Hegel ist aber seinerseits einer anderen Art Paradoxien begegnet. Seine Philosophie besteht im Versuch, eine absolute Selbstvermittlung im System darzustellen, und dafür brauchte er eine dialektische Logik. Die hegelsche Dialektik wirkt innerhalb dieser Selbstvermittlung, das „Andere“ ist dabei nicht anders, sondern nur Moment der sich vermittelnden Subjektivität. Aber das Vermittelt-Werden der absoluten Vermittlung ist ja an sich eine Verdoppelung der Dialektik. Doch rechnet Hegels Dialektik mit mehr Mitteln, die Paradoxie zu denken. Denn ein Denken des Grundes stützt sich auf eine transzendentale und feste Hierarchie, während Hegels Dialektik eben diese Hierarchie und das Problem des Anfangs in der Philosophie durchaus verändert. Es scheint, als würden beide die Position des anderen verfehlen.

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Schultz behauptet: „Die Frage Schellings ist die nach der ‚Möglichkeit der Selbstkonstitution der reinen Subjektivität‘, nicht aber innerhalb des Denkens (Hegel) = was ist die reine Tätigkeit?“ (Schulz, 1955, S. 7). (Ebenda, S. 7-8). (Ebenda, S. 8). (Ebenda, S. 8).

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Schelling tendiert immer mehr zum Grundgedanken der positiven Philosophie: Das absolute Spiel des Begriffs, nämlich das Zusammentreffen von dessen Freiheit und dessen Notwendigkeit, ist nicht selbstgenügsam, sondern hat eine Beziehung zu etwas Anderem. Dieses Andere ist manchmal ein Anfang (Wille), manchmal ein Abgrund (aus dem Nichts), manchmal eine Natur (für den Menschen, nicht für Gott) und manchmal die nackte Existenz. Aber die Frage wird noch einmal gestellt: Versteht man wirklich nichts von der Existenz? Obwohl sie nicht zu begründen ist, wird sie nicht trotz allem teilweise verstanden? Und wenn ja, sind Begriff und Verständnis entgegengesetzt? Oder anders ausgedrückt: Die Existenz ist eine Anfechtung der allumfassenden Vernunft. Aber nachdem diese Anfechtung ihre Folgen schon gezeigt hat, gehört es zur Existenz, das Gefundene wieder in die Welt zu verwickeln. Der Abgrund des Willens ist kein Moment einer breiteren Dialektik, sie weicht aber weder vor der Welt noch vor der Vernunft zurück. Schellings Rede von Grund und Existenz verweist auf eine alte philosophische Diskussion. Nach aristotelisch-mittelalterlichen Worten sind Wesen und Existenz im Menschen nicht miteinander versöhnt. Oder der Mensch als endliches Geschöpf hat sein Wesen nicht in sich selbst. Der Mensch aber weiß das, denn vom Baum des Wissens hat er gegessen, nicht aber vom Baum der Ewigkeit. Kants Anklage gegen diese Metaphysik, was hier leider nicht dargestellt werden kann, stützt sich auf die Frage, wie man das wissen könne. Das ist die apriorische Frage oder die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen davon, was behauptet wird. Die Einheit von Apperzeption — das Selbstbewusstsein — garantiert das Eigentum und die Einheit der subjektiven Vorstellungen. Doch setzt die Philosophie Kants etwas Außer-Subjektives voraus: Das Ding an sich. Der Ausgangspunkt für Schellings und Hegels absoluter Idealismus ist eben die Kritik am Ding an sich, weil es kontradiktorisch752 ist. Schelling präsentiert seine Kritik am Ding an sich zum ersten Mal in seinem frühen Werk Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen (1795). Dort behauptet er, dass eine ultimative Wissenschaft voraussetze, „daß (ihr) Wissen Realität habe“; sicherlich ist ein „Wissen ohne Realität [...] kein Wissen“; daraus folgt laut Schelling: „Entweder muß unser Wissen schlechthin ohne Realität - ein ewiger Kreislauf, ein beständiges wechselseitiges Verfließen aller einzelnen Sätze in einander, ein Chaos seyn, in dem kein Element sich scheidet, oder - Es muß einen letzten Punkt der Realität geben, an dem alles hängt, von dem aller Bestand und alle Form unsers Wissens ausgeht“; dieser Punkt müsse „Urgrund aller Realität“ sein. 753 Weiter: Die Philosophie als Wissenschaft „muß [...] einen obersten Grundsatz und mit ihm irgend etwas Unbedingtes wenigstens voraussetzen“.754

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Schelling zeigt, warum der Ansatz eines Dings an sich ein Unsinn ist, was die etymologische Betrachtung des Wortes sehen lässt: „Bedingen heißt die Handlung, wodurch etwas zum Ding wird, bedingt, das was zum Ding gemacht ist, woraus zugleich erhellt, daß nichts durch sich selbst als Ding gesetzt seyn kann, d.h. daß ein unbedingtes Ding ein Widerspruch ist. Unbedingt nämlich ist das, was gar nicht zum Ding gemacht ist, gar nicht zum Ding werden kann“ (Schelling und Hahn 1998 S. 49: I,1,166-7). (Ebenda, S. I,1,162). (Ebenda, S. I,1,164).

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Dieser letzte Grund aller Realität oder das Unbedingte „ist ein Etwas, das nur durch sich selbst, d.h. durch sein Seyn denkbar ist, das nur insofern gedacht wird, als es ist, kurz, bei dem das Princip des Seyns und des Denkens zusammenfällt“.755 D.h., in Bezug auf die Frage nach dem Unbedingten stellt Schelling fest, dass Letzteres „nicht in der Sphäre der Objekte, und selbst nicht im Subjekt, das gleichfalls als Objekt bestimmbar ist, zu suchen sey“, denn „Bedingen heißt die Handlung, wodurch etwas zum Ding wird, bedingt, das was zum Ding gemacht ist, woraus zugleich erhellt, daß nichts durch sich selbst als Ding gesetzt seyn kann, d.h. daß ein unbedingtes Ding ein Widerspruch ist. Unbedingt nämlich ist das, was gar nicht zum Ding gemacht ist, gar nicht zum Ding werden kann“.756 Das Resultat ist, dass nur das absolute Ich als das Unbedingte gelten kann: „Das absolute Ich wäre also vorerst als dasjenige bestimmt, was schlechterdings niemals Objekt werden kann“.757 Deswegen ist das Ich nicht denkbar: Ich bin, weil Ich bin! das ergreift jeden plötzlich. Sagt ihm: das Ich ist, weil es ist, er wird es nicht so schnell fassen: deßwegen, weil das Ich nur insofern durch sich selbst, nur insofern unbedingt ist, als es zugleich unbedingbar ist, [...] das Ich allein ist nichts, ist selbst nicht denkbar, ohne daß zugleich sein Seyn gesetzt werde, denn es ist gar nicht denkbar, als insofern es sich selbst denkt, d.h. insofern es ist.758

Wird demzufolge nicht die Struktur des Arguments des Dings an sich beim Argument des unaufhebbaren Grunds in seiner Struktur wiederholt? Kann man die hegelsche Dialektik kritisieren bzw. verdoppeln, ohne das Argument eines ersten Prinzips zu wiederholen? Und kann man den Gedanken eines ersten Prinzips wirklich anfechten, ohne nicht alles Fremde notwendig auf Identität zu reduzieren? Finks Werk zeigte die Nähe von Husserls Phänomenologie zur Problematik des deutschen Idealismus. Der Vergleich von Kants und Husserls transzendentaler Philosophie ist daher berechtigt. Aber da Hegel und Schelling die unvollendete Lehre von Kant weiterführen wollten, verhält es sich so, dass sie wieder auf einer neuen Ebene beim Erbe der husserlschen Phänomenologie auftauchen.

5.1.7.1 Entfremdung Die idealistische Einheit vom Realen und Idealen entspricht auch derjenigen vom Erinnerten und Verwirklichten. Die Überwindung der Entfremdung — der Entzweiung Ich-Objekt — ist das Grund-Ziel des Idealismus. Kants Ding an sich ist nach Fichte keine Grenze im Sinne eines unerreichbaren Jenseits, sondern eher ein Grenzwert, zu dem das Wissen von sich selbst aus tendiert. Der unendliche Progress von Aneignung des Fremden bzw. des Nicht-Ich durch das Ich heißt Fortschritt und versteht sich als die Vollkommenheit der Freiheit. 755 756 757 758

(Ebenda, S. I,1,163). (Ebenda, S. I,1,166). (Ebenda, S. I,1,167). (Ebenda, S. I,1,168).

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Dem jungen Schelling und Hegel ist der Gedanke gemeinsam, dass die Geschichte nur noch Denkmäler hinterlässt, von denen der Geist entflohen ist, wobei die Aufgabe der Philosophie darin besteht, eine Erinnerung an die Passion dieses Geistes in Gang zu setzen und seine Geschichte zu rekonstruieren. Auch Hegels Interpretation des Geistes als historischer Prozess von Selbstbewusstwerdung folgt dem doppelten Weg von Verwirklichung durch Erinnerung, Vollkommenheit der Freiheit im Bewusstsein durch die philosophische Wissenschaft. Aber diese Geschichte des Geistes als eine der Freiheit soll, um verwirklicht werden zu können, in eine politische Ordnung münden. Hegels Beschäftigung mit einer Rechtsphilosophie ist Beleg für die Konkretheit seiner Dialektik. Diese soll die Wirklichkeit der Freiheit darstellen. Befreiung durch die Wissenschaft heißt Befreiung durch „Komparition“ der Sachen selbst — letztendlich des Ich — im Element des Wissens. Politisch gesehen, bedeutet dies die Krönung der Wissenschaften als Leistung der Menschen und die Objektivierung der Freiheit. Das ist scheinbar paradox. Denn die Freiheit ist einerseits Befreiung von allem Endlichen. Hegels Denken zeigt deutlich, dass das Absolute nicht im empirischen, sondern nur im philosophischen Denken vollkommen wird. Der Staat als Wirklichkeit der Freiheit ist noch nicht die absolute Einheit im Element des Wissens, welche nur dem Denken zugänglich ist. Das Endliche erleidet ständig die Grausamkeit der Geschichte, ohne seinen eigenen Prozess zu verstehen — man denke an Hegels Überlegung über die List der Vernunft.759 Anderseits ist aber die Freiheit die Bestimmung des Willens — man will etwas Konkretes oder man will nichts — und des Objektiven: Die Freiheit ist eine effiziente Kausalität in der Welt und ihr entspringt eine konkrete politische Ordnung. Die Freiheit realisiert sich im (bürgerlichen nationalen) Gesetz. Der Staat ist verwirklichte Vernunft und Selbstzweck. Im Zusatz zum §258 der Grundlinien der Philosophie des Rechts liest man: Der Staat an und für sich ist das sittliche Ganze, die Verwirklichung der Freiheit, und es ist absoluter Zweck der Vernunft, daß die Freiheit wirklich sei. Der Staat ist der Geist, der in der Welt steht und sich in derselben mit Bewußtsein realisiert, während er sich in der Natur nur als das Andere seiner, als schlafender Geist verwirklicht. Nur als im Bewußtsein vorhanden, sich selbst als existierender Gegenstand wissend, ist er der Staat. Bei der Freiheit muß man nicht von der Einzelheit, vom einzelnen Selbstbewußtsein ausgehen, sondern nur vom Wesen des Selbstbewußtseins, denn der Mensch mag es wissen oder nicht, dies Wesen realisiert sich als selbständige Gewalt, in der die einzelnen Individuen nur Momente sind: es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist,

759

Hegel: „Das besondere Interesse der Leidenschaft ist also unzertrennlich von der Betätigung des Allgemeinen; denn es ist aus dem Besonderen und Bestimmten und aus dessen Negation, daß das Allgemeine resultiert. Es ist das Besondere, das sich aneinander abkämpft, und wovon ein Teil zugrunde gerichtet wird. Nicht die allgemeine Idee ist es, welche sich in Gegensatz und Kampf, welche sich in Gefahr begibt; sie hält sich unangegriffen und unbeschädigt im Hintergrund. Das ist die List der Vernunft zu nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, durch was sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet. Denn es ist die Erscheinung, von der ein Teil nichtig, ein Teil affirmativ ist. Das Partikulare ist meistens zu gering gegen das Allgemeine, die Individuen werden aufgeopfert und preisgegeben. Die Idee bezahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit nicht aus sich, sondern aus den Leidenschaften der Individuen“ (Hegel, 2006, S. 103: HW12:49).

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sein Grund ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft.760

Es ist der reife Schelling, der zum ersten Mal im Idealismus dem Wissen eine Grenze setzt. Diese Grenze, die sich notwendig aus der Endlichkeit, d.h. aus der Existenz eines Geschöpfs ergibt, hat spürbare Konsequenzen für den modernen Gedanken der Befreiung. Während Hegel von der Wirklichkeit der Freiheit spricht, wird bei Schelling vom Prinzip der Freiheit die Rede sein. Bekannt sind Schellings Gedanken über den Grund und eine nie anwesend gewesene Vergangenheit. Er distanziert sich vom Gedanken der Verwirklichung als Bewusstmachung des Nicht-Ich. Gezeigt wurde, wie ein nie aufgehender Rest sich dem Bewusstsein entzieht. D.h., dass die aufklärerische Aufgabe der Philosophie — nämlich das Fremde ins Eigene zu führen — inmitten des Idealismus zum ersten Mal in Schwierigkeiten gerät. Schelling betrachtet den Staat in seinen späten Vorlesungen als Natur. Der Staat gehört für ihn also „zu den Dingen […], die von Natur sind, und unabhängig von menschlicher Intelligenz entsteht […]“.761 Ersterer ist: […] die der thatsächlichen Welt gegenüber selbst thatsächlich gewordene intelligible Ordnung. Er hat daher eine Wurzel in der Ewigkeit, und ist die bleibende, nie aufzuhebende, weiterhin auch nicht mehr zu erforschende Grundlage des ganzen menschlichen Lebens und aller ferneren Entwicklung, Vorbedingung, welche zu erhalten alles aufgeboten werden muß in der eigentlichen Politik, wie im Krieg, wo der Staat Zweck ist. Denn sofern Grundlage, ist er nicht Zweck, aber ewiger, d.h. nicht aufzuhebender noch in Frage zu stellender Ausgangspunkt zum höhern Ziel alles geistigen Lebens [der Staat ist also] das Stabile (Abgethanes), das was in der Stelle seyn soll, was nur Reform (nicht Revolution) zuläßt, wie die Natur, die wohl verschönert, aber nicht anders gemacht werden kann, als sie ist, die bleiben muß, solange diese Welt besteht.762

Der Staat, wie die Natur, muss auf den Grund geführt werden; er ist nicht mehr Ort der Verwirklichung der Freiheit, sondern ihre objektive Bedingung. Die Gesellschaft zeigt hier ihre Grenze, nämlich die Unmöglichkeit, ihre eigenen Grundlagen gestalten zu können. Dieser Grund ist nicht unbedingt eine feste Ordnung, denn: „Indem also die Vernunft thatsächlich Macht geworden, kann sie das Zufällige nicht ausschließen, und dieses von ihr unzertrennliche Zufällige ist der Preis, um welchen das Wesentliche, d.h. sie selbst, gewonnen ist“.763 Der Staat als Grund bedeutet, dass der Zufall zum Ersteren gehört. Diese vereinfachenden Anmerkungen sollen zwei Tatsachen hervorheben: a) Die transzendentale Philosophie sowie der Idealismus fordern so viel Erinnerung wie Verwirklichung und b) Auf dem Spiel steht das Vermögen des Subjekts, seine Bedingungen, deren es sich zum Teil nicht bewusst ist, zu verändern. Was soll dann die Aufgabe der Philosophie sein, wenn sie sowohl Erinnerung als auch Verwirklichung sein will? Wie geht sie mit der Tatsache um, dass Erinnerung und Tätigkeit sich nicht mehr unterscheiden lassen? Wäre die Trennung Subjekt-Objekt überwunden - würde

760 761 762 763

(Ebenda, S. HW07:403-4) (Schelling und Hahn, 1998 S. II,1,540). (Ebenda, S. II,1,550-1). (Ebenda, S. II,1,538).

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eine andere Art der Tätigkeit in der Wirklichkeit folgen? Muss, um die Entfremdung strukturell zu verstehen, also auf den Gedanken von Verwirklichung verzichtet werden? Wenn das Wissen seine Grenze erreicht, welchen Weg soll das Denken gehen? An dieser Stelle ist folgende Anmerkung zu machen: Dass die Entfremdung für strukturell erklärt wird, bedeutet nicht, dass das Über der Welt, das man der Entfremdung beschuldigte, damit verschwinden würde. Man verliert die hierbei die Erklärung eines „Problems“, nicht unbedingt das Problem selbst, auf das die Aneignung des Fremden nur noch eine Antwort war. Mit dieser Situation sehen sich die letzten offiziellen Phänomenologen, Merleau-Ponty und Trần Đức Thảo, konfrontiert. Der Erstere wird sich mit der Verflechtung vom Äußeren und Inneren der Subjektivität beschäftigen; der Zweite mit dem gesuchten „Grund“ der Phänomenologie. Merleau-Pontys Gedankengänge enden in einer Philosophie des Fleisches — la chair —, wo Subjekt und Welt ein Kontinuum ausmachen. Trần Đức Thảo aber sucht beim dialektischen Materialismus die letzte Voraussetzung für eine Phänomenologie. MerleauPonty und Trần Đức Thảo bestreiten neue Wege in der und aus der Phänomenologie.

5.2 Neue Wege in/aus der Phänomenologie: Materialismus der Lebenswelt und Paradoxien des Fleisches Die letzten Wege der Phänomenologie nimmt man am deutlichsten bei Trần Đức Thảo wahr, einem Phänomenologen, der ein letztes Mal den wahren Boden des Subjekts außerhalb des Subjekts, aber nicht in der Natur sucht, des Weiteren bei Merleau-Ponty, der das Fleisch (chair) als jene paradoxe Kreuzung von innen und außen, von ich und Welt interpretiert. Wir werden uns nicht in diese Philosophen vertiefen. Es sollen lediglich zwei Merkmale der späten Phänomenologie hervorgehoben werden: der Wille zum Materialismus und die Entdeckung der Paradoxie als Grundstruktur. Was ist das Vorprädikative, und soll es als transzendentale Möglichkeitsbedingung des Subjekts verstanden werden? Und bedeutet hier Möglichkeit das Gleiche wie in der transzendentalen Philosophie? Sind diese Bedingungen notwendig und zureichend? Wird das Subjekt damit, um auf den diltheischen Unterschied Erklärung versus Verstand zurückzugreifen, erklärt oder verstanden? Es scheint an dieser Stelle, dass es nur einen dialektischen Ausweg gibt, um die Sackgassen der Phänomenologie zu vermeiden, welche sich aus der starken Trennung von GrundBegründetem, transzendental-empirisch und konstitutiv-konstituiert ergeben. Gemäß der klassischen Logik lässt sich leicht erkennen, dass hier Husserl, auch wenn er die Logik als Fach reduzierte — sie war abgeleitet im Vergleich zum subjektiven Boden der Phänomenologie —, sich trotzdem ihrer bedient. Denn so, wie es keine transzendentale Sprache gibt (wie Fink zeigte), und daher die Sprache neu erfunden werden muss, um den Sackgassen der

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Phänomenologie zu entgehen, gibt es auch keine transzendentale Logik, so dass man die Logik neu definieren muss, um die klassische Logik zu umgehen. Es ist nicht außerhalb der Logik oder auf einer vor-logischen Ebene, wo das Denken der Logik entgeht. Der Philosoph muss nicht nur in einer natürlichen Sprache seine Befunde kommunizieren, sie müssen in einer Logik, mithin in einer Mathematik, ausgedrückt werden. Der Gedanke von Fundierung weist auf das Prinzip vom zureichenden Grund hin. Die Trennung in Bereiche und der Aufbau von Widersprüchen bestätigen de facto das Prinzip von tertium non datur. Opposition und Hierarchie stehen am Anfang der Frage nach dem Grund. Man kennt die klassischen Paradoxien, die sich daraus ergeben: Regressus ad infinitum, wie es Husserl bei den Analysen des Zeitbewusstseins erfährt, oder die Behauptung, dass Widersprüche unvermeidbar sind, dass die Paradoxien das letzte Wort haben, wobei der ganze Bau der Wissenschaft einstürzt. Trần Đức Thảo und Merleau Ponty unternehmen die letzten phänomenologischen Versuche, diesem Problem nachzugehen. Der Erste wollte das Subjekt damit begründen, was außerhalb des Subjekts liegt. Dieses Außen wird von sozialen Verhältnissen der sozial konstituierten materiellen Welt bestimmt. Das Bewusstsein findet sich in der Welt als sozialer Konstruktion. Das Bewusstsein be-findet sich bereits da. Dieses Bewusstsein vom Bedingtsein koinzidiert nun mit dem Ruf nach einer politischen Praxis. Der Zweite entdeckt aber, dass die Trennungen oben-unten, innen-außen nicht mehr haltbar sind, denn das Fleisch weist die Struktur eines Chiasmus auf.

5.2.1 Die Lebenswelt und das real-historische Leben Trần Đức Thảo suchte in der von Husserl immer wieder gesuchten vorprädikativen Ebene den realen Inhalt des sozialen Lebens, aber im Dienste eines dialektischen Materialismus. Dazu sagt er: It is all too clear that the genesis of antepredicative experience, the masterpiece of the Weltkonstitution, was posited in reality on a ground incompatible with the philosophical framework on which it had been conceived [...] It was, of course, a question of considering the real content of the development of the animal or even the infant. In a more general way, the life-world (Lebenswelt) can only be this real world in which we live. Under these conditions there can be no doubt that the Transcendental Ego, in the phenomenological sense of the term, must not be identified, in fact, with real historical man.764

Die Phänomenologie trägt nach Trần Đức Thảo zu einer „methodical and positive genesis of consciousness beginning with life“ bei; das Paradoxe der Phänomenologie besteht hier darin, dass: „The return of the constituted to the constituting in transcendental consciousness implied the exclusion of all objective reality“, aber das transzendentale Bewusstsein „always already presupposes the meaning of the event to which it must give birth“, d.h. den wirklichen Inhalt des konkreten Lebens; der Sinn „posited in its abstract ideality“ bedeutet also „pure constituting 764

(Trân und Cohen, 1986 S. 123).

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subjectivity“, allerdings ein […] careful study of the latter reveals it to be a movement that envelopes the opposed kinds within a dialectical totality that is identical with respect to its actual content to the historical movement of reality itself. Thus, the latter [...] presents itself as the concrete becoming where being constitutes itself within the diversity of its abstract modes. Thus, there is no longer any valid reason to refuse to constituting subjectivity its predicates regarding reality [sie ist nichts anderes als] nature itself becoming-subject“.765

Der transzendentale Ansatz zeigt nun seine Einseitigkeit durch eine Wiederkehr des Materialismus (als der Immanenz) in ihm. So, wie Schelling den realen Inhalt in Kants und Fichtes transzendentales Subjekt wieder einzuführen suchte766, ist die Phänomenologie gezwungen, einem Materialismus und damit zusammenhängend einem Empirismus Platz zu machen, um nicht leer zu bleiben. Es ist aber nicht sicher, ob das immer noch Phänomenologie genannt werden darf. Das phänomenologische Subjekt war nur, so Trần Đức Thảo, der Schatten des wirklich geschichtlich existierenden Menschen. Die Entwicklung der Phänomenologie Husserls war eine Art Wiederholung der Phänomenologie des Geistes, wie sie bei Hegel zu finden ist: Husserl begann mit der sinnlichen Gewissheit, kam auf das Problem der Vermittlung der Sprache und des Begriffs, entdeckte die zeitliche Existenz der Subjektivität als Selbst-auffassen und später den intersubjektiven Charakter der Wissenschaft, was schließlich in die Thematik der Geschichte einmünden musste. Damit zeigt Trần Đức Thảo indirekt auch, dass die Phänomenologie nicht „befangen“ ist, sondern dass ihre Naivität progressiv überwunden wird, so dass der Ausgangspunkt immer retrospektiv neu bestimmt wird. Das fragende Subjekt beginnt die phänomenologische Untersuchung mit der Ausschaltung der Transzendenz der Welt und durchläuft verschiedene Ebenen von Konstitution. Am Ende aber findet dieses Subjekt die Welt wieder, und zwar nicht mehr als Vorstellung oder innerhalb der Intention. Der Realismus wird auf eine neue Stufe transferiert. Es ist kein naiver Realismus mehr und darin besteht die Herausforderung: Die Welt materiell zu denken, ohne hinter den phänomenologischen Befund zurückzufallen. Trần Đức Thảos Analyse setzt die Materialität dem Denken nicht mehr entgegen: „It is the primordial and ever present form of the movement that elevates it to life and consciousness“, gewiss: „We do not fall back into vulgar realism whose ‚specific limitation lay in its inability to comprehend the universe as a process – as matter developing in an historical ,process’. On

765

766

Er sagt auch: „[…] it is no longer a question of setting aside the world in order to return to consciousness but rather of understanding the real movement by which nature becomes human by constituting itself as spirit“ Alle Zitate aus: (Ebenda, S. 123-4). Natürlich will Trần Đức Thảo Husserl im marxschen Sinne interpretieren. Näher betrachtet aber ist nicht schwierig zu erkennen, dass Schelling Marx eine materialistische Lektüre von Hegel erlaube. Das ist zumindest eine sehr plausible These von Habermas. Siehe das 5. Kapitel von Theorie und Praxis: Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus - Geschichtsphilosophische Folgerungen aus Schellings Idee einer Contraction Gottes, (Habermas, 1993, S. 359).

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the contrary, we end with dialectical materialism as the truth of transcendental idealism“, denn „Lived experience is but an abstract moment of real life“.767 Es ist allerdings nicht sicher, ob Natur und wirkliches Leben in eins fallen müssen. Es ist nicht gewiss, ob, wie Schelling dachte, Natur und Subjekt sich nicht entgegensetzen, weil die Natur eben in ihren Formen und Prozessen die Subjektivität antizipiert. Ist vielleicht der ökonomische Markt ein Phänomen des Lebens, eine denaturierte Natur — oder eben die geistige Existenz der Natur? Trần Đức Thảos materialistische Interpretation der Phänomenologie soll, wie Husserl es selbst wollte, lebhafte Erfahrung und Geschichte verbinden. Husserl behauptete immer wieder, dass die logischen und mathematischen Gesetze historisch entstanden sind, dass Gedanken nicht seit jeher in einem „ὑπερουράνιος τόπος“ sind. Diese Interpretation sollte nicht nur den historischen Charakter der Erfahrung und der geistigen Inhalte anerkennen. Die Absicht war es natürlich, die transzendentale Geschichte des Ich bzw. der intersubjektiven Gemeinschaft in eine Geschichte der Gesellschaft zu verorten. Die Paradoxie, die Husserl begegnete, bleibt aber davon unberührt. Denn der historische Entstehungskontext eines Gesetzes sichert die Einmaligkeit einer Erfindung; d.h., wirklich historische Ereignisse haben ein Datum und beziehen sich auf konkrete Subjektivitäten. Weil aber Gesetze überpersönlich sind, müssen sie auch ihren Kontext gewissermaßen überschreiten. Historische Kontexte reichen jedoch niemals aus, um gedankliche Inhalte vollständig zu erklären, und doch muss davon ausgegangen werden, dass solche Inhalte wirklich und nur historisch sind. Weiter: Die Logik oder die Begrifflichkeit, mit der sich die Gesellschaft selbst erklärt, ist einerseits zeitbegrenzt, sie gilt nur für einen bestimmten Zeithorizont; anderseits aber soll diese Logik ihre eigene Begrenzung, also ihre Geschichtlichkeit auffassen können, um historisch reflexiv zu sein. Die entsprechende Frage wäre: Wenn die Gegenwart nicht homogen ist, soll es die Vergangenheit sein? Erfordern also nicht Husserls Zeitanalysen eine komplexere Auffassung der Simultanität und der Differenz? Man kann nicht ohne weiteres voraussetzen, dass das „wirkliche und historische Leben“ einfach dem Bewusstsein zugrunde liegt, weil dieses selbst intersubjektiv und passiv ist. Aber was ist die Gegenwart: Der vorübergehende Inhalt meines Bewusstseins? Nein, weil mein Bewusstsein eine Verflechtung von Zeiten ist, deren Grenzen nicht scharf sind. Vergangenheit und Zukunft sind nur Horizonte, keine strengen Grenzen. Und doch sind sie Grenzen. Anderseits knüpft meine erlebte Zeit an eine gemeinsame Temporalität an, welche eine Geschichte ausmacht. Diese Geschichte aber koexistiert mit anderen Geschichten usw. Es ist nicht nur schwierig, die Gegenwart abzugrenzen und deutlich zu sagen, ob ein Inhalt absolut anwesend oder abwesend ist; auch die Geschichte zeigt laut der Phänomenologie eine Überlagerung verschiedener Schichten. Solche phänomenologischen Befunde negieren nicht das hic et nunc, von dem Husserl immer sprach; sie negieren auch nicht den Schmerz, den der Arbeiter erdulden muss. Aber eine Produktionsweise verwickelt sich de jure mit anderen quasiverselbstständigten Temporalitäten. Das wird Lacans These sein: Die Sprache ist keine der 767

(Trân und Cohen, 1986, S. 129-130).

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wirklichen Arbeit untergeordnete Vermittlung. Die Herrschaft, welche Fink als ein grundlegendes Phänomen des menschlichen Daseins betrachtete, erfolgt sowohl durch den direkten Weg der ökonomischen Herrschaft als auch, in Bezug auf die anonymen Mäander der Sprache, durch die Figur des großen Anderen, welches die Legitimität eines Subjekts sowie seine Begierde mitbestimmt. Derridas These über die différance, welche unten besprochen wird, ist auch an dieser Stelle nennenswert. Auch wenn alle Sprachen aus sozialen Verhältnissen stammen würden, kennzeichnet sich die Sprache durch eine Verzögerung gegenüber dem Anwesenden. Zu früh oder zu spät - die Sprache bedeutet einen Bruch in der Homogenität der Gegenwart. Der dialektische Materialismus als Wahrheit der Phänomenologie meint nun die Wiederkehr des Konstituierten innerhalb des Konstituierenden. Das konstituierende Subjekt als gelebte Erfahrung erweist sich als konstituiert, aber nur, weil sich darin das wirkliche Leben als Geschichte enthüllt. Die Form der Selbstkonstitution wird beibehalten, aber außerhalb des phänomenologischen Bewusstseins als sich selbst konstituierende Wirklichkeit. Die Phänomenologie selbst destruiert sich, die Reduktion richtet sie nun, wie bei Fink, gegen sich selbst. Die Frage dabei ist, ob diese verdoppelte Reduktion zu einem unendlichen Regress, zu einem anderen, noch tieferen Boden oder zu einer Dialektik führt. Trần Đức Thảos Dialektik meint die Selbstkonstitution des Seins, wo das Bewusstsein als jene Bewegung interpretiert werden muss, im Zuge derer das Sein sich seiner selbst bewusst wird, ohne dass sich damit die Welt auf die gelebte Erfahrung eines Subjekts reduzieren ließe. Die Schwierigkeit liegt natürlich darin, dass diese Bewegung des Seins als Bewusstmachung nicht in einen absoluten Idealismus mündet, denn sonst ginge der materialistische Charakter der Realität verloren. Diese kurzen Bemerkungen zu Trần Đức Thảo haben hier nur einen exemplarischen Charakter und sind nur insofern berechtigt, als sie die Schwierigkeit zeigen, die eine sich selbst kritisierende Phänomenologie bewältigen muss. Es ist selbstverständlich, dass eine Kritik der Subjektivität wieder zu einem Realismus führen kann, der aber nicht mehr naiv sein will, was immer das Risiko eines erneut aufkeimenden Idealismus mit sich bringt.

5.2.2 Der Chiasmus, die chair oder jenes paradoxe X Exemplarisch für Merleau-Ponty ist seine Entdeckung der paradoxen Natur des Leibes, was er als chair — Fleisch — übersetzt und dem er den Charakter eines Chiasmus zuspricht.768 Merleau-Pontys letztes (posthumes) Werk trägt den Titel Le visible et l’invisible. Beginnen wir mit einer Randbemerkung aus seinem Manuskript „l’Urpräsentierbarkeit c’est la chair“.769 Die Urpräsentierbarkeit ist das Fleisch. Was wird wem präsentiert, was bedeutet Präsentation

768 769

Siehe (Romero Contreras, 2018). (Merleau-Ponty, 1964, S. 175).

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überhaupt? Die zwei üblichen Irrtümer der Philosophie liegen für Merleau-Ponty in der „recherche des essences“ sowie der „fusion avec les choses“.770 Dabei wird vergessen, dass „justement la présence du monde soit présence de sa chair à ma chair, que j’« en sois » et que je ne sois pas lui“.771 Präsentation bedeutet ein Verhältnis als Gabe. Die Präsentation ist keine bewusste Auffassung des Objekts, sondern die Berührung des Fleisches der Welt und des Fleisches des Wahrnehmenden. Der Wahrnehmende ist in der Welt, er ist Teil der Welt und doch ist er es nicht. Er ist ein Nichts der Welt, das Nichts des Seins — „c’est le manchon de non-être que la subjectivité transporte toujours autour de soi“772 — und doch Welt und Sein zugleich, ohne dass beide miteinander verschmelzen. Es ist ein Irrtum, zu vergessen, dass „cet être frontal, devant nous, soit que nous le posions, soit qu’il se pose en nous en tant qu’être-posé, est, par principe, second, découpé sur un horizon qui n’est pas rien, et qui lui n’est pas par composition“.773 Der Horizont ist das Vorprädikative, vor den einzelnen Dingen. Dieser Horizont heißt Fleisch, seiner Dichte wegen, denn […] une expérience est toujours contiguë à une expérience, que nos perceptions, nos jugements, notre connaissance entière du monde, peuvent être changés, barrés, dit Husserl, mais non annulés, que, sous le doute qui les frappe, apparaissent d’autres perceptions, d’autres jugements plus vrais, parce que nous sommes dans l’Etre et qu’il y a quelque chose.774

Dinge, Gedanken, Erfahrungen verweisen auf andere Dinge, auf andere Gedanken und Erfahrungen. Nie verweist ein Ding auf ein anderes Ding, sondern ein Ding auf eine Erfahrung, eine Erfahrung auf einen Gedanken, ein Gedanke auf ein anderes Ding usw. Daher sagt Merleau-Ponty: „Il faudrait revenir à cette idée de la proximité par distance, de l’intuition comme auscultation ou palpation en épaisseur, d’une vue qui est une vue de soi, torsion de soi sur soi, et qui met en question la « coïncidence »“.775 Es gibt keine prä-etablierte Harmonie zwischen Subjekt und Welt, weil es sich dabei um eine Verdrehung handelt, weil der Horizont sich nämlich selbst kreuzt. Das Subjekt hat einen Horizont, es ist zugleich in diesem Horizont eingebettet (der Horizont hat es), und beide sind dasselbe Fleisch, ohne sich zu verwechseln. Das Sein ist immer der schweigende Horizont hinter jedem objektivierenden Satz, hinter jedem einzelnen Ding und jedem Subjekt. Aber dieses Sein ist nicht immer still; die Aufgabe der „philosophie est la reconversion du silence et de la parole l’un dans l’autre“776. Möchte man ein Kunstwerk als Verkörperung dieses Gedankens heranziehen, könnte man sich auf Cages 4’33’’ berufen. Für vier Minuten und 33 Sekunden sitzt der Spieler vor dem Klavier, ohne auf dem Instrument zu 770 771 772 773 774 775 776

(Ebenda, S. 166). (Ebenda, S. 167). (Ebenda, S. 167). (Ebenda, S. 167). (Ebenda, S. 167). (Ebenda, S. 168). (Ebenda, S. 166).

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spielen. Die klassische musikalische Notation müsste ein Pausenzeichen in der Partitur einfügen. Das Konzerthaus ist aber keineswegs still. Im Gegenteil: Man kann alles um das Klavier herum hören, alle Arten von Geräuschen. Cage sagte: „There is no such thing as silence. Get thee to an anechoic chamber and hear thy nervous system in operation and hear there thy blood in circulation“.777 Die Stille ist nicht leer und das Anwesende, die Musik im Beispiel von Cage, ist auch von der Stille geprägt. Diese „reconversion du silence et de la parole“, diese Bewegung vom Fleisch in Richtung Fleisch, vom Wahrnehmenden in Richtung Wahrgenommenes, ist ein Chiasmus, ein Flechtwerk — entrelacs: Mon corps comme chose visible est contenu dans le grand spectacle. Mais mon corps voyant sous-tend ce corps visible, et tous les visibles avec lui. Il y a insertion réciproque et entrelacs de l’un dans l’autre. Ou plutôt, si, comme il le faut encore une fois, on renonce à la pensée par plans et perspectives, il y a deux cercles, ou deux tourbillons, ou deux sphères, concentriques quand je vis naïvement, et, dès que je m’interroge, faiblement décentrés l’un par rapport à l’autre.778

Die Wahrnehmung spielt für Merleau-Ponty, wie für Husserl, eine ausgezeichnete Rolle in der Phänomenologie. Die Wahrnehmung gilt für den Ersteren als der Ort der primären Konstitution. Husserl hat insbesondere auf die Erfahrung der Farben aufmerksam gemacht. Die Namengebung (rot, blau, grün) ist dabei immer diskret, während die Erfahrung der Farben selbst ein Kontinuum ausmacht. Wenn die Logik der Prädikation sich auf isolierbare Elemente stützt, würde man sich heute eher der Fuzzylogik bedienen, um mit dem Kontinuum und seiner Diskriminierung besser umzugehen. In diesem Gedankengang lässt sich fragen: Wie verhält sich beispielsweise das Rot bei seiner Wahrnehmung? Jenes „rouge sous mes yeux [...] émerge d’une rougeur, moins précise, plus générale, où mon regard était pris et s’enlisait avant de le fixer [...]“779, d.h. vom vagen Grund-Abgrund der Farben, sagt Merleau-Ponty. Und weiter: „La couleur est […] variante dans une autre dimension [...] de ses rapports avec l’entourage: ce rouge n’est ce qu’il est qu’en se reliant de sa place à d’autres rouges autour de lui, avec lesquels il fait constellation, [...]“; die Konstellation ist positiv oder negativ, d.h. einschließend oder ausschließend, und dieses Verhältnis „est un certain noeud dans la trame du simultané et du successif“; das Gewebe ist in der und um die Sache selbst, denn „la robe rouge tient-elle de toutes ses fibres au tissu du visible, et, par lui, à un tissu d’être invisible“.780 Dieses Gewebe, sichtbar und unsichtbar, ist daher der Schrift nicht fremd ; Merleau-Ponty bezieht sich auf eine „Ponctuation dans le champ des choses rouges, qui comprend les tuiles des toits, le drapeau des gardes-barrières et de la Révolution, certains terrains près d’Aix ou à Madagascar […]“; aus diesem Grund hängt das Rot davon ab, „qu’il paraît dans une constellation ou dans l’autre, selon que précipite en lui la pure essence de la Révolution de 777 778 779 780

(Cage, 1961, S. 51). (Merleau-Ponty und Lefort, 1964, S. 180). (Ebenda, S. 172). (Ebenda, S. 172).

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1917, ou celle de l’éternel féminin […]“.781 Aus dem Gesagten folgt: Si l’on faisait état de toutes ces participations, on s’apercevrait qu’une couleur [...] (est) une sorte de détroit entre des horizons extérieurs et des horizons intérieurs toujours béants, [...] Entre les couleurs et les visibles prétendus, on retrouverait le tissu qui les double, les soutient, les nourrit, et qui, lui, n’est pas chose, mais possibilité, latence et chair des choses.782

Der Chiasmus ist also die Struktur, die alles durchdringt. Nicht nur die Farben durchdringen alles, das Farbige und das Tastbare kreuzen sich auch, und dasselbe gilt für das Subjekt und dessen Welt, für ein Subjekt und das Andere, für das Sichtbare und das Unsichtbare. Im Chiasmus sieht man einen „relèvement double et croisé […] les deux cartes sont complètes, et pourtant elles ne se confondent pas. Les deux parties sont parties totales et pourtant ne sont pas superposables“.783 Husserl folgend hat Merleau-Ponty den Begriff von Horizont als Pendant zum objektivierenden Blick entwickelt. Jedes Objekt, jede Qualität, jeder Gedanke usw. ist unbedingt auf ein Anderes bezogen, aber nicht dank der gedanklichen Kategorien. Bereits auf der niedrigen Stufe der Wahrnehmung findet man eine Struktur von Verweisungen. Schatten, Widerspiegelungen, assoziierte Bewegungen zwischen Dingen usw. sprechen von diesem Horizont, bevor dieser theoretisch erfasst wird. Die Welt macht ein System aus, aber nicht im idealistischen Sinne. Wenn wir uns eine Entlehnung aus dem Bereich der Biologie erlauben, würden wir sagen, die Welt konstituiert sich als ein dynamisches, offenes System vor jeder theoretischen Erfassung. Einer ähnlichen Argumentation wie Schelling folgend, sagt Merleau-Ponty, das Lebendige müsse als selbständig, also außerhalb unserer Vorstellung, und unabhängig gedacht werden, weil es etwas für sich sei, so ist die Welt gewissermaßen für sich, indem sie aus verschiedenen Richtungen zu sich selbst kommt, ohne eine Totalität, d.h. den Bereich des Denkens, einzuschließen. Man kann bei Merleau-Ponty Folgendes sagen: Die Wahrnehmung antizipiert den Verweisungscharakter der Sprache. Das konstituierende Subjekt findet sich im Konstituierten selbst (der Welt). Aber die Welt wird auch von ihrem konstituierten Charakter befreit, das Konstituierende findet sich nur im Konstituierten durch eine „Freiheit der Natur“. MerleauPontys Begriff von Welt bewegt sich deutlich zwischen einer Natur und dem vorsubjektiven Subjektivismus, den man bei Fink erkennen kann. Anders gesagt: Das „Prä“, das „Vor“ verweist bei Husserl und Fink auf eine nicht (ganz) bewusste Subjektivität, die nicht mit der Natur verwechselt werden darf. Merleau-Ponty nähert sich im Gegensatz dazu durch die Sprache der Natur an. Mit klarem Bezug zu Saussure sagt Merleau-Ponty: „Je décris la perception comme système diacritique, relatif, oppositif, —l’espace primordial comme topologique (c’est-à-dire taillé dans une voluminosité totale qui m’entoure, où je suis, qui est 781 782 783

(Ebenda, S. 172). (Ebenda, S. 172). (Ebenda, S. 172).

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derrière moi, aussi bien que devant moi.)“.784 Die Welt ist also nicht nur ein „Dialog“ zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen, sondern die Wahrnehmung ist ein Zuhören eines Dialogs, der die Welt ist. In einem Beispiel zeigt Merleau-Ponty, wie die Dinge andere Dinge sehen bzw. nicht sehen lassen oder reflektieren, wie Dinge Schatten auf andere Dinge projizieren usw., damit die Dichte der Welt sich konstituiert: Quand je vois à travers l’épaisseur de l’eau le carrelage au fond de la piscine, je ne le vois pas malgré l’eau, les reflets, je le vois justement à travers eux, par eux. S’il n’y avait pas ces distorsions, ces zébrures de soleil, si je voyais sans cette chair la géométrie du carrelage, c’est alors que je cesserais de le voir comme il est, où il est […] L’eau elle-même [...] je ne peux pas dire qu’elle soit dans l’espace : elle n’est pas ailleurs, mais elle n’est pas dans la piscine. Elle l’habite, elle s’y matérialise, elle n’y est pas contenue, et si je lève les yeux vers l’écran des cyprès où joue le réseau des reflets, je ne puis contester que l’eau le visite aussi, ou du moins y envoie son essence active et vivante. C’est cette animation interne, ce rayonnement du visible que le peintre cherche sous les noms de profondeur, d’espace, de couleur.785

Die Sprache ist in der Welt selbst antizipiert. Dabei macht die Struktur von Verweisungen, wie gesagt, weder eine Totalität noch eine Flucht — eine zum unendlichen Regress führende Struktur von Verweisungen — aus, weil die Unendlichkeit sich berührt. Nicht als Unendlichkeit, das wäre die Position des Subjekts, das sich selbst anschaut, sondern das Unendliche berührt sich an bestimmten Punkten aus bestimmten Punkten. Ohne diese Faltung würden die Verweisungen kein Fleisch ausmachen. Aber die Dichte der Welt gilt sowohl als ein kontinuierliches Fleisch als auch als eine Struktur von Brüchen. Denn Verweisen impliziert, dass das, worauf dabei Bezug genommen wird, nicht a priori entschieden ist. Das Objekt kann nur mittels eines anderen zum Objekt kommen. Beide machen einen Horizont aus. Dieser Horizont ist kein Besitz des Subjekts mehr. Die chiasmatische Struktur sichert, dass ich die Welt im gleichen Maße sehe, wie sie mich sieht: „Dès que je vois, il faut […] que la vision soit doublée d’une vision complémentaire ou d’une autre vision: moi-même vu du dehors, tel qu’un autre me verrait“786, denn vom Wahrnehmenden sagt Merleau-Ponty: La vision qu’il exerce, il la subit aussi de la part des choses, que, comme l’ont dit beaucoup de peintres, je me sens regardé par les choses, que mon activité est identiquement passivité […] non pas voir dans le dehors, comme les autres le voient […] mais surtout être vu par lui, exister en lui, émigrer en lui, être séduit, capté, aliéné par le fantôme, de sorte que voyant et visible se réciproquent et qu’on ne sait plus qui voit et qui est vu.787 [Also, konkludiert Merleau-Ponty:] C’est par le monde d’abord que je suis vu ou pensé.788

Ich werde von der Welt gesehen, kann aber die Welt, mich sehend, nicht sehen. Und doch kann ich den Blick des Anderen ahnen. Ich sehe die Welt, aber sie wird nicht ganz von mir konstituiert, weil ich eben in dieser Welt bin. Ich berühre und werde berührt, konstituiere und 784 785 786 787 788

(Ebenda, S. 263). (Merleau-Ponty, 1964, S. 70-1). (Merleau-Ponty und Lefort, 1964, S. 175). (Ebenda, S. 181). (Ebenda, S. 175).

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werde konstituiert. Dieses Verhältnis ist doppelt, aber nicht symmetrisch. Dieses Berühren ist keine Selbstanschauung, denn die Gleichzeitigkeit des Chiasmus ist nicht subjektiv, sie ist kein Wissen, kein Besitz des Subjekts, und doch kann man darüber nachdenken. Der Chiasmus supponiert außerdem eine gewisse Reversibilität im Irreversiblen, eine Kontinuität des nicht Kontinuierlichen. Warum ist aber das Verhältnis Wahrnehmender-Welt nicht ganz reziprok? Weil so, wie ich das Sein befrage, werde ich vom Sein befragt.789 In diesem Moment geht es nicht nur um das Berühren. Nicht nur stellt das Subjekt die Frage, sondern es wird, wenn es befragt wird, auch infrage gestellt, weil es nicht antworten kann. Das menschliche Fragen kann fraglich werden, d.h., das Fragen wird wiederum nach ihrer Legitimität befragt. Das bedeutet: Das Subjekt fragt und wird befragt, kann aber die Frage, welche ihm gestellt wird, nicht wirklich beantworten. Man kann diesen Gedanken bei Lacan verfolgen, wenn er die Position des großen Anderen gegenüber dem Subjekt dadurch beschreibt, dass das Letztere zum Ersteren sagt: „Was willst Du von mir?“, „che vuoi?“.790 Das große Andere ist die vorsubjektive Ordnung, von welcher aus das Subjekt sich selbst sieht, ohne dass die Ordnung als solche thematisiert wird. Das Subjekt muss, sowohl bei MerleauPonty als auch bei Lacan, das Privileg des Fragens verlieren. Im Kontext des deutschen Idealismus hat Schelling versucht, die Natur von ihrem mechanischen Verständnis zu befreien, indem er ihr eine unbewusste Intelligenz zusprach. Die Natur wird frei vom Subjektiven, wenn sie selbst die Subjektivität antizipiert. Die Natur ist für den Schelling der Naturphilosophie unbewusster Geist. Merleau-Ponty versucht auch, die Welt vom objektivierenden, positiven wissenschaftlichen Blick, den das Subjekt auf sie richtet, zu befreien. Die Natur sollte bei ihm eine neue Würde, aber auf nicht naive Weise finden. Das Originäre ist dabei nicht tiefer oder älter als die Phänomenologie oder die Ontologie, sondern breiter und komplexer.

789

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Im Aufsatz Étonnement et interrogation unterstreicht M. Gagnon den Charakter von Befragung, den MerleauPontys Philosophie hat. Für Merleau-Ponty wie auch für Heidegger nimmt die Philosophie die Form einer Befragung an. Das Dasein ist beim Letzteren dasjenige, das das Primat dieser Befragung besitzt. Obwohl es das Sein ist, das spricht, wird das Dasein nur reflexiv befragt. Bei Merleau-Ponty aber befindet sich das Subjekt in einer Situation, in der es auch befragt wird. Das Dasein befragt das Sein nur, sofern das Sein bereits das Dasein befragt: „Si on peut à bon droit considérer Le visible et l'invisible comme un projet de fondation radicale du discours philosophique, ce n'est pas seu lement parce que Merleau-Ponty s'efforce ici plus que jamais de rendre justice à la portée ontologique de l'expérience, mais c'est surtout que cette tentative est chez lui indissociable de celle visant à dégager le coefficient interrogatif propre à la non-occultation de l'Être au sein même de cette expérience […] dans Le visible et l'invisible, l'interrogation apparaît […] comme étant la modalité même selon laquelle l'Être se propose à la pen sée et s'y pro-voque. Que Merleau-Ponty prenne en vue l'interrogation comme « organe ontologique » ne signifie donc pas seulement que l'i nterrogation constitue par excellence le mode de notre avancée vers l'Être, mais encore que l'Être lui-même ne « s’avance » en notre direction qu'à titre d'Être interrogatif. En ce sens, Le visible et l'invisible ne dit peutêtre, pour l'essentiel, qu'une seule chose : c'est parce que l'Etre, au pre mier chef, nous interroge qu'il nous est donné de l'interroger en retour“ (Gagnon, 1995, S. 370). In den Écrits sagt Lacan: „La question de l'Autre qui revient au sujet de la place où il en attend un oracle, sous le libellé d'un: Che vuoi? que veux-tu ? est celle qui conduit le mieux au chemin de son propre désir, – s'il se met, grâce au savoir-faire d'un partenaire du nom de psychanalyste, à la reprendre, fût-ce sans bien le savoir, dans le sens d'un : Que me veut-il?“ (Lacan, 1966, S. 815).

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Die Selbstkritik der Phänomenologie

Das Ursprüngliche, wenn man bei diesem Begriff bleiben möchte, ist nur die Phänomenologie und die Ontologie, aber gefaltet, an sich selbst gerichtet, das bedeutet, durch eine topologische Figur der Kreuzung interpretiert. Die Philosophie ist nicht Darstellung als explicatio oder Entfaltung, sondern Verwicklung oder Faltung (plie). Wenn das phänomenologische Subjekt „anschaut“ und das ontologische Subjekt als Dasein sich Fragen stellt, muss das Subjekt sowohl gesehen als auch befragt werden. Dadurch wird das Andere frei von der klassischen Subjektivität. Nicht umsonst stützt sich der späte Merleau-Ponty auf Schelling und seinen Naturbegriff. Lacans großes Andere soll aber nicht in diesem Sinne verstanden werden. Dass das Andere als etwas Unbewusstes durch die Sprache strukturiert ist, kann für die Natur keine Rolle spielen. Doch bleibt sowohl bei Derrida als auch bei Lacan der Charakter der romantischen Natur erhalten, jetzt aber in der anonymen Sprache. Merleau-Ponty beschreibt nicht die Objekte als Essenzen, auch nicht die Struktur der Subjektivität, sondern die Form des Übergangs von der Welt zum Wahrnehmenden und umgekehrt. Denn der Chiasmus ist der konstante Übergang von etwas zu etwas Anderem, wo ein Kontinuum und eine Trennung zugleich zu beobachten sind. Lacan liest Merleau-Pontys Beitrag in dem Sinne, dass das Subjekt nicht nur in dem inkludiert ist, was es sieht, sondern dass es sogar dort gesehen wird, wo es nicht mehr sieht.791 Ich existiere als Subjekt nicht nur für mich, sondern auch für andere, aber nicht als Subjekt, sondern als Leib. D.h., a) ich existiere, weil ich für ein Anderes bin, und b) dass nicht ich es bin, der sieht, sondern dass ich von den Dingen selbst gesehen werde wie von einem Anderen. Lacan hat auch eine Topologie des Subjekts erstellt und an dieser Stelle ist er es, der uns erlaubt, Merleau-Ponty als Vorgänger auf diesem Feld zu interpretieren. Von den verschiedenen topologischen Figuren des lacanschen Diskurses ist das Möbius Band eine der bekanntesten. Das Merkwürdige an dieser topologischen Figur besteht in der Tatsache, dass sie das Miteinander von innen und außen in einer Fläche ausgezeichnet illustrieren kann. Die Sätze über das Fleisch kann man sich nur schwer vorstellen, weil man nicht weiß, ob sie eine Art „viereckiges Dreieck“ darstellen. Die topologische Figur ist aber eine präzise mathematische Konstruktion, die sich durch jene scheinbar widersprüchliche Definition beschreiben lässt. Im Möbius Band sieht man eine Fläche, wo es für jeden Punkt ein Innen und ein Außen gibt, welche trotzdem ein Kontinuum ausmacht. D.h., das Möbius Band hat, wie ein Papierblatt, zwei Seiten: vorne und hinten. Klebt man das Papierblatt, um eine geschlossene Kurve zu gewinnen, d.h., um einen Ring zu haben, zusammen, so hat man ein Inneres und ein Äußeres, aber sie sind getrennt voneinander. Im Möbius Band sind beide Seiten kontinuierlich.

791

Lacan: „J'entends, et Maurice Merleau-Ponty nous le pointe, que nous sommes des êtres regardés, dans le spectacle du monde. Ce qui nous fait conscience nous institue du même coup comme speculum mundi. N'y at-il pas de la satisfaction à être sous ce regard dont je parlais tout à l'heure en suivant Maurice Merleau-Ponty, ce regard qui nous cerne, et qui fait d'abord de nous des êtres regardés, mais sans qu'on nous le montre ? “ (Lacan, 1973, S. 71)

Neue Wege in/aus der Phänomenologie

311

Auf folgende Weise konstruiert man das Möbius Band: Man nimmt ein quadratisches Band und klebt zwei gegenseitige Kanten, aber mit einer Drehung. Wie auf der folgenden Illustration zu sehen ist, soll man die punktierten Linien kleben, aber derart, dass die Punkte beider Pfeile koinzidieren:

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Das Resultat ist die folgende Figur:

793

Das erste Diagramm für die Konstruktion des Möbius Bandes ist wichtig, weil darauf andere topologische Figuren basieren, wie der Torus oder die Klein-Flasche, mit denen sich Lacan beschäftigte, und die später in dieser Arbeit näher betrachtet werden. Das Wort Chiasmus bezieht sich auf das griechische Xi — X — und die darin offensichtliche Kreuzung. Zusätzlich zu dieser Intuition des Chiasmus stellt das Möbius Band die Kontinuität des Entgegengesetzten dar. Es ist naheliegend, Merleau-Pontys topologischen Charakter des Fleisches durch die topologische Figur eines Möbius-Bandes zu interpretieren. Es sei nun an Husserls Cartesianische Meditationen und das dort erörterte Problem von Welt und Intersubjektivität erinnert. Passive Synthese heißt eben, dass der Andere und das Andere, oder das Du und das Es, vor der prädikativen Konstitution stehen.

792 793

MöbiusStripAsSquare.svg Author: Ilmari Karonen. Public domain. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:M%C3%B6biusStripAsSquare.svg MobiusStrip-01.png Author: Fropuff. Public domain. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:MobiusStrip-01.png

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Die Selbstkritik der Phänomenologie

Dies führt indirekt zu einer Befreiung der Welt und des Anderen von deren subjektiver Konstitution. Die ist vor mir als Subjekt, so wie der Andere, der mich auf eine andere Weise als Subjekt konstituiert. Dabei entstand die Geschichte der Entstehung des Ich, wenn es das Wort vom Anderen (autrui hätten die Franzosen hier übersetzt) und eine Welt von bereits strukturierten, aber trotzdem offenen Wahrnehmungen vom Anderen (autre als Sein) bekommt. Die Welt ist und ist nicht konstituiert. Oder sie ist immer konstituiert, auf der Basis einer Urpräsentierbarkeit, die nicht objektiv ist. Der Chiasmus soll auch für Merleau-Ponty eine Rolle bei diesem Problem spielen: Durch das Chiasma […] s’annonce à moi comme l’être paraît aux yeux des autres n’être qu’ « états de conscience » - Mais, comme le chiasma des yeux, celui-là est aussi ce qui fait que nous appartenons au même monde, - un monde qui n’est pas projectif, mais qui fait son unité à travers des incompossibilités telles que celle de mon monde et du monde d’autrui - Cette médiation par le renversement, ce chiasma, font qu’il n’y a pas simplement antithèse pour-Soi pour-Autrui, qu’il y a l’Être comme contenant tout cela, d’abord comme Être sensible et ensuite comme Être sans restriction Le chiasma au lieu du Pour Autrui: cela veut dire qu’il n’y a pas seulement rivalité moi-autrui, mais cofonctionnement. Nous fonctionnons comme un corps unique. Le chiasma n’est pas seulement échange moi autrui (les messages qu’il reçoit, c’est à moi qu’ils parviennent, les messages que je reçois, c’est à lui qu’ils parviennent) c’est aussi échange de moi et du monde, du corps phénoménal et du corps « objectif », du percevant et du perçu : ce qui commence comme chose finit comme conscience de la chose, ce qui commence comme «état de conscience» finit comme chose. 794

Das Zitat besagt erstmals, dass Subjekt, Anderes und Welt ko-originär und doch verschieden sind. Sie sind Teile desselben Körpers (=Fleisch) und sie sind doch komplett und daher nicht durch die zwei anderen zu ersetzen. Das Fleisch ist verteilt und doch ist es ein Kontinuum. Weiter, sagt Merleau-Ponty, gibt es ein Durchdringen von Registern: Eine Wahrnehmung darf als Wahrnehmung bestehen, aber ein Teil davon wird als Gedanke weiterentwickelt und dieser Gedanke, falls er als Gedanke bestehen bleibt, kommt nicht darum herum, sich mit einer Farbe zu verbinden, welche mich und den Anderen verbindet, in einer Welt von „kompossibilitierten Umkompossibilitäten“, wo ein Denkendes auch ein Leib für einen anderen ist, was nichts anderes als die sich selbst berührende Welt, also eine gewisse Natur, ohne sich der Geschichte entgegenzusetzen, ist. Die „Unkompossibilitierbarkeit“ von meiner Welt und der des Anderen ist eben die Bedingung für eine gemeinsame Welt. Das Wort stammt von Leibniz. Damit wollte er auf die Möglichkeit einer Welt hinweisen. Es gibt mehrere mögliche Welten, notwendig ist, dass ihre Elemente sich nicht widersprechen. Welten mit Widersprüchen sind nicht kompossibilitätsfähig. MerleauPonty aber will zeigen, dass diese, die aktuelle Welt, eben aus nicht kompossibilitätsfähigen Regionen besteht, weil die Welt paradox ist. Das Paradoxe des Fleisches der Welt soll die Figur des Chiasmus deutlich, also denkbar und konstruierbar, machen. Die Differenz ist bereits inmitten der Welt, sie braucht nicht den Bruch — déhiscence — der Sprache. Aber dieser Bruch ist in seiner Brüchigkeit ein Kontinuum. Die rechte und die linke Seite, die für Kant das Prinzip der Orientierung beim Denken sind, sind für Merleau-Ponty: 794

(Merleau-Ponty und Lefort, 1964, S. 264).

Neue Wege in/aus der Phänomenologie

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[…] des parties totales, de découpages, dans un espace englobant, topologique - Réfléchir sur le deux, la paire, ce n’est pas deux actes, deux syntheses, c’est fragmentation de l’être, c’est possibilité de l’écart (deux yeux, deux oreilles : possibilité’de discrimination, d’emploi du diacritique), c’est avènement de la différence […].795

Die Strahlen oder Fäden des Gewebes des Fleisches gehen ineinander über und bleiben doch getrennt: La perception m’ouvre le monde comme le chirurgien ouvre un corps, apercevant, par la fenêtre qu’il a pratiquée, des organes en plein fonctionnement, pris dans leur activité, vus de côté. C’est ainsi que le sensible m’initie au monde, comme le langage à autrui : par empiétement, Ueberschreiten. La perception est non perception de choses d’abord, mais perception des éléments (eau, air...) de rayons du monde, de choses qui sont des dimensions, qui sont des mondes, je glisse sur ces « éléments » et me voilà dans le monde, je glisse du « subjectif » à l’Etre.796

Man könnte riskieren, zu sagen, dass vielleicht so, wie das Tasten das Sehen weiterbringt, eine Zahl — denken wir an Husserls Interesse für die Arithmetik — ein Bild — denken wir an die Wahrnehmung als das Sichtbare überhaupt — und das Bild wiederum die Sprache — denken wir an Husserls Schwierigkeiten mit nicht erfüllten Wörtern und den Zeichen im Allgemeinen — fortführen kann. Dieses Durchdringen erfolgt vielleicht nicht ohne Bruch, mindestens nicht ohne Paradoxie, wie jene des Möbius Bandes. Aber vielleicht hätten diese Fäden bei MerleauPonty drei Pole, um die sie gewebt werden: Ich, Du und Es. Sollte dies der Fall sein, dann hätte unser Möbius Band nicht zwei, sondern drei Seiten, welche ineinander übergehen:

797

Die Seiten sind koloriert (in Grautönen), damit man die drei kontinuierlichen Seiten erkennen kann.

795 796 797

(Ebenda, S. 266). (Ebenda, S. 267). Dank an die Mathematikerin Iliusi Vega del Valle, die dieses Band konstruiert hat. Mit freundlicher Genehmigung von © Arturo Romero Contreras 2018. All Rights Reserved.

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Die Selbstkritik der Phänomenologie

Merleau-Pontys Interesse lag in der Untersuchung des Vorprädikativen. Ihm war es bewusst, dass das Vorprädikative unzugänglich wäre, wenn es nicht gewissermaßen das Prädikative antizipiert, wenn das Unsichtbare eines unendlichen Horizontes nicht mit dem sichtbar Endlichen durch eine besondere Verdrehung verbunden wäre. Aber nicht weniger wichtig ist die Figur des Chiasmus, denn dadurch untersucht Merleau-Ponty das Ineinandergreifen vom Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Das Sichtbare erscheint an einem Horizont der Unsichtbarkeit und das Unsichtbare wird sichtbar, aber das Sichtbare des Unsichtbaren deckt sich nicht mit dem Unsichtbaren des Sichtbaren. Mit anderen Worten: Das Ineinandergreifen vom Sichtbaren und dem Unsichtbaren beschreibt keine Totalität, sie sind nicht zwei Hälften der Ur-Einheit. Es gibt vielleicht nur diesen Übergang vom einen zum anderen, ohne dass man genau weiß, wo, was und wie das geschieht. Maurice Blanchot hat das Wesen dieser Ambivalenz in einem Wortspiel festgehalten: „le pas au-delà“, was auf Deutsch zwei Bedeutungen hat: „der Schritt jenseits“ und „kein Schritt jenseits“. Das Fleisch ist immer dieses Jenseits der Phänomenologie und doch der Kern der Phänomenologie selbst. Was verbindet eigentlich den Chiasmus? Das Innere und das Äußere? Das Sichtbare und das Unsichtbare? Sicherlich. Aber der Chiasmus verbindet auch die Kontinuität und den Bruch. Das Möbius Band ist weder reine Kontinuität noch reiner Bruch. Diese andere Kontinuität ist die des Übergangs. Aber dieser Übergang, weil er vom Fleisch zum Fleisch geht, ist kein Übergang; und doch ist er ein richtiger, denn das Fleisch ist nichts Homogenes, sondern eben Übergang im Dativ. Wollte man Merleau-Pontys Begriff Chiasmus erweitern, sollte man sich nicht auf die Wahrnehmung begrenzen. Oder besser: Man sollte jene Wahrnehmung, die Husserl so tiefgreifend bearbeitete, im Zusammenhang mit dem Chiasmus lesen. Zeit und Intersubjektivität waren die Bereiche, wo Husserl die passive Synthese und damit die tiefsten Paradoxien der Phänomenologie entdeckte. Bei der Darstellung seiner Zeitdiagramme wurde auf sein topologisches Denken hingewiesen, so dass das Räumliche bei ihm und bei MerleauPonty sich auf ganz natürliche Weise zusammen lesen lassen. Bei der Beschäftigung mit Husserls Zeitgedanken wurde festgestellt, dass das Anwesende, das Jetzt, durch Retentionen und Protentionen mit konstituiert wird. Man hat auch gesehen, dass Retentionen und Protentionen nicht auf „meine eigenen Erlebnisse“ reduziert werden können, weil das Ego die Welt nur in einer es umfassenden Geschichte konstituieren kann. Das Ego verblasst als Glied einer es überschreitenden Geschichte. Diese Geschichte als Geschichte der Vergessenheit der Lebenswelt ist also ein Spiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Ähnlichen Problemen begegnete Husserl im Zuge der Konstitution des Nächsten. Er kann eigentlich von mir nicht konstituiert werden, weil man damit eine gemeinsame Welt nicht erklären kann. Der Andere muss so originär wie ich sein, wobei die transzendentale Subjektivität sich in eine transzendentale Intersubjektivität verwandelt. Letztere kann allerdings nicht mehr die Form der Ersteren haben: Die Subjektivität ist verteilt, getrennt, sie benötigt Kommunikation durch Zeichen, welche sowohl ideell als auch materiell sein müssen. Es ist eben in Zeichen und durch

Neue Wege in/aus der Phänomenologie

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Zeichen, dass die Geschichte erfolgt und wodurch sie weiter tradiert wird. Das Denken vom Chiasmus kann leicht um diese Fragestellungen erweitert werden. Ich interpretiere die Geschichte, ich mache sie zum Objekt meiner Überlegung und zur Materie meiner Handlung. Aber ich kann nur dann zu einem Moment der Geschichte werden, wenn diese nicht von mir konstituiert wird, sondern umgekehrt. Obwohl ich mir durch die Geschichte konstituiert erscheine, bin ich nicht ganz von ihr konstituiert. Sonst könnte ich den Schluss überhaupt nicht ziehen, dass ich bedingt bin. So, wie das Fleisch beim Wahrnehmen mich sieht, werde ich eigentlich auch von der Geschichte gesehen. Die Zeit ist keine bloße Reihe von JetztPunkten, sondern eine Konstellation oder ein Gewebe (oder Verflechtung) von Fäden, die von allen Richtungen in alle Richtungen gehen, wie man bei Husserl gesehen hat. Nun sind nicht alle Erwartungen der Vergangenheit „erfüllt“. Nicht in dem Sinne, dass sie phänomenologische Evidenz verlangen, sondern dass es vergangene Momente geben kann, deren Einfluss noch nicht ausgeübt worden ist. Und genau so, wie in der Gestaltpsychologie, die Merleau-Ponty so aufmerksam verfolgte, muss die Vergangenheit durch Konstellationen und durch Reorganisation derselben aktiv sein. Dies ist die Reorganisation dessen, was man die Plexen des Fleisches nennen kann. Ich, Du, Es: Diese Struktur des Chiasmus, welche bei Husserl und Fink zu sehen ist, erfordert, dass das Ich vom Anderen und von der Welt gesehen wird. Aber damit sind beide, der Andere und die Welt, Konstellationen, etwas Verräumlichtes. D.h., die Zeit ist nicht nur eine Verflechtung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern auch die Welt und der Andere konstituieren eine Verflechtung mit dem Subjekt. Die Kreuzung der Zeitproblematik (als Verflechtung), der Weltproblematik (als Horizont oder Umwelt) und der Intersubjektivitätsproblematik (als verteilte Subjektivität), eröffnen die Möglichkeit, neue Probleme durch räumliche Argumente zu denken.

6 Coda: Das Ende der Phänomenologie oder die Ontologisierung der Phänomenologie Trần Đức Thảo und Merleau-Ponty nannten sich noch Philosophen. Heidegger nicht mehr. Zurück zur ursprünglichen Problematik, zurück zum Ende der Philosophie: Es lässt sich fragen, wie jetzt das Ende der Philosophie zu interpretieren ist, angesichts der geschilderten Selbstkritik der Phänomenologie. Stehen neue Elemente zur Verfügung? Man kann jetzt diese These erwägen: Heideggers Ansatz besteht in einer Ontologisierung der phänomenologischen Problematik. Die Phänomenologie gilt dann als Modell für Heideggers Interpretation der ganzen philosophischen Tradition. Er unterzieht diese einer Art (hermeneutischer) Reduktion. Die Grenzen der Phänomenologie werden nun zu Grenzen der Philosophie. Diese Behauptung ergibt sich aus der Selbstkritik der Phänomenologie, denn die Phänomenologie gilt hier nicht als ein erneuter Versuch, die Wissenschaften transzendental zu begründen. Die Phänomenologie bedeutet eine Radikalisierung und Kritik der Philosophie zugleich. Husserl und danach Fink hielten die Philosophie für nicht radikal genug, soweit sie immer noch Elemente enthält, die reduziert werden müssen. Die Philosophie bleibt naiv, wenn sie nicht das Wissen und das Subjekt reduziert, und beide auf ihre Genese und damit ihren ultimativen Grund zurückführt. Diese Genese soll Selbst-Genese sein. Und doch zeigt sie ihre eigene Transzendenz. Oder besser gesagt: Die Selbst-Genese zeigt eine Transzendenz in der Immanenz, eine Subjektivität jenseits des Subjekts, einen Bruch in der Identität, der diese ständig konstituiert und destruiert. Solche kontradiktorischen Resultate der Phänomenologie lassen sich in Heideggers und Derridas Rezeption der Philosophie erkennen, und erfahren noch eine weitere Radikalisierung: Die methodologischen Probleme, denen Husserl begegnete, bekommen nun einen ontologischen bzw. vorontologischen Wert. Das Wort Ende in der Behauptung vom Ende der Philosophie meint sowohl ein historisches Ereignis als auch einen ontologischen Satz. Das ist die wichtigste Zweideutigkeit des Begriffs Ende. Als historisches „Schicksal” könnte die Philosophie (als Metaphysik) auch historisch überwunden werden. Als Ontologie aber etabliert sich das Ende als die Struktur des Seins selbst, als die wahre und ultimative Auffassung, als die ursprünglichste. Nun muss man erneut das interpretieren, was Ende bedeutet.

6.1 Was bedeutet Ende im Hinblick auf die Philosophie? Wie oben gesehen, ist Heidegger derjenige, der die These des Endes der Philosophie vertritt und deren radikalsten Schlüsse in Richtung einer „neuen Aufgabe des Denkens“ zieht, was das Denken nach ihm und bis heute tief prägt, was es werden kann und soll. Dieses Ende ist bei

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 A. Romero Contreras, Die Gegenwart anders denken, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04820-2_6

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Coda: Ende der Phänomenologie oder Ontologisierung

Heidegger weder einfach noch eindeutig. Weiter ist dieses Ende nicht nur paradox, sondern es scheint, den philosophischen Begriff vom einfachen Anfang (arché) mit Hinblick auf einen paradoxen Anfang oder auf das Paradoxon als Anfang zu ersetzen. Heidegger gilt hier als Vertreter dieses Gedankens über ein vermutliches Ende der Philosophie, aber auch als Indiz eines breiten Ansatzes, wo die Philosophie sich als erschöpft zeigt. Husserls Paradoxien erscheinen als aussichtslos, als Erschöpfung/Vollendung der Philosophie. D.h., der größte Erfolg der Philosophie koinzidiert mit der Erschöpfung ihrer Möglichkeiten. Auf dem Spiel steht nicht nur ein „Fach“ (die Philosophie) unter anderen oder eine Tradition798 (die westliche), sondern auch das Schicksal von einer Begrifflichkeit, von Philosophemen, 798

Eine Tradition, die zu schnell und ohne Nuance „westlich“ genannt wird, als käme sie aus dem Nichts oder als hätte sie keinen grundlegenden Austausch erfahren, von den alten Griechen bis heute, also als hätte sie sich nicht vom Fremden ernährt. Man könnte die westliche Tradition sowohl als eine Fremd-Feinde als auch eine Fremd-Suchende bezeichnen. Was sind sonst die Idealisierungen des Primitiven, des Mythischen und des Fernen? Die Faszination in Bezug auf das Verborgene und Alte, der Orientalismus, die Sehnsucht nach der goldenen Epoche, was zeigt dies, wenn nicht eine fundamentale Ambivalenz gegenüber dem Anderen? Die These, das Andere sei im Westen bloß unterdrückt, vergessen oder Gewalt unterworfen, lässt sich nicht von dieser Faszination trennen. Ist das „Andere“ ohne konkreten Bezug nicht eben diese Sehnsucht nach Anderem, aber bereinigt von jeder weltlichen Kontamination? Diese Sehnsucht ist Begierde nach Anderem. Begierde ist bei Lacan, als einem Vertreter einer Aufgabe des Denkens nach der Philosophie, Begierde des Anderen (Lacan: „le désir est le désir de l’ autre“ (Lacan, 1966, S. 628). Lacan behauptet gleichzeitig a) die Begierde sei „indestructible“, als jene Fatalität des Menschen „en tracer la ligne fatale, à s'en faire l'alphabet vivant“ (S. 446), wo die „aleination […] suite le désir au champ de l'Autre“ (S. 70); dass b) „ (l')Autre […] n'existe pas“ (S. 841); alle Zitate aus: (Ebenda S. 826), aber auch dass c) „De même que pour le Symbolique […] qu'il n'y a pas d'Autre de l'Autre […]“ (Ebenda, S. 813). D.h., die Rede vom Anderen bedeutet sowohl die Bestätigung, dass es Anderes gibt, sowie deren pessimistische Leugnung, nämlich dass das Andere nur begehrt wird. Anderes ist das Fremde als Gesetz und als Jenseits des Gesetzes. Lacans Aphorismus resümiert gut diese Spannung bei der Thematisierung des Anderen. Es handelt sich um Begierde (=Begierde des Anderen) nach Begierde (=Begierde der Begierde des Anderen). War die Begierde je etwas anderes im Abendland? Das bedürfte einer anderen Analyse. Was man hier sagen kann, ist, dass diese Rede vom Anderen das Andere will, ohne die praktischen Konsequenzen. Das idealisierte Andere antwortet nicht, leidet nicht, hat kein Territorium, keine Geschichte. Natürlich bewegt sich diese Rede nicht auf der empirischen Ebene. Nicht darin besteht das Problem, sondern im Mangel eines Übergangs zwischen diesem originären Anderen und der konkreten Welt mit ihren konkreten Anderen. Das abstrakte Andere ist eine ewige Quelle von Andersheit, diese ist unverletzlich, jedem „Ursprung“ und jedem „Wissen“ vorhergehend. Aber dabei wird das Andere aufgelöst (aus dem lt. =ab-solutum), das bedeutet, es verliert seine Grenzen, es bekommt den Rang eines Absoluten, wobei es selbst als Anderes vernichtet wird. Ursprünglicher als das Wissen impliziert dieses Andere ein NichtWissen. Ist aber dieses Nicht-Wissen kein Wissen überhaupt? Ist das Unbewusste nicht ein Wissen ohne Wissendes, wie Lacan sagt? Und jenseits von Lacan: Ist das Unbewusste nicht das Wissen, das bei seinem Nicht-Wissen sich selbst weiß, oder das Wissen, das eben nicht-wissend sich weiß? Dann fände das Denken vielleicht seine Begierde wieder: Es befriedigt sich damit, zu wissen, dass es nicht und nichts weiß. Es ist eine Gewissheit von Nicht-Wissen oder eine Gewissheit der Ungewissheit. Es scheint, als wolle das begehrende Denken die Befriedigung im Abgrund, der es für sich selbst ist, finden. Endlichkeit und Gewissheit treffen auf ein „Selbstbewusstsein des Unbewussten“. In dieser reflexiven Bewegung des Denkens des Endes der Philosophie findet sich das Denken nicht bewusst wieder, wie Hegel dachte. Es findet nur seine verschwindende Spur. Es untersucht sich selbst ohne Bezug auf die Welt oder als ganz anders als die Bewegung der Welt. Da, wo es keine Entdeckungen, keine Objekte, keine Natur, kein Ding mehr gibt, taucht das Denken in ein Selbstgespräch ein, auch und besonders da, wo es ein „Anderes“, also etwas ganz „Fremdes“, in sich selbst findet. Die Begierde nach Anderem dauert im sich selbst suchenden, für sich selbst verschwindenden Subjekt an. Die Welt hat alle Konsistenz und Interesse verloren, denn sie ist a priori seit jeher bestimmt. Nur der Spiegel im Spiegel scheint hierbei die menschliche Begierde lebendig halten zu können. Weil dieses Wissen sich als nicht-wissend weiß, weiß, dass es nicht weiß, so dass es in gleichem Maße und im gleichen Moment scheitert und triumphiert. Gewinnen ist verlieren und umgekehrt.

Was bedeutet Ende im Hinblick auf die Philosophie?

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Argumenten, Denkweisen sowie Motivationen, denen sich das Denken historisch immer auf neue Weise bedient und bedient hat. Auf dem Spiel steht nicht dieser oder jener Begriff, sondern die Angemessenheit des Denkens für die dringendsten Fragen dieser Epoche, sowie die Problematik, welches seine Bedingungen sein sollen. Es ist unwesentlich, ob das „neue“ Denken wirklich neu ist. Entscheidend ist die Formulierung dessen, was vermutlich eine Denkweise erschöpft, sowie die neuen Aufgaben, die sich dem Denken aufgrund seiner Ressourcen aufzwingen. Ist aber dieses Denken unserer Epoche und deren Mandat gewachsen? Lässt dieses Denken der philosophischen Tradition Gerechtigkeit widerfahren? Inwieweit wird man zu neuen „Gegenden“ des Denkens gebracht, inwieweit begegnet man neuen und alten Paradoxien? Im Folgenden wird die These des Endes der Philosophie bei Heidegger in den Fokus gestellt und es wird versucht, sie im Kontext seiner eigenen Diskussionen auszulegen, damit sich der paradoxe Charakter seines Denkens, als Fortsetzung der paradoxen Resultate der Phänomenologie, entblößt. Heidegger präsentiert seine These im Aufsatz Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens799 und stellt zwei zentrale Fragen: „1. Inwiefern ist die Philosophie im gegenwärtigen Zeitalter in ihr Ende eingegangen?“ und „2. Welche Aufgabe bleibt dem Denken am Ende der Philosophie vorbehalten?“800 Diese Fragen sind offensichtlich die Umformulierung von zwei Behauptungen: a) dass die Philosophie in unserem Zeitalter endet und b) dass sich damit auch eine neue Aufgabe des Denkens profiliert. Was bedeutet aber Metaphysik, was unser Zeitalter? Heidegger stellt fest: „Philosophie ist Metaphysik“.801 Philosophie und Metaphysik enden zusammen. Aus der Tatsache, dass sich die Philosophie letztendlich als Metaphysik enthüllt, folgt, dass die Philosophie nur noch Metaphysik war und sein kann. Das Verständnis der Metaphysik bleibt für Heidegger vor allem aristotelisch802, als Frage nach dem Sein des Seienden, also als „Wissenschaft vom Seienden qua Seiendes“: Die Philosophie ist dementsprechend Ontologie.803 Grund bedeutet in diesem Sinne die ousía, wovon alles 799 800 801 802

803

(Heidegger und Hermann). (Ebenda, S. 38). (Ebenda, S. 69). Klaus Held merkt an: „Ob oder inwieweit die Möglichkeiten der Philosophie erschöpft sind, hängt von dem Anspruch ab, unter den sie gestellt ist. Die maßgebende Entscheidung über diesen Anspruch fiel nach Heidegger im Philosophieverständnis des Aristoteles. Seit seinem Anfang erhob das philosophischwissenschaftliche Denken den Anspruch auf Erkenntnis des Ganzen schlechthin. Dieses Ganze wurde von Aristoteles verstanden als ‚das Seiende‘ -betrachtet unter dem Gesichtspunkt des Seins. Diese Bestimmung des Gegenstandes der Philosophie in ihrem zentralen und grundlegenden Fragebereich („Metaphysik“) ergab sich nach Heidegger aus dem ursprünglichen Wahrheitsanspruch der philosophischen Erkenntnis. Dieser zielte kämpferisch auf Überwindung der Unwahrheit und läßt sich daher nur in Abgrenzung gegen sie bestimmen“ (Held, 1980, S. 536). Aristoteles: „ἔστιν ἐπιστήμη τις ἣ θεωρεῖ τὸ ὂν ᾗ ὂν καὶ τὰ τούτῳ ὑπάρχοντα καθ᾽ αὑτό. αὕτη δ᾽ ἐστὶν οὐδεμιᾷ τῶν ἐν μέρει λεγομένων ἡ αὐτή∙ οὐδεμία γὰρ τῶν ἄλλων ἐπισκοπεῖ καθόλου περὶ τοῦ ὄντος ᾗ ὄν […] ἐπεὶ δὲ τὰς ἀρχὰς καὶ τὰς ἀκροτάτας αἰτίας ζητοῦμεν, δῆλον ὡς φύσεώς τινος αὐτὰς ἀναγκαῖον εἶναι καθ᾽ αὑτήν. εἰ οὖν καὶ οἱ τὰ στοιχεῖα τῶν ὄντων ζητοῦντες ταύτας τὰς ἀρχὰς ἐζήτουν, ἀνάγκη καὶ τὰ [30] στοιχεῖα τοῦ ὄντος εἶναι μὴ κατὰ συμβεβηκὸς ἀλλ᾽ ᾗ ὄν: διὸ καὶ ἡμῖν τοῦ ὄντος ᾗ ὂν τὰς πρώτας αἰτίας ληπτέον”; auf Deutsch: „Es gibt eine Wissenschaft, welche das Seiende als Seiendes untersucht und das demselben an sich Zukommende. Diese Wissenschaft ist mit keiner der einzelnen Wissenschaften identisch; denn keine der übrigen Wissenschaften handelt allgemein vom Seienden als Seiendem […] Indem wir nun die Prinzipien und

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Coda: Ende der Phänomenologie oder Ontologisierung

andere abhängt und sich prädizieren lässt.804 Weiter gibt es nur eine ousia, so dass der Anfang nur singulär sein kann.805 Diese erste Wissenschaft (Prima Philosophia) schafft einen Zugang zum Wesen (ousía); die Logik ist aber der Zugang zur Wissenschaft, wobei sich eine Theorie der Prädikation (der Verbindung von Subjekt und Prädikat, wo Logik und Grammatik ihre Nähe zeigen) aufzwingt.806 Die Logik als das Verfahren für die richtige Folgerung beim Urteilen macht den einzigen Weg aus, mit dessen Hilfe eine erste Wissenschaft durchgeführt werden kann. Logik und Metaphysik sind untrennbar miteinander verbunden. Der hierarchische Unterschied von Grund und Begründetem spiegelt sich im grammatischen Unterschied von Subjekt und Prädikat wider. Letztendlich darf bei Aristoteles ousía nur das genannt werden, wovon alles andere prädiziert werden kann. Das Subjekt ist der letzte Träger aller bestimmenden Modifikationen. Neben einem später formulierten Satz des zureichenden Grundes, der die ultimative ousia sein soll, konstituieren die Negation und daher die Gegensätze die fundamentalen Regeln der Logik. A=A (Identität), A und Nicht-A schließen sich gegenseitig aus [Satz vom Widerspruch: ~(A ˄ ~A)] und die Nicht-Existenz eines Dritten außer A und Nicht-A [Satz vom ausgeschlossenen Dritten oder tertium non datur: (A v ~A)]: Das sind die grundlegenden Regeln dieser Logik. Dies ist die Basis für die Konstruktion aller Gegensätze der Metaphysik: wahr-falsch, SeinNichts und Subjekt-Objekt. Hierarchie (Grund) und absolute Negation (Gegensatz) herrschen in dieser Logik. Daher ist es von höchster Bedeutung für Heidegger, die Sprache und Logik der Metaphysik zu destruieren. Soweit das Wesen als ousía verstanden wird, ist die Metaphysik ein Denken des Seins als Anwesenheit, nämlich als etwas Bestehendes und Konstantes.

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die höchsten Ursachen einer gewissen Natur, ist offenbar, daß diese notwendig Ursachen einer gewissen Natur an sich sein müssen. Wenn also auch diejenigen, welche die Elemente des Seienden suchten, diese Prinzipien suchten, so müssen dies auch die Elemente des Seienden sein nicht in akzidentellem Sinne, sondern insofern es ist. Daher müssen auch wir die ersten Ursachen des Seienden als Seienden erfassen“ Aristoteles, Metaphysik 1003α 20-30: (Aristoteles, 1989, S. 122-3). Aristoteles: „πανταχοῦ δὲ κυρίως τοῦ πρώτου ἡ ἐπιστήμη, καὶ ἐξ οὗ τὰ ἄλλα ἤρτηται, καὶ δι᾽ ὃ λέγονται. εἰ οὖν τοῦτ᾽ ἐστὶν ἡ οὐσία, τῶν οὐσιῶν ἂν δέοι τὰς ἀρχὰς καὶ τὰς αἰτίας ἔχειν τὸν φιλόσοφον“; auf Deutsch: „Überall geht aber die Wissenschaft vornehmlich und zunächst auf das Erste, von dem das übrige abhängt und wonach es benannt ist. Ist dies nun das Wesen (Substanz), so muß der Philosoph die Prinzipien und Ursachen der Wesen (erfaßt) haben“ Aristoteles, Metaphysik 1003b 15-19 (Ebenda, S. 124-5). Aristoteles: „εἰ δὴ τὸ ὂν καὶ τὸ ἓν ταὐτὸν καὶ μία φύσις τῷ ἀκολουθεῖν ἀλλήλοις ὥσπερ ἀρχὴ καὶ αἴτιον, ἀλλ᾽ οὐχ ὡς ἑνὶ λόγῳ δηλούμενα […] οὐδὲν ἕτερον τὸ ἓν παρὰ τὸ ὄν. ἔτι δ᾽ ἡ ἑκάστου οὐσία ἕν ἐστιν οὐ κατὰ συμβεβηκός, ὁμοίως δὲ καὶ ὅπερ ὄν τι – ὥσθ᾽ ὅσα περ τοῦ ἑνὸς εἴδη, τοσαῦτα καὶ τοῦ ὄντος ἐστιν∙ περὶ ὧν τὸ τί ἐστι τῆς αὐτῆς ἐπιστήμης τῷ γένει θεωρῆσαι, λέγω δ᾽ οἷον περὶ ταὐτοῦ καὶ ὁμοίου καὶ τῶν ἄλλων τῶν τοιούτων. σχεδὸν δὲ πάντα ἀνάγεται τἀναντία εἰς τὴν ἀρχὴν ταύτην∙“ auf Deutsch: „Nun sind das Eine und das Seiende identisch und eine Natur, indem sie einander folgen wie Prinzip und Ursache, nicht insofern als sie durch einen Begriff bestimmt würden […] das Eine ist nicht etwas Verschiedenes außer dem Seienden. Auch ist jedes Wesen eines, nicht bloß in akzidentiellem Sinne, und ebenso ist es seiend an sich. So viel es also Arten des einen gibt, so viel gibt es auch Arten des Seienden, deren Was zu untersuchen die Aufgabe einer der Gattung nach einzigen Wissenschaft ist, ich meine z. B. die Untersuchungen über das Identische, das Ähnliche und anderes dergleichen und das ihnen Entgegensetzte. So gut wie alle Gegensätze aber werden auf dies Prinzip zurückgeführt“ Metaphysik 1003b 22-24 und 31-35 sowie 1004a 1: (Ebenda, 124-7). Aristoteles: „Wie nemlich die Wissenschaft ein dem Geiste wesentliches Werkzeug ist, ohne welches das Denken sich nicht offenbaren kann, eben so ist die Logik das notwendige Werkzeug der Wissenschaft“ In: (Biese, 1978, S. 45).

Was bedeutet Ende im Hinblick auf die Philosophie?

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Die Philosophie hat aber auch einen historischen Anfang. Beim Anfang der Philosophie kreuzen sich das Historische und das Ontologische, denn das Denken fragt nach dem Sein, aber vom Sein selbst ausgehend und nicht aus einer vermutlich äußeren Perspektive. Dies macht die zirkuläre Form jeder ontologischen Befragung aus. Die Philosophie hat, Heidegger folgend, ihren historischen Anfang in Griechenland. Diese Behauptung ergibt sich nicht nur historisch, sondern auch ontologisch daraus, dass der philosophische Wortschatz und die Grammatik griechischer Herkunft sind. Herkunft meint für Heidegger her-kommen im Sinne von Richtung und Schicksal — was Heidegger Ge-schick nennt —, so dass wir, sofern wir Epigonen der Philosophie sind, im Schatten der Griechen stehen. Anders gesagt: Wir bekommen bei Heidegger den Weg und die Richtung unseres Denkens von den Griechen und in diesem Sinne, sagt er, sind wir geschichtlich „unterwegs“. Heidegger hinterfragt das Wesen der Philosophie als das Stellen einer Frage nach dem Sein des Seienden, nach einem „Was“. Die Philosophie habe, sagt er, lediglich diese Frage gestellt: „Was ist...?“ Was ist „das“ oder „dies“, das „Wahre“, das „Unendliche“ usw.? Aber diese Frage ist nicht, sagt er, ursprünglich genug. Die Philosophie kommt gewissermaßen zu „spät“, sie ist bereits ein Wort vom Abend-land und daher vom Untergang. Das „frühe Wort“ ist dagegen nur noch bei den Präsokratikern zu finden. Älter als die Philosophie, lässt sich bei den Präsokratikern jener Übergang zur Philosophie verdeutlichen. Diese These steht Nietzsches Diktum über die Geburt der Tragödie nah, dass die Philosophie eine negative Reaktion auf eine andere Wahrheit ist. Diese andere Wahrheit, verankert in der Tragödie (Nietzsche) oder der poetischen Rede (Heidegger), erfährt ihren Untergang durch die Philosophie. Das frühe Denken interpretiert Heidegger am Leitfaden von Anaximanders Λόγος als Versammlung einer Ganzheit, die des Seienden: „Demnach sagt τὀ ςοφόν dieses: Ἕν Πάντα, »Eines (ist) Alles«. »Alles«, das meint hier: Πάντα τὰ ớντα, das Ganze, das All des Seienden. Ἕν, das Eins meint: das Eine, Einzige, alles Einigende. […]“807 Diese Ganzheit des Seienden ist im Sein zu verorten: „Einig aber ist alles Seiende im Sein“, d.h.: „Alles Seiende ist im Sein“; das Verb „ist“ wirkt hier „transitiv und besagt soviel wie »versammelt«. Das Sein versammelt das Seiende darin, daß es Seiendes ist. Das Sein ist die Versammlung - Λόγος“. 808 Wie fängt nun die Philosophie für Heidegger an? Wenn die Frage nach dem Sein als dem versammelnden Λόγος zu dieser wird: „Was ist das Seiende, insofern es ist?“; nur erst wird das „ Denken […] zur »Philosophie«“.809 Während Heraklit und Parmenides „noch im Einklang standen mit dem lógos“, wurde der „Schritt zur »Philosophie«, vorbereitet durch die Sophistik, [...] zuerst von Sokrates und Platon vollzogen“; es ist allerdings Aristoteles, der „fast zwei Jahrhunderte nach Heraklit diesen Schritt durch folgenden Satz [kennzeichnete]: [...] (Met. Z 1, 1028 b 2 sqq): »Und so ist denn einstmals schon und auch jetzt und immerfort dasjenige, wohin (die Philosophie) sich auf den Weg begibt und wohin sie immer wieder den 807 808 809

(Heidegger, 2006, S. 14). (Ebenda, S. 14). (Ebenda, S. 15).

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Coda: Ende der Phänomenologie oder Ontologisierung

Zugang nicht findet (das Gefragte dieses): Was ist das Seiende? (τí τὀ ớν).«“810 Daher: „Was ist die Ganzheit des Seienden als Sein“ ist die „anfängliche Frage“ der Philosophie. Aber die Frage danach, „was ist“, impliziert bereits eine Antwort: Das Sein wird als Seiendes, also als Anwesendes interpretiert. Aristoteles antwortet auf die metaphysische Frage durch eine Suche nach dem αρχή im Sinne von πρῶται ἀρχαὶ καὶ αἰτίαι […] was man übersetzt als: »die ersten Gründe und Ursachen« - nämlich des Seienden. Die ersten Gründe und Ursachen machen so das Sein des Seienden aus. Es wäre nach zweieinhalb Jahrtausenden an der Zeit, darüber nachzudenken, was denn das Sein des Seienden mit so etwas wie »Grund« und »Ursache« zu schaffen hat.811

Die Variationen innerhalb der Philosophie sind kein Einwand gegen diese Definition von Metaphysik bzw. Philosophie, ganz im Gegenteil, so dass „die Philosophie von Aristoteles bis Nietzsche gerade auf dem Grunde dieser Wandlungen und durch sie hindurch dieselbe bleibt. Denn die Verwandlungen sind die Bürgschaft für die Verwandtschaft im Selben“.812 Von Aristoteles bis Nietzsche. Diese Zeitspanne wird sich noch erweitern: Von Platon bis Husserl, eben weil in der Geschichte der Letzte immer der Vorletzte ist. Die Philosophie ist immer dieselbe durch ihre ganzen Variationen, „wie auch immer das Seiende ausgelegt werden mag, ob als Geist im Sinne des Spiritualismus, ob als Stoff und Kraft im Sinne des Materialismus, ob als Werden und Leben, ob als Vorstellung, ob als Wille, ob als Substanz, ob als Subjekt, ob als Energeia, ob als ewige Wiederkehr des Gleichen[…]“813, aber entscheidend ist die Tatsache, dass sie sich in unserem Zeitalter vollendet. Der Anfang ist griechisch, aber der entscheidende Zug der heutigen Philosophie lässt sich konkret in der Neuzeit erkennen. Auf die Frage nun, worauf „beruht das τέλος, die Vollendung der neuzeitlichen Philosophie“, ob „dieses Ende durch eine andere Stimmung bestimmt“ ist, oder „wo […] wir die Vollendung der neuzeitlichen Philosophie“ suchen müssen, ob „bei Hegel oder erst in der Spätphilosophie Schellings […]“, bei Marx oder Nietzsche, sind für Heidegger nicht rein historische, sondern wesentliche Fragen zugleich — achten wir auf die Differenz Wesensfragen/Tatsachenfragen, welche Husserl bereits in den Logischen Untersuchungen definierte814 —, wo über das „künftige Wesen der Philosophie“ räsoniert wird.815 Die „Stimmung“ aber des heutigen Denkens ist alles andere als einheitlich: „Zweifel und Verzweiflung auf der einen, blinden Besessenheit von ungeprüften Prinzipien auf der anderen Seite stehen gegeneinander. Furcht und Angst mischen sich mit Hoffnung und Zuversicht“.816 Erinnern wir hier auch an Husserls Kritik an den Wissenschaften, weil sie nicht im Besitz

810 811 812 813 814 815 816

(Ebenda, S. 15). (Ebenda, S. 16). (Ebenda, S. 16). (Heidegger und Carossa, 1998, S. 7-8). (Husserl, 1968c, S. 60). (Heidegger, 2006, S. 24). (Ebenda, S. 24).

Was bedeutet Ende im Hinblick auf die Philosophie?

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geprüfter Prinzipien waren. Heidegger bleibt also ein Phänomenologe, sofern er dem Prinzip, die Erfahrung zu begründen, folgt. Was unterscheidet also die Philosophie vom alten „frühen Denken“ der Präsokratiker? Die Philosophie ist nicht originär, sie findet ihren eigenen Grund woanders, so Heidegger. Sie gibt nicht den Grund, sondern sie ist selbst begründet. Heidegger rekurriert auf das Bild des Baumes und fragt: „In welchem Boden finden die Wurzeln des Baumes der Philosophie ihren Halt?“; denn, weil die Metaphysik „das Seiende als das Seiende befragt, bleibt sie beim Seienden und kehrt sich nicht an das Sein als Sein“; daran anschließend sagt Heidegger: „Die Wahrheit des Seins kann deshalb der Grund heißen, in dem die Metaphysik als Wurzel des Baumes der Philosophie gehalten, aus dem sie genährt wird“, wobei das Sein „in einer Unverborgenheit (aletheia)“817 ankommt. Dies zeigt den transzendentalen Hintergrund, vor dem Heideggers Denken zu verstehen ist. Aber was ist diese originäre Versammlung, von der Heidegger spricht? Heißt Versammlung nicht Syn-these? Ist die phänomenologische Auffassung des Mannigfaltigen nicht eben die Versammlung in der transzendentalen Subjektivität? Nun ist aber nicht das Subjekt, sondern das Sein der „Ort“ der Versammlung. Dieses Sein soll nicht im Sinne von Substanz interpretiert werden, woraus sich eine Naturphilosophie ergäbe. Wir sind weit entfernt von Spinozas deus sive natura. Dieses Sein ist eine Subjektivität vor der Subjektivität. Diese merkwürdige Verdoppelung des Subjektiven zeigte sich in Husserls Zeitanalysen. Nicht umsonst verbindet Heidegger Sein und Zeit. Die subjektive Versammlung des Seienden in der Phänomenologie muss zum einen ontologisch interpretiert werden. Aber das versammelnde Sein muss zum anderen das wesentliche Merkmal der Subjektivität behalten: ihren zeitlichen Charakter. Heidegger rekonstruiert nun aber diese phänomenologische Analyse in der Geschichte der Philosophie selbst. Wie bereits erwähnt, hat Eugen Fink diesen Zusammenhang erkannt: „Kants Theorie der Zeit als Form des inneren Sinnes: dieser apriorische Subjektivismus [gilt] als Wurzel von Historismus und Lebensphilosophie und temporalistischer Ontologie (Heidegger)“.818 Man erkennt in Heideggers Text Kant und das Problem der Metaphysik819 den Versuch, eine fundamentale Verwandtschaft zwischen a) Subjektivität und Zeit und b) Zeit und Einbildungskraft zu beweisen. Heidegger bringt zunächst reine Anschauung und Einbildungskraft zusammen: „Wenn überhaupt, dann ist die Begründung der Universalität der Zeit als reiner Anschauung nur dadurch möglich, daß, obzwar Raum und Zeit als reine Anschauungen beide ‚zum Subjekt’ gehören, die Zeit dem Subjekt ursprünglicher einwohnt als der Raum“.820 Denn die Zeit ist nicht nur eine Form der Sinnlichkeit, sondern sie ist „ontologisch universaler, wenn die Subjektivität des Subjektes in der Offenheit für das Seiende besteht [...]“, d.h., zeitlich bietet sich das Seiende selbst an. Heidegger interpretiert Kants Kritik der reinen Vernunft als Grundlegung der Metaphysik überhaupt und behauptet, dass Kant der 817 818 819 820

(Heidegger und Carossa, 1998, S. 7-8). (Fink und Bruzina, 2006b, S. Z-XII 36a- 38d S.201-2). (Heidegger, 1991). (Ebenda, S. 50-1).

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Coda: Ende der Phänomenologie oder Ontologisierung

Zeit eine ontologische Funktion zuweise: „Die ‚transzendentale Ästhetik’ hat zur Aufgabe, die ontologische αἴσθησις herauszustellen, die ermöglicht, das Sein des Seienden ‚apriori zu entdecken’“.821 Die Zeit ist reine Anschauung. Heidegger versucht in dieser Arbeit über Kant die Einbildungskraft als gemeinsame Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand auszulegen. Zunächst einmal will er: „Die transzendentale Einbildungskraft [...] als der Ursprung der reinen sinnlichen Anschauung“ festlegen822, was auch damit zusammenhängt, dass „die Zeit als eine reine Anschauung der transzendentalen Einbildungskraft entspringt“.823 Die Zeit wurde also als die ursprünglichste Ebene der Subjektivität etabliert. Nun muss man die Einbildungskraft und die Zeit zusammenbringen. Nun kommt es darauf an, diese Anschauung als Selbstanschauung zu interpretieren. Die Zeit, sagt Heidegger Kant folgend, „fließt beständig“, sie ist „ungegenständlich“, aber das „Anschauen heißt Hinnehmen des Sichgebenden“, d.h.: „Reine Anschauung gibt sich selbst im Hinnehmen das Hinnehmbare“.824 Diese Anschauung nimmt kein Objekt wahr, vielmehr geht es um „die Jetztfolge als eine solche und den in ihr sich bildenden Horizont“, wo der Blick sich nicht nur auf die Gegenwart richtet (anblicken), weil er zugleich Vorwärts- und Zurückblicken ist.825 Diesen dreifachen Charakter der Einbildungskraft erkennt Heidegger bei Kant anhand dreier Begriffe: „facultas formandi” (Vorstellung der gegenwärtigen Zeit), „facultas imaginandi“ (Nachbildung) und „facultas praevidendi“ (Vorstellung der zukünftigen Zeit)826. Weiter legt Heidegger das Abbilden im Sinne von Gebung aus und schlussfolgert: „Die Zeit als reine Anschauung ist in einem das bildende Anschauen seines Angeschauten. Dies erst gibt den vollen Begriff der Zeit.“827 Diese ontologische Interpretation der Zeit steht Husserls Begriff der absoluten Subjektivität, welche er in Bezug auf seine Zeitanalysen entwarf, besonders nah. Aber wie gesagt muss Heidegger diese Subjektivität im zeitlichen Sinne radikalisieren, so dass sie nicht mehr „objektivierend“ ist. Die Befreiung des Objektivismus will aber Heidegger nicht phänomenologisch, sondern historisch-hermeneutisch durchführen. Nicht mehr das reflektierende Bewusstsein, sondern das historische Nachdenken ist hier die entscheidende Figur. Aus diesem Grund muss Heidegger nicht die Subjektivität analysieren, sondern sie offenlegen, also sichtbar machen. Seine Aufgabe ist phänomenologisch erklärbar: Es geht um das Freilegen des Ur-Phänomens, das Offen-baren der ursprünglichen, vorobjektiven und vorsubjektiven Subjektivität. Dieses Ur-Phänomen soll dann historisch-ontologisch erschlossen werden. Das bedeutet, dass das Freilegen, wie die Phänomenologie selbst, einen Rückblick erfordert. Statt einer phänomenologischen Reduktion benötigt man aber eine hermeneutische Reduktion der Geschichte der Philosophie, d.h. eine Destruktion dieser 821 822 823 824 825 826 827

(Ebenda, S. 50-1). (Ebenda, S. 173). (Ebenda, S. 173). (Ebenda, S. 173). (Ebenda, S. 174). (Ebenda, S. 174-5). (Ebenda, S. 175).

Die Destruktion der Philosophie und eine neue Prima Philosophia

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Geschichte, und damit eine neue Entdeckung jener Möglichkeiten, die der Philosophie zugrunde liegen und diese auch überschreiten. Da sich aber diese Geschichte vor allem in der Sprache niederschlug, bedeutet diese Destruktion eine Auseinandersetzung mit der Sprache der Philosophie. Ontologie, Sprachphilosophie und Geschichtsphilosophie gehören zusammen.

6.2 Die Destruktion der Philosophie und eine neue Prima Philosophia Als Vorbereitung für die Auslegung des Seins auf eine ursprünglichere Weise als die Philosophie verlangt Heidegger, wie gesagt, eine Destruktion der Geschichte der Metaphysik. Diese Destruktion soll im modifiziert phänomenologischen Sinne verstanden werden und zwar als eine gewisse Reduktion des bloß Historischen und Empirischen mit Hinblick auf das UrWesen des Phänomens — d.h. auf das sich Enthüllende oder auf die Wahrheit, als aletheia, als Un-verborgenheit verstanden. Dieser Weg, sagt Heidegger, […] ist kein Bruch mit der Geschichte, keine Verleugnung der Geschichte, sondern eine Aneignung und Verwandlung des Überlieferten. Solche Aneignung der Geschichte ist mit dem Titel »Destruktion« gemeint […] Destruktion bedeutet nicht Zerstören, sondern Abbauen, Abtragen und Auf-die-Seite-stellen - nämlich die nur historischen Aussagen über die Geschichte der Philosophie. Destruktion heißt: unser Ohr öffnen, freimachen für das, was sich uns in der Überlieferung als Sein des Seienden zuspricht.828

Die Destruktion der Ge-schichte ist der Abbau deren Schichten, der Weg vom Konstituierten und daher Fertigen zum ursprünglich Konstituierenden. Der Horizont ist aber nicht mehr das Bewusstsein im Element des Wissens, sondern die Geschichte des Seins, welche sich ausgezeichnet in der Sprache zeigt. Nur die Sprache bietet eine „Ent-Subjektivierung“ und mithin eine Ent-Objektivierung der Frage nach dem Sein des Seienden. Denken im ursprünglichen Sinne wäre dann, der Frage nach dem Sein zu ent-sprechen. Heidegger betont: „Dieses Ent-sprechen ist ein Sprechen. Es steht im Dienst der Sprache“; und diese Dimension besitzt nur die griechische Erfahrung der Sprache, denn „den Griechen offenbart sich das Wesen der Sprache als der lógos“.829 „Im Dienste der Sprache“: Dieser Satz zeugt endlich von der notwendigen Abkehr von der üblichen Auffassung der Sprache als Werkzeug, damit ein nicht anthropologisches und anthropozentrisches Denken auftauchen kann. Im Dienste der Sprache sind nun Philosophie und Poesie zugleich zu erwähnen: „Zwischen beiden, Denken und Dichten, waltet eine verborgene Verwandtschaft, weil beide sich im Dienst der Sprache für die Sprache verwenden und verschwenden“.830 D.h., nur zwischen Philosophie und Poesie lässt sich ein Jenseits der Metaphysik erkunden. Selbst wenn Heidegger davon überzeugt ist, die Philosophie sei im Wesentlichen nur eine, und dass sie sich ursprünglich exklusiv durch die Frage nach dem „was ist“ kennzeichne, entspricht ihr eine Geschichte als eine progressive Vergessenheit. 828 829 830

(Heidegger, 2006, S. 20). (Ebenda, S. 25). (Ebenda, S. 26).

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Coda: Ende der Phänomenologie oder Ontologisierung

Die neuzeitliche Philosophie vollendet die Letztere in der Form der Wissenschaft. Und weil die Philosophie eben darin besteht, die „frühe“ Frage der Präsokratiker vergessen zu haben, so muss die ganze Geschichte der Philosophie als die einer Vergessenheit ausgelegt werden. Die Philosophie wird unzulänglich geboren, d.h., sie hat von Anfang an den Anspruch, die Gründe des Seins zu legen, sie ist aber selbst begründet. Sie beansprucht Ursprünglichkeit und entdeckt, am Ende ihrer Geschichte, dass sie ihren eigenen Ursprung nicht in sich selbst hat. Die Philosophie beabsichtigte, den perfekten Kreis zu vollziehen, sich selbst zu begründen. Am Ende, und nur am Ende, erscheint dieser Kreis als jener Stamm, dessen Wurzeln in den Grund wachsen. Am Ende wird kein Ende erreicht, darin liegt das Paradoxe. Es ist aber die Philosophie, welche die Frage nach dem Ursprung alles Seienden nicht nur explizit formuliert, sondern auch am tiefgründigsten behandelt hat. Die Destruktion impliziert eine philosophische Frage, nun aber gegen die Philosophie gerichtet. Man darf sich dementsprechend fragen: Ist die Destruktion der Geschichte der Philosophie wirklich eine Vertiefung in die Gründe oder eben doch die Erweiterung des philosophischen Selbstgesprächs? Wird der Kreis der Philosophie wirklich durchbrochen? Bewegt man sich in einem breiteren Kreis oder sieht man sich einem unerforschlichen Grund gegenüber, für den nicht nur die Philosophie, sondern auch das Denken unzureichend wäre? Die neuzeitliche Philosophie koinzidiert bekanntlich mit der Krönung der Wissenschaft im subjektiven Element der Evidenz als Gewissheit. Wissenschaft im modernen Sinne bedeutet, die Auslegung des Seins des Seienden als bewusstes Wissen zu interpretieren. Wissenschaft und Vergessenheit, Wissenschaft und Vollendung, Wissenschaft und Ende der Philosophie hängen zusammen. Heidegger weist auf den Anfang, diesen zweiten Anfang der Philosophie, des neuzeitlichen Denkens hin: Descartes fragt in seinen Meditationen nicht nur und nicht zuerst τί τὸ ὂν - was ist das Seiende, insofern es ist? Descartes fragt: welches ist dasjenige Seiende, das im Sinne des ens certum das wahrhaft Seiende ist? […] Die certitudo wird zu jener Festmachung des ens qua ens, die sich aus der Unbezweifelbarkeit des cogito (ergo) sum für das ego des Menschen ergibt. Dadurch wird das ego zum ausgezeichneten sub-iectum, und so tritt das Wesen des Menschen zum ersten Male in den Bereich der Subjektivität im Sinne der Egoität. [...] Die Stimmung der Zuversicht in die jederzeit erreichbare absolute Gewißheit der Erkenntnis bleibt das πάθος ἀρχή und somit die arché der neuzeitlichen Philosophie.831

Einerseits die Berufung auf Platon und Aristoteles, anderseits deren Vollendung beim neuzeitlichen, wissenschaftlich ausgerichteten Subjektivismus machen das heutige Zeitalter aus. Das „Wesen der Wissenschaft“ ändert sich nicht. Mutatis muntandis ist der Bezug auf Descartes ein indirekter Bezug auf Husserl, der die letzte systematische Darstellung seiner Phänomenologie als „strenge Wissenschaft“ „Cartesianische Meditationen“832 nannte. Eine „Rettung“ der Philosophie bzw. der Versuch, einen „Ausweg“ bei den Wissenschaften zu

831 832

(Ebenda, S. 23-4). (Husserl, 1992a).

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suchen — wie es der Fall bei Husserl ist, besonders in der Krisisschrift833 —, würde dann lediglich zu einer Vertiefung in die Metaphysik führen, so Heidegger. Wie zeigt sich also unser Zeitalter als Zeitalter des Endes der Philosophie? Heidegger antwortet: Es „zeigt sich als der Triumph der steuerbaren Einrichtung einer wissenschaftlich-technischen Welt […] [als die] vollständige Verwirklichung aller (ihrer) Möglichkeiten“.834 Das bedeutet, die Philosophie ist erschöpft, weil sie ihre ganze Potentialität bereits verwirklicht hat und zwar in der Form einer von der Wissenschaft beherrschten Welt, also in der Form des bewussten Wissens, oder als „Anwesenheit“ für dieses Bewusstsein. Die Wissenschaften sind in diesem Sinne keine Abkehr, kein Verrat oder Misslingen der Philosophie, sondern deren strikte Folge und Verwirklichung. Man kann deswegen Husserls Ansatz in der Krisisschrift835 schwerlich als Gegenpol ignorieren, für den die Wissenschaften sich eben auf die Suche nach der vergessenen Lebenswelt, ihrem wahren Boden, machen müssen, um als Wissenschaften gerettet zu werden. Dies impliziert, dass die Wissenschaften durch diese Rückkehr zum vergessenen Boden der Erfahrung ihren Sinn wieder bekommen müssten. Mit anderen Worten: Das heutige Wissen ist für Husserl noch nicht reine Anwesenheit für das Bewusstsein, d.h. Evidenz, oder für das erlebende Bewusstsein reine Erfahrung, sondern eben ein Zeichen von Vergessenheit und Unvollständigkeit, welche die verlorene Präsenz in jener Lebenswelt wieder sucht. Diese Lebenswelt präsentiert sich bei Husserl nicht als ein Anderes der Wissenschaft, sondern als echte Wissenschaft und zwar als deren Ursprung. Husserls Analysen des Bewusstseins und der in ihm stattfindenden Evidenz als letzter Grund der Erfahrung hatten sich bereits zum Zeitpunkt der Niederschrift der Krisisschrift — dank der Zeit- und Intersubjektivitätsanalysen — auf die Geschichte ausgeweitet. Die Geschichte heißt aber die Geschichte der Wissenschaften, und die Vertiefung in die Ursprünge sollte zu einer Selbst-Konstitution des wissenschaftlichen Denkens führen, nur aber auf den wahren, ursprünglichen Boden zurückgestellt. Dafür beruft sich Husserl auf den Ursprung der Geometrie bei Euklid, dem ersten Wissenschaftler, der sein Wissen durch reine Prinzipien — d.h. durch rein logische und nicht empirisch-psychologische Gedanken — begründen wollte. Euklid gilt als einer der Begründer nicht nur der griechischen Mathematik, sondern der Mathematik überhaupt, durch Axiome für die Konstruktion (und Analyse der apriorischen Eigenschaften) geometrischer Figuren (vom Punkt bis zu Rauminhalten) und Zahlenreihen, was u.a. das Postulat der Parallelen, das bis ins XIX. Jhr. herrschte, beinhaltet. Heidegger kritisiert den Begriff Evidenz aufgrund seiner Unzureichendheit, nicht weil er falsch wäre. Die Frage nach dem Sein soll den phänomenologischen Gestus nur noch radikalisieren und diesen nicht bloß widerlegen. Der heideggersche Grund und die husserlsche Erfahrung weisen auf eine erste und transzendentale Quelle des Seienden hin. Heidegger aber stoppt nicht 833 834 835

(Ebenda, S. 58). (Heidegger und Hermann, 2007, S. 73). (Husserl, van Breda und Ijsseling, 1976).

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Coda: Ende der Phänomenologie oder Ontologisierung

mit dem Subjekt, wie Husserl, sondern er reduziert dieses Subjekt auch im Dienste einer vorsubjektiven Quelle. Kann man in dieser Hinsicht Husserl und Heidegger in Bezug auf das griechische Denken zusammen denken? Sowohl bei Husserl als auch bei Heidegger ist kaum von einem besonderen Präsokratiker, älter als Heraklit und Parmenides, die Rede: Pythagoras, wo arithmoi und logos, also Zahl und Begriff — in weitem Sinne — nicht voneinander zu trennen sind. Darauf wird an anderer Stelle noch eingegangen. Vorerst genügt der Hinweis darauf, dass im alten griechischen Denken gramma, arithmoi und logos verbunden sind. Es gibt sozusagen eine Mathematik vor der Mathematik, welche immer noch in der heutigen Mathematik waltet und für einen Dialog mit der Philosophie bereit ist. Zurück zu unserem Problem: Heidegger intendiert, noch ursprünglicher als die Wissenschaft zu sein. Für Heidegger bringt eine Vertiefung in die Wissenschaft mit wissenschaftlichen Mitteln eine noch größere Vergessenheit mit sich. Die Unvollständigkeit der Wissenschaften ist nur Zeichen der Unmöglichkeit, von ihnen aus die ultimative Präsenz zu erreichen. Trotzdem findet sich bei Heidegger und Husserl die Sehnsucht nach jener transzendentalen Heimat (wie Hölderlin sich in Hyperion ausdrückt), nach dem alten Griechenland. Die Rückkehr zum Anfang, zur Quelle des Sinns und des Seins, wehrt sich dagegen, dieses idealisierte Land zu verlassen. Sonst hätte diese Kehre den Blick auf etwas anderes richten können, und zwar auf jene Zeit vor der Entstehung Griechenlands (auf Ägypten, auf Babylonien, z.B.) und, „horizontal“ gedacht, auf die Zeitgenossen der Griechen (Perser, z.B.). Warum sollten die Geschichte und die Wissenschaft einen einzigen Anfang, historisch und „ontologisch“ oder „vor-ontologisch“ haben? Die Geste ist bei beiden Denkern phänomenologisch, sofern sich die Suche nach Ursprünglichkeit als Grundsatz jeder ultimativen und radikalen Befragung etabliert. Das Verhältnis zur Geschichte erfolgt hier nicht durch präzise Anhaltspunkte oder Epochen, sondern durch eine zeitliche Struktur, wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich verflechten. Die Gegenwart wird hier durch die anderen Zeiten vermittelt. Die Vergangenheit ist in diesem Sinne sowohl die synthetische Aufbewahrung des Geschehenen als auch das Vergessene, jedoch Behaltene — es sei hier an das Zeitparadoxon von Augustinus bei den Bekenntnissen erinnert: Wenn ich weiß, dass ich etwas vergessen habe, dann habe ich es nicht ganz vergessen — die Gegenwart zählt sowohl als Quellpunkt als auch als der Ort des Konstituierten, während die Zukunft, auch doppelseitig, zum einen eine Antizipation impliziert, zum anderen die neuen Möglichkeiten des Kommenden in sich birgt. Auf eine letzte Quelle wird allerdings nicht verzichtet, denn diese Suche konstituiert das phänomenologische Unternehmen schlechthin als systematische Reduktion des Gegebenen bzw. des Konstituierten mit Hinblick auf das geschichtlich Konstituierende. Man erkennt die Spannung zwischen einer „Dialektik der Zeit“ — der Verflechtung von Zeiten — und einem vermutlichen „Ursprung“, welcher Rückkehr und Erinnerung verlangt, daher kann dabei die

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Rede von Vergessenheit sein, die sich weiter als eine „Dialektik der Zeit“ als Ursprung entwickelt. Das Motiv des Endes bringt ein ebensolches für einen Neuanfang (Ursprung, arché) mit sich, welcher der Form nach ursprünglicher, breiter oder vollständiger als der Anfang oder Ursprung der Philosophie ist.836 Nicht umsonst spricht Heidegger von „Befreiung“ und vom „Offenen“ in Bezug auf dieses Hören der alten griechischen Wörter, mit denen wir uns immer noch ausdrücken, ohne zu wissen, was dahinter steckt. Die Rückkehr zum Anfang ist die Rückkehr zur innersten Möglichkeit, nicht des Daseins, sondern einer Weise, das Sein zu „entbergen“. Das Motiv des Vergessens weist bei Husserl auf eine wissenschaftliche Subjektivität (ein Bewusstsein, auch wenn inter-subjektiv und geschichtlich), bei Heidegger auf eine namenlose Quasi-Subjektivität hin, die sich in ihrer Geschichte sucht und nicht findet. Sie verschwindet für sich selbst in ihrer Entwicklung und hinterlässt nur die Spuren einer vermutlich verlorengegangenen, erzeugenden Quelle. Dieses Verhältnis zur Geschichte als Anfang impliziert in beiden Fällen eine Hierarchie. Dies ist die Geschichte einer Selbstentfremdung und keineswegs eine Geschichte der Begegnung mit Anderen. Dabei spielt die Begegnung mit den geschichtlichen Anderen keine Rolle. Es ist eher die Tradition, welche sich selbst fremd geworden ist. Die Andersheit meldet sich daher in der Form eines misslungenen Soliloquiums. Aus dieser Sicht versteht man, warum Heidegger im genannten Aufsatz behaupten kann, angesichts der zweiten Frage, es gebe für das Denken noch „eine erste Möglichkeit […] eine Aufgabe [...], die weder der Philosophie als der Metaphysik noch gar den aus ihr herkommenden Wissenschaften zugänglich wäre […]“.837 Letzteres ist, was er in diesem Aufsatz Lichtung und Unverborgenheit, das Ungedachte der Philosophie, nennt, „das Element, in dem es Sein sowohl wie Denken und ihre Zusammengehörigkeit erst gibt“.838 Man könnte dies als Grund bezeichnen, wenn man das gemeinsame Grundlegende im Sinne des Versammelnden versteht. Denn Grund ist nichts anderes als ein gemeinsamer Boden. Mehr als Ursache (causa) ist der Grund das schlechthin Gemeinsame, das von wo aus, das, in dem alles „zur Anwesenheit“ kommen kann. 836

837 838

Mit dem Vorbehalt, dass dies später genauer erklärt wird, kann man trotzdem eine Anmerkung zum logischen Charakter dieses Denkens machen. Ursprung bedeutet Hierarchie, eine Reihe von Schichten oder eine transitive Ordnung; breiter bedeutet einschließen, d.h. eine Menge, in die ein Element gehört; vollständig spricht von den Merkmalen eines Systems (Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit sind die Bedingungen, welche in der Logik als axiomatischem System laut Gödel nicht zugleich erfüllt werden können). Die Suche nach Ursprünglichkeit impliziert immer einen dieser logischen Charaktere. (Heidegger und Hermann, 2007, S. 73). Etwas länger im Kontext erklärt: „Wir nennen diese Offenheit, die ein mögliches Scheinenlassen und Zeigen gewährt, die Lichtung“; „Was meint das Wort vom nichtzitternden Herzen der Unverborgenheit? Es meint sie selbst in ihrem Eigensten, meint den Ort der Stille, der in sich versammelt, was erst Unverborgenheit gewährt. Das ist die Lichtung des Offenen“; „Gleichwohl bleibt in der Philosophie die im Sein, in der Anwesenheit waltende Lichtung als solche ungedacht, wenngleich“; „Die Unverborgenheit ist gleichsam das Element, in dem es Sein sowohl wie Denken und ihre Zusammengehörigkeit erst gibt“ (Ebenda, S. 80-5).

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Coda: Ende der Phänomenologie oder Ontologisierung

Die Rede vom Sein ist zirkular. Heidegger hat es seit Sein und Zeit gesagt und immer wieder wiederholt: Die Frage nach dem Sein setzt das Sein voraus, die Untersuchung zum Sinn des Seins impliziert, dass man es bereits auf eine bestimmte Weise versteht; die Sprache, in der das Sein „spricht“, ist auch kein vorhandenes Objekt; kurz: Sie war immer schon in dem verwurzelt, wonach man fragt. Dies hat zu Sätzen geführt wie das Nichts nichtet839 oder die Sprache spricht840. Wenn Heidegger die Formulierung „Das Sein ist“ vermeidet, geschieht dies aufgrund einer besonderen Auslegung des Seins als „Actus Essendi“, das Wesen als Verb: „[...] das Denken ist das Denken des Seins. Das Denken entsteht nicht. Es ist, insofern Sein west“. 841 842

Man kann Sein hier als das verstehen, in dem wir „leben und weben“. Diesen Satz verwendet Luther in seiner Übersetzung der Bibel: In etwas, also hier in Gott, da im Sein, leben, weben und sein, übersetzt vorzüglich das Verb wesen.843 Diese erste Möglichkeit ist „erst“ im Sinne einer gewissen und nuancierten Prima Philosophia und es ist Möglichkeit im Sinne von offener Potentialität, wo das Sein sich noch nicht in den Klauen des Anwesenden befindet. Zu beachten ist die Umkehrung, wo nicht das Aktuelle und Wirkliche, sondern das Mögliche die höchste Würde und Tätigkeit besitzt. Das Nichts nichtet bedeutet: Die Potentialität ist actus purus. Das Wirkliche ist nur noch eine Ableitung der transzendentalen Möglichkeit. In diesem Gedankengang soll man Heideggers Berufung auf das Nichts lesen. Nach den Vorlesungen über Nietzsche assoziiert Heidegger Philosophie und Metaphysik mit der Geschichte des Nihilismus, welche die Geschichte Europas ist: „Die Behauptung, die Philosophie ist in ihrem Wesen griechisch, sagt nichts anderes als: Das Abendland und Europa, und nur sie, sind in ihrem innersten Geschichtsgang ursprünglich »philosophisch« [...] Die oft gehörte Redeweise von der »abendländisch-europäischen Philosophie« ist in Wahrheit eine Tautologie“.844 Dies wird, wie bereits gesehen, „durch die Entstehung und Herrschaft der Wissenschaften bezeugt“ und nur weil dies den „innersten abendländisch-europäischen Geschichtsgang“ ausmacht, sind das Abendland und Europa „imstande, der Geschichte des 839 840 841 842

843

844

(Heidegger, 1976, S. 116). (Heidegger, 1985, S. 10). (Heidegger, 2003b, S. 352). Das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm definiert das Verb folgendermaßen: „vb., 'leben und weben', d. h. 'existieren, da sein' (oft mit lokaler ergänzung) in einem intensivierten und den begriff spezifischer lebensäuszerung oder wirksamkeit vage einschlieszenden sinne. das wort ist identisch mit dem st. vb. ahd. wesan, mhd. wesen 'esse', zur idg. wurzel *ues- 'verweilen' […]“ Online verfübgar unter: http://woerterbuchnetz.de/DWB/ „Dem unbekannten Gott (Ἀγνώστῳ θεῷ). Nun verkündige ich euch denselben, dem ihr unwissend Gottesdienst tut […] Gott […] wohnt nicht in Tempeln mit Händen gemacht; […] so er selber jedermann Leben und Odem allenthalben gibt (τινος, αὐτὸς διδοὺς πᾶσιν / πᾶσι ζωὴν καὶ πνοὴν καὶ τὰ πάντα ἐποίησέν), doch er macht den Menschen „daß von einem Blut aller Menschen Geschlechter auf dem ganzen Erdboden wohnen (κατοικεῖν), und hat Ziel gesetzt und vorgesehen, wie lange und wie weit sie wohnen sollen (καιροὺς καὶ τὰς ὁροθεσίας Grenzen- τῆς κατοικίας -wohnen-); daß sie den HERRN suchen sollten, ob sie doch ihn fühlen und finden möchten; und fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeglichen unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir (ἐν αὐτῷ γὰρ ζῶμεν καὶ κινούμεθα καὶ ἐσμέν); wie auch etliche Poeten (καθ' ὑμᾶς ποιητῶν) bei euch gesagt haben“ Apostelgeschichte (17,23-28), Lutherbibel 1912. (Heidegger, 2006, S. 9-10).

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Menschen auf der ganzen Erde die spezifische Prägung zu geben“.845 Der Nihilismus ist ein europäischer — auch wenn er „planetarisch“ sei — wie sich Nietzsche äußerte. Der Nihilismus ist aber doppelsinnig. Er kann auf der einen Seite das Nichts des Seienden — dass das Seiende nichts sei — und auf der anderen Seite das Nichts des Seins — dass das Sein selbst nichts wäre — bedeuten.846 Das Vergessen des Seins ist auch ein doppeltes: Es wird vergessen, wenn es als Seiendes verstanden wird, aber auch, wenn das Nichts vom Sein ausgeschlossen wird. Denn das Sein wird als Seiendes interpretiert, wo ihm sein innewohnendes Nichts geraubt wird. Das Nichts ficht die Interpretation des Seins als Gegenwart an, also als reine Präsenz. Eugen Fink nannte die Reduktion der husserlschen Phänomenologie auf Ontologie und der Ontologie mit Hinblick auf das Nichts eine Meontik.847 Heidegger oszilliert in diesem Sinne zwischen einer radikalen Meontik und einer Ontologie, einer Frage nach dem Sein und einer Frage nach dem Nichts. In Was ist Metaphysik848 — auch wenn innerhalb des Vokabulars des frühen Heideggers, d.h. vor der Kehre, also innerhalb einer Analytik des Daseins — zeigt dieser, warum die Frage nach dem Nichts zu stellen ist. Es ist wieder die Wissenschaft, welche das Nichts als solches leugnet, sie „will vom Nichts nichts wissen“, sie beschäftigt sich eher rein mit dem Sein, also mit den Sachen selbst, wie sie sich anbieten, als dem Seienden, die Wissenschaft definiert „Worauf der Weltbezug geht“ und das „ist das Seiende selbst - und sonst nichts“849. Nach dem Nichts zu fragen, führt zu einer sich selbst zerstörenden Frage. Die Frage ist aber unmöglich: „Denn sie bewegt sich notwendig in der Form: das Nichts »ist« das und das. Frage und Antwort sind im Hinblick auf das Nichts gleicherweise in sich widersinnig“; also, zu fragen, „was und wie es, das Nichts, sei - verkehrt das Befragte in sein Gegenteil. Die Frage beraubt sich selbst ihres eigenen Gegenstandes“.850 Dies zeigt für Heidegger die Herrschaft der Logik in den Wissenschaften, oder besser, die Wissenschaften als Herrschaft der Logik851, was sich beim Satz vom ausgeschlossenen Dritten zeigt, der Grundregel des Denkens überhaupt. Warum soll aber dieser Satz überhaupt die Grundregel der Wissenschaften sein? Ist es nicht

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(Ebenda, S. 9-10). Heidegger über Nietzsches Nihilismus des Seienden: „In solchem Fragen unterstellen wir allerdings, daß in dem, was der Name „Nihilismus“ nennt, das Nichts sein Wesen treibt, und zwar in dem Sinne, daß es mit dem Seienden als solchem im Grunde nichts ‚ist‘“ (S. 303); wahrer Nihilismus und nur der gegenüber dem Sein: „Wir sagten indes, Nietzsche Metaphysik sei eigentlicher Nihilismus. Darin liegt, daß Nietzsches Nihilismus nicht nur den Nihilismus nicht überwindet, sondern ihn auch nie überwinden kann. Denn gerade in dem, worin und wodurch Nietzsche den Nihilismus zu überwinden meint, in der Setzung neuer Werte aus dem Willen zur Macht, kündigt sich erst der eigentliche Nihilismus an: Daß es mit dem Sein selbst, das jetzt zum Wert geworden, nichts ist“ (S.306). Alle Zitate aus: (Heidegger, 2008). Siehe: (Fink, 1988). (Heidegger und Hermann, 2004). (Heidegger, 1976, S. 105-6). (Ebenda, S. 107). Aus diesem Grund, sagt Heidegger, „[...] bedarf es nicht erst der Zurückweisung durch die Wissenschaft. Die gemeinhin beigezogene Grundregel des Denkens überhaupt, der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch, die allgemeine »Logik«, schlägt diese Frage nieder“ (Heidegger und Hermann, 2004, S. 107).

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Heidegger selbst, der die Logik als aristotelisch und nur aristotelisch bezeichnet? Ist es nicht er, der die Wissenschaften auf diesen Satz zu begrenzen versucht? Ist er nicht ein Aristoteliker par excellence, der den engsten Begriff von Logik hat? Wahr und falsch, Bejahung und Verneinung, Sein und Nichts usw. Sind dies nicht eben die klassischen Gegensätze der Logik — einer binären Logik? Ist nicht Heidegger derjenige, der das Dritte für die Wissenschaft und zum großen Teil für das Denken ausschließt, damit sich die Frage nach dem Nichts als unmöglich erweist? Steht das fundamentale Denken über der Logik oder geht es nur so weit, wie es seine Logik ihm erlaubt? Denn das „Problem“ einer absoluten Gültigkeit des Satzes des ausgeschlossenen Dritten (tertium non datur oder TND) zusammen mit der Selbstbezüglichkeit sind eben die Probleme der Logik des 20. Jhrts.852 Ja, die Logik soll ihren eigenen „Boden“ finden, sie enthüllt sich letztendlich als begründet und nicht als begründend. Aber die Unterscheidung grund-begründet ist an sich logisch und gründet auf die klassische philosophische nach den ersten Prinzipien. Die Struktur von Heideggers Befragung ist radikal abhängig von einer logischen (der ontologischen) Differenz. Soweit man spricht, muss man sich in einer Logik und einer Grammatik ausdrücken und orientieren. Die Suche nach einer ursprünglicheren Ebene als der Logik ist unzertrennlich von der Suche nach einer anderen Sprache. Aber die Poesie, die jene andere Sprache laut Heidegger verkörpern soll, weder leugnet noch begründet die Logik. Logik und Poesie sind zwei Möglichkeiten für die Erschließung neuer Wege des Denkens. Soweit es abstrakte (bzw. symbolische) Verhältnisse gibt, und diese sind von der Sprache nicht zu trennen, gibt es Raum für die Logik. Heidegger aber konkludiert: „[D]as Nichts ist der Ursprung der Verneinung, nicht umgekehrt“, aber durch die Umkehrung der Sache „entscheidet sich […] das Schicksal der Herrschaft der »Logik« innerhalb der Philosophie. Die Idee der »Logik« selbst löst sich auf im Wirbel eines ursprünglicheren Fragens“.853 Nun lässt sich „die Nichtung nicht in Vernichtung und Verneinung aufrechnen“, denn: „Das Nichts selbst nichtet“.854 Die Offenkundigkeit zeigt sich bei Heidegger zu dieser Zeit durch die Angst. Diese Angst aber bezieht sich nur auf die Stimmung in der Bestimmung des Denkens, wo ein „Wegrücken des Seienden Ganzen“, also ein „Entgleiten des Seienden“ stattfindet, oder „die Angst läßt uns schweben, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt“.855 Das Nichts ist das, wodurch sich schließlich „die Grundfrage der Metaphysik“ unter der Stimmung des Erstaunens stellen lässt: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“856 Wie weit sind wir von der klassischen Philosophie und ihrer Problematik entfernt? Es ist schwierig, diese Fragen zu beantworten. Es lassen sich jedoch andere Frage stellen. Weist 852 853 854 855 856

Siehe dazu Kapitel 7 aus (Priest, 2008) sowie (Priest 2002) für eine detaillierte Analyse beider Probleme sowie deren Relevanz für die zeitgenössische Diskussion in der Logik. (Heidegger, 1976, S. 117). (Ebenda, S. 114). (Ebenda, S. 112). (Ebenda, S. 122).

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eine solche Erinnerung an diese leibnizsche Frage bei Heidegger nicht wieder auf Platon zurück, und zwar auf den Dialog Sophistes? Ist nicht dabei das Problem, dass das Nichtsein mit Hinblick auf das Werden auch sein muss?857 Ist das nicht eben das Problem des Dritten, von etwas zwischen Einheit und Multiplizität, zwischen der vollzogenen Anwesenheit und deren abstrakter Leugnung? Rekurriert nicht Heidegger diesbezüglich auf ein transzendentales, also hierarchisches Argument, als er mit einem tieferen Problem der Logik konfrontiert wird? D.h.: Wenn sowohl der gelungene Kreis der Selbstauslegung eines Bewusstseins — Selbstbewusstsein — als auch die einfache Begründung in etwas Anderem — einem Ding an sich, oder dem Sein als Grund — gleichermaßen unzureichend werden — Hegel und der junge Schelling kritisierten die Berufung auf ein erstes Prinzip außerhalb des Bewusstseins, der späte Schelling kritisierte den Anspruch, dass die Vernunft von Hegels System wirklich sich selbst begründen könne —, sieht man sich nicht mit der Notwendigkeit eines Dritten zwischen einfacher Begründung und Selbstbegründung konfrontiert? Noch mit anderen Worten: Wird diese Grenze nicht in dem Moment überschritten, wo man dem Denken eine solche setzt? Und ist es nicht genauso wahr, dass ohne Grenzen — im Sinne von einem Bezug zu etwas ganz Anderem, das eine radikale Endlichkeit verlangt — das Denken überhaupt unmöglich ist — sofern es das Denken von etwas Anderem ist? Was ist dann das Ziel dieser konstanten Befragung bei Heidegger? Ist das Ziel, das Sein im 857

Ich zitiere die Schlüsselstellen vom Dialog Sophistes, wo die Diskussion über das Nichtseiende in Bezug auf die Bewegung zu finden ist: „Siehst du also, wie ganz unmöglich es ist, richtig das Nichtseiende auszusprechen oder etwas davon zu sagen oder es auch nur an und für sich zu denken; sondern wie es etwas Undenkbares ist und Unbeschreibliches und Unaussprechliches und Unerklärliches? (238 c) […] Denn ich, der ich festsetzte, das Nichtseiende dürfe weder an der Einheit noch Vielheit teilhaben, habe es doch vorher und jetzt geradezu eins genannt. Denn ich sage: das Nichtseiende. Merkst du was? (238e) […] Und auch, indem ich es ein Unerklärliches nannte und Unbeschreibliches und Unaussprechliches, richtete ich doch meine Rede so ein, als ob es Eins wäre? (239A); […] Also für nichtseiend erklärst du das Scheinbare, wenn du es doch als das Nichtwahre beschreibst. […] Aber es ist ja doch irgendwie. (240 b) […] In einer solchen Verflechtung scheint freilich das Nichtseiende mit dem Seienden verflochten zu sein, (239c) […]“ diese Verflechtung verdeutlicht sich in der Bewegung, wo sowohl Sein als auch Nicht-Sein sich melden, „dass die Bewegung ganz und gar verschieden ist von der Ruhe. Oder wie sagen wir? […] Sie ist aber doch wegen ihres Anteils am Seienden. (256 a) […] „Ohne Furcht also wollen wir aussagen und verfechten, die Bewegung sei verschieden von dem Seienden. […] Ist also nicht ganz deutlich die Bewegung wirklich nicht seiend ebenso wie seiend, inwiefern sie am Seienden Anteil hat? (256d) […] Also ist ja notwendig das Nichtseiende sowohl an der Bewegung als in Beziehung auf alle anderen Begriffe. Denn von allen gilt, dass die Natur des Verschiedenen, welche sie verschieden macht von dem Seienden, jedes zu einem Nichtseienden macht, und alles insgesamt können wir also gleichermaßen auf diese Weise mit Recht nichtseiend nennen und auch wiederum seiend und können sagen, dass es sei, weil es Anteil hat am Seienden. (256d) […] Wir wollen also nicht zugeben, wenn eine Verneinung gebraucht wird, dass dann Entgegengesetztes angedeutet werde, sondern nur so viel, dass das vorgesetzte »Nicht« etwas von den darauffolgenden Wörtern oder vielmehr von den Dingen, deren Namen das nach der Verneinung Ausgesprochene ist, Verschiedenes andeute. (257 a-b)“ (Platon, Schleiermacher, Müller und Müller, 1994, S. 212). Ziel dieses Zitats ist zu zeigen, dass die Diskussion über das Nichts und deren Verhältnis zur logischen Verneinung zur Philosophie selbst seit jeher gehört hat. Damit ist nicht gemeint, Platon sage dasselbe wie Heidegger. Es ist aber jede Diskussion über die Zeit, die unbedingt Sein und Nichtsein verflechten muss. Es ist der Fall bei Hegel in der Wissenschaft der Logik und, aus anderen Gründen, auch bei Husserls Analysen des inneren Zeitbewusstseins. Andersheit und Zeit gehören zusammen und sie verflechten Sein und Nichtsein durch einen Bezug auf die Vergangenheit, als Erinnerung oder Schrift, und auf die Zukunft, als Projekt oder Handlung.

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Seienden anders zu entbergen oder geht es eher nur darum, das Nichts als Potentialität des Anderen zu erkunden, d.h. des Anderen als bloße nicht (unbedingt) zu aktualisierende Potentialität? D.h., sucht die Abkehr vom Seienden mit Hinblick auf das Sein als solches eine andere Welt des Seienden oder ist sie nur die Behauptung, dass, im Grunde genommen, das Andere als Nichts originärer als alles Seiende ist — und dass es damit eine andere Weise des Entbergens als die wissenschaftliche geben kann —, ohne dass man weiß, wie und wann das Empirische anders sein könnte? Ist dies der Grund, warum die tatsächliche Vernichtung in der Welt nur noch abgeleitet sein kann?

6.3 Eine Aufgabe des Denkens jenseits der Welt? Obwohl sein Zeitalter von der Atombombe geprägt sei, betonte Heidegger immer wieder mit Nachdruck, sei das Unheimliche und Entsetzende woanders zu situieren, und zwar in der Philosophie selbst und in deren Schicksal — im Geschick. So lautet Heideggers Auffassung jener damals (und heute noch) drohenden Vernichtung: Der Mensch starrt auf das, was mit der Explosion der Atombombe kommen könnte. Der Mensch sieht nicht, was lang schon angekommen ist und zwar geschehen ist als das, was nur noch als seinen letzten Auswurf die Atombombe und deren Explosion aus sich hinauswirft, um von der einen Wasserstoffbombe zu schweigen, deren Initialzündung, in der weitesten Möglichkeit gedacht, genügen könnte, um alles Leben auf der Erde auszulöschen. Worauf wartet diese ratlose Angst noch, wenn das Entsetzliche schon geschehen ist?858

Das Entsetzliche ist schon geschehen und doch besteht die Gefahr nicht nur in der Vernichtung des „abendländischen Wesens“, sondern in der tatsächlichen Vernichtung. Wesen und Existenz koinzidieren nicht mit der westlichen Tradition — es herrscht stattdessen Vergessenheit —, nur bei den Griechen stimmten beide überein: Deren faktische Existenz ist zugleich ontologisch. Europa zeigt auch dieses Merkmal: „Unser geschichtliches Dasein erfährt mit gesteigertem Bedrängnis und Deutlichkeit, daß seine Zukunft gleichkommt dem nackten Entweder-Oder einer Rettung Europas oder seiner Zerstörung“.859 Diese Worte stammen aus dem Jahr 1936. Man sollte den Kontext der Zwischenkriegszeit, in der dieser Satz ausgesprochen wurde, nicht ignorieren. Es ist aber eine Position, die Heidegger nach dem Krieg immer noch wiederholt: Die Geschichte ist die Geschichte des Abendlands und diese ist die Geschichte der Philosophie bzw. der Metaphysik, welche nun in die Wissenschaften einmündet, und jene kennzeichnet sich durch ein Vergessen des Seins, weil sie es als reine Anwesenheit (als Seiendes) interpretiert hat. Diese Rettung, sagt Heidegger, „verlangt ein Doppeltes: [...] Die Bewahrung der europäischen Völker vor dem Asiatischen […] [und] Die Überwindung ihrer eigenen Entwurzelung und

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(Heidegger 2000b S. 168). (Gander, 1993, S. 31).

Eine Aufgabe des Denkens jenseits der Welt?

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Aufsplitterung“.860 Die Gefahren sind infolgedessen die Auflösung des Europäischen wegen des Fremden, des Anderen, und die Auflösung des Europäischen wegen jener Entwurzelung vom Sein im technischen Zeitalter, wo „Amerikanismus“ und „Bolschewismus“ nur noch zwei Beispiele dafür sind.861 Doch ist es Heideggers Absicht, eben die Geschichte Europas zu „destruieren“, soweit sie den wahren Anfang vergessen hat und weiter verhüllt. Doch ist Heideggers Berufung auf ein anderes Denken die einzige und erste Möglichkeit nach der Philosophie. Das Abendland ist Metaphysik, also Wissenschaft, und jetzt kann man deutlich sehen, wie deren Wesen, die Logik, sich „im Wirbel eines ursprünglicheren Fragens“ auflöst. Daher darf man wiederum fragen: Löst sich nicht Heideggers Frage nach dem Sein auf, wenn diese immer weiter in die Vergangenheit getrieben wird? Ist diese Führung ins Dunkle im Dienste der Lichtung nicht eben die Verfinsterung des Denkens, der Philosophie und deren Geschichte? Wie soll man eine Geschichte der Philosophie skizzieren, wenn die Epochen voneinander (kausal oder nicht) getrennt, wenn sie von der Praxis unabhängig sind, als wären sie Willkür für den Menschen, jedoch Notwendigkeit vom Standpunkt des Seins her? Sein und Nichts sind das Ungedachte und das Undenkbare. Man muss nur noch bedenken, dass man das Undenkbare als Undenkbares denken soll. Hinter dem Sein und dem Nichts steckt kein Geheimnis. Sie sind als Sache des Denkens ein Spiel des Denkens selbst an seiner Grenze. Das (philosophische) Denken, einst das Bestimmende, denkt sich nun als bestimmt im Sein, wobei das Sein zu keinem denkbaren Objekt werden kann. Und doch sieht man, wie Heidegger davon spricht, es jedoch nicht ausspricht. Anders gesagt, dieses Nicht-sprechen-Können bewahrt nichts anderes als das Paradoxon des Sagens. In historischer Hinsicht ist dies das Paradoxon des Anfangs: Immer zu spät für den Anfang, immer zu früh für die Götter und doch auf den Anfang (arché als transzendentale Vergangenheit, die niemals gegenwärtig war) und das Ende (telos als transzendentale Zukunft, die niemals verwirklicht werden kann) angewiesen. Die phänomenologische Beharrlichkeit, immer ferner in die Vergangenheit zu gehen, d.h., immer mehr Schichten des Gegebenen zu reduzieren, um das ursprüngliche Phänomen der allerersten ersten Gabe zu gewinnen, als Rettung aus einer vermeintlichen Krise, führt zu diesem Abgrund des Grundes, von wo das Denken selbst sich hinabstürzt. Es bleibt lediglich die negative Aufgabe, das Denken vor seiner Positivierung (Verfall in das Seiende) zu retten, zu schützen und zu bewahren, als Bereitschaft für das Kommende. Aber ist diese Öffnung zum Anderen ohne Andere, welche das Positive als Verfall bekämpft, nicht eine neue Befangenheit? Ist dieses negative Verfahren nicht eine Art Sprach-Polizei, welche „ontische“ Interpretationen des Seins sucht, um sie zu destruieren/abzubauen, damit das „Erstere“ von sich selbst aus, wieder als Anfang, als die schwarze Sonne des Möglichen uns beleuchten kann?

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(Ebenda, S. 31). Siehe das Interview vom Spiegel: (Heidegger, 1976).

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Die Gefahr ist die Bombe, die Gefahr ist der Krieg, die Vernichtung Europas. Oder ist das Entsetzende noch „originärer“, so dass die tatsächliche Zerstörung nur abgeleitet auszulegen ist? Man kann in diesem Kontext schwerlich den Übergang vom quasi-transzendentalen Sein zum empirischen (dem Seienden) erklären. Es bleibt im besten Fall eine leere Voraussetzung, schlimmstenfalls ein Vorurteil, dass die Atombombe aus der Metaphysik unbedingt und ohne weiteres folge, dass die Philosophie sich in den Wissenschaften vollende und erschöpfe, und dass alle politischen Systeme nur noch Ableitungen vom Seinsverständnis seien, wobei die einzige Handlung darin bestünde, tiefer zu denken. Allerdings ist die ganze Idee von Begründung und Ableitung, deren sich Heidegger grundsätzlich bedient, außerhalb der Phänomenologie und der Wissenschaft fragwürdig. Der Gedanke von Grund ist wissenschaftlich und philosophisch par excellence. Eine Wissenschaftslehre, also eine Philosophie der Philosophie, wiederholt sich bei Heidegger als Geste: Das Denken des Denkens, die Besinnung über die philosophische Besinnung, in der wir uns immer befinden. Findet dieser Kreis den verlorenen Grund oder lediglich eine grundlose Bewegung? Oder ist diese grundlose Bewegung der Grund selbst? Und wenn ja, warum sollte man es überhaupt Grund nennen? Man kann keine Prima Philosophia ohne Dualismus, hier transzendental-empirisch, durchführen862, und dieser Transzendentalismus, wenn streng genommen, also wenn hierarchisch, reduziert das Bedingte, d.h. die Welt, auf nichts. Soll man nicht hier „Kantischer“ als Heidegger sein? So, wie Kant mit Newton anfing, um die Kategorien des Denkens zu gewinnen, muss man nicht auch mit den Wissenschaften, oder besser, mit dem Empirischen, immer wieder anfangen, um einen absoluten Idealismus zu vermeiden? Soll sich nicht das Denken sowohl vor dem naiven Empirismus als auch vor dem absoluten Idealismus schützen? Wie kann man anfangen ohne jene doppelte, gleichzeitige Bewegung: von unten nach oben, also vom Empirischen zum Transzendentalen und umgekehrt in gleicher Weise? Die ganze Wissenschaft und das Empirische sind nicht mehr a priori und für immer ganz gewonnen.863 862

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Wie Adorno schreibt: „Wo ein absolut Erstes gelehrt wird, ist allemal, als von seinem sinngemäßen Korrelat, als von einem Unebenbürtigen, ihm absolut Heterogenen die Rede; Prima Philosophia und Dualismus gehen zusammen“ (Adorno 1982, c1966, S. 142). Dass Heidegger die fundamentale Ontologie als transzendentale Philosophie verstand, lässt sich in Heidegger (1995c, S. 186) belegen, wo er sagt: „>Transzendental< als Charakteristikum von Erkennen meint nicht einfach apriorisches Erkennen – apriorisches Erkennen ist z.B. auch das der Geometrie–,sondern meint ein solches apriorisches Erkennen, das die Moglichkeit einer sachhaltigen Erkenntnis a priori zum Thema hat. Transzendentale Erkenntnis heißt eine solche, die die Moglichkeit des Seinsverstandnisses, das vorontologische Seinsverstandnis, untersucht, und diese Untersuchung ist die Aufgabe der Ontologie. Transzendentale Erkenntnis ist ontologische Erkenntnis, d. h. die apriorische Erkenntnis der Seinsverfassung des Seienden“. Wie vertreten hier die These, dass Heideggers transzendentales Verständnis der Ontologie sich in der ontologischen Differenz erkennen lässt. Weiter ist der Unterschied ursprünglich-abgeleitet eine andere Formulierung der ontologischen Differenz, die noch in den letzen Schriften Heideggers über die Atombombe und die politische Lage der Welt im Kalten Krieg als Interpretationsrahmen dient. Heideggers Ontologie ist apriorisches Denken des Seins als Möglichkeit im Element der Zeit. Adorno äußerte sich in diesem Sinne über die Dialektik als eine Form von Treue zu den Sachen selbst. „In gewissem Betracht ist die dialektische Logik positivistischer als der Positivismus, der sie ächtet: sie respektiert, als Denken, das zu Denkende, den Gegenstand auch dort, wo er den Denkregeln nicht willfahrt.

Eine Aufgabe des Denkens jenseits der Welt?

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Es ist eine ungeprüfte Voraussetzung, dass die „Sachen“ selbst a priori bestimmt seien, statt innerlich kontradiktorisch und daher offen zu sein. Wenn man kein absolutes durchsichtiges Selbstbewusstsein annehmen möchte, ist man gezwungen, die Position der Reduktion oder der Destruktion der Geschichte immer wieder aufs Spiel zu setzen. Das bedeutet, es ist nicht sicher, ob die Reduktion oder die Destruktion ganz und gar von einem einzigen Standpunkt aus vollzogen werden kann. Auch wenn Heidegger einen gewissen Subjektivismus reduziert, kann er nicht davon ausgehen, dass die Logik und eine ontische Rede, deren sich ein wissenschaftliches Subjekt bedient, bereits und automatisch auch mitreduziert werden. Man sieht eher, dass die angeblich reduzierte, destruierte Logik neu auftaucht, wenn sie ein neues Wort für das Denken im Allgemeinen anzubieten hat, also wenn man in einer radikalen Befragung annehmen muss, dass die historische Bedingtheit eine gewisse Sprach- und eine gewisse Logik- Gebundenheit impliziert. Es ist auch nicht sicher, ob die Position, aus der heraus die Geschichte der Philosophie destruiert wird, eine einzige Stelle des Fragenden supponieren muss. Ist das Wer der Befragung von Standpunkten bestimmt? Muss das Sein oder jene Ur-Region der Lichtung zum Versammeln führen? Ist dieses Versammeln nicht eine Nachahmung des sammelnden Subjekts? Warum sollen überhaupt Denken und Sein eine gemeinsame Wurzel haben? Sind eine gemeinsame Wurzel sowie eine absolute Andersheit gleichzeitig haltbar? Und schließlich, auch wenn ein gewisser Subjektivismus und ein gewisser Objektivismus vermieden werden, ist diese Rede vom Sein, also die Ontologie, nicht eine Herrschaft des Seins über das Ethische? Oder ist die Ontologie eine nicht deklarierte Ethik, also ein bestimmtes Verhältnis zum Anderen? Soll das Modell der Ontologie — Reduktion, Ursprünglichkeit, ontologische Differenz, das Abgeleitete usw. —ohne Weiteres auf das Ethische übertragen werden? Soll die Ontologie die Ethik einschließen, die Ethik die Ontologie, oder ist diese transzendentale Begründung schon von Anfang an unzureichend dafür?864 Um den Kreis dieser Diskussion zu schließen, kehren wir zurück zum Nichts. Heidegger wirft Nietzsche vor, dass die angestrebte Überwindung des Nihilismus beim Letzteren die Form einer Umwertung aller Werte annimmt. Der Wert verweist immer noch auf das Seiende und nicht auf das Sein. Zu behaupten, dass die Welt (als Seiendes) nichts sei oder dass sie vernichtet werden kann, steht auf einer Ebene mit dem Seienden. Nur wenn es gelingt, das Nichts innerhalb des Seins zu denken und eben nicht als Seiendes, gelingt die Überwindung des

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Seine Analyse tangiert die Denkregeln. Denken braucht nicht an seiner eigenen Gesetzlichkeit sich genug sein zu lassen; es vermag gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben; wäre eine Definition von Dialektik möglich, so wäre das als eine solche vorzuschlagen“ (Ebenda, S. 145). Hat Husserl in den Cartesianischen Meditationen nicht gezeigt, auch wenn in einer unangemessenen subjektiven Weise, dass der Andere und die Welt sowohl immanent als auch transzendent sowie gleichursprünglich sind, sodass das „Ich“, bereits „bevor“ es ein Ich ist, auf eine Welt und auf einen Anderen angewiesen ist? D.h., ist die Welt nicht gleichermaßen a priori vorhersehbar als unheimlich, der Andere so nahe wie unerreichbar? Sind das Ding und das Andere nicht zwei verschiedene Achsen, welche sich nicht gegenseitig reduzieren lassen? Die Radikalität des Anderen - ist sie nicht nur „weltlich“, sondern auch „ethisch“; nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich?

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Nihilismus. Die Welt als Nichts führt bei Heidegger, wie bereits gesehen, zur Frage, warum etwas und nicht nichts. Vor dem Hintergrund des Nichts ebnet die Nichtigkeit der Welt den Weg für ein ursprünglicheres Denken. Die Angst, in der das Entgleiten des Seienden zum Ausdruck kommt, ist nur eine Vorbereitung auf dieses Denken ins Mögliche. Auch die Möglichkeit der tatsächlichen Vernichtung ist eine Art der Begegnung mit der Angst. Warum aber wird der Wert, den Nietzsche in der Form einer Umkehrung aller bisher geltenden Werte darstellt, von Heidegger als eine Art Nihilismus interpretiert? Die christliche Moral ist zu destruieren, aber angesichts einer höheren Stellung, welche sich zwar jenseits von Gut und Böse befindet, sich aber nicht jenseits der Bewertung, und zwar vom Willen her, versteht. D.h., diese Bewertung steht im Dienste einer praktisch-moralischen Stellung, während die Ontologie dieses begehrende Subjekt aufheben muss. Es ist vielleicht die Verachtung des Anderen (autrui) als Anderer bei Heidegger, warum eine Kritik am Wert und an einer Welt, wo die Wissenschaft die Welt zugunsten der Produktion beherrscht, versagen muss. Da diese Ebene schon abgeleitet von einer bestimmten Auslegung des Seins ist, darf die Erstere keine Relevanz haben.865 Das Problem des Nichts, sei es innerhalb oder außerhalb der Werte, ist bei Heidegger, wie es bei ihm oft der Fall ist, zweideutig. Das Nichts zeigt sich zum einen als das, was den engen Horizont der Philosophie der Anwesenheit erweitert. D.h., das Nichts befreit von einer Fixierung auf das Seiende und des Seienden – Genitivus objektivus und subjektivus. Zum anderen aber zeigt sich das Nichts als die einzige Sache (oder einzig würdig, im Sinne von Ursprünglichkeit) des Denkens, für die weder Denken noch Wörter ausreichen und daher eine Arbeitslosigkeit und Ohnmacht des Philosophen und des Denkers mit sich bringt. Das Nichts soll kein Objekt werden, es ist aber die einzige Sache des Denkens, es ist das Ungedachte, aber praktisch auch das Undenkbare. Das Ende der Philosophie ist vielleicht diese Grenze der Zweideutigkeit selbst. Heidegger 865

Vielleicht besteht der größte Verdienst von Marx darin, dass er weder der transzendentalen Versuchung noch dem absoluten Idealismus verfallen ist. Die Theorie des Wertes im Kapital ist nicht mehr bloß subjektiv, sie bestimmt eine Epoche und eine Weise der Produktion des Seienden. Die Produktion hat ihren Sitz nicht mehr im Bewusstsein, sondern in der Arbeit und im Austausch. Die Teilung in Gebrauchs- und Tauschwert, unabhängig davon, ob sie nur der kapitalistischen Warenproduktion entspricht, zeigt immer deutlich, dass der Wert vielfach ist. Er ist nicht natürlich, er stammt aus der Arbeit, und doch ist diese Arbeit nichts, wenn deren Produkt nicht gegen andere Waren getauscht werden kann. Das bedeutet, das Verhältnis zwischen Menschen vermittelt sich durch das Objekt — ein gewordenes und kein natürliches Objekt —, das niemals ganz angeeignet werden kann — daher ist die Ware immer verkäuflich. Auf der anderen Seite zeigt sich die Arbeit als nicht aufhebbare, jedoch immer konkrete Tätigkeit. Außerdem sind alle sozialen Verhältnisse Produktionsverhältnisse und alle Waren verhüllen die sozialen Beziehungen. Das Spiel von Verbergen und Entbergen ist nicht zu trennen von einer konkreten Praxis, welche allerdings niemals bloß empirisch ist. Um zu resümieren: Eine Kritik des Wertes muss dem Verhältnis Mensch-Produkt-Mensch, also dem Zusammenhang Erkenntnistheorie-Ethik, Ontologie-Politik nachgehen. Vielleicht wäre auch Husserl zu so einer Kritik imstande gewesen, wenn bei ihm das Problem der Intersubjektivität und der Objektivität den gleichen Rang eingenommen hätten, und er damit eine ausdrücklich formulierte Struktur Ich-Du-Es erreicht hätte.

Eine Aufgabe des Denkens jenseits der Welt?

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beruft sich auf einen Boden jenseits der Wissenschaft, der Philosophie, der Metaphysik und gleichzeitig kritisiert er den Gedanken vom Grund in der Geschichte der Philosophie, soweit er immer in ein Seiendes mündet. Aber dieser Gedanke des Grundes kann nur in einer transzendentalen Philosophie vorankommen. Wie haltbar ist ein Transzendentalismus ohne Subjekt? Ist ein Transzendentalismus jenseits des Subjekts nicht ein Kosmos oder eine Natur? Oder, wenn man den Bezug auf eine transzendente Natur vermeiden will – was Heidegger auch von Husserls phänomenologischer Epoché behält, soweit er sich mit dem Sinn des Seins beschäftigt – und wir lieber eine relative Transzendenz – nur gegenüber dem Subjekt – behalten wollten, können wir sagen, dass dieses Sein von der romantischen – von Kants Auffassung vermittelten – Natur nicht weit entfernt ist. Das Äußere im Inneren, das von uns Gemachte und danach Entglittene ist das, was zum ersten Mal beim Idealismus als das Unbewusste, das Entfremdete gedacht wurde.866 Es scheint, als würde es sich um eine nicht-natürliche Natur, eine verselbstständigte, blinde Subjektivität außerhalb des Ich handeln. Aber anders als bei Fichte oder Marx ist diese Entfremdung nicht zu überwinden, im Gegenteil: Das Fremde zeigt sich als das Andere und daher als Möglichkeit. Also wird Heidegger den Gedanken des Fundaments im philosophischen Sinne anfechten, nur um das Pathos des Ursprungs wieder zu beleben. Er wird auf die Griechen zurückkommen, immer weiter in der Zeit, nur um herauszufinden, dass es zu spät ist. Diese Geschichte der Philosophie wird, so wie bei der Vertreibung aus dem Paradies, sowohl als Verfall als auch als Notwendigkeit gelesen werden. Heideggers Leitmotiv ist nichts anderes als eine Befreiung von dieser verengten Erfahrung der Verabsolutierung der Gegenwart. Verabsolutiert er aber nicht das Nichts als Gegenbegriff, verabsolutiert er nicht die Differenz 866

Arnold Gehlen merkt an: „Es war eine wesentliche und insbesondere von Marx verbreitete Einsicht diese, daß die eigenen Werke und Produkte der menschlichen Tätigkeit und Zusammenarbeit sich sozusagen „verselbständigen, daß sie die übermacht gewinnen und nun eher von sich aus das Verhalten der Menschen beherrschen, als daß sie von ihnen beherrscht werden. Irgendwelche Menschen setzen in ihren Handlungen untereinander irgendeinen Prozeß in Gang, und finden dann, daß dieser zu einer Eigengesetzlichkeit umschlägt, die sie nicht erwartet hatten. Ja diese Eigengesetzlichkeit wird zu einer Art Selbstzweck und legt den Beteiligten plötzlich Verpflichtungen auf, an die sie gar nicht gedacht hatten. [...] Es war dieser Vorgang, den Marx mit dem Begriff der Entfremdung faßte“; aber es war Fichte, welcher „die Vorstellung durchführte, daß der Mensch die Freiheit « realisiert, indem er die Verfügungsgewalt über die ihm entglittenen Produkte seiner eigenen Selbständigkeit wiedererlangt“; er konnte nicht „ertragen“, sagt Gehlen, das „daß im Bewusstsein unbewußte Prozesse vor sich gehen, also Vorgänge ihr Wesen treiben, von denen das Ich gar nichts weiß und deren Resultate es einfach vorgelegt erhält“; dies, also „diesem entfremdeten Werk seiner eigenen Selbsttätigkeit gegenüber die alte Freiheit und Täterschaft des Ichs wiederherzustellen, die entfremdeten Produkte wieder in die Freiheit der Verfügung und Erzeugung zurückzunehmen und zu verflüssigen, das und nichts anderes war der Sinn seiner Metaphysik, die sich schlicht Wissenschaftslehre nannte“; diese Tradition findet bei Freud noch einen Anhänger, mindestens, was die Diagnose betrifft: „In psychologischer Anwendung ist diese Fichtesche Formel, ohne daß jemand dies bemerkt hätte, weltpopulär geworden: in Freud. Denn was sind die Träume, die Ticks, die unüberwindlichen Zwänge und überhaupt das ganze neurotische Arsenal anders, als bewußtlose Produkte der Selbsttätigkeit des Ichs, die sich ihm entfremden und als übermacht gegenübertreten […]“ (Gehlen, 1983, S. 366-8). Gewiss ist Gehlens platte Interpretation von Freud und vor allem seine höchst konservativen Meinungen uninteressant. Allerdings ist der Faden, den er hinsichtlich der Geschichte des Begriffs Entfremdung bei Fichte, Marx und Freud entdeckt, erleuchtend.

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und eine dunkle Andersheit? Ist dies nicht eine Philosophie kopfüber? Adorno hat schon vor diesem Fetischisieren des Differenzbegriffs867, welcher die klassische Ontologie nur auf einer neuen Ebene wiederholt, gewarnt. Die Befreiung von der Metaphysik, vom Nihilismus, von der Philosophie — all diese Termini sind äquivalent. Aber diese Fragen und Überlegungen werden für den Moment beiseite gelassen. Die Wissenschaften sind für Heidegger, wie gesagt, kein Abkehren von der Philosophie, sondern ihre Aktualisierung. Technik und Wissenschaft sind nur noch die ontische Seite einer ihnen innewohnenden Metaphysik/Philosophie, welche ihrerseits nur abgeleitet vom wahren (also dem entbergenden) Anfang ist. Worin besteht nun diese andere Aufgabe, welche der Philosophie nicht zugänglich ist? Heidegger sagt dazu: „Erfahren und gedacht wird nur, was die aletheia als Lichtung gewährt, nicht was sie als solche ist“.868 Das Auffällige an diesem Zitat besteht besonders im Verzicht darauf, die Lichtung zu definieren, zu sagen, was sie sei. Denn als ultimative Möglichkeitsbedingung von Denken, Sein und ihrem Zusammenhang — „das Element, in dem es Sein sowohl wie Denken und ihre Zusammengehörigkeit erst gibt“ — kann bei Heidegger die Lichtung nicht dargestellt werden. Andersherum ist diese Lichtung der „Ort“, wo Denken überhaupt möglich ist. Alles Gedachte, alles Gesagte, würde sich bereits in diesem Äther befinden. Dieser Äther ist als Gewährung und Möglichkeitsbedingung der Anwesenheit — oder als das Offenbaren — eben das Zusammenspiel oder die Verflechtung von Anwesenheit und Abwesenheit. Daher stellt er fest: „Dann wäre die Lichtung nicht bloße Lichtung von Anwesenheit, sondern Lichtung der sich verbergenden Anwesenheit, Lichtung des sich verbergenden Bergens“.869 Das Bergen verbirgt sich. D.h., dass es unmöglich ist, das in der Geschichte der Philosophie Vergessene wieder in der Philosophie zu denken. Die Aufgabe nach der Philosophie impliziert „die Preisgabe des bisherigen Denkens an die Bestimmung der Sache des Denkens“.870 Die Sache des Denkens bezieht sich dann auf diese Verflechtung der Zeiten, wo die Gegenwart kein Primat mehr besitzt. Die Philosophie als Metaphysik bedeutet das Denken des Seins als Präsenz, Gegenwart, Anwesenheit, d.h. als Seiendes. Die Philosophie hat aber diese Unterscheidung von Sein und Seiendem etabliert. Kann man sagen, dass das Andere der Philosophie diese noch tiefer vollendet oder negiert? Was passiert aber, wenn die Sache des Denkens Streitsache, noch weiter, wenn diese Streitsache des Denkens die Philosophie selbst ist? Was, wenn das Denken nicht mehr oder nur paradox denkt und gedacht werden kann? Ist 867

868 869 870

Adorno schreibt: „Ist Dialektik aber einmal unabweisbar geworden, so kann sie nicht wie Ontologie und transzendentalphilosophie bei ihrem Prinzip beharren, nicht als eine wie immer auch modifizierte, doch tragende Struktur festgehalten werden. Kritik an der Ontologie will auf keine andere Ontologie hinaus, auch auf keine des Nicht onto-logischen. Sie setzte sonst bloß ein Anderes als das schlechthin Erste; diesmal nicht die absolute Identität, Sein, den Begriff, sondern das Nichtidentische, Seiende, die Faktizität. Damit hypostasierte sie den Begriff des Nichtbegrifflichen und handelte dem zuwider, was er meint“ (Adorno 1982, c1966, S. 140). (Heidegger und Hermann, 2007, S. 88). (Ebenda, S. 88). (Ebenda, S. 80).

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das Philosophie, ist das Denken? Ist es überhaupt (etwas)?

6.4 Heidegger und der Idealismus Das Wort Ende bringt unzählige Schwierigkeiten mit sich. Das Ende der Philosophie verbindet die Philosophie mit sich selbst, aber in der Form der Unterbrechung, in der Form des nicht mehr Seinwollens bzw. Seinkönnens. Das Ende der Philosophie ist zugleich reflexiv, also eine Auseinandersetzung der Philosophie mit ihrer Geschichte, und nicht mehr reflexiv, weil sie von etwas getrieben wird, weil sie damit überfordert ist, weil eben die weltlichen Ereignisse dem widersprechen, was die Philosophie erklärt und verspricht. Die Welt — aber auch das Ich —, welche die Philosophie behauptet, in ihrem Wesen aufgehoben zu haben, zeigt sich außerhalb jeder Vorwegnahme und jeden Maßes. Die Welt ist also ein Exzess von sich selbst. Doch verschleiert diese Welt ihre Zugehörigkeit zu einer Philosophie, die weder für ganz vergessen noch für ganz vollendet gehalten werden darf. Die Philosophie als unvollendetes oder eben abgeschlossenes Projekt sind zwei Seiten derselben Medaille. Heidegger stellte, als sein ursprüngliches Projekt, die Frage nach dem zeitlichen Charakter des Seins. Jedoch taucht der Raum in seinen letzten Schriften als ein der Zeit gleichrangiges Element auf. Das Denken des Raumes ist einer der Versuche bei Heidegger, das Andere der Philosophie zu denken. Heidegger destruiert die Geschichte der Metaphysik im Hinblick auf den Zeitbegriff. Ihm fehlte allerdings eine ähnliche Geschichte des Raumbegriffs. Natürlich gilt sein Werk Sein und Zeit als eine Kritik an der Verräumlichung des Seins im Bewusstsein, denn Raum bedeutet in erster Linie Anwesenheit, Gleichzeitigkeit. Was Heidegger in den genannten späten Schriften intendiert, ist ein anderes Denken des Gleichzeitigen außerhalb des Bewusstseins. Weiter ist das Gleichzeitige, das Anwesende, nicht nur als Prozess gedacht, sondern als grundsätzlich komplex. Bisher wurde Heideggers Auslegung der Philosophie als Denken der Anwesenheit dargestellt. Betont wurden die Grenzen der Philosophie sowie die Notwendigkeit eines kommenden Denkens. Dieses neue Denken nach der Philosophie soll sich laut Heidegger dem Nichts zuwenden. Das Nichts gilt allerdings nicht nur als das Ungedachte, sondern auch als das Undenkbare für die Philosophie. Was das nicht-philosophische Denken ausmacht, bleibt höchst unbestimmt. Heidegger weist nur auf eine gewisse Nähe zwischen Denken und Dichten hin. Das Dichten ist ein Denken jenseits der Logik. Diese Entgegensetzung von Poesie und wissenschaftlichem Denken ist nicht neu. Bestimmt nicht im Kontext der Philosophie. Daher sollte das philosophische Denken nicht voreilig pauschal verwerfen. Im Gegenteil: Heideggers Denken negiert die Philosophie nicht, sondern es radikalisiert und verabsolutisiert zwei ihrer Aspekte: die Zeitlichkeit und die Kritik an der Subjektivität. Beides sind Motive des deutschen Idealismus. Um die Neuigkeit von Heideggers Ansatz zu bewerten, zwingt es sich auf, ihn mit dem

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Idealismus zu konfrontieren. Nicht nur wird Heideggers Denken deutlicher, sondern man kann genauer bestimmen, wo der Bruch mit der Philosophie zu verorten ist. Husserl gilt für Heidegger als der letzte Vertreter der metaphysischen Tradition. Davon ausgehend erweitert er seine Kritik an der Phänomenologie auf eine Kritik an der ganzen philosophischen Tradition. Aber der Begriff „philosophische Tradition“ gehört zum Bewusstsein einer bestimmten Epoche: der des deutschen Idealismus. Ende, Vollendung, Anfang, Vergessenheit usw.: Es handelt sich hier um zeitliche Begriffe, welche innerhalb eines Denkens der Geschichte im radikalen Sinne zu verstehen sind. Husserl hat uns als Vorgänger von Heidegger und dem Denken des Endes beschäftigt. Fink zeigte allerdings, dass die husserlsche Problematik jener des Idealismus begegnet. In diesem Sinne soll man Heidegger im Zusammenhang mit dem Idealismus auslegen, um den Begriff Ende genauer zu verstehen. Bezüglich dieser Aufgabe werden im Folgenden lediglich vereinzelte Aspekte dieser Relation diskutiert.

6.4.1 Die Philosophie im Selbstgespräch: das Absolute Heideggers Destruktion der Philosophie in Sein und Zeit beginnt mit der Radikalisierung des Zeitbegriffs. Der vulgäre Zeitbegriff hat die Philosophie seit jeher dominiert und er besteht in der Auslegung des Seins als Anwesenheit. Die eigentliche Frage nach dem Sein lässt sich erst anhand einer neuen Betrachtung der Zeit, verschieden von der Anwesenheit, formulieren. In Sein und Zeit wird das Sein durch die existentielle Analyse von einem ausgezeichneten Seienden, dem Dasein, gedeutet. Die Analyse der Struktur des Daseins soll dem Dasein selbst seine Existenz als Existenz auslegen und ihm einen Zugang dazu verschaffen. Neben Heideggers Thesen über die Sprache und die Interpretation der eigenen Existenz des Daseins ist es die Zeit, die sich als eigentliches Charakteristikum der Letzteren zeigt. Die Ekstase beschreibt den zeitlichen Zustand vom Außer-sich-Sein, der Existenz vor dem wissenschaftlichen Blick ausgesetzt zu sein. Die Daseinsanalyse bietet auch eine paradoxe Struktur in Bezug auf die Zeit und die Eigentlichkeit. Der Tod, eben das, was nicht gelebt werden kann, ist das Singularisierende, das Eigentliche. Das vorprädikative Leben des Daseins meint bereits einen Bereich außerhalb der intentionellen Subjektivität. Es ist aber nur der Tod, der die Gegenwart als Gegenwart unterbricht und ermöglicht zugleich. Die Existenz als Seinzum-Tode meint das Jenseits der Gegenwart, das aber eben das Anwesende der Anwesenheit als Existenz konstituiert. Es ist nach dem Humanismus-Brief, dass Heidegger sein erstes Projekt kritisiert, weil es „immer noch“ in einer metaphysischen Sprache verhaftet war. Die philosophischen Motive sind dabei mehr oder weniger evident und eine nicht so profunde Kenntnis von Husserls Phänomenologie der Zeit erlaubt es, Sein und Zeit mit Hinblick auf Husserls Phänomenologie zu deuten. Die Darstellung von Husserls Untersuchungen über die paradoxe Natur der Zeit können auch in diesem Sinne interpretiert werden.

Heidegger und der Idealismus

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Weniger evident und besprochen ist allerdings Heideggers Verbindung zum Idealismus, den er so oft als Gipfel der Metaphysik — vor allem Hegel, obwohl Nietzsche ihm diesen Titel später strittig machte — betrachtet hat. Es geht hier nicht darum, Heidegger als Philosophen zu interpretieren, sondern die Routen der philosophischen Gedanken bis Heidegger mit Hinblick auf den Raum zu verfolgen. Wenn Heideggers Überlegungen zu Sackgassen geführt haben, und das ist offensichtlich der Fall, ist es nicht nur wertvoll, sondern notwendig, diesen problematischen Zusammenhang von Philosophie und Post-Philosophie, zwischen den Idealisten und Heidegger, neu zu prüfen. Eine so riesige Aufgabe würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Hervorgehoben werden nur jene gemeinsamen Aspekte, die einem anderen Denken der Gegenwart den Weg ebnen. Es ist vor allem der Anspruch nach dem Anfang als Absolutem und die Erkundung des „Äußeren“, was uns hier beschäftigt. Denn es ist nur die Suche nach dem Absoluten, welche die Paradoxien erst sehen lässt. Die Endlichkeit kommt nach dem Absoluten. Dieser Satz heißt so viel, wie die Endlichkeit sei ein Resultat der Suche nach dem Absoluten. Auch wenn später eine Umkehrung stattfindet. Nur das Absolute zeigt seine Grenze. Das Ende der Philosophie erkundet ein Außen, ein Jenseits, aber nicht im Sinne von göttlicher Transzendenz. Ende und Tod gehören zusammen. Das Äußere gilt für Heidegger als Erkundung des Anderen der Philosophie, des Subjekts, des Wissens. Es ist die Region des Paradoxen ohne Versöhnung. Es ist die Ahnung von etwas Anderem, ohne die Garantie des Neuen. Die Zeit war sicherlich der erste Schritt in Richtung dieses Äußeren. In der Figur des Todes unterbricht die Zeit die fundamentalste Kontinuität der Existenz und verleiht ihr Sinn durch die Offenbarung ihrer radikalsten Möglichkeit. Aber es ist erst der Raum, lesbar in Metaphern des Offenen, der Lichtung, der Erschließung, und die Betrachtung des Raumes selbst beim späten Heidegger, womit er sich der Aufgabe eines Denkens nach der Philosophie konkreter verpflichtet. Außerdem gehört Heideggers Aufsatz Das Ende der Philosophie, der immer unsere Gedanken begleitet und stets im Hintergrund steht, zu seinen späten Vorträgen und bildet ein Feld von Problemen und Argumenten mit den Überlegungen über die Lichtung, das Ding und den Raum. In welchem Zusammenhang stehen nun diese Überlegungen und der deutsche Idealismus? Die Aufgabe des Denkens zeigt sich einerseits allzu philosophisch: Sie begibt sich auf die Suche nach dem Zusammenhang von Denken und Sein vor beiden und zwar als deren (unbedingter) Bedingung. Das hieß das Absolute beim deutschen Idealismus. Diese Aufgabe zeigt sich anderseits anti-philosophisch, sofern sie das Feld der Argumentation verlassen will. Die Nähe zum philosophischen Denken wird im Folgenden betrachtet. Die Feindlichkeit gegen die Philosophie wird unter 6.6 (Die Philosophie, die ihr Anderes (nicht) hört) erläutert. Es sei hier an einen Brief von Schelling an Hegel erinnert: „Vom Unbedingten muß die Philosophie ausgehen. Nun fragt sich’s nur, worin dies Unbedingte liegt, im Ich [Denken,

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A.R.] oder im Nicht-Ich [Sein, A.R.]. Ist diese Frage entschieden, so ist alles“.871 Hölderlin macht in einem Brief an Hegel auch klar, dass das Absolute nicht im Bewusstsein liegen kann und daher ist es auch nicht in der theoretischen Philosophie – d.h. nicht in der Wissenschaft, sofern sie auf einem Bewusstsein basiert – zu finden: Er (Fichte) möchte über das Faktum des Bewußtseins in der Theorie hinaus. [...] Sein absolutes Ich (= Spinozas Substanz) enthält alle Realität; es ist alles und außer ihm nichts. Es gibt also für dieses absolute Ich kein Objekt [nichts Gegenwärtiges, A.R.], denn sonst wäre nicht alle Realität in ihm; ein Bewußtsein ohne Objekt ist aber nicht denkbar, und wenn ich selbst dieses Objekt bin, so bin ich als solches notwendig beschränkt, sollte es auch nur in der Zeit sein, also nicht absolut. Also ist in dem absoluten Ich kein Bewußtsein, und insofern ich kein Bewußtsein habe, insofern bin ich (für mich) nichts, also das absolute Ich ist (für mich) Nichts.872

Bei Heidegger liest es sich so, als besetze die Philosophie nun den alten Platz, den die Idealisten dem rein Theoretischen zuteilten. Trotzdem ist der Verzicht auf eine theoretische, dem Bewusstsein untergeordnete Ebene sowohl für diese frühen Gedanken Schellings und Hölderlins als auch für jene von Heidegger bezeichnend. Man müsste den ganzen Weg zurücklegen, der vom Ich zum Denken und vom Nicht-Ich zum Sein führt. Es sei hier nur hervorgehoben, dass der junge Schelling das Ich nicht mehr auf das Bewusstsein beschränkt und dass er das Nicht-Ich im Grunde genommen mit dem Sein identifiziert; dies wird ihm später erlauben, dem Gegensatz Ich/Nicht-Ich dank einer ursprünglichen Indifferenz zu entgehen. In diesem frühen Brief keimt bereits, obwohl nicht ausdrücklich anwesend, der Gedanke der Indifferenz auf: Mir ist das höchste Prinzip aller Philosophie das reine, absolute Ich, d.h. das Ich, inwiefern es bloßes Ich, noch gar nicht durch Objekte bedingt, sondern durch Freiheit gesetzt ist [...] Das absolute Ich befaßt eine unendliche Sphäre des absoluten Seins, in dieser bilden sich endliche Sphären, die durch Einschränkung der absoluten Sphäre durch ein Objekt entstehen (Sphären des Daseins – theoretische Philosophie). In diesen ist lauter Bedingtheit, und das Unbedingte führt auf Widersprüche. Aber wir sollen diese Schranken durchbrechen, d.h. wir sollen aus der endlichen Sphäre hinaus in die unendliche kommen (praktische Philosophie). Diese fordert also Zerstörung der Endlichkeit und führt uns dadurch in die übersinnliche Welt. [...] Es gibt keine übersinnliche Welt für uns als die des absoluten Ichs. – Gott ist nichts als das absolute Ich, das Ich, insofern es alles Theoretische zernichtet hat, in der theoretischen Philosophie also = 0 ist. Persönlichkeit entsteht durch die Einheit des Bewußtseins. Bewußtsein aber ist nicht ohne Objekt möglich; für Gott aber, d.h. für das absolute Ich gibt es gar kein Objekt, denn dadurch hörte es auf, absolut zu sein, – mithin gibt es keinen persönlichen Gott, und unser höchstes Bestreben ist die Zerstörung unsrer Persönlichkeit, Uebergang in die absolute Sphäre des Seins […].873

Das Problem des Absoluten ist ein Problem der Grenzen (bzw. der Selbstbegrenzung) der Vernunft. Heidegger will nicht von der Ewigkeit ausgehen. Sein Ausgangspunkt in Sein und Zeit ist das endliche Dasein und statt einer ursprünglichen Indifferenz behauptet er die ontologische Differenz. Doch richtet sich diese endliche Existenz gegen alles Gegebene, gegen alles Abgeleitete. Die Reduktion vernichtet die alltäglichen Vorstellungen und konfrontiert die Existenz mit ihrem Tod. Der Tod, wie die Leere der Indifferenz, gibt der theoretischen Philosophie keinen Raum. Stattdessen soll die praktische Philosophie, die Sorge bei Heidegger, 871 872 873

(Hegel, 1952, S. 22). (Ebenda, S. 19-20). (Ebenda, S. 22).

Heidegger und der Idealismus

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an deren Stelle treten. Der Übergang in die absolute Sphäre des Seins, in die Indifferenz, erfordert für Schelling die Vernichtung der Persönlichkeit. Heidegger verweigert diesen Zusammenschluss mit dem Absoluten. Die ontologische Differenz kann aber auch als die Differenz Sein-Persönlichkeit interpretiert werden, welche auch bei Schelling zu beobachten ist. Schelling will das Endliche nicht endgültig vernichten. Entscheidend für ihn ist der Charakter des Absoluten als Indifferenz von Subjekt und Objekt. Die Differenz aber zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen bleibt dagegen fest. Schellings Philosophie ist nicht einheitlich und man kann verschiedene Perioden darin erkennen. Er selbst unterscheidet zwischen seiner negativen und seiner positiven Philosophie. Obwohl er die Richtung seiner Philosophie ändert, bleibt aber das Feld der Problematik konstant. Das endliche Dasein sucht seinen Grund, der im alltäglichen Bewusstsein verloren gegangen ist. Die oben angeführten Zitate sollen dazu dienen, dieses Feld darzustellen, das Heidegger in seinem Denken übernimmt. Das Absolute ist die philosophische Frage schlechthin in der Zeit nach Kant, aber es ist auch der Ort eines Streits. Der Idealismus entspringt einer Streitfrage nach dem Absoluten und soll nicht einheitlich betrachtet werden. In Bezug auf diese Streitfrage zwischen Hegel, Fichte und Schelling über das Absolute berichtet Manfred Frank von einer 1965-66 gehaltenen Vorlesung Dieter Heinrichs, in welcher dieser behauptet, die „drei Idealisten seien gemeinsam ausgegangen von der Überzeugung, der Einheitsgrund, aus dem die Fülle fundierter Sätze abzuleiten ist, sei in der Evidenz unserer Selbstgewißheit gefunden“ und die Unterschiede zwischen den Idealisten ließen sich so ausdrücken: Fichte: „Es ist etwas Unbedingtes im Ich zu denken“; Schelling: „Das Unbedingte im Ich ist als solches zu denken“; Hegel: „[E]s gelte, das Unbedingte im Ich als solches zu denken, das heißt aus der Struktur Reflexion einsichtig machen“.874 In der Formulierung „Das Absolute im Ich zu denken“875 betont Fichte das Ich, Schelling das Absolute und Hegel das Denken. Es ist allerdings beim späten Schelling, wo man Heideggers entscheidendsten Motive entdecken kann. Schelling formuliert den Gedanken einer ontologischen Differenz in seiner reifen Philosophie876 als die Differenz Existenz (als Wesen) und Grund von Existenz. Diese Differenz stammt laut Schelling von der Naturphilosophie: „Die Naturphilosophie unsrer Zeit hat zuerst in der Wissenschaft die Unterscheidung aufgestellt zwischen dem Wesen, sofern es existirt, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist“.877 Nun versucht Schelling, diese Unterscheidung in Gott selbst zu verorten: Da nichts vor oder außer Gott ist, so muß er den Grund seiner Existenz in sich selbst haben. Das sagen alle 874 875 876 877

(Frank, 1995, S. 24). Siehe dazu auch (Duque, 1998, S. 257). Siehe Schellings Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit (Schelling und Hahn, 1998). (Ebenda, S. I,7,357).

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Coda: Ende der Phänomenologie oder Ontologisierung

Philosophien; aber sie reden von diesem Grund als einem bloßen Begriff, ohne ihn zu etwas Reellem und Wirklichem zu machen. Dieser Grund seiner Existenz, den Gott in sich hat, ist nicht Gott absolut betrachtet, d.h. sofern er existirt; denn er ist ja nur der Grund seiner Existenz, Er ist die Natur - in Gott; ein von ihm zwar unabtrennliches, aber doch unterschiedenes Wesen.878

Gott existiert als Natur, aber damit ist Gott nicht vollständig. Als acuts ist er auch Wesen. Der Grund geht nicht ganz im Wesen auf, er bleibt dunkel. Diese grundlegende Differenz wird in den Entwürfen zu Die Weltalter eine zeitliche Form annehmen. Schelling stellt da die These von der Geburt Gottes als der Geburt der Zeit durch eine Selbstdifferenzierung dar. Schelling behauptet: […] daß die Gottheit an und für sich selbst oder als der lauteste Geist über alles Seyn erhaben sey; woraus von selbst folgt, daß sie ohne eine ewige – nicht zeugende, aber gebärende, sie ins Seyn bringende - Potenz nicht seyn könnte, daß also ihr lebendiges wirkliches Daseyn nicht ein stillstehendes, todtes, sondern eine ewige Geburt ins Seyn ist, deren Mittel und Werkzeug darum im eigentlichsten Verstand die ewige Natur (die gebärende Potenz) von Gott heißt.879

Diese Selbstdifferenzierung besteht in einer Selbstverneinung, wodurch Gott selbst eine Kontraktion erfährt. Diese erste Kontraktion (dieses Zurückziehen des Grundes) ist der Anfang selbst: Denn überhaupt nur in der Verneinung liegt der Anfang. Aller Anfang ist seiner Natur nach nur ein Begehren des Endes oder dessen, was zum Ende führt, und verneint sich also als das Ende. Es ist nur erste Spannung des Bogens, nicht sowohl selbst seyend als der Grund, daß etwas sey. Daß eine Bewegung jetzt anfange oder werde, ist nicht genug, daß sie nur nicht sey; sie muß ausdrücklich gesetzt werden als nicht seyend; damit ist ein Grund gegeben, daß sie sey. Der Anfangspunkt (terminus a quo) keiner Bewegung ist ein leerer, unthätiger Ausgangspunkt, sondern eine Verneinung derselben, die wirklich entstehende Bewegung eine Ueberwindung dieser Verneinung. War sie nicht verneint, so konnte sie nicht ausdrücklich gesetzt werden. Verneinung ist also das nothwendig Vorausgehende (prius) jeder Bewegung […] und so ist Verneinung überall der erste Uebergang von Nichts in Etwas. Es leidet daher keinen Zweifel, daß wenn unter den Urmächten des Lebens eine Folge stattfindet, nur die, welche das Wesen einschließt und zurückdrängt, die anfangende seyn kann. Das Erste in Gott nach der Entscheidung, oder, da wir diese von aller Ewigkeit her als geschehen (wie noch immer geschehend) annehmen müssen, das Erste in Gott überhaupt, im lebendigen Gott, der ewige Anfang seiner selbst in ihm selbst, ist, daß er Sich verschließt, versagt, sein Wesen von außen abzieht und in sich selbst zurücknimmt.880

Diese Differenzierung oder Entscheidung liegt nicht mehr in der Zeit, sondern sie schafft die Zeit selbst. Die Gegenwart, wo die Zeit kontinuierlich läuft, ist von der ewigen Vergangenheit und der immer kommenden Zukunft verschieden. Die Frage nach dem Ursprung ist für Schelling zu diesem Zeitpunkt eine Frage nach dem Ursprung der Zeit als Selbstgebären. Man kann leicht sehen, dass die Frage nach dem Sein bei Heidegger, als eine Frage nach dem Grund, ihre Wurzeln bei Heidegger hat. Man kann also behaupten, dass a) Heidegger ein Problemfeld mit dem deutschen Idealismus, vor allem mit dem jungen Schelling und dem jungen Hölderlin, teilt; und dass b) der späte

878 879 880

(Ebenda, S. I,7,357-358). (Ebenda, S. I,8,270). (Ebenda, S. I,8,225).

Das Gespenst des Subjekts: Zeit und Raum

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Schelling die Problematik des Endes der Philosophie durch die Problematik des Grunds ebnet. Diese Thematik ist nicht neu881. Was bisher nicht genug berücksichtigt wurde, ist der Zusammenhang von Schellings Naturphilosophie und Heideggers Denken des Raumes.

6.5 Das Gespenst des Subjekts: Zeit und Raum Wenn man Heidegger im Kontext des Idealismus auslegen möchte, dann könnte man sagen: Die Aufgabe nach der Philosophie ist, das Absolute als Grund und Zeit außerhalb des Ich zu denken. Das Paradoxe besteht natürlich darin: Wer aber soll das denken? Und weiter: Wie denkt man das, was das Denken per definitionem überschreitet? Das Vokabular ist nicht umsonst so gewählt. „Außerhalb“ weist auf die Lichtung und das Offene, die zwei von Heidegger in seinem späten Werk vorgeschlagenen Begriffe, hin, wo das wissende und bewusste Subjekt überschritten wird und seinen Ursprung in etwas anderem, außer sich findet. Heidegger und Schelling berufen sich auf die Ex-sistenz als ein Außer-sich-Sein. Kann aber dieses Außen erkundet werden? Die Lichtung — das Offene — erhebt sich gegen die clausura der Philosophie, zu welcher der Idealismus geführt hat. Die Auseinandersetzung mit den Idealisten hätte dann Sinn als Erweiterung des Feldes des Ich und des Seins um jenes Feld, wo nicht nur die Gegenwart — sei es als anwesendes Objekt, sei es als für sich selbst anwesendes Subjekt —, sondern auch das Abwesende sich als konstituierend zeigt. Diese Lichtung als Offenheit verweist deutlich auf den Raum oder mindestens auf eine Räumlichkeit im Gegensatz zum einst ursprünglichsten und ausschließlichen Verhältnis von Sein und Zeit.882 Diesen Hinweis muss man sich vor Augen halten: Das Privileg der Zeit in der Philosophie als „Ort“ der Innerlichkeit und des Geistigen gegenüber der Exteriorität und daher Künstlichkeit des Raumes (von der transzendentalen Philosophie Kants über Husserl und Bergson bis Heidegger), aber auch das Privileg der Zeit als pures Werden (von Schellings Naturphilosophie über Nietzsche bis zur Postmoderne) darf hier infrage gestellt werden; teilweise dank Heidegger, teilweise gegen ihn, denn der Raum verlangt Gleichzeitigkeit, Verteilung von Orten, eine gewisse Struktur, die sich mit einer ursprünglichen „Zeitigung“ und mit der damit zusammenhängenden negativen Rede nur schwer zusammenbringen lässt. 881 882

Für eine ausführliche Diskussion über die Relation Heidegger Schelling siehe: (Hühn und Schwab, 2010). Dieses Verhältnis Sein-Zeit zeigt sich, wie ich ständig wiederholt habe, in klarer Reminiszenz eines transzendentalen Subjektivismus, wo die Zeit das absolute und eigentliche Medium jeden Seins ist. Dem liegen sicherlich Husserls Analysen zum Zeitbewusstsein zu Grunde. Diese Analysen Husserls waren immer problematisch und paradox und gehen zweifellos über die Prämissen einer strikten Phänomenologie hinaus. Die passive Synthese, die vorsubjektive und vorobjektive Konstitution der Zeit usw. gelten als Basis für eine nicht ganz subjektive Temporalität, obwohl sie die Form der Subjektivität aufweist. (Die Entwicklung dieser Problematik kann man bei Husserl klar sehen, wenn man die Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins und deren weitere Entwicklungen in Husserliana X sowie die C-Manuskripte miteinander vergleicht; Fink hat seinerseits die transzendentale Funktion der Zeit bei Heidegger und den Zusammenhang zwischen ihr und Kants transzendentaler Ästhetik hervorgehoben; siehe (Fink und Bruzina 2006b, S. 201-2: Z-XII 36a- 38d.).

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Coda: Ende der Phänomenologie oder Ontologisierung

Erst in Heideggers letzten Aufsätzen und Vorträgen erkennt man ein Interesse an der ontologischen Dimension des Raums, obwohl auf ganz inzipiente Weise. In den Bemerkungen zu Kunst - Plastik - Raum883 weist er auf die griechische Unterscheidung von Topos (als Ort, von Dingen besetzt) und Khôra (als Raum, der alle Orte beinhaltet) hin und vergleicht sie mit der Auffassung der Zeit als Ausdehnung (Extensio).884 Die dabei verteidigten Thesen sind in Die Kunst und der Raum885 auch zu finden: Das Offene zeigt sich als Einräumen, als OrtSchaffen, so dass, wie die Rose von Silesius, „der Raum räumt“.886 Ähnlich auch der romantischen Natur, welche sich aus sich selbst vor jedem Subjekt und jedem Objekt gebärt, aber beides produziert.887 Die Aufgabe des Denkens nach der Philosophie verbindet sich bei 883 884

885 886 887

(Heidegger, 2003a). Heidegger schreibt: „Aristoteles nennt das, was uns «Raum» heißt, mit zwei verschiedenen Wörtern: τόπος und χώρα. τόπος ist der Raum, den ein Körper unmittelbar einnimmt. Dieser vom Körper besetze Raum wird durch den Körper (σῶμα) erst gebildet. Dieser Raum hat mit dem Körper die selben Grenzen [...] Die Grenze ist für die Griechen nicht solches, wobei etwas aufhört und endet, sondern jenes, von woher etwas beginnt, wodurch es seine Vollendung hat. Der von einem Körper besetze Raum, τόπος, ist ein Ort. Im Unterschied zum τόπος meint χώρα den Raum, insofern er solche Orte aufnehmen (δέχεσθαι) und umfangen, behalten (περιέχειν) kann. [...] Der Raum hat ausgezeichnete Örter und διαστήματα, Auseinanderstände (nicht gleich: extensio). Später – in der neuzeitlichen Physik seit Galilei und Newton – verliert der Raum die Auszeichnung der in ihm möglichen Orte und Richtungen. Er wird zur gleichförmigen dreidimensionalen Ausdehnung für die Bewegung von Massenpunkten, die keinen ausgezeichneten Ort haben, sondern an jeder beliebigen Stelle des Raumes sein können“ (Ebenda, S. 74–76). (Heidegger, 2002a). (Ebenda). Schelling schreibt: „Die Stufenfolge der Organisationen und der Uebergang von der unbelebten zur belebten Natur verräth deutlich eine produktive Kraft, die erst allmählich zur vollen Freiheit entwickelt. Der Geist soll sich selbst in der Succession seiner Vorstellungen anschauen. Dieß kann er nicht, ohne jene Succession zu fixiren, d.h. sie in Ruhe. Daher ist alles Organische aus der Reihe von Ursachen und Wirkungen gleichsam hinweggenommen. Jede Organisation ist eine vereinigte Welt […] ein ewiges Urbild, das in jeder Pflanze ausgedrückt ist; denn, so weit wir zurückgehen, finden wir, daß sie nur aus sich selbst entsteht und in sich selbst zurückkehrt“ (Schelling und Hahn, 1998, S. I,1,387). Also: „Die Organisation aber producirt sich selbst, entspringt aus sich selbst eingreift. Jedes organische Produkt trägt den Grund seines Daseyns in sich selbst, denn es ist von sich selbst Ursache und Wirkung. Kein einzelner Theil konnte entstehen, als in diesem Ganzen, und dieses Ganze selbst besteht nur in der Wechselwirkung der Theile. In jedem anderen Objekt sind die Theile willkürlich, sie sind nur da, insofern ich theile. Im organisirten Wesen allein sind sie real, sie sind da ohne mein Zuthun, weil zwischen ihnen und dem Ganzen ein objektives Verhältniß ist. [...]Nicht ihre Form allein, sondern ihr Daseyn ist zweckmäßig“ (Ebenda, I,2,41-2). In Bezug auf eine reifere Naturphilosophie nuanciert Schelling: „Das Hauptproblem der Naturphilosophie ist nicht, das Thätige der Natur (denn das ist ihr sehr begreiflich, weil es ihre erste Voraussetzung ist), sondern das Ruhende, Permanente erklären. Zu dieser Erklärung aber gelangt sie eben durch jene Voraussetzung, daß das Permanente für die Natur eine Schranke ihrer eignen Thätigkeit sey. Denn, wenn dieß ist, so wird die rastlose Natur gegen jede Schranke ankämpfen; dadurch werden die Hemmungspunkte Thätigkeit in der Natur, als Objekt, Permanenz erhalten […] Beispiel: Ein Strom fließt in gerader Linie vorwärts, solange er keinem Widerstand begegnet. Wo Widerstand – Wirbel. Ein solcher Wirbel ist jedes ursprüngliche Naturprodukt, jede Organisation z.B. der Wirbel ist nicht etwas Feststehendes, sondern beständig Wandelbares - aber in jedem Augenblick neu Reproducirtes. Kein Produkt in der Natur ist also fixirt, sondern in jedem Augenblick durch die Kraft der ganzen Natur reproducirt. (Wir sehen eigentlich nicht das Bestehen, sondern das beständige Reproducirt werden der Naturprodukte). Zu jedem Produkt wirkt die ganze Natur mit. In der Natur sind gewisse Hemmungspunkte ursprünglich ausgesteckt - in der Folge vielleicht: daß nur Ein, von welchem aus die ganze Natur sich entwickelt - vorerst aber können wir uns unendlich viele Hemmungspunkte in der Natur denken an jedem solchen Punkt wird der Strom der Naturthätigkeit gleichsam gebrochen; ihre Produktivität vernichtet. Aber in jedem Moment kommt gleichsam ein neuer Stoß, eine neue Welle, die diese Sphäre aufs Neue erfüllt. Kurz also: die Natur ist ursprünglich reine Identität - nichts in ihr zu unterscheiden. Nun stellen sich Hemmungspunkte ein, gegen welche als Schranken ihrer Produktivität die Natur beständig ankämpft. Aber

Das Gespenst des Subjekts: Zeit und Raum

349

Heidegger mit einer Meditation über den Raum. Der Raum existiert dabei nicht vor den Dingen: „Das Räumen ist Freigabe von Orten“, d.h., „die Wildnis freimachen“, denn: „Das Räumen erbringt das Freie, das Offene für ein Siedeln und Wohnen des Menschen“.888 Diesen Raum versteht Heidegger als Versammlung und Zusammengehören von Orten — oder Dingen, da sie Orte sind —, als das Schaffen einer Gegend im Gegensatz zu der modernen Auffassung des Raumes als indifferenter extensio.889 Dieses Verständnis des Raumes erweitert Heidegger in anderen Aufsätzen, einer von ihnen ist Das Ding.890 In diesem Aufsatz behauptet Heidegger, dass die heutige Herrschaft der Technik und der Wissenschaften (= beim Ende der Philosophie) die echte Nähe der Dinge vernichte. Es ist eine räumliche Vorstellung von einer gewissen Entfremdung. Aber diese Nähe wird dadurch vernichtet, dass die Ferne auch ausbleibt. Anders gesagt: Alles konzentriert sich in einem Punkt, aber diese Konzentration lässt eben die Nähe verschwinden. Heidegger sagt danach, dass die Nähe in einem Ding anwesend sei. Oder besser, dass die Nähe eher ein Modus der Anwesenheit ist, wozu das Ding uns Zugang verschafft. Um zu verstehen, was ein Ding ist, gibt Heidegger das Beispiel eines Kruges. Das Beispiel des Kruges in Heideggers Aufsatz ist kaum ein Zufall, so wenig wie das Wort Ding. Die einschlägige Frage ist für ihn: „Was ist das Dingliche am Ding? Was ist das Ding an sich?“891 Das Ding an sich ist bei Kant bekanntlich außerhalb der Vorstellung. Vom Ding an sich wissen wir nichts. Aber hier geht es genau um ein mögliches Denken, das kein Wissen mehr verlangt. Heidegger: „Ein Ding ist der Krug“, aber: „Der Krug ist ein Ding als Gefäß“, und: „Der Krug bleibt Gefäß, ob wir ihn vorstellen oder nicht“.892 Diese drei Stellen erlauben es, Heideggers Ansatz zu deuten. Das „Ding an sich“ ist nicht das Transzendente, sondern nur das nicht zu Wissende, angenommen dass Wissen mit Vorstellen gleichgesetzt wird. Das Ding als Krug stellt die Frage nach dem Gefäß.

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indem sie dagegen ankämpft, erfüllt sie diese Sphäre wieder mit ihrer Produktivität“ (Ebenda, I,3,18). Raum und Natur liegen so nahe beieinander, dass Heidegger bei der Frage „Was ist der Raum?“ versucht, zu differenzieren: „Die erste ausgeführte thematische Erörterung dieser Frage finden wir im VI. Buch der aristotelischen Vorlesungen über die φύσις“; die Übersetzung davon als „Natur“ ist „recht ungenau“, denn „die Griechen denken die φύσει ὄντα, das von Natur anwesende, als dasjenige, was von ihm selbst her aufgeht und so erscheint“ (Heidegger 2003a, S. 72). (Heidegger 2002a, S. 206–207). In welchem Sinne aber unterscheidet sich dieses Freimachen vom Vertreiben von Anderen mit Hinblick auf den eigenen „Lebensraum“ — Tiere eingeschlossen -, vom Urbanisieren und dem menschlichen Entwalden? In Sein und Zeit ist die Rede auch von einer ursprünglichen, also nicht ontischen Räumlichkeit: „Das »hier«, »dort« und »da« sind primär keine reinen Ortsbestimmungen des innerweltlichen an Raumstellen vorhandenen Seienden, sondern Charaktere der ursprünglichen Räumlichkeit des Daseins. Die vermutlichen Ortsadverbien sind Daseinsbestimmungen, sie haben primär existenziale und nicht kategoriale Bedeutung. Sie sind aber auch keine Pronomina, ihre Bedeutung liegt vor der Differenz von Ortsadverbien und Personalpronomina“ (Heidegger, 1967, S. 119). Diese Räumlichkeit bezieht sich allerdings auf das Dasein und nicht auf das Sein im Allgemeinen. Es sind existentielle Bestimmungen und daher nicht generelle Bedingungen für den Zusammenhang von Sein und Denken. (Heidegger 2000b). (Ebenda, 169). (Ebenda, 168).

350

Coda: Ende der Phänomenologie oder Ontologisierung

Was macht den Krug zu einem Ding? Sein Gefäß-Charakter. Aber dieser Charakter entspringt weder der Produktion des Dinges noch der Idee. Der Bezug auf Aristoteles’ Kausalität ist evident. Was definiert also den Gefäß-Charakter des Krugs für Heidegger? Es ist die Leere. Heidegger verbindet sein Verständnis des Raums mit der Leere und unterstützt damit indirekt Finks Projekt einer Meontik. Denn das Nichts ist eben der Raum als Khôra und nicht als Topos. Das Ding ist kein Gegenstand, sondern das Annehmende: Das Dinghafte des Kruges beruht darin, daß er als Gefäß ist. Wir gewahren das Fassende des Gefäßes, wenn wir den Krug füllen. Boden und Wandung des Kruges übernehmen offenbar das Fassen [...] Wandung und Boden sind wohl das Undurchlässige am Gefäß. Allein, das Undurchlässige ist noch nicht das Fassende. Wenn wir den Krug vollgießen, fließt der Guß beim Füllen in den leeren Krug. Die Leere ist das Fassende des Gefäßes. Die Leere, dieses Nichts am Krug, ist das, was der Krug als das fassende Gefäß ist.893

Der platonische Dialog Timaios ertönt im Hintergrund. Heideggers Verständnis des Raumes verbirgt also seine platonische Herkunft nicht. Erinnern wir an Platons Timaios. Im Dialog zwingt sich für Platon „eine schwierige und dunkle Gattung […], dass die die Aufnehmerin und gleichsam Amme alles Werdens ist […]“; diese Gattung ist ein Drittes: Die Gattung des Raumes (χώρα), dem Untergange nicht unterworfen, welche allem, was ein Werden hat, eine Stätte gewährt, selbst aber den Sinnen unzugänglich, auch vom Geist nur sozusagen durch einen Bastardschluß erfaßt [Passen nicht dieser Bastardschluss und Heideggers Umgang mit der Sprache gut zusammen? A.R.] und zuverlässig bestimmt wird, die, welche wir auch im Auge haben, wenn wir träumen, es müsse doch notwendig das, was ist, an einem Orte sein und einen Raum einnehmen [...].894

Der Krug ist der annehmende Raum als Leere ohne Vorstellung oder Wissen. Aber Heidegger geht einen Schritt weiter. Er sagt, die Aufgabe des Töpfers sei diese: „Er gestaltet die Leere“.895 Die Gestaltung der Leere ist damit Bedingung einer doppelten Funktion des Fassens: Nehmen und behalten, aber nur als „Vermittler“ von Ein- und Ausgießen, was sich mit dem Ausdruck „Guss“ resümieren lässt. D.h.: Der Raum ist nicht nur passiv und gleichgültig, sondern er hat die Struktur vom Schenken, dem Geben. Im Raum wird ein Zusammenhang gestaltet oder, genauer gesagt, ein akkusatives Verhältnis. Der Raum ist ein Band. Anstelle der klassischen Teilung Subjekt-Objekt lässt Heidegger eine andere zum Vorschein kommen: das Geviert. Also: „Im Geschenk des Gusses weilen Erde und Himmel. Im Geschenk des Gusses weilen zumal Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen. Diese Vier gehören, von sich her einig, zusammen. Sie sind, allem Anwesenden zuvorkommend, in ein einziges Geviert eingefaltet“.896 Wichtig an diesem seltsamen Geviert ist sicherlich die Teilung der Subjektivität — Sterblichkeit und Unsterblichkeit sind nicht mehr eins, sondern sie stehen nur in einem gewissen Verhältnis zueinander, das verändert werden kann — und die Teilung der Welt — Himmel und Erde sind auch verbunden, ohne zusammenzufallen. Der Mensch bildet eine Ecke einer größeren Struktur. 893 894 895 896

(Ebenda). (Platon, 1940, S. 130-153). Vgl. Fußnoten: 717-719. (Heidegger 2000b). (Ebenda, S. 175).

Das Gespenst des Subjekts: Zeit und Raum

351

Ding heißt, laut Heidegger, versammeln897, auch im politischen Sinne. Das deutsche Wort Ding und das lateinische Wort res zeigen ihre Verwandtschaft: Wohl bedeutet das althochdeutsche Wort thing die Versammlung und zwar die Versammlung zur Verhandlung einer in Rede stehenden Angelegenheit, eines Streitfalles. Demzufolge werden die alten deutschen Wörter thing und dinc zu den Namen für Angelegenheit; sie nennen jegliches, was den Menschen in irgendeiner Weise anliegt, sie angeht, was demgemäß in Rede steht. Das in Rede Stehende nennen die Römer res [...] heißt [...] über etwas reden, darüber verhandeln; res publica heißt nicht: der Staat, sondern das, was jeden im Volke offenkundig angeht, ihn »hat« und darum öffentlich verhandelt wird.898

Der Raum ist das Gemeinsame, das Empfangende, das Band, das das Gemeinsame strukturiert, in einem akkusativen Verhältnis, das die Leere gestaltet. Res bedeutet das, was die Menschen — als Gruppe — etwas angeht, wie ein Fall oder eine Streitsache. Causa und res sind, Heidegger nach, eng miteinander verbunden. Tatsächlich bedeutet causa in romanischen Sprachen: Fall, Ursache, Grund, ein politisches Ideal, Angelegenheit oder Rechtssache. Das entscheidende ist an dieser Stelle folgender Satz: „Das Angehende ist das Reale der res“.899 Das, was Menschen etwas angeht, ist aber nur ein Teil von Heideggers „Geviert“, oder dieses Angehen findet innerhalb des Gevierts statt. Das Geviert ist eine Vereinigung und ein Spiel zugleich, und Heidegger nennt „das ereignende Spiegel-Spiel der Einfalt von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen die Welt“, also „die Welt west, indem sie weltet“; das bedeutet: „[D]as Welten von Welt ist weder durch anderes erklärbar noch aus anderem ergründbar“900, was uns mit dem Unmöglichen konfrontiert. Wir sind nicht weit entfernt von Husserls Zeitanalysen, wo die Erfahrung sich durch ein Ankommen und Abgehen von Protentionen und Retentionen konstituierte, d.h. durch ein Zusammentreffen von Zeiten, die aus verschiedenen Orten kommen und sich kreuzen. Und wir sind auch nicht so weit von jener intersubjektiven Struktur entfernt, die Husserl in den Cartesianischen Meditationen entdeckt, wo das Phänomenologische eine Verteilung von Orten — da waren Ich, Du, Es — erfordert, wo keins davon ursprünglich ohne die anderen ist. Heideggers topologischer Ansatz ist allerdings überraschend. Denn die vier Elemente werden durch einen Ring zusammengefügt und zusammengehalten: „Der Reigen ist der Ring, der ringt, fügend waltet, indem er als das Spiegeln spielt. […] Erglänzend vereignet der Ring die Vier überallhin offen in das Rätsel ihres Wesens“.901 Unabhängigkeit und Zugehörigkeit werden gleichzeitig gedacht, denn es geht um eine Gleichzeitigkeit des nicht absolut Gemeinsamen. 897

898 899 900 901

Heidegger: „Unsere Sprache nennt, was Versammlung ist, in einem alten Wort. Dies lautet: thing. Das Wesen des Kruges ist die reine schenkende Versammlung des einfältigen Gevierts in eine Weile. Der Krug west als Ding. Der Krug ist der Krug als ein Ding. Wie aber west das Ding? Das Ding dingt. Das Dingen versammelt. Es sammelt, das Geviert ereignend, dessen Weile in ein je Weiliges: in dieses, in jenes Ding“ (Ebenda, S. 175). (Ebenda, S. 176). (Ebenda, S. 177). (Ebenda, S. 181). (Ebenda, S. 182).

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Coda: Ende der Phänomenologie oder Ontologisierung

Die Elemente können aus den Fugen geraten und nur deswegen können sie auch zusammengefügt werden. In dieser Lage be-findet sich der Mensch als bedingt: „Wir sind - im strengen Sinne des Wortes die Be-Dingten. Wir haben die Anmaßung alles Unbedingten hinter uns gelassen“ und nur deswegen kann man die Welt bewohnen: „Erst die Menschen als die Sterblichen erlangen wohnend die Welt als Welt“.902 Wohnen heißt nach Heideggers berühmtem Aufsatz Bauen, Wohnen, Denken bauen. Drei Thesen formuliert Heidegger dabei: „Bauen ist eigentlich wohnen“; „das Wohnen ist die Weise, wie die Sterblichen auf der Erde sind“; und „das Bauen als Wohnen entfaltet sich zum Bauen, das pflegt, nämlich das Wachstum, und zum Bauen, das Bauten errichtet“.903 Das besagt, dass Bedingtheit — die Lage der Sterblichen — in einem Wohnen besteht, und dass Wohnen mit Bauen verbunden ist. Die Bedingten müssen bauen. Erinnern wir daran, was Heidegger sagt, nämlich dass die Praxis des Handwerkers darin besteht, die Leere zu gestalten, so lässt sich schlussfolgern, dass Bauen die Gestaltung des Raumes als Leere bedeutet. Bedingtheit heißt, in einem Raum zu sein, der bearbeitet werden muss. Diese Auffassung des Raum-Machens versteht Heidegger als neuen Leitfaden für seine Frage nach dem Sein: „Bauen, buan, bhu, beo ist nämlich unser Wort »bin« […] »ich bin«, »du bist« besagt: ich wohne, du wohnst“.904 Wohnen heißt bauen und beide Termini weisen auf eine Wohnstätte hin, wobei der Nachbar jener ist, der „in der Nähe wohnt“.905 Heidegger hat gesagt, die Ferne vernichte die Nähe. Der Nachbar ist eben darum der Ferne. Dabei herrscht, sagt Heidegger, Friede und Zufriedenheit.906 Friede und Zufriedenheit als Resultat des Bauens entstehen aus einem Umgang mit der Grenze. Das Ding für Heidegger, wie bereits gesehen, „versammelt das Geviert“, aber „in der Weise, daß sie dem Geviert eine Stätte verstattet“.907 Das Geviert braucht eine Stätte, um sich zu entfalten und „aus dieser Stätte bestimmen sich Plätze und Wege, durch die ein Raum eingeräumt wird“.908 Ding als Verb und im Akkusativ bedeutet Einräumen im Sinne von Annehmen, wie Platons Khôra; in dieser Weise auch: „Dinge, die in solcher Art Orte sind, verstatten jeweils erst Räume“; und daher, sagt Heidegger, bedeutet Raum „freigemachte(n) Platz für Siedlung und Lager [...] etwas Eingeräumtes, Freigegebenes, nämlich in eine Grenze, griechisch πέρας“.909; d.h., dass Orte den Raum durch Beschränkung schaffen. Darin sieht Heidegger den positiven Charakter einer Grenze: „Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern […] von woher etwas sein Wesen beginnt“; daher ist die Raum das „in seine Grenze Eingelassene“ und so: „Das Eingeräumte wird jeweils gestattet und so gefügt, d.h. versammelt durch einen Ort, d.h. durch ein Ding von der Art der 902 903 904 905 906 907 908 909

(Ebenda, S. 182-4). (Ebenda, S. 150). (Ebenda, S. 149). (Ebenda, S. 148). (Ebenda, S. 150). (Ebenda, S. 156). (Ebenda, S. 156). (Ebenda, S. 156).

Das Gespenst des Subjekts: Zeit und Raum

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Brücke. Demnach empfangen die Räume ihr Wesen aus Orten und nicht aus »dem« Raum“.910 Die Bedingtheit impliziert πέρας und beide schaffen Orte im Sinne von einer Versammlung verschiedener Elemente (hier des Gevierts), was letztendlich zu Räumen führt. Ein Ort ist ein Verbindendes-Verteilendes, wie die Brücke. Die zwei Dinge, deren Heidegger sich für die Erklärung des Dinges bedient, sind der Krug und die Brücke, annehmen und verbinden sind die angesprochenen Funktionen, welche die Philosophie dem Subjekt zusprach. Aber man darf nicht vergessen, dass der Raum in Schellings frühem Werk System des Transzendentalen Idealismus eben ein „aufgelöstes Ich“ ist, also „das Ich ohne Reflexion“.911 Das Zitat ist Teil von Schellings transzendentaler Argumentation und muss als jene Stufe der Selbsterkennung des Ich, oder der transzendentalen Geschichte des Selbstbewusstseins, wo der Raum ein bloßes Abstraktum des äußeren Sinnes ist, gelesen werden. Der Satz ist allerdings merkwürdig, denn Schelling, obwohl Kants Lehre über Zeit und Raum als Formen der Sinnlichkeit folgend, betrachtet hier den Raum als ein Quasi-Subjekt an sich, das zu sich selbst nicht zurückkehren kann. Diese Stelle hätte an sich keine Relevanz ohne eine spätere Auslegung des Raumes in der Darstellung des Naturprozesses, die von Kants Darlegung abweicht und dem Raum einen gespenstischen Charakter zuspricht912: Zwischen Realität — der äußere Sinn verlangt nun seine Unabhängigkeit von der Vorstellung — und Subjektivität — der Raum ist auch ideell, die Dinge in ihm sind auch Gedanken. Wir haben den Widerspruch bereits gezeigt: Der Raum ist subjektlos aber er verhält sich als dessen Gespenst.913 Der Raum ist ein Drittes zwischen Subjekt und Objekt. Er ist keine Vorstellung und keine Form der Sinnlichkeit. Tatsächlich: Was wären wir, was wären überhaupt alle die Dinge, die ich mir im Raum vorstelle, wenn es außer unserer Vorstellung gar keinen Raum gäbe? In welche Hirngespinste würde ich unvermeidlich gerathen, zu welchen Erdichtungen mich fortgerissen sehen, wenn ich das Letzte für wahr halten könnte? Das Wenigste wäre, daß wir uns wieder in eine Leibnizische Monadenwelt, eine Welt rein und bloß geistiger Wesen flüchten müßten.914

Der Raum ist keine Garantie, er zwingt sich auf. Und es ist doch klar, dass der Raum nichts an sich, kein Ding ist, weil da kein Subjekt ist. Das Resultat ist das Gespenstische: Der Raum […] selbst kann nicht seyn, weil kein Subjekt in ihm ist - und doch ist er [...] Nun, wenn kein Subjekt in ihm ist, so ist er doch vielleicht das Gespenst, das Phantasma eines Subjekts [...] vielleicht ist er nur das Phantasma eines Subjekts, das immerfort weicht, sich gleichsam zurückzieht, um einer Vielheit Statt, d.h. eben Raum, zu geben, einer Vielheit, die statt seiner in die Wirklichkeit eintritt. Es wäre also weder Gott noch der Mensch dieses Subjekt, das wir dem Raum wenigstens voraussetzen müssen, sondern jenes Princip, das, obwohl beständig ins 910 911 912 913 914

(Ebenda, S. 156). (Schelling und Hahn, 1998, S. I,3,383). Eine interessante Diskussion darüber findet man in Buccheims Text: Eins von Allem: (Buchheim, 1992 SS. 188-92). Siehe: §5.1.6. Das Leben lebt (das) Nicht(s): Leben, Logik und Natur und die Fußnote 705. (Ebenda, S. I,10,321).

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Coda: Ende der Phänomenologie oder Ontologisierung

Objektive heraus- und umgekehrt, nicht aufhört in sich Subjekt zu seyn“.915 In Anbetracht dieser Interpretation des Raumes beim späten Schelling, wo das Wesen der Existenz Platz gemacht hat, sind Heideggers Überlegungen zum Raum vielleicht nicht so dunkel. Statt Sein darf man sagen: Es gibt den Raum. Der gibt sich oder der Raum ist sich selbst gegeben, aber ohne (bewusstes) Subjekt. Es kann auf den ersten Blick überraschend sein, dass die Leere als Form-fähig geschildert wird. Es ist allerdings die einzige Möglichkeit, wenn alle anderen Türen des Denkens geschlossen sind. Damit aber dieses Denken des Raumes nicht stumm bleibt, braucht es wieder einen artikulierten Diskurs, der eben dieser Leere eine Stimme verleiht. Wenn der Unterschied zwischen Ort und Raum zu deutlich, oder wenn der Raum bloßes Resultat des Ortes ist, dann versinkt das Gespenstische in Dunkelheit und Schweigen. Heidegger und Schelling zeigen einen deutlichen Einfluss von Platons Timaios und dem dabei besprochenen Raum-Begriff. Was aber Platon mit Schelling — mindestens dem der Naturphilosophie, sei es in der frühen, sei es in der späteren Darstellung des Naturprozesses — verbindet, ist der Übergang vom ganz Metaphysischen zum wirklichen Raum durch eine doppelte Interpretation der Zahl und des Begriffes als Idee und Realität. Es ist nicht nur ein idealistisches Erfordernis, dass Gedanken und Welt übereinstimmen sollten. Auch ein transzendentales oder quasi-transzendentales Denken, wie jenes Heideggers, muss den Übergang von Ort zu Raum, von der Versammlung der Geviertheit zur politischen Versammlung im res publica, von der Gestaltung der Leere durch das Bauen zur wirklichen Bebauung der Erde erklären. Jedes Denken der Ursprünglichkeit muss die Entstehung des Abgeleiteten zeigen und nicht nur supponieren. Sonst wird die Welt zu nichts. Philosophie ist so viel Reduktion wie Konstruktion. D.h., sie erfordert so viel Reduktion des Gegebenen in Richtung des Anfangs wie eine gedankliche Konstruktion, damit jene Reduktion wieder ihre Effekte — sei es nur die Darstellung des Prozesses der Reduktion — zeigen kann. Die Konstruktion ist die Gestaltung des Raumes — im Gegensatz vielleicht zu einer Bestimmung des Raumes, was sofort das Bild des Bewusstseins mit sich bringt. Platon gelang es im Dialog Timaios, von den unsterblichen Ideen auf die Welt des Werdens und der Erscheinungen zu kommen, weil er auf die Mathematik zurückgriff. Es sind die Proportionen und mithin die bildliche Seite der Zahl, womit Platon die Elemente und danach die Figuren der Welt entstehen lassen kann. Schelling geht in ähnlicher Weise vor, in seiner Naturphilosophie und in seinem System des transzendentalen Idealismus verbinden sich das Ich und die transzendental aufgefasste Natur durch mathematische Figuren wie den Punkt, die Linie, die Fläche und den Rauminhalt. Wir werden Platons Timaios noch einmal in Bezug auf Derrida begegnen. 915

(Schelling, 1998, S. I,10,322).

Die Philosophie, die ihr Anderes (nicht) hört

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Was Heidegger anbelangt, muss man zugeben, dass er einem abstrakten Paradoxon treu bleiben will. Er hält die Mathematik und die Bestimmungen allgemein für abgeleitet und daher für unwesentlich, bloßes Resultat einer tieferen Meditation, die jedoch immer an der Grenze der Stille zu sein scheint: „Der Raum als extensio läßt sich aber noch einmal abziehen, nämlich auf analytisch-algebraische Relationen. Was diese einräumen, ist die Möglichkeit der rein mathematischen Konstruktion von Mannigfaltigkeiten mit beliebig vielen Dimensionen. Man kann dieses mathematisch Eingeräumte »den« Raum nennen. Aber »der« Raum in diesem Sinne enthält keine Räume und Plätze. Wir finden in ihm niemals Orte, d.h. Dinge von der Art der Brücke“; weiter: „Gleichwohl ist das Bauen, weil es Dinge als Orte hervorbringt, dem Wesen der Räume und der Wesensherkunft »des« Raumes näher als alle Geometrie und Mathematik“916, sagt Heidegger, als hieße Mathematik einfach das Messen von abwesenden Dingen und nicht ein Denken, als könnte man mit Mathematik nichts bauen, nichts wirklich denken. Ein Denken, das sich für radikal hält, kann zu einem konservativen werden, denn das Ursprüngliche scheint so unzugänglich zu sein, dass nichts es erreichen kann. Ursprung gleicht gewollter Ohnmacht. Und so lässt sich Heideggers Rede über den Raum abschließen: Wenn wir sagen: der Raum ist das, womit der Bildhauer sich auseinandersetzt, dann steht sogleich die Frage auf: Wer ist ein Bildhauer? Antwort: ein Künstler, der sich auf seine Weise mit dem Raum beschäftigt. Wie werden wir aus diesem Kreis herausfinden? Diese Frage ist schon als Frage verfehlt. Denn sie verkennt, daß wir uns auf keine Weise aus dem Beziehungsgefüge, das hier ein Kreis und Zirkel genannt wird, herausnehmen können. [...] Also gehört dieses Kreisen [...] zu unserem Menschsein.917

Dieser Kreis in Aussagen wie: „Der Raum räumt“, führt offenkundig zur Tautologie. Aber endet also die Philosophie in der Tautologie? Ist das Denken des Endes ein zirkuläres? Warum lässt sich die Paradoxie nicht philosophisch entfalten, wenn die Probleme vollkommen philosophisch sind? Und warum lässt Heidegger in seinem Denken keinen Übergang zur Welt zu, was seinen Anspruch darauf, sie zu erklären oder gar ändern zu können, verdächtig erscheinen lässt? Ist seine These, dass die Atombombe Folge der Zerstörung des Dings ist, nicht nur eitel, sondern auch gefährlich?

6.6 Die Philosophie, die ihr Anderes (nicht) hört Diese Aufgabe des Denkens ist, anderseits, nicht mehr philosophisch, insofern sie sich nicht mehr auf das argumentierte Element der Darstellung zurückführen lassen möchte. Die Intuition im Sinne von subjektiver Erfahrung spielt auch keine Rolle mehr. Die Kunst liefert keinen sinnlichen Inhalt, so wie es in der Romantik noch sein konnte. Weder der Begriff (im Element der philosophischen Wissenschaft) noch die intellektuelle Anschauung (die höchste Form der 916 917

(Nordstrom, 2007, S. 157-8; 160-1). (Heidegger 2003a, S. 70–72).

356

Coda: Ende der Phänomenologie oder Ontologisierung

Vergegenwärtigung) sind hier treffend. Auch unangemessen ist jene nicht kreisförmige, widerspruchsfreie, logisch strukturierte Rede. Das Offene befindet sich auch außerhalb der klassischen Logik, der normalen Grammatik, des üblichen Denkens. Was ist hier die Exteriorität gegenüber dem Ich, dem Denken, dem Bewusstsein? Was ist ein Denken ohne Ich? Und wenn die Frage „Was ist?“ schon das Sein impliziert, wie fragt man überhaupt nach diesem uralten Zusammenhang von Sein und Denken? Es versteht sich von selbst: Die „Lichtung des sich verbergenden Bergens“ ist ein Ausdruck, der nur im Rahmen einer gewissen Philosophie nicht mehr denkbar ist. Trotzdem ist es diese Philosophie, welche ihn vor die Problematik stellt. Die Befragung nimmt dann die Form der Paradoxie an und das Denken bleibt, in Anbetracht dieses Wunders, stehen, es ist paralysiert, es ist perplex. Im Folgenden wird dieser paradoxe Charakter genauer betrachtet. Das Ende der Philosophie bewahrt trotz allem eine „erste Möglichkeit“ des Denkens für einen anderen Anfang. Gleichzeitig wurden das Bewusstsein, das Wissen und die übliche Sprache als Ort einer Offenbarung eines neuen Anfangs geleugnet. Dieser neue Anfang ist nicht nur „verborgen“, sondern er verbirgt seine eigene Verborgenheit. Gedacht und erfahren wird nur, „was die aletheia als Lichtung gewährt“. Es gibt das, es wird das gegeben, was zu Denken übrig bleibt. Was gegeben wird, ist nicht die Welt, also etwas direkt Anwesendes, sondern die Möglichkeit des zur Anwesenheit-kommen-Könnens. Man kann dies einen Raum nennen, wenn man die räumlichen Metaphern bei Heidegger, Offenheit und Lichtung, beachtet. Das Ende stellt sich mit der Möglichkeit des Kommenden vor. Weil aber diese Ursprünglichkeit nicht mehr dargestellt werden kann, ist es nicht eindeutig, ob diese Möglichkeit als reine Möglichkeit besteht oder ob sie verwirklicht werden soll. Soll die Möglichkeit als Möglichkeit aufbewahrt werden oder soll sie actus, also zur Anwesenheit, werden? Können beide stattfinden oder befinden wir uns vor einer Entscheidung entwederoder?

6.6.1 Der Spruch Anaximanders und die Befangenheit des Apeiron oder die Ur-Tragödie Wozu die Frage nach dem Sein? Wozu dieser fundamentale Trieb nach dem allerersten Anfang, wenn die Philosophie ihrem Ende zugeht? Die Gegenwart als privilegierte Form der Zeit ist für Heidegger das Fundament der Wissenschaften, oder die Wissenschaft ist die effektive Tätigkeit von Vergegenwärtigung des Abwesenden im Bewusstsein als Wissen. Diese Geschichte fängt mit den Griechen in der Form der Philosophie an und entwickelt sich weiter bis zu Nietzsche, der diese Geschichte – d.h. den Platonismus und die damit zusammenhängenden Werte – umkehren wollte und sie eigentlich vollendet. Nietzsches Nihilismus heißt dann für Heidegger nichts anderes als das Vergessen des Seins als Sein. Philosophie, Gegenwart und Nihilismus sind Namen eines einzigen Phänomens. Wozu

Die Philosophie, die ihr Anderes (nicht) hört

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die Frage? Wozu die Überwindung der Philosophie, der Metaphysik, des Nihilismus? Wozu dieses Streben „nach“ etwas Anderem, nach einem Jenseits? Wozu ein Streben, das über die Philosophie und die Metaphysik hinausgehen will? Dieses „Post“, wir haben es gesehen, ist keinesfalls ein „Fortschritt“, ein Vorwärts-Gehen im Sinne einer Erfindung von etwas Neuem. „Post“ heißt vielmehr das Ankommen des im Anfang Vergessenen. Dieser Bezug auf die Zukunft vollzieht sich exklusiv nach einem „Einholen“ des Anfangs. Nur der Anfang verleiht Zukunft. Oder der Anfang gibt sich als das schlechthin Kommende, als ein „von da aus“ der empirischen Zeit. Heideggers Absicht ist es, hierbei tiefer zu gehen als die Philosophie. Das Versäumnis der Letzteren besteht eben darin, dass sie nicht ursprünglich genug gewesen ist. Der Versuch, einen Ausweg daraus in den und durch die Wissenschaften selbst zu suchen, bedeutet für Heidegger lediglich eine Intensivierung des Vergessens, also des Nihilismus. Wo zeigt sich die zeitgenössische Wissenschaft am besten? Wo zeigt sich dieser Nihilismus am besten? Heidegger antwortet: in der Kybernetik. In ihr lässt sich der Charakter des modernen Menschen als das erkennen, was Heidegger Ge-stell nennt, also jene Qualität der Wissenschaften, wo das Seiende und damit der Mensch auch herausgefordert werden918. Wir sahen, für Heidegger ist die Mathematik kein Denken, sondern nur etwas Abgeleitetes und gar nicht Unabhängiges, etwas der Geschichte der Philosophie Untergeordnetes. Heidegger separiert Logos und Zahl. Der Logos als aletheia rechnet mit der Sprache als seinem Ort. Nicht nur „dichterisch wohnet der Mensch“ — Aufsatz, wo Heidegger Hölderlin interpretiert —, sondern die Sprache ist eben der Ort, wo das Sein sich offenbart. So, wie Heidegger Raum vor Ort hierarchisiert hat, führt er auch eine neue Hierarchie zwischen Sprache und Zahl ein. Denn nicht die Zeichen — in diesem Sinne ist er ein Phänomenologe und folgt Husserls Streben nach Evidenz im Sinne von absolutem Ursprung — tragen und übertragen die Wahrheit, sondern nur die poetische Sprache. Der konstante Rekurs auf die Etymologie in seinem Denken soll nicht den Eindruck erwecken, er suche in der alten

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Heidegger sagt: „Es bedarf keiner Prophetie, um zu erkennen, daß die sich einrichtenden Wissenschaften alsbald von der neuen Grundwissenschaft bestimmt und gesteuert werden, die Kybernetik heißt. Diese Wissenschaft entspricht der Bestimmung des Menschen als des handelnd-gesellschaftlichen Wesens. Denn sie ist die Theorie der Steuerung des möglichen Planens und Einrichtens menschlicher Arbeit. Die Kybernetik bildet die Sprache um zu einem Austausch von Nachrichten. Die Künste werden zu gesteuert- steuernden Instrumenten der Information. Die Ausfaltung der Philosophie in die eigenständigen, unter sich jedoch immer entschiedener kommunizierenden Wissenschaften ist die legitime Vollendung der Philosophie. Die Philosophie endet im gegenwärtigen Zeitalter. Sie hat ihren Ort in der Wissenschaftlichkeit des gesellschaftlich handelnden Menschentums gefunden. Der Grundzug dieser Wissenschaftlichkeit aber ist ihr kybernetischer, d. h. technischer Charakter […] Die Kategorien, auf die jede Wissenschaft für die Durchgliederung und Umgrenzung ihres Gegenstandsgebietes angewiesen bleibt, versteht sie instrumental als Arbeitshypothesen. [...] Die wissenschaftliche Wahrheit wird mit der Effizienz dieser Effekte gleichgesetzt“ (Heidegger und Hermann 2007, S. 72). Auch im Interview mit dem Spiegel: „Der Mensch ist gestellt, beansprucht und herausgefordert von einer Macht, die im Wesen der Technik offenbar wird und die er selbst nicht beherrscht. Zu dieser Einsicht zu verhelfen: mehr verlangt das Denken nicht. Die Philosophie ist am Ende. […] Und wer nimmt den Platz der Philosophie jetzt ein? […] Die Kybernetik“ (Heidegger, 1976).

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griechischen Sprache, was die modernen Sprachen — außer dem Deutschen und nur mittels eines Umweges über das Griechische — nicht mehr leisten können. Die Sprache ist nur ein Index, kein Zeichen des Wesens. Poetisch denkt man das Kommende, nur weil die Dichtung älter ist als die Zahl. Man kann dies allerdings einfach bestreiten. Auch vor Platon hat Pythagoras die Zahl als Prinzip verteidigt. Monas und Dyas als Einheit und Dualität oder als Eins und Vielheit, bzw. Aperion, sind die Prinzipien des Ursprungs aller Dinge.919 Heidegger gesteht Pythagoras, einem Präsokratiker, kaum eine Rolle in der Geschichte der Metaphysik zu. Die Zahl als Prinzip ist keine moderne Erfindung, nicht einmal das Maß. Der Übergang von Prinzipien zu konkreten Figuren der Welt durch die Zahl ist auch keine moderne Erfindung. Man kann sagen, die Zahl ist so alt wie die Dichtung. Auch Parmenides Rede vom Einen ist offensichtlich mathematisch geprägt. Sollte die Logik die Basis der Metaphysik gewesen sein, so muss man sagen, dass die Teilung Logik-Mathematik unberechtigt ist, besonders nach jenen Entwicklungen beider Disziplinen im 20. Jahrhundert. Aber Heidegger konnte nicht vermeiden, dass in der Kybernetik die Sprache direkt ins Technische gelangt. Die Kybernetik ist nichts anderes als angewandte Logik, also nichts anderes als die Benutzung der Sprache in ihrer formellen Struktur. Die Kybernetik enthüllt und realisiert jene „planetarische Ordnung“, die die Welt wesentlich steuerbarer macht. Die Steuerung der Welt hat mit Maschinen nichts zu tun, sondern mit der Planung und mit dem Rechnen. Die Maschinen intensivieren die menschlichen Kräfte, aber eine Ordnung und die Möglichkeit einer breiteren Steuerung der Welt überhaupt werden erst durch eine Symbolisierung dieser Welt bereitgestellt. Die von Heidegger angekündigte absolute Herrschaft der Philosophie, angenommen, dass die Logik ihr „Wessen“ sei, und zwar als Technik, kann sich erst in der Sprache vollziehen. Wie Derrida in De La Grammatologie behauptet, koinzidiert diese planetarische Ordnung, die sich aus der Metaphysik ergibt, mit einer „absoluten Ausdehnung des Zeichens Sprache“, d.h. mit dem Moment, wo die dringendste, wichtigste und entscheidendste Problematik des Denkens die der Sprache – eine Sprache linguistischer Prägung – ist.920 919

920

Aristoteles schreibt in der Metaphysik: „Πυθαγόρειοι (sagten, es seien) [...] αὐτὸ τὸ ἄπειρον καὶ αὐτὸ τὸ ἓν οὐσίαν εἶναι τούτων ὧν κατηγοροῦνται, διὸ καὶ ἀριθμὸν εἶναι τὴν οὐσίαν πάντων“; auf Deutsch: „Die Pythagoreer […] fügten hinzu […], daß sie das Unbegrenzte selbst und das Eins selbst als Wesen dessen behaupteten, von dem es prädiziert werde; weshalb sie denn auch die Zahl für die Wesenheit aller Dinge erklärten“ Aristoteles Metaphysik, 987a 13-19: (Aristoteles 1989, S. 36–37). Derrida schreibt in De la Grammatologie: „[...] ce que nous appellerons le logocentrisme: die métaphysique de l'écriture phonétique“ also der „[…] ethnocentrisme le plus original et le plus puissant, en passe de s'imposer aujourd'hui à la planète“ lässt sich erst heute erkennen und zwar wegen einer paradoxen Bewegung. „Sprache“ ist ein Begriff der Metaphysik, des Logozentrismus. Aber diese Metaphysik gerät in unüberwindbare Paradoxien genau da, wo sie sich absolut ausbreitet: „Quoi qu'on pense sous ce titre, le problème du langage n'a sans doute jamais été un problème parmi d'autres. Mais jamais autant qu'aujourd'hui il n'avait envahi comme tel l'horizon mondial des recherches les plus diverses et des discours les plus hétérogènes dans leur intention, leur méthode, leur idéologie. [...] Cette inflation du signe « langage » est l'inflation du signe luimême, l'inflation absolue, l'inflation elle-même. Pourtant, par une face ou une ombre d'elle-même, elle fait

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Auch Lacan bemerkt diese Herrschaft der Sprache inmitten der Technik als Herrschaft einer formalisierten Wahrheit, mit der alle Arten Sachen produziert werden. Er nennt dieses Feld die aléthosphère (aus dem griechischen aletheia) und die begehrten Objekte, die durch die Wissenschaft bestimmt werden, lathouses.921 Das „Subjekt der Psychoanalyse“, welches später besprochen wird, jenes gespaltene und begehrende Existierende, inszeniert sein Drama im Feld des Signifikanten. Es ist in diesem Feld einer stark formalisierten Sprache, wo sowohl Derrida als auch Lacan die Ohnmacht und die Unmöglichkeiten des wissenden, bewussten Subjekts verorten. Dieses bewusste Subjekt begegnet der Unmöglichkeit, seinen Ursprung und vor allem seine Wahrheit auszusprechen. Dies macht seine Ohnmacht gegenüber der Sprache und gegenüber dem Unbewussten aus. Ist dieses Feld der durch die Linguistik formalisierten Wahrheit, welche einer Ohnmacht und einer Unmöglichkeit begegnet, von den heideggerschen Bedingungen des Denkens des Seins als Lichtung so verschieden? Also: Stehen die Unmöglichkeit und Ohnmacht bei Heidegger, das Sein auszusprechen, der Ohnmacht und der Unmöglichkeit des Bewusstseins des Subjekts gegenüber der Sprache einander nicht nahe? Sind vielleicht Dichtung und Kybernetik zwei Seiten der gleichen Medaille? Nicht für Heidegger selbstverständlich, denn das Denken des Seins anhand der Dichtung versteht sich als eine Art Befreiung und nicht als ein double-bind, wo man immer etwas verlieren muss, d.h., wo man immer auf etwas – das Sein, die Ganzheit, die Wahrheit – verzichten muss. Heideggers Frage nach dem Sein richtet sich gegen eine Befangenheit. Nihilismus, Philosophie, Metaphysik - all dies bedeutet die Herrschaft der Gegenwart zulasten der Vergangenheit und der Zukunft als Möglichkeiten. Dichten und Denken sind Nachbarn.

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encore signe : cette crise est aussi un symptôme. Elle indique comme malgré elle qu'une époque historicométaphysique doit déterminer enfin comme langage la totalité de son horizon problématique“ (S. 15). Nur nach dieser „absoluten Ausdehnung des Zeichens Sprache“ wird die Möglichkeit deren Kritik eröffnet, also die Möglichkeit deren Dekonstruktion, was letztendlich zu einem Denken der Schrift wird. Die Schrift „cessant de désigner une forme particulière, dérivée, auxiliaire du langage en général [...], cessant de désigner la pellicule extérieure, le double inconsistant d'un signifiant majeur, le signifiant du signifiant, le concept d'écriture commençait à déborder l'extension du langage. A tous les sens de ce mot, l'écriture comprendrait le langage. […] « Signifiant du signifiant » décrit au contraire le mouvement du langage : dans son origine, certes, mais on pressent déjà qu'une origine dont la structure s'épelle ainsi ― signifiant de signifiant ― s'emporte et s'efface elle-même dans sa propre production“ (S. 16) Alle Zitate aus : (Derrida, 19767a). Lacan: „[…]mais vous pouvez trouver mieux …l'aléthosphère en nous servant, de l’ἀλήθεια […] l'aléthosphère, ça s'enregistre; was die Wahrheit betrifft: „[…] elle ne dévoile pas du tout sa vérité, elle. Alors, nous appellerons ça à l'aide de l'aoriste du même verbe dont un célèbre philosophe a rappelé que l’ἀλήθεια [ça en venait… parce qu'après tout il n’y a que les philosophes pour s'aviser de choses pareilles, les philosophes et puis peut-être les linguistes …on va appeler ça des « lathouses ». […] Vous remarquerez que j'aurai pu appeler ça des lathousies, ça aurait fait jeu avec l'οὐσία] car ça participe de l'οὐσία avec tout ce qu'il y a d'ambigu dans l'οὐσία [ousia]. L'οὐσία [ousia] c'est pas l'Autre, c'est pas l’étant, c'est entre les deux. Ce n'est pas tout à fait l'être non plus, mais enfin ça en approche fort. Pour ce qui est de l’insubstance féminine, j'irais bien jusqu'à la parousie. Mais pour les menus objets petit(a) que vous allez rencontrer en sortant, là sur le pavé, à tous les coins de rue, derrière toutes les vitrines, dans ce foisonnement de ces objets faits pour causer votre désir, pour autant que c'est la science qui nous gouverne, pensez-les comme « lathouses ». Im Feld einer formalisierten „vérité, il y a des vérités qu’on ne peut pas démontrer. Au niveau de cet impossible c'est là, vous le savez, que je définis ce qui est réel […] l'impuissance [und] l'impossibilité [...]“ (Lacan 1998, S. 187-188, 190).

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Heidegger erinnert daran, dass (siehe Frage nach der Technik) der Begriff Technik aus dem griechischen techné stammt, und dass dieses Wort bei den Griechen auch Kunst bedeutete. Das Wesen der Technik nicht technisch – denn Wesen und empirische Existenz unterscheiden sich – zu denken, besteht für ihn darin, die techné eben als Kunst und besonders als Dichtung aufzufassen. Denn Wörter behalten, so Heidegger, den Anfang, aus dem sie herkommen. Diese Auseinandersetzung mit der Sprache sollte dann das Wesen der Technik freimachen und den Weg für das Denken des Seins vorbereiten. Die Frage nach dem Sein bedeutet eine Befreiung von der Herrschaft der Gegenwart und deren Verwaltung im Medium der Wissenschaft und der Technik. Befreien bedeutet natürlich kein „etwas loswerden“, sondern eine Erweiterung – welche die Philosophie, also ihre Möglichkeit als deren Boden, einschließt – bzw. eine Vertiefung in den Anfang – eine noch ursprünglichere Stellung –, wobei die Gegenwart sich als bloßes Resultat – von jenem verlorenen Anfang – zeigen wird. Befreiung bedeutet also zum Wesen zurückzukehren, was die Frage nach dem Sein erst ermöglichen kann. Bei der Seinsgeschichte und deren Befragung gibt es keine Willkür, sondern eine strikte Notwendigkeit, was Heidegger Geschick nennt. Diese Szene vom vergessenen Anfang und dem noch Kommenden, diese Szene von Schicksal und Unwissen, diese Szene mit tragischem Ausgang, die noch auf eine glückliche Zukunft hinschaut, diese Szene ist eine Tragödie. Heidegger sagt: Sehen wir das Wesen des »Tragischen« darin, daß der Anfang der Grund des Untergangs, Untergang aber nicht »Ende«, sondern das Rund des Anfangs ist, dann gehört zum Wesen des Seyns das Tragische. Dies aber ermöglicht, daß dort, wo das Seiende in den Ursprung des Seyns reicht, in der Geschichte des Seienden und zwar allein jenes Seienden, dessen Wesen im Bezug zum Seyn verwurzelt ist, »Tragödien« sind. Die große wesentliche – Dichtung als Stiftung des Seyns ist »tragisch«.922

Das Sein soll untergehen. Oder es gehört zur Geschichte des Seins, dass das Sein selbst untergeht, d.h., dass das Sein sich selbst verbirgt. Heideggers Werk fing als jene Suche nach dem Sein an, wo sich die Destruktion der Geschichte der Metaphysik aufzwang. Diese Destruktion, eine Art hermeneutischer Reduktion der metaphysischen Tradition, sollte die Bedingung und Vorbereitung sein für das Stellen der Frage nach dem Sein. Denn die Vergessenheit des Seins zeigt sich eben darin, dass man nicht mehr weiß, wie zu fragen. Die in Sein und Zeit gestellte Frage aber wird und muss ständig von einer gewissen Ohnmacht begleitet sein. Gewiss ist die Philosophie nicht direkt anzuwenden. Sicherlich, wie Heidegger sagt, gehört die unmittelbare Wirkung und Durchsetzung nicht zur Philosophie923. Doch ist das Denken gegenüber dem Denken selbst ohnmächtig, wenn es ihm nicht gelingt, das Verneinende positiv zu interpretieren, also zu bejahen. Schelling hat Heideggers ontologische Differenz und die Frage nach dem Sein deutlich in dem 922 923

(Heidegger & Hermann, 1997, S. 223). (Heidegger, 1989a, S. 47).

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Sinne antizipiert, dass der Erstere für das freie Denken verlangte, alles Seiende, auch Gott, zu verlassen: Allein mit dem Subjekt der Philosophie ist es etwas ganz anderes. Dieses ist schlechthin indefinibel […] es ist nichts - nicht etwas, und selbst dieß wäre wenigstens eine negative Definition; allein es ist auch nichts nicht, […] Es ist in einer unaufhaltsamen Bewegung, in keine Gestalt einzuschließen, das Incoercible, das Unfaßliche, das wahrhaft Unendliche“ [d.h. Sein und Werden, Sein und Zeit, Sein als Zeit, dies beansprucht der wahre Philosoph, A.R.] […] zu diesem muß sich erheben, wer der vollkommen freien, sich selbst erzeugenden Wissenschaft mächtig werden will. Hier muß alles Endliche, alles, was noch ein Seyendes ist, verlassen werden, […] was nur Ist, selbst Gott, denn auch Gott ist auf diesem Standpunkt nur ein Seyendes […].924

Heideggers sowie Finks Reduktion richtete sich auch gegen das Subjekt und Objekt sowie deren Unterscheidung. Die Philosophie selbst müsste aber sich selbst reduzieren: „Philosophie ist [...] freie Geistesthat; ihr erster Schritt ist nicht ein Wissen, sondern vielmehr ausdrücklich ein Nichtwissen, ein Aufgeben alles Wissens für den Menschen“.925 Nach diesem Aufgeben soll aber für den Schelling der Erlangener Vorlesungen der Prozess der Selbsterkennung vorangetrieben werden, wodurch das Unendliche, Abstrakte und Unsagbare zu sich selbst kommen. In diesem Moment erst wird der Anfang zum Anfang und das Ende zum Ende. Ohne eine solche Erkenntnis verhält es sich so: „[J]ene ewige Freiheit als absolutes Subjekt [...]“, kann in Objekten anerkannt werden, „wir sehen sie in allen ihren Gestalten, aber nicht als die ewige Freiheit, nicht als Subjekt, nicht wie sie an sich ist“, schließlich sagt Schelling: „Es scheint also, daß sie überall und auf keine Weise zu erkennen sey. Als absolutes Subjekt ist sie über aller Erkenntniß, als Objekt ist sie nicht in ihrem An-sich“.926 Wie gesagt, es gibt nur einen Weg, damit das Unendliche-Freie uns nicht tragisch entgeht: „Was der absolute Anfang ist, kann sich nicht wissen; übergehend ins Wissen hört es auf der Anfang zu seyn und muß darum fortschreiten, bis es sich als Anfang wieder findet. Der als sich selbst wissender Anfang wiederhergestellte Anfang ist das Ende alles Wissens“.927 Meint Heidegger, dass das Absolute, also das Sein, uns tragisch entgehen muss? Warum sagt er, Philosophie und Tragödie seien verbunden? Heidegger schlussfolgert ohne zu zögern: „Ist die Philosophie Denken des Seyns im Sinne des erfragenden Vordenkens in die Gründung der Wahrheit des Seyns, dann sagt der Name »tragische Philosophie« zweimal dasselbe“.928 Peter Szondi sagt, die philosophische Tragödie beginne mit Schellings Interpretation von König Ödipus929, als er sich nicht mehr für dessen Rezeption vonseiten eines Publikums interessierte, sondern für das Tragische an sich. Dieses Tragische kennzeichnet sich dadurch, dass „Rettung zu Vernichtung wird, nicht im Untergang des Helden vollzieht sich die Tragik, sondern darin, dass der Mensch auf dem Wege untergeht, den er eingeschlagen hat, um dem

924 925 926 927 928 929

(Schelling und Hahn, 1998, S. I,9,217). (Ebenda, S. I,9,228). (Ebenda, S. I,9,226). (Ebenda, S. I,9,222). (Heidegger und Hermann, S. 223). (Szondi, 1964, S. 14).

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Untergang zu entgehen“.930 Wo Gefahr ist, wächst auch das Rettende, hatte Hölderlin in Pathmos gesagt, und Heidegger eignete sich diesen Satz an. Das Tragische ist allerdings die Umkehrung dieser Hoffnung. Wo Rettung ist, da wächst eben die Gefahr. Nichts anderes scheint Heideggers Interpretation der Metaphysik zu sein. Wie bereits gesehen, bedeutet der Nihilismus die Herrschaft der Wissenschaften in der Form der Technik als Ge-Stell. Eine Vertiefung in die wissenschaftliche Sichtweise, wie Husserl es macht, verschlimmert nur die Befangenheit im Seienden und damit die Befangenheit in der Metaphysik. Szondis Analyse von König Ödipus hebt hervor, dass sich nicht nur ein unabänderliches Schicksal aufzwingt, sondern dass es die Handlungen von Ödipus und Laios sind, die sie angesichts des Orakelspruchs in den Ruin treiben. Sie machen ihr Schicksal selbst, indem sie es umgehen wollen. Sie sind beide schuld, auch wenn sie dazu blind gezwungen wurden. Blindheit und Sehen trennen sich in der Tragödie: „Zum ersten Male klaffen so im ÖdipusGeschehen sein und Schein auseinander und bieten der tragischen Dialektik einen neuen Spielraum: die Rettung im im Bereiche des Scheins erweist sich in der Wirklichkeit als Vernichtung“.931 Eine Vertiefung ins Seiende — statt in das Sein — kann für Heidegger nur das Vergessen des Seins, also die Seuche, wenn wir es mit der Plage von Theben vergleichen, verschlimmern. Die Unfruchtbarkeit wächst mit dem Versuch, sie zu überwinden. Aber die Tragödie ist eine Tragödie, weil dies unvermeidlich ist, weil die Vergessenheit des Seins auch notwendig war. Wir sind selbst, so der Nihilismus, Schuld, indem wir blind dem Schicksal folgten. Teiresias, der Blinde, ist der Einzige, der sieht. Verborgenheit und Unverborgenheit lassen sich einfach auf das Bild von Ödipus und Teiresias übertragen. Aber diese Bindung von Offenheit und Verborgenheit verdoppelt sich, wie gesagt, im Spiel von Rettung und Übel. Verborgenheit und Unverborgenheit supponieren sich gegenseitig. Diese Beziehung selbst ist jedoch in Vergessenheit geraten. Die Geschichte des Seins erscheint nur in ihrer Vergessenheit in dunkler Weise. Diese Erscheinung wird aber sofort gestrichen, durch Striche unterbrochen, mithilfe griechischer Etymologien in die Ferne entrückt. Der Bindestrich ist die Differenz selbst, aber in tragischer Form. Denn Anfang und Ende der Philosophie kollidieren im Paradoxon. Man kann den Anfang nicht mehr wiederholen, denn der Anfang ist nur Anfang in Bezug auf ein Ende und eine Geschichte. Anfang, Mitte und Ende können nur in der Philosophie sein. Man kann natürlich nicht wissen, wann man etwas angefangen hat, um es als Anfang zu setzen. Ja: Die Tragödie ist originärer als die Philosophie, aber nur sofern es der Philosophie gelingt, sich in der Tragödie zu erkennen. Diese Tragödie ist aber keine einfache Rettung, kein Beispiel der absoluten Freiheit, wie es der Fall bei Schelling war.932 Es gibt keine Sprache außerhalb 930 931 932

(Ebenda, S. 65). (Ebenda, S. 68). Szondis These über den Anfang der modernen Theorie der Tragödie bei Schelling als Bejahung der Freiheit

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der Metaphysik, um die Metaphysik zu überwinden, daher Heideggers Rückgriff auf etymologische und sprachliche Spiele. Das wäre an sich ein Ausweg. Ist es aber nicht. Das Denken des Seins ist nur eine Propädeutik, vielleicht eine ewige Propädeutik, weil Heidegger immer zugeben muss, dass die Struktur des Fragens zwischen einem Nicht-mehr und einem Noch-nicht oszilliert.933 Die gelobte Ohnmacht des Denkens macht das Nicht-mehr und das Noch-nicht zu einer festen Struktur. Das Offene verweigert das anders Seiende, das Wirkende. Das Seiende ist immer nurdas Seiende, das Sein verbirgt sich und erscheint im Dunkeln einer durchgestrichenen Rede, welche nur auf Kosten des Seienden — dessen Reduktion — erfolgt. Ist die Tragödie eine zu lernende Lektion in Anbetracht des kommenden Denkens oder eher das Letzte, was sich sagen lässt? Ist die Überwindung der Metaphysik vielleicht nicht die explizite Behauptung der Unmöglichkeit, die Metaphysik zu überwinden? Sind überwinden, Anfang und Ende nicht allzu metaphysische Begriffe? Ist die Metaphysik wirklich die Befangenheit, die Heidegger behauptet? Und ist nicht wiederum die heideggersche Rede eine neue Befangenheit in einem tragischen Denken, wo alles Fortschreiten Untergang, alles Gerechte das Ungerechte, alles Tun Ohnmacht ist? Oder sind die Bindestriche in Heideggers Texten nicht Zeichen des Scheiterns der Frage nach dem Sein? Die Unbestimmtheit der Frage erweckt den Eindruck eines Schritts vor der Entscheidung, die zur Philosophie führte. Diese Unbestimmtheit ist die Welt vor der Welt, der Anfang ohne Grund, das Subjekt ohne Subjekt. Doch lässt sich fragen, ob diese Erschütterung ausreichend für ein anderes Denken ist. Allem Ziel entzogen, diese Rede mag unendlich weitergehen, ohne im Geringsten ihr Äußeres zu akzeptieren, weil es abgeleitet ist. Diese Welt vor der Welt als reine Möglichkeit oder die Behauptung des Privilegs des Möglichen gegenüber dem Wirklichen hebt das apeiron hervor und zeigt sich einseitiger als der Idealismus, soweit es die Welt des Seienden indirekt, aber de facto verachtet. Die Frage nach dem Sein ist sicherlich so

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lässt sich mit einem Zitat, das er selbst wiedergibt, deutlich belegen: „Man hat oft gefragt, wie die griechische Vernunft die Widersprüche ihrer Tragödie ertragen konnte. Ein Sterblicher - vom Verhängniß zum Verbrecher bestimmt, selbst gegen das Verhängniß kämpfend, und doch fürchterlich bestraft für das Verbrechen, das ein Werk des Schicksals war! Der Grund dieses Widerspruchs, das, was ihn erträglich machte, lag tiefer, als man ihn suchte, lag im Streit menschlicher Freiheit mit der Macht der objektiven Welt, in welchem der Sterbliche, wenn jene Macht eine Uebermacht - (ein Fatum) - ist, nothwendig unterliegen, und doch, weil er nicht ohne Kampf unterlag, für sein Unterliegen selbst bestraft werden mußte. Daß der Verbrecher, der nur der Uebermacht des Schicksals unterlag, doch bestraft wurde, war Anerkennung menschlicher Freiheit, Ehre, die der Freiheit gebührte. Die griechische Tragödie ehrte menschliche Freiheit dadurch, daß sie ihren Helden gegen die Uebermacht des Schicksals kämpfen ließ: um nicht über die Schranken der Kunst zu springen, mußte sie ihn unterliegen, aber, um auch diese, durch die Kunst abgedrungene, Demüthigung menschlicher Freiheit wieder gut zu machen, mußte sie ihn - auch für das durchs Schicksal begangene Verbrechen - büßen lassen. Solange er noch frei ist, hält er sich gegen die Macht des Verhängnisses aufrecht. Sowie er unterliegt, hört er auch auf frei zu seyn. Unterliegend klagt er noch das Schicksal wegen Verlustes seiner Freiheit an. Freiheit und Untergang konnte auch die griechische Tragödie nicht zusammenreimen. Nur ein Wesen, das der Freiheit beraubt war, konnte dem Schicksal unterliegen. - Es war ein großer Gedanke, willig auch die Strafe für ein unvermeidliches Verbrechen zu tragen, um so durch den Verlust seiner Freiheit selbst eben diese Freiheit zu beweisen und noch mit einer Erklärung des freien Willens unterzugehen“ (Schelling und Hahn, 1998, S. I,1,336-7). Heidegger: „In der Reife, der Mächtigkeit zur Frucht und der Größe der Verschenkung, liegt zugleich das verborgenste Wesen des Nicht, als Noch-nicht und Nicht-mehr“ (Heidegger, 1989a, S. 410).

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unerlässlich wie nicht formulierbar, denn sie gilt als explizite Kritik an einem Denken des rein Gegenwärtigen, aber gleichzeitig verschwimmt die Frage selbst, so dass immer mehr die Kriterien fehlen, um Metaphysik und das Jenseits der Metaphysik voneinander zu unterscheiden.

7 Die Dekonstruktion zur (Ohn)macht Im letzten Kapitel wurde Heideggers Ansatz über das Ende der Philosophie genauer betrachtet. Es wurden dabei die Paradoxien gezeigt, zu denen sein Denken führt. Die vorliegende Untersuchung begann allerdings mit Derrida als Vertreter des Denkens des Endes, wobei Husserl und Heidegger die Rolle einer Vorbereitung gespielt haben. Man wird sehen, dass Derrida fundamentalen Argumenten von Heidegger treu bleibt. Jedoch will die Dekonstruktion Heideggers Gedanken noch einen Schritt weiterbringen. Heidegger beharrte auf den Begriff Anfang und versuchte immer wieder, ihn auf neue Weise zu erreichen. Wie auch dargestellt wurde, rekurrierte Heidegger auf bekannte Motive des deutschen Idealismus. Beispiel dafür ist nicht nur der Begriff Anfang, sondern auch andere, wie die gemeinsame Wurzel von Sein und Denken, das Absolute als Versammlung, die Wahrheit als Offenbarung, die Dichtung als Zugang zum eigentlichen Sein usw. Derrida hat diese Tendenz bei Heidegger nicht nur gezeigt und dekonstruiert, sondern auch den paradoxen Kern des Denkens ans Licht gebracht. Heidegger verwendet nie die Begriffe Paradoxon oder Aporie, er begegnet ihnen im Laufe seiner Arbeit. Derrida ist nun derjenige, der sich mit diesem Charakteristikum beschäftigt. Heidegger kritisierte den Begriff der Anwesenheit bei Husserl, verzichtete aber nie auf andere Fassungen davon, wie etwa das Anwesen, das Zur-Anwesenheit-Kommen. Derridas Ausgangspunkt kann eben darin lokalisiert werden: im paradoxen Charakter der Anwesenheit und daher in einem Denken einer radikalisierten Differenz. Die Verschiebung (retard) ist das philosophische Absolute. Dies kann nur eine Phänomenologie sagen, wovon, Derrida folgend, ausgegangen wurde. Mit dem gewonnenen Rahmen der Phänomenologie Husserls und Heideggers Ruf nach einem postphilosophischen Denken kann man jetzt besser verstehen, was hinter der différance steckt. Weiter soll erläutert werden, wie die différance und die Dekonstruktion verbunden sind. Die Erstere wird sich als ein Ur-ur-Prinzip erweisen, das kein Prinzip mehr ist, während Letztere sich als eine ohnmächtige Praxis oder eine Praxis der Unmöglichkeit verstehen will.

7.1 Derridas doppelte Forderung: Das Wiedererlangen und den Verlust der Gegenwart gleichzeitig zu denken Derridas Texte sind zahlreich und sie verteidigen selten Thesen oder direkte Aussagen. Dies gilt vor allem für seine reife Philosophie. Es wäre aber ein großer Irrtum, deshalb zu denken, dass er überhaupt keine positiven Thesen äußere, dass seine Philosophie strikt textimmanent und von den besprochenen und dekonstruierten Texten ganz abhängig sei. Auch die Ansicht, seine frühen Werke, die hauptsächlich von Husserl handeln, hätten einen „allzu-akademischennoch-nicht-völlig-dekonstruktiven“ Stil ist ein falscher Gemeinplatz. Seine reife Philosophie ist offensichtlich die Entfaltung von Thesen, die argumentativ nur in seiner ersten Philosophie

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 A. Romero Contreras, Die Gegenwart anders denken, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04820-2_7

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zu finden sind. Der Vortrag La Différance ist diesbezüglich ein seltsamer Text. Weder ist er (ganz) argumentativ noch (völlig) dekonstruktiv, eher ist er ein Manifest und enthält nicht nur eine Stellungnahme, sondern auch eine Skizze des philosophischen Horizonts, vor dem Derrida seine eigene Philosophie entwickelt. Der Quasi-Begriff différance resümiert Derridas vorherige Auseinandersetzung mit Husserl und formuliert ein Programm, auch wenn auf paradoxe Weise, um ein nicht-ganz-philosophisches Denken zu skizzieren. Die différance soll nicht nur die Verschiebung (retard) als Absolutes bestätigen, sondern sie wird als ein Jenseits der Philosophie interpretiert. Oder, um genauer zu sein, die différance soll die Randgänge der Philosophie sichtbar machen. Daher taucht in diesem Aufsatz eine Konstellation von nichtganz-philosophischen Autoren auf, wie Lévinas, Nietzsche, Heidegger und Freud. Um die Auslegung des Vortrags zu beginnen, kann man hier eine Stelle zitieren, die den Charakter eines Appells besitzt: Comment penser à la fois la différance comme détour économique qui, dans l’élément du même, vise toujours à retrouver le plaisir où la présence différée par calcul (conscient ou inconscient) et d’autre part la différance comme rapport à la présence impossible, comme dépense sans réserve, comme perte irréparable de la présence, usure irréversible de l’énergie, voire comme pulsion de mort et rapport au tout-autre interrompant en apparence toute économie? Il est évident — c’est l’évidence même [hier ist deutlich Husserl gemeint, A.R.] — qu’on ne peut penser ensemble l’économique et le non-économique, le même et le tout-autre, etc. Si la différance est cet impensable, peut-être ne faut-il pas se hâter de la porter à l’évidence, dans l’élément philosophique de l’évidence qui aurait tôt fait d’en dissiper le mirage et l’illogique, avec l’infaillibilité d’un calcul que nous connaissons bien, pour avoir précisément reconnu sa place, sa nécessité, sa fonction dans la structure de la différance.934

Wie lässt sich die différance als ökonomischer Umweg denken, der „die Gegenwart wiedererlangt“, und als „nicht wieder gutzumachender Verlust von Gegenwart“? Dieses Zitat kondensiert die entgegengesetzten Richtungen des Denkens nach der Philosophie - dessen unmögliche Synthese. Es nennt eine der scheinbar nicht zu überwindenden Paradoxien, was uns zwingt, die Philosophie zu verlassen und uns einem anderen Denken zu öffnen. Erkennbar im Zitat ist zunächst das „Element des Gleichen“, das in der Philosophie als Präsenz oder Gegenwart besteht, als vernünftige Bestimmung des Ganzen, als Wahrheit der Wahrheit im philosophischen Element der Evidenz oder des Begriffes, also im Wissen. Und erkennbar ist auch die „Beziehung zum ganz Anderen“, der Verlust von Gegenwart in der différance. Wenn die différance dieses Undenkbare ist, Derrida warnt deutlich davor, soll man sie nicht schnell als Evidenz interpretieren, zum philosophischen Element der Evidenz bringen. Was ist eine Evidenz? Man hat es von Husserls Phänomenologie gelernt: Evidenz ist die „Komparition“ der Sachen selbst im Bewusstsein. Diese Behauptung Derridas impliziert eine prinzipielle Identifikation der Philosophie mit der Phänomenologie, so dass trotz allem eine Verbindung zu Husserl besteht. Wenn die Phänomenologie das ganze Feld des Denkbaren erobert hat, kann man schlussfolgern, dass die différance undenkbar sein muss. 934

(Derrida, 1972b, S. 20).

Derridas doppelte Forderung

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Wie aber denkt man etwas, was nicht gedacht werden kann? Ist die différance eine Berufung auf eine noch ursprünglichere Ebene (Heidegger folgend) als die der phänomenologischen Evidenz oder ist sie die Ablehnung der Evidenz tout court? Ist sie eine Praxis oder eine (Vor)Ontologie? Sucht sie einen neuen Grund — wie bei Trần Đức Thảo— oder richtet sie sich eher gegen den Gedanken eines Grundes zugunsten einer „Dialektik“ des Begründenden und des Begründeten — wie bei Merleau-Ponty? Ist die différance dies oder das (beachtet man den logischen Operator vel), weder dies noch das (im Sinne einer negativen A-theologie), beides (beachtet man den logischen Operator und) oder keines davon (ein Schweigen)? Derrida erklärt all diese Hypothesen für nichtig, indem er antwortet: „[L]a différance n’est pas, n’existe pas, n’est pas un étant-présent (ón), quel qu’il soit”.935 Derrida stellt sich doch die richtige Frage: Comment vais-je m’y prendre pour parler […] de la différance ? Il va de soi que celle-ci ne saurait être exposée. On ne peut jamais exposer que ce qui à un certain moment peut devenir présent, manifeste, ce qui peut se montrer, se présenter comme un présent, un étant-présent dans sa vérité, vérité d’un présent ou présence du présent. Or si la différance est (je mets aussi le « est » sous rature) ce qui rend possible la présentation de l’etant-present, elle ne se présente jamais comme telle. Elle ne se donne jamais au présent. A personne. Se réservant et ne s’exposant pas, elle excède en ce point précis et de manière réglée l’ordre de la vérité, sans pour autant se dissimuler, comme quelque chose, comme un étant mystérieux, dans l’occulte d’un non-savoir ou dans un trou dont les bordures seraient déterminables (par exemple en une topologie de la castration). En toute exposition elle serait exposée à disparaître comme disparition. Elle risquerait d’apparaître: de disparaître.936

Diese ganz strenge Teilung zwischen dem rein Gegenwärtigen und der différance lässt keinen Platz für die Exposition (Darstellung) der différance auch nicht als Begriff. Gleicht der Begriff des Undenkbaren einem undenkbaren Begriff? Werden sie nicht verwechselt? Wenn aber Derrida sagt: „Man kann immer nur das exponieren, was in einem bestimmten Augenblick anwesend ist, offenbart werden kann, was sich zeigen kann, sich als ein Gegenwärtiges präsentieren kann“937, heißt das dann nicht, dass die différance außerhalb des Spiels steht, außerhalb ihrer konkreten Geschichte in der Philosophie, außerhalb aller Diskussionen, außerhalb jedes Verhältnisses zum philosophischen Wortschatz, weil sie dafür supponiert werden muss? Ferner: Ist diese präzise Betrachtung der différance nicht, wenn auch eine negative, Vorstellung, eine Erklärung und auch eine bestimmte und abgegrenzte Praxis? Spricht nicht schon Derrida davon und denkt er sich nicht das, was nicht gedacht werden kann? Skizziert er nicht die Randgänge938 der différance durch die Randgänge der Philosophie? Wie kann er eine Topologie der Kastration und die Löcher, die diese denkt (Derrida bezieht sich offensichtlich auf die Psychoanalyse Lacans), ablehnen, wenn er selbst die Randgänge, also die Form der Philosophie skizziert?

935 936 937 938

(Ebenda, S. 6). (Ebenda, S. 6). Deutsche Fassung der oben zitierten Stelle von La Différance: (Derrida, 1999a, S. 31–32). Der Aufsatz La Différance befindet sich in Derridas Buch Randgänge der Philosophie (Derrida, 1972b).

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Derrida hat aber eine doppelte Forderung zum Ausdruck gebracht: Wie lassen sich der Umweg, der die Gegenwart wieder findet, und deren unersetzlicher Verlust gleichzeitig denken? Seine Antwort ist kategorisch: Beides lässt sich nicht gleichzeitig denken. Die Unmöglichkeit muss hier buchstäblich genommen werden und nicht nur „im Element der Evidenz“. Denn Derrida entscheidet sich de facto in jedem Text für das Letztere, für den Verlust der Präsenz. Dieser soll ursprünglicher als die Gegenwart sein. Es gibt kein positives Drittes, aus dem man den genannten Zusammenhang denken kann. Das Denken der différance beansprucht beides, es ist aber in der Tat nur eines. Es erklärt, Gegenwart und Verlust der Gegenwart gleichzeitig denken zu wollen. Sie denkt aber nur das Letztere, den Verlust der Gegenwart, und zwar als Bedingung des Ersteren (es wird also eine Hierarchie eingeführt): der Gegenwart überhaupt. Aber diese allererste Möglichkeitsbedingung (man beachte, dass Moglichkeitsbedingung zum Vokabular einer transzendentalen Philosophie gehört) gründet auf nichts, sie besteht aus Differenzen, welche aus Differenzen bestehen usw. Das Resultat der transzendentalen Philosophie in Derridas Denken führt von einem Ineinander-Sein der Zeiten (Husserl) nun zu einem Regress ins Unendliche. Die Zeit kann und muss sich selbst nie erreichen. Nichtsdestotrotz gelingt es Derrida, zwei Obsessionen zu Ende zu bringen. Sein Denken bricht mit der Überzeugung, dass a) der Philosoph die Vergangenheit mit dem Ziel untersucht, den Ursprung in Form einer Evidenz zu finden und dass b) der Philosoph seine Vergangenheit in einer Zukunft vollenden kann. Derrida zufolge heißt Rückfragen (Husserl) nur, über die Spuren zurückzukehren, und Vorhaben, auf das Kommende ewig zu warten, denn dies gewährleistet die Öffnung der Geschichte, des Sinnes und der Welt. D.h., während die Philosophie der Gegenwart — d.h. die Phänomenologie — das Mögliche durch eine Befestigung im Element der Evidenz einschließt, stellt die différance die Offenheit des Möglichen wieder her. Oder noch genauer gesagt: des Unmöglichen. Denn das Unmögliche ist nicht einmal durch feste Möglichkeiten begrenzt (z.B. in einer Tafel logischer Kategorien). Das Spiel von Differenzen, das die différance ermöglicht, ist regel-schaffend, aber auch regellos. Die Gegenwart als Ausgangspunkt aber, die ihre Wahrheit in dieser Rückkehr zum Geschehenen (zu den Schichten der Geschichte) und dieser ewigen Er-Wartung finden könnte, ist nichts anderes als der Verweis auf Vergangenheit und Zukunft. Dies ist das Sein als das immer Anders-Werden und nicht das Sein im Anders-Werden. Derrida gehört zu einer identifizierbaren Tradition, die der Zeit — als Verschiebung — auf Kosten des Raumes — als Gleichzeitigkeit — die (vor)ontologische Priorität gibt. Zeit ist die Figur des Werdens, des Verschwindens und der Differenz, Raum dagegen die des Geformten, des Lokalisierten, des Begrenzten. Derrida behauptet nun Folgendes über die différance: Ce qui fait que le mouvement de la signification n’est possible que si chaque élément dit «présent», apparaissant sur la scène de la présence, se rapporte à autre chose que lui-même, gardant en lui la marque de l’élément passé et se laissant déjà creuser par la marque de son rapport à l’élément futur, la trace ne se rapportant pas moins à ce

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qu’on appelle le futur qu’à ce qu’on appelle le passé, et constituant ce qu’on appelle le présent par ce rapport même à ce qui n’est pas lui: absolument pas lui […] cet intervalle se constituant, se divisant dynamiquement, c’est ce qu’on peut appeler espacement, devenir-espace du temps ou devenir-temps de l’espace (temporisation).939

Heißt dies nicht, die différance sei sowohl Zeit als auch Raum, das Raum-Werden der Zeit und das Zeit-Werden des Raumes im radikalsten Sinne? Derrida lässt keinen Zweifel daran, dass die Gegenwart im Prinzip nicht (ganz) konstituiert werden kann. Unter Zeit-Werden des Raumes versteht er die Verschiebung des gegenwärtigen Elements, unter Raum-Werden der Zeit die Unterbrechung eines continuum. Derrida zufolge ist es aber ausschließlich die Zeit, die sowohl das Gegenwärtige in einer historischen Verkettung verschiebt als auch die Kontinuität unterbricht. Das Räumliche hat hier keine Struktur, keine Form, es ist keine Beziehung, es hält nichts zusammen. Ursprünglich ist nur die Temporisation, die reine Geschichtlichkeit, die Verzögerung. Natürlich will Derrida den strukturalistischen Zusammenhang von Gleichzeitigkeit und Struktur behalten: Ein Element in einer zeitlichen Serie hat nur noch angesichts eines anderen eine Bedeutung. Aber dieser Bezug zu anderen Elementen ist für Derrida sekundär und ihm liegt die différance zugrunde. Man kann behaupten, dass das strukturelle Moment der différance durch sich selbst ständig verunmöglicht wird. Auf diese Weise erklärt Derrida die (nicht subjektive) Konstitution der Zeit: Jeder Punkt der Gegenwart, dieses zu Null Tendierende, ist an sich durch eine Spur (französisch: trace) getrennt, indem es strukturell zu einem anderen Element geschickt wird. Es ist aber falsch anzunehmen, dass dieses Element oder die ganze Bewegung der différance, die durch den Sprung von einem Element zum anderen läuft, eine Konsistenz hätten, denn jedes Element ist an sich konstituiert. D.h.: Jedes Atom ist Effekt eines unendlichen Regresses, welcher in jedem Repräsentanten der Gegenwart eine Teilung einfügt, auch in demjenigen, der zu Null tendiert. Derrida überwindet sicherlich viele der klassischen Spaltungen der Philosophie. Bei ihm lassen sich keine Betrachtungen zu einer „reinen“ Subjektivität oder Objektivität finden, sondern, wie Luhmann es ausdrückt, „Beobachtungen zweiter Ordnung“940. Sein Vorgehen hat vor allem die Bedeutung einer Verdoppelung der Philosophie, einer Frage nach der Frage und nicht direkt nach dem Sein oder dem Seienden. In dieser Verdoppelung, dieser Schleife liegt der eigentliche Grund zahlreicher Paradoxien. Wenn das Subjekt, für das die Zeit eine Form seiner sinnlichen Anschauung (Kant) war, zum absoluten Medium wird, in dem es sich selbst befindet, muss man seine eigenen Bedingungen auf sich selbst anwenden, woraus Antinomien entstehen. Diese Zeit, in der das Subjekt „ist“, zeigt die allgemeinen Merkmale einer transzendentalen Geschichte. Gleichermaßen aber stellt sich die Frage, ob nicht der Raum einen ähnlichen Prozess erfahren muss, indem das Subjekt, innerhalb eines Textes, seinen Kontext gewinnt. Eins ist klar: In allen Fällen muss die 939 940

(Ebenda, S. 13–14). Siehe (Luhmann, 1993).

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Die Dekonstruktion zur (Ohn)macht

Philosophie mit dem paradoxen Charakter ihres Wesens umgehen. Wie soll man aber die différance genauer verstehen? Und wie verbindet sie sich mit der Dekonstruktion, einem von Derridas wichtigsten Beiträgen zum heutigen Denken?

7.2 Die différance: Das Prinzip aller Prinzipien, das kein Prinzip mehr ist. Zwischen Phänomenologie und Linguistik Nach diesem langen Weg ist man erstmals in der Lage, Derridas différance genauer zu lesen, und deren Zusammenhang mit einer Frage nach dem Realen und der Unmöglichkeit in Bezug auf vier Ebenen, Metaphysik, Wissenschaft, Logik und Politik, auszulegen. Dabei will ich die différance, ihren Transzendentalismus, die dahinter steckende Logik und die politischen Konsequenzen der Dekonstruktion als Gerechtigkeit genauer ansehen. Das Denken des Endes mündet in Derridas Denken ein. Hier werden die Folgen davon sichtbar, besonders bei zwei Quasi-Begriffen von Derrida: die différance und die Dekonstruktion. Im Aufsatz La Différance findet man, wie bereits gesehen, eine der deutlichsten Darstellungen von Derridas Nicht-Begriff. Die différance resümiert Derridas Gedanken zu Zeit und Raum, Subjektivität und Sprache, Wissenschaft und Politik, Metaphysik und dem kommenden Denken. Der Aufsatz beginnt mit einer Geste. Derrida verändert das französische Wort différence zu différance. Dieser Wechsel ist still, das bedeutet, man hört auf Französisch den Unterschied zwischen e und a nicht. Diese Stille erinnert daran, dass die différance kein Phänomen ist, sie erscheint nicht, woraus folgt, dass sie nicht(s) ist. Sie wirkt trotzdem als Möglichkeitsbedingung der Phänomenologie in ihrer Ganzheit. Was bedeutet das? Dass beide phänomenologischen Pole — noesis und noema — der différance unterworfen sind. Derridas Darlegungen basieren auf drei Resultaten der Phänomenologie: die Zeit-, die Intersubjektivitäts- und Geschichtsanalysen. Husserls Studien zur Phänomenologie des Zeitbewusstseins konstituieren die letzte Ebene der subjektiven Reduktion. Diese ist eine pure Selbst-Konstitution der Zeit und sie verdeutlicht, dass die Gegenwart keine absolute Quelle für die subjektive Zeit ist. Die Gegenwart ist immer ein Resultat von Retentionen und Protentionen und einer passiven — d.h. vorsubjektiven — Synthese. In dieser Synthese befinden sich keine konstituierten Objekte. Obwohl sich die Objekte zeitlich im Bewusstsein konstituieren, ist das Bewusstsein sein eigenes Objekt, das gleichzeitig sein Werden ausmacht. Die SelbstKonstitution der Subjektivität heißt die Ur-Synthese der Zeit. Die Vergangenheit ist dabei als (vorbewusste) Erinnerung präsent. Die Zukunft macht den Horizont des Kommenden aus. Die Gegenwart weist nicht nur auf die Vergangenheit und Zukunft hin, sie wird dadurch überhaupt erst konstituiert. Der nächste Punkt ist die Intersubjektivität. Husserl begegnet diesem Problem in den Cartesianischen Meditationen. Der Andere ist kein Objekt, er kann nicht objektiv konstituiert werden. Es muss daher eine transzendentale Gemeinschaft geben, damit die subjektiven

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Monaden in Kontakt treten können. Diese Monaden teilen die Welt vor jeder Begegnung mit Objekten, vor jeder thematischen Interpretation der Welt, auch wenn sie immer in einer konkreten Welt sind. Trotzdem sind sie auf keine Einheit reduzierbar. Die Subjektivität ist verteilt, daher die Notwendigkeit der Kommunikation bzw. Übermittlung. Der dritte Punkt ist die Geschichte. Die Monaden sind nicht nur zu jedem Zeitpunkt getrennt, sondern auch geschichtlich verbunden und müssen mit dem Erbe umgehen. So, wie das individuelle Subjekt durch mehrere Zeiten seine Gegenwart konstituiert, konstruiert die Intersubjektivität ihr Leben geschichtlich. Das individuelle Bewusstsein könnte nun ohne Schrift keine Erinnerung haben. Das Geschehene muss „gespeichert“ werden, damit es unbewusst, durch kontinuierliche Synthese, oder bewusst, durch Vergegenwärtigung des Erlebten, wieder evoziert werden kann. Dies supponiert die Möglichkeit der Retention/Iteration des Gespeicherten. Das Verhältnis des Bewusstseins zu sich selbst wird durch einen Prozess von Zeitigung bestimmt. Die Analysen zur Intersubjektivität zeigten aber, dass das individuelle Bewusstsein nicht originär in der Konstitution der gemeinsamen, also kulturellen Objekte ist. Das Individuum bekommt die Sprache und dadurch fremde Erfahrungen vom Anderen. Das Ich ist auch in einem anderen Sinne konstituiert und zwar in der Geschichte. Die Krisis der Europäischen Wissenschaften von Husserl stellt sich als einen paradoxen Appell an die Wissenschaften dar. Sie werden einerseits als Fundament der Möglichkeit einer vernünftigen Menschheit verstanden und anderseits angeklagt, weil sie ihre wahre Grundlage, die Lebenswelt, vergessen haben. Die Aufgabe der Wissenschaft besteht laut Husserl in einer Wieder-Erweckung der in der Geschichte vergessenen Idee — im Sinne von vernünftiger Wahrheit. Die Wahrheit verlangt Evidenz, Phänomen, Erfüllung der leeren Meinungen. Aber die Wahrheiten der Wissenschaft sind nicht ewig: Jeder Begriff und jede Theorie ist strikt historisch, sie entstehen in der Zeit und könnten daher empirisch genannt werden. Die Wissenschaft verlangt jedoch auch Universalität, allgemeine Gültigkeit und diese Universalität bedeutet, dass jeder die Resultate der Wissenschaft beliebig wiederholen — iterieren — kann, ohne dass der erste Wissenschaftler, der die erste Erfahrung von Entdeckung machte, oder die Evidenz selbst, anwesend sind. Alle kulturellen Produkte brauchen diese Iterierbarkeit. Genese (Geschichte) und Evidenz (Gegenwart) kennzeichnen die Spannung der Phänomenologie. Husserl war es bewusst, dass die Wissenschaft nur durch Schriften und durch die Sprache vermittelbar ist. Die Sprache aber ist ein dem Subjekt äußeres Mittel, das aber das Eigentlichste der Subjektivität sichert: seine Inhalte und deren Kommunikation. Auch der Dialog des Subjekts mit sich selbst braucht die Sprache. Dieses Spiel von innen und außen wird in der Geschichte der Wissenschaften besonders sichtbar. Sie müssen auf den Boden der Erfahrung — die Lebenswelt — zurückkehren. Dieser Boden ist aber nicht die empirische Evidenz oder das nackte Leben, denn die Phänomenologie will als Projekt wieder eine ethische Stellung aufbauen, daher die geschichtliche Betrachtung der Wissenschaft. Evidenz und Erinnerung wirken in

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entgegengesetzte Richtungen. Die Phänomenologie versteht sich also als abendländisches historisches Projekt. Die Objekte der Phänomenologie liefern ihre Evidenz nur als Zeit. Aber noch einmal: Diese Zeit muss niedergeschrieben werden. Die Wissenschaft vererbt Nummern und Buchstaben, d.h. Schriften, tote Zeichen, auf der Suche nach subjektiver Wiederbelebung. Wenn aber der Wissenschaftler wieder die Erfahrung vom Denken gemacht hat und wenn er zur Wissenschaft beitragen will, muss er schreiben. Man darf nicht vergessen, dass es nach Fink keine transzendentale Sprache gibt, so dass die ganze Region der puren Phänomenologie in den Bereich der vulgären Sprache — das dem Subjekt Äußere — fallen muss. Die différance geht von diesen drei — von Husserl nicht gewollten — Resultaten der Phänomenologie aus. In diesem Kontext versteht man, warum der retard (Verzögerung), „la destinée de la pensée“ ist, und warum in der Phänomenologie gilt, wie bereits erwähnt: „Le retard est ici l’absolu philosophique“.941 Nur nach der phänomenologischen Reduktion, d.h., nachdem die natürliche Einstellung, aber auch die Welt von Objekten und Subjekten eingeklammert wurde, wird die différance als ur-ursprünglich, oder besser, vor-ursprünglich — d.h. älter als die Phänomenologie, welche sich für absolut originär hält — verständlich. Man hat aber auch gesehen, dass Husserls Paradoxien eben die Absicht der Phänomenologie — die absolute Begründung bzw. Konstitution der Wissenschaften in der erlebten Evidenz — widerlegen. Diese Paradoxien gewinnen bei Derrida erstmals einen (vor)ontologischen Charakter, während sie die produktiven, zeitlichen und transzendentalen Merkmale der Subjektivität als Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung behalten. Merkmale einer „Natur“ sind auch zu erkennen, denn vor-subjektiv und vor-objektiv, Schellings und Schopenhauers Willen und Heraklits Streit ähnlich, präsentiert sich die différance als anonymer, kreierender und zerstörerischer polemos. Die différance behält gewisse Merkmale der Subjektivität und der Natur. Sie stellt ein vor-subjektives Subjekt in der Form einer denaturalisierten Natur dar. Näher betrachtet, impliziert die différance mehrere Bedeutungen: Polemos und allgemeine Differenz, aber auch […] l’action de remettre à plus tard […] de tenir le compte du temps et des forces dans une opération qui implique un calcul économique, un détour, un délai, un retard, une réserve, une représentation […] tous concepts que je résumerai ici d’un mot […] qu’on pourrait inscrire dans cette chaîne : la temporisation [sowie] […] ne pas être identique, être autre, discernable, etc […] S’agissant des différen(t)(d)s, […] qu’il soit question d’altérité de dissemblance ou d’altérité d’allergie et de polémique, il faut bien qu’entre les éléments autres se produise, activement, dynamiquement, et avec une certaine persévérance dans la répétition, intervalle, distance, espacement.942

Temporisation und espacement943 sind die zwei betreffenden Bezüge: „[…]cette temporisation 941 942 943

Siehe: §4.1 Différance: seule une phénoménologie peut le dire un dide Fußnote 51. (Derrida, 1972b, S. 8). Allerdings ist der Begriff „Raum“ bei Derrida sehr begrenzt. Er versteht darunter den Abstand zwischen Zeichen, das Intervall, das Getrennte. Weit davont entfert liegt der Begriff „Raum“ der Mathematik. Weiter ist die Differenz zwischen Raum und Zeit rein zeitlich: ein Werden des einen in das andere, aber wo liegt

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est aussi temporalisation et espacement, devenir-temps de l’espace et devenir-espace du temps, « constitution originaire » du temps et de l’espace, diraient la métaphysique ou la phénoménologie transcendantale dans le langage qui est ici critiqué et déplacé“.944 Die différance als Temporisierung und Spatialisierung weist, wie gesagt, auf einen Isomorphismus aus Husserls Zeitlehre und Saussures Zeichenlehre hin. Sehen wir dies genauer an. Für Saussure: „Le signe linguistique unit non une chose et un nom, mais un concept et une image acoustique“, oder es verbindet einen Begriff mit einer materiellen Stütze — Ton, Tinte, Schnitt usw. Dieses Verhältnis ist arbiträr, so wie die Zeichen selbst. Aber auch der Begriff ist von Zeichen abhängig und nicht ewig, die Sprache konstituiert ihn mit: Denn „notre pensée n’est qu’une masse amorphe et Indistincte […] sans le secours des signes, nous serions incapables de distinguer deux idées d’une façon claire et constante […] Il n’y a pas d’idées préétablies, et rien n’est distinct avant l’apparition de la langue“.945 Klang und Gedanken sind für Saussure wie zwei Flüsse, wo das Zeichen einen Schnitt einführt und dabei eine Einheit konstituiert. Saussure fügt hinzu: Nous pouvons donc représenter le fait linguistique dans son ensemble, c’est-à-dire la langue, comme une série de subdivisions contiguës dessinées à la fois sur le plan indéfini des idées confuses (A) et sur celui non moins indéterminé des sons (B) ; c’est ce qu’on peut figurer très approximativement par le schéma.946

Abb. 16 947 944 945 946 947

deren Zugleich? Alle Zitate aus: (Ebenda, S. 8). (Saussure, Bally, Sechehaye, Riedlinger, Mauro und Calvet, 1995, S. 155). (Ebenda, S. 155–156). Nach: (Ebenda, S. 155–156). Mit freundlicher Genehmigung von © Arturo Romero Contreras 2018. All Rights Reserved.

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Gedanken und Klang sind wie ein zeitliches in-differenziertes Werden. Die Linguistik weiß nichts von Substanzen, sondern nur von Formen: La linguistique travaille donc sur le terrain limitrophe où les éléments des deux ordres se combinent ; cette combinaison produit une forme, non une substance [und diese Form ist, wie gesagt, arbiträr] […] Non seulement les deux domaines reliés par le fait linguistique sont confus et amorphes, mais le choix qui appelle telle tranche acoustique pour telle idée est parfaitement arbitraire. Si ce n’était pas le cas, la notion de valeur perdrait quelque chose de son caractère, puisqu’elle contiendrait un élément imposé du dehors, Mais en fait les valeurs restent entièrement relatives, et voilà pourquoi le lien de l’idée ce du son est radicalement arbitraire.948

Man findet hier den Begriff Wert (valeur), den man vom Terminus Bedeutung (signification) unterscheiden muss. Wert und Bedeutung stehen in einer paradoxen Beziehung zueinander: Mais voici l’aspect paradoxal de la question: d’un côté, le concept nous apparaît comme la contre-partie de l’image auditive dans l’intérieur du signe, et, de l’autre, ce signe lui-même, c’est-à-dire le rapport qui relie ses deux éléments, est aussi, et tout autant la contre-partie des autres signes de la langue949

D.h., ein Zeichen (ein Signifikant) hat eine Bedeutung (ein Signifikat, einen Begriff oder Idee, damit assoziiert), aber das Zeichen ist nichts außerhalb der Beziehung mit anderen Zeichen. Diese Beziehungen sind differentiell. Saussure behauptet, dass „la langue est un système dont tous les termes sont solidaires et où la valeur de l’un ne résulte que de la présence simultanée des autres, selon le schéma:“

Signifikat

Signifikat

Signifikat

Signifikant

Signifikant

Signifikant

Abb. 17 950 Die Zeichen konstituieren eine Sukzession, eine Folge, Serie oder Signifikantenkette. Jedes Zeichen besitzt einen Wert, je nach Position in der Kette. Diese Ketten sind nicht fest, sie werden in der Rede konstituiert. Das bedeutet, diese Kette ist ebenfalls zeitlich oder sie stellt die sprachliche Artikulation von Aussagen dar. Das Zufügen von neuen Zeichen darf nur am Ende der Kette geschehen und jedes neue Zeichen verändert rückwirkend den Wert aller vorangehenden Zeichen. Diese Betrachtung des Zeichens führt eine Struktur (die Kette und die Differenzen) und eine Materialität (Ton, Tinte, Schnitt) in die Sprache ein und erklärt damit auch die Entstehung des Sinnes. Zu erinnern ist an dieser Stelle an Husserls Zeitdiagramme. Sein Problem bestand auch darin, wie der einheitliche Sinn einer Sukzession subjektiv konstituiert wird. Dabei war die doppelte Forderung zu sehen, dass man die Zeit sowohl als Punkte als auch als Kontinuum zu 948 949 950

(Ebenda, S. 157). (Ebenda, S. 159). (Ebenda, S. 159). Mit freundlicher Genehmigung von © Arturo Romero Contreras 2018. All Rights Reserved.

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verstehen habe. Husserl braucht nicht nur einen formellen Schnitt zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern auch die Momente vereinen sich zu einer Serie.951 Während der Auseinandersetzung mit Saussure und Husserl zeigen sich zwei Versuche, den Sinn als diskrete oder als kontinuierliche Folge auszulegen. Anhand Saussures kann Derrida die Zeit als Raum lesen, als espacement zwischen Signifikanten. Anhand Husserls aber gelingt es Derrida, die Subjektivität als Zeit, diese als Synthese und diese wiederum als Verzögerung zu interpretieren. Der Nicht-Begriff trace, also Spur, verbindet bei Derrida Phänomenologie und Linguistik. Die Spur ist „un double mouvement de protention et de rétention“952 von Differenzen, wo, wie bei der différance, […] chaque élément [hier jede Differenz, A.R.] dit « présent » […] se rapporte à autre chose que lui-même, gardant en lui la marque [also trace, Spur, A.R.] de l’élément passé et se laissant déjà creuser par la marque de son rapport à l’élément futur la trace ne se rapportant pas moins à ce qu’on appelle le futur qu’à ce qu’on appelle le passé […].953

Der differentielle Charakter des Zeichens und der differentielle Charakter der Zeit werden zusammengebracht. Saussure ist die Kehrseite von Husserl. Weiter wird Derrida den Begriff Zeichen, soweit er metaphysische Voraussetzungen beinhaltet, und das phänomenologische Subjekt, soweit es auf eine Philosophie der Anwesenheit hinweist, mittels der Sprache reduzieren. Oder mit anderen Worten gesagt: Saussure dekonstruiert Husserl und Husserl Saussure. Zurück zum Charakter der différance. Der Quasi-Begriff différance kann vom Quasi-Begriff Dekonstruktion nicht getrennt werden. Die différance skizziert Derridas quasi-transzendentale Vorontologie als Spiel von Differenzen. Aber dieses Spiel soll auch politisch werden. Die Dekonstruktion ist jene Quasi-Tätigkeit, wodurch sich der metaphysische Diskurs seinem Anderen öffnet. Zum Anfangen kann man sehr allgemein sagen, dass die Dekonstruktion eine gewisse Unterbrechung bedeutet. Das Zeichen unterbricht (und ermöglicht) die Kontinuität — also die pure Innerlichkeit — der Subjektivität; das Subjekt wird zum Vermittelten und nicht zum Vermittelnden, und damit wird auch das Subjekt ein Spiel von innen und außen, von Wiederholung — weil das Subjekt durch die Sprache konstituiert ist — und Singularität — weil die Zeichen immer in neuen Ketten zum Spiel kommen müssen. Aber diese Äußerlichkeit des Zeichens ist auch „metaphysisch“, denn sie basiert auf einem Gegensatz: arbiträr-natürlich, welcher, wie alle Gegensätze, dekonstruiert werden muss. Der Begriff Willkürlichkeit setzt eine Natürlichkeit voraus, was für Derrida fragwürdig ist. Derrida interpretiert nun Saussures Zeichenlehre im phänomenologischen Sinne, d.h. als originäre Konstitution von Zeit und Raum. Nun aber muss der Begriff „originäre Konstitution“ 951 952 953

Siehe: §4.6. Die Zeitproblematik in der Phänomenologie oder die Paradoxien einer anonymen, vorsubjektiven und vorobjektiven Selbstkonstitution. (Derrida, 1967a, S. 125). (Derrida, 1972b).

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wiederum reduziert werden, denn die Rede von Konstitution supponiert „la métaphysique ou la phénoménologie transcendantale dans le langage qui est ici critiqué et déplacé“954. Kritisieren und verschieben - das ist eine erste Annäherung an den Quasi-Begriff Dekonstruktion. Derrida muss angesichts dieser Begegnung Husserl-Saussure die ganze phänomenologische Problematik in den Kontext der Linguistik übersetzen. Dieses neue Feld heißt Schrift (écriture). Ein Wort wird diesbezüglich entscheidend sein, nämlich das vom Anfang (Gr. arché): „La problématique de l’écriture s’ouvre avec la mise en question de la valeur d’arkhè“.955, sowie auch der Unterscheidung originär-abgeleitet (bzw. willkürlich-natürlich): „[L]’opposition de l’originaire et du dérivé n’est-elle pas encore métaphysique? Le requête de l’archie en général, quelles que soient les précautions dont on entoure ce concept, n’est-elle pas l’opération « essentielle » de la métaphysique?“956 Gewiss, aber ohne die transzendentale Funktion vom klassischen Begriff Anfang besteht das Risiko, dass man die différance rein „empirisch“ liest. Derrida spricht also von einem quasi-transzendentalen Ansatz: „It is because of the highly unstable, and slightly bizarre character of the transcendental that, in Glas, I wrote ‘quasitranscendental’“.957 Husserl folgend war es notwendig, erinnert Derrida, „[…]posing transcendental questions in order not to be held within the fragility of an incompetent empiricist discourse, and thus it is in order to avoid empiricism, positivism and psychologism that it is endlessly necessary to renew transcendental questioning“.958 Auf diese Art und Weise soll man Derridas „archi-écriture“959 verstehen und zwar als älter (ursprünglicher) als der (phänomenologische oder ontologische) Anfang: „C’est que l’archi-écriture, mouvement de la différance, archisynthèse irréductible, ouvrant à la fois, dans une seule et même possibilité, la temporalisation, le rapport à l’autre et le langage, ne peut pas, en tant que condition de tout système linguistique, faire partie du système linguistique lui-même, être située comme un objet dans son champ“.960 Alle Gegensätze der Philosophie, wie jener von „forme d’expression“ und „substance d’expression“, bleiben „dépendante(s) et très dérivée(s) au regard de l’archi-écriture dont nous parlons ici“.961 Auf der einen Seite erklärt Derrida den Unterschied ursprünglich-abgeleitet für metaphysisch.

954 955 956 957 958 959 960 961

(Ebenda). (Ebenda, S. 6). (Ebenda, S. 73–74). (Critchley & Mouffe, 1996, S. 83). (Ebenda, S. 83–84). (Derrida, 1967a, S. 83). (Ebenda, S. 88) (Ebenda, S. 88).

Die Schrift als Aporie

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Auf der anderen Seite muss er diesen Unterschied beibehalten und nutzen. Er wird einerseits zeigen, wie die metaphysische Hierarchie, die der Begriff Anfang supponiert, in Schwierigkeiten gerät. Das ist eine der Aufgaben der Dekonstruktion. Daraus folgt anderseits, dass die différance nicht in einem linguistischen System auftreten kann, weil sie seine Bedingung ist: Die Hierarchie wird auf einer neuen Ebene wiederhergestellt. Die différance ist also ein Prinzip, ohne ein Prinzip mehr zu sein. Das ist ihre grundlegende Aporie. Aus dieser Aporie resultiert Folgendes: Das Spiel von Signifikanten (d.h. die immer sich bewegende Kette von Signifikanten) kann nicht gestoppt werden. Ein metaphysischer Begriff richtet sich gegen einen anderen metaphysischen Begriff und dieser gegen einen anderen usw. Aber diese Bewegung braucht nicht nur die metaphysische Sprache, sondern sogenannte metaphysische Argumente. Jedes Mal muss die ganze Metaphysik infrage gestellt, aber zugleich supponiert werden. Das ergibt sich deutlich aus der Selbstreferenz der Metaphysik. Das „Objekt“ der dekonstruktiven Strategie ist also immer die ganze Metaphysik oder die Metaphysik bezieht sich auf sich selbst in ihrer Ganzheit. Damit erzeugt sie Paradoxien und ein Hin und Her des Diskurses. Die différance zeigt auf diese Weise eine Bewegung von Selbstkritik ohne Synthese, von Selbstaufbau und -abbau. Die Aporien von Selbstbezüglichkeit sind in der Philosophie nicht neu. Sie betreffen die Grenzen des Sagbaren und des Denkbaren, eine Problematik, an die sich Derrida anschließt. Eine wichtige historische Formulierung dieser Aporie von Selbstbezüglichkeit findet man in der Zwei-Sätze-Version des Lügner-Paradoxons: „Der nächste Satz ist wahr. Der vorhergehende Satz ist falsch“. Der erste Satz bezieht sich auf den nächsten und betrachtet ihn als wahr. Der zweite Satz aber qualifiziert den ersten als falsch, so dass der Wert des zweiten Satzes verändert werden muss usw. Die Schleife — loop — geht unendlich von einer Aussage zur nächsten.

7.3 Die Schrift als Aporie: Das Supplement in De la Grammatologie All die derridaschen Quasi-Begriffe, wie différance, supplement, Pharmakon usw., zeigen einen paradoxen Charakter. Dies wird besonders deutlich in Derridas De la Grammatologie, einem Text, wo er sich mit dem Paradoxen der Sprache beschäftigt. Die Sprache und das Zeichen waren für den Husserl der Logischen Untersuchungen die äußeren Elemente für die Kommunikation der Evidenz. Die Argumentation über die Sprache als notwendige Vermittlung — und Konstitution — von Subjektivität und Intersubjektivität veranlasst Derrida zu behaupten, dass die Sprache eigentlich das „Erste“, der Sinn das „Zweite“ sei. Die Sprache soll nicht als das ungestörte Medium der Idealität verstanden werden (Husserl), sondern anhand von Saussures Verständnis des Zeichens: als etwas Äußeres, Vorsubjektives und Vorobjektives. Und doch spielt dieses „Äußere“ eine konstitutive Rolle für das „Innere“, für die Subjektivität überhaupt. Für Derrida:

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Die Dekonstruktion zur (Ohn)macht

[…] il y a une nécessité fatale, inscrite dans le fonctionnement même du signe, à ce que le substitut fasse oublier sa fonction de vicariance et se fasse passer pour la plénitude d’une parole dont il ne fait pourtant que suppléer la carence et l’infirmité […] le concept de supplément […] abrite en lui deux significations dont la cohabitation est aussi étrange que nécessaire […] [zum einen] Le supplément s’ajoute, il est un surplus, une plénitude enrichissant une autre plénitude, le comble de la présence. Il cumule et accumule la présence. C’est ainsi que l’art, la technè, l’image, la représentation, la convention, etc., viennent en supplément de la nature et sont riches de toute cette fonction de cumul [zum anderen] Mais le supplément supplée. Il ne s’ajoute que pour remplacer. Il intervient ou s’insinue à-la-place-de ; s’il comble, c’est comme on comble un vide. S’il représente et fait image, c’est par le défaut antérieur d’une présence. Suppléant et vicaire, le supplément est un adjoint, une instance subalterne qui tient-lieu. En tant que substitut, il ne s’ajoute pas simplement à la positivité d’une présence, il ne produit aucun relief, sa place est assignée dans la structure par la marque d’un vide. Quelque part, quelque chose ne peut se remplir de soi-même, ne peut s’accomplir qu’en se laissant combler par signe et procuration. Le signe est toujours le supplément de la chose même.962

Husserls Krisisschrift zeigte bereits, inwiefern die Schrift unerlässlich für die Übermittlung der Wissenschaften ist, aber gleichzeitig waren diese Schriften „tot“, sobald sie nicht wiederbelebt werden. Diese Belebung erfolgt auch in einer sprechenden Subjektivität. Letztere aber, Saussure folgend, kann dank der Zeichen nur klare und distinkte Gedankenhaben. Die Sprache, soweit gemeinsam, soweit öffentlich, muss von jedem wiederholt werden können, und zwar unabhängig von dem gemeinten Ding und von dem „ersten“ Sprechenden. Die Schrift bedeutet daher eine Begegnung mit dem Tod: La mort de la parole [und daher jeder Präsenz: Subjekt, Objekt, Bewusstsein, Natur usw., A.R.] est donc l’horizon et l’origine du langage. Mais une origine et un horizon qui ne se tiendraient pas sur ses bordures extérieures. Comme toujours, la mort, qui n’est ni un présent à venir ni un présent passé [d.h., sie sind keine Modifikationen der Gegenwart im Sinne von Husserl, A.R.], travaille le dedans de la parole comme sa trace, sa réserve, sa différance intérieure [als Möglichkeitsbedingung, A.R] et extérieure [als Unmöglichkeitsbedingung, A.R]: comme son supplément.963

Die Wissenschaft der Schrift, die Grammatologie, welche nach dem Ende der Philosophie käme, zeigt Folgendes: „La condition fondamentale en est certes la sollicitation du logocentrisme. Mais cette condition de possibilité vire en condition d’impossibilité“.964 Das Denken nach dem Ende ist unmöglich. Es ist unmöglich als Denken der Gegenwart, weil eine pure Gegenwart an sich unmöglich ist. Es ist auch quasi-transzendental, denn es denkt die Möglichkeitsbedingungen der Philosophie überhaupt. Aber dieses Transzendentale enthält ein Prinzip innerer Negation; diese Möglichkeitsbedingung wird zur Unmöglichkeitsbedingung, Gegenwart und Anwesenheit interagieren zusammen, bis es nicht mehr möglich ist, die eine von der anderen zu unterscheiden. Wie Hegels Werden als konstante Oszillation zwischen Sein

962 963

964

(Ebenda, S. 208). (Ebenda, S. 444). Zum Verhältnis von Schrift und Tod, Anwesenheit und Abwesenheit sagt Derrida: „Or l'espacement comme écriture est le devenir-absent et le devenir- inconscient du sujet. Par le mouvement de sa dérive, l'émancipation du signe constitue en retour le désir de la présence. Ce devenir — ou cette dérive — ne survient pas au sujet qui le choisirait ou s'y laisserait passivement entraîner. Comme rapport du sujet à sa mort, ce devenir est la constitution même de la subjectivité. A tous les niveaux d'organisation de la vie, c'est-à- dire de l'économie de la mort. Tout graphème est d'essence testamentaire. Et l'absence originale du sujet de l'écriture est aussi celle de la chose ou du réfèrent“ (Ebenda, S. 100–101). (Ebenda, S. 109).

Die Schrift als Aporie

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und Nichts in der Wissenschaft der Logik, ist das Supplement das Spiel von Anwesenheit und Abwesenheit, aber beim Letzteren findet keine Aufhebung statt. Die Instabilität der Oszillation verharrt in einer Bewegung von Kreation und Destruktion von Differenzen. Die différance, das supplément und all die anderen Nicht-Begriffe von Derrida spielen die gleiche doppelte Rolle: „L’ordre qui résiste à cette opposition [Unmöglichkeitsbedingung], et lui résiste parce qu’il la porte [Möglichkeitsbedingung], s’annonce dans un mouvement de différance (avec un a) entre deux différences ou entre deux lettres, différance qui n’appartient ni à la voix ni à l’écriture au sens courant et qui se tient […] entre parole et écriture, au-delà aussi de la familiarité tranquille qui nous relie à l’une et à l’autre, nous rassurant parfois dans l’illusion qu’elles font deux“.965 Weder 1 (Einheit) noch 2 (Dyade), weder 1 (Sein, Anwesenheit) noch 0 (Leere) und sowohl 1 als auch 2, sowohl 1 als auch 0. Weder-noch und sowohl-als-auch, monas und dúas deuten auch hier auf ein trias. Die différance ist so ein Drittes. Dieses Dritte soll jedem philosophischen Dualismus und jeder Philosophie der Identität widerstehen: Die différance „résiste à cette opposition“ (Dualismus), so wie die „Philosophie der Anwesenheit“ (naiver Realismus oder das System vom Sich-selbst-Hören = der Identität) und das transzendentale Denken (die feste Hierarchie der Metaphysik). Différance heißt eigentlich der quasi-transzendentale Widerstand gegen das Unvermittelte, die Identität, den Dualismus und die Hierarchie. Die différance (bzw. das Feld der Schrift) ermöglicht und verunmöglicht die Metaphysik. Wie kann aber die différance als Drittes der metaphysischen Ordnung widerstehen ... „parce qu’il la porte“? Was bedeutet es hier, dass die différance nicht nur ursprünglicher und Möglichkeitsbedingung der Phänomenologie und der Ontologie sei, sondern dass sie auch Phänomenologie und Ontologie einschließe? Denn, sagt Derrida: „La différance est non seulement irréductible à toute réappropriation ontologique ou théologique — onto-théologique — mais, ouvrant même l’espace dans lequel l’onto-théologie — la philosophie — produit son système et son histoire, elle la comprend, l’inscrit et l’excède sans retour“.966 Die différance schließt die Philosophie ein, soweit Erstere die Grenze der Zweiten formuliert. Wenn die Philosophie jener Diskurs gewesen ist, dass „a toujours, y compris la sienne, voulu dire la limite“.967, ist die Rede über die différance die Übung der Grenze selbst, d.h. nicht die Darstellung oder Aufhebung der Grenze, sondern deren Spiel: „L’être à la limite“.968 Das Außen wird nicht benennt oder dargestellt, sondern es werden eher dessen Effekte auf das Innen dargelegt. Das Supplement erschüttert die Hierarchie vom Ersteren (der Idee, dem Begriff) und dem Abgeleiteten (der Schrift, die die Idee repräsentieren soll), das Supplement 965 966 967 968

(Derrida, 1972b, S. 5). (Ebenda, S. 6). (Ebenda, S. I). (Ebenda, S. I).

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Die Dekonstruktion zur (Ohn)macht

unterbricht die rein innere Bewegung des Bewusstseins zu sich selbst — wo die Schrift nur ein äußeres Mittel sein sollte — und macht das Bewusstsein selbst zu einer Funktion der Sprache.969 Diese Sprache heißt eher Schrift und deren Betrachtung soll, wie gesagt, die Metaphysik erschüttern. Aber wie wird die Metaphysik bei Derrida verstanden? Ich habemehrmals gesagt, dass für Heidegger sowie für Derrida die Metaphysik das Privileg der Gegenwart gegenüber einer radikalen konstitutiven Zeitlichkeit bedeutet. Die Metaphysik meint hier die Suche nach einem „signifié transcendantal“— durch eine fundamentale Verhüllung — auf Kosten von „toute trace et […] toute différence“; die Metaphysik behauptet, dass „ce qui se donne à voir dans l’intuition […] l’étant-présent“ sei; daraus entstehe eine […] théorie du signe à partir de l’étant-présent mais aussi et du même coup en vue de l’étant-présent, en vue de présence, l’être-en-vue marquant aussi bien une certaine autorité théorique du regard que l’instance de la visée finale, le télos de la réappropriation, l’ordination de la théorie du signe à la lumière de la parousie. Ordination aussi, comme logique, à l’idéalité invisible d’un logos qui s’entend-parler, au plus proche de lui-même, dans l’unité du concept et de la conscience.970

Metaphysik ist für Derrida ein Sich-selbst-Hören oder das System einer puren Innerlichkeit ohne Verlust: „[A]utoaffection pure qui a nécessairement la forme du temps et qui n’emprunte hors de soi, dans le monde ou dans la « réalité », aucun signifiant accessoire, aucune substance d’expression étrangère à sa propre spontanéité“.971 Das Andere ist in jenem System nur ein Moment im Prozess der Erfüllung der Identität. Die Präsenz wäre also sowohl die direkte, unvermittelte und absolute Anwesenheit des Seienden (Empirismus) als auch die gelungene Selbstbezüglichkeit bzw. Selbstvermittlung der Subjektivität (sei es als Selbstbewusstsein, sei es als hermeneutischer Zirkel). Derrida sagt dementsprechend: „Nous avons identifié le logocentrisme et la métaphysique de la présence comme le désir exigeant, puissant, systématique et irrépressible“ (fast wie der transzendentale Schein) von einem transzendentalen Signifikanten, wobei die „dé-construction du signifié transcendantal“ darin bestünde, dass man „à un moment ou à un autre, mettrait un terme rassurant au renvoi de signe à signe“.972 Daraus folgt: „La chose même est un signe“.973 Hier wird der (Nicht) Begriff vom Spiel deutlich. Derrida sagt dazu: „On pourrait appeler jeu l’absence du signifié transcendantal comme illimitation du jeu, c’est-à-dire comme ébranlement de l’onto-théologie et de la métaphysique de la présence“.974 969

970 971 972 973 974

Derrida: „[...] le sujet (identité à soi ou éventuellement conscience de l'identité à soi, conscience de soi) est inscrit dans la langue, est « fonction » de la langue, ne devient sujet parlant qu'en conformant sa parole, même dans ladite « création », même dans ladite « transgression », au système de prescriptions de la langue comme système de différences, ou du moins à la loi générale de la différance, en se réglant sur le principe de la langue dont Saussure dit qu'elle est « le langage moins la parole ». « La langue est nécessaire pour que la parole soit intelligible et produise tous ses effets. »“ (Ebenda, S. 16). Alle Zitate aus: (Ebenda, S. 83). (Derrida, 1967a, S. 33). (Ebenda, S. 71). (Ebenda, S. 72). (Ebenda, S. 73).

Ce que la déconstruction n’est pas ?

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Ein signifié transcendantale heißt nichts anderes als die Fixierung des Spiels von Signifikanten, d.h. von der Verweisung zwischen Signifikanten, woraus sich der Sinn als Resultat ergibt. Woran lässt sich aber dieser Wille gegen das Spiel in der Metaphysik erkennen? Was organisiert die Struktur der Metaphysik, damit es Sinn macht, sie zu mobilisieren und zu dekonstruieren? Derrida hebt jene „opposition, fondatrice de la philosophie, entre le sensible et l’intelligible“975 hervor. Wichtig ist nicht „le sensible et l’intelligible“, sondern die opposition, der Gegensatz. Die Philosophie baut, so Derrida, auf Gegensätzen auf: sensibelintelligibel, Materie-Geist, Subjekt-Objekt, falsch-wahr. Aber solche Gegensätze enthalten eine versteckte „hiérarchie naturelle entre des signifiants ou des ordres de signifiants“976, d.h., wo ein Terminus in Bezug auf andere eine privilegierte Stellung einnimmt: [U]ne opposition de concepts métaphysiques (par exemple, parole/écriture, présence/absence, etc.) n’est jamais le vis-à-vis de deux termes, mais une hiérarchie et l’ordre d’une subordination […] Chaque concept, d’autre part, appartient à une chaîne systématique et constitue lui-même un système de prédicats. Il n’y a pas de concept métaphysique en soi.977

All die Quasi-Begriffe — wie différance, archi-écriture, supplément usw. — stellen eine gemeinsame Aufgabe. Die Aufgabe des Denkens nach der Philosophie besteht darin, doppelten und kontradiktorischen Richtungen zu folgen. Die „Linearität“ des philosophischen Diskurses soll ein Spiel mit seinen Grenzen treiben und damit eine paradoxe Erweiterung erfahren. In Bezug auf das Quasi-Transzendentale schreibt Derrida: „Do I just speak of this ‘quasi’ in an ironical, comic or parodic manner, or is it a question of something else? I believe both. […] I absolutely refuse a discourse that would assign me a single code, a single language game, a single context, a single situation“.978 Mehr als ein Kontext, mehr als ein Sprachspiel, mehr als eine Situation. Von daher: „[...] il n’y aura jamais de mot unique, de maître-nom […] fût-il le nom de l’être. Et il faut le penser sans nostalgie, […] Il faut au contraire l’affirmer […]“.979 Es lässt sich nun folgende Frage stellen: Wenn die différance und daher das Spiel von Signifikanten einen (vorontologischen) Charakter besitzt, warum soll man sie behaupten? Warum soll man etwas überhaupt tun? Warum dekonstruieren? Was heißt also Dekonstruktion?

7.4 Ce que la déconstruction n’est pas ? mais tout ! Qu’est-ce que la déconstruction ? mais rien! Man muss das Spiel, das Paradoxon, akzeptieren, bejahen. Aber kann man es vermeiden? Könnte es anders sein? Eigentlich nicht. Denn Spiel und Paradoxon sind quasi-transzendental 975 976 977 978 979

(Derrida, 1972b, S. 5). (Derrida, 1967a, S. 65). (Derrida, 1972b, S. 392). (Critschley und Mouffe 1996, S. 83). (Derrida, 1972b, S. 28–29).

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Die Dekonstruktion zur (Ohn)macht

und vor allem vorsubjektiv und vorobjektiv. Man muss bejahen, was in einer bestimmten Version von amor fati nicht anders sein kann. Denn das „concept de jeu […] au-delà de cette opposition […] annonce, à la veille et au-delà de la philosophie, l’unité du hasard et de la nécessité dans un calcul sans fin“980. Wollten die Idealisten Notwendigkeit und Freiheit „versöhnen“, so versucht Derrida, Zufall und Notwendigkeit in Einem zu denken. Die Einheit ist hier natürlich die der Aporie; erstens die Einheit des Entgegengesetzten — Aporie heißt Paradoxon, also zwei sich ausschließende Aussagen, Antinomie. Zweitens die Einheit von Gegensatz und différance, also von Aporie und Spiel, von einem Transzendentalen als Unentscheidbarkeit zweier Begriffe und einem Transzendentalen als Differenzierung. Ein Terminus negiert den anderen, dieser wiederum ist aber keine Negation des ersten, sondern dessen Verschiebung; dabei entsteht ein Drittes: weder der Erste noch der Zweite. Dieses Dritte tritt in das Spiel ein, denn sonst hätte man kein transzendentales Signifikat, sondern einen transzendentalen Signifikanten. Und doch muss dieses Dritte nicht mehr spielen. Die différance ist kein Begriff, kein Wort, kein Terminus, sie ist nicht oder sie muss nicht sein können: Also: […] la différance reste un nom métaphysique et tous les noms qu’elle reçoit dans notre langue sont encore, en tant que noms, métaphysiques. En particulier quand ils disent la détermination de la différance en différence de la présence au présent (Anwesen/Anwesend), mais surtout, et déjà, de la façon la plus générale, quand ils disent la détermination de la différance en différence de l’être à l’étant. Plus « vieille » que l’être lui-même, une telle différance n’a aucun nom dans notre langue. Mais nous « savons déjà » que, si elle est innommable […] C’est parce qu’il n’y a pas de nom pour cela, pas même celui d’essence ou d’être, pas même celui de « différance » qui n’est pas un nom, qui n’est pas une unité nominale pure et se disloque sans cesse dans une chaîne de substitutions différantes. « Il n’y a pas de nom pour cela » […] Cet innommable n’est pas un être ineffable dont aucun nom ne pourrait s’approcher: Dieu, par exemple. Cet innommable est le jeu qui fait qu’il y a des effets nominaux, des structures relativement unitaires ou atomiques qu’on appelle noms, des chaînes de substitutions de noms, et dans lesquelles, par exemple, l’effet nominal « différance » est lui-même entraîné, emporté, réinscrit, comme une fausse entrée ou une fausse sortie est encore partie du jeu, fonction du système.981

Es gibt für dieses Dritte keinen Namen und kein Denken. Denn alles Denken ist der Sprache verpflichtet, jede Sprache basiert auf Differenzen und jede Differenz wird durch das Spiel der différance produziert982. Diese Produktion ist nicht die des Subjekts und auch nicht die der Natur. Zwischen Subjekt und Natur, weder das eine noch das andere, ist die différance das schlechthin passiv produzierende sprachliche Spiel. 980 981 982

(Ebenda, S. 7). (Ebenda, S. 28). Derrida: „Dans une langue, dans le système de la langue, il n'y a que des différences. Une opération taxinomique peut donc en entreprendre l'inventaire systématique, statistique et classificatoire. Mais, d'une part, ces différences jouent : dans la langue, dans la parole aussi et dans l'échange entre langue et parole. D'autre part, ces différences sont elles-mêmes des effets. Elles ne sont pas tombées du ciel toutes prêtes ; elles ne sont pas plus inscrites dans un topos noetos que prescrites dans la cire du cerveau. Si le mot « histoire » ne comportait en lui le motif d'une répression finale de la différence, on pourrait dire que seules des différences peuvent être d'entrée de jeu et de part en part « historiques ». Ce qui s'écrit différance, ce sera donc le mouvement de jeu qui « produit », par ce qui n'est pas simplement une activité, ces différences, ces effets de différence“ (Ebenda, S. 12).

Ce que la déconstruction n’est pas ?

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An der Spitze einer neuen Hierarchie steht die différance. Die Destruktion des Begriffs Anfang anhand der Aporie wird zur Aporie als Anfang: Ἐν ἀρχῇ ἦν ἡ ἀπορία. Die Destruktion der Hierarchie des Transzendentalen, also die Umkehrung vom Ersteren (der Idee) und dem Zweiten (der Schrift), bezwingt diese Umkehrung selbst. Das Transzendentale wird zum QuasiTranszendentalen, wie die Verzögerung, das Spiel, die différance, das Supplement usw. Die Dekonstruktion der Metaphysik zeigt sich also lokal, denn sie braucht die Metaphysik, um sich selbst abbauen zu können. Was soll also unter Dekonstruktion verstanden werden? In welchem Zusammenhang stehen dieses Dritte — différance, Spiel, Supplement — und die Dekonstruktion? Die Dekonstruktion ist alles und nichts. Mit Dekonstruktion ist sowohl die vorsubjektive und vorobjektive, unvermeidliche sinn-schaffende und sinn-abbauende passive Bewegung des Spiels als auch jene beabsichtigte, strategische, konkrete, situierte, Gerechtigkeit suchende und den Ethnozentrismus kritisierende Praxis gemeint. Zur Erinnerung: Aus Differenzen und nichts anderem besteht die Sprache und es sind relative Differenzen in der Position der Wörter, die ihren Wert und Bedeutung bestimmen; aus diesem Grund: „Il n’est pas de signifié qui échappe, éventuellement pour y tomber, au jeu des renvois signifiants qui constitue le langage“983, d.h., es gibt kein „hors-jeu“984, kein „hors-du-temps“985. Diese Lage verbietet jeden Bezug auf etwas nicht Signifikantes: Et pourtant, si la lecture ne doit pas se contenter de redoubler le texte, elle ne peut légitimement transgresser le texte vers autre chose que lui, vers un référent (réalité métaphysique, historique, psycho-biographique, etc.) ou vers un signifié hors texte dont le contenu pourrait avoir lieu, aurait pu avoir lieu hors de la langue, c’est-à-dire, au sens que nous donnons ici à ce mot, hors de l’écriture en général. C’est pourquoi les considérations méthodologiques que nous risquons ici sur un exemple sont étroitement dépendantes des propositions générales […] quant à l’absence du référent ou du signifié transcendantal. Il n’y a pas de hors-texte.986

Es wird damit nicht behauptet, dass „alles“ Text sei, sondern dass „alles“, was ausgedrückt werden kann, sich dem Spiel der Signifikanten unterwerfen muss. Kann man also deconstruction übersetzen? Ein japanischer Übersetzer bittet Derrida um Rat, um dieses Wort ins Japanische zu übersetzen. Aber das Problem der Übersetzung besteht bereits in der französischen Sprache, denn übersetzen meint so viel wie „heißen“ oder „bedeuten“. Um herauszufinden, was deconstruction bedeutet, ist das Wort in einer Kette von anderen Wörtern zu platzieren und danach in diesem Kontext zu deuten. Aber die deconstruction, so wie die différance, ist kein Wort und hat keine Bedeutung. Die deconstruction widersteht ihrer Formulierung. Daher, sagt Derrida, ist es das Allerwichtigste, sich zu fragen: „[Q]u’est-ce que la déconstruction n’est pas? ou plutôt devrait

983 984 985 986

(Derrida, 1967a, S. 16). (Ebenda, S. 16). (Derrida, 1972b, S. 50). (Derrida, 1967a, S. 227).

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Die Dekonstruktion zur (Ohn)macht

ne pas être?“987 Die deconstruction muss nicht ausgedrückt werden können. Man sollte dies nicht mit einem versteckten Wesen verwechseln. Die différance und die deconstruction führen zu keinem Wesen, keiner Präsenz, keiner Positivität. Denn sie sind eher die Möglichkeitsbedingung der Präsenz und gleichzeitig ihrer Vernichtung. Diese negative Sprache erinnert unmittelbar an Finks meontische Rede. Fink ist zum Resultat gekommen, dass der Phänomenologe sich selbst kritisierende, ironische und spielerische Begriffe braucht, weil es keine transzendentale Sprache gibt. Eine sich-selbst-abbauende Sprache war das Resultat der Phänomenologie und ihrer Selbst-Reduktion. Es ist auch nicht schwierig, den Zusammenhang zwischen Reduktion und Dekonstruktion herzustellen. Derrida erkennt ausdrücklich im „französischen Denken“ ein Motiv, von dem er auch ausgeht, nämlich die Reduktion des Sinnes: L’attention au système et à la structure, [...] ne consiste a) ni à restaurer le motif classique du système […] toujours ordonné au telos, à l’aletheia et à l’ousia, autant de valeurs rassemblées dans les concepts d’essence ou de sens; […] b) ni à effacer ni à détruire le sens. Il s’agit plutôt de déterminer la possibilité du sens à partir d’une organisation « formelle » qui en elle-même n’a pas de sens, […]. Or, si l’on considère que la critique de l’ânthropologisme par les dernières grandes métaphysiques (Hegel et Husserl, notamment) [...] avaient pour motif essentiel une réduction au sens […] on conçoit que la réduction du sens — c’est-à-dire du signifié — prenne d’abord la forme d’une critique de la phénoménologie. [...] la réduction du sens s’opère par une sorte de rupture avec une pensée de l’être qui a tous les traits d’une relève (Aufhebung) de l’humanisme.988

Différance und deconstruction haben keinen Sinn. Auch im „französischen Denken“ erkennt Derrida die Notwendigkeit, eine Kritik an der Metaphysik von außen her auszuüben. Es ist einfach eine Folge der Reduktion des Sinnes: Das Ergebnis muss also zu keinem neuen Sinn führen, sondern auf dessen Bedingungen und dessen Produktion. Die Sprache hört auf, der Äther des Sinnes zu sein, wenn sie als Signifikant verstanden wird: „Le signifié y fonctionne toujours déjà comme un signifiant“.989 Was ist das Außen der Metaphysik? Wenn es wahr ist, dass ein „ébranlement radical ne peut venir que du dehors“990, ist es auch wahr, dass „la « logique » de tout rapport au dehors est très complexe et surprenante“, so dass die „force et l’efficace du système, précisément, transforment régulièrement les transgressions en « fausses sorties »“991? Diese Argumentation tauchte bereits bei der Betrachtung Heideggers auf: Die „Bekämpfung“ der Metaphysik bringt 987 988 989 990

991

(Derrida, 1987, S. 387). (Derrida, 1972b, S. 161–162). Diese Stelle auch: „Et que cet assujettissement est devenu au cours d'une époque dont il nous faudra déconstruire le sens“ (Derrida, 1967a, S. 32). (Ebenda, S. 16). Das Zitat folgt: „Celui dont je parle ne relève donc pas plus qu'un autre de quelque décision spontanée de la pensée philosophique après quelque maturation intérieure de son histoire. Cet ébranlement se joue dans le rapport violent du tout de l'Occident à son autre, qu'il s'agisse d'un rapport « linguistique » (où se pose très vite la question des limites de tout ce qui reconduit à la question du sens de l'être), ou qu'il s'agisse de rapports ethnologiques, économiques, politiques, militaires, etc. Ce qui d'ailleurs ne veut pas dire que la violence militaire ou économique ne soit pas structurellement solidaire de la violence « linguistique »“ (Derrida, 1972b, S. 162). (Ebenda, S. 162).

Ce que la déconstruction n’est pas ?

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eine Vertiefung in sie mit sich. Um diese tragische Situation zu vermeiden, verlangt die Dekonstruktion eine doppelte, kontradiktorische Strategie, und zwar „tenter la sortie et la déconstruction sans changer de terrain, en répétant l’implicite des concepts fondateurs et de la problématique originelle, en utilisant contre l’édifice les instruments ou les pierres disponibles dans la maison, c’est-à-dire aussi bien dans la langue“992 und „décider de changer de terrain, de manière discontinue et irruptive, en s’installant brutalement dehors et en affirmant la rupture et la différence absolues“993. Man hat hier eine andere Version der am Anfang dieses Kapitels formulierten doppelten Forderung. Das Außen zwingt sich für ein Denken nach der Philosophie als fundamentale Kategorie auf. Aber ein einfaches Außen im Sinne von Transzendenz ist naiv, das hat Husserl gezeigt und daher hat er die Epoché zur philosophischen Notwendigkeit gemacht. Das Einzige, was bleibt, ist das von-sich-selbst Anders-Werden der Selbstheit. Es bleibt eine innere Entfremdung, die die hierarchische Unterscheidung von innen und außen erschüttert. Aber dieses Andere: Ist es identisch mit dem Selbst oder anders? Weder ganz gleich noch ganz anders. Das ganz Andere, von dem Derrida spricht, ist nicht das einfache Außen der Metaphysik, sondern eben das Fremde im Selbst, das kein Moment oder Vermittlung einer Identität ist. Warum auf das Außen beharren, wenn die Dekonstruktion eben die einfache Trennung von außen und innen infrage stellt? Es ist klar, das Spiel von Signifikanten ist kein Signifikant an sich, aber damit wiederholt man, wie oben gesagt, das klassische transzendentale Denken, das laut Derrida eben dekonstruiert werden soll: C’est que l’archi-écriture, mouvement de la différance, archisynthèse irréductible, ouvrant à la fois, dans une seule et même possibilité, la temporalisation, le rapport à l’autre et le langage, ne peut pas, en tant que condition de tout système linguistique, faire partie du système linguistique lui- même, être située comme un objet dans son champ.994

Die Trennung von innen und außen wird auf einer neuen Ebene wiederholt. D.h., wenn das Erste (die Idee) und das Zweite (die Schrift) ihre Hierarchie ständig umkehren, ist die Bewegung der Umkehrung selbst nicht der Ersatz oder das neue Transzendentale schlechthin? Erzwingt Derrida nicht eine neue Trennung, einen neuen Dualismus zwischen Sinn und Bedingungen des Sinnes, zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren (der différance)? Ist

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993

994

Wobei aber: „Le risque est ici de confirmer, de consolider ou de relever sans cesse à une profondeur toujours plus sûre cela même qu'on prétend déconstruire“, denn „L'explicitation continue vers l'ouverture risque de s'enfoncer dans l'autisme de la clôture“ (Ebenda, S. 162). Also: „Sans parler de toutes les autres formes de perspectives en trompe-l'oeil auxquelles peut se laisser prendre un tel déplacement, habitant plus naïvement, plus étroitement que jamais le dedans qu'on déclare déserter, la simple pratique de la langue réinstalle sans cesse le « nouveau » terrain sur le plus vieux sol“ (Ebenda, S. 162–163). (Derrida, 1967a, S. 88).

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Die Dekonstruktion zur (Ohn)macht

diese neue Hierarchie zwischen Möglichkeitsbedingungen der Welt — das schlechthin Erste, das wirklich Produzierende, das Nicht-Reduzierbare usw. — und der Welt — immer abgeleitet, a posteriori, vom Transzendentalismus der Sprache abhängig und daher an sich unwesentlich — nicht eine strikte, also eine philosophische Trennung? Kann man sich nicht hier auf den Gedanken berufen, dass „toute opposition apparemment rigoureuse et irréductible (par exemple celle du secondaire et du primaire“, weil bei Gegensätzen jeder Terminus „n’est que l’autre différé, l’un différant de l’autre. L’un est l’autre en différance, l’un est la différance de l’autre“?995 Warum aber auf das transzendentale Denken beharren, wenn dieses Gegenstand der Dekonstruktion ist? Sobald das Andere oder das Äußere bejaht wird, muss eingeräumt werden, dass es nicht absolut anders und absolut außen sein kann. Eins ist klar: Wenn das klassische Denken sich zur Aufgabe gemacht hat, die Gegensätze und Paradoxien der Welt zu überwinden, so muss die Aufgabe des Denkens, welches sich nun mit Recht als ein Paradox ausgibt, neu definiert werden.

7.5. Die Dekonstruktion und die différance als Spur und Postservice Die Dekonstruktion findet in jedem Text die Struktur-Wirkung der différance als Schrift. Die Struktur der Schrift präsentiert sich auf der Seite der Sprache als eine Metonymie von Zeichen: Zeichen des Zeichens996, unendlicher Ersatz zwischen ihnen, wo das Einzige, was bleibt, die Spur ist, oder genauer gesagt die Spur einer Spur, denn auch die Spur besteht aus einem sich selbst Verwischen997 — wie das heideggersche Sein, aber „ursprünglicher“ als dieses998: „Le mouvement de la trace est nécessairement occulté, il se produit comme occultation de soi“.999 Die Aufgabe/Natur der différance/Dekonstruktion besteht also darin, dass: Il faut y laisser en toute rigueur paraître/disparaître la trace de ce qui excède la vérité de l’être. Trace (de ce) qui ne peut jamais se présenter, trace qui elle-même ne peut jamais se présenter : apparaître et se manifester comme telle dans son phénomène. Trace au-delà de ce qui lie en profondeur l’ontologie fondamentale et la phénoménologie. Toujours différante, la trace n’est jamais comme telle en présentation de soi. Elle s’efface en se présentant, s’assourdit en résonnant, comme le a s’écrivant, inscrivant sa pyramide dans la différance.1000

995

(Derrida, 1972b, S. 20). Derrida: „L'écriture n'est pas signe de signe, sauf à le dire, ce qui serait plus profondément vrai, de tout signe. Si tout signe renvoie à un signe, et si « signe de signe » signifie écriture, certaines conclusions deviendront inévitables, que nous considérerons le moment venu“ (Derrida, 1967a, S. 63). 997 Derrida: „Mais le mouvement de la trace est nécessairement occulté, il se produit comme occultation de soi“ (Ebenda, S. 69); oder auch: „ La trace, où se marque le rapport à l'autre, articule sa possibilité sur tout le champ de l'étant, que la métaphysique a déterminé comme étant-présent à partir du mouvement occulté de la trace“ (Ebenda, S. 69). 998 Derrida: „Il faut penser la trace avant l'étant“ (Ebenda, S. 69). 999 (Ebenda, S. 63). 1000 (Derrida, 1972b, S. 22–23). 996

Die Dekonstruktion und die différance als Spur und Postservice

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In Bezug auf die Geschichte der Metaphysik konkludiert Derrida: Le texte de la métaphysique est ainsi compris. Encore lisible ; et à lire. Il n’est pas entouré mais traversé par sa limite, marqué en son dedans par le sillon multiple de sa marge. Proposant à la fois le monument et le mirage de la trace, la trace simultanément tracée et effacée, simultanément vive et morte, vive comme toujours de simuler aussi la vie en son inscription gardée.1001

Auf der Seite der Subjektivität findet man den Parallelismus zur trace in der Struktur des Vererbens und der Unterschrift. Die erste Behauptung Derridas diesbezüglich lautet: „Une écriture qui ne serait pas structurellement lisible — itérable — par-delà la mort du destinataire ne serait pas une écriture. “1002; d.h., die Schrift verlangt Iterierbarkeit. Die Schrift supponiert die Abwesenheit des Autors, „l’absence de tel ou tel, donc à la limite de tout « sujet » empiriquement déterminé“.1003 Aber auch der Empfänger ist im Prinzip abwesend, denn : „La possibilité de répéter et donc d’identifier les marques est impliqué dans tout code, fait de celuici une grille communicable, transmissible, déchiffrable, itérable pour un tiers, puis pour tout usager possible en général“, so dass gilt: „Toute écriture doit […] pouvoir fonctionner en l’absence radicale de tout destinataire empiriquement déterminé en général“ und „cette absence n’est pas une modification continue de la présence“, sondern „une rupture de présence, la « mort » ou la possibilité de la « mort » du destinataire inscrite dans la structure de la marque“.1004 Das Spiel von Autor und Empfänger zeigt die Struktur der Schrift als envoi, Schicken, Absenden, als Verkehr zwischen Abwesenden, als Postservice — so wie jener Verkehr zwischen Signifikanten und Spuren in der Linguistik. Was der Autor unterzeichnet, bleibt unbestimmt, offen und wartet auf den kommenden Empfänger, der, sobald er den Text liest, die Unterschrift des Autors wieder belebt und tötet, denn lesen heißt auch schreiben; die Lektüre wird autobiographisch. Aber die Biographie, die hinter jeder Lektüre steckt, erzeugt eine neue Art Unterschrift, welche auf eine neue Gegen-Unterschrift eines kommenden Lesers wartet etc. Anders gesagt: Das „Subjekt“ ist ein Spiel von Spuren, ein Gespenst. Und Derridas hantologie1005 — Wissenschaft der Gespenster, wie auch jene „Wissenschaft des Zeichens“, die Grammatologie, konfiguriert einen Raum von Sendungen, aber auch von Wiederholungen, denn alles beginnt mit einer Rückkehr, sei es der Schrift oder des Gespenstes.

1001

(Ebenda, S. 25). (Ebenda, S. 375). 1003 (Ebenda, S. 375). 1004 (Ebenda, S. 375). 1005 Derrida: „Chaque fois, c'est l'événement même, une première fois est une dernière fois. Toute autre. Mise en scène pour une fin de l'histoire. Appelons cela une hantologie. Cette logique de la hantise ne serait pas seulement plus ample et plus puissante qu'une ontologie ou qu'une pensée de l'être (du « to be », à supposer qu'il y aille de l'être dans le « to be or not to be », et rien n'est moins sûr). Elle abriterait en elle, mais comme des lieux circonscrits ou des effets particuliers, l'eschatologie et la téléologie mêmes. Elle les comprendrait, mais incompréhensiblement. Comment comprendre en effet le discours de la fin ou le discours sur la fin ? L'extrémité de l'extrême peutelle être jamais comprise ? Et l'opposition entre to be et not to be ? […] Après la fin de l'histoire, l'esprit vient en revenant, il figure à la fois un mort qui revient et un fantôme dont le retour attendu se répète, encore et encore“ (Derrida, 1993b, S. 31–32). Was ist aber das Gespenst nach dem Tod der Philosophie? Ist es nicht das, was wiederkehrt, was dem Tod widersteht? 1002

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Die Dekonstruktion zur (Ohn)macht

Dies ist die Bedingung der Endlichkeit, der Tatsache, dass wir alle sterben, aber diese Bedingung ermöglicht auch die originäre Struktur des Vererbens: „Le choix critique appelé par toute réaffirmation de l’héritage, c’est aussi, comme la mémoire même, la condition de finitude. L’infini n’hérite pas […]“.1006 Retentionen und Protentionen nehmen auch den Platz der Subjektivität ein und offenbaren ihre Bewegung als Vererben: Toutes les questions au sujet de l’être ou de ce qu’il y a à être (ou à ne pas être : or not to be) sont des questions d’héritage […] Nous sommes des héritiers, cela […] veut […] dire que […] l’être de ce que nous sommes est d’abord héritage, que nous le voulions et le sachions ou non“.1007 Wir sehen auf dieser Seite auch einen unendlichen regress: „Shakespeare qui genuit Marx qui genuit Valéry (et quelques autres) […] Kant qui genuit Hegel, qui genuit Marx, qui genuit…1008

Die différance war der Metaphysik innewohnend. Die différance ist ein Ereignis und doch kein historisches Geschehen. Sie taucht in einer Epoche auf, wo die Philosophie ihr notwendiges1009 Ende — also ihr Schicksal, ihre Vollendung und deren Aufhören zugleich — erreicht, aber dieses Auftauchen markiert das Ende des teleologischen Denkens. Es war innerhalb des Feldes der Metaphysik, wo der Begriff Geschichte — und Epoche — zustande kommen konnte1010. Doch braucht Derrida den Begriff Epoche, damit die différance Sinn macht, oder besser, damit sie einen Unterschied in der Geschichte machen kann. Die Metaphysik ist/war die „époque de la présence“1011, „époque de l’onto-théologie“1012, „époque du logos“1013, „époque du signe“1014, „l’époque dont on peut dessiner la clôture“1015; dagegen impliziere die différance — und das „diapherein“, ein anderer Begriff für différance — eine neue Epoche, aber auch ein neues Maß für die Geschichte. Man erkenne einen „index nécessairement indéterminé d’une époque à venir de la différance“.1016 Derrida spricht dabei von einer allumfassenden „époque du diapherein“ und von einer neuen Epoche der Schrift1017.

1006

(Ebenda, S. 40). (Ebenda, S. 94). 1008 (Ebenda, S. 23–24). 1009 Derrida: „Or par un mouvement lent dont la nécessité se laisse à peine percevoir, tout ce qui, depuis au moins quelque vingt siècles, tendait et parvenait enfin à se rassembler sous le nom de langage commence à se laisser déporter ou du moins résumer sous le nom d'écriture“ (Ebenda, S. 15–16). Oder auch diese bereits zitiere Stelle (Siehe Fußnoten : 206 und 919): „Elle indique comme malgré elle qu'une époque historico-métaphysique doit déterminer enfin comme langage la totalité de son horizon problématique“ (Derrida, 1967a, S. 15). 1010 Derrida: „Ces valeurs appartiennent sans doute au système dont la dislocation se présente aujourd'hui comme telle, elles décrivent des styles de mouvement historique qui n'avaient de sens — comme le concept d'histoire lui-même — qu'à l'intérieur de l'époque logocentrique“ (Ebenda, S. 13). 1011 (Derrida, 1972b, S. 17). 1012 (Derrida, 1967a, S. 23). 1013 (Ebenda, S. 24). 1014 (Ebenda, S. 25). 1015 (Ebenda, S. 24). 1016 (Ebenda, S. 172). 1017 Derrida: „Peut-être faut-il tenter de penser cette pensée inouïe, ce tracement silencieux : que l'histoire de l'être, dont la pensée engage le logos grecoccidental, n'est elle-même, telle qu'elle se produit à travers la différence ontologique, qu'une époque du diapherein“ (Derrida, 1972b, S. 22); oder auch: „Dans un contexte tout différent, nous avions désigné ailleurs l'époque de l'écriture comme la suspension de l'être-debout […]“ (Derrida, 1967a, S. 127). 1007

Die Dekonstruktion und die différance als Spur und Postservice

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Der Gebrauch ist nicht trivial. Der Begriff Epoche rechtfertigt den Rekurs auf eine vermutete Innerlichkeit der Metaphysik: Es ist nur innerhalb „l’intérieur de l’époque logocentrique“1018, „l’intérieur d’un monde auxquels ont déjà été assignés un certain concept du signe (nous dirons plus loin le concept de signe) et un certain concept des rapports entre parole et écriture“1019, „l’intérieur du système d’oppositions de la métaphysique“1020, „l’intérieur de la clôture“1021, wo die Unterdrückung der différance stattfindet. Doch zeigt Derrida, dass diese Innerlichkeit keine eigentliche Innerlichkeit ist, dass sie sich selbst dekonstruiert und dass sie alleine es ist, welche notwendigerweise in ein Spannungsfeld zwischen innen-außen oder Erstem-Zweitem gerät. Das bedeutet, diese Epoche war keine eigentliche Epoche, das Innere war nie innerlich. Und doch muss all dies eine Epoche gewesen sein. Aus einer anderen Perspektive betrachtet: Das Spiel von Signifikanten wurde in der Metaphysik nur scheinbar unterdrückt, denn ursprünglicher als das Sein und das Wissen — als deren Möglichkeitsbedingung — ist es die „Ursache“ des Sinnes überhaupt. Aber Derrida zufolge muss man behaupten, dass die Ursache des Sinnes als solche nur wirken kann, wenn sie unterdrückt wird. Daraus folgt, dass das Unterdrückte, oder besser das Verdrängte, verdrängt bleiben muss. Warum? Weil das Bedingende im Bedingten nicht erscheinen kann. Dieser Satz folgt bis ins letzte Detail dem transzendentalen Denken. Es kann nicht Aufgabe der Dekonstruktion sein, das Verdrängte zum Ausdruck zu bringen. War also hier die Metaphysik ein Fehler, wie Nietzsche meinte? Nicht aus dieser Perspektive. Denn die Metaphysik muss auch zur nicht motivierten Bewegung der différance1022 gehören. An dieser Stelle ist zu fragen, wie die Unterdrückung des Vorobjektiven oder des Vorsubjektiven überhaupt möglich ist. Natürlich handelt es sich nicht um eine Tätigkeit in der Welt: Die différance macht, was sie macht. Ist dies richtig? Ist das Ende der Metaphysik, die logozentrische Epoche, der Wille, das Spiel zu stoppen, nicht eben nur ein Wille, eine Verkennung der den Sinn konstituierenden „wahren Kräfte“, obwohl der Wert „Wahrheit“ infrage gestellt wird, aber nichts anderes? D.h., die différance und die Dekonstruktion operieren nicht in Derridas bzw. in unserer Epoche, sie haben seit jeher ihre Wirkung ausgeübt. Der Unterschied zwischen der metaphysischen und der unsrigen Epoche besteht darin, dass „dire est fait sans être dit, écrit sans être proféré“.1023 Aber da zeigen sich neue metaphysische Unterschiede: machen vs. ausdrücken, schreiben vs. sich äußern. Und wenn da keine Bewegung von Selbstbewusstsein, Anerkennung oder 1018

(Ebenda, S. 13). (Ebenda, S. 13-14). 1020 (Ebenda, S. 20). 1021 (Ebenda, S. 25). 1022 Derrida über die nicht motivierte Bewegung der trace: „La structure générale de la trace immotivée fait communiquer dans la même possibilité et sans qu'on puisse les séparer autrement que par abstraction, la structure du rapport à l'autre, le mouvement de la temporalisation et le langage comme écriture. Sans renvoyer à une « nature », l'immotivation de la trace est toujours devenue. Il n'y a pas, à vrai dire, de trace immotivée : la trace est indéfiniment son propre devenir- immotivée“ (Ebenda, S. 69). 1023 (Ebenda, S. 45). 1019

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Die Dekonstruktion zur (Ohn)macht

Bewusstmachung stattfindet, weil die Schleife der Sprache, ihre Selbst-Referenz, vorobjektiv und vorsubjektiv ist, drängt sich die Frage auf, worin dieser Übergang vom Symptom — écrit sans être proféré — zur Formulierung — explizit machen — besteht. Diese Frage bleibt bei Derrida offen.

7.6 Perspektiven eines kommenden Denkens: Psychoanalyse und Politik vor dem Hintergrund der Krise des Abendlandes Gibt es überhaupt eine Rechtfertigung für die Dekonstruktion? Ist sie Tat, Handlung oder beides, aber gleichzeitig weder Tat noch Handlung? Führt der Weg — die Dekonstruktion — zum Denken der différance, oder ist die Dekonstruktion die passiv-wirkende différance? Wenn das teleologische Denken dekonstruiert wird, bleibt der Weg — Dekonstruktion — nicht ohne Ziel, das kommende Denken? D.h., koinzidieren nicht Weg und Ziel in dem Moment, in dem beide sich auflösen? Ist der Weg, der sich selbst bewegt, überhaupt ein Weg? Wenn das kommende Denken nicht zu verwirklichen ist, denn sonst würde es sich in Gegenwart verkehren, ist dann die ziellose Dekonstruktion nicht umsonst? Wie kann sie in diesem Sinne politisch sein, wie sie es will? Angenommen, dass dieses Spiel notwendigerweise sich selbst verhüllt und zu seiner eigenen Vergessenheit führt1024, gibt es eigentlich nichts, woran eine Erinnerung festgemacht werden könnte. Auch wenn die Metaphysik darin bestand, die différance zu unterdrücken1025 und wenn die Dekonstruktion zu einer Befreiung1026 führen könnte, entspricht dieser Befreiung, wie gesagt, kein Telos mehr. Derrida differenziert nicht zwischen Moderne und Metaphysik.

1024

Derrida schreibt, Heidegger interpretierend: „[…] l'Histoire de l'être commence par l'oubli de l'être en cela que l'être retient son essence, la différence avec l'étant. La différence fait défaut. Elle reste oubliée. Seule le différencié — le présent et la présence (das Anwesende und das Anwesen) se désabrite, mais non pas en tant que le différencié. Au contraire, la trace matinale (die frühe Spur) de la différence s'efface dès lors que la présence apparaît comme un étant- résent (das Anwesen wie ein Anwesendes erscheint) et trouve sa provenance dans un (étant)-présent suprême (in einem höchsten Anwesenden). » […] La trace n'étant pas une présence mais le simulacre d'une présence qui se disloque, se déplace, se renvoie, n'a proprement pas lieu, l'effacement appartient à sa structure“ (Derrida, 1972b, S. 24–25). 1025 Derrida: „Si nous persistons à nommer écriture cette différence, c'est parce que, dans le travail de répression historique, l'écriture était, par situation, destinée à signifier le plus redoutable de la différence“ (Derrida, 1967a, S. 83). 1026 Zum Beispiel an dieser Stelle: „[…]l'exergue ne doit pas seulement annoncer que la science de l'écriture — la grammatologie — donne les signes de sa libération à travers le monde grâce à des efforts décisifs[…]“ (Ebenda, S. 13); „[…]Nietzsche, loin de rester simplement (avec Hegel et comme le voudrait Heidegger) dans la métaphysique, aurait puissamment contribué à libérer le signifiant de sa dépendance ou de sa dérivation par rapport au logos et au concept connexe de vérité ou de signifié premier, en quelque sens qu'on l'entende“ (Ebenda, S. 31–32); „[…] l'intention qui institue la linguistique générale en science reste à cet égard dans la contradiction. Un propos déclaré confirme bien, disant ce qui va sans dire, la subordination de la grammatologie, la réduction historico-métaphysique de l'écriture au rang d'instrument asservi à un langage plein et originairement parlé. Mais un autre geste (ne disons pas un autre propos, car ici, ce qui ne va pas sans dire est fait sans être dit, écrit sans être proféré) libère l'avenir d'une grammatologie générale dont la linguistique-phonologique ne serait qu'une région dépendante et circonscrite“ (Ebenda, S. 45).

Perspektiven eines kommenden Denkens

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Will man die Metaphysik hauptsächlich als eine intensive Beschäftigung mit der Frage nach dem Ursprung und als eine Antwort darauf, in Form einer Philosophie der Präsenz, verstehen, wie Derrida es macht, dann müsste man trotzdem einräumen, dass es die Moderne ist, welche dem Denken überhaupt eine Aufgabe im Sinne von sozialer Praxis erteilt. Die Befreiung, die Philosophie als politisch, die Lektüre der Zeit als die Geschichte eines Verfalls und einer Vergessenheit und damit als Möglichkeit des Kommenden ist höchst modern. Derrida ist in diesem Sinne ein moderner Denker. Diese Befreiung wurde nun in der Metaphysik als Aneignung des Anderen seitens des Subjekts und als Eigentlichkeit des Subjekts, also als Überwindung aller Formen der Entfremdung interpretiert. In einer Philosophie, verstanden als Wissen, nimmt die Entfremdung die Form von Paradoxien und Aporien an. In einer Philosophie der Existenz bedeutet die Entfremdung das Verloren-Gehen der Eigentlichkeit. In beiden Fällen ist der Ruf nach Einheit und Versöhnung, Innerlichkeit und Eigentum entscheidend. Wenn aber die Entfremdung strukturell wird, wenn der Raum, die Äußerlichkeit des Zeichens, der Tod des Subjekts — als Autor und als Empfänger — unvermeidlich ist, so geht gleichfalls das Maß verloren, nach dem man das Ungerechte und das Schlimme der Welt philosophisch beurteilen kann. Man sollte an dieser Stelle nicht zu voreilig auf den Schmerz und das Leiden als Maß des Ungerechten verzichten. Dies aber gehört zur empirischen Welt, nicht zu einer transzendentalen oder quasitranszendentalen Meditation, wie die bei Derrida. Die Dekonstruktion definierte sich offen als politisch. Die Dekonstruktion des Logozentrismus, also der Metaphysik, versteht Derrida als Abbau des „l’ethnocentrisme qui, partout et toujours, a dû commander le concept de l’écriture“; d.h., „l’ethnocentrisme le plus original et le plus puissant, en passe de s’imposer aujourd’hui à la planète“, der diese drei Bereiche regiert: „le concept de l’écriture“, „l’histoire de la métaphysique“ und „le concept de la science ou de la scientificité de la science“1027, und der als „un ethnocentrisme occidental, un primitivisme prémathématique, et un intuitionnisme préformaliste“1028 betrachtet werden muss, auch wenn ein solcher Ethnozentrismus die umgekehrte Form eines Lobs des Fremden annimmt.1029 Aber die Dekonstruktion richtet sich nicht nur auf den Abbau des Ethnozentrismus. Ihr korrespondiert auch eine Politik des Gedächtnisses und des Erbes, der Tradition und der Interpretation. Derrida behauptet, dass eine Rede „d’héritage et de générations, de générations de fantômes, c’est-àdire de certains autres qui ne sont pas présents, ni présentement vivants, ni à nous ni en nous ni hors de nous, c’est au nom de la justice“1030, weil 1027

Alle Zitate aus: (Ebenda, S. 11–12). (Ebenda, S. 59). 1029 Derrida: „En même temps que le « préjugé chinois », un « préjugé hiéroglyphiste » avait produit le même effet d'aveuglement intéressé. L'occultation, loin de procéder, en apparence, du mépris ethnocentrique, prend la forme de l'admiration hyperbolique. Nous n'avons pas fini de vérifier la nécessité de ce schéma. Notre siècle n'en est pas libéré : chaque fois que l'ethnocentrisme est précipitamment et bruyamment renversé, quelque effort s'abrite silencieusement derrière le spectaculaire pour consolider un dedans et en retirer quelque bénéfice domestique“ durch eine „admiration hyperbolique“ (Ebenda, S. 119). 1030 (Derrida, 1993b, S. 15). 1028

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[…] aucune éthique, aucune politique, révolutionnaire ou non, ne paraît possible et pensable et juste, qui ne reconnaisse à son principe le respect pour ces autres qui ne sont plus ou pour ces autres qui ne sont pas encore là, présentement vivants, qu’ils soient déjà morts ou qu’ils ne soient pas encore nés. […] victimes ou non des guerres, des violences politiques ou autres, des exterminations nationalistes, racistes, colonialistes, sexistes ou autres, des oppressions de l’impérialisme capitaliste ou de toutes les formes du totalitarisme.1031 [Daraus folgt :] „L’héritage n’est jamais un donné, c’est toujours une tâche.1032

Derridas Verständnis vom politischen Charakter der Dekonstruktion muss man im Zusammenhang mit seinem Interesse an der Psychoanalyse verstehen. Es ist wahr: „[L]a déconstruction du logocentrisme n’est pas une psychanalyse de la philosophie“.1033 Derrida zeigt eine „réticence théorique à utiliser les concepts freudiens autrement qu’entre guillemets“, denn „ils appartiennent tous, sans aucune exception, à l’histoire de la métaphysique, c’est à dire au système de répression logocentrique qui s’est organisé pour exclure ou abaisser, mettre dehors et en bas, comme métaphore didactique et technique, comme matière servile ou excrément, le corps de la trace écrite“.1034 Der Gebrauch der Psychoanalyse folgt hier dem Modell von Derridas Gebrauch der Phänomenologie und der Linguistik von Saussure. Alle Begriffe sind für ihn metaphysisch, daher muss er alle Diskurse und deren Voraussetzungen supponieren, um sie auf dekonstruktive Weise gegen die Metaphysik zu verwenden. Derrida dekonstruiert den Logozentrismus als „Linguistizismus“, aber damit basiert er seine Ideen auf Saussures Befunden über die Sprache als System von Differenzen. Derrida reduziert den Sinn, aber damit muss er auf ein subjektiv-transzendentales Verfahren, die Reduktion, rekurrieren. Derrida richtet seine Dekonstruktion gegen Heideggers Philosophie der Anwesenheit, weil Letzterer nicht weit genug gegangen wäre. Aber diese Dekonstruktion wiederholt Heideggers Destruktion usw. Dass die Dekonstruktion weder Philosophie noch Psychoanalyse ist, ist nicht zu bestreiten. Zu präzisieren ist eher, welcher Argumente und Verfahren Derrida sich bedient. Bezüge zur Psychoanalyse sind in Derridas Werken mehrmals zu finden. In De la Grammatologie ist der Begriff Symptom von großer Bedeutung. Unsere Epoche kennzeichnet sich, sagt er, durch eine „inflation du signe « langage »“ und eine Krise beim traditionellen Denken. Aber diese Krise, sagt er, „fait encore signe : cette crise est aussi un symptôme“.1035 Die Dekonstruktion ist weiter eine Auslegung von Symptomen: Comme nous pensons que tous les concepts proposés jusqu’ici pour penser l’articulation d’un discours et d’une totalité historique sont pris dans la clôture métaphysique que nous questionnons ici, comme nous n’en connaissons pas d’autre et que nous n’en produirons aucun autre tant que cette clôture terminera notre discours ; comme la phase primordiale et indispensable, en fait et en droit, dans le développement de cette problématique, consiste à interroger la structure interne de ces textes comme de symptômes.1036

1031

(Ebenda, S. 15). (Ebenda, S. 94). (Derrida, 1967b, S. 293). 1034 (Ebenda, S. 294). 1035 (Ebenda, S. 15). 1036 (Ebenda, S. 148). 1032 1033

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Im Aufsatz La Différance bezeichnet Derrida Nietzsche, Lévinas und Freud als seine Vorfahren beim Denken der différance. In Bezug auf Freud hebt er besonders den differentiellen Charakter des Unbewussten hervor. Der Begriff Unbewusstes erschüttert die Philosophie des Bewusstseins als Denken der Anwesenheit. Denn Bewusstsein bedeutet Bewusstsein von etwas, und dies bedeutet zugleich Selbstbewusstsein — das dies meine Vorstellungen sind. Das Unbewusste supponiert ein unbewusstes Denken zwischen der subjektiven Tätigkeit und dem Automatismus, zwischen dem eigenen Wunsch und den sozialen Anforderungen usw. Die Subjektivität ist nach der Psychoanalyse gespalten. Wie Freud im Zusammenhang mit der Traumdeutung sagt: Die Tätigkeit des Unbewussten meldet sich durch Fehlleistungen1037, also durch die Unterbrechung des normalen Flusses des Bewusstseins. Fehlleistungen werden durch das Vordringen des Unbewussten ins Bewusstsein verursacht und sind, wie die Symptome, Produkte des Unbewussten selbst. Das Merkwürdige am Unbewussten ist die Verdoppelung oder Entfaltung des Denkens in Prozessen, die eventuell kollidieren. Das Unbewusste „ist“ das Auftauchen von praktischen Paradoxien im Bewusstsein, aber als wäre der Grund dafür auf unterschiedliche Quellen zurückzuführen1038. Diese Entgegensetzung im Bewusstsein erfolgt dank der Arbeit des Unbewussten. Wir sehen aber, wie die Dekonstruktion auch diesen Prozess nachahmt. Freud erkennt, wie das Unbewusste einen Gegenwillen oder einen Willen, der sich selbst negiert, oder sich selbst widerlegende Sätze erzeugt1039, genauso wie Derridas Spur, welche sich in sich selbst negiert, weil sie nur in ihrer eigenen Aporie „erscheinen“ kann, aber dieses Erscheinen koinzidiert mit ihrem Verschwinden. Aufgrund der Fehlleistungen öffnet das Unbewusste den Raum für eine Auslegung, aber damit auch für verschiedene gleichzeitige „Schauplätze“.1040 1037

Freud erwähnt als Fehlleistungen in seinem Werk Zur Psychopathologie des Alltagslebens: das Vergessen von Eigennamen, fremdsprachigen Wörtern, Namen und Wortfolgen, Eindrücken und Vorsätzen; Verlesen und Verschreiben, Versprechen, Vergreifen und Irrtümer. Siehe: (Freud, 1917). 1038 Freud schreibt über die Fehlleistungen und die Träume: „Der Mechanismus der Fehl- und Zufallshandlungen […] zeigt in den wesentlichsten Punkten eine Übereinstimmung mit dem Mechanismus der Traumbildung (‚Traumarbeit‘) […] Die Verdichtungen und Kompromißbildungen (Kontaminationen) findet man hier wie dort; die Situation ist die nämliche, daß unbewußte Gedanken sich auf ungewöhnlichen Wegen, über äußere Assoziationen, als Modifikation von anderen Gedanken zum Ausdruck bringen. […] Hier (beim Traum) wie dort (beim Alltagsleben) löst sich der Anschein inkorrekter Funktion durch die eigentümliche Interferenz zweier oder mehrerer korrekter Leistungen“ (Ebenda, S. 230). 1039 Freud: „Beim Vergessen von Vorsätzen tritt ein anderes Moment in den Vordergrund; der beim Verdrängen des peinlich zu Erinnernden nur vermutete Konflikt wird hier greifbar, und man erkennt bei der Analyse der Beispiele regelmäßig einen Gegenwillen, der sich dem Vorsatze widersetzt, ohne ihn aufzuheben. Wie bei früher besprochenen Fehlleistungen erkennt man auch hier zwei Typen des psychischen Vorgangs: der Gegenwille kehrt sich entweder direkt gegen den Vorsatz (bei Absichten von einigem Belang), oder er ist dem Vorsatz selbst wesensfremd und stellt seine Verbindung mit ihm durch eine äußerliche Assoziation her (bei fast indifferenten Vorsätzen)“ (Ebenda, S. 228). 1040 Freud in Die Traumdeutung: „Niemand hat die Wesensverschiedenheit von Traum und Wachleben stärker betont und zu weitgehenderen Schlüssen verwendet als G. Th. Fechner in einigen Bemerkungen seiner Elemente der Psychophysik“; er meint damit „weder die einfache Herabdrückung des bewußten Seelenlebens unter die Hauptschwelle“, noch die Abziehung der Aufmerksamkeit von den Einflüssen der Außenwelt genüge, um die Eigentümlichkeiten des Traumlebens dem wachen Leben gegenüber aufzuklären. Er vermutet vielmehr, daß auch der Schauplatz der Träume ein anderer ist als der des wachen Vorstellungslebens: „Sollte der Schauplatz der psychophysischen Tätigkeit während des Schlafens und des Wachens derselbe sein, so

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Diese Entdeckung Freuds muss man im Kontext einer anderen Auslegung der Zeit verstehen. Die Schaubühne des Traumes und die des wachen Lebens sind anders, aber sie kollidieren im Alltag. Dieser Kurzschluss oder dieser manchmal performative Gegensatz ist eigentlich das Zeichen zweier oder mehrerer Zeiten. Die Zeit des Unbewussten ist mit der Zeit des alltäglichen Lebens nicht synchronisiert. Das Subjekt lebt in mehreren Epochen, wenn man so will. Und diese Zeit öffnet sich mittels einer Verdrängung, oder besser, eines Aufschubs der Befriedigung. Nicht nur der Erwachsene findet einen Ursprung in der Urzeit der Kindheit, auch die Zivilisation bleibt ihrer kulturellen Geschichte verbunden, Sagen und Märchen sind Zeugnisse dafür. Freud schreibt in Der Mann Moses und die monotheistische Religion: Zahlreiche Überbleibsel der vergessenen Urzeit sind in den Sagen und Märchen der Völker erhalten, und in unerwarteter Reichhaltigkeit hat das analytische Studium des kindlichen Seelenlebens Stoff geliefert, um die Lücken unserer Kenntnis der Urzeiten auszufüllen […] Nimmt man unsere Darstellung der Urgeschichte als im ganzen glaubwürdig an, so erkennt man in den religiösen Lehren und Riten zweierlei Elemente: einerseits Fixierungen an die alte Familiengeschichte und Überlebsel derselben, anderseits Wiederherstellungen des Vergangenen, Wiederkehren des Vergessenen nach langen Intervallen.1041

Derrida interpretiert Freuds Aufschub der Befriedigung in der Linie der différance als Umweg, als Verzögerung der Anwesenheit. Aber vielleicht hat Derrida auch Freuds implizite Zeitlehre übernommen, wenn er Shakespeares Hamlet zitiert: „The time is out of joint“.1042 Ja, die Zeit ist out of joint, weil sie sich durch konstante Brüche konstituiert, durch Paradoxien und SelbstBeziehungen, die Zeit ist out of joint, wenn sie Raum wird und umgekehrt. Aber ist dieses out of joint nicht, wie Freuds Fehlleistungen, das Zeichen für mehrere sich überlagernde Temporalitäten? Ist die Zeit nicht out of joint, weil sie sich in Schichten ablagert, daher die Geschichte? Oder anders gesagt: Ist die Philosophie der Anwesenheit nicht ein Denken einer bestimmten Zeitlichkeit, während das Denken des Endes eher eine andere Zeit aufdeckt, die nicht ursprünglicher oder abgeleitet von der Ersteren sein muss? Aber das Denken des Endes, trotz dessen Beitrags zu einer anderen Auffassung der Zeit als Linie oder als Kreis, und zwar als Paradoxon und als regressus ad infinitum, zeigt auch ein Woher und ein Wohin. Das Woher ist Griechenland, der Anfang des Abendlandes, der Ursprung der Philosophie und des Diskurses des lógos = Metaphysik = Denken des Seins als Anwesenheit, sowie der Untergang der Tragödie und der Poesie. Und das Wohin ist das Andere davon. Jenseits, außerhalb, auf der anderen Seite der Metaphysik. Dies ist die Zeitlichkeit des Denkens des Endes: „Non seulement de Platon à Hegel (en passant même par Leibniz) mais aussi, hors de ses limites apparentes, des présocratiques à Heidegger“. 1043 Die betreffende Zeitlichkeit ist die der Geschichte der Philosophie, Vorrang der Geschichte des könnte der Traum meines Erachtens bloß eine, auf einem niederen Grade der Intensität sich haltende Fortsetzung des wachen Vorstellungslebens sein, und müßte übrigens dessen Stoff und dessen Form teilen. Aber es verhält sich ganz anders“ (Freud, 1925, S. 52). 1041 (Freud, 1939, S. 190). 1042 Siehe: (Derrida, 1993b), wo Derrida diesen Ausdruck zum Leitmotiv dieses Buches macht. 1043 (Derrida, 1967a, S. 11–12).

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logos und nicht der Wissenschaft oder der ökonomischen Verhältnisse, die abgeleitet vom philosophischen Diskurs sind. Heidegger behauptet, wie bereits gesehen: „Die Wissenschaft denkt nicht“, sie ist bloßes Resultat ihres apriorischen Denkens; Derrida bestätigt dies: Das Ende der Philosophie koinzidiert mit ihrer Herrschaft, wo sie die Verantwortung für die Geschichte der Metaphysik, unseren Begriff von Wissenschaft, trägt. Die Philosophie macht de facto die wahre Geschichte aus. Die Kritik am Logozentrismus bedeutet auch, diesen als Wirklichkeit zu akzeptieren. Wie kann man also diesen höchst idealistischen Ansatz — die Philosophie und das Denken als der wahre Motor der Geschichte — mit der Behauptung, es sei das Spiel der différance, was diese Geschichte ausmacht, zusammenbringen? Kann man den „Totalitarismus“ bzw. den Logozentrismus bekämpfen oder gehört er zur Verhüllung der différance selbst? Oder ist ein solcher Logozentrismus nur ein Schein des „wahren Spiels“? Derrida ist in diesem Sinne gleichermaßen Idealist wie Husserl. Denn die konkrete Politik versteht sich als ein Derivat, als ein Resultat des philosophischen Denkens und dieses wiederum ist Ergebnis der quasi-transzendentalen différance. Aber eben, weil diese VorGeschichte oder Geschichte der différance ontologisch älter ist als die empirische Geschichte, enthüllt sich damit die konstitutive Ohnmacht des Denkens des Endes. Sollte aber das Denken der différance und des Supplements nicht den Transzendentalismus erschüttern, statt einen neuen hierarchischen Dualismus — das Vorontologische vs. das Abgeleitete — einzuführen? Diese Geschichte des Abendlandes scheint bei Derrida zu linear zu sein: von den Präsokratikern über Platon bis Heidegger, Hegel und Husserl, aber auch über Freud, Lacan etc. Die Frage ist: Warum sollte diese Zeitlichkeit einen Primat besitzen? Ist die Erinnerung der zeitlichen Differenz nicht auch ein Vergessen der Gegenwart? Denn man würde nicht sofort darin zustimmen, dass die Welt in ihrer Praxis verhaftet ist, und deswegen auf eine Befreiung seitens des Denkens hoffen. Die Zeit der Politik und die Zeit des Denkens, die Zeit der Mythen und die Zeit der wissenschaftlichen Entscheidungen, die Zeit der Ökonomie und die Zeit der Metaphysik1044: Gehören sie zu einer einzigen Zeit, zu einer einzigen Quelle, zu einem einzigen Rhythmus? Das wahre out of joint der Zeit besteht vielleicht darin, dass diese verschiedenen Zeiten nicht um die Ursprünglichkeit konkurrieren, sondern dass die Ursprünglichkeit eben diese Konkurrenz ist. Das Paradoxon der Metaphysik zwischen Gedanken und Schrift, zwischen dem Ursprünglichen und dem Abgeleiteten, dem Transzendentalen und dem Empirischen, dem Ontischen und dem Ontologischen usw. führt bei der Dekonstruktion zu einer Umkehrung der Begriffe und danach zu einer Verschiebung der Struktur, wodurch jeder Begriff seinen Sinn bekommt. Heidegger gründet diesen Unterschied von Sein und Zeit auf den Unterschied zwischen einer vulgären und einer eigentlichen Zeit. Aus der Dekonstruktion dieses Gegensatzes ergibt sich Folgendes: „Tout texte de la 1044

Wobei z.B. eine Kritik der politischen Ökonomie und eine Dekonstruktion der Metaphysik weder koinzidieren noch sich unterordnen lassen.

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métaphysique porte en lui, par exemple, le concept dit « vulgaire » du temps et les ressources qu’on empruntera au système de la métaphysique pour critiquer ce concept“.1045 Der Unterschied transzendental-abgeleitet, also vulgäre und eigentliche Zeit ist metaphysisch und doch notwendig, auch nach dem Ende der Metaphysik. Denn das transzendentale Denken vermeidet, wie schon erwähnt, eine bloß empirische Reflexion. Und doch ist das transzendentale Denken kontradiktorisch, oder besser, selbst-abbauend und daher gewissermaßen unhaltbar. Das transzendentale Denken unterminiert den transzendentalen Ansatz, aber nur, wenn von einem solchen ausgegangen wird. Die Dekonstruktion folgt dieser Bewegung. Das Resultat ist: Die Metaphysik kann nur infrage gestellt werden, wenn sie bereits akzeptiert wird. Die scheinbare Ermächtigung der Metaphysik — ihre Vollendung als absolute Herrschaft1046 — ist ihre Entmächtigung — die Metaphysik begegnet ihrem Ende als Aporie, also als Ohnmacht1047 —, denn la fin, das Ende, bedeutet immer sowohl Aufhören als auch Vollendung, Schließung und teleologische Erfüllung; aber die Entmächtigung der Metaphysik — durch ihre Dekonstruktion — bedeutet ihre Ermächtigung, denn das Denken des Endes erklärt sich als jene schwache Kraft innerhalb einer allmächtigen Metaphysik1048. Die Metaphysik erschafft und widerlegt sich gleichzeitig. Das Transzendentale ist so unhaltbar wie notwendig. Dies ist die Oszillation, die die Bewegung der différance widerspiegelt, und welche Freud nur geahnt hat, ohne sie explizit formuliert zu haben. Freud spricht in Die Traumdeutung vom Unbewussten als einem Rätsel1049, dass auf das Feld 1045

(Derrida 1972b, S. 70). Derrida: „[…] le logocentrisme […] n'a été […] que l'ethnocentrisme le plus original et le plus puissant, en passe de s'imposer aujourd'hui à la planète“ (Derrida, 1972b, S. 11). 1047 Die Metaphysik ist jene „époque historico-métaphysique dont nous ne faisons qu'entrevoir la clôture“.(Ebenda, S. 14). 1048 Derrida in Bezug auf die politische Kraft der Dekonstruktion als Denken des Zukommenden — à-venir: „[…] through the experience that lets itself be affected by what or who comes [(ce) qui vient], by what happens or by who happens by, by the other to come, a certain unconditional renunciation of sovereignty is required a priori. Even before the act of a decision. Such a distribution or sharing also presupposes that we think at once the unforeseeability of an event that is necessarily without horizon, the singular corning of the other, and, as a result, a weak force. This vulnerable force, this force without power, opens up unconditionally to what or who comes and comes to affect it. The corning of this event exceeds the condition of mastery and the conventionally accepted authority of what is called the ‘performative’ It thus also exceeds, without contesting its pertinence, the useful distinction between ‘constative’ and ‘performative’. Along with so many other related distinctions, beginning with theoretical versus practical reason, the scientific versus the technical, and so on“ (Derrida, 2005, S. Preface.) 1049 Freud: „Der Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind. Man würde offenbar in die Irre geführt, wenn man diese Zeichen nach ihrem Bilderwert anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen wollte. Ich habe etwa ein Bilderrätsel (Rebus) vor mir: ein Haus, auf dessen Dach ein Boot zu sehen ist, dann ein einzelner Buchstabe, dann eine laufende Figur, deren Kopf wegapostrophiert ist u. dgl. Ich könnte nun in die Kritik verfallen, diese Zusammenstellung und deren Bestandteile für unsinnig zu erklären. Ein Boot gehört nicht auf das Dach eines Hauses, und eine Person ohne Kopf kann nicht laufen; auch ist die Person größer als das Haus, und wenn das Ganze eine Landschaft darstellen soll, so fügen sich die einzelnen Buchstaben nicht ein, die ja in freier Natur nicht vorkommen. Die richtige Beurteilung des Rebus ergibt sich offenbar erst dann, wenn ich gegen das Ganze und die Einzelheiten desselben keine solchen Einsprüche erhebe, sondern mich bemühe, jedes Bild durch eine Silbe oder ein Wort 1046

Perspektiven eines kommenden Denkens

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der Sprache zurückzuführen ist. Ein Rebus ist bereits ein zu interpretierendes Zeichen, das sich der différance, einer unendlichen Interpretation, unterwerfen muss. Denn das Unbewusste ersetzt/repräsentiert/entsetzt die „Inhalte“ des Lebens: Träume bieten latente und manifeste Inhalte. Das Unbewusste ist bereits ein System von Zeichen als Vorstellungsrepräsentanz. Die Triebe gelangen nicht ins Bewusstsein, sondern sie sind ursprünglich einem Ersatz-Prozess unterworfen, d.h., die Verdrängung ist nicht rückgängig, das Unbewusste nicht bewusst zu machen.1050 Die Vorstellungsrepräsentanz deutet bereits auf eine Verdoppelung der Vorstellung hin. Freuds „diaphoristique en tant qu’énergétique ou économique des forces“ korrespondiert in diesem Sinne, sagt Derrida, „la mise en question du primat de la présence comme conscience“; dieses Infragestellen des Bewusstseins erfolgt einerseits durch den Begriff Energie und anderseits durch eine „théorie du chiffre (ou de la trace)“; weiter gelingt es Freud, der doppelten Forderung eines Denkens der différance Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: „Les deux valeurs apparemment différentes de la différance se nouent dans la théorie freudienne: le différer comme discernabilité, distinction, écart, diastème, espacement, et le différer comme détour, délai, réserve, temporisation“.1051 Freuds Theorie des Unbewussten, seine Theorie der Zeit und der Erinnerung, die für das Subjekt niemals (bewusst) gegenwärtige, vergangene Urzeit und der Bruch mit dem Primat des Bewusstseins implizieren für Derrida eine Theorie der Schrift. Merkwürdig ist allerdings Derridas Bezug auf Freuds Entwurf einer Psychologie für Neurologen. Derrida schreibt: Les concepts de trace (Spur), de frayage (Bahnung), de forces de frayage sont, dès l’Entwurf, inséparables du concept de différence. On ne peut décrire l’origine de la mémoire et du psychisme comme mémoire en général (consciente ou inconsciente) qu’en tenant compte de la différence entre les frayages. Freud le dit expressément. Il n’y a pas de frayage sans différence et pas de différence sans trace.1052

Im Entwurf definiert Freud das Gedächtnis als ein Netz von Neuronen-Bahnungen, welche durch Wiederholung erschlossen werden. Das Gedächtnis ist eine Summe von Wegen, d.h., es wird topologisch betrachtet.1053 Aber das ganze „System“ funktioniert ausgehend von zu ersetzen, welches nach irgendwelcher Beziehung durch das Bild darstellbar ist. Die Worte, die sich so zusammenfinden, sind nicht mehr sinnlos, sondern können den schönsten und sinnreichsten Dichterspruch ergeben. Ein solches Bilderrätsel ist nun der Traum, und unsere Vorgänger auf dem Gebiete der Traumdeutung haben den Fehler begangen, den Rebus als zeichnerische Komposition zu beurteilen. Als solche erschien er ihnen unsinnig und wertlos“ (Freud, 1942, S. 283–284). 1050 Freud in seinem Aufsatz Die Verdrängung: „Wir haben also Grund, eine Urverdrängung anzunehmen, eine erste Phase der Verdrängung, die darin besteht, daß der psychischen (Vorstellungs-)Repräsentanz des Triebes die Übernahme ins Bewußte versagt wird. Mit dieser ist eine Fixierung gegeben; die betreffende Repräsentanz bleibt von da an unveränderlich bestehen und der Trieb an sie gebunden. Dies geschieht infolge der später zu besprechenden Eigenschaften unbewußter Vorgänge“ (Freud, 1969, S. 250). 1051 (Derrida 1972b, S. 19). 1052 (Ebenda, S. 19). 1053 Freud: „Es ist jetzt gut, sich klar zu machen, welche Annahmen über die ψ-Neuronen notwendig sind, um die allgemeinsten Charaktere des Gedächtnisses zu decken. Das Argument ist: sie werden durch den Erregungsablauf dauernd verändert. Mit Einfügung der Kontaktschrankentheorie: ihre Kontaktschranken

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Unterschieden zwischen Ebenen, welche die Identität als Resultat ermöglichen.1054 Differenz, Gedächtnis, Wiederholung, Verdrängung, Aufschub usw.: All diese Begriffe der Psychoanalyse lassen sich auch in Derridas Denken deutlich erkennen. Aber gibt es bei der Psychoanalyse etwas wie eine Kur? D.h., gibt es einen Punkt, an dem die Analyse oder die Interpretation endet, wo sie allerdings keiner Teleologie verpflichtet ist? Diesen Punkt gibt es bei der Dekonstruktion ausdrücklich nicht, sie ist an sich ein unendliches Spiel der différance, regressus ad infinitum, Aufschub und Verzögerung auf eine Zukunft gerichtet und Zurückführung auf eine Vergangenheit, die niemals anwesend waren. Doch spricht Derrida von einem — nicht teleologischen — Ziel: der Gerechtigkeit.

7.7 Gerechtigkeit, Gegenwart und der Andere Aber was ist Gerechtigkeit? Was ist Dekonstruktion? Derrida behauptet darüber: „La justice en elle-même, si quelque chose de tel existe, hors ou au-delà du droit, n’est pas déconstructible. Pas plus que la déconstruction elle-même, si quelque chose de tel existe. La déconstruction est la justice“.1055 Das Verhältnis der Dekonstruktion zur Möglichkeit der Gerechtigkeit „exigent l’expérience même de l’aporie qui n’est pas sans rapport avec ce que j’appelais tout à l’heure le mystique“, und die Aporie impliziert zwei Sachen: geraten in einen dauernd veränderten Zustand. Und da die psychologische Erfahrung zeigt, daß es ein ÜberErlernen gibt auf Grund des Gedächtnisses, muß diese Veränderung darin bestehen, daß die Kontaktschranken leitungsfähiger, minder undurchlässig werden, also denen des φ-Systems ähnlicher. Diesen Zustand der Kontaktschranken wollen wir als Grad der Bahnung bezeichnen. Dann kann man sagen: Das Gedächtnis ist dargestellt durch die zwischen den ψ-Neuronen vorhandenen Bahnungen. Nehmen wir an, daß alle ψKontaktschranken gleich gut gebahnt wären oder den gleichen Widerstand böten, was dasselbe ist, so kämen die Charaktere des Gedächtnisses offenbar nicht heraus. Denn das Gedächtnis ist im Verhältnis zum Erregungsablauf offenbar eine der bestimmender, den Weg weisenden Mächte und bei überall gleicher Bahnung wäre eine Wegbevorzugung nicht einzusehen. Man kann daher noch richtiger sagen: Das Gedächtnis sei dargestellt durch die Unterschiede in den Bahnungen zwischen den ψ- Neuronen. Wovon hängt nun die Bahnung in den ψ-Neuronen ab? Nach der psychologischen Erfahrung hängt das Gedächtnis, d. h. die fortwirkende Macht eines Erlebnisses ab von einem Faktor, den man die Größe des Eindruckes nennt, und von der Häufigkeit der Wiederholung desselben Eindrucks [...]. Durch die Not des Lebens gezwungen, hat das Neuronensystem sich einen Quantitätsvorrat (Qη) anlegen müssen. Dazu hat es einer Vermehrung seiner Neuronen bedurft und diese mußten undurchlässig sein. Nun erspart es sich die Erfüllung mit Quantität (Qη) die Besetzung, wenigstens teilweise, indem es die Bahnungen herstellt. Man sieht also, die Bahnungen dienen der Primärfunktion. Noch eines fordert die Anwendung der Gedächtnisforderung auf die Kontaktschrankentheorie: Jedem ψ-Neuron sind im Allgemeinen mehrere Verbindungswege mit anderen Neuronen, also mehrere Kontaktschranken zuzuschreiben. Darauf beruht ja die Möglichkeit der Auswahl, die durch die Bahnung determiniert wird. Ganz einleuchtend ist es jetzt, daß der Bahnungszustand der einen Kontaktschranke unabhängig sein muß von dem aller anderen Kontaktschranken derselben ψ-Neuronen; sonst erhielte sich wieder keine Bevorzugung, also kein Motiv“ (Freud, 1950, S. 309). Freuds Modell des Gedächtnisses ist in diesem Projekt auf das Individuum beschränkt. Eine Ausweitung davon auf die Intersubjektivität verlangt die Übertragung neuronaler Bahnungen auf ein anderes, symbolisches Medium. Unten werden wir diese Möglichkeit anhand der Kybernetik diskutieren. 1054 Freud: „Die Differenz zwischen der Vorstellung und der ankom enden Wahrnehmung gibt dann den Anlaß zum Denkvorgang, der sein Ende erreicht, wenn die überschüssigen Wahrnehmungsbesetzungen auf einem gefundenen Wege in Vorstellungsbesetzungen überführt sind; dann ist Identität erreicht“ (Freud, 1987, S. 452). 1055 (Derrida, 1990a, S. 944).

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1. Une expérience est une traversée, comme son nom l’indique, elle passe au travers et voyage vers une destination pour laquelle elle trouve le passage. L’expérience trouve son passage, elle est possible. Or en ce sens, il ne peut y avoir d’expérience pleine de l’aporie, c’est-à-dire de ce qui ne laisse pas le passage. Une aporia, c’est un nonchemin. La justice serait de ce point de vue l’expérience de ce dont nous ne pouvons faire l’expérience. Nous allons rencontrer tout à l’heure plus d’une aporie sans pouvoir les passer. Mais 2. […] il n’y a pas de justice sans cette expérience, tout impossible qu’elle est, de l’aporie. La justice est une expérience de l’impossible.1056

Und doch muss das Unmögliche eine Wirkung haben. Derrida erinnert daran, das Performative stammt „de l’anglais : performative c’est-à-dire celle qui nous permet de faire quelque chose par la parole elle-même […]“ und impliziert „une théorie générale de l’action“ 1057. Diese Theorie der Handlung aber sollte nicht die Gegenwart reifizieren, man muss sich fragen, sagt Derrida, ob „un énoncé performatif serait-il possible si une doublure citationnelle ne venait scinder, dissocier d’avec elle-même la singularité pure de l’événement ?“1058 Sicherlich nicht. D.h.: Das hic et nunc, der Kontext, die Situation und andere deiktische Begriffe sind weder „pur“ — rein einzeln, weil wiederholbar — noch „unteilbar“ — die Gegenwart ist immer komplex und nicht, wovon Husserl manchmal ausging, ein Punkt, der als Urquelle wirkt. Das Unmögliche im Denken des Endes bedeutet vor allem eine Nicht-Anwesenheit, ist also nach der Logik der Anwesenheit nicht verständlich. Oder noch präziser: nicht-einfachanwesend. Denn Derrida richtet sich gegen die Einfachheit der Gegenwart: „La différance est […] l’ «origine» non-pleine, non-simple“.1059 Non-simple, d.h. nicht-einfach, aber was bedeutet dieser Satz mit den Verneinungen, was bedeutet, positiv ausgedrückt, das NichtEinfache? Man verzichtet nicht auf das Philosophem des Anfangs, sondern nur auf das eines einfachen, widerspruchs- und aporienfreien Anfangs. Aber damit das Unmögliche politisch verstanden wird, muss man dem, was Freud Not des Lebens1060 nannte, Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ohne die Gegenwart scheinen die Dekonstruktion und ihre Verzögerung zu einem empirischen Aufschub zu führen. Damit dies 1056

(Ebenda, S. 946). Weiter: „Le performatif n'a pas son référent […] hors de lui ou en tout cas avant lui et en face de lui. Il ne décrit pas quelque chose qui existe hors langage et avant lui. Il produit ou transforme une situation, il opère ; et si l'on peut dire qu'un énoncé constatif effectue aussi quelque chose et transforme toujours une situation, on ne peut pas dire que cela constitue sa structure interne, sa fonction ou sa destination manifestes comme dans le cas du performatif“ (Derrida 1972b, S. 382). 1058 (Ebenda, S. 388). 1059 (Ebenda, S. 12). 1060 Dazu sagt Freud: „Anderswie zu begründende Annahmen sagen uns, daß der Apparat zunächst dem Bestreben folgte, sich möglichst reizlos zu erhalten, und darum in seinem ersten Aufbau das Schema des Reflexapparates annahm, das ihm gestattete, eine von außen an ihn anlangende sensible Erregung alsbald auf motorischem Wege abzuführen. Aber die Not des Lebens stört diese einfache Funktion; ihr verdankt der Apparat auch den Anstoß zur weiteren Ausbildung. In der Form der großen Körperbedürfnisse tritt die Not des Lebens zuerst an ihn heran. Die durch das innere Bedürfnis gesetzte Erregung wird sich einen Abfluß in die Motilität suchen, die man als ‚Innere Veränderung‘ oder als ‚Ausdruck der Gemütsbewegung‘ bezeichnen kann. Das hungrige Kind wird hilflos schreien oder zappeln. Die Situation bleibt aber unverändert, denn die vom inneren Bedürfnis ausgehende Erregung entspricht nicht einer momentan stoßenden, sondern einer kontinuierlich wirkenden Kraft. Eine Wendung kann erst eintreten, wenn auf irgendeinem Wege, beim Kinde durch fremde Hilfeleistung, die Erfahrung des Befriedigungserlebnisses gemacht wird, das den inneren Reiz aufhebt“ (Freud, 1925, S. 482). 1057

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nicht passiert, muss Derrida einen Unterschied zwischen Gegenwart und dem hic et nunc einführen: My pointed reference to urgency is meant to suggest that in the necessarily finite time of politics and thus of democracy, the democracy to come certainly does not mean the right to defer, even if it be in the name of some regulative Idea, the experience or even less the injunction of democracy.[…] The to-come of democracy is also, although without presence, the hic et nunc of urgency, of the injunction as absolute urgency. Even when democracy makes one wait or makes one wait for it.1061

Was ist dann die Epoche des Endes? Was ist unsere Epoche? Worin besteht sie? Ist sie überhaupt etwas? Husserl nannte die Lage der europäischen Wissenschaften eine Krise, aber auch die von Europa im Allgemeinen, am Rand eines Krieges. Krise heißt der Moment, in dem die Wissenschaften ihren wahren Boden, die Lebenswelt, vergessen haben, so dass ihr Primat und ihre Rechtfertigung in der westlichen Zivilisation ins Schwanken geraten. Aber das vergessene Leben ist bei Husserl kein bloßes Leben, sondern ein zur Vernunft aufsteigendes. Was ist die Welt, was ist das Leben, was ist der Komplex Leben-Welt und vor allem: Warum sollte dieser Komplex im Einklang mit der Vernunft stehen? Diese Problematik haben wir bereits analysiert. Das Ergebnis war: Husserls Analysen nach dem allerersten Grund sind alle „gescheitert“ — sie führen zu Paradoxien, was der Absicht, die Wissenschaften zu gründen, widerspricht: vom statischen bis zum zeitlichen Bewusstsein, von der Intersubjektivität bis zur transzendentalen Geschichte. Davon ausgehend, führen uns Heideggers und Derridas Rezeption der Phänomenologie zu diesen Behauptungen: Der Grund ist kein Seiendes, auch kein Transzendentales im subjektiven Sinne. Der Grund ist nicht. Der (klassische) Grund ist bereits ein Resultat eines vorsubjektiven und vorobjektiven Prozesses. Aber das, was die Phänomenologie vererbt, ist eine unerschöpfliche Aufgabe gegenüber allem Gegebenen: die Reduktion. Gegeben ist allerdings alles, was gesagt, gedacht und vorgestellt werden kann. Auch das, was nur auf indirekte Weise oder mittels Paradoxien zugänglich wird. Das Verschwinden des Grundes ist der eigentliche Grund. Oder der Grund ist sein eigenes Zurückziehen und damit die Geburt der Zeit selbst durch die Etablierung einer Differenz.1062 Derrida beharrte immer auf die Teilbarkeit der Gegenwart und darauf, Wiederholungen seien für Letztere charakteristisch. Gemeint war nicht nur die transzendentale, sondern auch die übliche Gegenwart. Was ist nun unsere Epoche, wenn sie sich unendlich, wie Achilles Strecke, teilen lässt? Ist überhaupt eine radikale Wiederholung mit einer absoluten Teilbarkeit vereinbar? 1061 1062

(Derrida 2005, S. 28). Diese Auffassung des Grundes als sich selbst differenzierende Zeit entfernt sich kaum von Schellings Betrachtung von Gott in Die Weltalter: „Es gibt kein Bewußtwerden (wie eben darum auch kein Bewußtseyn) ohne ein Vergangenes zu setzen. Es gibt kein Bewußtseyn ohne etwas, das zugleich ausgeschlossen und angezogen wird. Das, welches sich bewußt ist, schließt dasjenige aus, dessen es sich bewußt ist, als nicht sich selbst, und muß es doch auch wieder anziehen, eben als das, dessen es sich bewußt ist, als doch sich selbst, nur in anderer Gestalt. Dieses im Bewußtseyn zugleich Ausgeschlossene und Angezogene kann nur das Bewußtlose seyn. Darum hat alles Bewußtseyn das Bewußtlose zum Grund, und eben im Bewußtwerden selbst wird es von dem, das sich bewußt wird, als Vergangenheit gesetzt“ (Schelling und Hahn, 1998, S. I,8,263).

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Und was heißt eigentlich Krise? Warum soll überhaupt die Rede von Krise sein? Soll Heideggers These zur Vergessenheit des Seins oder Derridas Ansatz der logozentrischen Epoche als Krise interpretiert werden? Woraus entsteht die Gewissheit, dass es sich um eine Krise handelt, wenn jedes mögliche Vorbild und Maß des Richtigen fehlt? Ist das Vergessen politisch oder ethisch zu verurteilen? Ist das Vergessen eine anonyme Begebenheit der Geschichte oder etwas, was den Menschen zuzuschreiben ist? Ist diesbezüglich etwas zu tun, oder die Tatsache bloß anzuerkennen? Ist diese Epoche, die sich durch Dekonstruktion der klassischen Begriffe der Philosophie kennzeichnet, eine Tat oder eine anonyme Kraft? Und wenn die klassischen Unterschiede erkennen/tun, aktiv/passiv, subjektiv/objektiv keinen Sinn mehr haben, verfügen wir über ein Vokabular, mit dem man noch sprechen-agieren-denken kann? Ist die Dekonstruktion etwas Gesuchtes, das zu tun ist, oder eher etwas, was uns geschieht, was wir (in dieser Epoche) erleiden? In der klassischen Philosophie galten immer die folgenden Sätze: Der Irrtum beim Denken verlangt eine Logik und eine Methode zum Erlangen richtigen Wissens, Fehlschlüsse verlangen eine Urteilslehre, die ultimativen Gegensätze verlangen, aufgelöst zu werden, die Abstraktion beim Denken verlangt, den wahren Grund zu suchen und ihn wiederherzustellen (sei es das Konkrete, das Soziale, das Unbewusste, die Sprache usw.), die Entäußerung des Menschen verlangt eine erneute Aneignung des Fremden, die Trennung verlangt Einheit. Wenn aber die Logik an sich widersprüchlich wird, wenn die Aporien nicht mehr zu beseitigen sind, wenn kein Grund Bestand hat, wenn die Entfremdung konstitutiv sein muss, soll die Rede noch von Krise sein? Nun trifft aber das Gegenteil auch nicht zu. Aus der Tatsache, dass die Philosophie am Krieg, Ethnozentrismus und an der Technokratie beteiligt ist, folgt nicht, dass deren Dekonstruktion zum Frieden, einer Öffnung zum Anderen und einer anderen Offenbarung des Seienden führt. Der Zusammenhang Welt-Denken ist nicht erklärt, die ontologische Richtung nicht bewiesen. Dass die Philosophie der Identität zum Ethnozentrismus führt, impliziert nicht, dass eine Philosophie der Differenz ohne weiteres einen Pluralismus mit sich bringt. Die Philosophie mag innere Aporien enthalten, die zu ihrer eigenen Dekonstruktion führen. Der Zusammenhang von diesen mit der Welt ist allerdings ein anderes Problem. Der Schluss, dass die Dekonstruktion politisch berechtigt sei, ist nur da gültig, wo man einem strikten Transzendentalismus folgt, in dem alles Empirische abgeleitet vom philosophischen oder postphilosophischen – schriftliche Dekonstruktion der metaphysischen Gedanken – Denken ist. Ist aber diese Voraussetzung nicht infrage zu stellen, eben weil die Dekonstruktion und das Denken des Endes das transzendentale Denken erschüttert haben? Die Aporie der Aporie des Denkens des Endes besteht darin, dass das Letztere gegenüber der Metaphysik nur dann wirkungsvoll ist, wenn es die Voraussetzungen der Metaphysik selbst akzeptiert. Aber die Metaphysik zu akzeptieren, bedeutet, sie zu dekonstruieren. Und dekonstruieren verlangt die Annahme der Metaphysik usw. Derrida hat darauf aufmerksam gemacht, dass ein Text nur von innen, d.h. ohne Rekurs auf ein einfaches Außen, dekonstruiert werden kann, dass es

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metaphysische Begriffe sind, welche sich gegen andere metaphysische Begriffe richten, so dass das ganze System abgebaut wird. Derrida sagt, die Dekonstruktion verlange eine Umkehrung und danach eine Verlegung bzw. Verschiebung. Findet aber eine richtige Verschiebung statt? Findet das Denken einen neuen Schauplatz, eine neue Begrifflichkeit, einen neuen Raum? Was die politische Absicht anbelangt, ist festzuhalten: Das Andere kann immer schlimmer sein – es gehört zu seiner Öffnung; die Kritik an der Wissenschaft und der Technik kann immer zu einem Rückgriff auf vergangene und vielleicht schlimmere Organisationsformen führen; die Kritik am Ethnozentrismus kann immer ungerecht sein, nämlich bei der Frage, was als innerlich – das Eigene – , was als äußerlich – das Fremde – gelten soll, denn das „Abendland“ ist bereits eine fragwürdige Auffassung der Geschichte, eine Abgrenzung, welche politisch, geschichtlich, kulturell und ökonomisch verschiedene Bedeutungen hat. Krise bedeutet gewissermaßen Erneuerung. Die Erschütterung der Kategorien „neu“ und „alt“ macht diesen Begriff nicht nur fragwürdig, sondern auch sinnlos. Und doch: So, wie man auf den Begriff Grund weder (bloß) verzichten noch ihn (bloß) annehmen kann, ist die Bezeichnung „Krise“ auch doppeldeutig. Ohne die Benennung dessen, was in unserer Epoche nicht richtig ist, verliert der Ruf nach der Zukunft und dem Kommenden jeden Sinn. Die Differenz mag heute das Kennzeichen der nicht genug besprochenen zwei Seiten des zeitgenössischen Denkens sein. Derridas Berufung auf Hamlets Linien: „the time is out of joint“ kann nicht mehr als Index für Gerechtigkeit gelten. Es ist eine Aporie: „« Out of joint » qualifierait la déchéance morale ou la corruption de la cité, le dérèglement ou la perversion des moeurs. On passe facilement du désajusté à l’injuste. C’est notre problème : comment justifier ce passage du désajustement (valeur plutôt technico-ontologique affectant une présence) à une injustice qui ne serait plus ontologique ? Et si le désajustement était au contraire la condition de la justice ?“1063 Ist die Ungerechtigkeit die Bedingung für Gerechtigkeit? Ist das Gerechte die Möglichkeit von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit? Ist die Gerechtigkeit die Ungerechtigkeit in différance? Ist die différance nicht nur jenseits von Gut und Böse, sondern auch von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit? Aber war die Dekonstruktion nicht eben die Gerechtigkeit? Gerechtigkeit der Gerechtigkeit, Gerechtigkeit vor der Gerechtigkeit? Derrida ist sich dieses Problems bewusst: „Comment distinguer entre deux désajustements, entre la disjointure de l’injuste et celle qui ouvre la dissymétrie infinie du rapport à l’autre, c’est-à-dire le lieu pour la justice ?“ 1064 Natürlich muss diese Frage offen bleiben. Man kann sie nicht a priori entscheiden. Aber da der Unterschied a priori-a posteriori auch „instabil“ ist, wird die Verwirrung auch empirisch. Die Bedingung der Gerechtigkeit ist die Unmöglichkeit. Was heißt hier unmöglich? Eine Entscheidung a priori zu treffen. Wenn: Le droit n’est pas la justice“, weil: „Le droit est l’élément du calcul, et il est juste qu’il y ait du droit“, ist es so, dass „la justice est incalculable, elle exige qu’on calcule avec de l’incalculable; et les expériences aporétiques sont 1063 1064

(Derrida 1993b, S. 44). (Ebenda, S. 49).

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des expériences aussi improbables que nécessaires de la justice, c’est-à-dire de moments où la décision entre le juste et l’injuste n’est jamais assurée par une règle.1065

Die wahre Entscheidung muss die Prüfung der Unentscheidbarkeit bestehen: L’indécidable dont on associe souvent le thème à la déconstruction, ce n’est pas seulement l’oscillation entre deux significations ou deux règles contradictoires et très déterminées, mais également impératives […]. L’indécidable n’est pas seulement l’oscillation ou la tension entre deux décisions, c’est l’expérience de ce qui, étranger, hétérogène à l’ordre du calculable et de la règle, doit cependant–c’est de devoir qu’il faut parler–se livrer à la décision impossible en tenant compte du droit et de la règle. Une décision qui ne ferait pas l’épreuve de l’indécidable ne serait pas une décision libre, elle ne serait que l’application programmable ou le déroulement d’un processus calculable.1066

Wir wiederholen also unsere Frage: Ist die Dekonstruktion etwas Gesuchtes, das zu tun ist, oder eher etwas, was uns geschieht, was wir (in dieser Epoche) erleiden? Ist die Unentscheidbarkeit eine transzendentale Pflicht oder auch das, was uns empirisch begegnet? Die différance und die Dekonstruktion unterbrechen, wie Freuds Fehlleistungen und Symptome, den Fluss der Gegenwart: „Le silence de cette écriture et l’espace de ce calcul interrompraient le mouvement de l’Aufhebung ou en tout cas résisteraient à l’intériorisation du passé (Erinnerung), à l’idéalisation relevante, à l’histoire de l’esprit, à la réappropriation du logos dans la présence à soi et la parousie infinie“.1067 Aber wie Benjamin und Adorno hervorgehoben haben, sind die konstante und sinnlose Unterbrechung der Erfahrung sowie die immer wechselnde Gegenwart Widerspiegelungen der Gesellschaft selbst. Nicht umsonst rekurrieren sowohl die Frankfurter Schule als auch Derrida auf Freud, um jenes Ereignis der Unterbrechung zu verstehen. Denn Unterbrechung heißt auch Schock und dieser liegt an der Grenze zum Trauma. Benjamin erinnerte daran, dass der Film, Resultat der technischen Revolution, dazu führt, dass unser Wahrnehmungsapparat tiefe Veränderungen erfährt. Der Film fasst in Bildern auf, was im Erlebnisvermögen geschieht: Die Unterbrechung der üblichen Zeit, die Technik der Montage, die das Unmögliche, das Träumerische zugänglich macht, werden zu ästhetischen Regeln erhoben 1068; aber damit ist diese ästhetische Tendenz 1065

(Derrida 1990a, S. 946). (Ebenda, S. 962). 1067 (Derrida 1972b, S. 123). 1068 Benjamin: „Man vergleiche die Leinwand, auf der der Film abrollt, mit der Leinwand, auf der sich das Gemälde befindet. Das letztere lädt den Betrachter zur Kontemplation ein; vor ihm kann er sich seinem Assoziationsablauf überlassen. Vor der Filmaufnahme kann er das nicht. Kaum hat er sie ins Auge gefaßt, so hat sie sich schon verändert. Sie kann nicht fixiert werden. Duhamel, der den Film haßt und von seiner Bedeutung nichts, aber manches von seiner Struktur begriffen hat, verzeichnet diesen Umstand mit der Notiz: »Ich kann schon nicht mehr denken, was ich denken will. Die beweglichen Bilder haben sich an den Platz meiner Gedanken gesetzt.« In der Tat wird der Assoziationsablauf dessen, der diese Bilder betrachtet, sofort durch ihre Veränderung unterbrochen. Darauf beruht die Chockwirkung des Films, die wie jede Chockwirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will. Kraft seiner technischen Struktur hat der Film die physische Chockwirkung, welche der Dadaismus gleichsam in der moralischen noch verpackt hielt, aus dieser Emballage befreit“ (Benjamin, 1991, S. 464). In einer anderen Fassung: „In der Tat wird der Assoziationsablauf dessen, der diese Bilder betrachtet, sofort durch ihre Veränderung unterbrochen. Darauf beruht die Chockwirkung des Films, die wie jede Chockwirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will“ (Ebenda, S. 503); auf einer französischen Fassung spricht Benjamin vom Schock als 1066

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auch Widerspiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse: „Der Chock der im Film den Rhythmus der Rezeption bestimmt, bestimmt […] den Rhythmus der Produktion“.1069 Außerdem: „Der Film ist die der gesteigerten Lebensgefahr, […] entsprechende Kunstform. Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren“.1070 Könnte man nicht Derridas dissémination mit Benjamins These, „daß die Massen im Kunstwerk Zerstreuung suchten“1071, in einen Zusammenhang bringen? Adorno legte auch Schönbergs Zwölfton-Musik auf zweifache Weise aus: Zum einen als eine Revolution der Form, aber zum anderen als das Niederschreiben, als Schrift vom realen Leiden, wie in einem Protokoll.1072 Dies spiegelt den doppelten Charakter der Differenz wider. Adorno warnt deswegen vor der Reifizierung der Differenz — bei seiner negativen Dialektik, aber auch beim Denken der Differenz im Allgemeinen: Ist Dialektik aber einmal unabweisbar geworden, so kann sie nicht wie Ontologie und Transzendentalphilosophie bei ihrem Prinzip beharren, nicht als eine wie immer auch modifizierte, doch tragende Struktur festgehalten werden. Kritik an der Ontologie will auf keine andere Ontologie hinaus, auch auf keine des Nichtontologischen. Sie setzte sonst bloß ein Anderes als das schlechthin Erste; diesmal nicht die absolute Identität, Sein, den Begriff, sondern das Nichtidentische, Seiende, die Faktizität. Damit hypostasierte sie den Begriff des Nichtbegrifflichen und handelte dem zuwider, was er meint.1073 [Eben darum sagt Adorno auch:] Hybris ist, daß Identität sei, daß die Sache an sich ihrem Begriff entspreche. Aber ihr Ideal wäre nicht einfach wegzuwerfen: im Vorwurf, die Sache sei dem Begriff nicht identisch, lebt auch dessen Sehnsucht, er möge es werden. Dergestalt enthält das Bewußtsein der Nicht-identität Identität. Wohl ist deren Supposition, bis in die formale Logik hinein, das ideologische Moment am reinen Denken. In ihm jedoch steckt auch das Wahrheitsmoment von Ideologie, die einem Trauma: „En fait, le processus d'association de celui qui contemple ces images est aussitot interrompu par leurs transformations. C'est ce qui constitue le choc traumatisant du film qui, comme tout traumatisme, demande à être amorti par une attention soutenue. Par son mecanisme même, le film a rendu leur caractere physique aux traumatismes moraux pratiques par le Dadaisme“ (Ebenda, S. 734). 1069 (Ebenda, S. 678). 1070 (Ebenda, S. 503). 1071 (Ebenda, S. 465). 1072 Adorno: „[B]ei Schönberg: […] Das eigentlich umstürzende Moment an ihm ist der Funktionswechsel des musikalischen Ausdrucks. Es sind nicht Leidenschaften mehr fingiert, sondern im Medium der Musik unverstellt leibhafte Regungen des Unbewußten, Schocks, Traumata registriert. Sie greifen die Tabus der Form an, weil diese solche Regungen ihrer Zensur unterwerfen, sie rationalisieren und sie in Bilder transponieren. Schönbergs formale Innovationen waren der Änderung des Ausdrucksgehalts verschwistert. Sie dienen dem Durchbruch von dessen Wirklichkeit. Die ersten atonalen Werke sind Protokolle im Sinn von psychoanalytischen Traumprotokollen. […] Die Narben jener Revolution des Ausdrucks aber sind die Kleckse, die auf den Bildern so gut wie in der Musik als Boten des Es gegen den kompositorischen Willen sich festsetzen, die Oberfläche verstören und von der nachträglichen Korrektur so wenig wegzuwischen sind wie Blutspuren im Märchen“ (Adorno, 1974, S. 41); das Reale des Leidens lasse sich nach Adrono nicht in einem Spiel von Schein verhüllen: „Seine Musik [Schönberg] dementiert den Anspruch, Allgemeines und Besonderes seien versöhnt. […] Noch Nietzsche hat in einer gelegentlichen Bemerkung das Wesen des großen Kunstwerks damit bestimmt, daß es in allen seinen Momenten auch anders sein könnte. Diese Bestimmung des Kunstwerks durch seine Freiheit setzt voraus, daß Konventionen verpflichtend gelten. Nur wo solche vorweg und aller Frage enthoben die Totalität garantieren, könnte in der Tat ebensogut alles auch anders sein: weil nichts anders wäre. Die meisten Sätze Mozarts würden dem Komponisten weitgehende Alternativen bieten, ohne etwas einzubüßen. Folgerecht hat Nietzsche zu den ästhetischen Konventionen positiv sich gestellt, und seine ultima ratio war das ironische Spiel mit Formen, deren Substantialität geschwunden ist“ (Adorno, 1974, S. 42). 1073 (Adorno, 1982, c1966, S. 140).

Gerechtigkeit, Gegenwart und der Andere

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Anweisung, daß kein Widerspruch, kein Antagonismus sein solle. Bereits im einfachen identifizierenden Urteil gesellt sich dem pragmatistischen, naturbeherrschenden Element ein utopisches. A soll sein, was es noch nicht ist.1074

Auch Derridas gespenstische Logik, die Forderung nach Gerechtigkeit, die aus der Vergangenheit in die Zukunft führt, lässt sich historisch interpretieren. A. Negri fragt z.B., ob nicht von einer gespenstischen Produktionsweise die Rede sein sollte, denn Derridas Ontologie beschreibt nicht das Andere, sondern unsere Gegenwart am besten. Die Dekonstruktion wäre dann „in joint“.1075 Es stellt sich nun die Frage: Was tun mit so vielen Paradoxien? 1074 1075

(Ebenda, S. 152–153). Negri als Antwort auf Derridas Text Spectres de Marx: „What's to be done with the Marxist specters, today? With this in mind, we should take note of one of the first substantial contributions of deconstruction to updating the project of a critique of capitalism. Nowadays, we can actually do little or nothing with Marxian ghosts. What has changed isn't so much the spectral reality of the world produced by capital (the spectral mass has even become gigantic!) as much as it is the adequacy of the Marxian response. […] in Marx's work in both The German Ideology and Capital, the non-spectrality of the productive subject opposed the conditions for constructing capital's spectrality: the former was indicated through the activity of demystification and was expressed in the will of reappropriation, each and every time the movement of exchange-value clashed with the irreducible independence of 'usevalue', therefore with a heterogeneity capable of generating an alternative. But where can this heterogeneity be found? Where can use-value and subjectivity be found at present? […] Inasmuch as it concerns Labor, the postmodern is certainly not just an ideological image, but the recording of a deep and irreversible transformation in which all traits of the Marxian critiques of value - more precisely, that theory of specters - stop short. […] Derrida's first conclusion is powerful. It introduces us to the new phase of relations in production, to the world of change in the labor paradigm. 'The time is out of joint' - but here deconstruction is 'in joint'. Now if this mutation of labor is a given, if the law of value has been thrown 'out of joint' due to the fact that time is no longer a measuring gauge of value, nor use-value its real referent – now then, why shouldn't deconstruction accept to move itself into this new critical perspective, there where these new dimensions of capital's political economy reveal themselves? […] Why does deconstruction want an aura of nostalgia which renders the ontological consistency of the new spectral dimension elusive and frankly ungraspable? In so doing, it works by effectively unhooking the hermeneutic of the present and of the future (which is also separated from the past and from the insertion into the new paradigm) from intense contact with the new spectral ontology. […] Why, after having grasped the ontological element of this mutation, does deconstruction need to immerse itself anew in a transcendental continuum, relying on a phenomenological and noumenal time, both temporal and psychic, which has the effect of dramatizing and practically rendering the ontological discovery irrelevant, flattening it onto the obscure background? […] the deconstructionist hermeneutic produces here […] a new theory of spectrality which corresponds with common experience: an experience of the everyday, and/or of the masses: the experience of a mobile, flexible, computerized, immaterialized and spectral labor. A common experience of spectrality as clear as the sun. The new spectrality is there and we're entirely within this real illusion. […] There's no longer an outside, neither a nostalgic one, nor a mythic one, nor any urgency for reason to disengage us from the spectrality of the real. There's neither place nor time - and this is the real. Only a radical 'Unheimlich' remains in which we're immersed. It's good that here deconstruction prevails in its agility in playing with the phenomenon, and that it hides itself by crouching in the set of relations that are on this side of the phenomenon, in the genesis of its appearing; but it would be just as good if, in taking this into account, operating in the world of political economy in this way, it described the phenomenology of a new productive reality, a social one - of a lifeworld that fully meshed with the new spectral reality“ (Derrida & Sprinker, 2008, S. 7–9) Aber: „On the one side, we have communication and the wealth that accumulates therein; on the other, we have the solitude, the misery, the sadness, the exodus and the new class wars that define this exploitation of labor in a world of immateriality and spectral production“ wie Negri sagt: „There's a word that rarely appears in Derrida's book: exploitation. This absence is understood accordingly: exploitation is in fact the category in which, more than any other, Marx would make 'a critical but predeconstructive ontology of presence as actual reality and as objectivity'. […] But is there any chance that this theoretical supersession has the consequence of really eliminating exploitation? No reasonable person could so affirm, […] The fact is that in speaking of exploitation, it's necessary to take into consideration not so much the categories that, post festum, denounce exploitation, but

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7.8 Was tun (mit den Paradoxien)? Die différance ist ein Prinzip, das kein Prinzip mehr ist. Die Dekonstruktion ist eine Handlung, die nicht mehr subjektiv ist. Die différance stellt den Begriff Prinzip infrage. So, wie die Dekonstruktion die Unterscheidung von Praxis und Theorie erschüttert. Trotzdem muss man sich vor Augen halten, dass Derrida der husserlschen Reduktion folgt und dass die Paradoxien die Phänomenologie nicht widerlegen, sondern jene eben nur noch die Paradoxien der Letzteren zeigen. Einen Schritt weiter zu gehen, impliziert, die Paradoxien der Phänomenologie ontologisch zu interpretieren und damit das Prinzip aller Prinzipien — zu den Dingen selbst als der konstitutiven Erfahrung des transzendentalen Ich — durch ein paradoxes Prinzip zu ersetzen. Daher ist es nicht sicher, ob Derrida seiner doppelten Forderung gewachsen ist. Die Dekonstruktion erfolgt innerhalb der von Husserl eröffneten Welt. Auch wenn sich das Andere inmitten des Ego — durch die Figuren der Intersubjektivität und der paradoxen Zeitstruktur — befindet, ist dieses Andere dem Ego nicht fremd. Betrachtet wird das Fremde des Ego für sich selbst, die Tatsache, dass es sich selbst nie erreichen kann, dass es den Moment seiner eigenen Konstitution immer verpassen muss. Der Signifikant ist nur die Verkörperung der Entfremdung, die bereits in der Zeit stattfindet. Denn, wie es gezeigt wurde, sind die Signifikanten die Elemente, die in der Zeit kreiert und vernichtet werden. Im Vergleich zum Idealismus sind es hier nicht Vorstellungen, sondern Signifikanten, die sich in einer Zeitreihe einordnen. Das Denken, das beim Idealisten auf der Identität des Ich basierte, verkehrt sich in ein anonymes Denken in den Figuren der Metonymie und der Metapher, welche, wie jeder Signifikant, auf Differenzen basieren. Der Ausgangspunkt des Idealismus war diesbezüglich die Identität als Resultat eines Prozesses, erst einmal durch eine Bewegung in die Entfremdung und danach wieder in das Selbst als vermittelte Rückkehr zu sich. Die Sprache dagegen basiert auf einer konstanten Differenz, wo der Sinn durch immer neue Elemente bestimmt wird, welche zwar bestimmend sind, aber in der Signifikanten-Kette noch nicht bestimmt wurden. Dafür braucht man einen anderen Signifikanten, welcher die Kette rückwirkend bestimmt, der aber wiederum unbestimmt ist, wofür ein neuer Signifikant am Ende der Kette hinzugefügt werden muss usw. Die Bestimmung des Sinnes innerhalb der Sprache impliziert immer eine Unbestimmtheit des Sinnes selbst, eine Struktur von Supplementarität (supplémentation), wo jedes neue Element zur Signifikanten-Kette sowohl gehört als auch nicht gehört, es ist immer mehr und immer weniger als der Sinn. Der Idealismus macht aus dem Anderen das mittlere Glied innerhalb der vermittelten Identität der Selbstheit, des Ich. Das Denken des Anderen — in seiner Wende zum linguistic turn —

rather the mechanisms that produce it. Now, in the ghostly production of postindustrial capitalism, these mechanisms remain intact and become even more powerful“ (Ebenda, S. 10).

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macht aus dem Subjekt das mittlere Glied, das zwischen Signifikanten verloren geht, während es die Signifikanten sind, die es dem Subjekt erlauben, sich zu äußern. Beim Idealismus von Schelling und Hegel spielt die Negativität die Rolle der Bestimmung der Allgemeinheit als Begrenzung und damit der Negation der Negation oder der Wiederherstellung eines vermittelten Ich. Die Negativität bedeutet beim Denken des Endes die konstante Unterbrechung der Totalisierung durch eine stetige Supplementation (supplémentation), damit das Ganze dem Subjekt entgeht. Diese Unmöglichkeit, das Ganze zu erfassen, ist allerdings das Subjekt selbst als Verzögerung (retard) und als Scheitern: die Unmöglichkeit, sich im Denken, in der Kunst oder Wissenschaft zu erfassen. Diese Supplementation heißt Unbestimmtheit oder Tendenz dazu, das Bestimmte zu unbestimmen und das Bestimmende unzugänglich zu machen. Man versteht allerdings dabei nicht, wie das Unbestimmte-Bestimmende überhaupt etwas bestimmen kann, wie das Bestimmte überhaupt zustande kommt. Die Bewegung der différance besteht in einer gleichmäßigen Bestimmung-Unbestimmung, in einem Setzen-Absetzen und Setzen-Versetzen. Im Idealismus führt die Bestimmung durch Negation zu Epochen in der Geistesgeschichte, welche erzählt und ihrer eigenen Notwendigkeit nach dargestellt werden können. Die Geschichte der Metaphysik beim Denken des Endes ist im Gegensatz dazu unbestimmt und epochenlos. Es gibt nur eine einzige Entfaltung der Metaphysik ohne deutliche Epochen oder Momente, von Anfang bis Ende war alles da. All die Variationen innerhalb der Metaphysik machen keine bestimmte Geschichte aus, sondern tauchen eher als Variationen eines einzigen Themas auf: von Platon bis Husserl. Das Denken des Endes kann daher keine neue Epoche bestimmen, denn seine Argumentation basiert auf einer Bewegung in Richtung des Unbestimmten und des Unbestimmenden als Ursprung. Diesen Gedankengang erkennt man leicht in der klassischen griechischen Philosophie, wo das apeiron, also das nicht Abzählbare, das nicht Bestimmbare, das nicht Strukturierte, als das Allererste gilt, wobei Ordnung und Bestimmung nur als zweites Moment hinzukommen. Die Dekonstruktion verstand sich allerdings als ein ethisch-politisches Denken. Kann diese These vertreten werden, während man den Unterschied Praxis-Theorie infrage stellt? Darf man den Signifikanten oder den originären Charakter der ihm entstammenden différance und den Begriff Ursprung anfechten? Wenn alles auf Sprache zu reduzieren ist, ist Sprache nicht eben ein Begriff unter anderen, der eine Totalität benennt, nämlich sich selbst? Wird sie nicht totalisiert und „de-totalisiert“ im gleichen Zug? Im Idealismus wurden Selbstbezüglichkeit und Selbstbewusstsein gleichgesetzt. Beim Denken des Endes dagegen regressus ad infinitum und Paradoxie. Ist aber alles auf Differenzen zurückzuführen, ist die différance nicht ein Signifikant, wie alle anderen, der das Gemeinsame aller Differenzen sammelt? Und wenn die Totalisierung verboten ist, weil es keine Meta-Sprache, also keinen Signifikanten aller Signifikanten gibt, ist nicht dieser

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Ausdruck meta-sprachlich? Denn wären wir völlig in der Sprache versunken, so wäre es unmöglich, das Denken als etwas aufzufassen, das vollständig von der Sprache bestimmt ist. Außerdem ist das Argument der différance ein Gedanke. Derrida sieht die Paradoxien im husserlschen Denken und folgt damit nicht der Sprache, sondern der Kraft der Argumentation, d.h. des Denkens. Die Behauptung, dass es nichts außer dem Text gebe, ist ein Gedanke. Weiter ist eine Leistung des Idealismus, die Erklärungen über die Welt als wirklich, als Teil der Welt zu interpretieren. Der Akt von Subtraktion kann auch als Begriff verstanden werden. Die Effekte der différance von Umkehrung und Verschiebung können auch als Argumente verstanden werden und werden damit anwesend. Aber kehren wir zurück zur Dekonstruktion und deren politischem Anspruch. Kann die Dekonstruktion ihren eigenen Anspruch darauf, politisch zu sein, erfüllen? Wie sind diese Paradoxien zu verstehen? Und was für einen Zusammenhang stellen sie mit dem Politischen her? Um diese Fragen zu beantworten soll im Folgenden die Problematik durch einen Vergleich mit Kants Antinomien vertieft werden. Auf die praktische Vernunft rekurrierend, fragte Kant: Was (soll ich) tun?1076 Auf diese Frage Kants (und auch Lenins) Bezug nehmend, stellt sich Derrida wiederum eine Frage nach der Frage: Was tun mit der Frage, „was tun?“?1077 Damit zeugt er von der Tatsache, dass „nous ne savons plus que faire avec la question «que faire?», et dans sa forme et dans son contenu. Nous en héritons, mais quelque chose de cet héritage nous est soustrait, et nous avons à réinventer les conditions mêmes de cette question“1078. Derrida riskiert die neuen Bedingungen dieser Frage und antwortet auf „Que faire?“ mit: „Penser ce qui vient“.1079 Was bedeutet es also, das Ankommende als Aufgabe des Denkens nach dem Ende der Philosophie zu denken? Im Gegensatz zu Kant bedeutet dies für Derrida: auf jeden Endzweck, nämlich auf jede Teleologie, aber auch auf jedes erste Prinzip, als Subjektivität verstanden, zu verzichten. D.h., die Metaphysik zu dekonstruieren. So lautet die begriffliche Kette, die Derrida konstruiert: „[L]e phonocentrisme se confond avec la détermination historiale du sens de l’être en général comme présence, avec toutes les sousdéterminations qui dépendent de cette forme générale“, d.h.: eidos, stigmé, das nun, „présence à soi, conscience, subjectivité“, „co-présence de l’autre et de soi“, „intersubjectivité comme phénomène intentionnel de l’ego“1080; die présence (Anwesenheit oder Gegenwart), welche 1076

Das ganze Zitat lautet: „Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen: 1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich thun? 3) Was darf ich hoffen?4) Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion und die vierte die Anthropologie“ (Kant, 2007, S. Akad. (1905ff.), S. IX:25). 1077 (Major und Derrida, 2007, S. 52). 1078 (Ebenda, S. 52). 1079 Derrida: „[…] là où il faut «penser ce qui vient» en se demandant « que faire?»“ (Ebenda, S. 31). 1080 „On pressent donc déjà que le phonocentrisme se confond avec la détermination historiale du sens de l'être en général comme présence, avec toutes les sous-déterminations qui dépendent de cette forme générale et qui organisent en elle leur système et leur enchaînement historial (présence de la chose au regard comme eidos, présence comme substance/essence/ existence (ousia), présence temporelle comme pointe (stigmè) du maintenant ou de l'instant (nun), présence à soi du cogito, conscience, subjectivité, co-présence de l'autre et de soi, intersubjectivité comme phénomène intentionnel de l'ego, etc.). Le logocentrisme serait donc solidaire de la détermination de l'être de l'étant comme présence. Dans la mesure où un tel logocentrisme n'est pas tout à

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historisch durch „les valeurs d’origine, d’archie, de telos, d’eskhaton, [...] ousia, parousia“1081 „denotiert“ wurde (dénoté). Diese „présence à soi“ verkörpert sich ausgezeichnet im Bewusstsein. Was aber ist das Bewusstsein? Derrida stellt sich diese Frage und antwortet: „vouloir-dire “, „perception de soi de la présence“. All dies gilt nicht nur für das Bewusstsein, sondern auch für „l’existence dite subjective en général“.1082 Diese “présence à soi, perception de soi de la présence”, hypokeimenon, ousia, Subjekt, „privilège accordé à la conscience“, all dies “est l’éther de la métaphysique”1083, all dies macht den Logozentrismus – auch onto-théologie genannt – aus, „c’est-à-dire […] la philosophie“.1084 Kein Zweifel kann daran bestehen, dass für Derrida die Philosophie das unauslöschliche Zeichen des Idealismus in sich trägt. Dieser Idealismus ist jedoch dem Materialismus nicht entgegengesetzt, vielmehr sind beide auf ein telos bezogen, indem beide auf eine transzendentale Bedeutung (signifié) zurückgreifen; daraus ergibt sich die „Geschichte der Metaphysik“ als Geschichte des Sinnes, als Logozentrismus, Phonozentrismus, Semantizismus und Idealismus. Eben dagegen richtet sich nun die Dekonstruktion.1085 Die différance muss als „au-delà de la langue métaphysique“ verstanden werden, um „la déconstruction de leur système au point actuellement le plus décisif“ zu beginnen.1086 Was ist der Horizont dieses Ansatzes, der Dekonstruktion? Mittels einer Paraphrase von Lévinas (aus Totalité et Infini) ruft Derrida zu einer „exposition à l’altérité de l’autre“1087 auf, oder wie es auch heißt, „relation à Autrui“, nämlich die „Gerechtigkeit“1088 (=justice). Angenommen, dass jene „relation à Autrui“ die fait absent de la pensée heideggerienne, il la retient peut-être encore dans cette époque de l'onto-théologie, dans cette philosophie de la présence, c'est-à-dire dans la philosophie“ (Derrida 1967a, S. 23–24). (Derrida 1972b, S. 10). 1082 (Ebenda, S. 17). 1083 „Que veut dire « conscience » ? Le plus souvent dans la forme même du « vouloir-dire », elle ne se donne à penser, sous toutes ses modifications, que comme présence à soi, perception de soi de la présence. Et ce qui vaut de la conscience vaut ici de l'existence dite subjective en général. De même que la catégorie du sujet ne peut et n'a jamais pu se penser sans la référence à la présence comme upokeimenon ou comme ousia, etc., de même le sujet comme conscience n'a jamais pu s'annoncer autrement que comme présence à soi. Le privilège accordé à la conscience signifie donc le privilège accordé au présent […]“ (Ebenda, S. 17). 1084 (Derrida 1967a, S. 23–24). 1085 „Must I recall that from the first texts I published, I have attempted to systematize a deconstructive critique precisely against the authority of meaning, as the transcendental signified or as telos, in other words, history determined in the last analysis as the history of meaning“ Derrida, J. Positions. (Derrida & Weber, 1995, S. 49–50). 1086 (Derrida 1972b, S. 13). 1087 Derrida: „[…] révolution, justice, exposition à l'altérité de l'autre, c'est-à-dire à ce qui vient, à qui arrive, à l'arrivant comme événement ou comme étranger, à l'urgence non utopique et à l'inéluctable de l'ici-maintenant, à la promesse au-delà du savoir théorique et du programme, et même de la prescription […]“(Major und Derrida, 2007, S. 37). 1088 Lévinas in Totaität und Unendlichkeit: „Die Existenz des Anderen betrifft uns in der Gemeinschaft. Der Andere affiziert uns nicht als jemand, den es zu überwinden, einzunehmen, zu beherrschen gilt – sondern als Anderer, der von uns abhängig ist: Hinter jeder Beziehung, die wir mit ihm unterhalten könnten, taucht er immer wieder als absoluter auf. Diese Weise, ein absolutes Seiendes zu empfangen, entdecken wir in der Gerechtigkeit […] Empfang des Anderen -- der Terminus drückt eine Gleichzeitigkeit von Aktivität und Passivität aus, durch diese Gleichzeitigkeit steht die Beziehung mit dem Anderen außerhalb der Dichotomien 1081

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Gerechtigkeit erklärt und nicht umgekehrt. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass Derrida auf ein gewisses transzendentales Denken nicht verzichten kann. Odo Marquard definiert das transzendentale Denken bei Schelling und Fichte in seinem Werk als Geschichtsphilosophie und insofern auch als politische Philosophie, „Philosophie der Freiheit als Philosophie des Werdens ihrer Bedingungen“ 1089. Für Marquard stellt das transzendentale Denken die doppelte Forderung, das Vergessene ins Bewusstsein zu bringen (Anamnese, Erinnerung) und das noch nicht Getane zu verwirklichen (Bestimmung des Willens), dar. Bei Derrida sind aber die Möglichkeitsbedingungen auch Unmöglichkeitsbedingungen. Die différance ermöglicht den Sinn (durch Differenzen), aber sie macht ihn gleichzeitig unmöglich (als transzendentalen Signifikanten). Das Werden der Signifikanten produziert keine Geschichte. In Bezug auf die Zeit schreibt Derrida: „Seul l’impossible peut arriver“1090, nur das Unmögliche wäre unserer Gegenwart gewachsen, das, was – wie der von ihm eingeführte Quasi-Begriff déconstruction – uns keine Methode, keine Lehre, keine spekulative Metaphilosophie,1091 also keinen a priori bestimmten Weg zur Verfügung stellt. Liegt nun darin (in der Dekonstruktion, wie in allem Denken) stets das Risiko, trotz allem, zur Methode zu werden, dann besteht das Interesse „ de la déconstruction, de sa force et de son désir“ in einer „certaine expérience de l’impossible [...] de l’autre, l’experience de l’autre comme invention de l’impossible, en d’autres termes comme la seule invention possible“.1092 Hier ist die Rede von Erfahrung, auch dies knüpft zunächst an Kant an, allerdings nicht, ohne sich von der klassischen Auffassung abzugrenzen. Derridas Frage zeigt sich folgendermaßen modifiziert: „[U]ne expérience est-elle possible qui ne soit pas expérience de l’aporie?“1093 Dort, wo die Vernunft und die Philosophie nichts mehr können, wo sie ohnmächtig werden, wo die Aporie – gegen die das Denken nichts zu tun vermag – herrscht, dort kündigt sich das Kommende an. Nur dort wartet die Möglichkeit der Zukunft. Die Aporie ist hier der Ort der Befragung, oder besser, die Grenze, vor der das Denken hält, das Einzige, woraus das Kommende zu erwarten wäre. Es ist die Form der Aporie, die das gesamte Denken Derridas strukturiert und die unendliche Liste all seiner Quasi-Begriffe1094, wie différance, phármakon, a priori und a posteriori, Aktivität und Passivität, die für die Dinge gelten“ (Lévinas, 1987, S. 124). Diese Stelle ist auch bemerkenswert: „Das Andere als Anderes ist der andere Mensch. Es bedarf der sprachlichen Beziehung, um ihn „sein zu lassen“; dazu achtet ihn die bloße „Enthüllung“, in der er sich als Thema darstellt, nicht genug. Dieses in der Rede von Angesicht zu Angesicht Ansprechen nennen wir Gerechtigkeit“ (Lévinas, 1987, S. 85). 1089 (Marquard, 1987, S. 100). 1090 (Derrida, 2001a, S. 74). 1091 Derrida: „Comme j’ai souvent tenté de le démontrer, seul l’impossible peut arriver. En rappelant souvent de la déconstruction qu’elle était impossible ou l’impossible, et qu’elle était non pas une méthode, une doctrine, une méta-philosophie spéculative, mais ce qui arrive, je me fiais à la même pensée“ (Ebenda, S. 74). 1092 (Derrida 1987, S. 26–27). 1093 (Derrida 1996, S. 35). 1094 Es gibt eine „[…] liste interminable de tous les quasi-concepts dits indécidables qui sont autant des lieux ou de dislocations aporétiques“ (Ebenda, S. 36).

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écriture, supplément usw., gestaltet. Diese derridaschen Aporien stehen den Kantischen Antinomien nahe; im Gegensatz zu Kant aber verlangt Derrida die Aporie: Man soll, il faut, dem Aporetischen treu, in der Aporie bleiben, denn in ihr stecke die unmögliche Möglichkeit des Kommenden. Die einzig würdige Pflicht sei dementsprechend noch jene, die „de façon récurrente, interminablement, se dédouble, se fissure, se contredit sans cesser de rester le même“. Es handelt sich dabei um ein „double impératif contradictoire“.1095 Über die Aporie und ihr Verhältnis zur Antinomie schreibt Derrida: „[L]e mot antinomie s’imposerait jusqu’à un certain point puisqu’il s’agissait bien, dans l’ordre de la loi (nomos), de contradictions ou d’antagonismes entre des lois également impératives“.1096 Stimmt dies, so ist danach zu fragen, wie das Subjekt, wie dessen Wille sich spaltet. Auf welche Weise bleibt dieses im ewigen Krieg gegen sich bestehen?1097 Welche Konsequenzen haben diese Spaltungen für das Subjekt, für dessen Verantwortlichkeit, dessen Handlung, dessen Antwort auf die Frage: „Was tun?“? Der Idealismus ging auch von einem unüberwindbaren Gegensatz innerhalb des Ich aus. Aus ganz verschiedenen Gründen begegnen aber beide, Idealismus und Dekonstruktion, ähnlichen Problemen. Erinnert sei hier an Schellings System des Transzendentalen Idealismus. In diesem Text beschreibt er das natürliche Bewusstsein (Ich) als in einer Zeitenreihe verortet: „Das Ich, einmal in die Zeit versetzt, ist ein steter Uebergang von Vorstellung zu Vorstellung“.1098 Aber die ursprüngliche Funktion des Ich findet nicht in der Zeit statt, sondern sie ist Zeitkonstituierend, denn es ist die Bedingung aller Erfahrung. Diese Überlegungen stehen Husserls Gedanken über das Zeit-konstituierende Bewusstsein nicht fern. Jetzt aber besitzt das Ich für Schelling die Kraft, „diese Reihe durch Reflexion zu unterbrechen, mit der absoluten Unterbrechung jener Succession beginnt alles Philosophiren“1099. Diese Art Epoché ist der Anfang des Philosophierens und die Verbindung zwischen dem philosophierenden und dem ursprünglichen Ich. Der Philosoph suspendiert dabei, fährt Schelling fort, „das Eine Grundvorurtheil, auf welches alle andern sich reduciren, […] daß es Dinge außer uns gebe“.1100 Die Dekonstruktion geht von einer ähnlichen Reduktion aus, die Außenwelt wird in ihrer Transzendenz reduziert. Aber, wie Schelling warnt, ist dieses Vorgehen völlig idealistisch und verlangt daher eine „Naturphilosophie“. Bei Derrida verwandelt sich ein Quasi-Idealismus in eine Quasi-Naturphilosophie, wo sich das Subjekt in Äußerlichkeit verkehrt. Innerhalb des reinen Ich, behauptet Schelling, d.h. ohne Glauben an ein Ding an sich, zeigt sich ein Grundgegensatz. Eine ins Unendliche gehende und kreierende Kraft braucht eine Gegenkraft, die sie begrenzt, hemmt. Selbstbewusstsein ist bei Schelling in dieser Schrift nichts anderes als jene Spannung zwischen der kreierenden und der hemmenden Tätigkeit des Ich. 1095

(Ebenda, S. 37). (Ebenda, S. 37). Siehe: §1.6. Das Reale und die Interpretation der Dekonstruktion als Autoimmunerkrankung. 1098 (Schelling und Hahn, 1998, S. I,3,396). 1099 (Ebenda, S. I,3,396). 1100 (Ebenda, S. I,3,343). 1096 1097

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Die Dekonstruktion zur (Ohn)macht

Nun zeigt sich das Paradoxon: Das Ich des Selbstbewußtseyns ist das […] diesen entgegengesetzten Richtungen gehende […] besteht nur in diesem Streit, oder vielmehr es ist selbst dieser Streit entgegengesetzter Richtungen. So gewiß das Ich seiner selbst bewußt ist, so gewiß muß jener Widerstreit entstehen und unterhalten werden. Zwei entgegengesetzte Richtungen heben sich auf, vernichten sich, der Widerstreit also, so scheint es, kann nicht fortdauern. Daraus würde absolute Unthätigkeit entstehen; denn […] so ist der einzige Bestimmungsgrund zur Thätigkeit für das Ich ein fortdauernder Widerspruch in ihm selbst. Nun vernichtet aber jeder Widerspruch an und für sich selbst. Kein Widerspruch kann bestehen, als etwa durch das Bestreben selbst ihn zu unterhalten oder zu denken, durch dieses Dritte selbst kommt eine Art von Identität, eine wechselseitige Beziehung der beiden entgegengesetzten Glieder aufeinander in ihn.Der ursprüngliche Widerspruch im Wesen des Ich selbst ist weder aufzuheben, ohne daß das Ich selbst aufgehoben wird, noch kann er an und für sich fortdauern. Er wird nur fortdauern durch die Nothwendigkeit fortzudauern, d.h. durch das aus ihm resultirende Streben ihn zu unterhalten und dadurch Identität in ihn zu bringen.1101

Der Widerspruch muss bestehen und gleichzeitig kann er nicht bestehen, er wird in einem Dritten aufgehoben, aber diese Aufhebung ist von der ursprünglichen Spannung nicht ganz verschieden. Derrida befindet sich in einer ähnlichen Situation. Denn er will einerseits die Aporie aufrechterhalten, aber anderseits will er auch jeden (metaphysischen) Widerspruch durch die Differenz überwinden. Derrida verzichtet in diesem Sinne nicht auf den Begriff Subjekt tout court. Der Vergleich vom Subjektbegriff im Idealismus und bei Derrida ist völlig berechtigt, denn nur so lässt sich das Denken Derridas mit der Philosophie in Verbindung bringen und damit erhellen. Bei der Dekonstruktion geht es darum, die klassischen Begriffe zu verschieben und nicht darum, auf diese lediglich zu verzichten. Vom Subjekt sagt Derrida: Je supposais naïvement que nous devions éviter de parler du « sujet » [...] mais c’est idiot. [...] Oui, c’est idiot. D’ailleurs, on pourrait mettre en scène le sujet, soumettre en scène le sujet dans sa subjectivité comme l’idiot même (l’innocent, le propre, le vierge, l’originaire, le natif, le naïf, le grand commençant : aussi grand, érigé, autonome que soumis, etc.). Dans le texte ou l’écriture […] il y a, je ne dirai pas une place (et c’est toute une question, cette topologie d’une certaine non-place assignable, à la fois nécessaire et introuvable) mais une instance (sans stance, d’un «sans» sans négativité) pour du «qui», un «qui» assiégé par la problématique de la trace et de la différance, de l’affirmation, de la signature et du nom dit propre, du jet (avant tout sujet, objet, projet) comme destinerrance des envois […] 1102 [Auf diese Weise wird das Problem der Subjektivität] réinscrit celle-ci dans l’expérience d’une «affirmation», d’un «oui» ou d’un «en-gage» [...] que suppose la question la plus originaire […] ce «oui, oui» qui répond avant même de pouvoir former une question, qui est responsable sans autonomie, avant et en vue de toute autonomie possible du qui-sujet, etc. […] l’obligation y trouve […] sa seule possibilité […] ce qui ne veut pas dire qu’elle soit […] sans sujet mais que c’est à partir de cette affirmation disloquée (donc sans «fermeté» ni «fermeture») que quelque chose comme le sujet, l’homme ou qui que ce soit, peut prendre figure.1103

Das Subjekt ist jene Figur, die von der différance bestürmt wird. Es ist eben das Subjekt der Philosophie, das nicht weiß, was zu tun ist, auch nicht bei der Frage: Was tun? Dieses NichtWissen heißt Aporie oder double-bind als kontradiktorische Forderung. Gezeigt wurde, dass Derrida eine derartige doppelte, aporetische Forderung an das Denken stellt. Es ist die

1101 1102 1103

(Ebenda, S. I,3,392). (Derrida & Weber, 1992, S. 274–276). (Ebenda, S. 274–276).

Was tun (mit den Paradoxien)?

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Bedingung selbst der Subjektivität. Das klassische Subjekt entsteht aus dieser Ent-scheidung — damit wird es voll, Einheit, Identität —, aber eine ursprünglichere Subjektivität wäre für Derrida jene, welche durch einen double-bind strukturiert wird, und zwar vor jeder Entscheidung. Vom double-bind als Bedingung der Verantwortung und der Entscheidung — der Tätigkeiten eines möglichen Subjekts — sagt er: Vous voyez, ce que j’avance ici a encore et toujours la forme du double bind : ni seulement ceci ni seulement cela, ceci et cela étant contradictoires, il faut ceci et cela, de ceci à cela, etc. […] Mais si cette double bande est inéluctable (en moi comme un idiome et/ou hors de moi), il faut, un il faut tout autre, que quelque part elle ne soit pas le dernier mot. Sans quoi ça s’arrêterait, se paralyserait, se méduserait immédiatement, je veux dire avant même que ça s’arrête, car, n’est-ce pas, ça s’arrêtera de toute façon. Il faut qu’au-delà de l’infatigable contradiction du double bind, une différence affirmative, innocente, intacte, gaie, en vienne bien à fausser compagnie, échappe d’un saut et vienne signer en riant ce qu’elle laisse faire et défiler en double bande […] c’est l’instant du « ungeheuren unbegrentzten Ja », du « oui prodigieux et sans limites ».1104

So, wie der Widerspruch im Idealismus ist der double-bind bei Derrida sowohl notwendig als auch unhaltbar. Dieses „Ja“, diese Bejahung, von der Derrida spricht, ist sowohl die Aporie als auch ihr Jenseits, ein Drittes als Paradoxon und ein Drittes außerhalb der Paradoxie. Es besteht also das Problem, wie man die différance, jene ewige Bewegung als Spiel, und die Aporie als absoluter Ausgangspunkt vereinigt. Denn die Aporie hat etwas Starres, Nicht-Hintergehbares, sie bedeutet einen Anfang als Aporie und damit auch das Ende allen Werdens. Der Quasi-Begriff Spiel dagegen stellt nicht nur die Hierarchie des Anfänglichen und des Abgeleiteten infrage, das Spiel vernichtet alle Widersprüche und geht in jene unendliche Produktion-Destruktion von Sinn über. Bei der différance und ihrem Spiel sind eben nur Verzögerungen zu erkennen, während die Aporie uns mit einem Gegensatz konfrontiert. Die Dekonstruktion baut alle Gegensätze der Philosophie ab, endet aber in der Aporie: in einem neuen Gegensatz. Auch sie stellt sich praktisch gegen die Philosophie: Diese ist entweder fortzusetzen oder zu dekonstruieren. Ist das Dritte etwas, das uns jenseits des Paradoxen führt oder ist das Dritte das Paradoxon selbst? Ist nicht die Logik des Supplements eben dieses Spiel des Spiels, diese doppelte Rolle des Dritten bzw. die Aufhebung und Bestätigung des Widerspruchs zugleich? Aporie und nicht Antinomie legt Derrida fest: „L’antinomie mérite ici plutôt le nom d’aporie dans la mesure où elle n’est ni une antinomie «apparente ou illusoire», ni une contradiction dialectisable au sens hegelien ou marxiste, ni même une « illusion transcendantale dans une dialectique de type kantien », mais une expérience interminable“.1105 Die Aporie ist die reelle und absolute Antinomie, das endlose Hin und Her des Denkens. Trotz Derridas Aussage besetzt das Endlose auch in Kants Denken eine gewisse Stelle. Zu den bekannten Antinomien der Kritik der reinen Vernunft gehört ein Rückgriff auf die Idee des regressus – sowie eines regressus ad infinitum – als Resultat einer täuschenden, jedoch „natürlichen“ Operation der

1104 1105

(Ebenda, S. 69). (Derrida, 1996, S. 37).

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Die Dekonstruktion zur (Ohn)macht

Vernunft, wenn die Ganzheit der objektiven Bestimmungen nach dem Unbedingten strebt.1106 Die Aporien bei Derrida sind aber keine täuschenden Antinomien wie bei Kant. Der Übergang von der Antinomie zur Aporie ist dieser: Das Befürchtete (bei Kant) wird zum Gewollten (bei Derrida). Dieser Übergang zeigt vielmehr eine Umkehrung der Werte als einen Wechsel von Argumenten. Auch Derrida lenkt seine Aufmerksamkeit darauf, dass die Antinomien, jetzt Aporien, eng mit der Verblüffung des Denkens — seiner Unmöglichkeit — und der Unendlichkeit als Unmöglichkeit, eine Ganzheit beim Denken zu erreichen, verbunden sind. Kann man nun das Unmögliche (die Aporie) bei Derrida anhand einer näheren Auslegung der Antinomien verstehen?

7.9 Aporien der Kantischen Vernunft in Bezug auf Derrida: Serien, Unendlichkeit und différance Dieses, laut Kant, durch Schein geltend gemachte „Principium der unbedingten Einheit“ sowie die durch diese „ganz natürlich“ erzeugte „Antithetik [...], in welche die Vernunft von selbst und zwar unvermeidlich geräth“1107, stammen, wie jeder Schein, aus einer Verwechslung beim Gebrauch transzendentaler Begriffe, nämlich aus der Differenz zwischen einer transzendentalen und einer empirischen Verwendung. Gemäß Kant neigt die Vernunft dazu, dass diese über die „Einschränkungen einer möglichen Erfahrung“ hinaus wolle, und dies passiere, wenn „sie [die Vernunft] zu einem gegebenen Bedingten auf der Seite der Bedingungen […] absolute Totalität fordert und dadurch die Kategorie zur transscendentalen Idee macht, um der empirischen Synthesis durch die Fortsetzung derselben bis zum Unbedingten […] absolute Vollständigkeit zu geben“.1108 Die Vernunft folgt dementsprechend bei Kant nur einem inneren Grundsatz, nämlich dass „wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben, wodurch jenes allein möglich war“.1109 Daher sind alle transzendentalen Ideen nur „bis zum Unbedingten erweiterte Kategorien“.1110 Die Rede ist hier von Serien (Reihen), die als Verkettungen von Ursachen vorkommen, wo ein erstes Glied, also ein Anfang der Folge, supponiert werden muss.

1106

Kant schreibt, die Antinomien beschäftigten sich mit der „unbedingte(n) Einheit der objectiven Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände überhaupt“ (Kant, 2007, S. Akad. (1905ff.), S. B:433). 1107 (Ebenda, S. Akad. (1905ff.), S. B:433-4). 1108 (Ebenda, S. Akad. (1905ff.), S. B:435u-6). Es sei an dieser Stelle der Zusammenhang von Unbedingtheit und Vollständigkeit hervorgehoben, denn er ist der Eckstein aller Vernunftsneigung und ein erster Hinweis, für die Psychoanalyse entscheidend, dass auch die rein theoretische Vernunft von Begehren betroffen ist, aber auch umgekehrt, dass die Begierde auf eine logische Struktur beruht (wie Lacan behauptet). 1109 (Ebenda, S. Akad. (1905ff.), S. B:435). 1110 (Ebenda, S. Akad. (1905ff.), S. B:435).

Aporien der Kantischen Vernunft

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An dieser Stelle ist es sinnvoll, kurz ein paar mathematische Überlegungen anzustellen, die im zweiten Teil dieser Arbeit von Nutzen sein werden. Man spricht generell von einer Ordnung (ordering auf Engl.) durch eine Abstraktion von „various relations, such as the inequality relation between real numbers and the inclusion relation between sets“, also: „Suppose that we are given a set X = (Husserl und Fleischer, 1966); the relation between the elements of X, denoted by ≤ or other symbols, is called an ordering“.1111 Diese Ordnungen können auch als Mengen (sets auf Engl.) angesehen werden. Reihen (series auf Engl.) haben eine Ordnung dieses Typs1112. Die natürlichen Zahlen zum Beispiel können vorwärts durch Rekursion bis in die Unendlichkeit fortgeführt werden, rückwärts aber braucht man ein erstes Element, aus dem die Menge konstruiert wird oder mit dem die Reihe anfängt (die Null bei natürlichen Zahlen). 1113 Der Algorithmus für die Konstruktion einer Reihe (also die Regel, mit der man die genannte Reihe produziert) ist jedoch nicht die erste Zahl der Reihe1114 (d.h. das erste Glied, wie die Null bei den natürlichen Zahlen). Wie ist Kant diesbezüglich auszulegen? Er erkennt zwei Richtungen bei der Erzeugung einer Reihe: rückwärts (regressiv) und vorwärts (progressiv). Die Antinomien (oder die kosmologischen Ideen) handeln also von „der Totalität der regressiven Synthesis und gehen in antecedentia“1115. Das Medium, werden wir nun sagen, in dem alle Reihen, alle Sequenzen als Erfahrung stattfinden, ist die Zeit. Man könnte in diesem Kontext sogar behaupten, die Zeit schlechthin sei die Reihe, in der sich alle anderen Reihen entfalten.1116 Die transzendentale Einheit der Apperzeption soll für den Moment außer Acht 1111

Auf das Zitat folgt: „[I]f the following three laws hold: (i) the reflexive law, x≤x; (ii) the antisymmetric law, x≤y and y≤x imply x=y; and (iii) the transitive law, xۛ

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