Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik


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Karl Pestalozzi

Die Entstehung des lyrischen Ich Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik

Walter de Gruyter & Co. Berlin 1970

Archiv-Nr. 30 37 701

1970 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen’sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp., Berlin 30 Printed in Germany Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Übersetzung, der Herstellung von Mikrofilmen und Photokopien, auch auszugsweise, Vorbehalten. Satz und Druck: Thormann & Goetsch, Berlin 44

Inhalt Vorwort

. VII

Vorstudien Dante

.

3

.

19

Giordano Bruno .

30

Deutsche Barocklyrik .

43

Schiller

78

Petrarca

.

„Excelsior!“ . 102

Interpretationen C. F. Meyer „Himmelsnähe“. 119 Baudelaire „Elevation“

. 168

Nietzsche „Aus hohen Bergen“. 198 Mallarme „Autre eventail, de Mademoiselle Maliarme“. 247 Hofmannsthal „Reiselied“ . 283 George „Entrückung“. 310

Schluß „Das lyrische Ich“. 342

Namenregister

357

Für Julika

Vorwort Die vorliegende Arbeit nimmt ihren Ausgang von der grundsätz¬ lichen Frage nach der Funktion der Lyrik, die sich angesichts der moder¬ nen Lyrik, wie sie in der zweiten Hälfte des

19.

Jahrhunderts entstand,

mit verstärkter Dringlichkeit stellt. Die Frage trägt das Odium des Banausischen an sich. Denn gerade diese Lyrik bestand mit Nachdruck darauf, nicht nur keinen Zweck, sondern überhaupt keinen Bezug zur Wirklichkeit zu haben, „reine“ oder „absolute Poesie“ zu sein. Das demonstrative Verbot provoziert jedoch die Frage erst recht. Die pro¬ grammatische Reinheit von allem Wirklichen läßt einen verborgenen Zweck vermuten. In den negativen Kategorien, die sich bei der Beschrei¬ bung dieser Lyrik einstellen1, scheint sich ein Positivum anderer Art zu verbergen. Dieses gilt es zu finden. Die Suche danach wird gelenkt von dem Vorverständnis, Lyrik habe es grundsätzlich mit dem Verhältnis des Menschen zu sich selbst zu tun. Maßgebend ist dabei die Lyrikbestimmung Hegels in der „Aesthetik“2. Hegel betrachtet das Gedicht als konstitutiv für das Selbstbewußt1

Vgl. Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Hamburg: Rowohlt 1956. 2. Aufl. 1957. 3-Aufl. 1967 (rororo-Enzyklopädie 25). Friedrichs Buch hat das Verdienst, die Problematik der modernen Lyrik erstmals einer brei¬ teren Leserschaft bewußt gemacht zu haben. Das Unbefriedigende seiner vor¬ wiegend negativen Charakterisierung ist jedoch allgemein bemerkt worden. Die Einzelinterpretationen sind zudem zu sehr auf die Generalthese hin verkürzt. Ich bin in dieser Arbeit Friedrich in vielen Dingen insofern ver¬ pflichtet, als mich sein Buch zur Auseinandersetzung anregte, vor allem was die Grundthese betraf. Berührungen in Einzelfragen ergaben sich in den Kapiteln über Baudelaire und Mallarme.

2

Hegel, Aesthetik, hrsg. von Friedrich Bassenge. Berlin: Aufbau 1955. Die lyrische Poesie S. 998—1037. — Wichtig ist vor allem die folgende Stelle: „Das blinde Walten der Leidenschaft liegt in der bewußtseinslosen dumpfen Einheit derselben mit dem ganzen Gemüt, das nicht aus sich heraus zur Vor¬ stellung und zum Aussprechen seiner gelangen kann. Die Poesie erlöst nun das Herz zwar von dieser Befangenheit, insofern sie dasselbe sich gegenständ-

VII

sein. Es vermittelt dem Subjekt, d. h. dem Ich, was ihm als Substanz zugrunde liegt. Dieses gewinnt aus dem Gedicht sein Selbst. In dieser Reflexivität besteht der Kern von Hegels Bestimmung. Die konkrete Argumentation steht deutlich unter dem Eindruck der Goetheschen Lyrik, einmal darin, daß sie das Gedicht einseitig in seiner Relation zum Dichter sieht, zum anderen in der Fassung seines Inhalts als Gemüts¬ äußerung. Hegels Bestimmung kann durch eine neuere ergänzt werden3, die, auf Hegel fußend, die beiden erwähnten Momente allgemeiner faßt und den Akzent stärker auf die Wirkung des Gedichts auf das Ich des Lesers setzt. Beide Bestimmungen geben dem Gedicht seinen Ort zwischen Ich und Selbst. Dabei ist mit „Ich“ das empirische Ich ver¬ standen, das in Raum und Zeit lebt und handelt, mit „Selbst“ die ihm zugeordnete Identität als die Bedingung der Möglichkeit, in wechselnden Situationen „Ich“ zu sagen und zu sein. Die Unterscheidung von „Ich“ und „Selbst“ entspricht derjenigen von französisch „je“ und „moi“, englisch „I“ und „seif“. Der Zusammenhang von Lyrik und Selbst¬ bewußtsein ließe sich auch historisch deutlich machen. Die Gleichzeitig¬ keit von Entstehung der Lyrik und Erwachen der Persönlichkeit bei

lieh werden läßt, aber sie bleibt nicht bei dem bloßen Hinauswerfen des Inhalts aus seiner unmittelbaren Einigung mit dem Subjekte stehen, son¬ dern macht daraus ein von jeder Zufälligkeit der Stimmung gereinigtes Objekt, in welchem das befreite Innere zugleich in befriedigtem Selbst¬ bewußtsein frei zu sich zurückkehrt und bei sich selber ist.“ S. 999. — Oder kürzer: „In der Lyrik ... befriedigt sich das ... Bedürfnis, sich auszu¬ sprechen und das Gemüt in der Äußerung seiner selbst zu vernehmen.“ S. 1000. 3

Gerd Wolandt, Philosophie der Dichtung. Berlin: de Gruyter 1965. „Der poetische Gedanke führt die konkrete Subjektivität von den Wegen, die ihre gewohnten und vertrauten sind, aus der Welt ihrer primären Leistun¬ gen fort in eine Welt, in der sie sich dem Gewohnten und Vertrauten ent¬ fremdet und entrückt sieht, deren Gebilde aber gerade vermittels dieser Entrückung und Entfremdung die Subjektivität in ihrer geschichtlichen Kon¬ kretheit manifestieren und bestätigen. Obwohl der poetische Gedanke der konkreten Subjektivität unmittelbar weder Belehrung noch Leitung zu bieten hat, stellt er sie gleichwohl in ihrem Vermögen her, die (primäre) Welt den¬ kend zu durchdringen und handelnd zu gestalten und die eigene Würde zu wahren. Der poetische Gedanke erscheint, gemessen an den primären Mög¬ lichkeiten der Subjektivität, als Überflüssiges. Er ist es indessen nicht, wenn man das Grundgefüge der Subjektivität in Betracht zieht. Denn eine der Bedingungen des Bestandes der Subjektivität ist, daß sie ihrer selbst, in ihrer zugeteilten und zu ihrer selbsterrungenen und selbstentworfenen Kon¬ kretheit, frei gegenwärtig, von ihr ergriffen und durchdrungen sei." S. 6.

VIII

den Griechen4 spricht ebenso dafür wie die zeitgenössische Erfahrung, daß unter der Herrschaft kollektiver Normgefüge per contrarium die Faszinationskraft lyrischer Gedichte wächst5. Aus diesem Vorverständnis ergibt sich für den Neubeginn der Lyrik im späteren

19.

Jahrhundert

die Hypothese, daß sich darin eine grundlegende Veränderung im Ver¬ hältnis des Menschen zu sich selbst ankündige. Wie aber läßt sie sich verifizieren? Ich habe den Weg gewählt, einzelne Gedichte dieses Zeitraums daraufhin zu interpretieren. Von jedem der beigezogenen Lyriker wird ein Gedicht ins Zentrum gestellt. Das geschieht im Vertrauen darauf, auch in einem einzelnen das Ganze zu haben. Da das Gedicht einzig als geschlossene sprachliche Gestalt seine vermutete Funktion erfüllen kann, ist darauf geachtet, es als solche zu bewahren. Deshalb folgt die Inter¬ pretation jeweils nach Möglichkeit dem Verlauf des Gedichts. Ihren Ehr¬ geiz sieht sie darin, es möglichst gründlich zu lesen. Entsprechend der Frage nach einem darin erscheinenden Neuen wird auf historische Be¬ züge besonders geachtet. Die Frage nach der Wirkung macht gelegent¬ liche Ausblicke biographischer Art notwendig. Da die Interpretationen im Dienst einer historisch-systematischen Fragestellung stehen, können sie nicht in einem strengen Sinne immanent verfahren. Sie werden vom Versuch begleitet, erkannte Eigentümlich¬ keiten mit der Gesamtkonzeption des jeweiligen Autors zusammenzu¬ sehen oder umgekehrt dem Gedicht von seiner Stelle innerhalb des be¬ treffenden Gesamtwerks beizukommen. Dabei ist es nicht immer in gleichem Maße gelungen, die Interpretation strikte an die systematische Problematik zu binden oder umgekehrt diese ausreichend interpretatorisch zu belegen. Dadurch, daß ich bei der Vorarbeit immer vom Gedichttext ausging, erhielt dieser grundsätzlich den Vorrang. Doch ließen sich gelegentlich Gewaltsamkeiten beim Knüpfen von Verbin¬ dungen nicht vermeiden. Die Kombination von Interpretation und Systematik ähnelt nur zu oft der Quadratur des Zirkels. Eine Annähe¬ rung beider wurde mittels eines den behandelten Gedichten gemein¬ samen Motivs möglich. Es kann den systematischen Zusammenhang ge-

4 5

Vgl. Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes. Hamburg: Claassen 1955. IV. Das Erwachen der Persönlichkeit in der frühgriechischen Lyrik. S. 83—117. Ich denke hierbei an die Berichte aus kommunistischen Ländern, besonders der Sowjetunion, über Lyriklesungen vor hunderten von andächtigen Zu¬ hörern.

IX

währleisten und der Auflösung der Arbeit in Einzelinterpretationen entgegenwirken. Als leitendes Motiv wurde Elevation, Erhebung, in der doppelten Ausprägung als Aufstieg und Aufschwung, gewählt6. Diese Wahl ergab sich nicht primär aus Beobachtungen an der Literatur. Es war mir viel¬ mehr aufgefallen, daß in der bildenden Kunst der zweiten Hälfte des 19.

Jahrhunderts, etwa in Praeraffaelismus und Jugendstil, der Zug in

die Höhe ein dominantes Merkmal ist. Es läßt sich in der Architektur, im Kunstgewerbe und in der Malerei erkennen. Der Eiffelturm der Pariser Weltausstellung von

1889

ist dafür das Protobeispiel. In der

Musik zeigt sich eine analoge Tendenz in der Einbeziehung der höchsten Töne etwa beim frühen Richard Strauss und bei Mahler. Nachdem einmal der Blick dafür gewonnen war, zeigten sich auch in der Lyrik, der hohen und der trivialen, Aufstiege und Aufschwünge in reicher Zahl7. In Nietzsche hat diese Motivik innerhalb der deutschen Literatur ihr stärkstes Strahlungszentrum. 6

Der Ausdruck „Aufschwung“ ist in dieser Arbeit somit wörtlich verstanden. Wo von „Aufschwunglyrik“ oder „Aufschwunggedichten“ die Rede ist, sind Gedichte gemeint, die das Motiv der Erhebung gestalten. Dies zu betonen ist deshalb notwendig, weil Fr. Th. Vischer in seiner Ästhetik bei der Einteilung der Lyrik eine „Lyrik des Aufschwungs“ von einer der „Ablösung“ und der „echten Lyrik“ unterscheidet. Vischer versteht unter „Lyrik des Aufschwungs“ hymnische Lyrik. Vgl. Friedrich Theodor Vischer, Aesthetik. 2. Auflage hrsg. von Robert Vischer, München: Meyer und Jessen 1923. § 889. Wie es zur übertragenen Bedeutung von „Aufschwung“ kam, wird im Verlauf der Arbeit deutlich werden. — Kürzlich ist eine Arbeit erschienen, die das ent¬ gegengesetzte Motiv ins Zentrum stellt: Alfred Doppler, Der Abgrund. Studien zur Bedeutungsgeschichte eines Motivs. Graz/Wien/Köln: Böhlau 1968.

7

Vgl. z. B. die Anthologie von K. E. Knodt, Wir sind die Sehnsucht. Stuttgart: Greiner & Pfeiffer 1902. Im Vorwort heißt es u. a.: „Es wäre entschieden ein Irrtum, wollten wir die Zahl der nach den Sternen Strebenden unseres neuen Jahrhunderts gering schätzen. . . . Schon die namentlichen Namen der Sehnsuchtssänger in diesem unserem Sammelbuche sind ein unwiderleglicher Beweis, daß und wie die besten modernen Dichter Sänger starker Sternen Sehnsucht sind. Und wir glauben noch an viel ungenannte und ungekannte Genossen gleichen Glaubens allerorten — bis in die fernsten Welt- und Waldwinkel hinein.“ S. VIII. Die Anthologie versammelt alle poetae minores der Zeit von Avenarius bis Zuchhold. Von den heute noch bekannten Namen sind Hesse, Ricarda Huch, Rilke vertreten. — Wie all¬ gemein diese Zeitstimmung war, kann auch der Ausspruch Heinrich Wölfflins aus dem Jahre 1906 belegen: „Der'beste Besitz ist die wache Sehnsucht. Ich habe sie für Italien und die Berge.“ Zit. bei G. Jedlicka, H. W. zum

X

Aufschwung und Aufstieg erscheinen als Bewegungen des Ich über die wirkliche Welt hinaus, in eine andere Sphäre. Sie stellen damit moti¬ vische Objektivationen jener Bestrebungen dar, die der „reinen Poesie“ zugrunde liegen. An den Gestaltungen dieser Motive muß sich, wenn das zutrifft, die Funktion dieser Lyrik für das Ich fassen lassen. So kann die systematische Fragestellung in die Interpretation einbezogen werden. Erkennen ist zu einem wesentlichen Teil Unterscheiden. Es erwies sich als notwendig, frühere Gestaltungen des Motivs einzubeziehen, um die Eigentümlichkeit der sechs im Hauptteil interpretierten Gedichte genauer zu sehen. Aus dem Plan einer motivgeschichtlichen Einleitung sind die „Vorstudien“ erwachsen, die mit Dante beginnen und mit Schiller schließen. Sie bestehen ebenfalls grundsätzlich aus Einzelinter¬ pretationen, doch ist das Gewicht stärker auf die Herausarbeitung einer großen Linie gelegt. Mit Dante zu beginnen, legte das Erhebungsmotiv nahe. Petrarca und Giordano Bruno sollen den Neuansatz dokumen¬ tieren, der von Dante wegführte. Dabei ist die Beschäftigung mit Gior¬ dano Bruno für die ganze Arbeit entscheidend geworden. An ihm erst wurde mir die Relevanz des Erhebungsmotivs völlig deutlich, die darin enthaltene Verbindung von Selbstbewußtsein und Kosmologie. Mit dem Kapitel über barocke Lyrik wenden sich die „Vorstudien der deutschen Literatur zu. Von da springen sie zu Schiller. Schiller gewinnt gerade von Giordano Bruno her besondere Bedeutung. Mit ihm nahm mutatis mutandis die deutsche Lyrik Brunos Neuansatz auf, nach¬ dem sie im Barock von einer Dante nicht allzu fernen Auffassung von Mensch und Welt ausgegangen war. Der Ablauf von Dante zu Bruno wiederholt sich gewissermaßen in demjenigen vom Barock zu Schiller. Die Phasenverschiebung der deutschen im Verhältnis zur europäischen Lyrik wird daran überraschend deutlich. Sie könnte durch die Einbe¬ ziehung von Beispielen aus den übrigen Nationalliteraturen weiter profi¬ liert werden. Mit Schiller ist die Schwelle zur Moderne erreicht. Die Lyrik, um die es im Hauptteil geht, greift auf ihn zurück. So ist es mindestens halbwegs ioo. Geburtstag. NZZ vom 20. Juni 1964 (FA Nr. 168). — In der Malerei wäre vor allem auch Hodler anzuführen, dessen Berge sich wie Kristalle aus Wolken oder Nebel in das reine Blau erheben. — Das konsequenteste musikalische Beispiel sehe ich im 5. Satz von Mahlers Symphonie Nr. II in c-moll, die 1891 bis 1894 entstand. — Für die unermüdliche Aufspürung entlegener Aufstieg- und Aufschwunggedichte aus der Jahrhundertwende habe ich Fräulein Ingrid Bode an der Bibliothek des Schiller National¬ museums in Marbach zu danken.

XI

zu verantworten, daß die Romantik8 übergangen wird und der Haupt¬ teil mit C. F. Meyer beginnt. Gelegentliche Rückblenden in den Kapiteln des Hauptteils tragen die gröbsten Verbindungslinien nach. Die größere Auslassung betrifft Goethe, der ebenfalls nur am Rande der Hauptkapitel erscheint. „Ganymed", „Harzreise im Winter“, der Aufsatz über den Granit müßten in den „Vorstudien“ ihren Platz haben. Die Figur des Euphorion baut sich geradezu aus den verschiedenen Momenten des Erhebungsmotivs auf. Die Weiche zu Goethe hin ist im Abschnitt „Pietismus“ des Barockkapitels gestellt. Daß er dennoch nicht einbe¬ zogen wurde, hängt im tiefsten damit zusammen, daß Goethe und die auf ihn zurückgehende Lyrik als Gesamtphänomen der Einordnung in die Erhebungsmotivik, wie sie hier verstanden wird, widerstrebt. Nicht umsonst ließ Goethe Euphorion scheitern. Er war mißtrauisch gegen jene Überschreitungen der Grenzen der Menschheit, zu denen auch der Auf¬ schwung gehört. Damit ist auf eine Einschränkung hingewiesen, die sich aus der Wahl gerade dieses Leitmotives ergab. Es wurde mir erst in einem relativ späten Stadium der Arbeit klar, daß die Bewegung in die Höhe in den Umkreis des Erhabenen gehört, ja daß sie eines der zentralen Motive dieser ästhetischen Gattung darstellt, Ilspi 'Ytjjoug heißt bekanntlich der Traktat des Longin, der sie theoretisch begründete. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich aufgrund des leitenden Motivs vor allen Dingen mit Lyrik der erhabenen Dichtart. Das Schöne entzieht sich weitgehend ihrer Anlage. Daraus geht aber andererseits hervor, daß, wenn die Gedichte des Hauptteils für die moderne Lyrik repräsentativ sind, in dieser das Erhabene ins Zentrum rückt. Das bedürfte jedoch einer ein¬ gehenderen Diskussion dieses Begriffs und seiner Geschichte9. Die interpretierten Gedichte auch des Hauptteils stammen nicht alle aus der deutschen Literatur. Die Einbeziehung Baudelaires und Mallar¬ mes schien gerechtfertigt durch beider Einfluß auf den Neubeginn der deutschen Lyrik. Eine Erweiterung um englische und italienische Lyrik wäre wünschenswert gewesen. Innerhalb der deutschen Literatur waren 8

Reiches Material dafür enthält die Arbeit von Günther Schmitz. Der Seelen¬ aufschwung in der deutschen Romantik. Diss. Münster 1935. — Manche Kapitel aus Bernhard Böschenstein, Studien zur Dichtung des Absoluten, Zürich: Atlantis 1968, ergänzen diese Arbeit vor allem für den hier ver¬ nachlässigten Zeitraum.

9

Vgl. den ausgezeichneten Aufsatz von Karl Vietor, Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur, in: K. V., Geist und Form. Bern: Francke 1952. S. 234—266.

XII

Interpretationen von Rilkes „Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens und Benns „Ikarus“ vorgesehen. Die innere und äußere Notwendigkeit, die Arbeit abzuschließen, ließ es nicht mehr dazu kommen. Ich hoffe, daß die gezogenen Linien deutlich genug sind, um dem Leser, sofern er sie akzeptiert, die Weiterführung zu ermöglichen. In Blickrichtung und Methode weiß ich mich dankbar meinen beiden Lehrern, Emil Staiger und Wilhelm Emrich, verpflichtet. Beider Anteil an dieser Arbeit ist nicht zu überschätzen. Mancherlei Anregung und Bestätigung gaben mir die Studien von Georges Poulet und Gaston Bachelard. Eine starke Faszination durch die geistesgeschichtliche Schule wird nicht zu verkennen sein. Bei aller Hilfe, die ich von den Genannten empfing, verstehe ich die Arbeit doch in starkem Maße auch als ein Unternehmen der Selbstverständigung. Ich bekenne mich zu dem Dilet¬ tantismus, auf den man an manchen Stellen stoßen wird. Was wäre die Literaturwissenschaft ohne ihn! So ist es nun am Leser zu beurteilen, ob, was aus vielfältigen Umständen hervorging, Evidenz und allgemeinere Geltung beanspruchen kann. Die Arbeit hat der Philosophischen Fakultät der Freien Universität Berlin im Sommer

1968

als Habilitationsschrift Vorgelegen. Sie wurde

seither nur geringfügig verändert. Wilhelm Emrich, Gerhard Kaiser, Nor¬ bert Miller und Peter Szondi sahen das Manuskript freundlicherweise kritisch durch. Ihre Bemerkungen waren mir sehr wertvoll. Mazzino Mon¬ tinari, Hans-Georg Rappl, Hans Staub, Martin Stern und Hans Zeller durfte ich in ihren Spezialgebieten jederzeit konsultieren. Das Register stellten Hans und Friederike Christ-Kutter her. Beim Korrekturenlesen waren mir Peter Andre Bloch, Herr Charles Bloch und Frau Ruth Rauscher behilflich. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich für ihre Hilfe gedankt. Ein besonderer Dank gebührt schließlich dem Verlag für die sorgfältige Betreuung des Buches, vor allem Herrn Prof. Heinz Wenzel, der sich mit unermüdlicher Geduld und großem Verständnis dafür eingesetzt hat. Basel Ende Juli

1970

XIII

.

Dass du, o Mensch, der selb' und doch ein andrer bist.

VORSTUDIEN

Dante

Dante. Die göttliche Komödie. Italienisch und deutsch. Übersetzt und kom¬ mentiert von Hermann Gmelin. 6 Bde Stuttgart: Klett 1949—57. Text und Übersetzung werden wie üblich nach Teil, Gesang und Verszeile zitiert. Die Zählung Gmelin I, II, III bezieht sich auf die Kommentarbände.

Diese Vorstudien, die historisch bedeutsamen Ausprägungen des Auf¬ stieg- und Aufschwungmotivs gelten, können legitimerweise bei Dante beginnen. Wie kein anderes der großen Werke der abendländischen Lite¬ ratur ist die „Divina Commedia“ durch diese Motive bestimmt. Die Spezialforschung hat im einzelnen nachgewiesen, welche vorausliegen¬ den Systeme Dante das Material für sein Epos geliefert hatten. Auch was die Erhebungsmotive betrifft, stellt es eine Art Kompendium dar. Es kombiniert Motivgestaltungen aus der antiken Mythologie, dem Pla¬ tonismus, der Bibel, der römischen und patristischen Literatur1. Wir sind dadurch der Pflicht ihrer weiteren Rückverfolgung bis zu den Quellen enthoben und können uns, wo es um die Bestimmung ihres Bedeutungs¬ spielraums geht, zunächst an Dante orientieren. Wichtiger als dieser mehr technische Aspekt ist der geistesgeschicht¬ liche. In Dantes Werk erhielt der Geist des christlichen Mittelalters sozu¬ sagen in letzter Stunde eine dichterische Kodifizierung. Die Relationen zwischen Gott und Kosmos, Gott und Mensch, Mensch und Mitmensch, wie sie die Kirche in jahrhundertelanger geistiger Arbeit konstituiert und verbindlich gemacht hatte, sind darin aufbewahrt. Man wird zwar die Momente nicht übersehen dürfen, die auf die Renaissance vorausdeu¬ ten. Gerade das Thema der Selbstvergewisserung, das hier interessiert, gehört dazu. Aber sie fügen sich noch immer ein in den festen Rahmen der scholastischen Theologie und Kosmologie. Die mit der Renaissance einsetzende weitere Geschichte des europäischen Geistes führte schließ1

Vgl. die Einleitung zu Gmelin I, II, III. — Der ausführliche und ungemein sorgfältige Kommentar ist eine themen- und motivgeschichtliche Fundgrube, die auch dieser Arbeit insgesamt zugute kam.

3 l*

lieh zur Zerschlagung des von Dante gestalteten Weltbildes. Je weiter dieser Prozeß fortschritt, umso mehr wurde die „Divina Commedia“ zu einem zwar respektierten, aber befremdlichen Monument. Die Begegnung mit ihr ließ den Abstand ermessen, der sich zu ihr aufgetan hatte. Man denke an Goethes Bemerkung zu Eckermann: „Ihnen . . . soll das Studium dieses Dichters von Ihrem Beichtvater hiermit durchaus ver¬ boten sein.“2 Das war zu einer Zeit gesprochen, als das unterste Fun¬ dament des Danteschen Bauwerks,

die christliche Gottesvorstellung,

angegriffen wurde. Indem wir somit Dante an den Anfang setzen, hoffen wir einen Fixpunkt zu gewinnen, im Bezug auf den sich die geistes- und motivgeschichtliche Fage der weiteren Beispiele bestimmen läßt. Es wird sich zeigen, daß, was den deutschen Strang der angedeute¬ ten

Entwicklung,

der

später

hauptsächlich

betrachtet

werden

soll,

betrifft, Schiller sich als Schlußpunkt verstehen läßt. Mit ihm sollen daher diese Vorstudien aufhören. Mit der Romantik setzt ein neues starkes Interesse für Dante ein, das mit dem

19.

Jahrhundert fortschrei¬

tet. Dantes 600-Jahr-Jubiläum von 1865 wurde zu einer enthusia¬ stischen Feier der Dante-Verehrung in ganz Europa. Sie fand in der Folgezeit ihren Ausdruck in der intensiven Danteforschung3, wirkte sich aber auch in Malerei und Dichtung aus. Fast bei allen Dichtern des späteren

19.

Jahrhunderts, deren Aufschwung- und Aufstieggedichten

der Hauptteil dieser Studien gilt, findet sich eine explizite Dante-Ver¬ ehrung, die bis zur Dante-Imitation gehen kann. Die folgenden kurzen Nachweise sollen das belegen. Sie sollen zugleich rechtfertigen, weshalb diese Vorstudien Dante nicht nur einbeziehen, sondern an den Anfang setzen. Baudelaires gute Dantekenntnis ist bezeugt. Er kommt auf Dante, „le grand peintre de la douleur humaine“4 mehrere Male im Zusammenhang mit Delacroix’ Bild „Dante et Virgile aux Enfers“ zu 2

Goethe zu Eckermann am 3. Dez. 1824. Goethes Verhältnis zu Dante war freilich komplexer, vgl. Horst Rüdiger, Dante als Erwecker geistiger Kräfte in der deutschen Literatur. In: Festschrift für Richard Alewyn. hrsg. von Herbert Singer und Benno von Wiese. Köln/Graz: Bühlau 1967. Der Aufsatz gibt einen materialreichen Überblick über die Rezeption Dantes in Deutsch¬ land.

3

Vgl. G. A. Scartazzini, Dante in Germania. Storia letteraria e bibliografia Dantesca alemanna. 2 Bde Napoli, Milano, Pisa: Ulrico Hoepli 1881/83. Charles Baudelaire, CEuvres completes, ed. Le Dantec et Pichois, Paris 1961 (Bibliotheque de la Pleiade) p. 898.

4

4

sprechen. Bei diesem Anlaß zitiert er einen größeren Abschnitt aus dem 4. Gesang des Inferno, der von der Vorhölle handelt. Daß diese Baude-

laires besondere Anteilnahme fand, geht daraus hervor, daß er als Titel für seine Gedichtsammlung „Les Limbes“ vorgesehen hatte. In den „Fleurs du Mal“ klingt Dante verschiedentlich an.

Longfellows

Beschäftigung mit Dante in den sechziger Jahren steht im Zusammen¬ hang seiner Übersetzung der „Göttlichen Komödie“. Er widmete Dante auch

mehrere

eigene

Gedichte.

Eine

„Divina

Commedia“

betitelte

Gruppe von fünf Sonetten beschreibt den Eindruck des Epos unter dem Bild des Eintritts in eine Kathedrale bis zur Elevation der Hostie. Für Nietzsche gehörte Dante von der Schule her zum Bildungsbestand. Er wurde ihm mehr und mehr zum Inbegriff des starken und heroischen Dichters, dessen Erfahrung in der Verwandtschaft von Seligkeit und Lei¬ den er bewunderte. Hier ist der folgende späte Brief an Peter Gast von Bedeutung, in dem bei Gelegenheit des Vorspiels zum „Parsifal“ Nietzsches

Vorstellung

vom

„Höhendichter“

Dante

zum

Ausdruck

kommt: „. . . hat Wagner je etwas besser gemacht? Die allerhöchste psychologische Bewußtheit und Bestimmtheit in bezug auf das, was hier gesagt, ausgedrückt,

mitgeteilt

werden soll, die kürzeste und

direkteste Form dafür, jede Nuance des Gefühls bis aufs Epigrammati¬ sche gebracht, eine Deutlichkeit der Musik als deskriptiver Kunst, bei der man an einen Schild mit erhabener Arbeit denkt; und, zuletzt, ein sublimes und außerordentliches Gefühl, Erlebnis, Ereignis der Seele im Grunde der Musik, das Wagnern die höchste Ehre macht, eine Synthesis von Zuständen, die vielen Menschen, auch „höheren Menschen“, als unvereinbar gelten werden, von richtender Strenge, von „Höhe“ im erschreckenden Sinne des Wortes, von einem Mitwissen und Durch¬ schauen, das eine Seele wie mit Messern durchschneidet — und von Mit¬ leiden mit dem, was da geschaut und gerichtet wird. Dergleichen gibt es bei Dante, sonst nicht.“5 In „Ecce homo“ wird jedoch Dante hin¬ ter Zarathustra zurückgesetzt: „dass Dante, gegen Zarathustra gehalten, bloss ein Gläubiger ist und nicht einer, der die Wahrheit erst schafft, ein

weltregierender

Geist,

ein

Schicksal

—“.6

C. F. Meyers

Dante-Vorliebe hat ihren sichtbarsten Ausdruck in der „Hochzeit des Mönchs“ gefunden. Betsy berichtet in ihren Erinnerungen, daß das „Purgatorio“ zu Meyers Lieblingsbüchern gehörte, „über dessen Fels¬ terrassen eine so wunderbar mit den scharfen reinen Berglüften ver5

Nietzsche an Peter Gast am 21. Jan. 1887.

6

Schlechta, II, S. 1134.

wandte Stimmung liegt.“7 Beleg von Georges Dante-Begeisterung kann an dieser Stelle die Erinnerung an seine Übersetzungen sein sowie an den Versuch, sich physiognomisch und in der ganzen Haltung auf den Florentiner hin zu stilisieren. Des näheren wird davon im Zusammen¬ hang mit der Interpretation von „Entrückung“ gesprochen werden. Hofmannsthals Gedicht „Nach einer Dante-Lektüre“8 sucht den Eindruck von Ergriffenheit und Befremden festzuhalten, den die „Be¬ rühmten schweren alten Verse“ auf den Zwanzigjährigen machten. Dante gehörte zur abendländischen Tradition, die sich der junge Hof¬ mannsthal aneignete. Spezielle Dantereminiszenzen sind selten. Der intendierte Konsensus der genannten Dichter mit Dante über sieben Jahrhunderte hinweg macht es möglich, ihre Gedichte mit der Dante-Renaissance in Zusammenhang zu bringen, ja in ihnen den Ver¬ such zu sehen, unter veränderten geistigen und geistlichen Umständen Dantes Grundstruktur zu erneuern. Ihre Erhebungsgedichte sind Wie¬ deraufnahmen der für Dante zentralen Motive. Sie vereinigen somit Distanz von Dante mit Nähe zu ihm. Das zeigt sich am schlagendsten daran, daß sie dem Erhebungsepos mit kurzen Gedichten respondierten. Indem wir Dante an den Anfang stellen, erstellen wir einen Hinter¬ grund, vor dem sich die Eigenart dieser Gedichte deutlicher profiliert. Das Jenseits der „Divina Commedia“ ist konsequent vertikal ange¬ legt. Die Pole sind Höhe und Tiefe, denen Licht-Dunkel, LeichtigkeitSchwere, in gewissem Maße auch Zeitlichkeit-Raum zugeordnet sind. Sie veranschaulichen die Wertpaare Gut-Böse, Wahr-Falsch, Schön-Häßlich bzw. Vollkommen-Unvollkommen, in die sich der alles umgreifende Gegensatz von Gott und Menschheit differenziert. Die feste Zuordnung der positiven Werte zur Höhe resp. der negativen zur Tiefe scheint archetypisch zu sein. Die Systematisierung geht auf Aristoteles zurück, durch den sie für das scholastische Mittelalter verbindlich wurde. Sie ist „ein integrierender Bestandteil der Lehre vom physico-moralischen Pa¬ rallelismus. Wie bekannt, schreibt die Aristotelische Biologie den oberen Teilen des menschlichen Körpers einen höheren Grad von Adel zu als den unteren Teilen. Infolge dieser Auffassung, sowie aufgrund des Parallelismus zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos wurden die Be¬ griffe ,hochc und ,niedrig4, obwohl ursprünglich rein geometrische Begriffe der Raumorientierung, in den meisten Sprachen zum Ausdruck für 7 8

6

Betsy Meyer, Conrad Ferdinand Meyer. Berlin: Paetel 1903. S. 181. Hugo von Hofmannsthal, Gedichte und Lyrische Dramen, hrsg. von H. Stei¬ ner. Frankfurt: Fischer 1952. S. 519

Wertunterschiede.“9 Zwischen diesen Polen baut die „Göttliche Komö¬ die“ eine Skala auf, welche die Grade der Gottnähe und Gottferne genau angibt. Das darauf verteilte Personal stellt die Indexzeichen. Diese Werttopographie wird in ihrer Bedeutung durch Dantes Reise er¬ schlossen. Im Inferno ist er teilnehmender Zuschauer und Frager. Im Purgatorio wird sein Weg zum Prozeß seiner eigenen Verwandlung. Der Aufflug im Paradiso führt ihn in die unmittelbare Nähe Gottes. Es kann im folgenden nicht darum gehen, einen Gesamtüberblick über das universale Werk zu geben. Unser Interesse gilt dem Bedeu¬ tungsgehalt der vertikalen Topographie von „Purgatorio“ und „Para¬ diso“ und besonders Dantes Bewegung durch sie hindurch. Danach be¬ trachten wir einige der dichterischen Mittel, mit denen Dante die Wan¬ derung sprachlich nachgestaltet hat. Die Gestaltung des Purgatorio als Berg ist offensichtlich Dantes eigene Erfindung. Anregungen kamen ihm aus verschiedenen Traditio¬ nen: Die Bibel kennt einen mons Domini, die Stoa verwendet das Bild eines Tugendberges, eine auf Isidor von Sevilla zurückgehende Tradition nahm das irdische Paradies als auf einem Berge liegend an.10 Dantes Darstellung enthält für die Verbindung von Purgatorium und Berg resp. Läuterungsprozeß und Bergwanderung mehrere Motivationen: Wie das Fegefeuer für die Kirche zwischen Tod und ewiger Seligkeit liegt, faßt auch er das Purgatorio als Zwischenbereich. Durch Fürbitte der Hinterbliebenen, aber auch dank später Reue oder guter Werke, kommen die Verstorbenen dahin, wo sie sich durch Bußübungen allmäh¬ lich der Seligkeit nähern können. Diese Zwischenzeit hat Dante ins Räumliche umgesetzt. Der Berg bildet den Übergang von der Erde zum Himmel, und zwar so, daß er an beiden Teil hat. Der Fuß steht dem Inferno noch nahe, das irdische Paradies auf der Höhe ist die Vorstufe des Paradiso. Statius veranschaulicht das mit dem Hinweis, daß die Wit9 Max Jammer, Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorie. Aus dem Englischen übersetzt von Paul Wilpert. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft i960. S. 88 — Jammer verweist anschließend an die zitierte Stelle auf die „Göttliche Komödie“ als den vollkommensten Ausdruck der räum¬ lichen Hierarchie der Werte. Deren dogmatische Geltung für das Mittelalter belegt er mit dem Beispiel des Nikolaus von Autrecourt, der seinen Satz „Quod non potest evidenter ostendi nobilitas unius rei super aliam“ wider¬ rufen mußte. S. 88/89. 10 Gmelin II, S. 7 ff. Gmelin bezieht sich auf A. Rüegg, Die Jenseitsvorstellungen vor Dante und die übrigen literarischen Voraussetzungen der Divina Commedia. 2 Bde, Köln 1945

7

terungseinflüsse nur bis zur Grenze des Vorpurgatorio reichen11. Auf der Höhe des Purgatorio herrscht eine andere, himmlische Meteorologie, die von Matelda erläutert wird12. Die eindeutige Orientierung des Berges nach oben wird durch seine Spiegelsymmetrie zum Trichter des Inferno unterstrichen. Damit hängt zusammen, daß im Purgatorio außer den Engeln sich nie jemand abwärts bewegt. Selbst zurückschauen ist ver¬ boten13. Im gestuften Berg ist das Mittelstück der auf den höchsten Wert zulaufenden Skala konkretisiert. Je höher oben man sich befindet, um¬ so näher ist man der Seligkeit. Die büßenden Schatten arbeiten sich lang¬ sam hinauf. Im irdischen Paradies hat der Berg sein eigenes summum. Es liegt, der Stufung etwas entzogen, auf einer Art Hochplateau. Im Bezug auf das irdische Paradies ist der Berg eine riesige turm¬ artige Stützmauer, die es isoliert. Er steht zudem auf einer Insel. Diese Entrücktheit macht den Berg als ganzen zum Inbegriff des Jenseits. Als Sockel des irdischen Paradieses veranschaulicht er die Fallhöhe des Sün¬ denfalls. Der Aufstieg über die Stufen vermag den Fall rückgängig zu machen. Der Engel am Tor zum eigentlichen Purgatorio ist das Gegen¬ stück zum Cherub mit dem Flammenschwert. Die Büßenden sind alle von ihrer ursprünglichen Güte abgefallen. Aufsteigend streben sie ihrer paradiesischen Unschuld zu. Gebahnt ist dieser Weg durch die Erlösungs¬ tat Christi als des neuen Adam. Der Aufstieg hat im Stationenweg der Passion auf den Kalvarienberg ein Vorbild14. Damit verbindet sich ein stoischer Gedanke. Nach Dantes Auffas¬ sung ist der Mensch gut geschaffen und besitzt den freien Willen, der angeborenen Güte zu folgen oder aber sich auf falsche Wege verlocken zu lassen. Der Aufstieg ins irdische Paradies ist der Weg zur Freiheit. Vor Cato, dem Hüter des Vorpurgatorio, ja sogar des ganzen Berges, bringt Vergil diesen Gesichtspunkt gleich zu Beginn des Aufstiegs zur Sprache15. Alle Schwierigkeiten und Beschwerlichkeiten teilt der Weg im Purgatorio mit dem stoischen Weg zur Tugend und zur inneren 11

Purg. XXI, 42 f.

12 13

Purg. XXVIII, 100 f. Purg. IX, 233

14

Gmelin II, S. 9

15

Purg. I, 71

16

Vgl. dazu Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes. Hamburg: Claassen 1955. Das Symbol des Weges S. 320 ff. Snell zitiert die für die Motivge¬ schichte wichtige Stelle aus Hesiod, Erga 287 ff: „Das Schlimme (xaxoxrig) kann man sich in Scharen holen, gar leicht: eben ist der Weg, ganz nah wohnt es. Vor die aQerf| aber haben die Götter den Schweiß gesetzt, die Unsterb-

8

Freiheit, den Cato selbst gegangen war. Der Topos von den zwei Wegen steht im Hintergrund16. Dantes Aufstieg erschließt den Berg. Dabei aber hat das zwischen unten und oben vermittelnde Bußsystem für ihn nur modifiziert Gel¬ tung. Er steigt auf, obwohl er noch nicht gestorben ist. Die Verwunde¬ rung darüber, daß er einen Schatten wirft, begegnet ihm auf allen Stu¬ fen. Und umgekehrt geht die Fürbitte, die ihn, in Vergil personifiziert, geleitet, von der seligen Beatrice aus, also von einer Verstorbenen. Dan¬ tes Aufstieg ist damit ebenso sehr wie ein Bußweg einer der Erkennt¬ nis. Deshalb bedarf es dazu des Sonnenlichts. Doch auch Dante muß sich von einer Verschuldung befreien. Diese ist, wie sich aus der Tilgung ergibt, doppelter Art. Einerseits besteht sie in Verirrungen des freien Willens, die ihn unfrei machten. Sie lassen sich mit den Kategorien der Todsünden, nach denen der Berg gegliedert ist, erfassen. Beim Eintritt ins eigentliche Purgatorio werden ihm 7 P, auf die Stirne bezeichnender¬ weise, gebrannt, die sukzessive gelöscht werden, nachdem jeweils eine Stufe durchschritten ist. Auf der Höhe angelangt erklärt ihn Vergil wiederum für mündig mit den bedeutsamen Worten: Libero, dritto e sano e tuo arbitrio, E fallo fora non fare a suo senno: Per ch’io te sopra te corona e mitrio. Frei, grade und gesund ist nun dein Wille, Und Sünde wär es, wenn du ihm nicht folgtest. Drum krön ich dich zu deinem eignen Herren.17 Der wiederhergestellte freie Wille bedeutet erst die Voraussetzung der Entschuldung, noch nicht diese selbst. Es kommt nicht auf den freien Willen an sich an, sondern darauf, worauf er sich wendet. Dantes eigentliche Verschuldung bestand im Abfall vom Geist Beatrices an die Verführungen der eitlen und vergänglichen Erscheinungswelt. Sein Auf¬ stieg ist der Rückweg zu ihr. In diesem Zusammenhang wird der Berg zur Burgzinne, auf der wie im Umkreis der Minne die Dame ihren liehen. Ein langer steiler Pfad geht zu ihr, steinicht zuerst. Kommt man aber zur Höhe, so ist sie (die aperr]) leicht zu erreichen, so schwer sie auch ist.“ — Biblische Quellen für den Topos von den zwei Wegen sind nach Snell 5. Moses 11, 26—28, Jeremia 21, 8, Sprüche 1, 15 f. — Wichtig ist ferner Matth, 7,13/4. — vgl. ferner: Hinrich Stiefken, Der saelden sträze. Zum Motiv des Weges bei Hartmann von Aue. Euphorion 61, 1967. 1/2, S. 1 ff. Da auch weitere Literatur. 17

Purg. XXVII, 139 f.

9

Ritter erwartet. Doch klingt dieses Motiv nur einmal kurz an18. Die Versöhnung mit Beatrice wird durdi ihre Scheltrede eröffnet19. Dantes Reue leitet ein Reinigungsritual ein, er wird in Lethe und Eunoe geba¬ det und geht daraus neugeboren hervor. Nun ist sein Wille wiederum ganz auf Beatrice gerichtet. Hatte er im liberum arbitrium die mensch¬ liche Jugend erreicht, so in der Versöhnung mit Beatrice seine eigene. Das freie Verhältnis zu ihr konstituiert seine Individualität. Sie als ein¬ zige nennt, wie er sich ihr nähert, seinen Namen20. Das Reinigungsbad erneuert seine Taufe. Der Aufstieg auf den Berg ist für ihn der Weg zu seinem ursprünglichen Selbst. Auf diesen wichtigsten Aspekt deutete bereits eine Episode im In¬ ferno voraus. Beim Übergang zum 8. Höllenkreis müssen Dante und Vergil einen Damm hinaufklettern21. Vergil bewährt sich dabei als Berg¬ führer. Auf die physische Unterstützung läßt er eine Mahnrede folgen. Mit dieser deutet er den Aufstieg als Kampf des Geistes gegen den Kör¬ per, der der Schwerkraft unterliegt. Diesem entspricht im Großen did Überwindung der Trägheit, welche zum Ruhm führt. Im Ruhm aber geht es darum, dem Erdenleben seine Flüchtigkeit zu nehmen und ihm Dauer zu verleihen, so daß der Mensch nicht spurlos „wie Rauch in Lüften oder Schaum auf den Wellen“ verschwindet. Der Aufstieg ent¬ spricht somit der Anstrengung, sich einen Namen zu machen, der seinem Träger Individualität gibt und sie festhält. Diese hat er nicht von Natur, sondern allein kraft seines Geistes. Sie bezieht sich auf die Ge¬ samtheit der Menschen. — Es ist von Belang, daß Vergil diese Mahnung ausspricht. Name und Ruhm sind antike Möglichkeiten der Unsterblichkeit. Daß sie auch innerhalb der „Divina Commedia“ eine beschränkte Geltung haben, beweisen die berühmten Helden und Dichter aus vorchristlicher Zeit, die außerhalb des Strafsystems des Inferno den Limbus bewohnen22. Sie verdanken diesen Platz ihrem ehrenvollen Namen. Vergil gehört zu ihnen. Diesen Seligen durch Verdienst fehlt jedoch die Gnade. Im „Pur18

Purg. XXVI, 59 f. Im Kp. XLI der Vita Nuova, im Sonett „Oltre la spera“ hat Dante die Situation der höherstehenden Dame bereits ins Geistig-Kos¬ mische umgedeutet. Dante, Vita nuova / Das neue Leben. Frankfurt: Fischer 1964 (Exempla classica 90). S. 150 ff.

19 20

Purg. XXXI, 36 f. Die Scheltrede verwendet bezeichnenderweise auch den Gegensatz von oben und unten. Purg. XXX, 56

21

Inf. XXIV, 19 ff.

22

Inf. IV

10

gatorio“23

kommt

der

ehrenvolle

Ruhm

nochmals

ausführlich

zur

Sprache. Aber hier wird er in seiner zeitüberwindenden Kraft relativiert, ja das Streben darnach erscheint als Hybris. Dieser scheinbare Wider¬ spruch zum Limbus löst sich geschichtstheologisch auf. Der Ruhm ist als Möglichkeit, zur individuellen Identität zu gelangen, auf die vorchrist¬ liche Zeit beschränkt. Das Erlösungswerk Christi machte diesen Selbst¬ erlösungsweg unwirksam. Daher kommt die Traurigkeit, die über dem Limbus liegt, obwohl er manche äußere Ähnlichkeit mit dem irdischen Paradies hat. Vergil stellt darum Dante beim Aufstieg auf die Schutt¬ halde einen längeren und schwierigeren Aufstieg in Aussicht. Der Aufstieg im Purgatorio führt ebenfalls zur Individualität. Auch deren Zeichen ist der Name. Aber sie beruht zum kleineren Teil auf der Anstrengung Dantes. Dieser folgt und kommt entgegen die Gnade, die ihn in Vergil geleitet und in Beatrice erwartet. Die eigene Individuali¬ tät wird nicht vom Ich geschaffen, es findet die wieder, die ihm von Beginn seines Daseins an zugehört. In Statius’ Bericht über die Entste¬ hung des Menschen wird klar, daß er als einer und einzelner zur Welt kommt24. Das wird an einem weiteren Zug noch deutlicher. Im Limbus stehen die Dichter beisammen,

deren Werk die Zeiten überdauerten. Der

„Adler“ unter ihnen ist Homer. Dante dagegen bekommt von Beatrice den Auftrag, das Geschaute sich im Leben zum memento zu nehmen und es den andern Menschen zu verkünden. Die Dichtung ist nicht Voraus¬ aussetzung, sondern Folge der erlangten Identität. Unter diesem Ge¬ sichtspunkt ist Beatrice auch Dantes Muse. Die flüchtig auftauchende Anspielung auf den Parnass25 hat einen genauen Sinn. Er macht die Stufen des Läuterungsberges zu gradus ad Parnassum, den Berggipfel zum Ort der dichterischen Inspiration. So treffen die verschiedenen Deu¬ tungen des Berges alle zusammen zu der einen und wichtigsten, daß er die Stätte bildet, an der Dante als Individuum zu sich selbst kommt. Ja er wird dadurch, daß Dante alle seine Stufen erkennend in sich auf¬ genommen hat, ein Aufriß seiner Gesamtperson. Die Schlußzeile des „Purgatorio“ nennt Dante „puro e disposto a salire alle stelle“26. Dieser weitere Aufstieg ist das Thema des „Paradiso“. Die Grundlage der Darstellung des Paradiso bildet der ptolemä23

Purg. XI

24

Purg. XXV

25

Purg. XXVIII, 140

26

Purg. XXXIII, 145

isch-aristotelische Kosmos, wie ihn die Scholastik von Aristoteles über¬ nommen und dogmatisiert hatte27. Er gliedert sich geozentrisch in die 7 Planetensphären, den Fixsternhimmel und die neunte Sphäre, eine Kristallschale, die als primum mobile den Kosmos in Bewegung hält. Darüber, im unbewegten Empyreum, thront Gott. Die Sphären sind Emanationen seiner ausstrahlenden Kraft, die sich quantitativ mit zu¬ nehmender Entfernung von der Quelle verringert. Diese göttliche Kraft wird sichtbar als Licht, das den Kosmos durchstrahlt. In Mond-, Mer¬ kur- und Venushimmel wird es von der nahen Erdatmosphäre getrübt. In dieser Trübung des Urlichts handelt es sich um den platonischen Sündenfall der Idee in die Materie. Doch diese Konzeption ist von der biblischen Schöpfungsanschauung überlagert, für die auch die Welt auf Gott bezogen ist. Dantes wichtigstes Vorbild für die Gestaltung des Paradiso war Bonaventuras „Itinerarium mentis ad Deum“, eine alle¬ gorische Darstellung der 6 Schöpfungstage25.

Theologisch stellen die

Sphären Grade der Vollkommenheit dar. Sie werden durch die Seligen bezeichnet, die nach den Kardinaltugenden darauf verteilt sind. Dantes Aufstieg durch das Paradiso ist somit gleichfalls ein Rück¬ weg. Er führt aus der Materie zur Idee, aus dem Geschaffenen ins Unge¬ schaffene. Seine Bewegung ist ein Flug. Dieser schließt an den Aufstieg im Purgatorio an. Dabei hatte sich Dante mit zunehmender Höhe immer leichter werden gefühlt, es kam ihm vor, als wüchsen ihm Flügel29. Die Flügel sind eine platonische und christliche Metapher für die Aktivität des Geistes30. Der Geist wird dadurch als Prinzip gedeutet, das der Erdenschwere entgegengesetzt ist und aufwärts tendiert. Dantes Aufflug unterscheidet sich jedoch vom Aufstieg dadurch, daß ihm keine Hinder¬ nisse mehr im Wege stehen. Er gleicht dabei mehr dem eines Pfeils als dem eines Vogels und erfolgt nicht aus eigener Kraft, sondern unter der Einwirkung der Anziehung, die Gott im Kosmos ausübt. Diese Zen¬ trifugalkraft ist die kosmische Schwerkraft. Dante fliegt empor, wie das Bächlein zu Tale rinnt81. Die Lichtkraft Gottes erreicht Dante in der individuellen Brechung durch Beatrice. Sie ist sein unmittelbarer Motor. Aus dem Spiegel ihrer 27

Gmelin III, S. 7 ff.

28

Gmelin III, S. 10

29

Purg. XXVII, 122; die wachsende Leichtigkeit hebt Vergil bei seiner Charak¬ terisierung des Berges hervor. Purg. IV, 84 f.

30

Gmelin II, S. 176 f. Gmelin zitiert aus Augustin „De Psalm.“ 103,13 den

31

Satz: alas habent bonas et liberas animae bene operantes praecepta Dei. Par. I, 136

12

Augen, die gleich denen des Adlers direkt in die göttliche Sonne blicken können, empfängt Dante das Licht. Beatrice ist sein Medium der Voll¬ kommenheit. Dank ihr kann er der Vollkommenheit teilhaftig werden, obwohl er den Tod noch nicht hinter sich hat. Insofern aber bedeutet das Medium auch eine Einschränkung. Beatrice führt Dante deshalb nur bis zur äußersten Grenze des sphärischen Kosmos. Dann tritt der Hl. Bern¬ hard an ihre Stelle, der große Lehrer der unmittelbaren Gottschau. Er bezeichnet den Übergang zu dem Zustand, an dem Dante ohne Beglei¬ tung vor Gott steht. Damit ist er, zum ersten Mal seit dem Beginn seiner Reise, allein. Den veränderten Erkenntnisbedingungen entspricht ein veränderter Gegenstandaspekt. Die Vielfalt der Einzelgestalten, die Dante mit Bea¬ trice durchlaufen hatte, erscheint nun in der Himmelsrose als Einheit. Auch Beatrice und Bernhard haben sich ihr eingeordnet. Die gestufte Linie des Aufflugs wurde zum Kreis. Das Sukzessive erscheint simultan konzentriert.

Im Mittelpunkt

der Himmelsrose

ist

Gott.

Die

ihn

beschwörenden Verse bilden den Höhepunkt des ganzen Gedichts: O luce eterna che sola in te sidi, Sola t’intendi, e da te intelletta Ed intendente te ami ed arridi! Quelle circolazion che si concetta Pareva in te come lume riflesso Dagli occhi miei alquanto circonspetta Dentro da se, del suo colore stesso, Mi parve pinta della nostra eftige, Per che il mio viso in lei tutto era messo. O ewiges Licht, das nur sich selbst bewohnet, Nur selbst begreift und von sich selbst begriffen Und sich begreifend sich auch liebt und lächelt! Des Kreises Umfang, der in dir beschlossen Vor mir erschien wie rückgestrahlte Helle, Und den mein Aug ein wenig überschaute Der ist mir in sich selbst mit eigner Farbe Mit unsrem Angesicht bemalt erschienen, Weshalb ich ganz den Blick in ihn versenkte.32

^

Par XXXIII, 123 f

13

Die Reflexivität der Verben ist die sprachliche Entsprechung zur Kreisform. Gmelin hat gezeigt, wie im Spiel der erlesenen Worte die drei Personen der Trinität unterschieden werden können. Er bezieht „sidi“ auf den Vater, „intendere“ auf den Sohn und „te ami ed arridi“ auf den Hl. Geist33. Die Einheit der drei bringen Syntax und Terzine zum Ausdruck. Letztere enthüllt an diesem Punkt ihre theologische Be¬ gründung. Das Bild der zweiten Terzine ist die mystische Einheit von Mittelpunkt und Umfang des Kreises34. Es weist nochmals auf die Identität von Vielfalt und Einheit hin. Damit bildet es die logische Voraussetzung der folgenden Terzine. Dante glaubt in Gott sich selbst zu erkennen, oder umgekehrt: Gott erscheint als der Spiegel des Betrach¬ tenden. Eine letzte Identität beider deutet sich an. Sie zu erkennen, muß die Fassungskraft des betrachtenden Individuums übersteigen. Die letzte Erkenntnis ereignet sich in einem Blitzschlag, der für einen Augenblick die Identität herstellt, gleich nachher aber Dante wie Ikarus aus der Höhe herabstürzt an seinen ihm zukommenden Ort im Kosmos. In Beatrice hatte Dante den Ursprung seiner Individualität erreicht. Aber Beatrice war auf Gott bezogen. Sie kann deshalb im „Paradiso“ auch zur Allegorie der Gottesweisheit werden. Die Individualität, die Dante von ihr erhält, gründet also indirekt in Gott. Der Aufflug führt zu diesem letzten Grund. Indem die Mittelsperson wegfällt, tritt in der Individualität das Besondere vor der Einheit zurück. In Gott erkennt Dante den Ursprung seiner Identität. Diese beruht auf der Teilhabe an der göttlichen Vollkommenheit, der Gottebenbildlichkeit. Motivisch wird dieser Zusammenhang im Bericht des Statius über die Erschaffung des Menschen vorbereitet. Gott gibt dem von der Natur zubereiteten Orga¬ nismus die Einheit, indem er ihm die Seele verleiht, „che vive e sente e se in se rigira“35. Der Kreis ist auch das Signum der menschlichen Identität. Diese ist Reflexivität, die ihre inhaltliche Bestimmung aus dem Bezug zum andern Moment der Gottheit erhält, der Vielfalt36. In der Erkenntnis des göttlichen Einen erfüllt sich Dantes Weg zu sich selbst. Dieses höchste Selbst ist nicht mehr der Grund seiner Individualität, sondern der seines Menschseins. Erfuhr er sich im irdischen Paradies als Dante, so erblickt er sich im obersten Paradiso als Gottes Ebenbild. 33

Gmelin III, S. 576

34

Vgl. Georges S. VIII f.

35

Purg. XXV, 76

30

Vgl. Poulets allgemeine Feststellung für diese Epoche: „C’est l’homme qui, ä l’egal de Dieu, se decouvre centre et sphere infinie.“ a. a. O. S. XXIV

14

Poulet,

Les

metamorphoses

du

cercle.

Paris:

Pion

1961.

Beide Ziele des Aufstiegs sind im Landschaftsbild des i. Gesanges des Inferno vorweggenommen, wie der verirrte Dante aus dem finstern Wald zum Fuße eines Hügels tritt: Guardai in alto, e vidi le sue spalle Vestite giä dei raggi del pianeta Che mena dritto altrui per ogni calle. Blickt ich nach oben und sah seine Schultern Schon von den Strahlen des Gestirns bekleidet, Das uns auf jedem Pfade richtig führet.37 Vom Wanderer ist der Dichter Dante deutlich unterschieden. Die Verbindung beider schlägt im Schlußgesang des „Purgatorio“ die Mah¬ nung Beatrices, sich das Gesehene einzuprägen und den Lebenden zu berichten38. Strenggenommen bezieht sich diese Sendung nur auf die unmittelbar vorausgegangene Vision. Da diese aber am Ziel des Auf¬ stiegs steht, setzt sie den Weg dahin voraus. Beatrices Auftrag legiti¬ miert das ganze Gedicht. Dante hält sich dem Leser als Dichter, abge¬ sehen von der kunstvollen Form, durch Leseranreden, Musenanrufe und Reflexionen gegenwärtig. Er unterstreicht dadurch die Distanz zwischen der Erzählung und dem Erzählten. Daß die dargestellte Reise durch das Jenseits führt, macht jedoch diesen Unterschied fiktiv. Das Erzählte ist von der Erzählung nicht abzulösen. Es war und ist nirgendwo anders vorhanden. Das Jenseits erweist sich von da her gesehen als Raum der Dichtung. Es wiederholt sich hier die Struktur, daß Dantes Reise den Raum, indem sie durch ihn führt, erst erschafft. Die „Divina Commedia“ konkretisiert somit die Einheit von Gott und Ich, die an ihrem Ende steht, als Dichtung in umgekehrter Richtung. Dante ist der Dichter Gottes. Sein Gedicht ist eine neuerliche Offenbarung. Gott spiegelt sich in Dantes Individualität. Dem Leser gegenüber übernimmt Dante die Rolle, die im Gedicht Vergil ihm gegenüber auf getragen war. Diese Analogie scheint in Vergils Berufungsbericht im zweiten Gesang des „Inferno“ deutlich durch. Die dichterische Gestaltung ist auf die Lese-Nachfolge ausgerichtet. Diese Gemeinschaft mit dem Leser läßt Dante wohl an den entscheidenden Randstellen des Gedichts, in der ersten Zeile und in der oben zitierten Anrufung Gottes, „wir“ sagen39. Die Leseranreden stehen im Dienst

37

Inf. I, i6f.

38

Purg. XXII, 106

39

Inf. I, i; Par. XXXIII, 132

dieser Aufgabe. Darauf geht auch die gestalterische Grundtendenz zu¬ rück, die Stadien der Reise mit sprachlichen Mitteln zu charakterisieren, ja nachzubilden. Man denke an das Ansteigen der Stillagen in den drei Teilen, das Gefälle zwischen Latinismen und Volkssprache, die Koinzi¬ denz von Gesang und inhaltlicher Einheit, die Dreizahl usw. Als Brücken zum Leser sind die Vergleiche besonders wichtig. Dantes Gleichnisse sind dafür berühmt, daß sie sich häufig auf das alltägliche vorliterarische Leben beziehen. Die Pseudovergleiche („wie einer, der“) rekurrieren auf allgemeine psychische Erfahrungen. Beide Vergleichs¬ gattungen ermöglichen dem Leser, das spirituelle Geschehen innerhalb seines Erfahrungsbereichs zu verifizieren. Damit aber überträgt sich etwas von der Würde des Verglichenen auf den Bildspender. Für unser Motiv heißt das, daß das „Purgatorio“, das die Besteigung eines Berges erstmalig in größter Anschaulichkeit, Genauigkeit und offensichtlich gestützt auf konkrete Erfahrungen, schildert, einen Drehpunkt dafür bildet, das Besteigen des Berges an und für sich bereits als Heilsweg aufzufassen, was immer auch dieses Heil sein möge40. Der Aufflug als eine wenigstens für lange Zeit „unmögliche“ Metapher wurde davon weniger betroffen. Zu Beginn des zweiten Gesangs des „Paradiso“ warnt Dante die Mehrzahl seiner Zuhörer davor, ihm weiter zu folgen, mit dem Hinweis auf das „niebefahrene Meer“, das vor ihm liege41. Für den Himmel, der die Fassungskraft der Memoria übersteigt, gibt es nichts Vergleichbares mehr. Das Kunstwerk wird absolut, nur als absolutes kann es der göttlichen Sphäre gerecht werden. Im „Paradiso“ ist das Verhältnis, daß das Gedicht der einzige Bürge dessen, was es sagt, sei, am reinsten ausgeprägt. Schelling scheint daran gedacht zu haben, als er sagte, das Purgatorio sei das Reich der Malerei, das Paradiso aber das der Musik42. Auf die Dichtung wirkt sich das so aus, daß nun die Grenze der Sprache sichtbar wird. Im „Paradiso“ werden die Unsagbarkeitsbeteuerungen häufiger43. Die bedeutsamste Stelle steht im Schlußgesang44. Hier, 40

41 43 44

16

Vgl. Wilhelm Heilermann van Heel, Der Bergsteiger Dante, Deutsches Dante-Jb. Bd 14, N. F. Bd 5, 1932. S. 82—99. Vf. sieht in Dante und nicht in Petrarca den Ahnherrn des Alpinismus, dessen Ziele er als „Prüfung des Wollens und Könnens, Erziehung des Charakters, Befreiung von den Fesseln des gewöhnlichen Daseins, Erringen der Persönlichkeit“ definiert. Par. II, 1 f. 42 Zit. Gmeiin II, 14. Zum Unsagbarkeitstopos allgemein: Ernst Robert Curtius, Europäische Lite¬ ratur und lateinisches Mittelalter. 2. Aufl. Bern: Francke 1954. S. 168 f. Par. XXXIII, 56 f.

auf dem Höhepunkt des Ganzen, setzt der Unsagbarkeitstopos das Intendierte von der Sprache ab. Damit wird die Sprache zur Grenz¬ linie dessen, was sie transzendiert. Die der Sprache entzogene Dimen¬ sion, auf die sie verweist, ist einerseits Gott, der über alles Begreifen ist. Ihr entspricht im Dichter selbst eine unterhalb der Sprache liegende Schicht, die im Pseudovergleich „la passione impressa“ und in dessen Umsetzung „lo dolce nel cor“ heißt45. Was die memoria nicht zu behal¬ ten vermochte, hat sich erhalten als unartikulierte Gefühlsregung. Der Dichter muß versuchen, göttliche Sphäre und eigene Unmittelbarkeit dem Leser zugänglich zu machen. Hier weist die Unsagbarkeitsbeteuerung voraus auf die Koinzidenz von Ich und Gott, deren Evokation sich unmittelbar anschließt. Gott ist ineffabile wegen seiner Unvergleichlichkeit.

Als Bezugspunkt und Ursprung aller Bewertungen,

denen

Dante in den unteren Regionen begegnet war, steht er jenseits von Gut und Böse. Die Sprache, die, wo sie beschreibt und nicht beschwört, im¬ mer in Relation setzt, hat daher zu ihm keinen Zugang. Dasselbe gilt für den durch Gott angerührten innersten Ort in Dante selbst. Der hohe Ton des „Paradiso“ mündet schließlich in gebetartige Anrufungen. In ihnen treffen die beiden von der diskursiven Sprache angeschlossenen Bereiche zusammen. Im Gebet, als einer Form der Beschwörung, sind Sprecher und Angesprochener eins. Die dreifache Beteuerung der Unsagbarkeit gegen Ende der „Divina Commedia“ bewirkt, daß sie mit dem abrupten Schluß nicht zu Ende ist. Im Leser soll die durch die Sprache eingeleitete Bewegung ebenfalls als passione impressa weitergehen. Auf¬ stieg und Aufflug bilden eine Sprachbewegung, die, nachdem sie das genus sublime erreicht hat, die Sprache hinter sich läßt. Diese sprachliche Nachbildung der Aufschwungsbewegung bedeutet eine Intensivierung des anagogischen Schriftsinns46 im Sinne der Psychagogie, ja der Sug¬ gestion. Was das Gedicht zum Thema hat, den Weg zu sich selbst, sucht es selber für den Leser darzustellen. Wir versuchen,

den Bedeutungshof der beiden Erhebungsmotive

knapp abzustecken, um Modellvorstellungen für das weitere zu ge¬ winnen: Der Aufstieg auf den Berg ist die Bewegung in der Gegenrichtung des Sündenfalls. Er führt stufenweise aus dem Zeitlichen hinaus in den 45

Par. XXXII, 60,63

46

Gmelin passim. Zum vierfachen Schriftsinn bei Dante vgl. Eduard Wechssler, Dante der universale Denker. Deutsches Dante-Jb. Bd 13, N.F. Bd 4, 1931

17 2

Pestalozzi, Lyrisches Ich

Ursprung. Das Ziel ist das ursprünglich geschaffene individuelle Selbst. Es ist mit seinem Namen als einmaliges und einzigartiges, zugleich als dauerndes gekennzeichnet. Es konstituiert sich für Dante durch den freien Willen, dessen Hinwendung zu Beatrice und deren Liebe. Daß er zu diesem individuellen Selbst vordringt, macht Dante zum ausge¬ zeichneten Dichter. Der Aufschwung zu Gott ist die Bewegung in der Gegenrichtung des Schöpfungsvorgangs. Er transzendiert das individu¬ elle Selbst auf die Bedingung seiner Möglichkeit hin. Sein Ziel ist das ewige Selbst, das abstrakt auf Selbstständigkeit und Liebe, d. h. auf der Gottebenbildlichkeit gründet. Es ist in Gott beschlossen. Daß Dante bis dahin vordringt, macht ihn zur Person. Aufstieg und Aufschwung sind somit zwei aufeinander bezogene Phasen von Dantes Weg zu sich selbst. Für den Dichter und für den Leser, die sie nachvollziehen, werden sie zu Stadien der Selbstvergewis¬ serung. Diesen beiden Ausprägungen des Selbst und ihrem Motivhof werden wir im folgenden immer wieder begegnen. Wir werden sie terminolo¬ gisch als individuelles und personales Selbst auseinanderzuhalten suchen.

18

Petrarca Edizione Nazionale delle opere di Francesco Petrarca X, Le Familiari, ed. critica p. c. di Vittorio Rossi. Vol. I. Firenze: Sansoni 1932 Familiarum Rerum Liber IV, 1. S. 153—61. Deutsche Übersetzung: Briefe des Francesco Petrarca. Eine Auswahl übersetzt von Hans Nachod und Paul Stern. Berlin: Die Runde 1931. — Diese Übersetzung neuerdings in: Petrarca, Dichtungen, Briefe, Schriften. Auswahl und Einleitung von Hanns W. Eppelsheimer. Frankfurt: Fischer 1956 (Fischer-Bücherei 141) S. 80—89

Der Brief, in dem Petrarca einem Freund aus dem Augustiner Orden seine Besteigung des Mont Ventoux berichtet1, ist eine der berühmtesten Gestaltungen des Aufstiegmotivs. Er gilt als Kronzeugnis für das Er¬ wachen des neuzeitlichen Individualismus in der Renaissance. Das berechtigt, ihn hier einzubeziehen, obwohl damit nochmals die Beschrän¬ kung auf die Lyrik, die sich diese Arbeit vorgenommen hat, aufgegeben wird. Der Brief steht jedoch in der Nähe von Petrarcas lyrischem Werk. Er gibt sich als Darstellung eigener Erfahrung. Zugleich ist er so auffallend und konsequent stilisiert, daß er als Dichtung gelten kann. Petrarca hat seinen Brief bekanntlich nachträglich für die Briefsamm¬ lung der „Familiäres“ redigiert. Man hat sogar seinen Erlebnisgehalt ernsthaft angezweifelt2. Audi von seinem Thema her ist er der Lyrik 1 2

Ad Dyonisium de Burgo Sancti Sepulcri ordinis sancti Augustin! et sacre pagine professorem, de curis propriis. Vgl. Giuseppe Billanovich, Petrarca Letterato I. Lo scrittoio del Petrarca. Roma 1947. S. 193—95. Billanovich hält den Brief für fiktiv. Er sieht darin eine allegorische Darstellung der religiösen Krise Petrarcas von 1340, was ihn auch zu einer anderen Datierung veranlaßt. Diese sehr einseitige Deu¬ tung rückt immerhin die literarischen Qualitäten des Briefes stärker ins Licht, die lange hinter den autobiographischen zurücktraten. Da wir uns ganz auf den Text zu stützen suchen, der gerade das Verhältnis von Erlebnis bzw. Erfahrung und Tradition umkreist, können wir die Frage nach dem tatsäch¬ lichen Erlebnisgehalt auf sich beruhen lassen. 19

2*

PORTER LIBRARY

verwandt. So kann er denn im folgenden in erster Linie als literarischer Text betrachtet werden. Der erste Satz des Briefes nennt als Motivation für den Aufstieg „sola videndi insignem loci altitudinem cupiditate ductus“3. „Cupiditas“ ist sinnliches Verlangen. Es wird als durch zwei Faktoren begründet dar¬ gestellt. Einerseits durch die Landschaft. Petrarca hat, seit er in der Pro¬ vence wohnt, den Mont Ventoux überall ständig vor Augen. Er bestieg ihn, wie er sagt, gewissermaßen täglich. Die Anregung dazu ist also vom Berg selbst angegeben. Doch blieb sie latent, bis eine zufällig aufge¬ schlagene Textstelle die latente Bereitschaft aktualisierte. Petrarca stieß bei Livius auf die Besteigung des Hämon durch Philipp von Mazedo¬ nien. Sie löste den entscheidenden Impuls aus. Landschaft und Lektüre bewirken also zusammen den Entschluß. Beide unterstehen nicht der Verfügungsgewalt des Ich. Was sich jedoch aus ihrem Zusammenspiel er¬ gibt, macht sich Petrarca nachträglich zu eigen. Das zeigt sich bei der Wahl seiner Begleiter. Er suchte alle störenden Momente fernzuhalten. Der Bruder, den er schließlich mitnimmt, von den anonymen Dienern ist praktisch nicht die Rede, stört darum nicht, weil er, obwohl ein ande¬ rer, doch eng zu ihm gehört. Der Brief gibt die Gespräche mit ihm nur andeutungsweise wieder. Die direkte Rede ist ausschließlich den Selbst¬ gesprächen Vorbehalten. Wie gegen andere Menschen schirmt Petrarca seinen Entschluß auch gegen allgemeine Vorurteile und Meinungen ab. Er schlägt nicht nur die Bedenken des alten Hirten in den Wind. Daß er sich zur Legitimation so nachdrücklich auf das antike Vorbild eines Königs beruft, deutet darauf, daß er allgemeinere Widerstände befürch¬ tete. Der Berg mochte als von Geistern und Dämonen bewohnt gelten4, 3

4

Joachim Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. Münster: Aschendorf 1963 (Schriften der Gesellschaft zur Förde¬ rung der westfälischen Wilhelms Universität zu Münster. Heft 54) sieht in dieser Motivation den Einfluß der antiken Theoria-Lehre. „Er [Petrarca] ersteigt, alle praktischen Zwecke hinter sich lassend, den Berg, um auf dem Gipfel, getrieben allein vom Verlangen zu schauen, in freier Betrachtung und Theorie an der ganzen Natur und an Gott teilzuhaben.“ (S. 12) Ritter ak¬ zentuiert den Brief einseitig zugunsten seines allgemeinen Themas. Der IchAspekt bleibt ganz außer acht. Da aber beide Aspekte eng zusammenge¬ hören, verdanke ich Ritter, vor allem auch seinen reichen Anmerkungen, manche Anregung. Welchen Problemen von dieser Seite die Humanisten gegenüberstanden, zeigt noch die von Pomponius Mela angeregte Erkundungstour Vadians zum Pilatus-See 1518. Vgl. Werner Näf, Vadian und seine Stadt St. Gallen. 2 Bde St. Gallen: Fehr 1944/57. I, S. 272, II, S. 63 ff.

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und auch der christliche Gott ist ein Gott der Höhe. Der Aufstieg, von Landschaft und Literatur eingegeben, wird so zu Petrarcas eigener Sache. Er läßt sich an als ein kleines Kolumbusunternehmen5, das ihn aus dem Gewohnten und Vertrauten löst und in eine terra incognita in der Höhe führt, wo er mit sich allein ist. Nach der Exposition gliedert sich der Brief, den drei Phasen des Unternehmens entsprechend, in Aufstieg, Aufenthalt auf dem Gipfel und Abstieg. Der Aufstieg beginnt unter guten inneren und äußeren Bedingungen. Doch der Anfangselan wird bald durch den Widerstand der „natura loci“ gebrochen. Petrarca scheut steile Elänge und sucht so lange nach bequemeren Aufstiegspfaden, bis er sich vor Ermattung hin¬ setzen muß. Soweit ist der Bericht realistische Schilderung unmittelbarer Bergerfahrung. Dann heißt es: „Illic a corporeis ad incorporea volucri cogitatione transiliens, his aut talibus me ipsum compellabam verbis.“ Es setzt eine „cogitatio“ ein, die sich vom Körperlichen zum Unkörper¬ lichen bewegt. Das sind Grundkategorien, die auch an anderen Stellen des Briefes genannt werden. Was unter ihnen zu verstehen ist, wird aus der Konkretisierung des zitierten Satzes deutlich. Petrarca denkt über seine Erfahrung mit dem Berg nach. Er orientiert sich dabei offensicht¬ lich an der scholastischen Theorie vom vierfachen Sinn einer Schrift¬ stelle6. Die gemachte körperliche Erfahrung stellt dabei den sensus litteralis. Im Hinblick auf den theoretisch-dogmatischen Schriftsinn — quod credas — bringt Petrarca sie mit der Stelle Matth. 7, 14 in Zusammen¬ hang, der biblischen Quelle für den Topos von den zwei Wegen. Er deutet den beschwerlichen Aufstieg als Weg zum seligen Leben auf dem Gipfel. Daraus leitet er, entsprechend der Frage nach dem praktisch¬ moralischen Schriftsinn — quod agas — die Aufforderung ab, weiter¬ zusteigen, wenn er nicht im Tal der Sünde bleiben und dort vom Tod ereilt werden wolle. Diese Einsicht gibt Körper und Geist neue Kraft, so daß der Aufstieg zu Ende geführt werden kann. Der Briefschreiber trägt noch den pneumatischen Schriftsinn — quod speres — nach: Der körperliche Aufstieg ist ihm eine Vorausdeutung auf den körperlosen Aufschwung der Seele „in ictu trepidantis oculi“ am Lebensende. — „Corporea“ sind also die unmittelbaren Erfahrungen mit der wider¬ ständigen Berggegend. „Incorporea“ heißen die Deutungen, mit denen 5

Darauf weist besonders hin Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit.

c

Frankfurt: Suhrkamp 1966. S. 336—38. Zum vierfachen Schriftsinn vgl. Eduard Wechssler, Dante der universale Denker. Deutsches Dante Jb. Bd 13, N. F. Bd 4, 1931 21

die Erfahrung in Zusammenhang gebracht wird. Diese sind in der stoisch-christlichen Tradition vorgegeben7. Die „cogitatio“, die zwischen beiden vermittelt, wäre etwa mit Reflexion zu übersetzen. Sie ist rück¬ wärtsgewandt, ihre Form ist das Selbstgespräch, und sie verfährt so, daß sie die neue aktuelle Erfahrung in den Vorstellungen der Tradition spiegelt. In dieser Spiegelung gelangt Petrarca zur Erkenntnis seiner selbst. Was er so beim Aufstieg an sich erkennt, läßt sich allgemein als conditio humana im christlichen Sinn bezeichnen; als Situation des Men¬ schen zwischen Sünde und Seligkeit, Verdammnis und Erlösung. Er teilt sie mit den andern Menschen. Darauf deutet gleich der erste Satz der Reflexion: „Quod totiens hodie in ascensu montis huius expertus es, id scito et tibi accidere et multis, accedentibus ad beatam vitam.“ — Das Einmalige und Einzigartige von Petrarcas Aufstieg auf diesen Berg scheint in der Spiritualisierung metaphorisch aufgelöst zu werden. Doch gilt diese Ausdeutung nur ad hoc. Keine Rede davon, daß fortan der Aufstieg insgesamt als menschlicher Heilsweg gesehen würde. Die bei¬ gezogenen Vorstellungen sind ohne Verbindlichkeit über den Moment hinaus. Sie dienen Petrarca nur dazu, seine Erfahrung ins Bewußtsein zu bringen, auszusprechen und daraus eine Folgerung zu gewinnen. Die christlich-stoische Tradition fungiert nicht als Dogma, sondern als Lite¬ ratur8. Wir erkennen hier jenes Verhältnis von Landschaftserfahrung und Literatur wieder, das wir zu Beginn bei der Entschlußfassung beob¬ achten konnten. Auch hier heißt es: me ipsum compellebam. Auf dem Gipfel begegnet Petrarca eine veränderte landschaftliche Situ¬ ation. Staunend — „stupenti similis“ — steht er vor dem Anblick, der sich vor ihm auftut. Er hat Assoziationen an Athos und Olymp, ange¬ sichts der Alpen kommt ihm Hannibals Alpenübergang nach Livius bis in Einzelheiten in den Sinn. Wiederum erschließt ihm die Literatur, was er vor sich sieht. Hier wird noch deutlicher als beim Aufstieg, daß es sich dabei um einen Vorgang der Benennung und Identifizierung handelt. — Die Aussicht gegen Italien löst in ihm einen wehmütigen Affekt aus und in dessen Gefolge die Erinnerung an sein Leben9. Die einführende For7

Vgl. das Dante-Kapitel und die dortigen Hinweise.

8

Diese Veränderung in der Funktion der dogmatischen Vorstellungen hat Friedrich für die Lyrik Petrarcas festgestellt. Hugo Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt: Klostermann 1964. S. 181 Zum Verhältnis Ich-Landschaft S. 210 f.

9

Jacob Burckhardt weist auf die Kausalität von Landschaftseindruck und Er¬ innerung hin. Die Kultur der Renaissance in Italien. Stuttgart: Kröner 1952 (Kröners Taschenausgabe Bd 53) S. 278

22

mei nimmt die der Aufstiegsreflexion auf: „Occupavit inde animum nova cogitatio atque a locis traduxit ad tempora.“ „Corporea“ sind nun spezifiziert als biographisch geprägte Landschaft und erinnerte Le¬ benszeit. Die Reflexion darauf benutzt wiederum einen literarischen Spiegel. Petrarca vergegenwärtigt sich sein hinter ihm liegendes Leben nach dem Vorbild Augustins10. An ihm orientiert sich der Vorsatz, der¬ einst eine Autobiographie zu schreiben. Die folgenden Gewissenserfor¬ schungen sind ein Ansatz dazu, worin das Vorbild bis in den Stil am Werk ist. Mit Hilfe Augustins gelingt Petrarca eine Selbsterkenntnis individuellerer Art als beim Aufstieg. Er überblickt sein Leben als gan¬ zes, auch den künftigen Verlauf, und gelangt zur Einsicht in die darin wirkenden Tendenzen. So wird er sich selbst in seiner Individualität, d. h. seiner vielfältigen raum-zeitlichen Existenz, faßbar. Wie Ernst Cassirer sagt: „Das lyrische Genie der Individualität entzündet sich an dem religiösen Genie der Individualität.“11 Es zeigt sich nun auch hier, daß von der literarischen Tradition, in der sich die Erfahrung formu¬ liert, Impulse ausgehen. Petrarca gerät in eine eigentliche imitatio Augustini. Sein Griff nach den „Confessiones“ ahmt Augustins Griff nach der Bibel auf den geheimnisvollen Anruf „tolle lege“ hin nach. Das wird daran deutlich, daß Petrarca als Parallele zu der Stelle, die er auf¬ schlägt, nicht nur die Verse Röm. 13, 13 und 14 anführt12, die für Augu¬ stin entscheidend waren, sondern auch die Bekehrung des Antonius auf Grund von Matth. 19, 21, die ihrerseits Augustin den Anstoß gegeben hatte. So kommt es zur Reihe: „Et sicut Antonius, his auditis, aliud non quesivit, et sicut Augustinus, his lectis, ulterius non processit, sic et mihi.. .“ Die Stelle, die Petrarca zufällig aufschlägt, lautet: „Et eunt homines admirari alta montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et oceani ambitum et giros siderum, et relinquunt se ipsos.“13 Augustins Bekehrung bildet das innere Zentrum seiner „Con¬ fessiones“. Durch sie erhielt er in der Begegnung mit Gott den Fixpunkt, in bezug auf den er sein Leben darstellen konnte. Die durchgehenden Gottesanreden stiften in der wechselvollen Lebensbeichte die thematische

10

Zur Bedeutung Augustins für das Bewußtsein der Renaissance vgl. Konrad Burdach, Reformation Renaissance Humanismus. 2. Aufl. Berlin—Leipzig:

11

Paetel 1926. S. 159 f. Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1. A. 1927) 2. unv. Auflage Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1963. S. 136

12 13

Confessiones VII, cap. 12 Confessiones X, cap. 8

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\

und stilistische Einheit. Petrarca holt die Bekehrung nach, nachdem er schon den den Confessiones entsprechenden Überblick über sein Leben gewonnen hat. „Obstupui fateor“, seine Reaktion auf die AugustinStelle, ist ein Nachhall des „stupenti similis steti“, das den ersten Gipfel¬ eindruck wiedergibt. Das Konkurrenzverhältnis beider Anstöße, des landschaftlichen und des literarischen, zeigt sich alsbald. Zunächst ist nicht so recht verständ¬ lich, weshalb die Augustin-Stelle Petrarca so sehr trifft. Er hatte ja gerade den Blick immer wieder „ad se ipsum“ gerichtet, ja darüber sogar vergessen, wo er sich befand. Obwohl das Augustin-Zitat durch die Verwendung von „mirari“ in der wiederaufgenommenen Aussichts¬ schilderung vorbereitet ist, zielt seine Kritik offensichtlich tiefer. Sie gilt eben jener Abhängigkeit des Ich von der Landschaft, die der Berg¬ besteigung als ganzer und ihren einzelnen Phasen zugrunde liegt, und die nichts anderes bedeutet, als daß das Selbstbewußtsein von der jewei¬ ligen körperlichen Situation bedingt, also natürlich ist und erst nach¬ träglich seine Prägung durch den Geist bekommt. Das Selbst dagegen, wie Augustin es versteht, liegt jenseits aller irdischen Erscheinungen und ihrer Abbilder im Gedächtnis14. Daher kann es nicht ohne Gott gedacht werden. Das irdische Leben in Raum und Zeit gehört ihm gerade nicht zu. Es ist allenfalls seine Hohlform. Dieses Selbst gewinnt der Mensch nur durch die Transzendierung alles Natürlichen. Augustin, das zeigt sich nun, ist ein zweideutiges Vorbild. Die „Con¬ fessiones“ sind einerseits literarische Autobiographie und ermöglichen es Petrarca, rückblickend sein eigenes Leben in entsprechender Weise in den Blick zu bekommen. Dabei aber ist ihre religiöse Ausrichtung nicht auszuschalten. Die in Zeit und Raum erfaßbare Individualität wird darin dargestellt, um transzendiert zu werden auf Gott hin. So wird die individualisierende Selbsterkenntnis von demselben Werk, das sie ermöglicht, auch wieder in Frage gestellt. Die lyrische Individualität wird so scheint es — durch die religiöse, die sie entzündete, sogleich wieder erstickt. Wie aber in Augustins „Bekenntnissen“ Vielfalt der äußeren Lebens¬ ereignisse und transzendenter Fixpunkt sich gegenseitig bedingen, so ist 14

24

Die Stelle steht im Zusammenhang mit Augustins Ausführungen über die memoria. X, cap. 17 heißt es: Ecce ego adscendens per animum meum ad te, qui desuper mihi manes, transibo et istam vim meam, quae memoria vocatur, volens te attingere, unde attingi potes, et inhaerere tibi, unde inhaereri tibi potest.

die Infragestellung der Selbsterkenntnis, zu der Petrarca bisher gelangt war, gerade deren Weiterführung. Hatte Petrarca bisher auf dem Gipfel die Totalität seiner Lebensumstände in den Blick bekommen, so wird er nun auf den Punkt hingeführt, von dem aus das Ganze seine Einheit erhält. Es ist sein innerster Kern, sein personales Selbst. Das drückt die Feststellung aus: „mihi et non alteri dictum rebar.“ Hier ist jene Selbst¬ erkenntnis Petrarcas, die mit der Einsicht in seine conditio humana begonnen hatte, am Ziel, er kann sich nun in einer Reihe mit den großen heiligen Individuen Antonius und Augustin sehen. Dieses Selbst konnte ihm nicht mehr die Landschaft eingeben. Es gründet in Augustins Buch, das in bezug auf die Landschaft die Trans¬ zendenz repräsentiert. Die Literatur ist an diesem Punkt im Verhältnis zur Landschaft das Primäre geworden. Petrarca bleibt jedoch durch seine Existenz der Landschaft und dem, was sie in ihm erregt, verhaftet. Jenes transzendente Selbst muß der Erfahrung notwendigerweise unzugäng¬ lich bleiben. Es wirkt sich jedoch indirekt aus als Sündenbewußtsein, das die Erkenntnis der irdischen Individualität tingiert. Im Bewußtsein der eigenen Sündhaftigkeit trägt Petrarca in aller Bestimmbarkeit durch die Landschaft den Bezug auf das in Gott gehaltene Selbst bei sich. Daß dadurch der Wert der irdischen Existenz trotzdem erhalten bleibt, geht daraus hervor, daß die Betroffenheit durch die Augustinstelle nicht eine wirkliche Metanoia in die Wege leitet. Reflexionen über die Sünde, in denen man Nachwirkungen der Au¬ gustinstelle sehen kann, begleiten den Abstieg. Sie deuten auch den Ab¬ stieg auf den Abfall des Menschen von Gott und dem ursprünglichen Zustand. Das Verfahren orientiert sich wie beim Aufstieg am vierfachen Schriftsinn. Der kleinerwerdende Gipfel wird dabei widersprüchlich aus¬ gelegt. Er ist einerseits Abbild der verlorenen Höhe der menschlichen Kontemplation, anderseits aber „cacumen insolentie“, Gipfel mensch¬ licher Hybris. Das entspricht der Doppelheit der Selbsterkenntnis, die er ermöglicht. Dann verbreitern sich die Reflexionen mehr und mehr ins Allgemeine. So gelangt Petrarca zurück aus der Höhe der Selbsterkennt¬ nis in die unter dem Zeichen des Mondes stehende Landschaft15. Die Besteigung des Mont Ventoux zeigt das Ich Petrarcas im Span¬ nungsfeld von Landschaft und Literatur. Die Landschaft hat den Primat. Sie löst Affekte, Stimmungen, körperlich-seelische Zustände aus. In der 15

Billanovich hat errechnet, daß der Mond an dem von Petrarca angegebenen Tag nicht schien! A.a.O. S. 197 (vgl. Anm. 1) 25

Anlage des Briefes zeigt sich das daran, daß in jedem der drei Abschnitte die Landschaftserfahrung der Selbstreflexion vorangeht. Die Landschaft ist vielfältig. Sie gibt dem, der sie durchwandert, ständig neue Ein¬ drücke. Das wird ausgesprochen in dem Hinweis „pro varietate locorum mutatis forsan affectibus“. Die Bergbesteigung besteht aus der Abfolge von drei verschiedenen Landschaftserfahrungen. Der Mont Ventoux ist dabei nicht ein Landschaftspunkt unter anderen. Er dominiert die Region von Vaucluse, da er als die höchste Erhebung im Umkreis von überall her sichtbar ist. Er ist ein Ort außerhalb der sonstigen Land¬ schaft. Er gibt Petrarca die Möglichkeit, auf die vielfältigen Gegenden, die sonst sein Leben bestimmt haben, von oben herabzublicken. Die Ein¬ wirkung des Gipfels liegt gerade in der Distanznahme, im räumlichen und zeitlichen Überblick. Er evoziert Erinnerung und Hoffnung, die complicatio der Zeiten16 im Sinne des Cusanus. Innerhalb der Landschaft ist mit Tal und Berg ein Gegensatz von Unmittelbarkeit und Distanz, von Abhängigkeit und Freiheit gegeben. Die durch die Landschaft eingegebenen Zustände bezieht die Refle¬ xion auf literarisch vorgegebene Vorstellungen. Dadurch werden sie sprachlich faßbar. Sie können erkannt werden, so daß sich daraus für das Bewußtsein Folgerungen ergeben. Die Anwendung der scholasti¬ schen Auslegungsmethode setzt voraus, daß in den landschaftlichen Zu¬ ständen wie in einer Bibelstelle ein mehrfacher Sinn für das betroffene Ich enthalten sei, der durch die literarischen Spiegelungen zum Vorschein kommt. Dadurch aber erhalten die traditionellen Vorstellungen zugleich eine Verankerung in der individuellen Erfahrung. Indem sie den Zu¬ ständen des Ich zum Ausdruck verhelfen, werden sie lyrisiert. Die Folge ist die beobachtete Einschränkung ihrer universalen Gültigkeit. Sie wer¬ den in den landschaftlichen Wechsel miteinbezogen.

Ihre erhellende

Funktion erfüllt die Literatur jedoch nur dann, wenn sie zugleich tradi¬ tionell bleibt. Nur so kann sie den wechselnden Zuständen Dauer ver¬ leihen, sie verewigen. „Ewig“ ist bei Petrarca noch immer ein qualita¬ tiver Begriff: die Autoren gehören dem traditionellen Kanon nicht nur aufgrund ihrer Berühmtheit an, also der zeitlichen Dauer, sondern diese Berühmtheit gründet in der Korrespondenz mit der christlichen Heilslehre. Auch die profanen Autoren verweisen so auf Gott. In diesem Sinn vermag die literarische Spiegelung die wechselnden Zustände auch in¬ haltlich zu verewigen. 16

26

Cusanus braucht zur Veranschaulichung der Complicatio auch den Blick aus der Höhe. Vgl. J. Ritter, Landschaft. Anm. 39

Dieses Verhältnis von Landschaft und Literatur gilt auch für die Position auf dem Gipfel, und zwar für beide Phasen. Die complicatio der Zeiten, welche der Überblick vom Berg ermöglicht, tendiert nach dem Beispiel Augustins zur literarischen Gestaltung17. Aus dem Bezug auf die „Confessiones“ erhielten sie, noch bevor diese genannt werden, ihre stilistische Form. Die vom Berg ausgehende Inspiration wird von Augustin geprägt. — Petrarcas Formulierungen lassen die Tendenz er¬ kennen, auch die direkte Begegnung mit Augustin aus dem Berg ab¬ zuleiten. Er schiebt nach den ersten Gipfelreflexionen nochmals einen Blick auf die Landschaft ein und fährt dann fort: „Que dum mirarer singula et nunc terrenum aliquid saperem, nunc exemplo corporis animum ad altiora subveherem, visum est mihi Confessionum Augustini librum... inspicere.“ Der Griff nach Augustin wird als durch das Beispiel des Kör¬ pers, also indirekt vom Berg angeregt beschrieben. Auf das Fehlen einer bewußten Aktion weist auch die Zufälligkeit. Die Betroffenheit durch Augustin gibt, wie gezeigt wurde, Petrarca die Möglichkeit, seine in¬ dividuelle Existenz auf sein personales Selbst hin zu transzendieren. Dieser Akt des Transzendierens erscheint damit ebenfalls als vom Berg eingegeben. Dadurch, daß der Mont Ventoux Petrarca dazu bringt, im Spiegel Augustins die Totalität seiner irdischen Existenz und sein transzenden¬ tes Selbst zu erkennen und beide in eins zu sehen, wird die Bergbestei¬ gung für ihn zur Expedition zu sich selbst. Er selbst ist die terra incognita, die er in der Höhe entdeckt. Weil diese Selbsterkenntnis an einen bestimmten Ort gebunden ist, droht sie mit dessen Verlassen verloren zu gehen. Der Brief ist gegen diese Unbeständigkeit geschrieben. Er soll das Durchlebte festhalten in doppelter Weise. Einmal als ein Ganzes: Er rafft das ausgedehnte Unter¬ nehmen zu einer überschaubaren Einheit. Auf die Differenz zwischen Erzähl- resp. Lesezeit und erzählter Zeit ist ausdrücklich hingewiesen18. Dann durch seine Stilisierung. Seine gehobene lateinische Sprache orien¬ tiert sich an Cicero und Augustin. Zitate aus Vergil, Ovid und der Bibel sind eingebaut19. Seinen Gehalt fassen die letzten Sätze zusammen:

17

18 19

Die Inspiration zu seinem Epos ,Africac, einer Dichtung über Scipio Africanus, und die Anregung zu dessen Vollendung kamen Petiarca auch auf Bergeshöhe, wie er im „Brief an die Nachwelt“ berichtet. et unam, precor, horam tuam relegendis unius diei mei actibus tribue. „cogitatio“ z. B. ist ein von Cicero bevorzugter Terminus. — Nachweis der Zitate in der Edizione Nazionale.

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Er ist Darlegung der „universa vita“ und der „singuli cogitatus“ mit der Tendenz „ad unum, bonum, verum, certum, stabile“. Wir erkennen in dieser Doppelheit die beiden Pole des Selbst, dessen Fixierung der Brief zu sein sucht. Nicht nur für den Adressaten, sondern auch für den Schreiber. Der Brief ist ein Zeugnis für dessen Selbsterkenntnis noch dann, wenn er wieder im Banne der wechselnden Landschaft steht, die ihn andere Er¬ fahrungen machen läßt. Der eigene Brief kann für ihn die Funktion übernehmen, welche Augustins „Confessiones“ erfüllten. Die schriftliche Fixierung schafft einen von der Landschaft unabhängigen Raum. Sie garantiert die Einheit von individuellem und transzendentem Selbst20. Das entscheidend Neue an Petrarcas Gestaltung des Aufstiegmotivs kann ein kurzer Vergleich mit der Dantes im „Purgatorio“ akzen¬ tuieren. Der grundlegende Unterschied zeigt sich an Verhältnis und Funktion von spiritueller und erfahrener Topographie. Auch Dante zieht an manchen Stellen offensichtlich eigene Bergerfahrungen heran. Sie sollen dem Leser die imaginäre Topographie anschaulich machen. Daher stehen sie im Vergleich. Den Primat hat die spirituelle Bedeutung des Berges. — Auch Petrarca verwendet die traditionellen Bergdeutun¬ gen. Die Reflexionen darauf beim Aufstieg etwa scheinen direkt im Schatten der „Divina Commedia“ zu stehen. Von Dante her metaphorisiert Petrarca dort seine Lage. Doch voraus geht die Erfahrung. Das Verhältnis von Erfahrung und Deutung liegt also bei Dante und Petrarca genau umgekehrt. Dabei kommt es jedoch Petrarca offensichtlich nicht mehr so sehr darauf an, seine Bergbesteigung im Lichte der traditio¬ nellen Vorstellungen zu deuten. Diese dienen ihm eher als Spiegel, sein erstmaliges und somit unerhörtes Unternehmen geistig zu erfassen. Sie sind ihm nicht so sehr durch ihren Gehalt wichtig, denn als Gestaltun¬ gen dessen, was er in der Wirklichkeit erfährt. Auch Augustin benutzt er zunächst als Spiegel. So wird das überlieferte Metapherngut bei¬ gezogen, um die eigene Erfahrung zu formulieren und zu begreifen. Die Besteigung des Mont Ventoux wird gewissermaßen zur erlebten Meta¬ pher. Dadurch wird der Erfahrung selbst spirituelle Bedeutung ver¬ liehen. Die Besteigung des Mont Ventoux bedeutet ihn nicht nur, son¬ dern ist tatsächlich für Petrarca der Weg zu sich selbst. Das heißt nichts Geringeres, als daß der Ursprung des Geistes und der Selbsterkenntnis

20

28

Diese Polarität entspricht der von Mittelpunkt und Kreis, deren Übergang von Gott auf den Menschen zu Beginn der Neuzeit Georges Poulet heraus¬ gearbeitet hat. (Vgl. das Dante-Kapitel dieser Arbeit, Anm. 34, 36)

in die erfahrbare irdische Wirklichkeit gelegt wird. Zwar sucht Petrarca noch beide Ursprünge des Geistes zu verbinden, wie das Zusammen¬ spiel von Erfahrung und Literatur auf dem Gipfel zeigt. Dadurch aber, daß er die eigene Erfahrung zum Ausgangspunkt nimmt, ist die ent¬ scheidende Wendung vollzogen. Die Doppelheit wird am Bergmotiv deutlich. Der Berg erregt in Petrarca die cupiditas aufzusteigen. Er hat damit gewissermaßen die Funktion Beatrices übernommen. Die Erkenntnis, die er vermittelt, liegt im Überblick über das durchlebte und künftige Leben. Petrarca tut, indem er vom Gipfel zurückschaut, was Dante beim Aufstieg streng verboten ist und was ihm das Lethebad vollends unmöglich macht. Petrarcas natürliche Selbsterkenntnis bekommt durch Augustin eine geistige Ergänzung. Als Mittler zu Gott ist ihm die andere Haupt¬ funktion Beatrices übertragen. Wir haben gesehen, daß Petrarca Berg und Augustinlektüre als notwendig zusammengehörig darstellen wollte. Aber die Disparatheit ist mit Händen zu greifen. Der Aufstieg wird für Petrarca nur deshalb zum Weg der Erkenntnis seines auf Gott bezo¬ genen personalen Selbst, weil er die „Confessiones“ in der Tasche hat. Es braucht das Buch, um ihn an sich selbst zu erinnern. Wenn Petrarcas Brief so den Zusammenhang von Bergbesteigung und Selbsterkenntnis im doppelten Sinn auch nicht eindeutig zu dedu¬ zieren vermag, so konstituiert er ihn doch. Er setzt den Zusammenhang von wirklicher Bergbesteigung und Weg zu sich selbst. Während Dantes Werk eine ehrwürdige Tradition zusammenfaßte, begründete Petrarcas Brief, auch er ist einer „Posteritati“, eine neue.

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Giordano Bruno

Giordano Bruno, Dialoghi italiani. Nuovamente ristampati con note da Giovanni Gentile. Terza edizione a. c. di Giovanni Aquileccia. Firenze: Sansoni 1957 [zit. Gentile] Giordano Bruno. Gesammelte Werke, hrsg., verdeutscht und erläutert von Ludwig Kuhlenbeck. Bd 3: Zwiegespräch vom unendlichen All und den Wel¬ ten. 2. Aufl., Jena: Diederichs 1904. [zit. Kuhlenbeck] Giordano Bruno, DegP Heroici Furori. Des fureurs h^roi'ques. Texte £tabli et traduit par Paul-Henri Michel. Paris: Les belle« lettres 1954 (les classiques de l’humanisme) [zit. Michel] Jordani Bruni Nolani, Opera latine conscripta, recensebat F. Fiorentino. Vol. I, Pars 1. Neapoli: Morano 1879. Faksimile-Neudruck Stuttgart—Bad Cannstatt: Frommann 1962. [zit. Fiorentino]

Seinem Dialog „De l’infinito, universo e mondi“ von 1583 hat Giordano Bruno drei Sonette vorangestellt, die unser Motiv umkrei¬ sen1. Das erste „Mio passar solitario“ exponiert das Thema des Auf¬ schwungs.

Es benutzt das biblische Bild des

„einsamen

Sperlings“

(Ps. 102, 8) für das Herz, das aufgefordert wird, sich mit höheren Din¬ gen zu befassen. Im Anruf „rinasci la“ klingt der Geist der Renaissance unmittelbar nach. Als Führer für den Aufschwung wird ein Gott emp¬ fohlen, „che da chi nulla vede

h cieco detto“. Die sprichwörtliche Blind¬

heit Amors wird in kühner Dialektik denen angelastet, die ihn nicht kennen und in eigener Unwissenheit eingeschlossen sind. — Das zweite Sonett „Uscito de prigione angusta e nera“ feiert den gelungenen Aus¬ bruch. Es wendet sich dankbar an Phöbus, den Pythonbesieger, der auch das Herz aus Nacht befreit hat. Er wird als „mio sol“, „mia diva

1

Gentile S. 364 f., Kuhlenbeck S. 25. — Gentile übt an Kuhlenbecks Über¬ setzung harte Kritik: „Ne possiede la conoscenza, abbastanza sicura, della nostra lingua.“ S. XLIX. Der Vorwurf erscheint nicht unberechtigt ange¬ sichts der Wiedergabe von „Mio passar solitario“ durch „Mein einsam Wandeln“, wo doch Bruno in den „Heroici furori“ (Michel S. 209 f.) das Sperlings-Bild ausführlich kommentiert.

30

luce“, „alma dia voce“ angeredet. Die Vielfalt der Apostrophen deutet auf die Schwierigkeit hin, das rettende Prinzip zu benennen. Phöbus ist nur eine Metapher dafür. Auch hier scheint jener Zusammenhang von Unwissenheit und Unerkennbarkeit mitzuspielen. Das dritte Sonett lautet: E chi mi impenna, e chi mi scalda il core? Chi non mi fa temer fortuna o morte? Chi le catene ruppe e quelle porte, Onde rari son sciolti ed escon fore? L’etadi, gli anni, i mesi, i giorni e Pore? Figlie ed armi del tempo, e quella corte A cui ne ferro, ne diamante

&

forte,

Assicurato m’han dal suo furore. Quindi Pali sicure a Paria porgo, Ne temo intoppo di cristallo o vetro, Ma fendo i cieli e a Pinfinito m’ergo. E mentre dal mio globo a gli altri sorgo E per l’eterio campo oltre penetro: Quel ch’altri lungi vede, lascio al tergo. Und wer beflügelt mich, und wer erhitzt mir das Herz? Wer macht mich Fortuna oder Tod nicht fürchten? Wer sprengte die Ketten und jene Pforten, Aus denen selten jemand gelöst wird und hinausgeht? Die Alter, die Jahre, die Monate, die Tage und die Stunden, Töchter und Truppen der Zeit, und jener Hof, Dem weder Eisen noch Diamant beikommt, Haben mich vor seinem Furor gesichert. Daher biete ich der Luft die sicheren Flügel, Kein Hindernis fürchte ich von Kristall oder Glas, Sondern ich spalte die Himmel und erhebe mich ins Unendliche. Und während ich von meinem Erdball zu den andern aufsteige Und durch das aetherische Gefilde weiterdringe, Lass ich, was ein anderer in der Ferne sieht, im Rücken.2

2

Diese Übersetzung soll lediglich eine Verständigungsbasis darstellen. Es ist im Zusammenhang dieser Arbeit von Interesse, daß Heinrich von Stein, der sich in Halle mit einer Studie über Bruno habilitiert hatte, an Nietzsche in einem Brief (17. Mai 1884) neben zwei weiteren folgende Übersetzung dieses Sonetts sandte: 3i

Dieses Sonett wurde von Bruno, in lateinische Hexameter umge¬ dichtet und mit einigen bedeutsamen Erweiterungen versehen, dem Ge¬ dicht „De immenso et innumerabilibus“ von 1591 als Anfang eingefügt. Bruno verfuhr auch in anderen Fällen so. Die exponierte Stelle dieses Gedichts im Prooenium des späteren Werks gibt jedoch diesen Versen eine besonders repräsentative Bedeutung. Die erste Zeile des Sonetts stellt den Bezug zu den beiden voran¬ gegangenen Sonetten her. „impenna“ bezieht sich auf den Sperling aus dem ersten, „mi scalda il core“ auf die Sonne im zweiten. Nun stellt sich ausdrücklich die Frage nach dem Prinzip, das die Befreiung gebracht hat. Die Frage wird dreimal wiederholt mit verschiedenen Hinweisen auf Wirkungen. Dem unbekannten Prinzip, für welches das Ich Objekt ist, sind meist präsentische Verben ingressiver Art zugeordnet, die es als aktiv und dynamisch erscheinen lassen. Es wirkt ermutigend, spren¬ gend und erwählend. Das zweite Quartett vermehrt die Hinweise in¬ direkt durch die Darstellung der Gegenmacht, gegen die es sich durch¬ gesetzt hatte. Auch für diese war das Ich Objekt. Doch war ihre Ein¬ wirkung anderer Art: In der Strophe dominieren Nomina im Plural, die nur ein einziges Verb haben. Die Zeit, um diese handelt es sich, erscheint nicht als einheitliche Macht, sondern in der Vielzahl ihrer Ma߬ einheiten. Als chronometrische Zeit ist sie einerseits in ihrer aufteilenden, Wem dank ich’s, daß ich nun mit freier Seele Und schreckenlos den Flug des Lebens wage, Die allgemeinen Ketten nicht mehr trage — Denn Seltne nur entließ die bange Höhle, Ein Demant-Beil erlahmt an diesem Hage Der Endlichkeit — wie mocht ich mich entraffen Der Zeit und ihrem Ingesind und Waffen, Dem Lauf der Alter, Jahre, Stunden, Tage? Nun wohl! Ich fürchte nicht, den sie erlogen, Der alten Mähr krystallnen Himmelsbogen, Ich breche durch, mir ist der Weg gebahnt, So daß ich mich zu andern Erden hebe, Endlos durch das Gefild des Äthers schwebe, Vorbei den Welten, die ich einst geahnt. Nietzsche bedankte sich überschwenglich: „Diese Gedichte Giordano Bru¬ nos sind ein Geschenk, für welches ich Ihnen von ganzem Herzen dankbar bin. Ich habe mir erlaubt, sie mir zuzueignen, wie als ob ich sie gemacht hätte und für mich — und sie als stärkende Tropfen ,eingenommen*“ (22. Mai 1884). Friedrich Nietzsche, Gesammelte Briefe, hrsg. von Elisabeth Förster-Nietzsche u. a. Bd III, 2. Auf! Leipzig: Insel 1905. S. 228 f. (Vgl. auch das Nietzsche-Kapitel dieser Arbeit.) 32

ordnenden und zerstückelnden Funktion dargestellt. Doch erscheint sie andererseits unter dem Bild eines Hofstaates3. Daß ihr Eisen und Dia¬ mant nicht beikommen, deutet in Umkehrung des Horazeschen „aere perennius“ auf ihre unantastbare Macht. Als Gesetz der Endlichkeit ist sie selbst ohne Ende. Ähnlich doppeldeutig ist die Wirkung der Zeit auf das Ich. Das kommt in der Personifizierung der Zeiteinheiten als Töchter und Truppen zum Ausdruck, aber auch darin, daß sie das Ich in Gewahrsam hält und zugleich vor dem Gegenprinzip bewahrt. Dieses, zunächst durchaus positiv; wird dadurch ebenfalls doppeldeutig. Es ge¬ fährdet, indem es befreit; denn es enthält das Risiko von Fortuna und Tod, wie die zweite Zeile des ersten Quartetts andeutet. Die beiden Quartette stellen zwei konträre Gewalten, die auf das Ich wirken, einander gegenüber. Die eine ist unbekannt, die andere ist benannt; die eine wirkt für sich allein, die andere als Kollektiv; die eine vereinzelt, die andere bezieht in eine Hierarchie ein; die eine be¬ freit, die andere hält in Gewahrsam; die eine gefährdet, die andere sichert; die eine treibt an, die andere konserviert; die eine ist außer der Zeit, die andere ist die Zeit. Beide aber sind in ihrer Wirkung ambi¬ valent. Die erste jedoch ist siegreich. Sie hat die Zeit überwunden, deren tempus ist das Präteritum. Und das letzte Wort der Quartette gilt dem siegreichen Prinzip „furore“. Dieses entscheidende Wort eröffnet weitere Zusammenhänge4. Es ist ein Schlüsselwort des in der Renaissance von den Florentinern erneuer¬ ten Platonismus. Marsilio Ficino hatte es in seinem Kommentar zum „Symposion“ für den Elan verwendet, der der Seele den Aufstieg zum Ureinen ermöglicht. Im Anschluß an den „Phaidros“ unterschied er nach Art und Intensitätsgrad vier furores divini. Davon ausgehend erhielt das Wort einen weiteren Sinn und wurde, oft in Zusammenhang mit der Liebe, von Plato her verstanden. Über 3

4

5

Die Übersetzung von „corte“ mit „Hof“ in Zeile 6 befremdet, obwohl sie nicht zu vermeiden ist. Es ist zu erwägen, ob „corte“ nicht ein Latinismus („cortex“) für „cortice“ sein könnte, zumal in den „heroici furori“ II, 5 davon gesprochen wird, daß in der Jugend das Herz von einem diamantenen Panzer umgeben sei, an dem die Strahlen von Wahrheit und Schönheit abprallen (Michel S. 337). Freilich ist eine solche Bedeutung von „corte“ sonst nirgends belegt. Vgl. Giordano Bruno, DegP Heroici Furori. — Im folgenden stütze ich mich auf die ausgezeichnete Einleitung von Paul-Henri Michel in seine Ausgabe. Zum Begriff „furore“ S. 41 f. Michel ebd.

33 3

Pestalozzi, Lyrisches Ich

den Gebrauch des Wortes bei Bruno sagt sein Herausgeber:

„Pour

Giordano Bruno, lecteur de Ficin comme de l’Arioste, le mot fureur reste lourd de sens; il evoque aussi bien le don de poesie que 1 elan d’un coeur plein d’amour ou que cette frenesie inspiree par Dionysos (la fureur mysteriale de Ficin), et qui n’est autre que la voie orgiaque, Pevasion hors des limites de la personne, 1 immersion de 1 etre individuel dans les abimes de l’etre cosmique.“5 Auf unsere Stelle bezogen heißt das, daß „furore“ die in der ersten Strophe angeführten Wirkungen zusammenfaßt. Insofern „furore“ von einer göttlichen Macht stammt, deutet das Wort darauf hin, daß das Prinzip, nach dem gefragt ist, etwas Göttliches sein muß. Das macht verständlich, weshalb es nur tra¬ gend umschrieben, nicht aber direkt benannt werden kann. Die beiden Quartette beziehen sich somit auf den platonischen Urmythos, wonach der Mensch, von göttlicher Begeisterung erfüllt, aus der Gefangenschaft der endlichen Sinnenwelt befreit und zu Gott ent¬ rückt werden kann. Hinter den einzelnen Bildern zeichnet sich als ge¬ schlossener Zusammenhang der bei den Neuplatonikern beliebte Mythos von Dädalus ab, welcher sich auf selbstverfertigten Flügeln aus dem Labyrinth befreite, in das ihn Minos eingesperrt hatte. Fortuna und Tod erinnern an das Schicksal des Ikarus. Auch in der Personifikation der Zeiteinheiten als Töchter kann man eine Anspielung auf die Dädalusgeschichte erkennen. Flügel sind eine stehende platonische Meta¬ pher für die göttlichen Fähigkeiten der Seele6. Schon Ovid setzt die Flügel des Dädalus zu denen Amors in Beziehung7. Unser Sonett klingt hörbar an einen Anfang bei Luigi Tansillo an: „Amor m’impenne

1 ale. 8

Wie Bruno das erste Sonett in „DeglP heroici furori“ verwendet, deutet er den blinden Gott ausdrücklich als Amor9. So erscheint Brunos Sonett eingebettet in die Vorstellungswelt des Neuplatonismus. Damit wäre das unbekannte Prinzip die Liebe, die das Ich aus der Endlichkeit befreit und zu Gott zurückführt. Gerade der, Bezug auf den Dädalus-Mythos macht es jedoch fraglich, die Zeit, wie sie im zweiten Quartett dargestellt ist, allgemein mit der Endlichkeit gleichzusetzen. Das Labyrinth, in dem Dädalus gefangen war, war seine eigene Erfindung. Audi die Zeit ist eine Schlinge, die sich der Mensch 6

quelle potenze de Pamina significate anche dai Platonici per le due ali. (Her. für. I, 4; Michel S. 211) Dort auch der Hinweis auf die Phaidros-Stelle 246 d

7 8

Ars amatoria II, 19 ff. Vgl. die Anmerkung zu unserem Sonett bei Gentile S. 365

9

Her. für. 1,4; Michel S. 209 f.

34

selbst gelegt hat. Das war mindestens die Auffassung von Brunos ein¬ flußreichem Anreger Cusanus, an dessen Sätze die zweite Strophe von ferne anklingt: „Annus, mensis, horae sunt instrumenta mensurae temporis per hominem creatae. Sic, tempus, cum sit mensura motus, mensurantis animae est instrumentum. Non igitur dependet ratio animae a tempore, sed ratio mensurae motus, quae tempus dicitur, ab anima rationali dependet. Quare anima rationalis non est tempori subdita etc.“10 Der Mensch, der hier als Schöpfer der Zeit erscheint, ist das Gattungswesen, nicht der Einzelne. Darauf weist wohl die Metaphorisierung der Zeit als einer kollektiven, einem Hofstaat vergleichbaren Macht mit hierarchischem Aufbau. Die Zeit ist ein generalisierendes Prinzip, das deshalb vom vereinzelnden Gegenprinzip aufgesprengt werden kann. Die Terzette sind mit „Quindi“ eingeleitet, sie geben sich als Folge¬ rungen aus dem Vorhergegangenen. Nun regiert jede Zeile eine Verb¬ form der i.Person Singular. Vier davon stehen im Reim. Dessen durch¬ gehendes — o hält gleichsam den Orgelton des Ich durch. Das Ich ist jetzt Subjekt. Es hat in eigener Hand, was furor und Zeit an ihm taten: Statt „non mi fa temer“ heißt es nun „ne temo“, „Pali sicure“ greift das von der Zeit gesagte „assicurato m’han“ auf. Diese Aufnahmen aus beiden Strophen scheinen anzudeuten, daß, obwohl das erste Prinzip gesiegt hat, das andere nicht einfach wegfällt. Im Ich, das Herr seiner selbst und seiner selbst bewußt ist, treten sie zusammen. Das Ich erhebt sich aus eigener Kraft, und das Maß seiner Zeit ist nurmehr seine eigene Bewegung. Nun erst beginnt der eigentliche Aufschwung. Dieses kraftvolle Selbstbewußtsein bezeugt sich in erster Linie darin, daß es ausdrücklich alle Stufen des Aufstiegs verschmäht. Aufsteigend konzipiert das Ich den Raum, durch den es aufsteigt. Dabei bekommt der platonische Seelenaufschwung eine überraschende neue Dimension. Er wird zur bildhaften Vorwegnahme der antiaristotelischen Polemik, die der nachfolgende Dialog im einzelnen entfaltet11. Das erste Terzett richtet sich gegen die Lehre, daß Planeten und Fixsterne an glasartigen 10 11

Zit. bei Cassirer, Individuum und Kosmos. S. 44 Zu Brunos Aristoteles-Kritik vgl. Wilhelm Dilthey, Der entwicklungs¬ geschichtliche Pantheismus nach seinem geschichtlichen Zusammenhang mit den älteren pantheistischen Systemen. In: Wilhelm Diltheys gesammelte Schriften. II. Band. 4. Aufl. Berlin und Leipzig: Teubner 1940, S. 326 — Ferner Max Jammer, Problem des Raumes S. 93 f.

35 3+

Schalen befestigt seien, die von der obersten bewegt werden. Aristoteles setzte jenseits davon einen leeren Raum an, das Universum war ihm somit endlich. Der Aufflug des Ich zerschlägt diese Theorie,, denn die Sphären nicht fürchten heißt bereits sie spalten, da auch die Theorie selbst zum kleinsten Teil auf astronomischer Beobachtung, zum größeren aber auf Spekulation beruhte. Durch die Leugnung der Sphären ver¬ schwindet die Begrenzung des Kosmos, er wird unendlich.

Das zweite

Terzett bezieht sich auf Brunos Theorem von der unendlichen Zahl der Weltkörper, mit dem er noch über den von ihm hoch verehrten Copernicus hinausging. Er nahm das All nicht als heliozentrisch an. Es bestand ihm aus unendlich vielen unabhängigen Welten, die sich, soweit sie nicht Trabanten waren, aus eigener Kraft bewegten. „Mein Erdball“ war nur eine unter unendlich vielen. Dieser Ausbruch aus dem helio¬ zentrischen System steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem aus der Zeit; denn deren Maße beziehen sich auf den Sonnenumlauf12. Sie wurden mit der Annahme anderer Systeme mit Umläufen, die andere Zeitmaße denkbar machten, relativiert. Die chronometrische Zeit wurde damit von einer im Kosmos begründeten zu einer vom Menschen ge¬ schaffenen Zeit. Des Cusanus logische Deduktion wurde damit kosmo¬ logisch fundiert. Das All wird als „L’eterio campo“ bezeichnet. Auch darin liegt eine antiaristotelische Spitze. Bruno bestritt, daß das All leer sei. Er nahm es als von Äther erfüllt an. Auch unter diesem Ge¬ sichtspunkt erweist sich die Flugmetapher als angemessen. Die Verbindung von Aufschwungmotiv und kosmologischer Speku¬ lation verschiebt jedoch das Verhältnis von Metapher und Metaphorisiertem entscheidend. Der platonische Seelenflug ist in all seinen Mo¬ menten Metapher für geistige Vorgänge, die als solche nicht lokalisier¬ bar sind. Das Sinnliche kann dafür bestenfalls ein Abbild stellen. Bild¬ spender und Bildempfänger gehören verschiedenen Bereichen an. Das eben ist das Wesen der Metapher. Bruno nimmt in den Terzetten die Metapher beim Wort. Indem sein Geist einen tatsächlichen Aufschwung in das tatsächliche All vornimmt, hört der Aufschwung auf, Metapher zu sein. Die Differenz zwischen Bild und Bedeutung besteht nur noch darin, daß nicht der ganze Mensch auffliegt. In Raum, Medium, Bewe¬ gungsimpuls, sind Aufflug und kosmische Spekulation eins. Die Bezie¬ hung beider ist nicht mehr metaphorisch, sondern metonymisch. Damit droht das Gedicht in zwei Teile zu zerbrechen, „impenna“ der ersten 12

36

Diesen Zusammenhang entwickelt Bruno in Her. Für. I, 5. (Michel S. 261)

Zeile und „Pali sicure a Paria porgo“ gehören verschiedenen Aussage¬ ebenen an, zwischen denen die Vorsteliungsäquivokation nur scheinbar vermittelt. Diese Schwierigkeit hat Bruno in der lateinischen Umfor¬ mung auf unerwartete Weise behoben. Deren Anfang lautet: Est mens, quae vegeto inspiravit pectora sensu, Quamque juvit volucres humeris ingignere plumas Corque ad praescriptam celso rapere ordine metam: Unde et Fortunam licet et contemnere mortem; Arcanaeque patent portae, abruptaeque catenae, Quas pauci excessere, quibus paucique soluti . . .13 Von der Beantwortung von „chi“ durdi „mens“ wird später die Rede sein. Hier interessiert die Auflösung von „impenna“. Aus der Metapher ist ein Realzusammenhang geworden, der im vorangestellten gemeinsamen Subjekt von Vögeln und Herz zum Ausdruck kommt. Die wirkende Kraft, die den Menschen ermutigt, ist dieselbe wie die, welche den Vögeln Flügel wachsen läßt. Der Zusatz „vegeto sensu“ nähert sie der Febenskraft an. Die dritte Zeile unterstreicht mit „praescripta meta“ ihr entelechisches Moment. Daß die Vögel als Beispiel angeführt werden, geschieht offensichtlich unter der Einwirkung der vorausgegangenen Metapher. Von der Sache her könnte irgendein Febewesen ihre Stelle einnehmen. Was den Menschen betrifft, so ist jede Flug-Assoziation ver¬ mieden. Aus der lateinischen Fassung der Quartette ist auch das „mi“ verschwun¬ den. In der Entsprechung zur 8. Zeile ist es durch „nos“ ersetzt: Immunes voluere suo nos esse furore. Erst in der folgenden Zeile kommt das Ich ins Spiel: Intrepidus spacium immensum sic findere pennis Exorior.14 Es ist nicht auszuschließen, daß hier „pennis“ metonymisch für den Schreibvorgang genommen werden könnte, die Metapher also auch da aufgelöst wäre. Doch ist im weiteren die Darstellung der kosmischen Spekulation als Flug wie im Sonett beibehalten, wenn auch im ganzen die Sprache abstrakter ist. Die Differenz zwischen der i. Person Plural am Anfang und der i. Singular von dieser Zeile an bedeutet, daß der

13 14

Fiorentino S. 201 Ebd. 37

kosmologische Aufflug die individuelle Ausprägung jener entelechischen Lebenskraft ist, die allem Lebendigen innewohnt. Sie inspirierte dem Ich die neue Erkenntnis des Universums. Dieser Aufschwung ist somit nicht wie für den Neuplatonismus eine allgemeine menschliche Möglich¬ keit, er gehört diesem besonderen Ich an. Diese individuelle Bedeutung des Aufschwungmotivs trat mit dei platonischen Metapher in Konkurrenz. In der lateinischen Fassung ver¬ mochte sie diese auszuschalten. Doch diese Konkurrenz ist grundsätz¬ licher Art. Die platonische Metaphorik verdankte ihre Evidenz ja gleichfalls dem geozentrischen Weltbild, demzufolge sich über der Erde der Himmel wölbt; das Göttliche wohnt in der Höhe. Insofern ist der Aufschwung nur für unsere Vorstellung eine Metapher. Er hatte im Piatonismus eine kosmisch-mythische Realität. Erst Brunos neue Kosmos¬ theorie machte ihn metaphorisch. Er entzog dem platonischen Auf¬ schwung den Boden. Nach ihm konnte nicht mehr naiv von unten und oben gesprochen werden. Und vollends wurde die theologische Ausdeu¬ tung des Kosmos problematisch. Der Aufschwung strebte auf Gott zu. Wo aber war er zu finden im unendlich gewordenen Weltraum? Bruno hatte darauf eine doppelte Antwort. Da nach seiner Kosmos¬ theorie kein Jenseits mehr gedacht werden konnte, das Gott Vorbehal¬ ten war, er aber Gott selbst nicht in Frage stellte, wurde ihm Gott eins mit dem unendlichen Kosmos als dessen unfaßbares Prinzip. Sein Geist erfüllte das All. Es macht den Anschein, als hätten solche theologischen Erwägungen Bruno veranlaßt, den Kosmos nicht leer, sondern von Äther erfüllt anzunehmen. Die unsichtbare, alles durchdringende, Leben ermöglichende Luft war die nächste Entsprechung des allgegenwärtigen Gottes. Brunos kosmische Theorie erforderte auch eine neue Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Bewegung; denn nun konnte dieser nicht mehr in der äußersten Sphäre oder in Gott, der diese bewegte, angenommen werden. Wie für Bruno die im All befindlichen Körper aus sich heraus sich bewegen, so wirkt auch in allem Lebendigen eine innere Kraft, die sie in Bewegung hält. Die lateinische Umformung unseres Sonetts bezeichnet sie als „mens“. „Mens“ ist offensichtlich an dieser Stelle die Übernahme des platonischen voüg. An anderer Stelle gibt ihm Bruno seine Bestimmung so: „il corpo

b nell5 anima, Panima nella mente,

la mente o e dio o e in dio.“15 In den Lebewesen wirkt Gott als einV.

15

38

Michel S. 76

heitsstiftendes, bewegendes, entelechisches Prinzip. Alles Einzelne ist da¬ durch zugleich Teil des All; denn Gott bleibt in allen doch der eine. Für diesen im Einzelnen wirkenden Gott bildete der platonische Eros eine Vorform, so daß beide einander gleichgesetzt werden konnten. Damit stellt sich das Verhältnis von kosmologischer Spekulation und platonischem Seelenaufschwung so dar: Der platonische Seelenauf¬ schwung ist von seinem Ziel her konzipiert. Der im Menschen wirksame Eros stammt ebenfalls aus dem göttlichen Ureinen, darum strebt er dahin zurück. Brunos kosmologische Spekulation macht, indem sie den dieser Anschauung zugrundeliegenden Weltaufriß zerstört, dieses Ziel denkunmöglich. Gott wird einerseits als äthererfüllter universaler Raum zum Medium der unendlichen Bewegung. Damit aber gewinnt auch die im Menschen liegende Göttlichkeit an Gewicht. Indem sie als entelechische verstanden wird, wird ihr auch das Ziel zugeschlagen. Damit wird der Aufschwung aus einer Bewegung des Menschen auf Gott zu, des Einzelnen ins Allgemeine, zu einem Akt, in dem sich die im Einzelnen liegende göttliche Kraft manifestiert. Brunos kosmische Spekulation aber ist seine individuelle Leistung. Darin kommt die gerade ihm innewoh¬ nende göttliche Kraft zum Ausdruck. Indem Bruno die kosmologische Spekulation als Kern seiner Individualität versteht, stellen sich indivi¬ dueller und personaler Aufschwung als inhaltliche und formale Ausprä¬ gung desselben Vorgangs dar. Der platonische Ansatz wirkt sich auf beiden Seiten darin aus, daß das Ich den Allgemeinheiten, den mensch¬ lichen und den historischen, denen es verhaftet ist, entflieht. Das damit gegebene Risiko des Todes hat Bruno bekanntlich auf schrecklichste Weise erfahren müssen. Wir kehren zu unserem Sonett zurück. Die Fragen des ersten Quar¬ tetts gehen nach jener dem Ich innewohnenden göttlichen Kraft, über die es nicht verfügt, unter deren Wirkung es zur Person wird, „furore bezeichnet die Aktualisierung dieser Kraft, um nicht zu sagen ihre Offen¬ barung. Die Zeit ist als Gesetz der Endlichkeit das grundlegende All¬ gemeine, gegen die sie sich durchsetzt. Der harte Gegensatz zwischen beiden wird jedoch durch den Begriff der Entelechie überbrückt. Die Erlangung der individuellen Person braucht ihre Zeit. Der Ausbruch des furor enthält zwar das Risiko des Todes, aber er soll, als zui Lebens¬ kraft gehörig, nicht töten. Die Sicherung, welche die Zeit gegenüber dem furor bedeutet, ist letztlich in seinem Sinne. Nun seine Stunde ge¬ kommen ist, zerstört er das Ich nicht, sondern potenziert es. Er gibt 39

ihm die Kraft zur Emanzipation. Damit bestimmen die beiden Quar¬ tette die Praemissen dieses Vorgangs. Auch die antiaristotelische Polemik des Sonetts ist in diesem Zusam¬ menhang zu sehen. Sie wird nicht als wissenschaftliche Theorie einbe¬ zogen, welche die Erkenntnis des Universums entscheidend bereichert, sondern in ihrer Bedeutung für das Ich. Dieses stellt sich damit in Gegensatz zur herrschenden Meinung in Kirche, Wissenschaft und alltäg¬ licher Erfahrung. Es unterscheidet sich von den gültigen Allgemeinhei¬ ten. Das gibt ihm das Bewußtsein der Auserwähltheit. Daß so gerade die kosmologische Spekulation zum individuellen Medium der Personwerdung wird, läßt es nicht zu dem oben befürchteten Bruch zwischen „impenna“ und der Aufschwungvorstellung in den Terzetten kommen. Darin, daß die neue Kosmostheorie sich so von Gott, der im Ein¬ zelnen wohnt und zugleich das All erfüllt, inspiriert weiß, kommt ihr Anspruch auf Wahrheit zum Ausdruck. Das personale Individuum ist nicht ein Eigenbrödler oder Sonderling, sondern es versteht sich als Verkünder und Prophet. Dieser Anspruch macht erst die Stärke und Unbeirrbarkeit des Selbstbewußtseins verständlich, das die Terzette mit dem durchgehaltenen Reim auf —o zum Ausdruck bringen. In der la¬ teinischen Fassung ist dieser Zug noch verstärkt. Er gipfelt in der Zeile Reddor Dux, Lex, Lux, Vates, Pater, Author, Iterque.16 Nurmehr den göttlichen Personen zugehörige Prädikate scheinen dem Selbstbewußtsein des aufgestiegenen Ich angemessen zu sein. Der Auf¬ schwung hat nicht mehr das Ich zu Gott entrückt, sondern Gott ins Ich herabgezogen. So sehr die Deutung des Sonetts Vorteil daraus zieht, daß dessen Inhalt in der lateinischen Fassung ausführlicher und deutlicher abge¬ handelt ist, einzig aus dem Sonett erhellt, daß der Aufschwung durch 16 Fiorentino S. 202. — Nähe und Distanz dieser ganzen Stelle zur folgenden aus Boethius sind gleichermaßen erhellend: Da, pater, augustam rnenti conscendere sedem, da fontem lustrare boni, da luce reperta in te conspicuos animi defigere visus. Dissice terrenae nebulas et pondera molis atque tuo splendore mica; tu namque serenum, tu requies tranquilla piis, te cernere finis, principium vector dux semita terminus idem. (III, m. IX) Boethius, Philosophiae consolationis libri quinque, hrsg. von Karl Büchner. Heidelberg: Winter i9602 Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Frau Prof. Ingeborg Schröbler, Berlin. 40

die Konstellation mehrerer Antithesen zustande kommt. Die beiden Quartette zeigen Gegensatz und Gemeinsamkeit der auf das Ich wir¬ kenden Kräfte. Daß der Name für das Prinzip im Gegensatz zur hexa¬ metrischen Fassung ausgespart bleibt, hat die Funktion, diesen Gegen¬ satz zur Zeit und ihren distinkten Begriffen vor Augen zu führen. Von der Ambivalenz im Innern der Gegensätze war die Rede. In den Ter¬ zetten geht es um die Aktivität des Ich. Aber diese ist die Konkreti¬ sierung der vorausgenannten Einwirkungen. Die Sonettform als ganze schließlich überwölbt alle Gegensätze. Sie läßt das Ich als Einheit er¬ scheinen. Während es in den Hexametern über sich selbst reflektiert, wozu es den Bezug zum Allgemeinen nicht entbehren kann, sucht es im Sonett sich selbst adäquat zur Darstellung zu bringen. An die Stelle der Argu¬ mentation tritt die Evokation. Diese stützt sich zwar auf gegebenes Material, die Sonettform und die neuplatonische Vorstellungswelt. Aber Bruno benützt sie zur Aussprache eines spezifischen, ihm allein zugehö¬ rigen Erkenntnisgehaltes. Daß er die Aufschwungmetapher beim Wort nimmt und mit ihr auch direkt seine kosmische Spekulation ausspricht, macht dieses Gedicht zum Medium einer weitgehend individuellen Selbst¬ vergewisserung. Die Differenz, in der Petrarcas Bergbesteigung zum „Purgatorio“ steht, wiederholt sich im Verhältnis von Brunos Aufschwung-Sonett zum „Paradiso“. Der entscheidende Unterschied liegt auch hier darin, daß, was bei Dante Metapher war, zur Sache selbst geworden ist. Wie Petrarcas Aufstieg auf den Mont Ventoux den Primat erhält, die tradi¬ tionellen Aufstiegsdeutungen auf sich zieht und so zum Weg zu sich selbst wird, nimmt Brunos kosmologische Spekulation die Aufschwungs¬ metapher beim Wort. Auf seine eigene geistige Erfahrung konzentrieren sich die traditionellen Gehalte der neuplatonischen Aufschwungsmeta¬ phorik, so daß ihm seine Himmelstheorie zum Innewerden Gottes wird. Wie für Petrarca bildet auch für ihn das Erfahrene den Aus¬ gangspunkt. Dabei begreift Bruno seine Spekulation ebensowenig als willentlich verfügbare Leistung wie Petrarca seine ihm eingegebene Bergbesteigung. Bruno fühlt in sich eine unberechenbare Kraft wirken. Diese sprengt das Ich aus allen Allgemeinheiten heraus und macht es zum autonomen Selbst, das sich selber Führer, Weg und Licht ist. Seine Sprengkraft richtet sich speziell gegen den Danteschen Stufenkosmos, der die Leiter zu Gott bildete. Zugleich aber objektiviert sie sich in einer neuen kosmologischen Spekulation. Petrarca hatte noch den Spiegel Augustins und der Tradition gebraucht, um dem, was die Landschaft in 4i

ihm geweckt hatte, geistige Gestalt zu geben. Bei Bruno produziert das Selbst auch seine Objektivierung ganz aus sich heraus. Seine Spekulation ist sein Spiegel. Im Flug in den Kosmos hinaus aus den Schranken aller Tradition und Konvention sind für Bruno individuelles und personales Selbst identisch. Indem es aber den unendlichen Raum, durch den es flog, für Gott erklärte, bewahrte es sich davor, mit dem Nichts kon¬ frontiert zu werden; auch die Sonettform, in der es sich aussprach, zeugt davon, daß es sich nicht so revolutionär vorkam, wie es in Wirklichkeit war. Tatsächlich zündete ja auch die Sprengladung von Brunos Indi¬ vidualität erst Jahrhunderte später.

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Deutsche Barocklyrik A. Anthologien Barocklyrik, 3 Bde hrsg. von Herbert Cysarz. Deutsche Literatur in Ent¬ wicklungsreihen. Reihe Barock. Leipzig: Reclam 1937 [z^- Cysarz] Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse, hrsg. von Albrecht Schöne. Die deutsche Literatur Bd 3* München: Beck 1963 [zit* Schöne] Das Zeitalter des Pietismus, hrsg. von Martin Schmidt und Wilhelm Jannasch. Klassiker des Protestantismus Bd 6. Bremen: Schünemann 1965 (Sammlung Dietrich Bd 271) [zit. Pietismus] B. Einzelne Autoren Gottfried Arnold, in Auswahl hrsg. von Erich Seeberg. München: Lan¬ gen/Müller 1934 Jacob Balde, Dichtungen. Lateinisch und deutsch. Hrsg, und übersetzt von Max Wehrli. Köln/Olten: Hegner 1963 August Büchners Anleitung zur Deutschen Poeterey, hrsg. von Marian Szyrocki. Deutsche Neudrucke, Reihe Barock Bd 5. Tübingen: Niemeyer 1966. S. 16 Simon Dach, Gedichte, hrsg. von Walter Ziesemer. 4 Bde. Halle: Nie¬ meyer 1936 (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Sonderreihe

Bd 4) Catharina Regina von Greiffenberg, Geistliche Sonette, Lieder und Gedichte. 1662. Reprographischer Nachdruck. Darmstadt: Wiss. Buchgesell¬ schaft 1967 Andreas Gryphius Werke, hrsg. von Hermann Palm. 3 Bde mit Er¬ gänzungsband. Neuausgabe der Wiss. Buchgesellschaft Darmstadt 1961 Andreae G r y p h i i / DISSERTATIONES FUNEBRES etc. Leipzig 1666 Daniel Casper von Lohenstein Gedichte. Ausgewählt und hrsg. von Gerd Henniger. Berlin 1961 Martin Opitz, Buch von der deutschen Poeterey. Abdruck der ersten Ausgabe, hrsg. von Wilhelm Braune. Halle: Niemeyer 1876 Martin Opitz, Teutsche Poemata, hrsg. von Georg Witkowski. Halle: Niemeyer 1902 Martin Opitz, Weltliche Poemata 1644. 1. Teil hrsg. von Erich Trunz. Tübingen: Niemeyer 1967 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock 2) Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann. In: Sämtliche poe¬ tische Werke, hrsg. von Ludwig Held. München: Allg. Verlagsanstalt i924Bd 3 43

V

Geistliche Lieder des Grafen von Zinzendorf, gesammelt und gesichtet von Albert Knapp. Stuttgart/Tübingen: Cotta 1845 C. Emblematik Erbauliche Sinnbilder, entnommen den alten Ausgaben von Johann Arnd’s wahrem Christenthum. Neu gezeichnet von J. Schnorr. Stuttgart: Steinkopf 1855 [zit. Erbauliche Sinnbilder] Emblemata. Handbuch der Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, hrsg. von Arthur Henkel und Albrecht Schöne. Stuttgart: Metzler 1967 [zit. Emblemata] Der Nachweis, daß im Barock der Zug in die Höhe ein dominantes Merkmal sei, käme einer Tautologie gleich, denn das eben war das Kriterium, mit dessen Hilfe Heinrich Wölfflin „Barock“ aus dem grö¬ ßeren, bisher „Renaissance“ genannten Komplex ausgegliedert und als selbständigen Stil- und Epochenbegriff der Kunstgeschichte konstituiert hatte1. Fritz Strich, der den Begriff auf die deutsche Literatur übertrug, sah noch nach lebenslanger Beschäftigung mit dem literarischen Barock in der Aufwärtsbewegung den stilistischen Nenner: „Ja, ich glaubte in all den genannten Eigenschaften des barocken Stils, der dynamischen und maßlosen Häufung von Bildern und Gleichnissen, der gigantischen Schwellung, Steigerung und Übersteigerung den Drang zu erkennen, sich emporringend aus der Zeit, ein Überzeitliches, Absolutes, Göttliches zu erreichen, zu umgreifen, einen babylonischen Turm gleichsam zu er¬ richten, der bis zum Himmel steigt und ihn doch nicht erreichen kann, das Meer der Unendlichkeit auszuschöpfen, das doch unerschöpflich und unumgreifbar ist und nur mit der völligen Hingebung, dem Opfer des Lebens errungen werden kann.“2 Im Hintergrund dieser Charakteristik steht jedoch offensichtlich noch immer die religiöse bildende Kunst und Architektur des 17. Jahrhunderts, allenfalls hat sie für die außerdeut¬ sche Literatur allgemeinere Gültigkeit. In der deutschen Lyrik der Zeit sind himmelstürmerische Züge selten. Wider Erwarten ist die Aufschwungmotivik weder besonders auffällig noch besonders häufig. Wo sie vorkommt, fehlt ihr fast immer die überzeugende Gestaltung. Damit ergeben sich beim Übergang aus der italienischen Renaissance1

Fritz Strich, Die Übertragung des Barockbegriffs von der bildenden Kunst auf die Dichtung. In: Die Kunstformen des Barockzeitalters. 14 Vorträge, hrsg. von Rudolf Stamm. Bern/München/Lehnen 1956. S. 248

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A.a.O. S. 264. Vgl. auch Fritz Strich, Der lyrische Stil des siebzehnten Jahr¬ hunderts. Abhandlungen zur deutschen Literaturgeschichte. Franz Muncker zum 60. Geburtstag. München: Becksdie Verlagsbuchhandlung 1916. S. 21 — 53

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Lyrik in die deutsche des Barock Probleme, die das einzuschlagende Vor¬ gehen bestimmen. Nachzüglerin unter den europäischen Nationallite¬ raturen, suchte die deutsche des 17. Jahrhunderts ihre Erneuerung nach¬ zuholen, indem sie sich ihre Nachbarn zum Vorbild nahm. Ihr zeitlicher Rückstand war daher einer des allgemeinen Niveaus. Es fehlen ihr hervorragende Einzelgestalten von europäischem Zuschnitt. Nicht für alle Gattungen ist der Abstand gleich groß. In der Lyrik gibt es zwar eine außerordentlich reiche Produktion, doch ihre Spitzenerscheinungen können sich nicht mit denen Englands, Frankreichs oder Italiens mes¬ sen. Von Giordano Bruno her kommend gerät man in Niederungen. Das bringt es mit sich, daß im folgenden nicht ein Einzelwerk oder auch nur ein einzelner Autor als repräsentativ herausgegriffen werden kann. Es müssen die in der Lyrik verstreuten Ausprägungen der Erhebungsmotivik aus dem Überblick gesammelt und systematisiert wer¬ den. Unsere bisherige Deutung des Motivs legt aus dem Fehlen ein¬ deutiger Ausprägungen den Schluß nahe, daß dem literarischen Rück¬ stand einer des Selbstbewußtseins entsprach. Umgekehrt deuten moti¬ vische Spuren auf Ansätze zu einem solchen. Einzig bei den Mystikern liegen die Verhältnisse anders. Aus ihnen wird Angelus Silesius ge¬ sondert betrachtet. Vor Quirinus Kuhlmann wurde ihm der Vorzug ge¬ geben, weil zu ihm als Einzigem unter den Lyrikern des deutschen Barock eine Verbindung von Giordano Bruno her besteht.

I. Der relativen Unpersönlichkeit der deutschen Barockdichtung suchen wir dadurch Rechnung zu tragen, daß wir zunächst den vorgegebenen motivischen Hintergrund bestimmen. Die jüngere Forschung3 ist darauf aufmerksam geworden, daß sich die Bildlichkeit der Barockdichtung weitgehend aus Emblemen speiste, welche, in verbreiteten Emblem büchern gesammelt, allgemein zur Verfügung standen. Diese Ent¬ deckung, die ihre Ergiebigkeit vielfältig bewiesen hat, bestätigte und konkretisierte die ältere These, daß es den Dichtern des Baiock nicht auf Originalität ankam, sondern darauf, vorliegendes Matenal zu bestimm ten Anlässen möglichst kunstvoll zu verwerten. Für die Bildlichkeit folgt 3

Vgl. Albrecht Schöne, Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, 1964; Hans-Jürgen Schings, Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius, 19665 Dietrich Walter Jons, Das ,Sinnen-Bild , 1966 45

daraus, daß Bilder, auch wo sie isoliert auftreten, zu einem Bild¬ zusammenhang gehören, den der kundige Leser mitassoziierte. Im Ge¬ gensatz zu Phänomenen aus der Natur waren sie zudem immer schon gedeutet, und auch diese Deutung gehörte zu ihrem Assoziationshof. Das hieß nicht, daß die Deutung ein für allemal feststand. Der jeweilige Dichter konnte auf der Bild- und auf der Bedeutungsseite Modifika¬ tionen vornehmen, ohne den Komplex als ganzen zu zerstören. Auf der Bildseite konnte ausgeschmückt, variiert und akzentuiert werden. Auf der Seite der Deutung bestand die Möglichkeit der Übertragung auf verschiedene Denk- und Lebensbereiche. Dabei blieb eine Grund¬ struktur erhalten. So sehen wir in den Emblemen Strukturen vorge¬ geben, die verschieden realisiert werden können. Sie stellen Kraftfelder4 des barocken Denkens und der barocken Einbildungskraft dar. Die Bindung der barocken Einbildungskraft durch die Embleme war für die Geschichte des Geistes und der Dichtung von retardierender Wirkung. Zwar hatte das humanistische Interesse für die antike Hieroglyphik den Anstoß zur Emblematik-Mode in Malerei und Dichtung gegeben. Aber durch sie wurden mittelalterliche Inhalte, vor allem aber das Verfahren der allegorischen Exegese, reaktiviert, so daß Verbreitung und Beliebtheit der Embleme als Symptome für gegenreformatorisdie Tendenzen in beiden Konfessionen erscheinen. So wurde dem 17. Jahr¬ hundert aufs neue der Geist zugänglich, aus dem Dantes Werk ent¬ standen war. Aber nun waren es nicht mehr die Bausteine, sondern Bruchstücke des Danteschen Kosmos. Diesen Schluß umschreiben die mo¬ dernen Herausgeber der „Emblemata“ mit den Worten: „Diesem (zeit¬ genössischen) Beschauer der emblematischen Bilder und Leser ihrer Epi¬ gramme aber setzt sich die Wirrnis des Seienden in ein Mosaik von Sinnfiguren um, ihm zeigt sich noch einmal ein von Bedeutungszusam¬ menhängen und ewigen, wahren Bestimmungen durchwirktes Universum, in dem das Vereinzelte bezogen, die Wirklichkeit sinnvoll, der Lauf der Welt begreifbar erscheint und die in Analogien gedeutete Welt so zum Regulativ des menschlichen Verhaltens werden kann. Diese emblematische Verweisungs-, Entsprechungs- und Lebenslehre ist wohl nicht mehr Zeugnis eines unangefochtenen Vertrauens in die kosmische Ord¬ nung, sondern eher ein Ausdruck des menschlichen Versuchs, am Beginn der Neuzeit, sich zu behaupten gegen eine undurchschaubar werdende,

4

46

Zur Vorstellung solcher poetischer Kraftfelder vgl. Georg Schoeck, Ilias und Aithiopis. Zürich: Atlantis 1961. passim

chaotische Welt. In solchem Bemühen, scheint es, ruft die Emblematik noch einmal das Ordnungsdenken des Mittelalters und seine Erkenntnis¬ mittel zu Hilfe: leistet Widerstand, hegt Hoffnung, trägt utopische Züge.“5 Das Motiv des Aufschwungs liegt ausgeprägt und kodifiziert in den Emblemen vor, in denen der Adler im Zentrum steht6. Zahlreiche Spuren davon finden sich in den „Geistlichen Sonetten, Liedern und Gedichten“ der Catharina Regina von Greiffenberg7. Ein besonders er¬ staunliches Dokument dafür ist Gryphius’ Leich-Abdankung „Flucht menschlicher Tage“8. Angeregt dadurch, daß der verstorbene Herr HansGeorgen von Stosch auf Kreydelwitz etc. einen Adlerflügel und eine Seerose im Wappen führte, beschrieb Gryphius Wesen und Leben des Verstorbenen so, daß er eine Fülle von Adleremblemata zu einer Art Adler-Biographie gruppierte. So kam ein eigentlicher Katalog der AdlerEmbleme zustande. Sie sind von Gryphius für den besonderen Anlaß gedeutet. Da sich aber auch diese Deutungen in einem gegebenen Rah¬ men halten, wie sich aus den zeitgenössischen Emblemsammlungen er¬ gibt, ist es möglich, daraus eine Grundbedeutung des Aufschwungs zu gewinnen, die nicht nur für Gryphius Gültigkeit hatte. Gryphius beginnt mit der Feststellung: „Einem Adler kan ich die Seele des Menschen mit recht vergleichen / wenn wir erwegen beyder Vortrefflichkeit. Der Adler ist / aller Natur Erforscher einhelliger Meynung nach / der allervornehmste des Geflügels / ja ein König der Vogel / dannenher auch die berühmtesten Fürsten und Völcker dessen Bild in ihren Feldzeichen / Fahnen und Waffen geführte / auch nicht iedwedem gemeinem Manne derogleichen zu thun vergönnet.“9 Hinter der Gleich¬ setzung von Adler und Seele steht eine Tradition, als deren Quelle man eine Stelle bei Ambrosius namhaft gemacht hat: 5

Emblemata, Vorwort S. XVI

6 7 8

Emblemata Sp. 757—780 Beispiele Greiffenberg S. 5, 38, 254, 256, 311, 323, 324, 343, 382. Der schwer zugängliche Text jetzt bei Schöne, S. 852 864. Leider ist dort der Text gekürzt wiedergegeben, und zwar gerade um Passagen, die uns hier interessieren, so daß dafür doch wieder auf die alte Ausgabe der DISSERTATIONES / FUNEBRES zurückgegriffen werden muß. Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Prof. Eberhard Mannack, Kiel. Vgl. dazu Hans-Jürgen Schings, Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Untersuchung zu den Dissertationes funebres und Trauer¬ spielen. Köln/Graz: Böhlau 1966. S. 46 f.

9

Schöne S. 854

47

Contendamus ad illud aeternum, ad illud evolemus pennis dilictionis, et remigio charitatis. Surgamus hinc, hoc est, de saecularibus atque

mundanis.

Dixit

enim

Dominus:

„Surgite,

eamus

hinc“

(Joan. 14, 21), praecipiens ut unusquisque surgat de terrenis, erigat aninam humi jacentem, ad superna attollat, excitet aquilam suam, et illam aquilam de qua dictum est: „Renovabitur sicut aquilae juventus tua“ (Ps. 102, 5). Ad animam hoc dictum est. Anima ergo nostra sicut aquila alta petat, supra nubes volet, renovatis splendescat exuviis, coelo volatus inferat.. .10 Die hier vereinigten Momente, Flügel der Liebe, Aufflug über die Wol¬ ken, Blick in die Sonne, Verjüngung haben sich in den späteren Emblemata verselbständigt. Man hat auf die Häufung verschiedener Auf¬ schwungverben in diesem Text hingewiesen10. Immer aber ist der Adler der Auffliegende. Der Deutung des Adlers als Seele liegt der christlich¬ platonische Leib-Seele-Dualismus zugrunde. An den Bezug auf Plato und den Neuplatonismus erinnert Gryphius ausdrücklich an einer spä¬ teren Stelle seines Katalogs11. Daraus ergibt sich als Weiterung, daß der Adler in einem Käfig oder Kerker gefangen ist. Die Gleichsetzung von Körper und Kerker geht auf die Soma-Sema-Stelle im Kratylos zurück12. In einem Begräbnis-Gedicht von Opitz taucht ein solcher Adler¬ vergleich auf: Wie wann der Printz der Luffl:, Der Adler ohnegefehr auss seinem Kefich reisset, Und über alle Berg hin in die Wolcken schmeisset, Schwingt mit der Flügel krafft sich auf das blaue Dach, Des schönen Himmels zu, und eylt der Sonne nach . . ,13 Von hier aus führt ein kurzer Weg zu einem „Vogel aus dem Käfig“Emblem, das man vielfach, auch an anderer Stelle bei Gryphius, nachweisen konnte14. Der Vogel wird jeweils durch Amor oder Amor Divinus

10

Schings a.a.O. S. 46

11

„Die Seele des Menschen ists / welche / weil sie nicht irrdisdi / offt einen Blick (unangesehen sie noch in dem Kercker der Glieder eingefesselt / wie

12

die Nachfolger Platonis geglaubt) in die Ewigkeit gethan . ..“ Dissertationes Funebres S. 620 Kratylos 400 c

13

Martin Opitz, Teutsche Poemata. S. 63

14

Dietrich Walter Jöns, Das ,Sinnen-Bild£. Studien zur allegorischen Bildlich¬

38

keit bei Andreas Gryphius. Stuttgart: Metzler 1966. S. 223. Hier auch die

48

oder Christus befreit, was wiederum den Zusammenhang mit einem christlichen Platonismus belegt. Das Kraftfeld des „Vogel aus dem Käfig“-Emblems erkennen wir nun auch in dem Sonett „E chi mi impenna" von Giordano Bruno. Bruno selbst weist bei der Ausdeutung von „Mio passar solitario“ in den „Heroici furori“ auf diesen Zusam¬ menhang hin. Die „Heroici furori“ sind streckenweise dialogische Glosen15. In Gryphius „Flucht menschlicher Tage“ kommt die Einkerkerung des Seelen-Adlers nur andeutungsweise zur Sprache. Sie ergibt sich aber in¬ direkt daraus, daß die Seerose im andern Wappen-Feld des Verstorbenen als blühende und verwelkende Leiblichkeit gedeutet wird. Die Deutung „Adler gleich Seele“ hat zunächst die Konsequenz von „Aufschwung gleich Tod“. Bereits bei Bruno konnten wir jedoch sehen, daß auch innerhalb des irdischen Daseins ein Aufschwung möglich ist. Darin ver¬ wirklichte sich gerade Brunos Individualität. Eine ähnliche Voraus¬ setzung liegt auch Gryphius’ Verwendung der Adler-Emblematik in seiner Leich-Abdankung zugrunde. Der Adler wird gerade als Bild für ein bestimmtes Leben und die Überwindung des Todes beigezogen. In der zitierten Stelle macht Gryphius denn auch einen auffallenden Sprung, indem er den Adler nicht nur auf die Seele als den vortrefflichsten Teil des Menschen, sondern auf die vortrefflichsten Menschen und Völker deutet. Der „berühmte Fürst“ ist ein Adler, d. h. allgemein derjenige, der anders als der „gemeine Mann“ aus der Menge der Menschen her¬ ausragt und einen Namen hat. Der Adler ist das Sinnen-Bild des Per¬ son gewordenenen Einzelnen. Was für Gryphius die Person konstituiert, entfaltet er an Hand der emblematisch festgelegten Eigenarten und Eigenschaften des Adlers. Die Kernvorstellung umschreibt der Satz: „Der Adler fleuget vor allen Vögeln in die Höhe / und schwinget sich durch die Wolcken / als ob er in einer andern Welt auszureisen gesonnen.“16 Hier wird auch die Analogie zur Seele erkennbar. Wie die Seele aus dem Körper so strebt, wer Person sein will, aus der Welt zu Gott. Es befindet sich zwischen beiden, ja es konstituiert sich aus seinem Spannungsverhältnis zu beiden. Der Adler ist einerseits von den andern Vögeln unterschieden. Das äußert sich positiv und negativ: „An den Adlern hat man die sonder¬ weiteren Beispiele. — Emblemata bringt dafür nur einen einzigen, christo-

15

logisch gedeuteten Beleg aus Beza. Sp. 754. Her. für. IV, 1 ed, Michel. S. 211. Zur Bedeutung der Emblematik für die Heroici furori vgl. Michel, Introduction S. 55 f.

18

Dissertationes Funebres S. 614

49

4

Pestalozzi, Lyrisches Ich

N

bare Anmerckung / daß sie sich der Kinder / Elenden und Verlassenen angenommen / und sie / mit Entsetzen und Verstarren vieler Menschen / ernehret und beschützet.“17 „Ein Adler theilet andern Vögeln seinen Raub mit (wie Aelianus ausgeführet/) welche ihm dieser Müdigkeit wegen nachfolgen.“18 Ein Adler enthält sich von fremdem Raub.“19 Dagegen: „Ein Adler ist in stetem Kampff mit andern Raub-Vögeln / mit den Schlangen und Drachen, auch wie der Weltweise (lib. 9) lehret / mit den Schwanen: Und bey den Römern waren die Adler die vor¬ nehmsten Feldzeichen und Zierden der Läger / weil sie die streitbarsten und hurtigsten Vögel.“20 „Kein Schwan machet sich leicht an den Adler: wenn er aber auf sie zufähret / umgeben sie ihn mit Hauffen

/ und

suchen ihn zu stürzen.“21. „Ein Adler selbst ist hier nicht sicher: ihm wird allenthalben nachgesetzet! Wie offt wird er mit Pfeilen getroffen / die von seinen eigenen Fitigen gefidert? Oft führet er Schlangen mit sich in die Höhe, welche sich um seinen Hals und Flügel winden, und ihn herab zu stürtzen suchen!“22 Die Spannung könnte nicht deutlicher be¬ zeichnet werden, in der der Einzelne als Person zur Allgemeinheit steht. Indem er sich von ihr emanzipiert, gefährdet er sich: denn wer steigt, kann auch fallen. Aber die Erhebung führt auf Gott und die eigene Göttlichkeit zu. Diese zeigt sich in der Fähigkeit, von oben Zeiten und Räume als ganzes zu überblicken: „Der Adler hat sehr scharfe / und fein sehende Augen.“23 „Der Adler ist berühmt wegen der hellen und sehr lauten Stimme.“24 Gryphius deutet sie als Begabung zur Dichtkunst, die über weite Zeiträume schallt. Beispiel dafür ist ihm David, in dem sich Fürstlichkeit und Dichtung verbanden. „Es bezeugen aller Zeiten Beyspiele / daß die Adler durch ihren Flug nicht geringe Dinge / welche damals noch zukünftig / und vor den Menschen verborgen / angezeigt.“20 Die Seele, obwohl im Leib gefangen, kann in Augenblicken das Ewige, in dem alle Zeiten beschlossen sind, erkennen. Diese Erkenntnisse sind in einer alten Vorstellung angedeutet: „Es haben die Römischen und 17

A.a.O. S. 618

18

A.a.O. S. 624

19

Ebd.

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A.a.O. S. 623

21

Ebd.

22

Schöne S. 859

23

Dissertationes Funebres S. 615

24

A.a.O. S. 617

25

A.a.O. S. 619

SO

Griechischen Gelehrten den Adler zu einem Waffenträger ihres höchsten Gottes / des Jupiters / vorgestellet / als dessen Donner-Pfeile ihm zu halten und zu führen anheim gegeben: Wie man denn vor Alters darvon gehalten / es würde / und zwar wegen des gar zu hohen Fluges / kein Adler von den Blitzen versehret.“26 Das Göttliche am Adler, auf das diese Bestimmungen hinweisen, ist der Ruhm. Der Ruhm erhebt nicht nur über die andern Menschen, sondern auch über die vernichtende Zeit. Er bedeutet irdische Unsterblichkeit resp. Wiedergeburt. Doch bleibt der Ruhm an gottgefällige Qualitäten gebunden: „Des Menschen Gemüth wird gepriesen / in dem es den Menschen preiset.“27 Und die endgültige Verjüngung bringt erst die Auferstehung. Fast zu Beginn des Katalogs, seiner biographischen Anordnung ge¬ mäß, spricht Gryphius von der Erziehung der Adlerjungen, die vor allem in der legendären Sonnenprobe bestand. Er übersetzt das dann in die Ziele menschlicher Erziehung: „Sie halten sie bey Zeiten zur Erlernung solcher Wissenschaften / durch welche Ruhm auff der Welt zu erlangen / ein gutes Gewissen zu erhalten / und ein großes Glück / welches auch nach dem Tode blühet / zu überkommen.“28 In dieser Trias Ruhm, gutes Gewissen, Glück erkennen wir die Konstituanten des freien Einzelnen, welche der Katalog detailliert entfaltet. Im folgenden soll es darum gehen, einige repräsentative Ausprägun¬ gen des Aufschwungmotivs und damit indirekt des Adler-Emblems im Hinblick darauf zu betrachten, in welcher Weise sie Modelle darstellen dafür, wie der Einzelne inmitten der Welt personhafte Freiheit ver¬ wirklichen kann. Dieser Vorgang wird im folgenden auch als Individual tion bezeichnet. "

II. Ein instruktives Beispiel für die Aufsprengung eines RenaissanceGebildes durch einen anders gerichteten Stilwillen und die Rolle, welche die Adler-Emblematik dabei spielt, ist die Übersetzung eines RonsardSonetts, die Opitz in sein „Buch von der deutschen Poeterey“ auf¬ nahm.

26 27 28

Opitz

bemerkt

vorsorglich,

daß

„dieselbe

dem

texte

nicht

A.a.O. S. 622 A.a.O. S. 617 Schöne S. 856

51 4*

genawe zuesaget“, er war sich also dessen bewußt, daß er das Original umgestaltet hatte29. Ah belle liberte, qui me seruois d’escorte, Quand le pied me portoit ou libre ie voulois! Ah! que ie te regrette! helas, combien de fois Ay-ie rompu le ioug, que maulgre moy ie porte! Puis ie Pay rattache, estant nay de la sorte, Que sans aimer ie suis & du plomb & du bois Quand ie suis amoureux i’ay l’esprit & la vois, L’inuention meilleure, & la Muse plus forte. Il me faut donc aimer pour auoir bon esprit, Afin de conceuoir des enfans par escrit, Pro longeant ma memoire aux despens de ma vie. Il ne veux m’enquerir s’on sent apres la mort: Ie le croy: ie perdroy d’escrire toute enuie: Le bon nom qui nous suit est nostre reconfort. Du giildne Freyheit du, mein wünschen und begehren, Wie wol doch were mir, im fall ich jederzeit Mein selber möchte sein, und were gantz befreyt Der liebe die noch nie sich wollen von mir kehren, Wiewol ich offte, mich bedacht bin zue erweren. Doch lieb ich gleichwol nicht, so bin ich wie ein scheit, Ein stock und rawes bley. die freye dienstbarkeit, Die sichere gefahr, das tröstliche beschweren Ermuntert meinen geist, das er sich höher schwingt Als wo der pöfel kreucht, und durch die wolcken dringt, Geflügelt mitt vernunfft, und mutigen gedancken, Drumm geh’ es wie es wil, und muß idi schon darvon, So überschreit ich doch des lebens enge schrancken, Der name der mir folgt ist meiner sorgen lohn. Die Abweichungen sind einmal formaler Art. Bei Ronsard decken sich metrische Einheiten, Zeilen und Strophen, und Sinneinheiten. Auch der Sonett-Aufbau kommt voll zu seinem Recht, nach den beiden Quartetten setzt mit den Terzetten die Conclusio „il me faut donc . . .“ neu ein. Opitz dagegen läßt seine Sätze gern in der Mitte des Alexandriners auf¬ hören und überspringt dann die Zeilenenden durch Enjambements. So ergibt sich eine dem vorgegebenen Schema entgegenlaufende Bewegung,

29 52

Martin Opitz, Poeterey. S. 16

welche auch die Pause zwischen Quartetten und Terzetten nicht respek¬ tiert. Erst das zweite Terzett bringt die Zusammenfassung. Das macht das Gedicht pointierter. In ähnlicher Weise wird der innere Aufbau verschoben. Ronsards klare Antithetik von unproduktiver Unabhängig¬ keit und quälender, aber inspirierender Liebe, aus der schließlich die Entscheidung für die Liebe herausführt, wird bei Opitz schon im zweiten Quartett in drei Oxymora zusammengezogen. Das macht das Ganze geistreicher und künstlicher auf Kosten der Schlüssigkeit. Die banale Wendung „Drumm geh es wie es will", welche auf die Weiterführung des Argumentationszusammenhanges fast unwillig verzichtet, bildet nur eine notdürftige Überleitung zur Pointe. Am weitesten emanzipiert sich Opitz von seiner Vorlage in der Um¬ schreibung der dichterischen Tätigkeit. Ronsard verbindet die Themen Liebe und Dichtung so, daß er die von der Liebe eingegebenen Werke mit Kindern vergleicht, die ihn überleben. Daraus ergibt sich selbstver¬ ständlich der Gedanke des Nachruhms. Opitz nennt in den auf das Gedicht

hinführenden

Zeilen

Ronsard

„der

französischen

Poeten

Adler"30. Das ist gleichsam das Signal dafür, daß er in das Kraftfeld der Adleremblematik eintritt. Die Stichwörter dafür waren wohl „Liebe" und „Nachruhm". „Des Lebens enge Schranken“ erinnern an das Em¬ blem, in dem Amor dem eingesperrten Vogel den Käfig öffnet. Nicht umsonst hatte Opitz „für und für" über Plato gesessen. Die Liebe bewirkt jedoch bei Opitz den Aufschwung nur mittelbar. Sie gibt, wie schon die Oxymora andeuten, die den von ihr bewirkten Zustand kennzeichnen, „Vernunft und mutige Gedanken“ ein. Damit ist das Dichtwerk umschrieben. Die Poesie ist der Flügel des Aufschwungs. Dieser ist auf vordergründige Weise in die Hand des Menschen gegeben, zumal die Poesie nicht, wie bei Gryphius, inhaltlich festgelegt zu sein scheint. Die Poesie hebt den Dichter über den „Pöbel“ hinaus. Sie gibt ihm einen Namen, durch den er sich von und vor allen andern auszeichnet. Das Bedürfnis des Ich, sich zu unterscheiden, mag man auch in dem Detail erkennen, daß Opitz in der letzten Zeile „nous“ durch „mir“ wiedergibt. Der Ruhm, der über die Menge hinausführt, wird als Nach¬ ruhm auch zum Mittel, die begrenzte Lebenszeit zu transzendieren. Ronsard setzt den Nachruhm der christlichen Unsterblichkeit entgegen. 30

Diese Metapher auch bei Dante für Homer quel signor delP altissimo canto Che sopra gli altri come aquila vola. Inf. IV, 95

53

Opitz’ „Drum geh es wie es will“ läßt diese Möglichkeit zwar noch halbwegs offen. Der Nachruhm steht aber im Gegensatz dazu fest. Opitz faßt den Vorgang der Individuation somit hier ausschlie߬ lich in seinem Bezug auf das, was transzendiert wird, die Allgemein¬ heit. Das Ziel ist mit „höher“ und „durch die Wolcken“ ganz im Unbestimmten gelassen. Bekanntlich dient die ganze „Poeterey“ dazu, der Dichtung um des allgemeinen Ansehens der Dichter willen erhöhtes Ansehen zu schaf¬ fen. An anderer Stelle faßt Opitz sein Programm in das Bild des Auf¬ schwungs : nun bin ich auch bedacht Zue sehen ob ich mich kan auß dem staube schwingen Und von der dicken schar des armen volckes dringen So an der erden klebt, ich bin begierde voll Zue schreiben wie man sich im creutz auch frewen soll, Sein Meister seiner selbst, ich wil die neun Göttinnen, Die nie auf unser deutsch noch haben reden können, Sampt ihrem Helicon mit dieser meiner handt Versetzen allhieher in unser Vaterland.31 Auf drei Ebenen geht es hier um Individuation. Im Sozialen soll ein höherer Rang erreicht werden. Der Gedanke, dem Vaterland durch die Dichtungsreform zu größerem Ansehen zu verhelfen, überträgt dieses Programm vom Einzelnen auf die Nation. Der Inhalt, den die stoische Formel „Sein Meister seiner selbst“ zusammenfaßt, betrifft gleichfalls die Individuation dessen, der gerade aus eigener Kraft, nicht durch Her¬ kunft, in die Höhe kommen will. — Wenn Opitz von der Versetzung des Musenbergs nach Deutschland spricht, übernimmt er eine traditio¬ nelle Metonymie für Dichtung, die zugleich seine Auffassung vom hohen Dichter akzentuiert. Im Lehrgedicht „Vesuvius“32 erklärt er es für das vornehmste Geschäft des Menschen, das Haus der Welt vom höchsten Giebel aus zu betrachten. Auch in dem einen Adler-Gleichnis führt der Aufschwung auf das „Dach des Himmels“ zu. Die gesellschaftliche Höhe des Dichters gründet in seinem umfassenden polyhistorischen Wissen. Die Überschau macht den Dichter zum Herrn der Zeiten und Länder. Er ist der auf die Gelehrsamkeit eingeschränkte uomo universale. Sein Wissen gibt ihm die Möglichkeit, Gegenwärtiges auf das unvergänglich 31

Poeterey S. 21 [D ib]

32

Weltliche Poemata I, S. 31 f.

54

gewordene Vergangene zu beziehen und so zu verewigen, und diese Fähigkeit wirkt auf ihn selbst zurück. In Opitz’ „Elegie“ verstummt denn auch die gattungsgemäß er¬ wartete Vergänglichkeitsklage vor dem Bewußtsein der eigenen Leistung und ihrer Bedeutung: Wer diesen Zweck erlangt, darff nicht hierunden kleben, Und wer er zehnmal todt so soll er dennoch leben, Gott herbergt selbst in ihm, ja was er denckt und schafft Riecht nach Unsterblichkeit, schmackt nach dess Himmels krafft. Drum wird die schnelle Flucht der Jahren nicht verderben Was ich beginn, und auch, wann ich schon sterbe, sterben, Ob das, so unden war, solt alles oben stehn, So kan der Weissheit Lob doch nimmermehr vergehn.33 Das durch die poetische Leistung errungene Selbstbewußtsein mündet gemäß der alten Formel „poeta alter deus“ in eine Art Selbstapotheose. Die Individuation, die hier anders als bei Gryphius den Bezug zu Gott hintangesetzt hat, versteht sich selber als Akt der Gottwerdung. Das ist gewiß nicht au pied de la lettre zu nehmen. Auch diese Bestimmung des Poeten ist traditionell34. Sie gehört zum überlieferten dichterischen Ornat. Überhaupt hat ja Opitz der humanistischen Dichtungstheorie in Deutschland Eingang verschafft, ohne viel eigenes dazu zu tun. Dennoch, Opitz’ Biographie erscheint als Versuch, dieses Programm für sich selbst in Leben umzusetzen. Äußeren gesellschaftlichen Erfolg und Dauer des Namens vermochte er für sich zu erlangen. In der „Poeterey“ versichert er zudem gegen Ende mehrfach, welche „Ergetzung“ ihm selbst das Dichten bereite. Es hatte seinen Grund im Wissen um die Bedeutsamkeit dessen, was er tat. Sein Selbstbewußtsein erwuchs darauf, daß er beim Dichten selbst Ansehen, Ruhm und Göttlichkeit vorwegnahm. Daraus

33

Teutsche Poemata S. 23 [4] Der nüchterne Simon Dach war sich offensichtlich bewußt, daß der Auf¬ schwung auch von ganz elementaren Bedingungen abhing, als er in einem Bittgedicht um Geld für seinen Sohn dichtete:

34

Mancher flöge Wolcken ein, Möcht es ohn die Armuth seyn, Die uns schwer hängt an den Füßen Daß wir stracks hinunter müssen. S. Dach I, S. 299 Vgl. Joachim Dyck, Ticht-Kunst, Deutsche Barock Poetik und rhetorische Tradition. Bad Homburg/Berlin/Zürich: Gehlen 1966. Das Selbstverständnis des Dichters als Argumentationssystem. S. 113—133

55

gewann er „Freude“, „Genüge“, „Lust“. Der poetische Aufschwung wurde von einer positiven Gemütsstimmung begleitet. Man wird sie, wenn man Opitzens grundsätzlich stoische Haltung bedenkt, nicht zu sehr betonen können. Es handelt sich wohl weniger um ein selbstän¬ diges Gefühl, als um eine affektive Tingierung des Bewußtseins. In Opitzens Konzeption liegt eine gewisse Verwandtschaft mit der Giordano Brunos. Was aber bei Bruno ein innerer Impuls bewirkt, ist bei Opitz veräußerlicht zur programmatischen Leistung. Bei diesem Ver¬ gleich ist jedoch der geschichtliche Rahmen nicht außer acht zu lassen, den Alewyn mit gewissem Recht zu Opitz’ Gunsten anführt: „Seit die geistige Führung in Deutschland von den Städten an die Höfe über¬ gegangen war, war die gesellschaftliche Rehabilitierung des Dichter¬ standes aus der verachteten Pritschmeisterei ein entscheidendes Lebens¬ problem des neuen Dichters geworden.“35 Die Kategorien, mit denen Opitz Dichtung als Medium sozialer In¬ dividuation erfaßt, machen sich noch in den von ihm angeregten Anwei¬ sungen zum Schreiben, mindestens was das genus sublime betrifft, be¬ merkbar. Der soziale Gesichtspunkt wird auf die Sprache übertragen, wenn es bei Büchner heißt: „doch aber ist beyder (gemeint sind Redner und Historiker) Rede noch so beschaffen / daß sie / also zu sagen / vul¬ garis /und neben dem Volck allzeit hergehe / und so gar etwas sonder¬ liches nicht habe / da hingegen der Poet ausstreicht / sich in die Höhe schwingt / die gemeine Art zu reden unter sich tritt / und alles höher / kühner / verblümter und frölicher setzt / dass was er vorbringt neu / ungewohnt / mit einer sonderbaren Majestät vermischt / und mehr einem Göttlichen Ausspruch oder Orakel / wie etwa der Petronius hie¬ von redet / als einer Menschen-Stimme gleich scheine.“36 Diese poetische Theorie hat ihre unmittelbare Anwendung in einer gelegentlich auftretenden Invokationsformel. Klaj fügte in sein „Weih-> nachts-Liedt“ die Anrufung ein: Auff auf mein froher Geist und du mein ganzes ICH Mein alles was in mir selb-selbsten rege sich Auff / auff du must anitzt dich in die höhe schwingen Wo keiner noch vor dir sich hingewagt mit singen!37

35 36

Richard Alewyn, Vorbarocker Klassizismus und griechische Tragödie. Darm¬ stadt: Wiss. Buchgesellschaft 1962 (Sonderausgabe) S. 7 Poeterey S. 16

37

Cysarz Bd 2, S. 107

56

Er variierte damit offensichtlich Opitz5 Verse: Im fall du wilt Was Göttlich ist erlangen. So lasß den leib in dem du bist gefangen, Auff, auff mein Geist, und du mein gantzer sinn, Wirff alles das was weit ist von dir hin.38

III. Gegen das Programm der mit sozialem Aufstieg verbundenen huma¬ nistischen Selbstapotheose erhob sich in der Zeit mannigfaltige Kritik. Von beiden Konfessionen her überführten Bidermanns „Cenodoxus“ und Andreaes „Turbo“ diese Haltung der Superbia. Gryphius5 Papinian zeichnet am Eingang seines Eröffnungsmonologs das Bild dessen, Wer über alle steigt und von der stoltzen höh Der reichen ehre schaut, wie schlecht der pövel geh39, nur deshalb, um seinen Fall um so drastischer auszumalen. Denn wer sich den hohen Herren gleichzustellen suchte, zog damit, wie das schon manche Embleme in „Flucht menschlicher Tage“ andeuteten, auch die Wirkung der Fortuna auf sich, der die Hochgestellten vor allen andern Sterblichen ausgesetzt waren. Catharia Regina von Greiffenberg setzt allem fürstlichen und humanistischen Ansehen die Schwachheit der Frauen entgegen: Nicht / der im Adler Thron der Scepterführer ist / nicht stolze Helden auch / noch Sternen-Hochgelehrte / auch Weiße-Greißen nicht / noch Geistlich Höchstgeehrte / sind zu der hohen Ehr / der Urständ fast erkiest.40 Lohenstein erhebt in seinem großen Nachrufgedicht auf Gryphius „Die Höhe des menschlichen Geistes“, nachdem er die umfassende Gelehr¬ samkeit des Dichters in Erinnerung gebracht hat, die klagende Frage: 38

Poeterey S. 43 [G 4a] Dieser Gedichtanfang scheint ein Initialtopos zu sein: Auf / auf! heb dich aus den Pflaumen: Nimm die Feder in die Hand. Schwing dich von der Eitelkeit / GOTT dein Opfer-Gab zu bringen. C. R. von Greiffenberg, S. 380 Auf / auf / geängstes Herze! die trübe Wolk verschwindt gemach. Ebd. S. 324

30

Papinian I, 1/2. Gryphius Werke, Bd 2, S. 512

40

Greiffenberg S. 171

57

V

Ach! aber ach! wo ist Herr Gryph uns hin verschwunden Haucht denn der faule Tod auch solche Geister an?41 Der Tod ist die Widerlegung aller irdischen Selbsterhöhung, und zwar, nach Lohenstein, in einem doppelten Sinn: Einerseits zerstört er mit der irdischen Existenz die Basis dazu, andrerseits aber stellt er eine viel radikalere Möglichkeit des Aufschwungs dar, da er die Seele resp. den Geist endgültig aus der Gefangenschaft des Leibes entbindet, nicht nur aus den Schranken des „Pöbels“ und der Zeit. Beide Aspekte des Todes vereinigt Lohenstein in derselben Strophe: Am höchsten aber ist die Seele selbst gestiegen, Die zwar im Leibe, doch mehr in dem Himmel war. Wenn der Tod und Eitelkeit den Seelen ob will siegen, Baut sie der Ewigkeit ein neues Siegsaltar. Des Geistes ewge Glut schwingt sich zu Gotte wieder, Wenn ihm der Tod macht auf den Grabestein der Glieder.42 Wir erkennen hinter diesen Zeilen wiederum das „Vogel aus dem Käfig“-Emblem, speziell auch die ambrosianische Adler-Allegorie. Das ist nicht verwunderlich, da sich Lohenstein offensichtlich an Gryphius „Flucht menschlicher Tage“ inspirierte. Hier aber ist es der Tod, der den Käfig aufschließt. Den Tod als Befreier hat auch das Gedicht „Daedalus“ von Oppelt zum Thema: Mein Leben ist ein öder Labyrinth / Ein Irr-Gebräu / voll Finsternuß und Schröcken Wo Drachen-Zucht / und Basilisken stecken / Wo Minotaurus wohnt / und Abendheuer sind. Zwar die Vernunft will Ariadne seyn / Beginnet mich auf meiner Reiß zu lencken: Ihr Faden kan mich aus den engen Schräncken Doch gäntzlich führen nicht; Ich bleib geschlossen ein / Und hoffe nur auf die erseufftzte Zeit / Da mir der Tod wird schnelle Flügel bringen / Womit ich mög durch Lufft / und Wolcken dringen / Von dem bedrängten Hauss /, und Sorgen-Saal befreyt. Ich werd mit Lust mir singen in der Höh / 41 42

58

Lohenstein, Gedichte S. 62 f. A.a.O. S. 71

Viel süsser / als vor Daedalus gesungen / Da er sich nun befreyet aufgeschwungen / Mit Segeln / die aus Wax / geflogen über See.43 Die Daedalus-Geschichte hat dieselbe Struktur wie das „Vogel aus dem Käfig“-Emblem. Wir hatten bei Bruno gefunden, daß, gemäß der Ovidschen „Ars amatoria“, Daedalus den von der Liebe im platonischen Sinn beflügelten Menschen bedeutete. Im Umkreis von Opitzens Poe¬ siereform wurde Daedalus als der Künstler gesehen, der sich dank seiner Kunst in die Höhe schwingt. Treuers Poetisches Wörterbuch nannte sich „Teutscher Dädalus“. Oppelt spielt mit der Nennung Ariadnes und, indem er Daedalus singend vorstellt, auf diese beiden Möglichkeiten an. Aber sie sind dem Tod untergeordnet. Er öffnet den Käfig, das „be¬ drängte Haus“, und verleiht schließlich auch die Gabe des Gesangs. In dieser Ablösung des Eros durch den Tod geschieht eine grund¬ sätzliche Wendung, auf der wesentlich der Unterschied von Renaissance und Barock beruht. Der Eros vermittelte zwischen Sichtbarem und Un¬ sichtbarem, Körper und Geist. In der Schönheit schien im Irdischen das Überirdische durch, und durch die Schönheit wurde im Menschen etwas Göttliches entzündet. Der Tod dagegen bezeichnet gerade die radikale Scheidung von Irdischem und Überirdischem. Das Göttliche kann sich nur dort zeigen, wo die Welt negiert wird. Damit schien dem Men¬ schen im Diesseits die Möglichkeit genommen, zu seinem ewigen Teil, seinem Selbst zu gelangen. Es blieben ihm Seufzen und Hoffen. Einzig im letzten Stündlein lag allenfalls die Chance, am äußersten Rand der Erfahrung für einen Augenblick des Ewigen teilhaftig zu werden, was die Märtyrerdramen unermüdlich vorführten. Das hieß, daß nur im Tod Individuation möglich war. In dieser Konzeption lag jedoch bereits die Möglichkeit, sie zu ent¬ schärfen. Nicht nur das Lebensende, sondern das Leben als Ganzes stand für die Epoche im Zeichen des Todes. Dies, daß „die Mörderin Zeit den Menschen schon zu Lebzeiten umbringe, enthielt die logische Konse¬ quenz, auch die befreiende und erlösende Seite des Todes im Leben vorwegzunehmen, so daß der Mensch noch im Diesseits zu sich selbst kommen konnte. Damit mußte nun wiederum, ähnlich wie der Ruhm, etwas Menschliches für das Göttliche eintreten, das aber nicht „dieser Welt“ der Erfahrung angehören durfte. Die Zäsur des Todes wurde

43

Cysarz, Bd 3, S. 160

59

darin respektiert, daß man das Aequivalent im menschlichen Innern suchte. Opitz hat diesen Konnex, wiederum das „Adler aus dem Käfig“Emblem benützend, in seinem „Begräbnuss-Gedicht“ ausgesprochen: Er wird von Eytelkeit der dinge nicht verblendet Die bloss im wahn bestehn; Hat allezeit gewendet Sein Himmlisches Gemüth auf das so ewig wehrt, Verlesst was aussen ist, ist in sich selbst gekehrt. Je weiter er dann geht auss dieses Leibes Ketten, Je höher er auch kömpt, kan ueber alles tretten Was Welt genennet wirdt, sieht unter sich die Klufft Der schnöden Sterbligkeit.44 Damit wird der Aufschwung zum Weg nach innen. Stärker als zuvor tritt nun sein Ziel in den Blick, die Ewigkeit. Sie manifestiert sich in inneren Zuständen, Affekten oder Bewußtseinshaltungen. Welche das sind, ist damit noch nicht festgelegt. Die Epoche bringt verschiedene in Vorschlag. Alle aber tragen die Negation der Welt als Verachtung, Trauer oder Schmerz an sich. Papinians Formel lautet: Wer hier beständig steht, trotzt fleisch und fall und zeit Vermählt noch in der weit sich mit der ewigkeit Und höhnt den Acheron.45 Der Reim von „Zeit“ und „Ewigkeit“ macht die Paradoxie hörbar, um die es dabei geht: Etwas Zeitliches soll für die Ewigkeit eintreten, die doch gerade die Antithese zur Zeit darstellt. „Ewig“ verliert damit das Moment der Dauer. Ein Rest davon ist noch in Papinians Ideal der Beständigkeit erhalten. Doch ist auch damit eine innere Haltung, der „hohe“ oder „starcke“ Geist gemeint.

„Ewig“ ist das Epitheton

jener inneren Qualität, die das, was den Menschen mit Gott verbindet, ausmacht, zu dem der Aufschwung führt. Das stoisch bestimmte Ideal unterscheidet Papinian von den christ¬ lichen Märtyrern des barocken Trauerspiels. ruft der Chor aus:

In

Caussins

Dring in die freude durch den schmertz! Fleug’ aus dem kercker durch die luft! 44

Teutsche Poem ata S. 63

45

Papinian IV, 233/34. A.a.O. S. 588

60

s

„Felicitas“

Schaut, wie sein sinn von eyfer brennt! Wie der von gott entzündte geist Der wehmut trübe nebel trennt, Der geist, der noth und marter preist!46 Hier, wie oft in gemildeter Form auch bei Gryphius, ist die aus dem Schmerz gewonnene Freude der der Erhöhung zugeordnete Affekt. In ihr wird der Himmel auf Erden erfahrbar. Geradezu ein Programm da¬ für formuliert das Sonett „Verlangen / nach der herrlichen Ewigkeit“ der Catharina Regina von Greiffenberg, das beginnt: Schwing dich / meine SeeP / in Himmel / aus der Eitlen Zeitlichkeit! schwing dich hin/woher du kommst/ wo du auch wirst wider bleiben. Wollst mit süsser Denke-Lust deine weil dieweil vertreiben: biss du wirst ergetzt / versetzet in die Zeit-befreyte Zeit. Ach ich meyn die Ewig-Ewig-Ewig-Ewig-Ewigkeit / in die der belebend Tod wird entleibend einverleiben. Unterdessen soll mein Hand was von ihrer Hoheit schreiben / von der nie gefühlten Fülle / ihrer Erz-Herz-süssen Freud.47 Das freudig erregte Gemüt wird zur Erscheinungsform des Ewigen in der Zeit, und zwar so eindeutig, daß der Schluß von einem auf das andere sogar umgekehrt verlaufen kann wie bei Schmolck: Betrübniiß kerckert nur die Seelen / Ein froher Geist steigt Himmel an / Trotz allen Unmuths-vollen Höhlen / Hier find ich eine Rosen-Bahn. Fragt nicht / wie ich so Sorgen-losß Ruht doch mein Hertz in Gottes Schoosß.48 Die auf dem Theater vorgestellten Märtyrer, denen sich aus Angst und Qual der Ausblick in ihre und Gottes Ewigkeit eröffnet, sind für die Zuschauer Gegenstand traurig-freudiger Contemplation. In seinen „Kirchhofsgedanken“ sucht Gryphius diese Wirkung allein durch sprach¬ liche Vergegenwärtigung von Vergänglichkeit und Verwesung zu er¬ reichen. In der Vorrede dazu legitimiert er sich mit zahlreichen Hin46

Zit. bei Schings S. 271. Schings betont auch mit Nachdruck die „im Wider¬ spruch zu allen stoischen Prämissen geradezu fundamentale Neuorientierung der Affektsphäre“ (S. 275), um die es in unserem Zusammenhang geht.

47

Greiffenberg, S. 248

48

Cysarz, Bd 3, S. 233 61

V

weisen auf Gewährsleute, die ihr Denken gleichfalls auf den Tod ge¬ richtet hielten49. Dennoch unterscheidet sich sein „memento mori“ in einem wesentlichen Punkt vom mittelalterlichen. Zwar geht es auch bei ihm um die Mahnung, im Hinblick auf das Endgericht zu leben. Aber wie in Baldes Friedhofsgedicht „Enthusiasmus in coemeterio considerantis mortem ac functorum ossa“50, dessen Übersetzung Gryphius ein¬ bezogen hatte, tendieren auch seine Vergänglichkeitsverse auf „Enthu¬ siasmus“, „Entzückung“. Die positive Kompensation ergibt sich unmit¬ telbar aus der Angst. So offenbar verstand es Lohenstein, als er schrieb, Gryphius habe Aus Sarg und Grüften ihm ein Paradies gemacht, Die Seele rein gebrannt durch Leichen, Stank und Fleck In Gräbern sich erhöht bis über Wolck und Sternen . .

.51

Neben dieser affektiven gibt es eine aktive Vorwegnahme des Todes, für welche in der Sprache nurmehr die Anweisung gegeben wird. In den „Erbaulichen Sinnbildern“, die Arndts „Wahrem Christentum“ bei¬ gegeben sind, findet sich als Überschrift über ein Springbrunnen-Bild die Devise „Erhöhet durch den Fall“, welche die Unterschrift expliziert: Der Christen Ehr’ und Ruhm ist nicht auf Erden, Sie müssen, weil ihr Thun der naseweisen Welt Durchaus nicht ansteht noch gefällt, Allhier gemeistert und verlachet werden, Hier ist der Stand der Niedrigkeit. Jedoch wird ihr Gemüth durch solchen Fall erhöhet, Dass es auf Erden allbereit Im Himmel wohnt und auf den Sternen gehet: Zwar heimlich sonder allen Glanz und Schein.52 Dieselbe Anschauung führte Sudermann zu seinem theologischen „Lob des Esels“53. Diese Haltung entsagungsvoller Demut stellt den Gegenpol zur humanistischen Selbstapotheose dar. Die Superbia scheint gebrochen, 49 50 52 53

Gryphius Werke, Bd 3, S. 337 f. — Vgl. Ferdinand van Ingen, Vanitas und memento mori in der deutschen Barocklyrik. Groningen: Wolters 1966 Balde, Dichtungen. S. 62 51 Lohenstein, Gedichte S. 71 Erbauliche Sinnbilder S. 41 Cysarz, Bd 3, S. 195. Hier wird der theologische Zusammenhang deutlich ausgesprochen: Gleich wie der engell durch hochfart Von Gott fiell, drümb zum teuffeil wardt,

62

um derentwillen Cenodoxus zur Hölle mußte. Dem Tod ist im Leben sein Recht eingeräumt. Bei Gryphius findet sich der Terminus „hohe Demuth“54. Tatsächlich ist auch diese Demut Grund eines Selbstbewußt¬ seins, das dem humanistischen kaum nachsteht. Aber anders als dieses verschmäht es ein sichtbares gesellschaftliches oder geschichtliches Äquiva¬ lent. Die angeführte Sinnbildunterschrift verspricht den hier Erniedrig¬ ten Plätze auf „goldenen Stühlen" und Triumph über ihre Verfolger und schließt daran den Trost: „Drum traure nicht!“ Die Freude ist der Vorschmack der Erhöhung und damit für das Gemüt die Erhöhung selbst. Bach hat im „Magnificat“ beim Vers „deposuit potentes de sede et exaltavit humiles“ diese Erhebung durch die Musik gegenwärtig ge¬ macht. Das Selbstbewußtsein nährt sich aus der Erniedrigung. Seine Stütze hat es in „Herz“ oder „Gemüth“. Die Regungen des „Herzens“ sind jedoch nie gelöst von Denkinhal¬ ten. Es wäre verfehlt, im Umschlag von Angst, Trauer, Qual in Lust und Freude, der der affektiven und der aktiven Einbeziehung des Todes in das Leben zugrunde liegt, eine psychologische Gesetzmäßigkeit etwa gar masochistischer Art zu sehen. Angst und Freude sind stets auf ihr objektives Gegenüber Welt und Himmel, Zeit und Ewigkeit bezogen. Sie beruhen auf dem christlichen Weltverständnis, dessen Erstarkung die Epoche als ganze kennzeichnet. Der Umschlag ist praeformiert in Passion, Tod und Himmelfahrt Christi. Aus der Analogie alles menschlichen Trauerns und Leidens zur Passion wird dieses zur Befreiung und Wonne55. In der Person Christi ist der Prozeß der Individuation vorgebildet. Er ist der Inbegriff des

Und der mensch eingefürt den tod Da er auch weiss wolt sein wie Gott, Also, wan sich zu demüt neigt, Der mensch, vom fahll zu Gott er steigt, . . . 54

Gryphius Werke, Bd 3, S. 340 Vgl. auch Simon Dach:

Nehmt euch der Demut an, Durch welche man allein am höchsten steigen kann. Werke Bd I, S. 55 Ein Sonett der Catharina Regina von Greiffenberg trägt den Titel „Auf die 55

erniedrigende Erhebung und erhebte Nidrigkeit“. S. 15 Albrecht Schöne hat an Gryphius’ „Carolus Stuardus“ gezeigt, wie in der Passion und Himmelfahrt Christi das äußere und innere Geschick des Mär¬ tyrers präfiguriert ist. Albrecht Schöne, Saekularisation als sprachbildende Kraft. Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht 1958. (Palaestra Bd 226) Kp. 2: Figurale Gestaltung. S. 29 ff. 63

Adlers. Von ihm heißt es in Opitz Übersetzung des „Lobgesang Christi“ von Heinsius: Der Adler der mit krafffc biss in das Grab gezogen, Und wieder mit gewalt und macht heraus geflogen, Sitzt über alles nun.56 Eines der Arndts „Wahrem Christentum“ beigegebenen Embleme stellt, wie es auch Gryphius in „Flucht menschlicher Tage“ tut, die dem Adler zugeschriebene Sonnenprobe in diesen Zusammenhang: „Hier ist zu sehen ein alter Adler, welcher mit ein paar Jungen auf seinem Rücken in die Höhe nach dem Sonnenlicht zufliegt, damit sie lernen, gerade in die Sonne sehen. Hiermit wird abgebildet, daß alle diejenigen Christen, welche dem himmlischen Adler Christo Jesu auf dem engen Kreuzesweg fein nachfolgen, je länger je mehr zum Lichte kommen und es sehen.“57 Christus als der gemeinsame Nenner der Vorwegnahmen des Todes im Leben wird zum Urbild der Person. Die Individuation geschieht als Nachvollzug seiner Geschichte. Doch ist er nicht das einzige Vorbild. Von Hiob bis zu den urchristlichen Blutzeugen gibt es zahlreiche andere Beispielfiguren. Wer in der beschriebenen Weise Christus nachfolgte, stellte sich in eine Reihe mit ihnen. Hier wird eine Parallele zu Opitz erkennbar, der zur Legitimation auf die vornehmen Dichter der Sage und Geschichte verweist. Der durch die Poesie und der durch den Tod ver¬ mittelte Aufschwung geben dem Menschen gleicherweise das Bewußtsein, in die Zeitlosigkeit einer großen und ehrwürdigen Tradition einzugehen.

IV. Die konsequenteste Einbeziehung des Todes in das Leben im Namen Christi ist die pietistische Bekehrung, in welcher der natürliche Mensch stirbt und als neuer Mensch wiedergeboren wird. A. H. Francke parallelisiert in seinem Bekehrungsbericht beide Phasen bezeichnenderweise mit körperlichem Niederlegen und Aufstehen58. Im Gegensatz zu con56

Tentsche Poemata S. 194 [148]

57

Erbauliche Sinnbilder, S. 17

58

Anfang und Fortgang der Bekehrung A. H. Franckes von ihm selbst be¬ schrieben. Deutsche Selbstzeugnisse hrsg. von Marianne Beyer. Bd 7, Pietis¬ mus und Rationalismus. Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen. Leipzig: Reclam 1933. S. 26

64

templativer Versenkung und Demut beruht die Bekehrung nicht auf menschlicher Leistung, sie ereignet sich oft sogar gegen den Willen des Betroffenen. Sie geht von der göttlichen Gnade aus, die in Christus leib¬ haftig geworden ist. Der Mensch ist bestenfalls durch Öffnung seiner Seele beteiligt. Neben die Imitatio tritt eine Verschmelzung mit dem Seelenbräutigam, also eine völlige Identifizierung. Jesus wird zum Ich des Bekehrten59. Es ist daher nicht zu verwundern, daß sich das Aufschwungmotiv in der pietistischen Dichtung relativ selten findet. Die Grundbewegung ist das Herniedersinken der Gnade. Der Aufschwung ist die Antwort darauf. Francke singt: Wenn auch die Hände lässig sind und meine Knie wanken, so biet mir deine Hand geschwind in meines Glaubens Schranken, damit durch deine Kraft mein Herz sich stärke und ich himmelwärts ohn Unterlass aufsteige! Geh, Seele! frisch im Glauben dran und sei nur unerschrocken, laß dich nicht von der rechten Bahn die Lust der Welt ablocken, so dir der Lauf zu langsam deucht, so eile, wie der Adler fleucht, mit Flügeln süsser Liebe. O Jesu, meine Seele ist zu dir schon aufgeflogen, du hast, weil du voll Liebe bist, mich gänzlich ausgesogen; fahr hin, was heißet Stund und Zeit, ich bin schon in der Ewigkeit, weil ich in Jesu lebe.60 59

Vgl. Zinzendorf: Du einer jeden Sel’gen Seel’ Ihr ander Ich, Immanuel. („Herzenskälte und Geistestod“)

60

Geistliche Lieder S. 182 A. H. Francke: „Gottlob! ein Schritt zur Ewigkeit.“ (Strophen 10—12) Pietis¬ mus S. 128, vgl. auch Gottfried Arnolds Gedicht „Auff den gecreutzigten Je-

65 5

Pestalozzi, Lyrisches Ich

Zinzendorf hat dafür einmal die lapidare Formel: Hört dich die Seel im Leibeshaus, So fliegt sie über Himmel aus.61 Im Bild des Adler-Fluges und Ausdrücken wie

„des Glaubens

Schranken“ und „Leibeshaus“ scheint der emblematische Hintergrund noch durch. Aber die „Kraft des Herzens“, die den Aufschwung trägt, wird von außen aus der Liebe Christi gespeist. Dieser gilt vor allem die Aufmerksamkeit. Je geringer der Anteil des Ich am Aufschwung ist, um so wichtiger wird es, dessen Anzeichen zu erkennen. Der Pietismus hat die Korrespondenz von Heilsereignissen mit Zuständen des Gemüts zum System erhoben. Im Bekehrungsvorgang treten Trübsal und Freude zu den großen Antithesen Welt und Gott, Zeit und Ewigkeit, Leib und Seele, Sünde und Gnade hinzu. Dem bekehrten Francke wurde die Gnade Gottes in einer unaussprechlichen Freude spürbar, die ihn nicht schlafen ließ: „alle Traurigkeit und unruhe des herztens ward auff einmal weggenommen ..

.“62

Diese hatten die Erkenntnis seiner Ver¬

lorenheit begleitet. Erlösung von der Erbsünde in Christus und Freu¬ digkeit wurden eins. Sprachlich hatte das zur Folge, daß in „Auf¬ schwung“ die Anschaulichkeit verblaßte und das Wort zur Benennung einer starken und großen Freude wurde. Die „schöne Seele“ sagt von ihrer Bekehrung: „. . . in kurzem war ich überzeugt, daß mein Geist eine Fähigkeit sich aufzuschwingen erhalten habe, die ihm ganz neu war. — ... Als das erste Entzücken vorüber war, bemerkte ich, daß mir dieser Zustand der Seele schon vorher bekannt gewesen; allein ich hatte ihn nie in dieser Stärke empfunden. . . ,“63 Zinzendorf verwendet zweimal „Aufschwung“ in Titeln von geistlichen Liedern, in denen jede Aufstiegsbildlichkeit fehlt64. Die entscheidende Rolle des freudigen Gefühls wird ex negativo

sum / in dessen Seiten die Seele als geflügelt auffsteiget“. Gottfried Arnold, 61

62 63 64

66

Auswahl S. 267 Zinzendorf „Herzenskälte und Geistestod“. Vgl. Anm. 59. In diesem Lied auch die für das Verhältnis zur hohen Literatur bezeichnende Strophe: Ein Mensch, der einem Trauerspiel Zulieb vergießt der Thränen viel, Thut oft zu Jesu Kreuz und Lehr’, Als ob’s ne Kinderfabel war’. Anfang und Fortgang der Bekehrung A. H. Franckes etc. S. 26 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, 6. Buch. Artemis-Gedenkausgabe, S. 425 „Neuer Aufschwung zur Treue“, „Neuer Aufschwung in Christo“

daran faßbar, daß Francke in dem zitierten Gedicht als Verlockung nicht ,diese Weit*, sondern speziell „die Lust der Welt“ anführt. Da die Freude zum Gnadenbeweis wurde, war es entscheidend wichtig, sie rein zu erhalten. Das konnte nur dadurch geschehen, daß sie inhaltlich fixiert blieb. Die pietistische Abwehr der weltlichen Vergnügungen des Tanzens, Theaterspielens etc. diente dieser Reinhaltung. In dem Bericht der „schönen Seele“ bereits zeichnet sich die Tendenz ab, jegliche Freude für göttlich zu erklären und damit die Grenzen zu verwischen. Sie behalf sich noch damit, daß sie zwischen weltlicher und göttlicher Freude einen Unterschied der Intensität annahm. Der Ansatz dazu liegt schon in der Grundkonzeption. Wenn vorhin Betrübnis und Sünde gleichgesetzt wurden, so ist das dahin zu diffe¬ renzieren, daß sich die göttliche Gnade dem Pietisten bereits in der intensiven Zerknirschung über die eigene Verlorenheit ankündigte. Und der Bekehrte erkannte noch in den Verdüsterungen des Gemüts den Quell seiner Freude. Zinzendorf singt einmal: Bräutigam Hier ist Angst; — Hallelujah! Hilf uns durch die Pilgerwüste! Halt’ es unsern Fierzen nah’, Daß ein Heiland für uns büßte; — Heb’ uns einst zu deinem Siegerchor Floch empor!65 Bei den Herrenhutern wurde bekanntlich in der Blut- und Wunden¬ mystik dieser Umschlag ausgekostet. Doch auch der freudige Schlußchor der Matthäus-Passion „Wir setzen uns in Tränen nieder“ läßt diesen Zusammenhang erkennen. Die Struktur der „Kirchhofsgedanken“ von Gryphius kehrt hier wieder. Aber da das Wissen, das den Umschlag verbürgt, fast formelhaft geläufig ist, werden Trauer und Schmerz kraft ihrer Intensität bereits positiv empfunden. Starke Empfindung als solche bezeugt die Verbindung mit Gott. Die pietistische Bekehrung hatte mit dem Tod die Einmaligkeit gemein. Nach dem „Durchbruch“ konnte der Mensch nicht mehr aus der Gnade fallen, er konnte ihr im Laufe der Zeit nur näher und ferner sein. Das führte zur Beobachtung der Gemütszustände. Zu fühlen war göttlich, im Fühlen war der Mensch bei sich selbst, auf das Fühlen war 65 „Pilgergesang zur Höhe“ (Schlußstrophe); Geistliche Lieder S. 193

\

das Leben einzurichten. Da aber dieses Gefühl primär als „Liebe“ ver¬ standen wurde, wies es den Fühlenden über sich hinaus an die Welt. Von aller Mystik, der der Pietismus ja außerordentlich nahe stand, unter¬ schied er sich dadurch, daß die Weltabwendung eine verantwortungs¬ volle Hinwendung zur Welt zur Folge hatte. Die Schritte zur Welt vor seinem Innern verantworten zu müssen, setzte die pietistische Existenz unter Spannung. Das läßt sich in gewisser Weise schon auf dem Sektor, der hier besonders interessiert, der pietistischen Dichtung, erkennen66. Die pieti¬ stische Poetik, eigentlich ein Widerspruch in sich selbst, war in den mei¬ sten Stücken das Gegenbild der von Opitz inaugurierten, und sie ver¬ stand sich auch durchaus so. Der Satz

„Denn ein Poet kan nicht

schreiben, wen er wil, sondern wenn er kan, und ihn die regung des Geistes, welchen Ovidius und andere vom Himmel her zuekommen ver¬ meinen, treibet“67 war von Opitz aus dem Arsenal der Tradition als apologetisches Argument gegen die Gelegenheitsdichtung herangeholt worden, obwohl es seiner Grundintention widersprach. Die Pietisten nahmen ihn beim Wort. Wie alle menschliche Aktivität konnte für sie auch die Poesie nur von Gott ausgehen. Der Mensch war sein Medium. Das hieß, daß Dichtung nur das war, was von selbst „aus Inbrunst“ und „Überschwang des Herzens“ entstand, gemäß dem poetologisch ver¬ standenen biblischen Satz bei Gottfried Arnold: „Warum sollte . . . der Mund nicht übergehen / da das Herz bis oben voll ist.“68 Oft floß das Lied gegen den Willen des Dichters in seine Feder. Rhetorik und Ge¬ lehrsamkeit waren dabei nicht nur überflüssig, sondern schädlich. Es konnte in der Rezension eines Erbauungsbuches heißen: „Es verhindert auch mehrentheils die ihnen fast unvermeidliche Kunst in der SchreibArt, daß man die Haubt-Sache nicht gerade erblicket, und weil man alsdenn den Verstand zu viel beschäftigen muß, die Meinung der Worte zu fassen, so pfleget darüber der Affect sich zu verlieren . .

,“69

In der

Homiletik ging die Abwehr gegen „feine Flistorien / feine Sinnbilder / Emblemata und Symbola“70, was auch in der Poesie galt. Die Folge war 66

Im folgenden stütze ich mich auf die erhellende und materialreiche Arbeit von Wolfgang Schmitt: Die pietistische Kritik der ,Künste*. Untersuchungen über die Entstehung einer neuen Kunstauffassung im 18. Jahrhundert. Diss. Köln 1958.

67 68

Opitz, Poeterey S. 13 Zit. bei Schmitt S. 40; Mt. 12, 34; Lk. 6, 45

69

Zit. bei Schmitt S. 47 A. H. Francke, zit. bei Schmitt S. 44

70 68

eine Verwischung der Grenzen der drei genera dicendi. Die geistlichen Dinge, mit denen sich die pietistischen Liederdichter ausschließlich be¬ schäftigten, die in das genus sublime gehörten, wurden in volksnaher und kunstloser Sprache ausgesprochen. Alles andere stand im Geruch der Falschheit. Damit änderte sich das Verhältnis zwischen Dichter und Gedicht grundlegend. Während Opitz die Dichter vor der Identifizie¬ rung ihres Lebens und ihrer Gesinnung mit dem Inhalt ihrer Gedichte in Schutz genommen hatte, wurde nun gerade die eigene Erfahrung zur ausschließlichen dichterischen Legitimation. Grundsätzlich sollten Lieder aus der spontanen Gefühlsregung extemporiert werden. „Aus dem Her¬ zen“ setzte Zinzendorf über manche seiner Verse. Tersteegen mußte deutlich darauf hinweisen, daß er manchmal, wenn er das Wort „ich ‘ verwende, „in der Person einer solchen Seele, die in solchem Stande der Erfahrung stehet, geschrieben habe“'1; denn gewöhnlich waren den Pie¬ tisten Ich des Dichters und des Gedichts unmittelbar identisch. Entsprechendes galt von Ich des Gedichts und Leser. Zwar wurde nicht ausgeschlossen, daß ein Gedicht den Leser in den Gemütszustand, den es artikulierte, versetzen, auch wohl einen Weltverfallenen zur Be¬ kehrung ermuntern konnte. Doch hatte diese Einwirkung am Abbau der rhetorischen Kunstmittel ihre Grenze. Primär richteten sich die Lieder an Gleichgestimmte. In den Gesangbüchern waren sie so angeordnet, daß man gleich finden sollte, was dem eigenen Zustand entsprach. Die Lieder sollten auch für den Leser Ausdruck sein. In der Polemik, mit der die Vorrde zum Freylinghausenschen „Geist¬ reichen Gesangbuch“ schließt, die sich an den Leser, aber damit eben auch an die Dichter richtet, kommt die Distanzierung vom bisherigen Dichtungsverständnis in der Verzerrung des Aufschwungmotivs auf an¬ schauliche Weise zum Ausdruck. Im Anschluß an die Stelle aus Psalm VIII, „aus dem Munde der Unmündigen hat der Herr sich ein Lob zu¬ bereitet“, heißt es: „Das ist die Meinung: du mußt umkehren und wer¬ den wie ein Kind, so dein Singen und Beten und was du tust dem Vater im Himmel gefällig und angenehm sein soll. Flatterst du in hohen Din¬ gen dieser Welt herum und bist aufgeblasen in deinem fleischlichen Sinn und ist dir noch kein Ernst, Gott dem Herrn dein Herz zu ergeben, so gilt eben dir, ja dir sage ich, gilt was Gott durch den Propheten Arnos Kap. V, 23 sagt: Tue nur weg von mir das Geplärr deiner Lieder und in Ps. L, 16. [. . .] Hast du aber an Gott und deinem Heilande

71

Zit. bei Schmitt S. 36 69

\

deine einige Lust und Freude und suchst mit Verleugnung der vergäng¬ lichen Lust dieser Welt in demselbigen deine Erquickung gleich wie ein Unmündiger und Säugling an der Brust seiner Mutter, so wird sich auch Gott durch deinen Mund hier ein Lob bereiten, und in der zukünftigen Welt wirst du dich befinden in der Menge der vielen Tausende, durch welche die Gnade und Treue, die ewige Erbarmung und Liebe Gottes und des Lammes ohne Ermüdung und Abwechslung wird besungen werden. Halleluja! Amen!“72 Am Ende dieses Passus ist jedoch noch deutlich der Geist der Epoche am Werk. Die Verbindung von Ruhm und Unsterblichkeit gilt noch immer, nur daß sich der Parnass zum Himmel erweitert hat, in dem nicht nur alle geistlichen Sänger von Moses bis Paul Gerhardt, ihren Platz finden, sondern jeder Einzelne, der mit ihnen singt73.

V. Innerhalb der barocken Lyrik findet das Aufschwungmotiv bei den mystischen Dichtern seine reinste und konsequenteste Ausprägung. Das läßt sich am Beispiel Johannes Scheftlers zeigen. Aus dem Vergleich mit seinem Vorbild Daniel von Czepko geht hervor, wie sehr die Ausgestal¬ tung der „Expansion nach oben“ Scheftlers eigene Leistung ist. So kön¬ nen seine Beziehungen zur übrigen schlesischen Mystik hintangestellt werden74. 72 73

Pietismus S. 126 Es ist in diesem Zusammenhang nicht ohne Reiz, daß der Herausgeber von Zinzendorfs Liedern noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Dichter mit den Worten preist: Aufgestiegen bist Du gleich dem Adler Von dem Sterbelager dort. — Ruhig schwebend über’m Hohn der Tadler,

74

70

Zeuch uns hin zu deinem Hort, Ihm zu glauben, kindlich ihn zu lieben, Wie Dich lebenslang im Geist getrieben „Er, der mit der Last trat ein Aller Welt und der Gemein5!“ Geistliche Gedichte, S. XXXII. Ich kann hier auf eine aufschlußreiche Dissertation verweisen, die mir leider erst nach der Fertigstellung des Manuskripts zugänglich wurde: Hugo Föllmi, Czepko und Scheffler, Studien zu Angelus Silesius5 „Cherubinischem Wandersmann“ und Daniel Czepkos „Sexcenta Monodisticha Sapientium“.

Der „Cherubinische Wandersmann“ des „Angelus Silesius“ enthält schon im Titel eine Anspielung auf das Motiv der Erhebung. Scheffler gibt ihm eine extreme Deutung, die sich darin ankündigt, daß seine Sinngedichte Embleme ohne Bilder sind.

Sein Denken läßt sich als

Weiterführung des Entwurfes von Bruno verstehen. Die Verbindung wird an dem folgenden Epigramm deutlich: Du sprichst, im Firmament sei eine Sonn allein, Ich aber sage, dass viel tausend Sonnen sein.75 Wie kühn eine solche Aussage noch zu dieser Zeit war, läßt sich daran ermessen, daß Jacob Balde nur wenig früher in seinem Gedicht „Ad Sabinum Fuscum Tyrolensem“ mit dem Untertitel „invitatui ad contemplationem

rerum

coelestium“76

den

Namen

Copernicus

zwai

nennt, aber noch immer im Sphärenflug die ptolemäische Himmelsvor¬ stellung wiedergibt. Scheffler zieht ausdrücklicher als Bruno selbst theo¬ logische Folgerungen aus Brunos kosmologischer Konzeption. Er gelangt zu

einer

modern

anmutenden

Entmythologisierung

der

traditionel¬

len Gottesvorstellung. Dabei verfährt er ohne System. Doch lassen sich verschiedene Aspekte der Entbildlichung Gottes unterscheiden. Die von der christlichen Tradition aus dem biblischen Weltbild mitgeführten kon¬ kreten Lokalisierungen Gottes, daß er in der Höhe sei, im Himmel wohne, auf hohen Bergen sich offenbare, werden als uneigentlich er¬ kannt. Scheffler macht auf dem Umweg über paradoxe Konstellationen ihren metaphorischen Charakter deutlich. Das gilt auch für die als zeit¬ liche Dauer verstandene Ewigkeit. — Die Aufhebung dieser Vorstel¬ lungen begründet Scheffler mit der grundsätzlichen Unvorstellbarkeit Gottes. Nicht nui^ kann nichts Sinnliches für ihn eintreten, er entzieht sich auch den Anschauungsformen von Raum und Zeit. Damit hängt als dritter Schritt die Unaussprechbarkeit Gottes zusammen. Noch der Name „Gott“ verstellt den Zugang zu ihm. Alle diese Momente faßt das Epigramm „Der unerkannte Gott

zusammen.

Diss. Zürich 1968. Föllmi zeigt, wie Scheffler, auch wo er Czepko weiter¬ führt, ein „mystisches Ich“ entwickelt hat, das mit seinem zeitlichen nurmehr lose verbunden ist. Er sieht darin mit Recht bereits eine Vorstufe des „lyri¬ schen Ich“ (S. 108). Überhaupt deckt sich sein Gesichtspunkt weitgehend mit ™

dem, der dieser Arbeit zugrundeliegt. _ . Cherubinischer Wandersmann 1,41. Ich folge der üblichen Zitierweise nach Buch und Spruchnummer.

70

Balde, Dichtungen, S. 26 ff. 71

Was Gott ist, weiß man nicht. Er ist nicht Licht, nicht Geist, Nicht Wahrheit, Einheit, Eins, nicht was man Gottheit heisst. Nicht Weisheit, nicht Verstand, nicht Wille, Liebe, Güte. Kein Ding, kein Unding auch, kein Wesen, kein Gemüte. Er ist, was ich und du und keine Kreatur, Eh wir geworden sind, was er ist, nie erfuhr.77 Zwei Wege zur Gotteserkenntnis sind hier unterschieden. Der eine führt

von

Verneinung

zu

Verneinung

traditioneller

Prädikate,

der

andere besteht in einer unmittelbaren identifizierenden Erfahrung. Es erscheint verwirrend, daß Scheffler trotzdem weitgehend an der alten vertikalen Hierarchie der Werte festhält, wie etwa in dem fol¬ genden Epigramm: Die Weltlieb hat die Art, dass sie sich abwärts neigt, der göttlichen Natur ist, dass sie aufwärts steigt.78 Das zeugt für die Macht dieser Vertikalvorstellung, mag sie in der Tradition oder archetypisch begründet sein. Daraus ergibt sich noch immer die Forderung: „Erheb dich über dich.“ Der Mensch, der seinen Geist nicht über sich erhebt, Der ist nicht wert, dass er im Menschenstande lebt.79 Diese Erhebung wird nach der bekannten Scheidung als Aufstieg und Aufschwung vorgestellt.

Obwohl beide Modi

der Erhebung in

gewissem Maße austauschbar sind, zeichnet sich doch eine systematische Differenzierung ab. Vom Aufstieg heißt es: Ein Ungrund ist zwar Gott, doch wem er sich soll zeigen, Der muss bis auf die Spitz der ewgen Berge steigen.80 Der Aufstieg, der hier gefordert ist, besteht nun gerade in jener via negationis, wie sie das Epigramm „Der unbekannte Gott“ zeichnet. Die Stufen werden durch die tradierten Vorstellungen gebildet. Z. B. „Im¬ mer weiter“ Maria ist hochwert, doch kann ich höher kommen, Als sie und alle Schar der Heiligen geklommen.81 77 78 79 80 81

7*

Ch.W. Ch.W. Ch. W. Ch. W. Ch. W.

IV, 21 V, 288 II, 22 V, 29 I, 286

Oder: Steig über die Heiligkeit Die Heiligkeit ist gut, wer drüber kommen kann, Der ist mit Gott und Mensch am allerbesten dran.82 Die Metapher des Aufstiegs für diesen Reflexionsweg ist in der mystischen Tradition vorgegeben. Sie geht auf Dionysius Areopagita zurück83. Sandäus leitet in seiner lateinischen Übersetzung des Diony¬ sius die Negationsreihe mit den Worten ein:

„,Ascendentesc, inquit,

nernpe a particulioribus ad universaliora et a causatis ad omnium cau¬ sam profitemur' Deum ,nec Animum esse nec MentenT etc.“ Die Auf¬ stiegmetapher kommt während der anschließenden Reihung aus dem Blick, doch erscheint sie wieder im Schlußsatz: „Est enim deitas prima causa, summitas omnium: vertex superexaltissimus, ut loquuntur Mystici universorum, et perfectionis omnis conceptibilis apex.“ Schefflers Epi¬ gramm „Der unerkannte Gott“

geht auf diesen Passus des Sandäus

zurück84. Diese

Verwendung

der Aufstiegsmetapher führte

mystische Sprache seit Dionysius Areopagita

ujtep

dazu,

daß

die

„über“ als Nega¬

tion besonderer Art verwandte: „Dass Gott überschön ist, bedeutet ja nicht, dass er den höchsten Grad der Schönheit besitzt, sondern dass die Kategorie der Schönheit gar nicht auf ihn zutrifft.“85 Man könnte es somit als Präposition resp. Praefix der transzendentalen Aufhebung bezeichnen. So spricht Scheffler von der „Uber-Gottheit“ (I, 13), der „ÜberEngelheit“ (II, 44)^ daß Gott „überheilig“ sei. Der „vertex superaltissimus“ resp. der „apex“, den Gott darstellt, bleibt jedoch durch diese negative Erkenntnisweise unerreichbar. Der Aufschwung bezeichnet eine andere Erkenntnis weise: Mensch, wo du deinen Geist, schwingst über Ort und Zeit So kannst du jeden Blick sein in der Ewigkeit.86

82

Ch. W. I, 273

83

Im folgenden stütze ich mich auf die ausgezeichnete Dissertation von Renate (Böschenstein-) Schäfer, Die Negation als Ausdrucksform mit besonderer Berücksichtigung der Sprache des Angelus Silesius. Diss. Bonn 1959

84 Der Abschnitt ist in extenso zitiert bei Renate Schäfer S. 251 85 R. Schäfer S. 167 86 Ch. W. I, 12 73

\

Wer sich nur einen Blick kann über sich erschwingen, Der kann das Gloria mit Gottes Engeln singen.87 In diesem Zusammenhang wird auch das Adler-Emblem beige¬ zogen: Der Adler fliegt hoch Ja, wer ein Adler ist, der kann sich wohl erschwingen Und über Seraphim durch tausend Himmel dringen.88 Der Adler sieht getrost grad in die Sonn hinein Und du in ewgen Blitz, im Fall dein Herz ist rein.89 Im Aufschwung vollzieht sich die Erkenntnis Gottes unmittelbar. Sie bedarf keines Prozesses. „Blick“ bezeichnet den Augenblick auch in zeitlicher Hinsicht. Zu dieser Intuition befähigt ein Können, das dem Menschen nicht verfügbar ist, während der Aufstieg dem Willen unter¬ stellt ist. Die Aufforderungen an den Menschen zu wollen und die ent¬ gegengesetzte, Gott wirken zu lassen, sind bei Scheffler etwa gleich häufig. Offensichtlich sah er eine gegenseitige Abhängigkeit beider. Das hängt mit der Lokalisierung Gottes zusammen. Scheffler läßt zuweilen erkennen, was es mit der Beibehaltung der Vertikalmetaphorik auf sich hat. Im bezug auf den Aufstieg heißt es einmal: Ich bin ein Berg in Gott und muss mich selber steigen, Da ferne Gott mir soll sein Liebes Antlitz zeigen.90 Und im Bezug auf den Aufschwung: Halt an, wo läufst du hin, der Himmel ist in dir; Suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für.91 Aufstieg und Aufschwung führen ins Innere des Menschen. Die Para¬ doxie, daß mit der Höhe eigentlich die Tiefe gemeint ist, bewahrt davor, die Metaphern beim Wort zu nehmen. Daraus folgt, daß Gott und Mensch im Grunde eins sind. Diese geheimnisvolle Einheit umkreist 87 88 89 90 91 74

Ch. W. II, 72 Ch. W. II, 171 Ch. W. III, 99 Ch. W. II, 83; Zur Genealogie dieses Epigramms (Sudermann—Czepko— Scheffler) vgl. Föllmi, a.a.O. S. 57/58. Ch. W. I, 82; vgl. Föllmi, a.a.O. S. 66/67

Scheffler in vielen Epigrammen. Sie ist es schließlich, die die vertikale Hierarchie der Werte aufhebt. So kann es heißen: Ich bin so gross wie Gott, er ist als ich so klein; Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.92 Diese Identität von Zeit und Ewigkeit im Innern des Menschen er¬ innert an die Anschauungen der Epoche, menschlichen Haltungen oder Affekten Göttlichkeit zuzusprechen. Manche Epigramme Schefflers schei¬ nen in die Nähe der besprochenen Möglichkeiten zu gehören. Auch für ihn ist Jesus die Vorbildfigur. Dennoch legt Scheffler die Identität mit Gott nicht in einen abgrenzbaren inneren Bereich. Er wahrt die Trans¬ zendenz Gottes und damit die seines Innern. Die Negationskette um¬ faßt deshalb auch die inneren Qualitäten, Freude und Wonne nicht aus¬ genommen : Mensch! ein vollkommner Christ, hat niemals rechte Freud Auf dieser Welt: warum? er stirbet allezeit.93 Der mit dem Selbst identische Gott ist vielmehr die Bedingung der Möglichkeit auch der inneren Haltungen und Affekte. Wie ihm in der Sprache nur das Schweigen angemessen ist, so führt auch der Weg zu ihm zu einem Zustand ohne Wallungen und Inhalte. Dieses Zustandes kann der Mensch nur in Augenblicken innewerden. Sie bewahren jedoch Selbst und Gott vor dem Zusammenfall mit dem leeren Nichts, in dem die Negationsreihe enden könnte. Aufstieg und Aufschwung sind somit Wege zu Gott und zum Selbst, die zusammengehören. Der „Cherubinische Wandersmann“ blieb in Schefflers Leben eine Episode, erst recht innerhalb der Motivgeschichte. Erst im 18. Jahrhun¬ dert wurde die Position, der Selbst und Gott eins waren, aufgrund anderer Voraussetzungen eingeholt. VI. Die

angeführten

barocken

Ausprägungen

der

Erhebungsmotive

haben manche Momente erkennen lassen, die bei Dante Vorkommen. Die Spannung zwischen antikem und christlichem Heilsweg erneuert sich zwischen dem humanistischen Programm und den eindeutig religiösen Gegenentwürfen. Und auch die Barockzeit versteht den Aufschwung als Jenseitsreise. Aber sie begnügt sich nicht damit. Vielmehr ist allent-

92

Ch. W. I, io

93

Ch. W. III, 108 75

\

halben die Tendenz zu erkennen, der Jenseitsreise im Diesseits ein Äquivalent zu schaffen und auch dem Göttlichen als dem Zielpunkt des Aufschwungs eine irdische Repräsentation zu geben. Das bedeutet, daß etwas Zeitlichem Ewigkeit zugesprochen wird. Dantes Weg zur Erkennt¬ nis seiner selbst steht damit dem Menschen zu Lebzeiten offen. Für den sozialen Aufstieg ist das Göttliche der durch eigene Leistung erreichte höhere Stand. Die übrigen Ausprägungen verinnerlichen dieses Modell. Sie setzen als Ziel einen höheren Zustand des Willens — Demut — oder des Gemüts — Freude — ein. Angelus Silesius nimmt eine höhere Erkenntnis an. Das in der Zeit besonders beliebte Epitheton ,hoch‘ hebt den jeweiligen Wert hervor. Gemeinsam ist all diesen Ziel¬ punkten, daß sie außerhalb dessen liegen, was die Menge, „der Pöbel“, treibt. Die Dominanz der räumlichen Kategorien hängt damit zusammen, daß sich der Aufschwung immer als Emanzipation aus der Zeitlichkeit versteht. Er beansprucht daher auch keine Zeit, kennt keine Stufen. Das Aufschwungmotiv hat das des Aufstiegs völlig zurückgedrängt. Das vorherrschende Prädikat Gottes ist seine Ewigkeit. Erscheint in der Vergöttlichung des Nachruhms bei Opitz noch die Dauer als irdisches Äquivalent, so tritt bei den andren Möglichkeiten jeweils etwas Inner¬ liches dafür ein, das in der Zeit nur augenblicklich aufscheint. Die Eman¬ zipation aus der Zeit wird zum Weg nach innen. Die Gedichte, auf die wir uns bezogen haben, sind nicht nur Dar¬ stellungen des Aufschwungs. Im Opitzschen Programm ist die Dichtung der Flügel, d. h. das Medium des Aufschwungs. Ähnlich ist es bei den verinnerlichten Formen. Das Gedicht enthält die Anleitung zum Auf¬ schwung. Es wirkt anagogisch94. Doch ist es dabei nicht autonom. Es reproduziert und aktualisiert den vorgegebenen humanistischen oder religiösen Horizont, wie es sich in der Bild- und Denkstruktur an die Emblemata hält. Aber es formuliert diesen Horizont als Anrede an den einzelnen Menschen, es individualisiert ihn, wie die einzelnen Auf¬ schwungmöglichkeiten die christliche Himmelfahrt aktualisieren. Damit

94

76

Catharina Regina von Greiffenberg: Pfleg die lange Zeit zu kürzen / und die Einsamkeit zu würzen / mit der keuschen Bücher-Lust: jedes Blat ist mir ein Flügel / und ein nachgelassner Zügel / zu der süßen Himmel Brust. (Spazier- oder Schäferliedlein Str. 4) S. 347

ist auch gesagt, daß diese Individuation nicht zur Individualität im modernen

Sinn

führt.

Die Welt, in

der sich eine solche realisieren

könnte, wird gerade verlassen. Im Aufschwung soll sich der Mensch als ewig und gottgleich, d. h. als einzelnes mit sich identisches Selbst er¬ fahren. Der nun folgende Sprung über fast das ganze 18. Jahrhundert hin¬ weg zielt auf Schiller als den eigentlichen und konsequenten Vollender nicht sosehr des mit der deutschen Lyrik des Barock, sondern mit Giordano Bruno

gegebenen Ansatzes.

In Schiller erreichte jene deutsche

Lyrik, wie sie im Barock unter vielfachen Schwierigkeiten erneuert wor¬ den war, endlich europäisches Format. Und Schiller wurde zum poeti¬ schen Gesetzgeber und Vorbild des späteren 19. Jahrhunderts. So kann er die Brücke zum Hauptteil dieser Arbeit bilden. Doch die Stringenz dieses Zusammenhanges scheint auf Kosten jener andern und in ihren Ergebnissen viel eindeutigeren Tradition zu gehen, die, wesentlich vom Pietismus bestimmt, ihre Krönung in Goethe fand. Wir hatten gesehen, daß für die pietistische Selbsterfahrung die Erhebungsmotivik nicht mehr ein geeignetes Medium sein konnte. Tatsächlich ist auch Goethe kein Aufschwunglyriker im hier verstandenen Sinne. Das geht indirekt auch daraus hervor, daß aus der Abwendung von ihm die deutsche Lyrik des späteren 19. Jahrhunderts zu Gestaltungen der Erhebung und der Höhe kam. Das läßt sich an C. F. Meyer beispielhaft zeigen. Bei dieser Gelegenheit wird von Goethe ausführlicher die Rede sein. Meyers Lieblingsgedicht aber war „Das Ideal und das Leben“.

77

Schiller

Schillers Werke, National-Ausgabe, hrsg. von Julius Petersen und Gerhard Fricke, Weimar: Böhlau 1943 ff. [zit. NA] Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München: Hanser i960 f. 5 Bde [zit. Werke] Schillers Anthologie-Gedichte, kritisch hrsg. von Wolfgang Stammler, Bonn: Marcus & Weber 1912 (jetzt Walter de Gruyter, Berlin) (Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen 93) Briefwechsel zwischen Friedrich Schiller und Wilhelm von Hum¬ boldt, hrsg. von Siegfried Seidel, Berlin Aufbau 1962. 2 Bde „Das Genie, voll Gefühl seiner Kraft, voll edlen Stolzes, wirft die entehrenden Fesseln hinweg; höhnend den engen Kerker, in dem der gemeine Sterbliche schmachtet, reißts sich voll Heldenkühnheit los und fliegt gleich dem königlichen Adler weit über die kleine niedere Erde hinweg und wandelt in der Sonne. Ihr schimpft, daß er nicht im Geleise bleibt, daß er aus den Schranken der Weisheit und Tugend getreten. Insekten! Er flog zur Sonne.“1 So sprach 1776 Jakob Friedrich Abel zu den Zöglingen der Stuttgarter Karlsschule. Er verkündigte ihnen damit das Programm der Stürmer und Dränger, das dazu aufforderte, die Regeln des „Wohlstandes“ und des Geschmacks zu verlassen und in Leben und Taten einzig auf das eigene Selbst zu hören. Es ist nicht ohne Ironie, daß sich noch dieser Aufruf zur Originalität der traditionellen

1

78

Reinhold Buchwald, Schiller. Leipzig: Insel 1937. Bd 1, S. 197. — Die Leben¬ digkeit des Adleremblems bezeugt auch folgende Äußerung von Görres über die Gedichte des späten Hölderlin: „In den Gedichten im Taschenbuch für Freundschaft und Liebe schlägt ein Adler krampfhaft mit den geknickten Flügeln, die bösen Buben auf den Straßen hetzen ihn und jagen ihn, aber wer seine Zeit kennt und ein Gemüth im Busen hat, sieht trauernd ihm nach, wenn er vorüberflattert und noch immer zur Sonne hinan will.“ Aurora 1805. Zit. in: Winfried Kudszus, Sprachverlust und Sinnwandel, zur späten und spätesten Lyrik Hölderlins. Stuttgart: Metzler 1969. S. 2. Von hier ist der Weg zu Baudelaires „L’albatros“ nicht mehr weit.

Emblematik bedient. Auch die Bezeichnung der Gegner als „Insekten“1 ist darin vorgegeben. Das bestätigt die Annahme, daß im Aufschwung¬ motiv vor aller inhaltlichen Füllung der Akt der Selbstgewinnung vor¬ gezeichnet sei. Abel ist uns als Lehrer und Anreger Schillers wichtig. Wie ein Echo auf seine Rede erscheinen die beiden Schlußstrophen von Schil¬ lers Anthologiegedicht „Laura am Klavier“: Von dem Auge weg der Schleyer! Starre Riegel von dem Ohr! Mädchen! Ha! schon athm’ ich freier, Läutert mich ätherisch Feuer? Tragen Wirbel mich empor?Neuer Geister Sonnensize Winken durch zerrißner Himmel Rize — Überm Grabe Morgenroth! Weg, ihr Spötter, mit Insektenwize! Weg! Es ist ein Gott-.2 3 Diese Verse sind eine poetische Umsetzung von Abels Programm, zugleich aber eine Veränderung. Der entscheidende Unterschied besteht darin, daß hier der Aufschwung nicht von innen heraus durch eigene Kraft bewirkt wird, sondern durch das Klavierspiel Lauras, also von außen. Die Musik versetzt das Ich in wechselnde Gemütszustände und entrückt es schließlich der gewohnten Welt. Die Musik wiederum über¬ trägt nur die Bezauberung, die vom geliebten Mädchen ausgeht. In „Die Seligen Augenblike, an Laura“ haben Blick, Stimme und Tanz denselben Effekt.^ Das wird in ausladenden „wenn“-Kompositionen beschrieben. An diese Bedingungen ist der Aufschwung ins Unbedingte geknüpft. Die Differenz zum Aufschwung aus eigener Kraft hat das dritte Laura-Gedicht der Anthologie, „Vorwurf, an Laura“ zum Thema. Zu der Gottheit flog ich Adlerpfade, Lächelte Fortunens Gaukelrade, Unbesorgt wie ihre Kugel fiel. Jenseits dem Kozytus wollt’ ich schweben

2 3

Emblemata, Sp. 764 NA I, S. 54 — Die Relevanz der Vertikalen für Schillers Vorstellungswelt veranschaulicht in etwas pauschaler, aber eindrücklicher Weise Martin Dyck, Die Gedichte Schillers, Figuren der Dynamik des Bildes. Bern/München: Francke 1967

79

\

Und empfange sklavisch Tod und Leben, Leben, Tod von einem Augenspiel.4 Auch die beiden folgenden Strophen verwenden für die von Laura außer Kraft gesetzte Möglichkeit der Erhebung das Bild des Adlers, der offenen Auges zur Sonne fliegt. Der Abstand zu Abels Programm wird damit motivisch offenbar. Daß für den jungen Schiller die Liebe Motor des Aufschwungs war, gemahnt an frühere Epochen der Motivgeschichte. In seiner Selbstrezension der Anthologie braucht Schiller selbst im Zu¬ sammenhang mit den Laura-Gedichten den Hinweis „platonisch“. Das „Geheimnis der Reminiszenz“ nennt den im „Symposion“ von Aristophanes erzählten Mythos von der ursprünglichen Einheit der Geschlech¬ ter als Ziel der Anamnesis. Auch der Name Laura bekommt über den Platonismus

eine

gewisse

Rechtfertigung.

Und

schließlich

läßt

das

Augenspiel Lauras daran denken, daß auch Dante das „Paradiso“ aus dem Spiegel von Beatrices Augen die Kraft des Aufstiegs erwächst. Der, junge Schiller also ein Platoniker? Manches weist darauf hin, daß er sich selbst so verstand. Doch es bleibt zu fragen, was er meinte, wenn er von „Liebe“ sprach. Die Antwort darauf geben die „Theosophie des Julius“ und der berühmte Brief an Reinwald vom 14. April 1783, worin es heißt: „Aber was ist Freundschaft oder platonische Liebe denn anderes als eine wol¬ lüstige Verwechslung der Wesen? Oder die Anschauung unserer Selbst in einem andern Glase? — Liebe, mein Freund, das große unfehlbare Land der empfindenden Schöpfung, ist zuletzt nur ein glücklicher Be¬ trug.

Erschrecken, entgliihen, zerschmelzen wir für das fremde, uns

ewig nie eigen werdende Geschöpf? Gewiß nicht. Wir leiden jenes alles nur für uns, für das Ich, dessen Spiegel jenes Geschöpf ist. Ich nehme selbst Gott nicht aus. Gott, wie ich mir denke, liebt den Seraph so wenig, als den Wurm, der ihn unwissend lobet. Er erblickt sich, sein großes, unendliches Selbst, in der unendlichen Natur umhergestreut. — In der allgemeinen Summe der Kräfte berechnet er augenblicklich sich selbst, -— sein Bild sieht er aus der ganzen Ökonomie des Erschaffe¬ nen vollständig, wie aus einem Spiegel, zurückgeworfen und liebt sich in dem Abriss, das Bezeichnete in dem Zeichen. Wiederum fin¬ det er in jedem einzelnen Geschöpf (mehr oder weniger) Trümmer seines Wesens zerstreut.“5 Daß diese Auffassung auch für die Laura-Gedichte 4 5 80

NA I, S. 92 NA XXIII, S. 78 f.

gilt, zeigen das darin häufige Spiegelmotiv und sprachlich das Wechsel¬ spiel von „mein“ und „dein“.6 Liebe also versteht Schiller als Spiegelverhältnis. Sie eröffnet dem Ich nicht ein Du, sondern wirft es auf sich selbst zurück. Was anders erscheint, ist Betrug. Damit aber hat Schiller mit Plato und der platoni¬ schen Tradition nur das Wort gemein. Wohl meint der platonische Eros im andern auch nicht das Du. Aber der Mensch erkennt in der Gestalt des andern einen Abglanz der ureinen göttlichen Schönheit. Beatrices Augen sind Spiegel des göttlichen Lichts. Daher rührt ihre erhebende Kraft. Schiller versteht das Verhältnis von Gott und Mensch nur als ein Analogie-Verhältnis, nicht mehr als eines der Emanation. Die Geliebte ist ihm nicht die Stellvertreterin Gottes. Dennoch aber mißt auch er der Spiegelung umschaffende, d. h. erhebende Kraft zu. Das Ich empfängt sich auch für ihn aus den Augen der Geliebten verändert und gesteigert. Der Brief an Reinwald entspricht insofern nicht genau dem Stand der Laura-Gedichte, als er das Spiegel-Verhältnis als eines der Erkenntnis beschreibt. In den Gedichten erscheint es dagegen als eines der Empfin¬ dung. Die Geliebte bezaubert das Ich auf sinnliche Weise, worauf Schil¬ lers Bemerkung in der Selbstrezension zielt, „hie und da bemerke ich auch eine schlüpfrige sinnliche Stelle, in platonischen Schwulst ver¬ schleiert.“7 In dieser Affektsteigerung besteht der Aufschwung. Schiller kommt später im Brief an Reinwald auch auf diesen Punkt: „Unsere Empfindung ist also Refraktion, keine ursprüngliche, sondern sympathe¬ tische Empfindung.“8 Das aber bedeutet, daß auch das Selbst als emp¬ findendes Selbst gedacht ist. Anders: Die Empfindung ist das Organ, durch das der Mensch seines Selbst inne wird. „Gefühl seiner selbst“ ist die Formel, die schon Abel dafür gebraucht. Schiller behält sie bei, obwohl er auf einem andern Weg zu diesem Selbstgefühl gelangte. Die 6 Vgl. Emil Staiger, Friedrich Schiller. Zürich: Atlantis 1967. S. 113. Ich ver¬ danke Staigers Schillerdeutung die Anregung zur Grundkonzeption und zu manchen Einzelbemerkungen dieses Kapitels. 7 Werke, Bd 5, S. 905 8 NA XXIII a.a.O. Interessant ist in diesem Zusammenhang ferner die Stelle aus dem Brief an Reinwald vom 21. Febr. 1783: „Mühsam und oft wirklich wider allen Dank mus ich eine Laune, eine dichterische Stimmung hervor¬ arbeiten, die mich in zehen Minuten bei einem guten denkenden Freunde sonst anwandelt. Oft auch bei einem vortrefflichen Buch oder im offenen Himel. Es scheint Gedanken lassen sich nur durch Gedanken loken — und unsere Geisteskräfte müssen wie die Saiten eines Instruments durch Geister gespielt werden.“ NA XXIII, S. 67 81 6

Pestalozzi, Lyrisches Ich

N

von Abel proklamierte Möglichkeit fällt bei ihm unter den Vorwurf des Egoismus, den Julius gegen eine Möglichkeit der Selbstgewinnung allein aus sich erhebt9. Im Gedicht „Laura am Klavier“ kulminiert jedoch die durch die Geliebte ausgelöste gesteigerte Empfindung im Ausruf „Es ist ein Gott-Damit stimmt der Satz überein: „Also Liebe, mein Ra¬ phael, ist die Leiter, worauf wir emporklimmen zur Gottähnlichkeit. Ohne Anspruch, uns selbst unbewußt, zielen wir dahin.“10 Auch was daran noch nach Platonismus tönt, wird in eine andere Richtung ge¬ wendet durch einen Passus zwei Seiten vorher: „Ich bekenne es frei¬ mütig, ich glaube an die Wirklichkeit einer uneigennützigen Liebe. Ich bin verloren, wenn sie nicht ist, ich gebe die Gottheit auf, die Unsterb¬ lichkeit und die Tugend. Ich habe keinen Beweis für diese Hoffnungen mehr übrig, wenn ich aufhöre, an die Liebe zu glauben. Ein Geist, der sich allein liebt, ist ein schwimmender Atom im unermeßlich leeren Raume.“11 Die Liebe wird ein notwendiger Gottesbeweis angesichts des leeren Weltraums. Das deutlich zu machen, ist ein kurzer Exkurs12 nötig. Giordano Bruno hatte, angeregt von Cusanus, das ptolemäisch-aristotelische Bild des Kosmos zerstört, das sich die Kirche zu eigen gemacht und sanktioniert hatte. Diese erreichte jedoch nicht nur die Verbrennung Brunos auf dem Scheiterhaufen, sondern hemmte mit ihrer Autorität auch die allgemeine Rezeption von Brunos Kosmologie über den Kreis der Astronomen hinaus. So spricht die Lyrik des 17. Jahrhunderts vom Himmel ohne Bewußtsein davon, eine Metapher zu verwenden. Einzig der auch darin ketzerische Angelus Silesius übernahm Brunos Theorie 9

Buchwald, a.a.O. S. 196. — Vgl. auch „Don Carlos“ II/2, wo Carlos vor Philipp zweimal das Bewußtsein seiner selbst mit den Worten ausspricht „ich fühle mich“ (V. 1102, 1149) 10 Schiller, Werke Bd. 5, S. 353 11 A.a.O. S. 351 12 Dieser Exkurs stützt sich hauptsächlich auf Christof Junker, Das Weltraum¬ bild in der deutschen Lyrik von Opitz bis Klopstock. Berlin: Ebering 1932 (Germanische Studien Heft m). Er fand sich bestätigt durch den gründlichen und ergebnisreichen Aufsatz von Karl Richter, Die Kopernikanische Wende in der Lyrik von Brockes bis Klopstock. Jb. der Schillergesellschaft 12, 1968. S. 132—170. Richter bietet reiches Material für die hier vernachlässigten Lyriker des 18. Jahrhunderts, u. a. auch Klopstock. Völlig berechtigt ist seine Kritik an der ungenauen Studie von Fritz Usinger, Tellurische und plane¬ tarische Dichtung. Abhandlungen der Mainzer Akademie der Wissenschaf¬ ten und der Literatur. Klasse der Literatur, Jg. 1963, Nr. 4.

82

und zog daraus theologische Konsequenzen, und auch er nur im „Cheru¬ binischen Wandersmann“. Erst mit Brockes trat die neue Kosmologie in die Lyrik und ins allgemeine Bewußtsein ein. Auch Brockes erkannte und artikulierte theologische Konsequenzen, die sich daraus ergaben. In „Die himmlische Schrift“18 benutzt er die Demonstration des unend¬ lichen Alls dazu, die anthropomorphen Gottesvorstellungen für sündhaft zu erklären, weil nichts Endliches Gott angemessen sei. Aber diese „Entmythologisierung“ wird nur bis zu einem bestimmten Punkt ge¬ führt. Schließlich wird der Elimmel zum Buch, aus dessen Sternenschrift das Ich den Namen „Jehova“ liest. Die Erkenntnis der Unendlichkeit des Kosmos vermochte das Gefühl der Allmacht Gottes gerade zu stärken. Haller und Uz übernahmen Brockes’ Errungenschaft. Auch sie machten sie jedoch zum Stoff lehrhafter Gedichte, die, auch wo sie vom Eindruck des Weltalls sprachen, beim Berichten blieben. Erst Klopstock14 zog aus der neuen Kosmologie lyrische Kraft. Ihm gelang es, die Aus¬ wirkung auf das menschliche Selbstverständnis zu gestalten dank einer Verbindung der neuen Kosmologie mit biblischen Vorstellungen. Kant war es, der in seiner Widerlegung des kosmologischen Gottesbeweises darauf hinwies, daß Gott nicht mit zureichendem Grund als „Unend¬ lichkeit“ verstanden werden könnte, und der dem gestirnten Himmel lediglich ästhetische Beweiskraft zugestand15. Der junge Schiller kam mit Hülfe seiner Phantasie zu ähnlichen Ergebnissen. Zeugnisse davon sind die beiden in der Anthologie unmittelbar aufeinander folgenden Gedichte „Hymne an den Unendlichen“ und „Die Gröse der Welt“. Das erste ist offensichtlich von Uz und Klopstock inspiriert. Das zweite, 13

14 15

Barthold Heinrich Brockes, Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdi¬ schen Vergnügen in Gott. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1738. Deutsche Neudrucke. Stuttgart: Metzler 1965. S. 115 Vgl. Gerhard Kaiser, Klopstock. Religion und Dichtung. Gütersloh: Mohn 1963. (Studien zu Religion, Geschichte und Geisteswissenschaft Bd 1) S. 52 ff. Immanuel Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. (1763) Kants Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preu¬ ßischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Reimer 1910 ff. i.Abt. 2. Bd S. 154: „Es ist auch dieser über alles Mögliche und Wirkliche erweiterte Begriff der göttlichen Allgenu gsamkeit ein viel richtigerer Ausdruck, die größte Vollkommenheit dieses Wesens zu bezeichnen, als der des Unend¬ lichen dessen man sich gemeiniglich bedient. . . . Die Benennung der Un¬ endlichkeit ist gleichwohl schön und eigentlich aesthetisch. Die Erweiterung über alle Zahlenbegriffe rührt und setzt die Seele durch eine gewisse Ver¬ legenheit in Erstaunen. Dagegen ist der Ausdruck, den wir empfehlen, der logischen Richtigkeit mehr angemessen.“

83 6*

\

das man später ansetzt, stellt Unendlichkeit als Leere dar, in der nir¬ gends ein Ankerplatz ist. Es fällt der Ausdruck „Reich des Nichts“. Mit „Die Gröse der Welt“ widerlegte Schiller auf seine Weise den kosmologischen Gottesbeweis. Wie Kant sah er dadurch nicht die Exi¬ stenz Gottes in Frage gestellt. Es ging ihm jedoch darum, sie erfahrbar zu machen. Doch anders als dem Philosophen hieß „demonstrieren“ für den jungen Schiller poetisch darstellen. Nichts Geringeres war ihm aufgetragen, als die seit Jahrhunderten bereitstehende Hinterlassenschaft Giordano Brunos anzutreten und sei¬ nerseits „Dux, Lex, Lux“16 zu sein. Für Bruno war die neue Erkennt¬ nis der Weg gewesen, sich als Einzelner gegen die herrschende Meinung durchzusetzen und sich so als Individuum zu realisieren. Schiller fand Brunos Theorie vor. Sie hatte sich wissenschaftlich durchgesetzt. Er unter¬ nahm es, daraus eine neue allgemeinverbindliche Möglichkeit zu ge¬ winnen, sich selbst und Gott zu erfahren. Diese Mission kündigt sich in der Schlußzeile von Laura am Klavier an: Neuer Geister Sonnensize Winken durch zerrissner Himmel Rize — Ueberm Grabe Morgenroth! Weg, ihr Spötter, mit Insektenwize! Weg! Es ist ein GottDie Liebe, wie sie der junge Schiller verstand, war der Gottesbeweis. Sie machte Gott der Erfahrung im Enthusiasmus zugänglich. Aber der Beweis teilte sich dem Bewiesenen mit und gab ihm eine andere Gestalt. Damit wurde die Liebe zum Mittel der Neuschöpfung Gottes: „Liebe, mein Raphael, ist das wuchernde Arkan, den entadelten König des Goldes aus dem unscheinbaren Kalk wiederherzustellen, das Ewige aus dem Vergänglichen, und aus dem zerstörenden Brande der Zeit das große Orakel der Dauer zu retten.“17 Hier erscheint nicht der leere Himmelsraum als Provokation, son¬ dern „der zerstörende Brand der Zeit“. Doch beides hängt zusammen. Mit der Entleerung des Himmels erhob sich das Problem der Unsterb¬ lichkeit aufs neue und dringlicher als je. In den Anthologiegedichten läßt sich ein ähnlicher Wandel in der Einstellung dazu erkennen wie in der zum Universum. Den Bezug zwischen Kosmologie und Unsterb-

16 17

84

Vgl. das Bruno-Kapitel dieser Arbeit „Theosophie des Julius“. Schiller, Werke Bd 5, S. 353

lichkeitslehre spricht schon die „Elegie auf den lod eines Jünglings“ aus: Nicht in Welten, wie die Weisen träumen, Auch nicht in des Pöbels Paradiß, Nicht in Himmeln, wie die Dichter reimen, — Aber wir ereilen dich gewiß.18 Groß war diese Gewißheit nicht, der jede konkrete Vorstellung fehlte. Der Sinnspruch „Zuversicht der Unsterblichkeit“ tönt höchst ironisch. Die „Leichenfantasie“ spricht den Gedanken der Auferstehung noch aus, aber konfrontiert ihn ohne weitere Erläuterung mit dem Versinken des Sarges. Mit Recht hat man darauf hingewiesen, daß Schillers Todes¬ vorstellung radikaler ist als die des Barock19. Die Skepsis gegen den Auf¬ schwung im Tod, an den das Barock als an das Modell aller Auf¬ schwünge geglaubt hatte, brachte es mit sich, daß auch bei den neu gefundenen Aufschwüngen der Tod als Vernichter ernster genommen werden mußte. Die Widmung der Anthologie an den Tod deutet an, daß Schiller nicht am Tod vorbei, sondern in der Konfrontation mit ihm und gegen ihn seine Gedichte schrieb. Diesen erwuchs daraus ihre oft hektische Intensität. Diese Macht des Todes über das Leben erhöht die grundsätzliche Schwie¬ rigkeit von Schillers denkerischem Unternehmen, dem es darum ging, „Götterfunken aus dem Staub zu schlagen“20. Der Stoff, der ihm zu einem neuen Bildnis Gottes zur Verfügung stand, war der hinfälligste und schlechteste. Wie aber konnte es dennoch geschehen? Der zitierte Brief an Rein¬ wald spricht von der Liebe im Zusammenhang mit Schillers Arbeit am „Don Carlos“. Darauf führen die Sätze zurück: „Wenn Freundschaft und platonische Liebe nur eine Verwechslung eines fremden Wesens mit dem unsrigen, nur eine heftige Begehrung seiner Eigenschaften sind, so sind beide gewissermaßen nur eine andre Wirkung der Dichtungskraft oder besser das, was wir für einen Helden unserer Dichtung empfinden, ist ebendas.“21 18 19

NA I, S. 59 Gerhard Kaiser, Vergötterung und Tod. Die thematische Einheit von Schil¬ lers Werk. Stuttgart: Metzler 1967. (Dichtung und Erkenntnis 3) S. 8. Die Fragestellung dieser Arbeit berührt sich eng mit der Gerhard Kaisers. Ich verdanke ihm wichtige Anregungen und Bestätigungen.

20 21

NA I, S. 115 NA XXIII, S. 31 85

V

Damit galt das von der Liebe Gesagte auch von der Dichtung: Die Dichtung ist der schaffende Spiegel des Ich. Der Dichter dichtet nicht aus der Fülle des Herzens, er spaltet sich selber in Dichter und Leser. Was jener mit seiner Phantasie aufbaut, wirkt auf diesen er¬ höhend und steigernd zurück. Mittels der Dichtung bezaubert das Ich sich selbst, wie Laura in den Lauragedichten den Dichter bezaubert. Laura ist der Name der erdichteten Geliebten. In „Das Geheimnis der Reminiszenz“ dient der platonische Mythos zur Umschreibung der ur¬ sprünglichen Einheit von Dichter und erdichtetem Geschöpf. „Eins mit Deinem Dichter / Warst Du, Laura.“22 Noch zweimal bezeichnet sich das Ich als Lauras Dichter. Staiger hat dieses Verhältnis mit dem Stich¬ wort „Pygmalion“ bezeichnet23, auf den Schillers Anthologiegedichte in manchen Stellen anspielen. Der Pygmalion-Mythos faßt beide Momente, Dichtung und Liebe, Produktion und Reflexion, zusammen, die Schillers Jugenddichtung bestimmen. Im Gedicht konkretisiert sich dieses Verhältnis als pathetischer Stil, von dem Staiger sagt: „Dem Hörer, wer immer er auch sei, geschieht von pathetischer Rede Gewalt. Wenn das Pathos aber echt ist, erleidet auch der Redner Gewalt.“24 Diese Gewalt hebt ihn über seinen alltäg¬ lichen Zustand hinaus. Damit ist dem Gedicht jene Macht eingeräumt, die in „Laura am Klavier“ der Musik zukommt. Das wird besonders daran deutlich, daß in diesem Gedicht versucht wird, die musikalischen Tempi in der Sprache der Programmusik wiederzugeben. Die Sprache wird damit gewissermaßen dreidimensional: sie stellt selber dar, was sie beschreibt. Ähnliches fanden wir schon bei Dante, am deutlichsten in den expliziten Hinwendungen an den Leser. Solche sind bei Schiller mit Hilfe rhetorischer Mittel in die Sprache hineingenommen. So ist am Höhepunkt der „Seligen Augenblicke“ der Unsagbarkeitstopos durch ein Verstummen der Sprache in Punkten angedeutet. Die Beibehaltung von Metrum und Reimordnung noch in der Darstellung äußerster Ek¬ stase läßt erkennen, daß es hier nicht um den Ausdruck, sondern um die 22 23

24

NA I, S. 104 Emil Staiger, Schiller, S. 104 f. Vgl. auch Hermann Schlüter, Das Pygmalion-* Symbol bei Rousseau, Hamann, Schiller. Drei Studien zur Geistesgeschichte der Goethezeit. Diss. Zürich 1968 Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik. Zürich: Atlantis 1946. S. 162. Von Staigers Pathos-Bestimmung aus kommt zu einer sehr aufschlußreichen und differenzierten Analyse der Jugendlyrik Werner Keller, Das Pathos in Schillers Jugendlyrik. Berlin: de Gruyter 1964. (Quellen und Forschungen N.F. 15)

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Suggestion von Verstummen geht. Anders als bei Dante suggeriert die Sprache nicht Erkenntnis, sondern Empfindung. Sie will Dichter und Leser dazu bringen, im Enthusiasmus sich selbst zu fühlen. Dieser bringt somit Selbstgewinn im Ichverlust. Der mittels des pathetischen Gedichtes erzeugte Enthusiasmus ist für das Ich zugleich ein Gottesbeweis25. Da¬ mit ist gesagt, daß das Selbst, dessen der Mensch inne wird, ein allge¬ meines ist. Auf Grund der Annahme einer solchen Allgemeinheit kann der pathetische Stil wirken. Der Enthusiasmus des Einzelnen kann je¬ doch nicht für alle Gott beweisen. Der Prophet bedarf einer Legitima¬ tion, die sein Zeugnis verbindlich macht. In den Anthologiegedichten geht es erst um den individuellen Enthusiasmus. Den allgemeinen Auf¬ schwung gestaltet die Ode „An die Freude . In Anlehnung an die Form der Kantate ist sie aufgebaut als Wechsel von pathetischer Anrede des Einzelnen und enthusiastischer Antwort des Chors, in dessen Namen schon der Einzelne spricht. Die im Chor repräsentierte Allgemeinheit münzt die eigene Ergriffenheit in Dogmatik um. Dabei schafft sie kein neues Bild Gottes, sie fundiert traditionelle Prädikate: Gott der Vater, der Schöpfer, der Richter, der Erlöser. Man hat das Verwaschene der Gottesvorstellung bemängelt, die so zustande kommt. Die Begeisterung verwischt die Distinktionen. „Der Unbekannte“, „der gute Geist“ sind ihr als Bestimmungen am angemessensten. Der Schluß vom kollektiven Enthusiasmus auf Gott beruht nicht auf der Logik, sondern auf der emotionalen Intensität. So kann die Freude Gott nicht schaffen, son¬ dern nur demonstrieren und damit neu in der Erfahrung verankern. Jedoch, diese Verankerung kann nicht von Dauer sein. Auch die IX. Symphonie hat ein Ende, und damit entschwindet der Gott, den sie beweist. Schiller sah dieses Problem deutlich: „Enthusiasmus ist der kühne, kräflige Stoß, der die Kugel in die Luft wirft, aber derjenige hieße ja ein Tor, der von dieser Kugel erwarten sollte, daß sie ewig in dieser Richtung und ewig mit dieser Geschwindigkeit auslaufen sollte. Die Kugel macht einen Bogen, denn ihre Gewalt bricht sich in der Luft. Aber im süßen Moment der idealischen Entbindung pflegen wir nur die treibende Macht, nicht die Fallkraft und nicht die widerstehende Materia in Rechnung zu bringen.“ (An Ffuber, 5. Okt. 178 5)“° Gerade 25

Damit wird die Religion von der Dichtung abhängig. Vgl. in der Antholo¬

26

gie: „Die Messiade“ Religion beschenkte diss Gedicht, Auch umgekehrt? — Das fragt mich nicht. NA I, S. 95 Vgl. dazu auch: Günter Schulz, Furcht, Freude, Enthusiasmus. Zwei unbe-

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weil Schiller so Großes mit dem durch das Gedicht produzierten Enthu¬ siasmus im Sinne hatte, konnte er nicht ignorieren, was in den seligen Augenblicken selbst seinem Vorhaben entgegenwirkte. Dem mittelalter¬ lichen Mystiker war „im nu“ Gott unmittelbar gegenwärtig geworden, den er aus Bibel und Tradition kannte. Schiller erkannte die Notwendig¬ keit, aus der Subjektivität heraus Gott neu zu begründen und zugleich eine über den Augenblick hinausgehende Repräsentation des Ewigen zu finden. Die auf die Freudenode folgenden Gedichte „Die Götter Grie¬ chenlands“ und „Die Künstler“ erweiterten das Problem um den ge¬ schichtstheologischen Aspekt. Indem sie so die Frage verallgemeinerten, bereiteten sie die allgemeinere Antwort vor. In den „Göttern Griechen¬ lands“ kleidet sich das Problem in die Bitte an den einen Gott: „Gib mir Flügel“ und gegen Schluß der „Künstler“ ergeht die Aufforderung an die Dichter: Der freysten Mutter freye Söhne schwingt euch mit festem Angesicht zum Strahlensitz der höchsten Schöne, um andre krönen buhlet nicht.27 Da es in diesem Zusammenhang nicht darum gehen kann, den denke¬ rischen Prozeß nachzuzeichnen, durch den Schiller zu seiner endgültigen Antwort kam, soll das Ergebnis aus dem Gedicht, „Das Ideal und das Leben“28, abgelesen werden, in dem es dichterische Gestalt gewonnen hat. Es ist von Schiller selbst und von seinen Interpreten als Summe seiner anthropologischen Theorie betrachtet worden, wie er sie kurz zu¬ vor in den „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ ent¬ wickelt hatte. Die geläufige Interpretationsweise ist denn auch die, in der poetischen Gestaltung die Gedanken der „Briefe“ nachzuweisen29.

27

kannte philosophische Entwürfe Schillers. Jb. der deutschen Schillergesell¬ schaft i, 1957. S. 103—142. Das Zitat aus dem Brief an Huber S. 119 NAI, S. 195

28

„Das Reich der Schatten“ wird zitiert nach NA I, S. 247—251, „Das Ideal und das Leben“ nach Werke, Bd 1, S. 201—205. Anm. S. 876

29

Das Gedicht wurde sehr oft kommentiert und interpretiert. Mir haben fol¬ gende Interpretation Vorgelegen: Ballauf, Friedrich, Zu Schillers Gedicht „Das Ideal und das Leben", Zs.f.d.dten U. 22, 1908 S. 529/30. — Döring, August, Sdiillers Stellung zum Lebensproblem (,Das Ideal und das Leben'). Neue Jahrbücher für das klass. Altertum 9, 1906, S. 484—500. — Löhner, Edgar, Schiller und die moderne Lyrik, Göttingen: Sachse & Pohl 1964, S. 16—33. — Petsch, Robert, Schillers „Das Ideal und das Leben“, in:

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Hier soll versucht werden, es im Rahmen der Geschichte des Auf¬ schwungmotivs, d. h. vor allem auch im Anschluß an die Jugendgedichte, zu betrachten. Thematisch schließt das Gedicht mit der Frage „Führt kein Weg hin¬ auf zu jenen Höhen“ unverkennbar an die Laura-Gedichte an, bei denen es, wie gezeigt wurde, um die Demonstration Gottes in der Er¬ fahrungswelt ging. Die Antwort ist wiederum mit Hilfe der Erhebungsmotivik gestaltet. Dabei erscheinen manche Momente, die uns früher schon begegnet sind. Der Aufstieg wirkt in der Gegenrichtung zum Sündenfall: Wollt ihr schon auf Erden Göttern gleichen Frei sein in des Todes Reichen Brechet nicht von seines Gartens Frucht. Das Versprechen „eritis sicut Deus“, das sich an den gefallenen Menschen, der dem Tod untersteht, richtet, kehrt den Rat der Paradieses¬ schlange um. — Die neue Devise zielt darauf, den Tod nach barockem Vorbild in das Leben einzubeziehen. Das kam in der später gestrichenen Strophe zum Ausdruck: Führt kein Weg hinauf zu jenen Höhen Muß der Blume Schmuck vergehen, Wenn des Herbstes Gabe schwellen soll? •





Nein auch aus der Sinne Schranken führen Pfade aufwärts zur Unendlichkeit. Die von ihren Gütern nichts berühren, Fesselt kein Gesetz der Zeit. Die Nähe von Aufschwung und Tod zeigt sich vor allem in der Apotheose des Herakles am Schluß. Der ursprüngliche Titel „Das Reich der Schatten“ brachte, offenbar gegen Schillers Intention, die Überein¬ stimmung von idealer Sphäre und Schattenreich zum Ausdruck. Der Hinweis „glänzend wandeln an dem stygschen Strome“ hält diesen Be¬ zug auch nach der Änderung des Titels aufrecht. — So überrascht es denn auch nicht, daß sich hinter dem Gedicht noch vage das „Vogel aus

Gedicht und Gedanke, hrsg. von H. O. Burger. Halle: Niemeyer 1942. S. 119 bis 139. — Rosenthal, Georg, Schillers Gedicht „Das Ideal und das Leben , Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 20, 1917, S. 403/04. Emil Staiger, Schiller, passim. 89

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dem Käfig“-Emblem abzeichnet, etwa in dem Wortfeld „Schranken, Fessel, Sarkophag“ und in den verschiedenen Flugmetaphern. Von allen bisherigen Aufschwung-Gedichten unterscheidet sich „Das Ideal und das Leben“ jedoch durch seinen Aufbau. Sein erster Teil, die Strophen i—5, bestimmen zunächst grundsätzlich das Verhältnis von Gott und Mensch, auf dem alle möglichen Aufschwünge beruhen. Die konsequente Verwendung der antiken Mythologie ist das sichtbare Zei¬ chen dafür, daß der bisher gültige christliche Rahmen verlassen ist. Zwar scheinen, wie im Sündenfall der Proserpina und in der Himmel¬ fahrt des Herakles, christliche Vorstellungen noch durch. Doch wirkt die Entgegensetzung von Antike und Christentum, wie sie „Die Götter Griechenlands“ akzentuierte, fort. Das antike Kostüm dient zur Gestal¬ tung nachchristlicher Gehalte. Das Gedicht weist auf den Umschwung von der Theo- zur Anthropologie hin, den die Strophen 10 und n aus¬ sprechen. Das Gedicht selbst reiht sich somit als ganzes in jene zweite Phase ein, die es im Bezug auf die verschiedensten Lebensgebiete von einer vorausliegenden ersten absetzt. „Das Reich der Schatten“ ver¬ anschaulichte den epochalen Aspekt dieses Umbruchs in den Strophen 5 und 6 durch Anspielungen auf die „Eumeniden“ des Aeschylos, jenes erhabene Dokument der Ablösung zweier Weltalter. Das Moment des Überganges kommt sprachlich im Nebeneinander von begrifflich-abstrakter und mythologisch-bildlicher Sprachebene zum Ausdruck. Beide laufen nebeneinander her als Bild und Bedeutung oder umgekehrt als Begriff und Allegorie: Oft aber tritt eine für die andere ein, so daß Logik und Bildzusammenhang sich ergänzen. Die Inter¬ pretation hat gerade auf diese bildliche Logik zu achten, die am grund¬ sätzlichsten das Gedicht von der theoretischen Behandlung derselben Thematik in den „Briefen“ unterscheidet. Die erste Strophe stellt neue Götterbilder auf. Auch diese Götter sind wandellos, also jenseits der Zeit. Dennoch aber haben sie Bezie¬ hung zur Zeit. Sie haben ein Leben. Ihr Verhältnis dazu ist durch den Dativ ausgedrückt. Das deutet auf eine distanzierte Einstellung. Diese Distanz akzentuieren „im Olymp“ räumlich und die Bezeichnung „die Seligen“ zeitlich. Aus dem Abstand erscheint das Leben klar, rein und eben, also optisch, als Bild, und zwar als schönes Bild. Das fließende Leben gewinnt den Anschein der Dauer. Wandellosigkeit der Götter und ewige Klarheit des Lebens entsprechen sich. Die Strophe nennt in einer auffallenden Inversion zuerst die Epitheta des Lebens und erst in den folgenden drei Zeilen, welche die Reimordnung wiederholen, die 90

ewige Jugend der Götter. Die Logik dieses Aufbaus benennt das Wort „spiegelrein“. Das aus der Distanz betrachtete Leben reflektiert seine Ewigkeit auf die Betrachtenden. Diese empfangen daraus ihr eigenes Bild gesteigert zurück. Dadurch sind sie Götter. Es zeigt sich in dieser Bestimmung der Götter ein deutlicher Bezug auf das Verfahren der Demonstration Gottes in den Laura-Gedichten, welches das Stichwort „Pygmalion“ bezeichnete. Nun ist das Spiegel¬ verfahren in den Göttern objektiviert. Doch ist es entscheidend verän¬ dert. In den Jugendgedichten spielte der Reflexionsmechanismus im Be¬ reich der Empfindungen. Seine Wirkungen auf das Ich waren Wollust und Wonne, die das Bewußtsein an seine Grenzen trieben. Hier nun geht es ausschließlich um optische Spiegelung, das Auge flammt nicht mehr, es ist im Sinne Herders „der kälteste Sinn“30. Es setzt in Distanz, und sein Objekt gibt dem Betrachter innerhalb des Lebens Freiheit. Die Götter sind Wesen, die frei sind dank ihrem Spiegelverhältnis zum Le¬ ben. Dabei ist das Spiegelverhältnis die poetische Umsetzung dessen, was Schiller in den Briefen „ästhetisch“ nennt. Das wird durch die Ab¬ grenzung von den Menschen im letzten Teil der Strophe bekräftigt. Die Götter vereinigen sinnliche Zuwendung zum Leben und Abwendung davon, zwischen denen der Mensch zu wählen hat. In der ersten Strophe sind die Voraussetzungen des ganzen Gedichts in nuce enthalten. Sie werden im folgenden entfaltet. Die Frage, „Wollt ihr schon auf Erden Göttern gleichen“, die bedeutet, „frei sein in des Todes Reichen“, wendet sich an den Gegenpol, den Menschen. Daraus ergibt sich die Gelegenheit, was die erste Strophe simultan enthält, in Sukzessionen umzusetzen. Bezeichnenderweise geht die Darlegung vom Verhältnis zur Außenwelt aus. Die zweite Strophe nennt als erste Stufe zur Gottähnlichkeit eine Distanznahme zum Leben. An die Stelle des unmittelbaren Genusses hat ein optisches Verhältnis zu treten. Dem Blick antwortet auf der Objektseite der Schein31. Dessen Dauerhaftigkeit geht per contrarium aus den „wandelbaren Freuden“ des Genusses her¬ vor. Im Schein erzeugt der Blick Zeitlosigkeit. Der Proserpina-Mythos gibt dem begrifflich dargelegten eine mythische Kontrastbegründung. Er bildet eine freilich trügerische Überleitung zur folgenden Strophe, trügerisch deshalb, weil die Doppelexistenz der Proserpina Folge ihrer Verschuldung, nicht ihrer Befreiung war. Im Gedankengang des Ge30

Joh. Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 3. Ab¬ schnitt. Herder entwickelt darin eine eigentliche Phänomenologie der Sinne.

31

Zu dieser Stelle vgl. u. a. Löhner a.a.O. S. 16 f.

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dichtes geht es darum, die Rückwirkung des optischen Verhältnisses zum Leben auf das Subjekt zu schildern. Es verwandelt sich. Mittel dieser Verwandlung ist „die Gestalt“. Der Begriff „Gestalt“ wird von Schiller im fünfzehnten der „ästhetischen Briefe“ definiert. Im Gedicht ist er nur auf den Menschen bezogen. Im Gegensatz zum Körper be¬ zeichnet „die Gestalt“ den göttlichen Teil im Menschen, also das Ziel der Annäherung an die Götter. Die Flügel deuten ihre Freiheit vom Leben an. Sie sind offensichtlich eher eine erstarrte Metapher, als daß sie zu einem versteckten Bildkomplex gehören. Die Schönheit also macht den Menschen zur Gestalt. Dabei ist die Synonymie von „Schön¬ heit“, „Schein“ und „Schatten“ wichtig. „Schönheit“ ist Abbild und Spiegel wie der Schatten, hervorgerufen durch den Betrachter und diesen sich selbst indirekt am Objekt zeigend. Auf diesem Wege kann der Mensch betrachtend sich an der Erscheinung seiner Freiheit, die sein Selbst ausmacht, bewußt werden. Die Schönheit setzt im Spiegelungs¬ verfahren sein Selbst frei. So ist der Mensch im Leben den Göttern gleich. Dabei ist vorausgesetzt, daß der Mensch ein Selbst habe, das seine Identität über das Leben hinaus aufrecht erhält. Menschen und Götter sind somit nicht radikal, sondern nur durch ihre Perspektive auf das Leben unterschieden. Der Übergang vom Men¬ schen zum Gott scheint damit durch einen einfachen Wechsel der Ein¬ stellung möglich, zu dem die Imperative in der frühen Fassung des Gedichts direkt auffordern. Damit ist erst der ideale Rahmen gegeben für die Frage, wie denn der Aufstieg zu den Höhen konkret im Leben zu erreichen sei. Die Warnung der 5. Strophe ist nicht zu überhören. Ihr „Nicht“ trifft alle drei Zeilen. Die Distanzierung vom Leben ist nicht in das Belieben des Einzelnen gestellt, der von der Auseinandersetzung, die das Leben be¬ deutet, genug hat. Schönheit dient nicht der Erholung. Die Zeit steht dadurch nicht still. Notwendigkeit muß den Perspektivenwechsel her¬ beiführen, und diese tritt dann ein, wenn der Mensch seine Endlichkeit erkannt hat beim Versuch, im Leben aus eigener Kraft Gott gleich zu sein. Die Schönheit ist eine ultima ratio, die erst wirkt, wenn alle andern Wege verbraucht sind. Hier beginnt ein Ton zu klingen, und er wird immer hörbarer im folgenden, den die „Briefe“ nicht kennen. Es ist der der Resignation. Schönheit ist legitime Freistatt nur für den aufgrund eigenen Kämpfens Verfolgten und Geplagten, wie es die Strophen 5 und 6 aus dem „Reich der Schatten“ mit deutlichem Bezug auf Orest schilderten. 92

Das Ziel wird dann erreicht, wenn seine empirische Unerreichbarkeit feststeht. Die nun folgenden vier nach einem parallelen Schema mit „wenn — da; aber“ aufgebauten Strophenpaare demonstrieren die vorangestellte Konzeption an vier Beispielfällen aus der Erfahrung. Die Beziehung zum ersten Teil wird jeweils nicht ausdrücklich hergestellt, sie ergibt sich aus Wort- und Motivanklängen. Das erste Strophenpaar übernimmt aus der vorangegangenen Strophe das Beispiel des Wettkampfes. Angespielt wird auf das antike Wagen¬ rennen, bei dem es darauf ankam, sich vor den andern auszuzeichnen. Der Sieger bekam den Kranz, sein Name wurde von den Dichtern ver¬ ewigt. Der Weg zum Ruhm und zum Glück der ausgezeichneten Stellung war, wie wir gesehen hatten, die vom Humanismus wieder aufgegrif¬ fene Möglichkeit der Individuation. Das Beispiel hält sich somit genau im Rahmen der Problemstellung des Gedichts, der Frage nach der Ver¬ göttlichung des Menschen. Eine indirekte Andeutung auf die Aufwärts¬ bewegung mag man im Untersinken des Schwächlings sehen. — Die „aber“Strophe setzt nun die neue Möglichkeit entgegen. Das sanfte und ebene Rinnen des Lebensflusses und die Götternamen rufen die olym¬ pische Welt in Erinnerung. Aurora und Hesperus spiegeln sich im Le¬ bensstrom. Das anmutige Bild bewirkt, was der Kampf um Ruhm nicht erreichte. Doch der Fluß, der nun ruhig fließt, ist derselbe, der sich zu¬ vor wild ergossen hatte. Der spätere Zustand setzt den vollendeten früheren voraus. Das zeigt sich grammatisch darin, daß, während in der „wenn“-Strophe ingressive und perfektive Verben dominierten, in der „aber“-Strophe die participia perfecti neben durativen Verben vor¬ herrschen. Das vollendete Leben, das auf Göttlichkeit tendierte, reflek¬ tiert nun das Bild des freien Selbst. Die Stelle knüpft an eine aus dem frühen „Spaziergang unter den Linden“ an, die sie zu verdeutlichen vermag. Der Skeptiker Wollmar, der seine Laura verloren hat, sagt nach einer Schilderung der vielfäl¬ tigen fruchtlosen Bemühungen der Menschen um Glück: „Die Kinder freuen sich auf den Harnisch der Männer, und diese weinen, daß sie nimmermehr Kinder sind. Der Strom unseres Wissens schlängelt sich rückwärts zu seiner Mündung, der Abend ist dämmerig wie der Morgen, in der nämlichen Nacht umarmen sich Aurora und Hesperus, und der Weise, der die Mauern der Sterblichkeit durchbrechen wollte, sinkt ab¬ wärts, und wird wieder zum tändelnden Knaben. Nun Edwin! recht93

fertigen Sie den Töpfer gegen den Topf, antworten Sie, Edwin!“32 Hier dient der Hinweis auf die Gleichzeitigkeit von Kindheit und Alter für die Rückschau als Argument für die Sinnlosigkeit des menschlichen Le¬ bens. Im Gedicht bezeugt er gerade umgekehrt die Göttlichkeit, aber nun nicht die des Schöpfers, sondern die des menschlichen Selbst. Dieses wird im Ganzen seines irrigen Strebens nach Göttlichkeit seiner selbst ansichtig als des Prinzips, das darin am Werk war. Im zweiten Strophenpaar wird die Pygmalion-Geschichte selbst als Beispiel herangezogen. Wie der Kämpfer um den Kranz sein Leben zu formen sucht, arbeitet der Künstler am Stein. Er ist ebenso eng an den Stoff des Lebens gebunden. Wie das vollendete Leben verändert das vollendete Kunstwerk seine Qualität. Der Künstler nimmt Abstand, Schlank und rein wie aus dem Nichts entsprungen Steht das Bild vor dem entzückten Blick.33 Der Abstand gibt den Blick frei. Das Bild, das sich ihm bietet, ist sein Bild, das nun als Entzücken auf ihn zurückwirkt. Das Geschöpf wirkt verwandelnd auf den Schöpfer zurück und befreit ihn von der menschlichen Bedürftigkeit. Er ist auf dem Olymp. Hier noch deutlicher als beim ersten Beispiel tritt der innere und notwendige Zusammenhang von Vollendung, Schönheit und Göttlichkeit hervor. Vollendung weist auf ein zeitliches Moment, sie muß sich aus der Sache selbst ergeben. Erst wo etwas von sich aus an sein Ende gekommen ist, kann es als Schein dem betrachtenden Blick antworten. Wir erinnern uns, daß auch der „Schein“ in der zweiten Strophe zu einer Frucht gehört. Hier zeigt sich die Notwendigkeit, die die Vergötterung dem Belieben des Men¬ schen entzieht. Im Selbst steckt ein entelechisches Moment, das seine Er¬ scheinung von einem Kairos abhängig macht, sei es ein individueller oder ein epochaler. Auf diesen zweiten Aspekt deutet das dritte Beispiel. Die „wenn“32 33

Werke Bd 5, S. 331 Wie eng für Schiller der Künstler mit Pygmalion verwandt war, zeigen auch beiläufige Äußerungen: Mit nachahmendem Leben erfreuet der Bildner die Augen, Und von Dädal beseelt redet das fühlende Holz, („Der Spaziergang“ V. 127) NA I, S. 263 Auf die Dichter bezogen: Jeder, als wäre ihm ein Sohn geboren, empfieng mit Entzücken, Was der Genius ihm, redend und bildend, erschuf. („Die Dichter“, V. 9) ebd. S. 271

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Strophe umschreibt das vom Christentum gelehrte Verhältnis von Mensch und Gott, die radikale Differenz. Der Mensch erfährt sich nur negativ in der Aussichtslosigkeit jedes Versuchs, Gott gleich zu leben und ein Heiliger zu sein. „Kein Erschaffner hat dies Ziel erflogen“: Wenn sich das Verhältnis zu Gott als das von Schöpfer und Geschöpf darstellt, ist der „Abgrund“ unüberbrückbar. Die Bildlichkeit der zweiten Strophenhälffe drückt die unendliche Differenz kosmisch aus. Die Zeile „Und kein Anker findet Grund“ greift auf das Jugendgedicht „Die Gröse der Welt“ zurück. Wiederum aber, was dort resignierte Einsicht ist, eröffnet nun gerade eine positive Alternative. Die Entdeckung, daß der Kosmos unendliche Leere sei, entzieht Gott die Basis in der Erfah¬ rungswelt. Gott als Herr der Schöpfung erweist sich als Produkt mensch¬ licher Spekulation. Damit kehrt sich das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf um, Gott ist im menschlichen Willen begründet. Darum steigt er herab von seinem Weltenthron. Er wird als der Menschheit Götter¬ bild erkannt, an dem dem Menschen das Absolute in sich selbst aufgeht. Die Göttervorstellung, die das Gedicht an den Anfang stellt, sucht dieser Einsicht Rechnung zu tragen. Die Götter sind Bilder, an denen der Mensch als an eigenen Schöpfungen das ihm innewohnende göttliche Prinzip erkennt. Das vierte Strophenpaar zieht die Laokoon-Problematik bei. Wie¬ der meinen wir einen Anklang an die Jugenddichtung herauszuhören. Die „heilige Sympathie“ hatte in der Ode „An die Freude“ zu den Sternen geleitet. Hier erliegt ihr das Unsterbliche im Menschen. Dieses wird noch von ferne mit der Freude in Zusammenhang gebracht. Der Schmerz ist die Widerlegung des Gottesbeweises durch die Freude; denn in ihm führt der Affekt nicht über die Natur hinaus, sondern in sie zurück. Der Aufstieg durch die Freude wandelt sich im Schmerz in den der Empörung. Wiederum münzt die „aber“-Strophe die Widerlegung des Gottes¬ beweises in ein positives Argument um. Der vergangene Schmerz wird zum Spiegelbild der menschlichen Freiheit wie die dunkle Wolke zum Regenbogen. Und wiederum kommt der Wechsel der Perspektive auf dem Weg über das Auge zustande. Es ist auf jene Gesetzmäßigkeit an¬ gespielt, die der Wirkung des Trauerspiels zugrunde liegt, wie sie Schiller im Aufsatz „über das Pathetische“ beschreibt. In allen vier Beispiel¬ fällen erkennen wir dasselbe Gesetz. Jedesmal wird ein vorliegender Weg, sich empirisch seiner selbst zu versichern, vorgestellt und an sein Ende geführt. Als vollendeter wird er zum ästhetischen Phänomen, das 95

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nun indirekt dem Menschen seine ewige Freiheit zum Bewußtsein bringt. Diese Gesetzmäßigkeit bringt die Reihe der Beispiele dem Leser indirekt zum Bewußtsein. Im Mythos von der Apotheose des Herakles, in dem das Gedicht gipfelt, gewinnt sie selber Gestalt. Die vorletzte Strophe ruft die Heldentaten in Erinnerung, die Herakles berühmt machten, mit denen er sich stets aufs neue hatte behaupten müssen. Was immer er tat, vermochte ihn nicht davon zu befreien, des „Feigen Knecht“ zu sein. In dieser Strophe sind die vier „wenn“-Strophen in eins zusammen¬ gefaßt. Nun tritt die Entelechie deutlich hervor, auf die wir aufmerksam geworden waren. Herakles bemüht sich solange vergeblich, „bis sein Lauf geendigt ist“. Diese Ende lag weder in seinem noch seiner Gegnerin Belieben. Es ergab sich an einem geheimnisvoll festgesetzten Zeitpunkt. In der Wiederholung des „bis“ wird die letzte Zeile der alten Strophe zur ersten der neuen. Das Ende des Laufs zieht die endgültige Ver¬ götterung nach sich. Das durchlebte Leben wird zum „Traumbild“. Das dreimalige „sinkt“ läßt erkennen, daß Herakles abwärts gewendeten Blicks aufschwebt34. Doch er gelangt in eine Höhe, wo er des Bildes nicht mehr bedarf. Er wird als Gott unter die Götter aufgenommen. Die Quelle für die Apotheose des Herakles sind Ovids „Metamor¬ phosen“. Aus ihnen hatte Schiller auch den Proserpina-Mythos und die Pygmalion-Fabel geschöpft. Die Schilderung des Olymp lehnt sich an die des goldenen Zeitalters an. Die Gesetzmäßigkeit, die im Tod des Herakles Gestalt gewinnt, ist die einer Metamorphose, nun aber eher im Sinne Goethes als Ovids. Es ist eine Metamorphose der Gottes¬ erfahrung und damit Gottes selbst. Gott ist vom offenbaren zu dem¬ jenigen geworden, der mit dem menschlichen Selbst identisch und daher dem Menschen nicht mehr unmittelbar erfahrbar ist. Diese Metamorphose korrespondiert somit der kopernikanischen Wendung Kants. Damit löst sich der Widerspruch, daß Schillers Gedicht einerseits Aufforderungen ausspricht, andrerseits aber den Moment des Umsprungs menschlicher Willkür entzieht. Das Gedicht versteht sich als Ausdruck eines Zeitpunktes, an dem individuelle und epochale Wende eins sind Es versucht selbst als ästhetische Gestalt dem Leser sein Selbst vor Augen zu stellen. Einen stiftenden Anspruch schrieb Schiller dem Gedicht zu, als er es Humboldt mit den Worten übersandte: „Wenn Sie diesen Brief erhalten, liebster Freund, so entfernen Sie alles, was profan ist, und lesen in geweihter Stille dieses Gedicht. Haben Sie es gelesen, so

34

96

Darauf macht Staiger aufmerksam. A.a.O. S. 219

schließen Sie sich mit der Li ein und lesen es ihr vor. Es tut mir leid, daß ich es nicht selbst kann ...“ (9. August 1795)35. In der Absonderung vom Leben sollte das Gedicht den Leser zum Gott in seinem Busen er¬ heben, also jene Wirkung haben, die Schiller später in den Distichen „Der berufene Leser“,

„Die Belohnung“38 beschrieb. Doch nirgends

äußert sich so ausdrücklich wie im Brief an Humboldt die fast kultische Erwartung, die Schiller mit seinem Gedicht verband, daß es dem Ein¬ zelnen im Geheimen sein Selbst offenbare. Die historische Bedeutung von „Das Ideal und das Leben“ war Schiller selbst deutlich. Er verstand sein Gedicht als Pendant zu dem Gedicht „Theodicee“ von Uz37, das ihn in seiner Jugend außerordentlich beeindruckt hatte. Uz gibt darin eine versifizierte und verkürzte Dar¬ legung der Leibnizschen Theodicee, wobei er die Vorstellung eines Auf¬ schwungs in die Höhe verwendet. Dem Blick von oben auf die Welt erhellen sich die „Risse“ der Schöpfung: Die dicke Finsternis entweiche, Die aus dem Acheron, vom stygischen Gesträuche, Mit kaltem Grausen sich auf meinem Wege häuft, Wo stolzer Thoren Schwarm in wilder Irre läuft, Und auch der Weise furchtsam schreitet, Oft stille steht und oft gefährlich gleitet! Der Blick, der sich auftut, wird mit dem verglichen, der sich dem Wandersmann auf hohem Berge darbietet38. Die Kardinalfrage der Theodicee, die Rechtfertigung des Übels, wird dadurch gelöst, daß die 35 Briefwechsel Schiller/Humboldt. Bd 1, S. 80 36 NA I, S. 303 37 J. P. Uz, Sämmtliche poetische Werke, Karlsruhe: G. C. G. Schmieder 2. A. 1776. S. 182. — Der Hinweis auf Schillers Berufung auf Uz bei Buchwald, Schiller I, S. 176 38 Der Blick von der Höhe ins Tal ist im 18. Jahrhundert ein beliebtes Motiv. Beispiele dafür bieten Haller, Uz, Brockes, Garve, K. Ph. Moritz etc. Dieser Niederblick steht in enger Verbindung mit dem Gedanken der Theodicee. Von oben wird das sukzessiv Durchlaufene simultan und macht seine ver¬ borgene Einheit und Gesetzmäßigkeit offenbar. Für Garve gleicht diese Sammlung des Verstreuten einem Kunstwerk („Über einige Schönheiten der Gebirgsgegenden“). Vgl. dazu August Langen, Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts (Rahmenschau und Rationalismus). Diss. Köln 1932. Jena: Diederichs 1934. — Wichtig ist in diesem Zusam¬ menhang auch Richard Weiss, Das Alpenerlebnis in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Zürich 1933. (Wege zur Dichtung XVII)

97 7

Pestalozzi, Lyrisches Ich

Welt als Teil des unendlichen Kosmos gesehen wird, der nicht aus sidi allein verstanden werden könne. Entsprechend kann auch der Mensch nicht nur nach seiner irdischen Unvollkommenheit beurteilt werden: Mein Schicksal wird nur angefangen, Hier, wo das Leben mir in Dämmrung auf gegangen: Mein Geist bereitet sich zu lichtem Tagen vor, Und murrt nicht wider den, der mich zum Staub erkohr, Mich aber auch im Staube liebet, Und hohem Rang nicht weigert, nur verschiebet. Man glaubt manche Züge aus Uzens Gedicht in „Das Ideal und das Leben“ wiederzuerkennen. Staiger hat darauf hingewiesen, daß auch darin der Standort des Betrachters, dem die Welt als Unterwelt er¬ scheint, in der Höhe liegt. Wir haben gesehen, daß es sich zwischen den „wenn“- und den „aber“-Strophen jedesmal um eine Öffnung des Blicks handelt. Aus der Distanz erhält das Betrachtete nun aber nicht mehr im Hinblick auf die Vernunft Gottes seine Rechtfertigung. An Gottes Stelle ist die Freiheit, die das innerste Selbst des Menschen ausmacht, getreten. Die Unvollkommenheit erhält keine räumlich oder zeitliche Ergänzung, in ihr selbst liegt verborgen, was sie rechtfertigt. Die Bewegung hinauf ist zugleich eine ins Innere. Das kommt in der Paradoxie des Aufwärtsfließens des Herakles39 zum Ausdruck. Doch nicht allem Menschlichen wird diese Rechtfertigung zuteil, sondern nur den Bemühungen, die aus den Schranken der Endlichkeit hinausstreben. Es sind jene Zustände, die Schiller im vierundzwanzigsten „Brief“ als „ver¬ nünftige Tierheit“ bezeichnete, in denen sich das dem Menschen inne¬ wohnende Absolute in der Sinnlichkeit und damit auf noch unangemes¬ sene Weise manifestiert. Die Anthropodicee Schillers verurteilt und rechtfertigt in einem. Sie richtet sich auf geschichtliche Phasen des Einzelnen und der Menschheit.

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Schiller nimmt mit dieser „im Bereich der deutschen Klassik beispiellosen Wendung“ (Staiger) jenen Vergleich auf, den Beatrice für Dantes Aufstieg im „Paradiso“ verwendet. „Non dei piü ammirar, se bene stimo, Lo tuo salir, se non come d’un rivo Se d’alto monte scende giuso ad imo.“ Daß du emporsteigst, darf dich, möcht ich glauben, Nicht mehr verwundern als der Lauf des Bächleins, Der talwärts fließt von einem hohen Berge. (Par. I, 136

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f.)

Die ästhetische Reflexion entdeckt darin ihr eigenes Prinzip und ver¬ wendet sie als Stoff für dessen Sichtbarmachung. Die vier „wenn-aber“-Strophenpaare können als Phasen einer hi¬ storischen Abfolge verstanden werden. Wir haben gesehen, daß sie sich auch auf Schillers individuelle Entwicklung beziehen lassen. Sie gleichen den Heldentaten, die Herakles’ Vergötterung vorausgehen. Andrerseits aber werden sie durch die Reihung einander gleichgeordnet. Hierin zeigt sich eine Grundproblematik Schillers. Seine Begriffe sind durch¬ gehend auf geschichtsphilosophischem Weg deduziert. Er versucht mit ihnen, eine gegenüber der Antike veränderte geistige Situation zu er¬ fassen. Zugleich aber baut er aus ihnen ein System gleichzeitiger Mög¬ lichkeiten, die allgemein Geltung haben. Darauf beruht sein Klassizis¬ mus und sein Hang zur antiken Mythologie. In der Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ scheint es die Ausstrahlung Goethes zu sein, die einer allgemeinen Bestimmung der Gegenwart als sentimentalisch im Wege stand. Auch „Das Ideal und das Leben“ nimmt eher auf individuelle als auf historische Differenzen Rücksicht. Schiller ver¬ stand sein Gedicht auch als Grundlegung einer ars poetica, welche Regeln für sentimentalische dichterische Gestaltungen enthielt. Die Ab¬ handlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“, die kurz darnach entstand, konkretisierte diese. Schiller faßte den Plan, selbst in einer Dichtung das Ideal direkt anschaubar zu machen. Diese „Idylle“ sollte an die Apotheose des Herakles anschließen und die Vermählung des Herakles mit der Hebe behandeln. Schiller entwickelte Humboldt den Plan und fügte hinzu: „Denken Sie sich aber den Genuß, lieber Freund, in einer poetischen Darstellung alles Sterbliche ausgelöscht, lauter Licht, lauter Freiheit, lauter Vermögen — keinen Schatten, keine Schranke, nichts von dem allen mehr zu sehen. — Mir schwindelt ordentlich, wenn ich an diese Aufgabe — wenn ich an die Möglichkeit ihrer Auf¬ lösung denke. Eine Szene im Olymp darzustellen, welcher höchste aller Genüsse!“ (30. Nov. 1795)40. Was er unter „Idylle“ verstand, hatte Schiller in seiner poetologischen Abhandlung dargelegt. Im Brief an Humboldt setzte er sie von der hohen Komödie ab. Diese war ihm eine satirische Gattung, sie evozierte das Ideal indirekt durch die Darstellung der ihr entgegengesetzten Wirklichkeit, das Licht durch den Schatten, die Freiheit durch die Schranken, mit den Worten des Briefes gespro¬ chen. Die Idylle dagegen sollte das Ideal unmittelbar zeigen. Das mytho-

40

Briefwechsel Schiller-Humboldt Bd 1, S. 243

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logische Kostüm brauchte sie nur, um das Ideal als Menschliches zu kennzeichnen, in dem sich Unsterbliches und Sterbliches, Mann und Frau, Ruhe und Bewegung, Aktivität und Empfänglichkeit vermählen. In dünnster Hülle wäre damit das Absolute offenbar geworden. Die emphatische Unruhe, die Schillers Brief an Humboldt durchgeistert, ist der eines Propheten ähnlich, der Gott nahen fühlt, den in den mensch¬ lichen Willen aufgenommenen und damit völlig und endgültig inkar¬ nierten Gott. Mit der Idylle, wäre sie das geworden, was Schiller von ihr erhoffte, wäre der archimedische Punkt gefunden gewesen, von dem aus ein dem abgebauten theologischen Weltaufriß entsprechender anthro¬ pologischer hätte dichterisch errichtet werden können nach dem Modell, das die „Ode an die Freude“ auf einer früheren Stufe skizziert hatte. Schiller vermochte diese Aufgabe nicht zu lösen. Aber er hinterließ sie dem neuen Jahrhundert. In der Theorie der Frühromantiker wurde sie zum Zentrum. In der lyrischen Praxis jedoch wurde sie erst dann allgemein, als Goethes Einfluß nachzulassen begann, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Aufstieg- und Aufschwunggedichte, die wir im folgenden betrachten, sind Dokumente dieser Problematik. Sie stellen Versuche dar, den Weg zur Lösung der von Schiller gestellten Aufgabe zu bahnen. Schiller verstehen wir hier als Gegenpol zu Dante innerhalb der deutschen Literatur. Jene Destruktion des Danteschen Kosmos, deren Beginn wir uns Petrarca und Giordano Bruno vergegenwärtigt hatten, war zunächst von der Barocklyrik in Deutschland zwar von Einzelnen gespürt, aber nicht allgemein realisiert worden. Insofern war auch der protestantische Barock gegenreformatorisch. Erst mit Beginn des 18. Jahr¬ hunderts drangen die Konsequenzen ins Bewußtsein, und Schiller, wie kaum ein anderer, ergriff die Aufforderung zur „Grossheit“, die Goethe darin erkannte, als er im historischen Teil der Farbenlehre in einer „Zwischenbetrachtung“ diesen Zusammenhang umriß: „Doch unter allen Entdeckungen und Ueberzeugungen möchte nichts eine grössere Wirkung auf den menschlichen Geist hervorgebracht haben, als die Lehre des Kopernikus. Kaum war die Welt als rund anerkannt und in sich selbst abgeschlossen, so sollte sie auf das ungeheure Vor¬ recht Verzicht tun, der Mittelpunkt des Weltalls zu sein. Vielleicht ist noch nie eine grössere Forderung an die Menschheit geschehen: denn was ging nicht alles durch diese Anerkennung in Dunst und Rauch auf: ein zweites Paradies, eine Welt der Unschuld, Dichtkunst und Frömmig¬ keit, das Zeugnis der Sinne, die Ueberzeugung eines poetisch-religiösen 100

Glaubens; kein Wunder, dass man dies alles nicht wollte fahren lassen, dass man sich auf alle Weise einer solchen Lehre entgegensetzte, die denjenigen, der sie annahm, zu einer bisher unbekannten, ja ungeahneten Denkfreiheit und Grossheit der Gesinnungen berechtigte und auffor¬ derte.“41

41 Goethe, Die Schriften zur Naturwissenschaft, hnsg. im Aufträge der deut¬ schen Akademie der Naturforscher Leopoldina, i. Abt. Texte Bd 6. Weimar: Böhlau 1957. S. 133 IOI

„Excelsior!“ Henry Wadsworth Longfellow, The Works, ed. Samuel Longfellow, 14 vols., Boston/New York 1886 Gottfried Keller, Sämtliche Werke, hrsg. von Jonas Fränkel und Carl Helbling, Bern: Benteli 1926 ff. Gottfried Keller, Gesammelte Briefe, hrsg. von Carl Helbling. Bern: Benteli 1950 ff. Theodor Fontane, Sämtliche Werke, hrsg. von Edgar Gross. München: Nymphenburger 1959 ff. Friedrich Nietzsche, Werke hrsg. von Karl Schlechta. München: Hanser 1956

Die Vorstudien suchten an repräsentativen Beispielen die Tradition zu vergegenwärtigen, zu welcher die Gedichte, die im folgenden inter¬ pretiert werden, ihrer Motivik nach gehören. Will man die Lage dieser Gedichte genau bestimmen, muß nun, nach der diachronischen, auch eine synchrone Koordinate gezogen werden. Es ist zu untersuchen, wie sich Schillers Frage „Führt kein Weg hinauf zu jenen Höhen?“ für das spä¬ tere 19. Jahrhundert stellte. Diesen zeitgeschichtlichen Kontext auszu¬ machen, bringt jedoch methodische Schwierigkeiten mit sich. Er bildet nicht nur den Rahmen, sondern wird durch die Gedichte selbst reprä¬ sentiert. Die Frage läßt sich nicht von den Antworten lösen, die sie geben, ja Nietzsche und Mallarme z. B. verhelfen der Problematik erst zur fundierten Formulierung. Die allgemeine Zeitstimmung zu charakterisieren, sei daher ein tri¬ viales Gedicht beigezogen, Longfellows „Excelsior“. Es bietet sich an wegen der literarischen Herkunft aus der deutschen Klassik und Roman¬ tik, vor allem aber aufgrund seiner außerordentlichen Verbreitung in der fraglichen Zeit. Es fand im allgemeinen Bewußtsein und bei den hervor¬ ragenden Geistern der Epoche eine so große Resonanz, daß die An¬ nahme berechtigt scheint, es habe an eine latente Problematik gerührt. Es kann als Kristallisationspunkt ohne größeres Eigengewicht gelten und

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in unserem Zusammenhang als Zugang zur Problemlage im späteren 19. Jahrhundert dienen. As through an Alpine village passed THE shades of night were falling fast, A youth, wo bore, ’mid snow and ice, A banner with the stränge device, Excelsior! His brow was sad; his eye beneath, Flashed like a falchion from its sheath, And like a silver clarion rung The accents of that unknown tongue, Excelsior! In happy homes he saw the light Of household fires gleam warm and bright; Above, the spectral glaciers shone, And from his lips escaped a groan, Excelsior! “Try not the Pass!“ the old man said: “Dark lowers the tempest overhead, The roaring torrent is deep and wide!“ And loud that clarion voice replied, Excelsior! “Oh stay“, the maiden said, “and rest Thy weary head upon this breast!“ A tear stood in his bright blue eye, But still he answered, with a sigh, Excelsior! “Beware the pine-tree’s withered brauch! Beware the awful avalanche!“ This was the peasant’s last Good-night, A voice replied, far up the height, Excelsior! At break of day, as heavenward The pious monks of saint Bernard Uttered the oft-repeated prayer, A voice cried through the startled air, Excelsior! A traveller, by the faithful bound, Half-buried in the snow was found,

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Still grasping in his hand of ice That banner with the stränge device, Excelsior! There in the twilight cold and gray, Lifeless, but beautiful, he lay, And from the sky, serene and far, A voice feil, like a falling star, Excelsior!1 Das Gedicht entstand 1841 in Amerika2. Henry Wadsworth Longfellow (1807—1882), der populärste amerikanische Dichter im 19. Jahr¬ hundert, hatte damals zwei Europaaufenthalte hinter sich, in denen er sich mit Kultur und Literatur der alten Welt vertraut gemacht hatte. Längere Zeit war er in Heidelberg gewesen (1835), wo er mit der deut¬ schen Romantik in Berührung gekommen war, die ihm großen Ein¬ druck machte. Den Roman, in den er die Früchte seiner Begegnung mit Deutschland einbrachte, hatte er „Hyperion“ genannt. Auch „Excelsior“ enthält viele Reminiszenzen an die deutsche Literatur der Goethezeit. Es ist ein Musterbeispiel dafür, daß, je freier die Einbildungskraft zu walten scheint, sie umso stärker an Vorgegebenes und Vorgeformtes gebunden ist. Die Hochgebirgskulisse war seit dem ausgehenden 18. Jahr¬ hundert zum topos geworden, den man im Gegensatz zum „locus amoenus“ als „locus terribilis“ definiert hat3. Matthissons Gedicht „Der Alpenwanderer“ ist darin ein unverkennbarer Vorläufer von „Excel¬ sior“. Schiller verwandte in seinem „Berglied“4 formelhaft die einzelnen Momente, Sturm, Gießbach, Gletscher, Lawine. Auch das Motiv von kaltem Glanz begegnet dort. Die Lokalität des großen St. Bernhard spielt beiläufig bei Jean Paul und in den „Nachtwachen des Benaventura“ eine Rolle. Im „Hospiz auf dem grossen St. Bernhard“

der

Annette von Droste steht sie im Zentrum5. Longfellows überraschend 1 2

Longfellow, Works I, S. 79—82. — Deutsche Übersetzung von Freiligrath: Ferdinand Freiligrath, Werke. Berlin/Leipzig o. J. Bd 7, S. 86 Longfellow, Works I, S. 79

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Vgl. Wolfgang Martens, Bild und Motiv im Weltschmerz. Studien zur Dich¬

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tung Lenaus. Köln/Graz: Bühlau 1957 (Natur und Leben N.F. 4). S. 71. D lese Arbeit enthält ferner widitiges Motivmaterial für die hier übersprun¬ gene erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Schiller, Werke I, S. 416

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Jean Paul, „Titan“, 10. Jobeiperiode; Die „Nachtwachen des Bonaventura“, 5. Nachtwache. Die Droste kannte offensichtlich den Großen St. Bernhard nur aus der Literatur.

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detailliertes Bild des geborstenen Baumes stammt aus dem Motivarsenal des Weltschmerz6. Auch formal steht das Gedicht in der Nachfolge der Goethezeit. Goethes und Schillers Ideenballade standen ihm Pate. Der Stationenweg des Jünglings gleicht von ferne dem des Moros in der „Bürgschaft“. Der jugendliche Bergsteiger kommt jedoch bereits in der Emblematik vor7. Und der Emblematik nähert sich das Gedicht wieder an durch seine Tendenz zum bedeutsamen Bild. Die Devise „Excelsior“, die Longfellow aus dem New Yorker Wappen mit der auf gehenden Sonne genommen hatte8, erhielt im aufsteigenden Jüngling eine neue pictura. Auch an weiteren Einzelheiten ließe sich der second-hand-Charakter des Gedichtes nachweisen. Einzig die beiden Schlußstrophen schei¬ nen etwas origineller zu sein. Doch entlockte gerade die Schlußwendung des Gedichts dem Verfasser den berechtigten Seufzer: „Of a truth, one cannot strike a spade into the soil of Parnassus, without disturbing the bones of some dead poet.“9 So sehr das Epigonale den ästhetischen Wert des Gedichtes mindert, der hier damit verfolgten Absicht kommt es entgegen. Gerade weil es nicht eigentlich originell ist, eignet es sich als Dokument des allgemeinen Zeitgeistes10.

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Martens, a.a.O. S. 68 Emblemata Sp. 985—987 A.a.O. S. 80 Die Popularität des Gedichts soll eine kurze Chronologie der Belege zeigen: 1841 Entstehung von „Excelisor“. 1846 Deutsche Übersetzung von Freiligrath. 1871 Motto aus „Exc.“ über Fontanes „Peter d’Amiens“. 1876 Nietz¬ sche lernt das Gedicht kennen. 1878 in Boston erscheint eine von 7 verschiede¬ nen Künstlern illustrierte Einzelausgabe. Anspielung Nietzsches in einem Brief an Seydlitz (vgl. Anm. 43). 1881 Henry James läßt in seinem Roman „Washington Square“ den wenig gebildeten Arthur Townsend im Gespräch mit Catherine Sloper Exc. erwähnen zur Illustration seines Fortschritt¬ strebens. (Kp. V). 1882/83 Briefwechsel zwischen Keller und Heyse über Exc. als möglichen Namen des späteren Martin Salander. 1884 Anspielung in Fontanes „Cecile“. 1887 Nietzsches Aphorismus „Exc.“ in der „Fröhlichen Wissenschaft“. 1895 Aufnahme in die 5. Auflage von Meyers Konversations¬ lexikon: „Excelsior (lat. Komparativ von excelsus, ,erhaben'), besonders ausgezeichnet, von hervorragender Güte; auch als Motto (,höher hinauf') und reklamehaft für Gegenstände der Industrie etc. gebraucht.“ 1897 Anspie¬ lungen in Fontanes „Stechlin“. 1909 Georg Frh. von Ompteda, Excelsior, Ein Bergsteigerleben. 1910 Das Ende von Gerhart Hauptmanns Narr in Christo Emanuel Quint auf dem Gotthard Zentralmassiv imitiert unver¬ kennbar „Excelsior“. 1919 Max Kalbeck in den Anmerkungen des Brief¬ wechsels Heyse/Keller: „Seitdem die Geschäftsreklame das Fremdwort auf¬ gegriffen, um es zur Schutzmarke aller möglichen Mittel und Unternehmun-

Schon Gottfried Keller nahm es dafür. Als er sich 18 81

daran

machte, einen kritischen Roman über die zeitgenössische Gegenwart zu konzipieren, den späteren „Martin Salander“, wählte er „Excelsior, Longfellowschen angedenkens“11 als Arbeitstitel. In den Notizen ist Ex¬ celsior sowohl Name der Hauptfigur wie Werktitel. Er schrieb darüber an Heyse: „Ich denke jetzt wieder mehr an mein Romänchen, worin alles im guten und schlimmen Sinne aufwärts strebt, und das mit einer wirklichen Bergfahrt vieler Menschen kataströphlich abschließen soll.“12 Was unter „gut“ und „schlimm“ zu verstehen ist, geht aus der ersten Notiz hervor: „Wir haben Sehnsucht nach oben, nach Licht und Ruhe: aber nicht der erfüllten Pflicht und des befriedigten Gewissens, nach dem Licht der Ordnung, sondern nach dem Glanze der befriedigten Selbst¬ sucht des Ehrgeizes und der Ruhe des Genießens.“13 Keller akzeptierte die Topographie des Gedichts und den Zug zur Höhe. Sie berührten sich eng mit der seines „Apotheker von Chamonix“. Seine Kritik galt hier wie dort den Wegen des Aufstiegs. Pflicht, Gewissen, Ordnung waren ihm die rechten. Sie setzten das Ich in eine Wechselbeziehung zur Gemeinschaft, der es angehörte. Sein Wert war nicht in seine eigene Hand gegeben. An die Gemeinschaft, die staatliche und die familiäre, war die Mittlerfunktion der Kirche übergegangen. Das Gegenprinzip, das Keller allerorten wirksam sah, war das der Selbstsucht. In den Notizen zum „Salander“ heißt es „ein dumpfer Idealismus des Glaubens und Handelns“14. Dies eben waren die fragwürdigen Qualitäten, die neben den positiven im Namen „Excelsior“ zum Ausdruck kommen sollten. Heyse riet jedoch von diesem Titel ab, u. a. deshalb, weil er in Longfellows Gedicht von jeher „eine Attrape“ gesehen habe, „die uns Schritt vor Schritt, Strophe für Strophe auf irgendeinen Inhalt, ein Er¬ reichtes, eine Aussicht vom Berggipfel spannt und zuletzt mit langen Gesichtern stehen läßt, da die Moral der Geschichte darin zu bestehen scheint, daß es auf das Klimmen und Klettern als solches ankomme, gen zu machen, verlor Exzelsior den Rest seiner ethischen und poetischen Würde, und der deutsche Volkswitz gab ihm sein ,Höcher, Peter!* auf den Weg mit.“ (S. 315) — Die einstige Popularität von Excelsior bezeugen heute noch die zahllosen Hotels dieses Namens. Vgl. auch Meinrad Inglins Roman „Grandhotel Excelsior“. (1928) — Beim Zusammentragen dieser Belege war mir Herr Dr. Friedrich Rothe dankenswerterweise behilflich. 11 12 13 14

Keller Keller, A.a.O. A.a.O.

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an Heyse am 25. Dez. 1882. Keller, Briefe Bd. III/1, S. 86 Werke Bd XII, S.413 S. 432 v S. 437

was mit geringerem lyrisch-pathetischen Aufwand auch zu sagen war“15. Keller ließ sich jedoch vor allem vom Hinweis überzeugen, ein solcher Titel wäre nach Auerbachs Geschmack gewesen. Heyses Charakterisie¬ rung des Gedichts kam seiner Absicht eher entgegen: „Es handelt sich allerdings, wie bei Longfellow, um ein allgemeines Klettern und Klim¬ men an sich, wobei wenigstens einer mit den Seinen in die reinere Luft kommt; es sollte ein etwas ernstes Ding werden, wo ich mich womög¬ lich selbst etwas rühre, was freilich Mäuse kosten würde (,s koscht MäusM heisst’s alemannisch).“16 Mit der letzten Bemerkung nannte sich Keller indirekt einen Excelsior-Mann. Sein „Klettern und Klimmen“, die Arbeit an seinem „Romänchen“ wurde ihm denn auch sauer genug. Mit ihr verließ er jenen Weg, der ihn zum Dichter seines Volkes gemacht hatte, um gegen dieses zu schreiben. Indem er so aus der Negation der Gegenwart eine bessere Zukunft zu gewinnen suchte, folgte er wie von ungefähr den Spuren des Longfellowschen Gedichtes. Indirekt bestätigt er damit dessen repräsentative Bedeutung für die Epoche. Worin besteht die Eigenart des „Excelsior“-Aufstiegs? Zur Gesetz¬ mäßigkeit des Motivs, die sich an den angeführten Beispielen heraus¬ gestellt hat, gehört wesentlich, daß der Aufstieg in der Gegenrichtung zu einem Fall stattfindet und diesen damit rückgängig macht oder mindestens außer Kraft setzt. Gleich in der ersten Zeile von „Excelsior“ erscheint „falling“. Es kehrt in der Schlußzeile doppelt wieder. Auch die Warnungen des alten Mannes und des Bauern enthalten Vorstellungen des Falls. Gemeint ist der Fall, der von der Schwerkraft an aller Mate¬ rie bewirkt wird. Der Jüngling emanzipiert sich aufsteigend von einem universalen Naturgesetz. Auch das Bergdorf, das ihn einlädt, steht unter der Drohung des vernichtenden Falls. Es stellt ein Refugium dagegen dar mit stillem Glück und Liebe. Geistesgeschichtlich gesehen ist es eine Weltschmerzidylle, die aus dem Bewußtsein naturgegebener Hinfällig¬ keit ein resigniertes Glücksgefühl zieht; darauf deutet das Alternieren von Einladung und Warnung. Im Gedicht repräsentiert allein dieses Dorf menschliche Gemeinschaft. Deren Möglichkeit wird damit reduziert auf Weltabgeschlossenheit und passive Liebe. Den Jüngling hatte Long¬ fellow ursprünglich, wie die Entwürfe zeigen, ebenfalls weich und schwärmerisch konzipiert17, in der Endgestalt ist er von starker Männ-

13 Heyse an Keller am i. Januar 1883. Keller, Briefe a.a.O. S. 86 10 Keller an Heyse am 8. Januar 1883. Ebd. S. 87 f. 17 Longfellow a.a.O. S. 315 f. 107

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lichkeit. Er emanzipiert sich auch von aller menschlichen Gemeinsamkeit. Seine Individuation treibt ihn aus der Gesetzmäßigkeit der Natur und dem Verband der Menschen heraus in die völlige Einsamkeit. Damit erhebt sich die Frage nach dem Motor seines Aufstiegs, und zwar um so dringender, als er nicht einfach ein aus sich selbst heraus starker Mann ist. Schon die erste Strophe bringt in der physiognomischen Beschreibung eine gewisse Zwiespältigkeit zum Ausdruck. Sie zeigt sich auch im Seufzen und Stöhnen, die andeuten, daß ihn seine Ableh¬ nung von Glück und Liebe einige Selbstüberwindung kostet. Die Fahne und die Vergleiche von gezogenem Schwert und Trompete erwecken den Eindruck, er unterstehe einem militärischen Kommando, das seinen Auf¬ stieg vorschreibe. Offensichtlich aber ist er Befehlsempfänger und Be¬ fehlshaber in einer Person. Der Imperativ „Excelsior!“ geht von ihm aus und ist ihm zugleich, in der Fahne, äußerlich. Da in der zweiten Strophe gesagt wird, die Sprache des Jünglings sei für die Bergler un¬ bekannt, scheint sich „stränge“ in der ersten auf das Verhältnis des Jünglings selbst zu seinem Befehl zu beziehen. Dieser ist sein eigener und ihm doch fremd. „Excelsior“ als Fremdwort deutlich zu machen, scheint der formale Grundeinfall des Gedichts zu sein. Es ist lateinisch im englischen Kontext, eine Waise im Reimschema und als Refrain von der Strophe abgesetzt. Dabei ist nicht ohne Ironie, daß Longfellow selbst seine grammatische Form verkannte; er hielt es für ein Adverb18. Das Fremdwort „Excelsior“ ist die Energiequelle für den Aufstieg. Indem der Jüngling es wie ein Zauberwort den Situationen, in die er kommt, entgegenspricht, macht es seine Gewalt auf ihn geltend. Es ent¬ fremdet ihn der momentanen Umwelt. Bezeichnenderweise wirkt diese Selbstsuggestion auf akustischem Wege. So kommt sie ohne Medium aus. Die Stimme ist in den meisten Strophen grammatisches Subjekt. Sie hat sich verselbständigt. Oft ist von ihr nicht mehr als der des Jünglings die Rede. Das Wort entwickelt seine Dynamik als absoluter Komperativ. Es ist ein Verhältniswort und negiert jeweils das Vorliegende im Hin¬ blick auf einen höheren Grad. Entsprechend der traditionellen Vertikal¬ metaphorik ist das Höhere das Bessere. Die Negation geschieht im Namen eines höchsten Wertes. Dieser ist in der dritten Strophe mit den Gletschern in Analogie gesetzt. Der Gegensatz zum Feuer, in den die Gletscher gestellt werden, erhellt ihre Bedeutung. Sie sind eine Licht¬ quelle in der Nacht, vertreten die Sonne. Aber anders als Sonne und 18

A.a.O. S. 80

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Mond gehören sie der Erde selbst an als deren höchste Region. Ihr Licht ist verbunden mit Kälte, in der alles Leben erstorben ist. Das ist mit dem Beiwort „spectral“ ausgedrückt. Die Gletscher bilden eine Todes¬ zone. Der Jüngling, der zu ihnen hinauf strebt, geht seinem Tod ent¬ gegen. Jedes „Excelsior“ ist das Signal für ihn, in einem Teil zu sterben nach jenem Wort von Harancourt „partir, c’est mourir un peu“. Folge¬ richtig wird auch sein eigenes Leben schließlich aufgezehrt. In eien Ent¬ würfen erscheint der Jüngling als einer, der unter seinem Schicksal lei¬ det. Das letzte, was man von ihm hören sollte, wäre „a voice of woe“19 gewesen. Noch in der endgültigen Version überwiegt an seinem Unter¬ nehmen das Vernichtende. Verständlich wird jedoch der unentwegte Drang zur Selbstvernich¬ tung nur vom Gewinn her, den sie verspricht. Dieser war offensichtlich für Longfellow in der Topographie genügend impliziert, so daß er ihn nicht noch ausdrücklich meinte aussprechen zu müssen. Aus dem Gegen¬ satz zur Hinfälligkeit und zur Gemeinschaft ergibt sich, daß der Jüngling das Dauernde in sich sucht, mithin sein Selbst. In einer Notiz spricht Longfellow von seiner Unsterblichkeit20. Die Gletscher sind jenseits der Zeit. Der Kälte-Tod, den sie bringen, löst den Körper nicht auf, sondern mumifiziert ihn. „Lifeless, but beautiful

heißt der Leichnam des Jüng¬

lings. Die Schönheit macht die erreichte Übereinstimmung mit sich selbst sichtbar. „Excelsior!“ ist somit der Befehl, zu sich selbst zu kommen. Der Jüngling hat kein Selbst, er ist unterwegs dahin. Wie aber im Weg das Ziel in jedem Moment enthalten ist, kommt ihm aus dem konse¬ quenten Zug zu sich selbst schon im Leben Identität zu. Sie ergibt sich aus dem Befehl, den er sich gibt, und zwar durch die gewollte Wieder¬ kehr des Gleichen in den verschiedenen Situationen. Das Befehlswort be¬ wirkt, daß er um der Konsequenz willen sich nicht auf die Situationen einläßt. Er gewinnt aus dem militärischen Grundsatz „Befehl ist Befehl ein Selbst. Erstarrung ist seine angemessene Todesart. Im treuen Hund findet ihn sein Gegenstück, das durch Instinkt konsequente Tier. Der Jüngling stellt somit einen Menschen dar, der durch die Aus¬ richtung auf ein Ideal seinem Dasein Einheit und sich das gibt, was man im späteren 19. Jahrhundert „Charakter“ nannte. Das Gedicht nennt kein bestimmtes Ideal. Das Leitwort „Excelsior*

faßt im Moment des

Transzendierens das Prinzipielle des Verhältnisses von Ideal und Leben. Der ideale Transzendierungswille kann daher auch im Tod des Jünglings 19 20

A.a.O. S. 318 A.a.O. S. 80 109

nicht zum Stillstand kommen. Er setzt sich fort in der Stimme, die wie ein Stern durch den Kosmos fällt. Mit dieser Schlußstrophe scheint aus¬ gedrückt, daß der konsequente Wille dem leeren Himmel einen neuen Wert zuführen kann. Wie der Ruf „Excelsior“ dem Jüngling zu einem Selbst verhalf, so wird er nun durch dessen Beispiel allgemein und kann auch andere Menschen zum Heil führen. Die Strophe klingt an die bib¬ lische Stelle an, wie bei der Taufe im Jordan eine Stimme von oben Christus zum Sohn Gottes erklärt. (Matth. 3, 16, 17 etc.) Sein Aufstieg steht in Analogie zum Kreuzesweg21. Das Gedicht erklärt mit seinem Schluß den Excelsior-Jüngling zum neuen Heiland der Welt. Theodor Fontane wählte die letzten drei Zeilen des Gedichts in Freiligraths Übersetzung als Motto für einen Abschnitt seines Reiseberichts aus dem besiegten Frankreich. Die Überlegungen, die er darin im An¬ schluß an das Standbild Peters von Amiens machte, können als zeitge¬ nössischer Kommentar von Longfellows Gedicht gelten: „Sie gipfelten in dem Satz: dieses schöne, bevorzugte, verfallene Land, wenn es wie¬ der empor will aus diesem Verfall, bedarf es dessen, was dieses Eremi¬ tenbildnis repräsentiert, bedarf es der selbstlosen Hingabe an eine große Idee. An die Stelle eitler Erregung muß wieder ein echter Enthusiasmus treten, eine Begeisterung, die hebt und heiligt, statt lächerlich macht, die gibt, statt bloß zu nehmen, und die mit dem Satz bricht, daß das Sparkassenbuch das Buch aller Bücher ist. . . Es ist nicht nötig, daß diese Wiedergeburt (wenn sie erfolgt) unmittelbar aus einer der bestehenden Glaubensformen heraus erfolgen muß, es ist nicht nötig, daß aus der Ka¬ puze hervor das erlösende Wort gesprochen wird, aber irgendein „Dieu le veut“ muß es sein, und so kann denn, wenigstens mittelbar, das Heil nur aus der Kirche kommen, weil ihr allein noch, weit über alle Glau¬ benssätze und ihren Tagesstreit hinaus, die Lebenssätze angehören, die das Heil umschließen. In dem Heilig-Überlieferten allein noch (oder doch fast allein noch) gedeiht jene klaräugige Weisheit, die auch in den Dingen dieser Welt vom Falschen, das Glückbringende vom Unglück¬ bringenden zu scheiden weiß. Die französische Nation aber, als ein Gan¬ zes genommen, setzt ihr Heil in das Moderne, in das Hohle und Trüge¬ rische und in die Anrufung der in den natürlichen Dingen verborgenen Dämonen. Da steckt’s. Irgend etwas, das jenseits der natürlichen Dinge liegt, muß an die Stelle des Diesseitigen treten, gar ein im Licht gebo-

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Die Verbindung von Kreuzesweg und Bergbesteigung schon bei Dante. Vgl. auch Emblemata Sp. 987

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renes Geistiges an die Stelle des Erdgeistes oder gar des Geistes der Finsternis. Noch einmal: das Ideale ist es, was not tut! „Und wenn alles, was die kommenden Jahre brächten, nur Pflicht, Gehorsam, Demut hieße, wenn es, statt der Flamme, die heiligt, nur eben ihr Widerschein wäre, der bloß irdisch verklärt, wenn nichts erreicht würde als das Bekenntnis des Unrechts und der Sünde, so hätte die Wiedergeburt begonnen.“22 Tagespolitische Ausfälligkeit und epochales Bewußtsein ergeben in diesem Text eine etwas merkwürdige Mischung. Hier interessiert an die¬ ser Predigt an das besiegte Frankreich nur das zweite; erst die späte¬ ren Romane Fontanes zeigen, daß er sich und sein Land davon nicht ausnahm. Wiedergeburt meint das Aufkommen einer neuen Zeit. Sie hat für Fontane eine allgemeine und eine individuelle Seite. Er erwar¬ tete die Ablösung der kirchlich-dogmatischen Hierarchie der Werte durch eine neue, die sie verwandelt fortsetzt. Auch sie soll in einem „Dieu le veut“ ihren archimedischen Punkt haben, also in einer Transzendenz. Nur dann kann sie allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen. Die Pro¬ blematik liegt darin, daß mit „irgend etwas das jenseits der natürlichen Dinge liegt“ dieses neue Jenseits nur vage umschrieben ist. Wie kann es zu einer neuen Offenbarung Gottes vom Menschen aus kommen? Gerade wenn sie Produkt des menschlichen Willens wäre, verlöre sie ihre Legiti¬ mation. Fontane nennt das ausstehende summum bonum „das Ideale“. Er scheint an Schillers Begriff anzuschließen. Doch Fontane denkt nicht an die Freiheit der Vernunft in jedem Individuum, sondern an deren Objektivierung in einem allgemeinen positiven Wert, der den Umweg über die Kunst, den Schiller empfohlen hatte, überflüssig machte. Diese neue Religion konnte per definitionem nur erwartet, nicht gestiftet werden. „Wiedergeburt“ wird daher von Fontane auch in einem an den Pietismus erinnernden individuellen Sinn gebraucht. Die pietistische Be¬ kehrung wurde durch Bekenntnis des Unrechts und der Sünde einge¬ leitet, auf die dann durch die Berührung der Gnade der Umschlag in die Freude folgte. Bei Fontane wird aus diesem post hoc ein propter hoc in der Weise, daß das Sündenbekenntnis, ergänzt durch Pflichterfüllung und Demut, die Gnade Gottes herbeizieht. Aus dem 'Widerschein soll die Flamme werden, aus der Übung von Tugend und Bekenntnis das 22

„Aus den Tagen der Okkupation“, Fontane, Werke Bd XVI, S. 280. Den Hinweis auf die Fontane-Stellen verdanke ich Herrn Dr. phil. habil. HansHeinrich Reuter, Weimar. in

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Ideal. Daraus folgt, daß für die Zeit der religiösen Vakanz diese HaL tungen an die Stelle der bisherigen Religion und des künftigen Ideals treten. Diesen Zusammenhang sah Fontane olfensichtlich in „Excelsior“ gestaltet. Er faßte das Gedicht nicht so sehr anthropologisch als ge¬ schichtstheologisch auf. Der Jüngling erzwang durch seine fanatische Pflichterfüllung eine neuerliche Offenbarung Gottes. Der späte Fontane zeichnete eine Excelsior-Gestalt in Pastor Loren¬ zen seines „Stechlin“. Lorenzen ist zwar Pastor der offiziellen Kirche, aber, und das gerade nimmt den alten Dubslav für ihn ein, er dient ihr auf eine eigene undogmatische, ja schwärmerische Weise. Seine Religion ist eine Religion der Zukunft, deren Ideale demokratisch-sozialistisch getönt sind, ohne daß doch eine konkrete politische Bewegung sich mit ihr deckte. Sein Zögling Woldemar sagt von ihm: „. .. als einen Aero¬ nauten kann ich ihn Ihnen beinahe vorstellen. Er ist so recht ein Excelsior-, ein Aufsteigemensch, einer aus der wirklichen Obersphäre, genau von daher, wo alles Hohe zu Hause ist, die Hoffnung und sogar die Liebe.“23 Gleich die Zwischenfrage einer Zuhörerin nach dem Glauben als dem dritten bringt wieder Lorenzens Distanz von der offiziellen Kirchlichkeit zum Ausdruck. In seinem großen Gespräch mit der gleichgesinnten Gräfin Melusine taucht unvermutet im Zusammenhang mit dem Wahlspruch Friedrich Wilhelms I. das Adler-Emblem auf: „Aber der Non-soli-cedo-Adler mit seinem Blitzbündel in den Fängen, er blitzt nicht mehr, und die Begeisterung ist tot. Eine rückläufige Bewegung ist da, längst Abgestorbenes soll neu erblühn. Es tut es nicht.“24 Dagegen setzt er kurz vorher sein Bekenntnis: „Ich lebe darin und empfinde es als eine Gnade, da, wo das Alte versagt, ganz in einem Neuen aufzu¬ gehen. Um ein solches Neues handelt es sich. Ob ein solches ,Neues* sein soll (weil es sein muss) oder ob es nicht sein soll, um diese Frage dreht sich alles.“25 Das Neue, wie Lorenzen es erwartet, ist gegen den Egois¬ mus gerichtet, gegen das Ich. Daher sind Demut und Liebe die Haltun¬ gen, die es heraufbeschwören. Die Einsamkeit, mit der Fontane ihn um¬ gab, ist nicht die des Excelsior-Jünglings. Sie ist vielmehr das Stimulans der Hoffnung auf die künftige Gemeinschaft. Der Gedanke der Epochenablösung ist zwar in Longfellows Gedicht angedeutet, in der Konfrontation des Jünglings mit den Mönchen, doch

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Fontane, Werke Bd VIII, S. 143 24 Ebd. S. 253 25 Ebd. S. 251 112

geht er in einer andern Richtung, Longfellows Selbstkommentar sagt: „The monks of St. Bernard are the representatives of religious forms and ceremonies, and with their oft repeated prayer mingels the sound of his voice, telling them there is something higher than forms and cere¬ monies.“26 Die Mönche sind einzig durch ihr gen Himmel gerichtetes, oft wiederholtes Gebet charakterisiert. Das Gebet stellt den Bezug zu Gott her. Es repräsentiert in seiner Wiederholung Gott in der Zeit. Die Mönche bekommen aus dieser Ausrichtung auf die Ewigkeit eine Grup¬ penidentität. Offensichtlich sind damit Momente herausgegriffen, die mit solchen des Jünglings korrespondieren und dadurch den Vergleich erleichtern. Der Jüngling individualisiert die genannten Prinzipien der Religion. Er steigt auf wie das Gebet, nur ist für ihn der „heaven“ zum bloßen „sky“ geworden. Und auch dieser Aufstieg hängt mit der Wiederholung zusammen. Sein ewiges Selbst, das er zu erlangen sucht, wird durch die oftmalige Wiederkehr des Gleichen in der Zeit vorweggenommen. Die Repetition ergibt schließlich seine Identität. Aus der Anrufung „Hosanna in excelsis Deo“ gleichsam wurde „Excelsior!“. Der Jüngling hat in exemplarischer Weise Gott in seinen Willen aufgenommen und ist auf dem Weg, seinen Weltenthron zu ersteigen. Seine Göttlichkeit ist ihm jedoch nicht eingeboren, sondern das Ergebnis einer konsequenten An¬ strengung. In der Übertragung des „oft-repeated prayer“ auf den Jüngling steckt auch ein Hinweis auf die formale Eigenart des Gedichts. Dieses gibt sich zwar in Strophen form, Kehrreim, sprunghaftem Erzählverlauf, einfachem Ton und . Archaismen als Ballade. Doch fehlt jede dramatische Spannung. Dadurch, daß die ersten sechs Strophen derselben Zeitbestim¬ mung untergeordnet sind, tritt es auf der Stelle. Die iterativen Mo¬ mente, die sich nicht auf den Refrain beschränken, dominieren und füh¬ ren dadurch zur Monotonie. Sie machen aus der Ballade eine Litanei. Im Ästhetischen wird so die Fragwürdigkeit der Problematik des Ge¬ dichts unmittelbar anschaulich. Sie tritt im Vergleich mit Schiller deutlich heraus. Der Weg des Jünglings läßt sich als Variation über die Schlußstrophen von „Das Ideal und das Leben“ verstehen. Die Stufen des Aufstiegs entsprächen den Taten des Herakles, der Gletschertod und die kosmische Verklä¬ rung dessen Apotheose. Bei Schiller geht das Ideal aus dem Leben her-

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Longfellow a.a.O. S. 79

ii3 8

Pestalozzi, Lyrisches Ich

vor. Die jeweilige Abwendung vom Leben bedeutet Zuwendung unter veränderter, nämlich distanzierter Perspektive. Vollendung und ästhe¬ tische Reflexion bilden den Übergang vom Leben zum Ideal. In Longfellows Gedicht ist die Distanznahme zur beziehungslosen Negation gegenüber dem Leben geworden. Ideal und Leben schließen sich gegen¬ seitig aus. Der Tod bringt keine Metamorphose, an ihm ist allein die Vernichtung positiv geworden. Als Ende, nicht als Vollendung des Le¬ bens, verhilfl: er dem Ideal zur Erscheinung. Dieses Ende ergibt sich nicht entelechisch, es steht in der Verfügungsgewalt des Menschen. All das bedeutet, daß bei Longfellow das Selbst den existierenden Menschen als etwas Fremdes transzendiert, während es ihm bei Schiller als Prin¬ zip seiner Existenz eingeboren ist. Symptomatisch ist dafür, daß die Optik, die bei Schiller dominiert, durch die Akustik abgelöst wurde. Der kritische und ungelöste Punkt bei Longfellow ist dementspre¬ chend der Übergang aus der Negation des Lebens zum positiven Ideal, den auch Fontane nur postuliert, nicht nachvollziehbar begründet hatte. Wie entsteht aus der Weltaskese des Menschen ein neuer Gott, resp. wie kann der Mensch auf diese Weise seines Selbst inne werden? Darauf richtete Nietzsche seine Deutung des Gedichts aus. Er lernte es 1876 durch Mathilde Trampedach kennen. Während sie es für ihn kopierte, schrieb er ihr einen Heiratsantrag, in dem er das Gedicht sehr frei auf diese Situation bezog: „Glauben Sie nicht auch daran, daß in einer Verbindung jeder von uns freier und besser werde als er es ver¬ einzelt werden könnte, also exzelsior? Wollen Sie es wagen mit mir zusammen zu gehen, als mit einem, der recht herzlich nach Befreiung und Besserwerden strebt? Auf alle Pfade des Lebens und des Den¬ kens?“27 — Zehn Jahre später, als Nietzsche erkannt hatte, daß er diese Pfade allein zu gehen habe, erschien in der „Fröhlichen Wissen¬ schaft“ unter der Überschrift „Excelsior“ der folgende Aphorismus: Excelsior! — „Du wirst niemals mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals mehr im endlosen Vertrauen ausruhen

27

du versagst es dir,

Nietzsche an Mathilde Trampedach am 11. April 1876. Nietzsche, Werke Bd III, S. 1117. Vgl. auch Nietzsche an Seydlitz am 18. Nov. 1878; „Ich habe meinem Amte und meiner Aufgabe zu leben — einem Herrn und einer Geliebten und Göttin zugleich: viel zu viel für meine schwache Kraft und tief erschütterte Gesundheit. Äußerlich gesehen, ist es ein Leben wie das eines Greises und Einsiedlers: völlige Enthaltung von Umgang, auch dem der Freunde, gehört dazu. Trotzdem bin ich mutig, vorwärts, excelsior!“

von einer letzten Weisheit, letzten Güte, letzten Macht stehen zu bleiben und deine Gedanken abzuschirren — du hast keinen fort¬ währenden Wächter und Freund für deine sieben Einsamkeiten — du lebst ohne den Ausblick auf ein Gebirge, das Schnee auf dem Haupte und Gluten in seinem Herzen trägt — es gibt für dich keinen Vergelter, keinen Verbesserer letzter Hand mehr — es gibt keine Vernunft in dem mehr, was geschieht, keine Liebe in dem, was dir geschehen wird — deinem Herzen steht keine Ruhestatt mehr offen, wo es nur zu finden und nicht mehr zu suchen hat, du wehrst dich gegen irgendeinen letzten Frieden, du willst die ewige Wieder¬ kunft von Krieg und Frieden, — Mensch der Entsagung, in alledem willst du entsagen? Wer wird dir die Kraft dazu geben? Noch hatte niemand diese Kraft!“ Es gibt einen See, der es sich eines Tages ver¬ sagte, abzufließen, und einen Damm dort aufwarf, wo er bisher abfloß: seitdem steigt dieser See immer höher. Vielleicht wird gerade jene Entsagung uns auch die Kraft verleihen, mit der die Entsagung selber ertragen werden kann; vielleicht wird der Mensch von da an immer höher steigen, wo er nicht mehr in einen Gott ausfließt28. Hier ist das schwache Gedicht Longfellows durch den Wegfall der epigonalen Kulisse zu sich selbst gekommen und zugleich zum Vehikel eines zentralen Gedankens Nietzsches geworden. Auch Fontanes Deu¬ tung bekam dadurch Stimmigkeit. Die Korrektur ist in dem Satz ent¬ halten, der direkt auf das Gedicht Bezug nimmt: „du lebst ohne den Ausblick auf ein Gebirge, das Schnee auf dem Haupte und Gluten in seinem Herzen trägt“. Die Entsagung speist sich nicht aus einer fixierten Zielvorstellung. Nicht ein Ideal bewirkt die Negation des Lebens. Nietzsche faßt vielmehr das Verhältnis dialektisch. Weil der Mensch alle Beruhigung von sich weist, kann er steigen, weil er nicht mehr Gott die letzte Verantwortung für sich selbst überläßt, erhält er die Kraft, für sich selber verantwortlich zu sein; indem er sich auf niemanden fremden ausrichtet, kommt er zu sich selbst. Das Positive, das aus der Negation entsteht, ist somit anderer Art, als es sich Fontane gedacht hatte. Es ist nicht ein neuer objektiver allgemeiner Wert nach Analogie zur aufgegebenen dogmatischen Religion. Die Kraft, die das Selbst ist, wdrd nur dem Einzelnen faßbar, in dem sie sich manifestiert. Und es bleibt unsicher, ob sie sich mit der Gesetzmäßigkeit des Bekehrungs¬ ablaufs ergibt. 28

Fröhliche Wissenschaft Nr. 285. Nietzsche, Werke Bd II, S. 166

US 8*

Damit ist eine neue Schwierigkeit gegeben. Wie kann das Ich diese Kraft als sein Selbst erkennen? Nietzsche antwortet darauf in dem unmittelbar folgenden Aphoris¬ mus „Zwischenrede": „Hier sind Hoffnungen; was werdet ihr aber von ihnen sehen und hören, wenn ihr nicht in euren eigenen Seelen Glanz und Glut und Morgenröte erlebt habt? Ich kann nur erinnern — mehr kann ich nicht! Steine bewegen, Tiere zu Menschen machen

wollt ihr

das von mir? Ach, wenn ihr noch Steine und Tiere seid, so sucht euch erst euren Orpheus!"29 Durch Nietzsche sind die Dichter aufgerufen30. Sie haben die Aufgabe, in den Menschen die Bereitschaft zu wecken, ihr Selbst wahrzunehmen. Sie wecken eine Erwartungshaltung. Das macht sie zu den Propheten des neuen Zeitalters. Ihr Feld ist nicht das Leben, sondern das Bewußtsein. Von den Gedichten, die im folgenden inter¬ pretiert werden, sucht jedes auf seine Weise dieser Aufgabe gerecht zu werden.

29 30

Fröhliche Wissenschaft Nr. 286, ebd. S. 167 Auf diese Deutung weist auch die versteckte Anspielung auf die Stelle aus Goethes „Dämmrung senkte sich vpn oben“: Nun im östlichen Bereiche Ahnd ich Mondenglanz und -glut.

INTERPRETATIONEN

C. F. Meyer „Himmelsnähe“ C. F. Meyer,

Sämtliche Werke, Historisch-Kritisdie Ausgabe, besorgt

von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bern: Benteli 1958 f. [zit. Werke] Gedidite Conrad Ferdinand Meyers, Wege ihrer Vollendung, hrsg. von Heinrich Henel. Tübingen: Niemeyer 1962 (Deutsche Texte 8) [zit. Henel, Gedichte] Briefe Conrad Ferdinand Meyers, hrsg. von Adolf Frey. 2 Bde Leipzig: Haessel 1908 [zit. Briefe] Louise von Fr anjois und Conrad Ferdinand

Meyer,

Briefwechsel,

hrsg. von Anton Bettelheim. Berlin: Reimer 1905

Die besondere Stellung C. F. Meyers innerhalb der Entwicklung der deutschen Lyrik ist seit längerer Zeit erkannt und bestimmt worden1. Die positive Würdigung seines lyrischen Oeuvres war die Folge des um die Jahrhundertwende einsetzenden neuen Lyrikverständnisses. Stefan Georges Anthologie „Deutsche Dichtung“ hatte den Weg bereitet. Ihr dritter Band „Das Jahrhundert Goethes“ schloß mit Meyer2. Mit Meyer hatte die deutsche Tradition die Schwelle zur modernen Lyrik aus ihren eigenen Bedingungen heraus erreicht, bevor dieser der französische Ein¬ fluß zum Durchbruch verhalf. Doch nicht nur als Endpunkt ist Meyers Lyrik von Bedeutung. Die außergewöhnliche Nachlaßsituation erlaubt es, den Werdegang von Mey¬ ers Gedichten bis in alle Einzelheiten zu verfolgen. Ihre Entstehungs¬ geschichte ist gewissermaßen die Abbreviatur der allgemeinen lyrik-

1

2

Hier sind vor allem die Forschungen Heinrich Henels zu nennen, denen ich viele Anregungen verdanke: The poetry of Conrad Ferdinand Meyer, Madison: University of Wisconsin Press 1954 (zit. Poetry); Erlebnisdichtung und Symbolismus, DVjS 32, 1958; Epigonenlyrik: Rückert und Platen, Euphorion 55, 1961; Gedichte, C. F. Meyers, Nachwort und Kommentar 1962. Deutsche Dichtung, eingel. und hrsg. von Stefan George und Karl Wolfs¬ kehl. Bd 3, Das Jahrhundert Goethes. 3. Aufl. Berlin: Bondi 1923. — Wich¬ tig für die Affinität Meyers zur modernen Lyrik ist ferner Hofmannsthals Aufsatz „C. F. Meyers Gedichte“ (1925). Prosa IV, S. 274—84 119

V

geschichtlichen Entwicklung. Aufgrund verschiedenster und scheinbar zu¬ fälliger individueller Bedingungen wurde Meyer zum Repräsentanten. Am Beispiel eines seiner Gedichte läßt sich der Übergang von der Lyrik Goethescher Prägung zur modernen Lyrik des späteren 19. Jahrhunderts genau verfolgen. Meyers enge Verbindung mit unserem Leitmotiv kommt biographisch zum Ausdruck. An Louise von Francois schrieb er in seinen späteren Jahren: „Wenn ich einen Wunsch tun dürfte, wäre es wohl, neben 9 mehr oder weniger fleißigen Monaten jährlich je wieder drei (Juli bis September) in den Alpen zu verleben, die ja am Ende mein Eigentum = meine Heimat sind und denen ich ohne Vergleich meine glücklichsten Tage danke.“3 Lange Zeit seines Lebens hatte Meyer diesem Programm nachgelebt und regelmäßig einen Teil des Sommers in hochgelegenen Orten des Berner Oberlandes, der Innerschweiz oder Graubündens ver¬ bracht. Dabei suchte er mit Vorliebe Plätze „nicht unter 6000 Fuß Höhe“4 auf, wo er mit der Schwester und später seiner kleinen Hausgemeinschaft weitgehend allein sein konnte. Von da aus unternahm er Wanderungen, die ihn vollends von aller menschlichen Gesellschaft entfernten. Es war die Zeit des aufkommenden Alpinismus. Was in dessen spon¬ taner Bergbegeisterung zum Ausdruck kam, artikulierte sich bei Meyer als bewußtes Programm. Er suchte die Erhebung über das alltägliche Dasein in den Niederungen, um in sein Eigenstes zu kommen5. Die Bergtour war ihm Erlebnis und geistige Metapher zugleich. Mit den Worten Betsys: „Es war ein Bedürfnis seiner Künstlernatur, über den kleinen und vergänglichen Interessen des täglichen Lebens einen Stand¬ ort in lichter Höhe zu suchen, der ihm einen unbeschränkten Umblick über die menschlichen Dinge gewährte.“6 Wie sehr er in der äußeren die innere Erhebung suchte, zeigt sich daran, daß er als Lektüre jeweils Homer, Dante und Shakespeare in die Berge mitnahm. Betsy macht in diesem Zusammenhang eine weitere aufschlußreiche Bemerkung: „Die stillen Alpenhöhen seiner Heimat waren es, die ihn vor langen, weite¬ ren Fahrten abhielten und ihn dafür entschädigten, weil sie seinem Be-

3

Am iS.Sept. 1884. Briefwechsel S. 153

4

Betsy Meyer, Conrad Ferdinand Meyer, in der Erinnerung seiner Schwester. Berlin: Paetel 1903. S. 190

5

Die Parallelität zu Nietzsche auch in diesem Punkt ist auffallend. Zum Verhältnis beider vgl. W. P. Bridgwater, C. F. Meyer and Nietzsche. The Modern Language Review 60 1965, S. 568—583 Betsy Meyer a.a.O. S. 189

,

0

120

dürfnis nach Größe und ungebrochener Ruhe, nach dem Weben mächti¬ ger Kräfte in elementarer Gewalt und inniger Zartheit volles Genügen boten. Hier befriedeten sich die unruhig streitenden Gedanken des Dich¬ ters in großen, ungetrübten, poetischen Stimmungen.“7 Im Zug zur Höhe dokumentiert sich ein Weltverhalten, das demjenigen etwa Gottfried Kellers entgegengesetzt ist. Keller hatte in seinen Auslandsaufenthalten die Welt erfahren und sich soviel von ihr einverleibt, daß er ein Leben¬ lang davon zehren konnte. Meyers Lebens- und Bildungstendenz drängte ihn immer wieder aus der Welt hinaus, aus dem Zeitlichen ins Zeitlose, aus der Vielfalt der Beziehungen in die Einsamkeit. Gewiß, er hatte Reisen nach Paris und Italien gemacht. Aber das waren in erster Linie Kunstreisen gewesen, die ihn ebenso wie die Bergfahrten aus Zeit und „Welt“ hinausgeführt hatten. Der innere Zusammenhang von Kunst und Hochgebirge ist konkret faßbar in den Gedichten, in denen das Gebirge Thema wurde. Sie soll¬ ten erst als selbständige Sammlung „Bergzauber“ erscheinen, gingen dann als Abteilung „In den Bergen“ in die Gedichtsammlung ein8. Wir haben daraus das Gedicht „Himmelsnähe“9 ausgewählt. Es ist in seiner Art ein vollkommenes und für Meyer typisches Gedicht. Sein Motiv kommt unserer Fragestellung besonders entgegen. Eine zusätzliche Legi¬ timation fand diese Wahl schließlich durch Henels Bemerkung, dieses Gedicht bilde den Stamm einer ganzen Gedichtfamilie und sei ein beson¬ ders instruktives Beispiel für Meyers dichterisches Verfahren10.

'

I.

Der äußere Anlaß des Gedichtes ist überliefert. Die Geschwister Meyer waren im Juli 1859 auf der Engstlenalp (Kt. Bern) in den Ferien, von wo sie öfters zum Jochpaß, dem Übergang ins Engelbergertal, hin¬ aufstiegen. In einem Brief Betsys wird die Landschaft beschrieben: „Die Höhe des Jochs, wo sich beide Thäler mit ihren kleinen klaren Seen dem Blicke aufthun, erreicht man mit leichter Mühe, wir waren gestern und vorgestern oben, ich besonders um Blumen zu suchen, deren es gleich

7 8 9 10

A.a.O. S. 190 Henel, Poetry S. 185 Werke I, S. 113; III. S. 21—34 Henel, Poetry S. 193

\

neben dem Schnee zierliche gibt. — Conrad kann auch baden. — Der Engstlensee ist wenige Schritte von hier. (.. .) An seinem Ufer breitet die Alpenrose ihren dichten rothen Teppich aus. Das ist eine Dekora¬ tion! (. . .) Wild ist es zwar hier nicht, aber einsam und still. Außer dem Brausen des Wasserfalls und dem Läuten der Heerden (...) hört man wenig.“ „Als wir heute auf der Jochhöhe durch den weichen Schnee gingen.“11 Es ist erstaunlich, daß Betsy Beobachtungen berichtet, die fast wörtlich in den ersten Fassungen des Gedichtes wiederkehren. Der Erlebnishintergrund steht damit fest. Die erste Niederschrift des Gedichts ist von Meyer auf den Juli 1864 datiert. Auch wenn man berücksichtigt, daß sich Meyer im Sommer 1860 nochmals auf der Engstlenalp aufgehalten hat, so liegt doch zwischen Erlebnis und Gedicht eine beträchtliche zeitliche Distanz. Was Betsy an¬ läßlich der Entstehung von „Engelberg“ berichtet, daß Meyer „die Ein¬ drücke der Gegenwart sich nie unmittelbar zum Gedichte gestalteten“12, gilt auch hier. In der ersten Fassung M1 lautet das Gedicht: Auf hohem Grat bin ich gelagert hier, In beiden Tiefen glänzt ein Alpensee, Ein mächtiges Gebirg ist über mir, Das Haupt bedeckt mit blendend reinem Schnee. Die nahe Sonne schmelzt mit warmem Licht Den Schnee, der hangen blieb vor meinem Fuß, Und in der Feuchte sproßt Vergißmeinnicht Und Soldanellen bieten mir den Gruß. Es stäubt der windbewegte Wasserfall Bald ist sein Tosen nah, bald ist es weit, Ein rauschend Leben waltet überall In dieser menschenleeren Einsamkeit. Es quillt in einem Meer von Blau der Born Des Lichts und wandelt sacht der Sonnenkreis, Gemildert wird des heißen Tages Zorn Von dem verborg’nen ew’gen Gletschereis.

11

Zit. Werke III, S. 33. Dem Herausgeber der Gedichte in den Sämtlichen Werken, Prof. Dr. Hans Zeller, habe ich für vielfache Hilfe zu danken. Er gewährte mir Einblick in das Mskr. des noch nicht gedruckten III. Bdes und ließ mir sachliche und bibliographische Hinweise zukommen.

12

Betsy Meyer a.a.O. S. 168

122

O Alpenluft, o Gabe du der Höhn, Dein heil’ger Schauer dringt mir bis ins Mark, Wenn deine reinen Hauche mich durchweh’n, So werden meine Lebensgeister stark. Zusammen schrickt die dumpfe Leidenschaft Von Gottes Odem schauerlich gekühlt Und es ermannt sich jede gute Kraft Die sich in seiner Nähe selig fühlt. Es regt sich in den Tiefen meiner Brust, Die Adlerschwingen schlagend ungestüm Des gottentstammten Geistes Gotteslust Und strebt aus seinen Banden auf zu ihm. Mir ists als ob der Himmel aufgeweht Und seine Gegenwart umfließt mich klar Ich neige mich und spreche mein Gebet An des Gebirges riesigem Altar: Nicht eines Augenblickes kurzer Raub, Laß deine Nähe bleiben mein Geleit Und mich unwehn bis in des Thaies Staub Die Alpenlüfte der Gerechtigkeit.13 Die neun Strophen lassen sich folgendermaßen gliedern: die ersten vier beschreiben die Berglandschaft, die zweiten vier schließen eine Re¬ flexion an, aus dieser ergibt sich die gebetartige Schlußstrophe. Diese drei Teile gilt es in sich jand in ihrem Zusammenhang zu betrachten. Die ersten vier Strophen beziehen sich auf eine konkrete Bergland¬ schaft an einem heißen Sommertag, ein bestimmtes Hier und Jetzt. Daher werden der unbestimmte Artikel und artikellose Gruppen, die Unbe¬ kanntes einführen, verwendet. Die so evozierte Landschaft hat, wie wir sahen, durchaus individuelle Züge. Der Kenner der Gegend kann sie im einzelnen identifizieren14. Im Gedicht fügen sie sich jedoch nicht zum geschlossenen Panorama. Es sind lediglich einzelne Momente herausge¬ griffen. Ihre Abfolge diktiert nicht die Landschaft, sondern der Wahr¬ nehmende, dessen Aufmerksamkeit, von Assoziationen gelenkt, springt. Dennoch ergibt sich ein Zusammenhang, nämlich die Motivkette: Schnee — schmelzender Schnee — Feuchte — Wasserfall 13 14

rauschendes Leben

Werke III, S. 22/23 A.a.O., Anmerkungen des Hrsg. S. 32/33 123

V

— Meer von Blau. Die Einzelmomente treten zusammen zu Phasen eines Schmelzprozesses.Wie im Wahrgenommenen zeichnet sich auch im Wahrnehmungsvorgang eine Folge ab. Die vier Strophen sind ziemlich konsequent verschiedenen Sinnesbereichen zugeordnet. Dem Auge die ersten zwei, sie stecken, vom Entfernten zum Nächsten, vom Großen zum Kleinen fortschreitend, das Gesichtsfeld ab. Die dritte Strophe registriert Hörbares. Bei der vierten ist die Zuordnung nicht ganz ein¬ deutig. Zwar ist darin vom Licht die Rede, aber eher als Wärmequelle, was sich daran zeigt, daß die zweite Strophenhälfte Hitze und Kühle gegeneinander stellt. Offenbar geht es hier um das Gefühl, das auf die Temperatur anspricht. Die sommerliche Berglandschaft dringt somit über Auge, Ohr, Gefühl in das wahrnehmende Ich ein. Der Anfang des zweiten Teils führt diese Bewegung weiter unter der Haut bis ans Ziel, wenn es heißt: O Alpenluft, o Gabe du der Höhn, Dein heil’ger Schauer dringt mir bis ins Mark. Diese Bewegung läuft in ihren Phasen mit dem aufgezeigten Schmelz¬ vorgang parallel, ja sie läßt sich selbst als Schmelzvorgang begreifen. Einerseits werden in dessen Verlauf die Konturen der Erscheinungen mehr und mehr verwischt. Das Auge unterscheidet Einzelnes und loka¬ lisiert es genau. Ihm erscheint das Gebirge statisch. Schmelzen und Sprießen in der Nähe sind unmerkliche Vorgänge. Dem Ohr verwirren sich die Distanzen. Nah und weit sind ihm nurmehr Bezeichnungen der Lautstärke, mit „überall“ resigniert der Ortssinn vollends. Dafür tritt nun die Bewegung stärker hervor, wie in „Tosen“ und „Leben“ das Ver¬ bum zum Hauptwort erhoben wird. In der vierten Strophe, wo die Verben ihre dominierende Stellung im Vers behalten, ist die Realität durch die Sprache weiter entstaltet. Für Himmel, Sonne und Hitze treten Umschreibungen ein, die, da sie sich teilweise überschneiden, ent¬ sprechend der Wahrnehmungsweise des Gefühls kein deutliches Bild mehr ergeben. Die Landschaft büßt also auf dem Weg durch die ver¬ schiedenen Sinnesorgane ihre reale Konsistenz ein. — Die Sinnesbereiche sind nicht nur qualitativ verschieden. Herder hat im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zum Sprachursprung unter ihnen auch eine Rang¬ ordnung der Intensitäten aufgestellt: „Das Gehör ist der mittlere Sinn in Ansehung der Lebhaftigkeit und also Sinn der Sprache. Das Gefühl überwältigt, das Gesicht ist zu kalt und gleichgültig, jenes dringt zu tief in uns, als daß es Sprache werden könnte, dies bleibt zu ruhig vor uns. Der Ton des Gehörs dringt so innig in unsere Seele, daß er Merkmal 124

werden muß, aber noch nicht so übertäubend, daß er nicht klares Merk¬ mal werden könnte — das ist der Sinn der Sprache.“15 Auch wenn man die Folgerungen, die Herder hier zieht, in Frage stellt, bleibt doch seine Intensitätsskala einleuchtend. Die Abfolge Auge — Ohr — Gefühl bedeutet auch in unserm Gedicht eine Steigerung der Empfindungsintensität. Das läßt sich an Wortschatz und Satzstellung nachweisen. Die zweite Hälfte des ersten Teils ist von Inversionen bestimmt, und die beiden Strophenschlüsse „menschenleere Einsamkeit“ und „verborg’nen, ew’gen Gletschereis“ sind Aufgipfelungen, die sich, was ihren Aussagegehalt angeht, Tautologien nähern. Am deutlichsten wird die emotionale Intensität an einem durchgehenden Aufbaumoment faßbar: Die Zuteilung zu ganzen Strophen macht aus den Sinnesberei¬ chen geschlossene Einheiten. Diese sind doppelt gegliedert. Der mit dem Kreuzreim gegebenen steht die andere Ordnung entgegen, wonach, wie die Interpunktion erkennen läßt, die Strophenhälften Sinneinheiten bil¬ den. Diese stehen in antithetischem Verhältnis zueinander: Höhe — Tiefe in der ersten, schmelzender Schnee — sprießende Blumen in der zweiten Strophe. Die dritte Strophe verdoppelt das Schema in der Weise, daß schon die Strophenhälften in sich antithetisch gebaut sind. In der vierten lassen sich, wenn auch wiederum nicht ganz eindeutig, „quillt“ — „wandelt sacht“, „Tag“ — „ewig“, „heiß“ — „Eis“ anti¬ thetisch aufeinander beziehen. Gestützt, teilweise erst ermöglicht werden die Antithesen durch die Wortstellung. In der ersten Strophe z. B. sind beide Strophenhälften, was die Abfolge der Satzglieder betrifft, chiastisch gebaut, so daß die Extreme „Alpensee“ — „mächtiges Gebirg“ in unmittelbare Nähe--zu stehen kommen. In der zweiten wird überhaupt erst dadurch der Gegensatz von Vergißmeinnicht und grüßender Soldanelle erkennbar. Auch in den Strophen drei und vier ergeben sich dank den Inversionen chiastische Zuordnungen. — Die antithetischen Satz- und Bedeutungsstrukturen sind hier Ausdrucksmittel der Emphase. In dem unvermittelten Nebeneinander von Extremen äußert sich Emp¬ findungsintensität. Die Häufung der Antithesen von der Wasserfall¬ strophe an steht im Dienst einer Steigerung, die zu Beginn des zweiten Teils mit dem Ausdruf „O Alpenluft, o Gabe du der Höhn“ ihr Ziel erreicht hat. Auf der Seite des Ich vollzieht sich der Schmelzprozeß somit als Steigerung der Empfindung, als Anschwellen einer inneren Bewegung, vor der die diskursive Erfahrung mehr und mehr zurücktritt. 15

Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Sämtl. Werke, hrsg. von Bernhard Suphan. Bd 5. Berlin: Weidmann 1891. S. 66

s.

Die motivische Entsprechung zum äußeren und inneren Schmelzen ist die Intensivierung des Lichts. Ist es zu Anfang im Glänzen des Sees und im blendenden Schnee erst indirekt anwesend, so ist in Strophe zwei von der Sonne und ihrem warmen Licht die Rede, die in Strophe vier zum „Born des Lichts“, zum „Sonnenkreis“ wird, von dem die Hitze ausgeht. Es soll nicht unterschlagen werden, daß am Ende der vierten Strophe das Eis genannt wird. Es steht nicht nur im Gegensatz zur Sonne, sondern vermöchte die Deutung aller Einzelheiten auf einen Schmelzprozeß hin in Frage zu stellen, wenn es mehr Gewicht hätte. Vorläufig ist es eine kleine Unstimmigkeit, welche die große Linie nicht beeinträchtigt. (Es wird sich zeigen, daß in der weiteren Geschichte des Gedichts dieses Moment immer mehr hervortritt, bis es schließlich dem zunächst dominierenden die Waage hält.) Der erste Teil des Gedichts zeichnet somit in seinen einzelnen Phasen einen Erlebnisvorgang nach. Das Ich ist passiv. Die Bergwelt, in der es sich befindet, dringt auf es ein und erregt in ihm Empfindungen und Emotionen, die es schließlich überwältigen. Die Bergwelt ist soweit als auslösendes Moment beteiligt. Zugleich aber spielt sich in ihr ein Schmelz¬ prozeß ab, der das, was mit dem Ich geschieht, gleichnishaft abbildet. Unter diesem Gesichtspunkt sind Ich und Landschaft zueinander in Ana¬ logie gesetzt. Doch tritt das Ich nur in der Anfangsstrophe explizit in Erscheinung. In den drei folgenden ist es lediglich als Subjekt der Apper¬ zeption vorhanden. Der zweite Teil steht zum ersten in einem doppeldeutigen Bezug. Einer¬ seits führt er, wie wir gesehen haben, die Bewegung von außen nach innen, vom Sinnlichen ins Geistige weiter. Den Übergang bildet, dank der Ety¬ mologie von gr. jrveüpa lat. animus, das Medium der bewegten Luft: Alpenluft — reine Hauche — Gottes Atem. Die Reflexion, die sich daraus ergibt, führt jedoch das Erlebnis nicht eigentlich weiter. Sie wendet sich auf das Vorausgegangene zurück und gibt ihm, indem sie das Einmalige auf Allgemeines bezieht, eine Deutung. Das erlebende Ich sucht zu fassen, was ihm widerfährt. Die Sprache des zweiten Teils ist denn auch abstrakter, die verwendeten Termini haben den bestimmten Artikel, der sie als gängige ausweist. Durch den Konditionalsatz der fünften Strophe wird aus dem Präsens des einmaligen Geschehens eine verallgemeinernde Feststellung. Im Zentrum der Ausdeutung des Schmelzvorganges erscheint das „Adler-aus-dem-Käfig“-Emblem,

das

die

vorausgegangenen

Begriffe

„Lebensgeister“ und „gute Kraft“ auf eine anschauliche Formel bringt: 126

Es regt sich in den Tiefen meiner Brust, Die Adlerschwingen schlagend ungestüm Des gottentstammten Geistes Gotteslust Und strebt aus seinen Banden auf zu ihm. Der neuplatonisch-christliche Hintergrund ist deutlich zum Ausdruck gebracht. Der Aufschwung führt in den Ursprung des Ich bei Gott zurück, also zu dem, was wir sein Selbst genannt haben. Der emblematische Zusammenhang verweist auf die früheren Deutungen des Mo¬ tivs. Der Adler wird zu seinem Aufschwung durch eine Einwirkung von außen angeregt, durch ein Medium. Gottes Odem, in Gestalt der Alpenluft, öffnet ihm das Gefängnis, und darin wiederum konzentriert sich der Einfluß der Landschaft ringsumher. Diese nimmt somit die Stelle des Amor Divinus in früheren Emblemgestaltungen ein. Es ist eine Höhen- und Berglandschaft. Das Adler-Bild bietet sich somit natürlich an. Das Ich gleicht dem Adler als Bewohner der Höhe. Der geistige Aufschwung ist die Folge eines realen Aufstiegs, aus der Bergtour wird eine Annäherung an Gott. Scheint zunächst die Land¬ schaft als Auslöser von Empfindungen mit jeder anderen austauschbar zu sein, so zeigt sich nun, daß von der vertikalen Topographie her, wie wir ihr in den Vorstudien begegnet sind, ein notwendiger Konnex von Ort und Erhebung besteht. Was dichterische Metapher war, wird ganz ähnlich wie bei Petrarca beim Wort genommen. Wie wird hier der Berg zur Stätte der Selbstbegegnung, und was ist es für ein Selbst, dessen das Ich hier inne wird? Im Schmelzprozeß des ersten Teils löst sich, wie wir gesehen haben, die Außenwelt und das sie betrachtende Ich auf. Das Ergebnis ist eine unmittelbare intensive Empfindung, die sich in einem Ausruf entlädt. Der zweite Teil benennt diese Empfindung als „Schauer“ resp. „schauer¬ lich“. Einerseits ist sie positiv; was sich darin äußert, kann „starke Lebensgeister“, „gute Kraft“ heißen. Andrerseits ist sie als Zusammen¬ schrecken

der

dumpfen

Leidenschaft

negativ.

Die Empfindung

des

Schauers ist somit ambivalent. In ihm finden auch die emphatischen Antithesen, die uns aufgefallen sind, ihre Einheit. Das schauernde Ich bekommt die Epitheta „heilig“ und „selig“. Der Schauer bedeutet dem Ich die Nähe Gottes und seine eigene Göttlichkeit. Weil die Bergeshöhe diesen Schauer auslöst, wird sie zur Himmelsnähe. Die Gotterfülltheit artikuliert sich in der Schlußstrophe als Gebet. Auch darin macht sich die Ungeklärtheit des Bezuges zum Vorangegan127

genen bemerkbar. Das Gebet ist nur dann die plausible Fortsetzung, wenn der zweite Teil nicht als Deutung, sondern als innere Weiterfüh¬ rung des ersten aufgefaßt wird. Er hat aber selber bereits den Charakter eines Gebets — er setzt mit einem hymnischen Anruf ein —, so daß der Schluß zum Gebet im Gebet wird. Man kann in dieser Potenzierung einen weiteren Versuch sehen, für die Steigerung der Intensität eine Form zu finden. Der Schluß hat den Charakter einer emotionalen Pointe. Im Gebet ist der Aufschwung am Ziel. Die Schlußstrophe bezeichnet das Bergerlebnis als „Augenblick“. Damit kommt es und damit das Gedicht als ganzes deutlicher als durch die Deutung des zweiten Teils in einen geistigen Zusammenhang zu stehen, der im folgenden in einigen Strichen Umrissen werden soll. Der Terminus „Augenblick“ bezeichnet aufgrund seiner einsichtigen Etymologie eine möglichst kleine Zeiteinheit, „also schiere, so ein ouge uf unde zuo ist getan“16, ohne Rücksicht auf ihre Füllung. Bei Petrarca hieß er „ictus trepidantis oculi“. In der philosophischen Spekulation über die Zeit jedoch bekam der Augenblick höchste Dignität als Zeitein¬ heit, die sich mit der Ewigkeit in Beziehung setzen ließ. Das konnte auf verschiedenen Argumentationswegen erreicht werden. Drei davon seien hier angeführt: Boethius bestimmt im fünften Buch der „Consolatio philosophiae“ die Ewigkeit als „interminabilis vitae tota simul et per¬ fecta possessio“. In ihr sind Vergangenheit und Zukunft, die in der Zeit¬ lichkeit aufeinander folgen, simultan gegenwärtig. Folglich ist in der Zeit die Ewigkeit unerreichbar. Flunc

enim vitae immobilis

praesentarium

statum infinitus

ille

temporalium rerum motus imitatur, cumque eum effingere atque aequare non possit, ex immobilitate deficit in motum, ex simplicitate praesentiae decrescit in infinitam futuri ac praeteriti quantitatem et, cum totam pariter vitae suae plenitudinem nequeat possidere, hoc ipso, quod aliquo modo numquam esse desinit, illud, quod implere atque exprimere non potest, aliquatenus videtur aemulari alligans se ad qualemcumque praesentiam huius exigui volucrisque momenti quae, quoniam manentis illius praesentiae quandam gestat imaginem, quibuscumque contigerit id praestat, ut esse videantur.17 16

Der Beleg stammt aus Kluge, Etymologisches Wörterbuch. 19. Aufl., bearb.

17

von W. Mitzka. Berlin: de Gruyter 1963. „Augenblick“ Boethius, consolationis philosophiae libri V, hrsg. von Karl Büchner, 2. er¬ neuerte Auflage. Heidelberg i960. V, pr. 6; S. 110. Den Hinweis auf diese

128

Der Gedanke der Gottebenbildlichkeit ist hier, verquickt mit Gedan¬ ken aus Platos „Timaios“, auf die Zeit übertragen. Der Augenblick ist die „imago aeternitatis“, und zwar aufgrund seiner Punktualität. Im Augenblick, und zwar in jedem, wird daher der Mensch des göttlichen Seins teilhaftig. Da aber, wie Boethius fortfährt, der Augenblick doch nicht die Ewigkeit selber ist, muß er immer neu gesucht und verloren, werden, wodurch die unendliche Flucht der Zeit entsteht. Bei Thomas von Aquino ist das Verhältnis von Ewigkeit und Augen¬ blick nicht eines der Ebenbildlichkeit, sondern der Koexistenz. Der Augenblick ist dank der Allgegenwart Gottes Ewigkeit. Nam cum tempus motum non excedat, aeternitas quae omnino extra motum est, nihil temporis est. Rursum cum aeterni esse numquam deficiat, cuilibet tempori vel instand temporis praesentialiter adest aeternitas. . . . Quidquid igitur in quacumque parte temporis est, coexsistit aeterno, quasi praesens eidem, etsi respectu alterius partis temporis sit praeteritum vel futurum.18 Jeder Zeitmoment steht somit in einem doppelten Bezug, einerseits zum Ablauf der Zeit, andrerseits zur Ewigkeit. Er ist vergänglich und und die folgenden Stellen zur Augenblicksproblematik verdanke ich Georges Poulet, Les metamorphoses du cercle. Paris: Pion 1961. Introduction. Denn die unbegrenzte Bewegung des Zeitlichen ahmt diesen gegenwartsbewu߬ ten Zustand unbewegten Lebens nur nach, und da sie nicht vermag, ihn nachzu¬ bilden und ihm gleich zu kommen, verfällt sie aus der Unbewegtheit in die Bewegung, aus der Einfachheit der Gegenwart schwindet sie dahin zur unend¬ lichen Ausdehnung der Zukunft und Vergangenheit, und da sie die ganze Fülle ihres Lebens zugleich nicht besitzen kann, scheint sie mit dem, was sie irgendwie zu sein niemals aufhört und das sie doch nicht ausfüllen und ausdrücken kann, einigermaßen zu wetteifern, indem sie sich an die Gegenwart dieses, wenn auch noch so geringen und flüchtigen Augenblicks haftet. Und da dieser ja ein gewis¬ ses Abbild jener beharrenden Gegenwart in sich trägt, so gewährt er denen, an denen er teil hat, daß sie zu sein scheinen. (Übersetzt von Eberhard Gothein. Boethius, Trost der Philosophie. Berlin: Die Runde 1932) 18

Divi Thomae Aquinatis, Summa contra gentiles. Romae 1927. I, 66. p. 78. Denn da die Zeit aus der Bewegung nicht herausschreitet, so ist die Ewigkeit, die überhaupt außerhalb der Bewegung ist, nichts von der Zeit. Hinwieder¬ um: da das Sein des Ewigen nimmer abläßt, so ist einer jeden beliebigen Zeit oder einem jeden beliebigen Nu der Zeit die Ewigkeit gegenwärtiglich zugegen. . . . Was je mithin, gleichviel in welchem Teile der Zeit ist, das ist mit dem Ewigen mit da, gleichsam ihm gegenwärtig, obwohl es mit Hinblick auf einen andern Teil der Zeit vergangen oder zukünftig ist. (Über¬ setzt von Hans Nachod und Paul Stern: Thomas von Aquino, Die Summe wider die Heiden in vier Büchern. Leipzig: Hegner 1935. I, S. 260)

129 9

Pestalozzi, Lyrisches Ich

unvergänglich zugleich. Bei Cusanus fehlt dieser unmittelbare Bezug zur Ewigkeit. Ihm ist der Augenblick wichtig in der Relation zum Zeitablauf: Ita

nunc

sive

praesentia

complicat

tempus.

Praeteritum

fuit

praesens, futurum erit praesens nihil ergo reperitur in tempore nisi praesentia ordinata. Praeteritum igitur et futurum est explicatio praesentis; praesens est omnium praesentium temporum complicatio, et praesentia tempora illius seriatim sunt explicatio, et non reperitur in ipsis nisi praesens. Una est ergo praesentia omnium temporum complicatio. Et ipsa quidem praesentia est ipsa unitas.19 Im Augenblick ist die Zeit als ganze enthalten, sie ist in ihm ver¬ sammelt. Cusanus ist hier nahe bei Parmenides’ berühmten Satz:

8öTLV

opoü

jtav.“20

„vüv

Er macht den Augenblick dadurch ewig, daß

er ihm jene Simultaneität zuweist, die Boethius und Thomas Gott zuge¬ dacht hatten. Dabei kommt auch bei Cusanus der Gedanke des Thomas hinzu, daß Gott auch in zeitlicher Hinsicht gerade dem kleinsten Teil innewohne. — Es ist in unserem Zusammenhang interessant, daß Cusa¬ nus als weiteres Beispiel für den Gegensatz von complicatio und expli¬ catio anfügt: „Ita identitas est diversitatis complicatio.“21 Das legt den Schluß nahe, den Cusanus nicht zieht, daß die sukzessiv ablaufende Zeit im Augenblick ihren Identitätspunkt habe, in dem Vergangenheit und Zukunft „dasselbe“ sind. Diese theoretischen Nachweise der Affinität von Augenblick und Ewigkeit sind in der mystischen Erfahrung nicht mehr nur Spekulation. Im mystischen Nu erlebt der Mensch die Ewigkeit unmittelbar, sei es im gesteigerten Bewußtsein einer Vision, sei es in der unmittelbaren Ent¬ rückung, in der alle Sinne schwinden. Dabei ist die erlebte Ewigkeit sowohl außerhalb des Menschen als in ihm selbst. Er tritt in der mysti¬ schen Entrückung zu Gott zugleich ms Zentrum seiner Identität. Am Höhepunkt des Danteschen „Paradiso“ ist uns ein Beispiel dafür begeg¬ net22. Es wär vermessen, hier nun eine Geschichte der Augenblicks¬ spekulation und des Augenblickserlebnisses auch nur in gröbsten Verkür¬ zungen geben zu wollen. Wir können uns auf jene Verbindung beschrän¬ ken, die zu Meyers Gedicht hinüberführt, den Pietismus. Im Pietismus 19

Cusanus, De docta ignorantia II, cap. 3

20

Zit. bei Poulet a.a.O. S. XXV

21 22

Cusanus a.a.O. Paradiso XXXIII, 127 f.

130

erscheint der mystische Augenblick als Moment der Bekehrung. Exempla¬ risch ist dafür A. H. Franckes Schilderung: Denn wie man eine Hand umwendet, so war all mein Zweifel hinweg, ich war versichert in meinem Herzen der Gnade Gottes in Christo Jesu, ich konnte Gott nicht allein Gott, sondern meinen Vater nennen, alle Traurigkeit und Unruhe des Herzens ward auf einmal weggenommen, hingegen ward ich wie mit einem Strom der Freude plötzlich überschüttet, daß ich aus vollem Mut Gott lobte und pries, der mir solche Gnade erzeigt hatte. Ich stand anders ge¬ sinnt auf, als ich mich niedergelegt hatte.23 Im Bekehrungsaugenblick kommt es gleichfalls zu einer Berührung zwischen Mensch und Gott. Aber es kommt dabei nicht so sehr darauf an, daß der Mensch Gottes ewige Herrlichkeit schaut, als vielmehr darauf, daß er seines eigenen wahren und unverdorbenen Wesens inne wird. In der Hinwendung zu Gott gewinnt der Mensch sich selber. Die Äuße¬ rung davon ist die überströmende Freude, die darnach zur Fröhlichkeit der Kinder Gottes perenniert. Die echte Bekehrung ist einmalig. Sie bedarf keiner Wiederholung, weil auch sie aus der Sukzessivität der Zeit hinausgeführt hatte dorthin, wo alle Zeiten eins sind. Der Bekehrte muß nur wachsam sein, ob er auch in seinem Ewigen verharre und nicht neuerlich den zeitlichen Dingen verfalle. In der Schilderung Franckes halten sich Erlebtes und Dogmatisches die Waage, ja gerade ihr Ineinander macht die Bedeutung des Bekeh¬ rungsaugenblickes aus. In den Berichten der „Schönen Seele“ bei Goethe verschiebt sich der Akzent ganz auf den Seelenzustand, wenn sie „nach jenem großen Augenblick“ feststellt: Als das erste Entzücken vorüber war, bemerkte ich, daß mir dieser Zustand der Seele schon vorher bekannt gewesen; allein ich hatte ihn nie in dieser Stärke empfunden. Ich hatte ihn niemals fest halten, nie zu eigen behalten können. Ich glaube überhaupt, daß jede Men¬ schenseele ein- und das anderemal davon etwas empfunden hat. Ohne Zweifel ist es das, was einem jeden lehrt, daß ein Gott ist.24

23

24

A. H. Francke, Anfang und Fortgang der Bekehrung etc. in: Das Zeitalter des Pietismus, hrsg. von Martin Schmidt und Wilhelm Jannasch. Bremen: Schünemann 1965 (Klassiker des Protestantismus VI) S. 78 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, hrsg. von Ernst Beutler. Zürich: Arte¬ mis 1949 ff. (Artemis Gedenk-Ausgabe) S. 425 131

9*

Nicht mehr der religiöse Bezug ist hier das Entscheidende, sondern der Grad der Empfindungsintensität. Starkes Empfinden wird zum Got¬ tesbeweis. Heilig ist das stark fühlende Herz an sich, wodurch auch im¬ mer es in Wallung gerät. Bestehen bleibt, daß im Augenblickserlebnis der Mensch sich als ganzen erfährt in jener früher Gott allem vorbe¬ haltenen Simultaneität. Wir hatten in den Vorstudien gesehen, daß auch die pietistische Be¬ kehrung in den Umkreis der barocken Aufschwung-Möglichkeiten gehört. Das Spezifische des pietistischen Aufschwungs lag darin, daß er fast ganz der Verfügungsgewalt des bewußten Ich entzogen war und sich gnadenhaft ereignete als gesteigerte Empfindung. Beim Augenblick, um den es hier geht, handelt es sich um die Weiterführung dieser Art von Aufschwung. Meyers Verhältnis zum Augenblick hängt somit aufs engste mit seiner Ausprägung des Aufschwung-Motivs zusammen. Berichte wie die der „Schönen Seele“ bezeichnen jene Wendung innerhalb der Geschichte des Augenblickserlebnisses, welche es ermög¬ lichte, aus der religiösen Sprache eine Sprache des Herzens zu machen. Im Hinblick auf Meyers Gedicht ist dabei ein Bildkomplex von beson¬ derem Interesse. Langen führt als verbreitetes Bild für das augenblick¬ hafte Einwirken Gottes auf die Seele das des Schmelzens an . Es ist biblischer Herkunft und bezieht sich auf das Herausschmelzen der Edel¬ metalle aus dem rohen Erz. Gott ist der Schmelzer, die Reaktion der Seele besteht im Zerschmelzen und Zerfließen. Als Metapher für sie er¬ scheint vielfach das Wachs. Unter Langens Belegen ist keiner, in dem in diesem Zusammenhang von schmelzendem Schnee die Rede ist. Immer¬ hin führt der folgende in die Nähe: „Augenblicklich aber geschähe es / als durch einen sanfften Wind / daß mein zuvor eis-kaltes Hertz solchergestallt zerschmoltzen / daß ich . . . die gantze Predigt durch vor lauter Thränen zerfloss.“26 Dieses Bild lag nahe, da Kälte und Eis als Meta¬ phern der Gottferne geläufig waren. Dante verwendet die Schnee¬ schmelze als Bild für die Erweichung eines verstockten Herzens durch Erkenntnis an zwei Stellen27. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie diese pietistische Bildersprache losgelöst von aller religiösen Thematik anwendbar wurde, ist die Stelle aus der Marienbader Elegie, an der es heißt: 25 August Langen, Der Wortschatz des deutschen Pietismus. Tübingen: Nie¬ meyer 1954. S. 71 26 A.a.O. S. 294 27 Purg. XXX, 85; Paradiso II, 106 f.

132

Vor ihrem Blick, wie vor der Sonne Walten, Vor ihrem Atem, wie vor Frühlingslüften, Zerschmilzt, so längst sich eisig starr gehalten, Der Selbstsinn tief in winterlichen Grüften; Kein Eigennutz, kein Eigenwille dauert, Vor ihrem Kommen sind sie weggeschauert. Es ist, als wenn sie sagte: ,Stund um Stunde Wird uns das Leben freundlich dargeboten. Das Gestrige ließ uns geringe Kunde, Das Morgende — zu wissen ists verboten; Und wenn ich je mich vor dem Abend scheute, Die Sonne sank und sah noch, was mich freute. Drum tu wie ich und schaue, froh verständig, Dem Augenblick ins Auge! Kein Verschieben! Begegn ihm schnell, wohlwollend wie lebendig, Im Handeln seis, zur Freude seis dem Lieben. Nur wo du bist, sei alles, immer kindlich, So bist du alles, bist unüberwindlich!‘28 Staiger hat auf die pietistische Terminologie in der „Elegie“ hinge¬ wiesen29. Das Augenblickserlebnis, in dem die göttliche Gnade das er¬ starrte Ich aufschmilzt, ist Zug um Zug auf die Begegnung mit der Ge¬ liebten übertragen. Dabei ist das Motiv potenziert: Die Geliebte, die mit dem Blick ihrer Augen den Augenblick auslöst, wird für den alternden Dichter zur Lehrerin des Augenblicks, der seine Jugend bestimmte, in welchem sich das Ewige unmittelbar offenbarte, noch nicht auf dem an Cusanus gemahnenden Umweg, daß in ihm Vergangenes beständig und Künftiges voraus lebendig sei. Die Aufforderung „sei alles, immer kind¬ lich“ bedeutet, daß im so verstandenen Augenblick die im doppelten Wortsinn ursprüngliche Totalität offenbar wird. Für Goethe war der Augenblick die Grundstruktur seines Verhaltens zur Welt und zu sich selbst, wobei „Augenblick“ im Laufe seines langen Lebens die verschiedenen Nuancen annahm, welche die mittelalterliche Zeitspekulation entwickelt hatte30. Wenn er seine Lyrica „Gelegenheits¬ gedichte“ nannte, so meinte er damit, daß sie, sei es aus hochgestimmter 28

Goethe, „Elegie“ Strophen 15—17

29

Emil Staiger, Goethe III. Zürich: Atlantis 1959. S. 122 Daß der „Augenblick“ Goethes temporale Grundstruktur ausmache, ist die zentrale Einsicht, auf die Staigers Goethebuch ausgerichtet ist.

30

133

Improvisation, sei es in überlegter Nachgestaltung, Augenblicke festhal ten. Die Lyrik Goethescher Art hat die Auffassung zur Voraussetzung, daß der Augenblick in irgendeiner Weise Ewigkeit sei. Sie kann daher mit Recht Augenblickslyrik heißen. Daß ein Gedicht einen erhöhten Augenblick zu gestalten habe, blieb durch das 19. Jahrhundert hindurch das Programm der Lyrik, die sich auf Goethe berief. Als der alte Storm noch 1870 ein „Hausbuch aus deutschen

Dichtern“

zusammenstellte,

begründete

er

seine

Auswahl

damit: „Die Lyrik . . . anlangend, so ist... die Kunst ,zu sagen, wie ich leide4 nur wenigen, und selbst den Meistern nur in seltenen Augen¬ blicken gegeben. Der Grund ist leicht erkennbar.

Nicht allem, daß die

Forderung, den Gehalt in knappe und zutreffende Worte auszuprägen, hier besonders scharf hervortritt, da bei dem geringen Umfange schon ein

falscher oder pulsloser Ausdruck die Wirkung des Ganzen zer¬

stören kann; diese ^Vorte müssen auch durch die rhythmische Bewegung und Kangfarbe des Verses gleichsam in Musik gesetzt und solcherweise wieder in die Empfindung aufgelöst sein, aus der sie entsprungen sind; in seiner Wirkung soll das lyrische Gedicht dem Leser

man gestatte

den Ausdruck — zugleich eine Offenbarung und Erlösung, oder minde¬ stens eine Genugtuung gewähren, die er sich selbst nicht hätte geben können, sei es nun, daß es unsere Anschauung und Empfindung in unge¬ ahnter Weise erweitert und in die Tiefe führt, oder, was halb bewußt in Duff und Dämmer in uns lag, in überraschender Klarheit erscheinen läßt.“31 In den nur noch verschämt gebrauchten Wörtern „Offenbarung“ und „Erlösung“ scheint die religiöse Herkunft dieses Programms noch durch. Doch ist mit „Offenbarung“ nur noch „Erregung ungewohnter Gefühle“ gemeint. Wo für den Pietisten Gott wirkte, ist nun das abstrakte „Leben“ am Werk. „Falsch“ und „pulslos“ werden unter dieser Voraus¬ setzung synonym. Aber Spuren einer weniger vagen Auffassung sind noch darin enthalten, daß das Gedicht dem, der es liest, unmittelbare Klarheit über sich selbst verschafft, ihn zu seiner Ganzheit hinführt. Für Dichter und Leser ist es Offenbarung ihrer Person. Das erinnert an die pietistische Poetik. Das Wort „Augenblick“ in der Schlußstrophe der frühesten Fassung von „Himmelsnähe“ ist wie eine Kennmarke dafür, daß das Gedicht in 31

Theodor Storm, Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius. 1870 S. 115 bis 116. — Vgl. dazu Bruno Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik Bd IV. Berlin: de Gruyter 1959. S. 390

134

die Tradition der Augenblickslyrik gehört. Es ist bekannt, daß Meyer sich diese Tradition durch eifrige Lektüre von Goethe, Novalis, Tieck und Jean Paul von Jugend auf angeeignet hatte. Seine frühesten dichte¬ rischen Versuche sind davon bestimmt. Wichtiger aber als diese abgelei¬ tete Beziehung ist der Umstand, daß Meyer selbst unmittelbar aus den pietistischen Quellen schöpfte. Er wuchs in einer Atmosphäre auf, die maßgebend vom Pietismus bestimmt war. Es gibt dafür kein sprechen¬ deres Zeugnis als die Briefe, die während Meyers Jugendkrise zwischen Zürich und Pr^fargier hin und her gingen, in denen sich die Mutter mit den Betreuern des „armen Conrad“ über dessen Zustand und Aussich¬ ten verständigte. Beide Teile, sie und Dr. Borrel, sahen in Meyers Krank¬ heit nicht nur, ja nicht einmal so sehr ein medizinisches als ein religiöses Problem. Vor allem für die Mutter bestand Conrads Krankheit in der Verstockung, aus der nur die göttliche Gnade durch eine Bekehrung her¬ ausführen konnte. Sie schrieb an den Sohn: „Immer mehr Sprossen wirst du erklimmen bis auch du es zu erreichen vermagst, jenes schöne Reich der Wahrheit und der Liebe, das sich mit dem Augenblicke vor deinen erstaunten Blicken öffnet, wo du dein Dasein mit höheren, heiligen Zwecken verknüpfst.“32 Dr. Borrel schrieb von den „paroles glaciales de Conrad“, von seiner „froideur denaturee“, der „froideur glaciale de sa lettre“33. Daß diese Beurteilung sich nicht auf die Briefe beschränkte, geht aus Meyers Bemerkung hervor: „So sieht man mich denn anfangs für ein Ungeheuer von Kälte und Gefühllosigkeit an, obgleich ich die Leute zu überreden suche, daß ich freilich ein Teufel, aber ein armer sei.“34 Folgerichtig erscheint im ersten Brief Borreis der Heilungsprozeß unter dem Bild des Schmelzens: „Des que je verrai fondre la glace de son coeur, et que le besoin d’affection et d’epanchement se fera sentir, je m’empresserai de vous en prevenir et je vous abandonnerai la part de sa guerison qui vous appartient: le soin de gagner son coeur.“35 Nach halbwegs überstandener Krise griff die Mutter gegenüber Cecile Borrel dieses Bild wieder auf: „Vous comprenez maintenant, mon amie, pourquoi j’etais heureuse aussi longtemps que mon pauvre enfant se trouvait ä Prefargier. . . . N’etait-ce pas la premiere fois que le coeur de Conrad semblait

se

rechauffer? L’interet si touchant que vous voulütes lui

32

Am 30. Juli 1853. Vgl. Robert d’Harcourt, C.-F. Meyer, La crise de 1852 bis 1856. Lettres de C. F. Meyer et de son entourage. Paris 1913. S. 13 33 A.a.O. S. 18/19 34 A.a.O. S. 24 35 A.a.O. S. 10 135

temoigner, les directions ä la fois fermes et bienveillantes de Monsieur votre frere l’avaient place dans une atmosphere qui faisait eclore quel¬ ques fleurs qui ressemblaient ä des sentiments.. .“3G Dieser Hinweis auf die gemeinsame Ausdrucksweise soll den Unter¬ schied zwischen der quietistischen Einstellung der Mutter und der akti¬ ven Frömmigkeit von Prefargier nicht verwischen. Beiden aber ging es nicht einfach um den Gegensatz von Gefühlskälte und Wärme der Emp¬ findung. Mit „coeur glacial“ war eine Existenzweise gemeint, die sich ganz nur auf das eigene Ich, auf dessen Verwirklichung und Vervoll¬ kommnung aus eigener Kraft konzentrierte. Das Hauptsymptom dafür war in den Augen der Mutter Meyers unbedingtes Streben nach dichte¬ rischem Ruhm. Die Aufschmelzung, welche in Prefargier angestrebt und für einige Zeit erreicht wurde, bestand in der Hinwendung zum Mit¬ menschen, zum Dienst an der Gemeinschaft, der sich das Ich unterord¬ nete. Man hat mit Recht darauf hingewiesen37, daß die Krankheit Meyers von einer Ideologie überwölbt war, die in manchen Punkten Nietzsches Gedanken vorwegnahm, dem sich ja, wie noch zu zeigen sein wird, die Schnee- und Eis-Metaphorik teilweise ins Positive wandelte. Außer dem zentralen Bild des Schmelzens finden sich zahlreiche andere Vorstellungen und Ausdrücke aus dem Wortschatz des Pietismus in der ersten Fassung von Himmelsnähe: „Durchwehen“, „umwehen“, „umfließen“, „quellen“, „walten“, „neigen“; die Metaphern „Meer“, „Born des Lichts“, „Adler“, „Altar Gottes“ (für Gebirge)38. Das Gedicht als ganzes gemahnt an Tersteegens viel gesungenes Lied „Gott ist gegenwärtig / lasset uns anbeten / und in Ehrfurcht vor ihn treten“ oder das andere „O Gott, o Geist, o Licht des Lebens.“39 Schließlich steht hinter Meyers Gedicht, nicht dem Ton, wohl aber der Erlebnisstruktur nach, Goethes „Ganymed“, der Prototyp der aus 36

A.a.O. S. 149

37

Karl Emanuel Lusser, Conrad Ferdinand Meyer. Das Problem seiner Jugend. Leipzig: Haessel 1926. — Dieses ausgezeichnete Buch ist ein Beispiel dafür, daß trotz äußerst fragwürdiger theoretischer Prämissen (Stammesgeschichte) bei sorgfältiger Arbeit differenzierte und angemessene Ergebnisse erreicht werden können. Dem Buch wäre eine Neuauflage zu wünschen. Vgl. Langen, Pietismus. Die Bezeichnung der Berge als „Gottes Altäre“ er¬ scheint auch bei Jean Paul in der „Unsichtbaren Loge“. Werke, hrsg. von Norbert Müller, München: Hanser i960. Bd I, S. 62

38

39

Gerhard Tersteegen, Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen. Neue Aus¬ gabe. Stuttgart: Steinkopf 1956, S. 340; S. 502. Vgl. auch die Hinweise des Hrsg. Werke III, S. 34

dem

Pietismus hervorgegangenen

Aufschwungslyrik,

in

dem Augen¬

blicksthematik und Aufschwungmotiv exemplarisch verbunden sind. Der mythologische Titel deutet darauf, daß hier die Adler-Emblematik in anderer Weise gilt. Der Adler repräsentiert die befreiende Macht. Sie dringt das Ich aus der Frühlingslandschaft durch alle Sinnen an. Es wird davon ergriffen und auf den Alliebenden Vater zugetragen im Über¬ schwang der Empfindung, dem im „Mir! Mir!“ zugleich ein starkes Selbstbewußtsein entspricht. Der Aufschwung führt nicht aus der Welt heraus, sondern in ihr lebendiges Zentrum. „Aufwärts“ und „Abwärts sind eins wie „umfangend, umfangen“. Das Ich ist Teil des Alls und selber ganz. Sein Bei-sich-selbst-Sein spricht das Gedicht unmittelbar aus. Es ist Ausdruck der augenblickshaften gesteigerten Empfindung40. Ist damit der Nachweis erbracht, daß das Gedicht insofern in der Tradition der Augenblickslyrik steht, als es von pietistischem und goetheschem Geist geprägt ist, so blieb doch bisher völlig außer Acht, daß die Schlußstrophe nur vom Augenblick spricht, um ihn in Frage zu stellen: Nicht eines Augenblickes kurzer Raub, Laß deine Nähe bleiben mein Geleit Die Bezeichnung „kurzer Raub“ kritisiert zweierlei: Der Augenblick wird als flüchtiger erfahren. Er enthält nicht mehr die Totalität der Zeit, die seine eigne Vergänglichkeit wettzumachen vermöchte, sondern ist eine Stimmung, der, da sie dem Wechsel unterworfen ist, alle Ver¬ bindlichkeit abgeht.

„II me semble quelquefois que nous payons un

peu eher et de beaucoup d’ennuis les quelques instants de joie qui colorent un peu la vie et qui passent si vite“, schrieb Meyer einmal an Cecile Borrel41. Darum folgt in der nächsten Zeile des Gedichts die Bitte um

bleibendes

Geleit, d. h. um die spürbare dauernde Allgegen¬

wart Gottes. — Zum andern erscheint die augenblickshafte Gottgleich¬ heit als „Raub“, in Anlehnung an eine berühmte Paulusstelle. (Phi 2, 6) Sie ist ein Ausdruck der menschlichen Hybris. Ihr wird die Gerechtigkeit entgegengehalten, die von Gott ausgeht. Sie hängt insofern mit der gött¬ lichen Allgegenwart zusammen, als für sie alle Augenblicke gleiches Recht haben, also nicht mehr besonderen Erlebnissen eine höhere Würde zukommt. Mit dem Augenblick wird das ganze Gedicht als ein Stück Augen40

Vgl. Emil Staiger, Goethe I. Zürich: Atlantis i952* S. 64 ff.

41

D’Harcourt, La criise S. 186

137

V

blickslyrik in Frage gestellt. Etwas stimmt da nicht mehr. Wir meinen zu erkennen, daß bereits die Zweiteilung in Erlebnis und Reflexion der angemessenen Gestaltung eines seiner selbst gewissen Erlebnisses zu¬ widerläuft. Der Blick wird geschärft für jene Stilzüge, die nicht mit einer Poetik der Augenblickslyrik übereinstimmen. Storni hatte gefordert: „Wie ich in der Musik hören und empfinden, in den bildenden Künsten schauen und empfinden will, so will ich in der Poesie womöglich alles drei zugleich. — Von einem Kunstwerk will ich, wie vom Leben, unmit¬ telbar und nicht erst durch die Vermittlung des Denkens berührt werden; am vollendetsten erscheint mir daher das Gedicht, dessen Wirkung zu¬ nächst eine sinnliche ist, aus der sich dann die geistige von selbst ergibt, wie aus der Blüte die Frucht.“42 Schauen, Floren, Empfinden; sinnliche und geistige Wirkung — es ist überraschend, wie exakt Meyers Gedicht, wie es die Interpretation erhellt hat, diese Forderungen erfüllt. Nur fehlt jenes „zugleich“. Das ist freilich das Entscheidende. Meyers Gedicht baut sukzessiv ein Erlebnis¬ gedicht aus seinen Bestandteilen auf. Er sucht auf analytischem Weg zur Synthese zu kommen. Weil er das Programm Punkt für Punkt erfüllt, verfehlt er sein Ziel, die unmittelbare Wirkung. Fast erinnert das Gedicht an Meyer in Prefargier, der sich anstrengte, Gefühle zu haben. Die Diskrepanz zwischen Meyers Gedicht und einem wirklichen Augenblicksgedicht, die der Flinweis auf „Ganymed“ unmittelbar ergibt, läßt sich auf einem kleinen Umweg noch deutlicher machen, indem wir es an jenen Momenten messen, welche Emil Staiger als Charakteristika des Lyrischen herausgestellt hat. Staiger ging es in den „Grundbegriffen der Poetik“43 um die Verankerung und Begründung der Gattungen in zeit¬ lich verstandenen ewigen Möglichkeiten des Menschen. Das Lyrische ist eines der drei idealtypischen Verhältnisse von Ich und Welt, genauer gesagt die Aufhebung dieser Trennung. In den konkreten historischen Erscheinungen kann es sich nur mehr oder weniger rein realisieren. Wie Staigers Beispiele zeigen, kommt die Lyrik der Goethezeit, die Augen¬ blickslyrik, dem Lyrischen so am nächsten, wie das Homerische Epos dem Epischen. So kann es denn zulässig sein, in unserem Zusammenhang Staigers Bestimmungen des Lyrischen als eine Beschreibung der auf den Augenblick orientierten Lyrik der Goetheschen Tradition zu verwenden. Im lyrischen Gedicht spricht ein Ich, und zwar vorzüglich im Prä-

42 43

138

Vgl. Anm. 30 Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik. Zürich: Atlantis 1946

sens. Das scheint auch für Meyers Gedicht zu gelten, sein Anfang gleicht demjenigen von „Jägers Abendlied" Im Felde schleich ich still und wild, Gespannt mein Feuerrohr. Beide Anfänge antworten auf die Fragen wer? wann? wo? In Goe¬ thes Gedicht aber ist diese Rechenschaft an ein Du gerichtet. Bei Meyer fehlt ein Adressat. Das Ich scheint mit sich selber zu reden. Damit erhält die präsentische Ich-Aussage ein ganz anderes Aussehen. Es überschnei¬ den sich in ihr gewissermaßen zwei benachbarte Möglichkeiten. Entwe¬ der könnten, wie etwa in „Die Dryas , „Die gelöschten Kerzen , „Das bittere Trünklein“ von einer dritten Person so genaue Angaben über ihre äußere Lage gemacht werden. Dann würde das Praesens zu einem historicum, das Vergangenes um der lebhafteren Wirkung willen vor unsere Augen versetzte. Oder aber es verbänden sich erste Person und Praeteritum. Staiger betont, daß im Lyrischen das Praeteritum der Er¬ innerung legitim ist44. Dafür gibt es ebenfalls Beispiele bei Meyer. Hier aber spricht das Ich von seiner Gegenwart wie von einem Vergangenen, von sich selbst wie von einem dritten. Was sich als Form der Unmittel¬ barkeit gibt, erweist sich näherem Zusehen als eine der distanzierten Reflexion. Besteht für Staiger das Wesen des Lyrischen darin, daß aller Abstand aufgehoben ist, so wird hier von Anfang an ein vielfacher Abstand gesetzt: des Ich zu sich selbst, zwischen Ich und Landschaft, zwischen Wahrnehmung und Reflexion, zwischen den verschiedenen Sin¬ nesbereichen der lyrischen Synaesthesie. Nur an zwei Stellen, im Ausruf „O Alpenluft etc." und im Schlußgebet, kommt so etwas wie eine unio lyrica zustande. Sie tauschen aber nicht über die durchgehende Distan¬ ziertheit hinweg. — Wir haben gesehen, daß Meyers Gedicht seiner Ent¬ stehung nach nicht eine vom Erlebnisaugenblick eingegebene Improvisa¬ tion ist. Das äußert sich in einer Sprechlage, die, in Wortwahl und Kom¬ position, über der der Alltagssprache liegt. Verlieren im lyrischen Fluß die einzelnen Teile ihre Selbständigkeit, so sind sie hier deutlich gegen¬ einander abgegrenzt. Die männlichen Zeilenenden und die Akzentuie¬ rung der Strophenschlüsse bringt den Fortgang nach jeder Zeile resp. Strophe zum Stocken. Und schließlich ist die Gesamtwirkung weit von der der Musik entfernt. So ist denn der Befund völlig negativ, was die stilistischen Momente betrifft. Gemessen an Staigers Bestimmung darf dieses Gedicht nicht

44 A.a.O. S.

60

139

V

lyrisch heißen. Genauer gesagt: Die Gestaltungsmittel stehen konsequent im Widerspruch zur Intention des Dichters. Daß dieser sich jedoch ganz im Sinne der aufgezeigten Tradition verstand, bringt das mit dem betrachteten motivisch verwandte Gedicht zum Ausdruck, das er im Jahr der Niederschrift des Entwurfs seinem Erstling, den „Zwanzig Balladen von einem Schweizer“, vorausschickte: Der Frühling kommt, die Berge strahlen rein, Der Elimmel spiegelt sich in klarer Bucht, Mit gleicher Güte neigt der milde Schein Sich auf das sanfte Thal, die rauhe Schlucht. Leis schmilzt der Schnee, es stürzt in breitem Guß Der Wasserfall und braust zu Thale schon, Mit vollen Borden rauscht der kühle Fluß, Mit allen Wassern zieht der Rhein davon. Du hast den Wanderstab nun in der Hand, O Frühling, alles rinnt und rauscht mit dir, Nimm du mir meine Lieder über Land Und gib aus deinem Füllhorn neue mir!45 Hier erscheint das Gedicht, es ist bezeichnenderweise von „Liedern“ die Rede, als Ergebnis einer unmittelbaren ganymedischen Aufwallung. Und auch hier widerspricht die Gestalt des Gedichts dieser Thematik. Der an der Erstfassung von „Himmelsnähe“ aufgezeigte Wider¬ spruch hat zu viel System, als daß er einfach auf das Konto dichterischer Unzulänglichkeit gesetzt werden könnte. In ihm manifestiert sich eine Situation, in der die bisher gültige und auf die Goethezeit zurück¬ gehende, von einer neuen Dichtungskonzeption durchkreuzt wird. Diese war in Meyer durch F. Th. Vischer angeregt worden. Betsy charakteri¬ siert in ihrer „Erinnerung“ den revolutionierenden Einfluß der „Kriti¬ schen Gänge“ auf den jungen Meyer46. In ihrem „Frühlingsbrief“, in dem sie sich mit Kalischers Meyerdeutung auseinandersetzt, kommt sie später noch präziser darauf zu sprechen: „Sie nennen einmal Friedrich Vischer meines Bruders Aesthetiker, ohne der Jugendkrise zu gedenken, des Wendepunkts im Leben des Dichters, die durch Vischers „Kritische

45 46

Zit. bei Adolf Frey, Conrad Ferdinand Meyer. Sein Leben und seine Werke. Stuttgart: Cotta 1900. S. 168 Betsy Meyer, a.a.O. S. 98. Zum Einfluß Visdiers auf Meyer vgl. Lusser a.a.O.

S. 37 140

Gänge“ stark beeinflußt, um nicht zu sagen herbeigeführt wurde. Auf diesem Punkte der Entwicklung war das Eingreifen Vischers. .. für ihn ein entscheidendes. Vischers Vorträge räumten unter den Nebelgestalten der Romantik, von denen der Einsame träumte, energisch auf. Ihre kri¬ tische Schärfe wurde für Conrad Ferdinand, der von jeher der Philo¬ sophie Hegels verständnislos gegenüberstand, nichts anderes als ein hei¬ lendes Gift. Die Wirkung war eine zersetzende, aber die daraus resul¬ tierende war eine heilende und notwendige.“47 Der etwas unvermittelte Hinweis auf Hegel ist wohl so zu verstehen, daß es Vischers auf einzelne konkrete Gegenstände bezogenem Entwurf einer Philosophie der Ge¬ schichte der Kunst gelang, Meyer seinen eigenen Ort finden zu helfen, was Hegels Abstraktheit nicht erreicht hatte. Vischers „Kritische Gänge“4S hatten ein doppeltes Ziel. Auf dem Feld der Dichtung richteten sie sich gegen die Romantik, auf dem der Reli¬ gion gegen den Pietismus, beides im Namen eines modernen „subjektivobjektiven“ Ideals. Anlaß zur Romantikkritik war eine Würdigung Mörikes, bei dem Vischer zeigte, wieweit dieser noch am romantischen Subjektivismus, „einer nebelhaften Sagen- und Märchenwelt“ teilhatte, wieweit er das neue Ideal plastischer Klarheit verwirklichte. Stellte Vischer hier die positive Weiterentwicklung aus der Romantik dar, so geißelte er im bezug auf Herwegh eine weiterhin an der Romantik orientierten Lyrik mit grimmigen Worten: „Lenz, Lerchen, Liebe und Wein sind matt geworden; das Gemüt, das sich den großen Interessen des öffentlichen Lebens verschloß und in den Genuß seiner Subjektivität einspann, hat diese unschuldigen Gegenstände todtgehetzt und ist end¬ lich gerade in seiner Naturschwelgerei, in seiner Untätigkeit und Inter¬ esselosigkeit vergeilt, an seiner tatenlosen Überfruchtung erkrankt und in Zerrissenheit untergegangen.“49 Der Angriff gegen den Pietismus er¬ gab sich aus der Verteidigung D. F. Srauß’. Hier fallen die bösen Worte, der Pietismus sei „eine Krätze“, „eine Eiterung der besten Säfte des Geistes“. Dieser Vorwurf wird dann detailliert: „Der Pietismus ist der geborene und geschworene Feind der wahren Wissenschaft. ... Der Pietist ist ein Religiöser von metier. . . . Wer sich ein rechtes Bild von den ver47 Betsy Meyer, Conrad Ferdinand Meyer, Erinnerungsblätter, hrsg. von Julius Rodenberg. Das lit. Echo 15. Jg. 1,1912. Sp. 1 14. Der Brief geht unter dem Namen „Frühlingsbrief“. 48

Fr. Th. Vischer, Kritische Gänge, hrsg. von Robert Vischer. 2. verm. Aufl. Leipzig: Verlag der weißen Bücher 1914. 4 Bde

49

A.a.O. Bd 2, S. 92

dämmten bösen Geistern machen will nach der kirchlichen Vorstellung, von ihrem Grimm, ihrer Wuth, im Gefühle ihrer Unmacht und Ver¬ dammnis, der muß einen Pietisten ansehen.“50 Romantik- und Pietismus¬ kritik treffen sich, wie sich Vischer gegen Schleiermacher und den Mysti¬ zismus der romantischen Religionsphilosophen wendet. Beide seien, statt auf die immanente Realität, auf eine „transzendente Afterwelt“51 aus¬ gerichtet. Als später Meyer mit Vischer in brieflichem Kontakt stand, bestätigte er ihm die große Bedeutung für seine Entwicklung: „Ihr Name hat für mich von jung an einen Nimbus gehabt und gewisse Grundbegriffe sind mir dann doch erst durch ihre Aesthetik und deren Anwendung in den Krit. Gängen überzeugend und zwingend geworden.“52 Den Einfluß Vischers im einzelnen zu verifizieren, ist schwierig. Man meint ihn herauszuhören in der seltsam zwiespältigen Einschätzung Mörikes: „Nicht die Liebeslieder, die mir (unter uns) etwas zu sinnlich sind, sondern die Landschaften (z. B. das schöne Lied, wo die nächtlichen Quellen singen, vom Tage, vom dagewesenen(l) Tage. ,Der sichere Mann' ist unsinnig aber zu ergötzlich. Der ,Abschied' einzig. Am besten gefiel mir die Betrachtung über die Füße. Etwas mehr Mann wäre dem Ganzen zu wünschen.“53 Auch das folgende Bekenntnis an den Freund Konrad Nüscheler gehört mit in diesen Zusammenhang: „Wunder nimmts mich, ob sie bald merken, daß ich mit Sakk und Pakk zum Christentum über¬ gegangen bin? Es versteht sich, ohne jede Anwandlung von Pietismus, einfach, ruhig aber ganz.“54 Es ist wohl der allgemeinen Auffassung zu¬ zustimmen, daß Vischers Bedeutung für Meyer darin lag, daß er mit Vehemenz seine bisherigen Ideale zertrümmerte. In die entstandene Lücke konnten dann nach der Krise Pascal und Michelangelo als Vor¬ bilder treten. Als Meyer die erste Fassung von „Himmelsnähe“ nieder¬ schrieb, lagen Vischer-Lektüre, Prdfargier, Italienerlebnis bereits Jahre hinter ihm. Und doch ist, wie wir gesehen haben, dieses Gedicht noch auf das stärkste von jenen Idealen bestimmt, die Vischer erschüttert hatte. Nicht daß nicht auch die Kritik ihren Niederschlag gefunden hätte.

50 51 02

A.a.O. Bd i, S. ioo Zit. bei Lusser a.a.O. S. 40 C. F. Meyer und Fr. Th. Vischer, Briefwechsel. Süddeutsche Monatshefte 3. Jg., H. 2 1906. S. 176

53 64

Am 20.9. 1833 an die Schwester. d’Harcourt, La crise S. 213 Am 6. 1. 1854. Karl Emil Hoffmann,^ Conrad Nüscheler von Neuenegg und seine Beziehungen zu Conrad Ferdinand Meyer. Die Schweiz XXIII, 4. 1919

142

Aber sie war nur ein Stüde weit eingedrungen. Der Kernpunkt, das Augenblickserlebnis am Rande der Welt, der „subjektive Mysticismus , mit Visdier zu reden, war nicht tangiert. Die kritische Schlußstrophe ist unvermittelt angehängt. Damit aber ist gesagt, daß sich Meyers grundlegende geistige Wand¬ lung erst in Ansätzen auf seine lyrische Produktion ausgewirkt hatte. Diese bleibt noch einem früheren Stadium verhaftet. Das ist nur auf den ersten Blick verwunderlich. Die Diskrepanz zwischen der Theorie eines Dichters und seiner dichterischen Praxis ist ein allgemeines Phänomen, das bei Goethe am spektakulärsten auftritt, wenn er mit Behagen gegen den Kunstkanon verstieß, auf den er seine Zeitgenossen zu verpflichten suchte. Wie denn schon der tätige Mensch mit seinen Handlungen immer wieder hinter seiner Einsicht zurückbleibt, so erst recht der Dichter, dem niemand als die eigene Erfahrung am Material sagen kann, wie er es denn eigentlich zu machen habe. Darin liegt andrerseits die Chance, daß die Dichtung ins begrifflich noch Unerschlossene vorstößt. Meyers unermüdliche Arbeit an seinen Gedichten erscheint somit als Versuch, seine gewonnene Einsicht und seine lyrische Produktion in Einklang zu bringen, d. h. einen Gedichttypus zu schaffen, der den geistigen und künstlerischen Positionen standhielt, die ihm zum Ver¬ ständnis seiner selbst verhelfen hatten. Das soll im Einzelnen gezeigt werden, wenn wir die weitere Geschichte des Gedichtes verfolgen, die von der Augenblickslyrik wegführt.

II. Daß die einzelnen Niederschriften des Gedichts nicht verschiedenen Stufen von Meyers Entwicklung zugeordnet werden können, erhellt schon daraus, daß die Überarbeitung nur ganz kurze Zeit nach der ersten Niederschrift erfolgte. M2 trägt das Datum des 16. Juli 1864 und lautet: Auf schmalem Grat bin ich gelagert hier In der Gebirge weißgezacktem Kreis Ein blendend Silberhorn blickt über mir Hervor aus einem grünen Meer von Eis. Von Abgrund ist mein Lagerplatz umgränzt, In beiden Tiefen leuchten blaue Seen, Mit Alpenrosen ist mein Sitz bekränzt, Mein Blut ist kühl und meine Haare weh’n. 143

Der Schnee der gestern hing am Fels zerstreut In hundert Bächlein rieselt er davon, Und in der schwarzen Feuchte schimmert heut Der Soldanelle zarte Glocke schon Bald nahe tos’t, bald fern der Wasserfall, Jetzt stürzt er rechts verweht, jetzt stäubt er links, Ein tiefes Schweigen und ein steter Schall, Der Stille murmelnde Geräusche rings O Gottes Athemzug O Luft der Höh’n Dein Schauer rieselt mir bis in das Mark, Wenn deine kühlen Ströme mich durchweh’n, So werden meine guten Geister stark Zusammenschrickt die trübe Leidenschaft, Von reinem Hauchen schauerlich gekühlt Und fröhlich steht gegürtet jede Kraft Die sich in ihres Meisters Nähe fühlt. Es flattert in der staubbefreiten Brust, Und öffnet seine Schwingen ungestüm Des Gottentstammten Geistes Gotteslust Und strebt aus leichten Banden auf zu ihm. O Glück, in deiner Gegenwart zu sein Der reinen die den Reinen nur berührt, Ich bebe vor dem Pfad am Felsgestein Der steil mich bald in dumpfe Tiefe führt O dürft’ ich ihn behalten, meinen Raub, Die Beute meiner kurzen Himmelfahrt Und mit mir tragen in der Thale Staub Die Alpenlüfte deiner Gegenwart.55 Die wichtigsten Tendenzen der Umarbeitung lassen sich aus einem Vergleich der Anfangsstrophen ablesen: Aus der nicht ganz korrekten zweiten Zeile wurde eine eigene, die zweite Strophe. Die erste befaßt sich nunmehr nur noch mit der Höhenposition. Die neue zweite Zeile „In der Gebirge . . . Kreis“ machte die Ersetzung von „mächtiges Gebirg“ in der dritten nötig. Das Ergebnis davon ist mehr als nur eine stilistische Variation. Die Emphase, welche im Adjektiv „mächtig“, im singularisch 55

Werke III, S. 24 f.

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gebrauchten Kollektivum „Gebirg“ und der Apokope zum Ausdruck kam, ist in „blendend Silberhorn“ konkreter Anschaulichkeit gewichen. Der Abbau der Emphase des Adjektivs läßt sich in der Handschrift schrittweise verfolgen auf dem Wege „mächtig — riesig — strahlend schimmernd — leuchtend — blendend“. Auch die Umwandlung von „hoch“ in „schmal“, wohl der Assonanz zuliebe vorgenommen, bedeutet eine Versachlichung. Dasselbe gilt für die Ersetzung des fast pleonastischen „blendend rein“ durch ein Farbadjektiv „grün“, obwohl auch hier Rücksichten auf Wortwiederholungen maßgebend waren. Die An¬ schaulichkeit, welche aus diesen Veränderungen hervorging, macht die Zuordnung dieser Strophe zum Auge vollständig. Sie findet eine Be¬ stätigung in dem sonst nicht eben glücklichen Verbum „blickt“. Die neu dazugekommene zweite Strophe ist gleichfalls optisch angelegt, doch vermag sie der Blick ins Tal nicht zu füllen; die zweite Hälfte fällt aus diesem Rahmen. Immerhin, da andrerseits die vierte Strophe, die wir dem Gefühl zugewiesen haben, getilgt wurde, ergab sich eine Ver¬ schiebung innerhalb der Sinnesbereiche. Die Landschaft dringt nur noch bis zum Gehör vor, der distanzierende Gesichtssinn mit seinem gering¬ sten Grad von Lebhaftigkeit dominiert. Der Rückzug der Emphase hat eine motivische Entsprechung: Die Sonne ist aus dem Gedicht verschwunden. Schuld daran ist hauptsäch¬ lich die Tilgung der vierten Strophe. Aber auch in der ehemaligen zwei¬ ten ist das Schmelzen des Schnees nicht mehr ihr Werk, sondern ein intransitiver Vorgang. Da das Flutlicht der Sonne erloschen ist, beginnt die Landschaft aus sich heraus zu leuchten. Allenthalben treten ihre Hell-Dunkel- und Farbqualitäten hervor, sie wird zum Bild. Eigen¬ ständigkeit der Landschaft und gedrosselte Empfindung des Betrachters sind komplementär. Beides macht den Abstand sichtbar, den die erste Niederschrift zu verdecken gesucht hatte. Dem oben Gesagten scheint zu widersprechen, daß das Bauprinzip des Gegensatzes, das wir als Ausdrucksform der Emphase verstanden, nicht verschwunden ist, sondern überall verstärkt wurde. Paradigmatisch dafür ist die Umformung von Ein rauschend Leben waltet überall In dieser menschenleeren Einsamkeit in Ein tiefes Schweigen und ein steter Schall Der Stille murmelnde Geräusche rings. 145 10

Pestalozzi, Lyrisches Ich

Hier ist die Antithese potenziert. Zugleich ist alles Pleonastische, in dem die Empfindung zu Wort kam, geschwunden. Die Phänomene sel¬ ber sind zur Paradoxie verbunden. D. h. die Antithese wurde umfunk¬ tioniert vom Gesetz des empfindenden Ich zu dem der Landschaft. Man bekommt durchwegs den Eindruck, es sei dem Dichter darum zu tun gewesen, die Landschaft als ein dichtes Geflecht von Gegensätzen zu zeichnen. In der Wasserfallstrophe gelang das am überzeugendsten. Aber auch in der dritten Strophe werden nun deutlicher als in M1 Vergehen und Erblühen, Winter und Frühling, gestern und heut, schwarz und weiß in Opposition zueinander gebracht. — Betrachtet man die Vor¬ stufen zu M2, so fällt vor allem Meyers Schwanken bei der Wahl der Farbadjektive auf. Zwischen „grün“ und „blau“ geht es in der ersten Strophe mehrmals hin und her50. Auch hier scheint die Möglichkeit, Kon¬ traste zu erzielen, mitgespielt zu haben. Das schließlich siegreiche „grün“ als Beiwort zu „Meer von Eis“ suggeriert die Gegensätze lebendig-tot, beweglich-starr, Meer-Eis, dunkel-hell. „Schnee neben grün ist ein hüb¬ scher Effekt“, schrieb Meyer einmal an Mathilde Wesendonck57. An der Farbe ist ihm demnach vor allem der Helligkeits- und Bedeutungswert relevant, der kontrastierende Arrangements erlaubt. Daß er solche Wir¬ kungen nicht zu grell machen wollte, zeigt die Zurücknahme von „weiß“ in „zart“ als Epitheton für die Soldanelle, die der schwarzen Feuchte entsprießt. Das verstärkte Kontrastprinzip macht nun aus den einzelnen Strophen erst recht in sich abgeschlossene Einheiten, so daß ihr Zu¬ sammenhang untereinander lockerer geworden ist. Die Motivkette, die sich als Schmelzen verstehen ließ, ist zerbrochen. In den ersten vier Stro¬ phen des Gedichts reihen sich nun vier verschiedene Aspekte der Land¬ schaft aneinander, deren Abfolge zufällig ist. Sie ließe sich beliebig ver¬ ändern. Heinrich Henel ist aus seiner Beschäftigung mit Meyer dazu gelangt, dem fließenden Stil des im Sinne Staigers lyrischen Gedichttypus einen Gegentypus gegenüberzustellen. Als dessen wichtigste Merkmale nennt er: bildliche, nicht musikalische Mittel; Selbständigkeit der Teile; metri¬ sche Regelmäßigkeit; Entwicklungslosigkeit, eine Art Treten an Ort58. 56 57

A.a.O. S. 24 Am 8. 12. 1871. Friedr. Wilh. Freiherr von Bissing, Mathilde Wesendonck, die Frau und die Dichterin. Im Anhang: Die Briefe C. F. Meyers an Mat¬ hilde Wesendonck. Wien: Schroll 1942 (Kaiser Wilhelm Institut für Kultur¬ wissenschaft im Palazzo Zucchari, Rom. Vorträge 1. Reihe Heft 32/33) S. 72

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Henel, Gedichte: Nachwort; Erlebnisdichtung und Symbolismus

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Die Veränderungen, die Meyer mit dem ersten Teil des späteren „Him¬ melsnähe“ vornahm, bedeuten einen entschiedenen Schritt auf den Ideal¬ typus dieses, wie Henel es nennt, „statischen Gedichts“ zu. Auch im Zusammenhang zwischen den beiden Teilen des Gedichts ist eine leichte Verschiebung wahrzunehmen. Zwar hat Meyer ver¬ sucht, mittels Wortaufnahmen einige Verstrebungen anzubringen. Die so seltsam deplazierte zweite Hälfte der neuen zweiten Strophe kann nur den Sinn haben, das Motiv des Windes, das die zweite Gedichthälfte trägt, vorsorglich einzuführen. Das vermag aber nichts daran zu ändern, daß sich der zweite Teil unverhüllter als deutender Kommentar des ersten zu erkennen gibt. Am Anfang steht die Metapher „O Gottes Atemzug“ und dann erst das Phänomen, auf das sie sich bezieht, „O Luft der Höh’n“. Das der Deutung zugrundeliegende Schema scheint, wenn man die dafür zentrale siebente Strophe betrachtet, beibehalten. Aber es fällt auf, daß „heilig“ und „selig“ eliminiert, mehrere Vokabeln, die dem Wortschatz des Pietismus zugehörten, verschwunden sind; das Wort „Augenblick“ fehlt. In der sechsten Strophe ist „heilig“ durch „rein“ ersetzt, das auch dem neuen Höhepunkt des Gedichts das Gepräge gibt: O Glück, in deiner Gegenwart zu sein Der reinen die den Reinen nur berührt. „Rein“ ist ein negativer resp. privativer Begriff, der die Abwesenheit von etwas positiv ausdrückt. Reinheit ist als Wert gesetzte Negation. Gott erscheint hier- als der Reine im Hinblick auf die Zeit, er ist reine Gegenwart, also keiner Vergänglichkeit unterworfen. Das wird am Gegenbegriff deutlich. Kennwort für die Unreinheit ist hier wie auch sonst oft bei Meyer „Staub“59. Es deutet Nichtigkeit als Vergänglichkeit. Was der Welt zugehört, ist Staub. Die Himmelfahrt ins Gebirge führt das Ich aus der Zeitlichkeit hinaus ins Zeitlose Gottes und seiner selbst. Damit wird klar, weshalb das Wort „Augenblick“ nicht mehr am Platz ist. Es bezeichnet gerade das wie auch immer verstandene Ineinander, die Identität von Zeitlichem und Ewigem. Nun, in der neuen Fassung des Gedichts, besteht das Erlebnis, wenn überhaupt noch von einem solchen gesprochen werden darf, im totalen Hinaustreten aus der Zeit. Da Gott, der Reine, als allem Irdischen radikal entgegengesetzt ver59

Vgl. den Aufsatz des Vf., Tod und Allegorie in C. F. Meyers Gedichten. Euphorion 56, 1962

147 10*

standen ist, kann die Begegnung mit ihm nicht mehr eine Steigerung der Lebensintensität mit sich bringen. Die Leidenschaft heißt jetzt „trüb , was sie eindeutiger der Staubsphäre zuordnet. Man kann feststellen, wie gegegenüber M1 die Reaktion des Ich auf Gottes Nähe gedämpfter geschildert wird. Aus „eindringen“ wurde „rieseln“, die Kraft, die sich „ermannt“, zu einer, die „gegürtet steht“, das Schlagen der Adlerschwin¬ gen zu einem Flattern, die Erwähnung des Adlers wurde gestrichen60. Den Zustand insgesamt kennzeichnen jetzt die Adjektive gut, fröhlich, frei, glücklich. „Glück“ hat in den Umarbeitungsvarianten über „Lust“, „Kraft“, „Trost“ den Sieg davongetragen61. Es ist das sanfte Glück erlangter Ruhe jenseits der Zeit. Das Ich gelangt jedoch im Gebirge nicht in den totalen Genuß seiner Negation, seiner Reinheit. Zwar will das Gedicht darauf hinaus, doch widerstrebt ihm die Darstellung. Keine einzelne Strophe ist ganz der Reinheit eingeräumt. Immer steht sie mit ihrem Widerpart zusammen. Der Kontrast, das Strukturprinzip der Landschaft, bestimmt als Wider¬ spruch auch den dem Ich gewidmeten Teil. Das Gebirge erscheint als Ort, an dem dieses sich in seinem Widerspruch von Reinheit und Unrein¬ heit, Ewigem und Zeitlichem erfährt. Wie die Übereinstimmung zwi¬ schen Ich und Landschaft, so ist auch die Einheit von Irdischem und Göttlichem in ihre Komponenten auseinandergetreten. Beide Sphären haben sich gegeneinander abgegrenzt. All das deutet sich in M2 mehr an, als daß es schon zu letzter Stimmigkeit gebracht wäre. Der Ubergangscharakter dieser Niederschrift wird faßbar an einer Schwierigkeit, an der beide Teile des Gedichts kranken. Das Gebirge, das in sich den Widerspruch enthält, ist als Gan¬ zes der Tiefe entgegengesetzt, also wiederum Teil einer größeren Anti¬ these. Und ebenso ist Gott, der doch alle Gegensätze umspannen müßte, fast manichäisch der reine Teil in einem umgreifenden Gegensatz! Gott und Gebirge sind das Ganze und zugleich nur ein Teil. Diese Ungeklärtheiten aufzulösen bedurfte es einer weiteren Umgestaltung des Ge¬ dichts, obwohl Meyer es so 1865 mit geringen Änderungen zum ersten¬ mal veröffentlichte62.

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Werke III, S. 27/28

61 62

A.a.O. S. 28/29 Morgenblatt für gebildete Leser vom 9. Juli 1865

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III.

Etwa zwei Jahre darnach setzte der zweite Arbeitsgang am Gedicht ein. Meyer kürzte es rigoros von 9 auf 5 Strophen. Im ersten Teil wurde davon die nachträglich dazugekommene zweite Strophe betroffen. Gra¬ vierender war der Eingriff in den zweiten Teil. Aus den Strophen fünf und sechs entstand eine Strophe, die neue Schlußstrophe führt nun die bisherige siebente weiter. Alles übrige, d. h. der ganze frühere Schluß, wurde preisgegeben. Als „Himmelsnähe“ ging diese Fassung in „Romanzen und Bilder“ ein. Auf schmalem Grat bin ich gelagert hier In der Gebirge weißgezacktem Kreis, Ein blendend Silberhorn blickt über mir Hervor aus einem grünen Meer von Eis. Der Schnee, der am Geklüfte hing zerstreut, In hundert Rinnen rieselt er davon, Und aus der schwarzen Feuchte schimmert heut Der Soldanelle zarte Glocke schon. Bald nahe tost, bald fern der Wasserfall, Jetzt stürzt er hier verweht, jetzt stäubt er dort! Ein tiefes Schweigen und ein stäter Schall: Der ungebrochnen Stille flüsternd Wort! O Luft der Höh’n, du wundersame Kraft! Ich habe seinen Athemzug gefühlt! Zusammenschrickt die dumpfe Leidenschaft Von reinen Hauchen schauerlich gekühlt. Es flattert in der staubbefreiten Brust, Die kühnen Schwingen öffnend ungestüm, Des gottentstammten Geistes Gotteslust Und schwebt mit Adlerskräften auf zu ihm.63 Durch die Reduktion der Strophenzahl ist das Gedicht in seiner Tek¬ tonik überschaubar geworden. Es ist um eine Symmetrieachse angelegt, die Strophen gliedern sich in 2

t

1 + 2. Die ersten beiden enthalten das

Bild der Landschaft, wie es sich dem Auge darbietet. Sie stehen zuein¬ ander in einem Kontrastverhältnis und sind in sich antithetisch gebaut. 63

Werke III, S. 30/31. — C. Ferdinand Meyer, Romanzen und Bilder. Leipzig: Haessel 1870. S. 23 149

V

Der Hinweis auf die Tiefe ist ausgeschieden, das Gebirge erscheint da¬ durch absolut. Die Wasserfallstrophe ist nun ins Zentrum gerückt. Sie bildet, ohne daß sie eine grundlegende Änderung erfahren hätte, das Herzstück des Gedichts. Das erreichte Meyer mit dem kleinen Kunstgriff, daß er in der vierten Strophe das Praesens durch ein Perfekt ersetzte: Ich habe seinen Athemzug gefühlt! Das macht die Schlußstrophen zum Nachspiel der Wasserfallstrophe. Dem kommt entgegen, daß sich in dieser durch das Fehlen von finiten Verben in der zweiten Hälfte die Zeitverhältnisse verwischen. Aus den letzten beiden Strophen geht hervor, daß sich im Wasserfall Gott offen¬ bart hat, und zwar unabhängig vom empfindenden Ich. Dieses reagiert nachträglich erst mit dem Schauder. Was in der Fassung zuvor ein Inein¬ ander war, ist nun zu einem Nacheinander geworden. Die inhaltlich und formal gleichermaßen zentrale Bedeutung der Wasserfallstrophe legt es nahe, die Interpretation zunächst darauf zu konzentrieren. Es wurde schon angedeutet, daß in dieser Strophe die finiten Verben aufhören. Über die Zwischenform eines substantivierten Infinitivs kommt die Bewegung in einer Kombination von Substantiv und participium praesentis zum Stillstand. Das ist die grammatische Realisierung des Übergangs aus dem Zeitlichen ins Zeitlose. Daß der Wasserfall dessen Medium sein kann, verleiht ihm Offenbarungsqualität. — Schon in M2 fiel auf, daß sich in der Schilderung des Wasserfalls die Antithesen häuften. Das gilt hier, wo in den vorausgehenden Strophen die Kontraste deutlicher ausgeprägt sind, erst recht. Im Wasserfall kommt sozusagen der Geist der Landschaft zu Wort. In der ersten Zeile ist mit „nah“ und „fern“ die wechselnde Lautstärke bezeichnet, wie sie sich dem Ich dar¬ stellt, mit „stürzt“ und „stäubt“ die wechselnde Bewegungsrichtung. „Stäubt“ nimmt zudem „Staub“ auf, mit „verweht“ assoziiert sich der göttliche Hauch, so daß sich die Antithesen, die hier Zusammenkommen, auf die eine und entscheidende beziehen. In der dritten Zeile sind „Schweigen“ und „Schall“ losgelöst vom Wasserfall. So ist ungewiß, was damit gemeint ist, ob nochmals die wechselnde Intensität des Getöses, ob die Diskrepanz zwischen ihm und der Lautlosigkeit der umliegenden Landschaft. Beide Deutungen vermögen nicht, die den vorangegangenen Zeilen gegenüber veränderte grammatische Struktur zu rechtfertigen. „Und“ weist eher auf eine Engführung der bisherigen Antithesen zum Paradox hin, dessen diskrepante Momente zugleich identisch sind. Man könnte hier das aus der Erfahrung geläufige Phänomen interpolieren, i

daß langanhaltende Geräusche und Töne vom Ohr mit der Zeit nicht mehr registriert werden und so mit der Stille eins werden, daß man sie erst dann wieder wahrnimmt, wenn sie abbrechen. Erst aus einer solchen Identität von Schweigen und Schall wird die durch den Doppel¬ punkt als Weiterführung gekennzeichnete Schlußzeile verständlich, welche aus der bisherigen Beiordnung von Schweigen und Schall eine durch das Genetivverhältnis ausgedrückte Unterordnung macht: Der ungebrochnen Stille flüsternd Wort. Das mit der Stille eins gewordene Rauschen wird nun umgekehrt zum Laut der Stille. Unmerklich ist damit etwas Diesseitiges zur Kund¬ gabe eines Jenseitigen geworden. Diesen Übergang stellt das Gedicht „Nachtgeräusche“ in seinen einzelnen Phasen dar, wenn es heißt: Dann? Nichts weiter als der ungewisse Geisterlaut der ungebrochnen Stille, Wie das Atmen eines jungen Busens, Wie das Murmeln eines tiefen Brunnens, Wie das Schlagen eines dumpfen Ruders, Dann der ungehörte Tritt des Schlummers.64 Die drei Vergleiche suchen das allmähliche Verebben der Nachtge¬ räusche einzufangen. Man hat sie auf Geräusche hin gedeutet, die wahr¬ nimmt, wer in sich hineinhört: den Atem, das Rauschen des Blutes, den Herzschlag65. Im Diminuendo dieser biologischen Lautwerte wird ein unhörbarer innerer Bereich vernehmbar, der davon verschieden und doch um der Wahrnehmbarkeit willen darauf angewiesen ist. In „Himmels¬ nähe“ führt der entsprechende Vorgang aus der Welt heraus in ein äußeres Jenseits. Im Grunde jedoch sind beide eins, beide heißen „Ungebrochne Stille“. Das ist die akustische Bestimmung der Reinheit. Diese kann sich im sinnlichen Paradox des Wasserfalls kundtun, ohne sich zu verunreinigen. Das Rauschen, das zugleich tönt und schweigt, existiert und nicht exi¬ stiert, kann für Momente zur schmalen Brücke über die Kluft zwischen Diesseits und Jenseits werden. „Ungebrochne Stille“ ist auch zeitlich zu verstehen. Die Stille ist

64 65

Werke I, S. 26 Diese Interpretation ist mir aus einem Zürcher Seminar bei Emil Staiger in Erinnerung.

\

die vor der Existenz. Sie entspricht dem Zustand der Jungfrau in dem gleichnamigen Gedicht66, die sich noch unter der Obhut Gottes befindet. Die theologische Konzeption aus der ersten Fassung ist erhalten geblie¬ ben. In der Stille erfährt der Mensch seinen eigenen Ursprung. Stille bezeichnet somit ein zeitliches und räumliches Jenseits, vor und nach dem Leben, innerhalb des Menschen und außerhalb der Welt. Existenz des Menschen und Welt bilden zusammen eine Hohlkugel, an deren Rand erst das Göttliche aufscheint. Der Wasserfall ist eines der Grenz¬ phänomene. Was das, auch im Vergleich mit der ersten Fassung des Gedichts, bedeutet, läßt sich präzisieren durch einen Blick auf die Beschreibung des Wassersturzes in Fausts Monolog zu Beginn des Zweiten Teils67. Manches in Meyers Gedicht erinnert daran. Was sich hier dem Ohr mit¬ teilt, geschieht dort vor Augen. Die Zeile Bald nahe tost, bald fern der Wasserfall ist die Umsetzung von Bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfließend ins Akustische. Wie hier sich im Rauschen Gott kundtut, so ergibt sich dort aus und über dem stiebenden Wasser im Regenbogen das offenbare Geheimnis. Die Parallele erstreckt sich auch auf die Wirkung, wenn es bei Goethe heißt Umher verbreitend duftig kühlen Schauer. Wieweit sich Meyer diese Goethe-Stelle bewußt zum Vorbild ge¬ nommen hatte, kann hier offen bleiben. Daß er mit Goethes Werk vertraut war, bezeugen viele der Briefe. Die Differenz zwischen Akustischem und Optischem läßt sich nicht einfach dadurch erklären, daß Goethe eben ein visueller Typ war, obwohl es erstaunlich ist zu sehen, daß er bei der eingehenden Beschrei¬ bung des Rheinfalls, der Vorstudie zur Fauststelle, über das nicht uner¬ hebliche Getöse der stürzenden Wassermassen nichts verlauten läßt. Meyer andrerseits war kein Ohrenmensch. Louise von Franfois geht soweit, ihn gerade wegen seiner mangelnden Musikalität Goethe und Schiller zuzugesellen68. Die Bedeutung der bildenden Kunst für seine 66 67 68

Werke I, S. 36 Faust V. 4715—4727 Am 16. Mai 1882. Briefwechsel S. fi. Die Stelle ist allerdings halb humo¬ ristisch gemeint.

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Dichtung liegt denn auch auf der Hand. Um so auffallender ist es, daß hier ein akustisches Phänomen höchste Würde bekommt. Den Grund dafür vermag der Vergleich mit Goethe zu erhellen. Der Regenbogen entsteht so, daß sich die Strahlen des Sonnenlichts in den einzelnen Wassertropfen brechen. Das Bewegliche und das Stetige sind seine Kom¬ ponenten. „Des Bogens Wechseldauer“ ist daraus eine echte Synthese, die beides in sich enthält und doch ein eigenes Phänomen darstellt. Das Verhältnis des Rauschens zum Wasserfall ist anders, es ist das des Tones zum Instrument, das ihn erzeugt. Die Materialität des Instruments ist im Ton nicht aufgehoben, sondern getilgt. Es ist für Meyer letztlich irrelevant, woraus das Rauschen entsteht. In andern Gedichten kann der Glockenklang dessen Offenbarungsfunktion übernehmen. Seine Wechseldauer zeigt der Regenbogen daran, daß er bald deutlicher, bald undeut¬ licher zu sehen ist, aber trotz schwankender Schärfe als Bild bestehen bleibt. Der Schall schwillt an und ab. Da er seine Existenz nur in der Zeit hat, schwankt er dabei zwischen Sein und Nichtsein. In der Farben¬ lehre nennt Goethe den Regenbogen „eine subjektiv-objektive oder objektiv-subjektive Refraktionserscheinung“69; denn erst das Auge ordne die verschiedenen Farben zur Harmonie. Wir haben gesehen, daß auch das Rauschen des Zuhörenden bedarf, um Stille zu werden. Der Anteil des Subjekts bewirkt hierbei aber gerade nicht die vollendete Erschei¬ nung, sondern deren Verschwinden. Werden sichtbare Phänomene durch die Dauer gesteigert, wie Goethe es am Rheinfall beobachtete, so hier hörbare reduziert. Alle Unterschiede weisen auf einen: Der Regenbogen ist Dauer im Wechsel in dem Sinne, daß beide sich zu einem dritten vermitteln. Dauer im Wechsel ist auch das Rauschen. Aber nicht als Synthese, sondern als Paradox. Was dauert, ist die Negation alles Irdischen, was wechselt, das Existierende. Es gibt kein Drittes, nur eine engste Verschränkung beider. Damit hängt zusammen, welcher Art das Geheimnis ist, das sich jeweils offenbart. Im Regenbogen ist es ein Urphänomen, ein gestalthaftes Gesetz, das bei Goethe in Kunst und Natur, Pflanze, Tier und Mensch Geltung hat. Faust bleibt denn auch nicht in den Anblick des Bogens versunken. Unter der Einwirkung der kühlenden Distanz zu den Dingen und zu sich selbst, die davon ausgeht, fordert er sich auf ihm sinne nach, und du begreifst genauer: 69

Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft. Hrsg, von der Leopoldina. I. Abt. Bd 3, Weimar: Böhlau 1951, S. 101

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Die darauffolgende Sentenz vom farbigen Abglanz ist nur eine Deu¬ tung unter andern, wenn auch eine der umfassendsten. Vom Regen¬ bogen aus müßten sich alle Rätsel der Welt „genauer“ begreifen lassen. Das Rauschen bedeutet nicht das innere Gesetz der Welt, sondern den Übergang von ihr zu einem Göttlichen, das, weil es außer ihr liegt, nur im Verschwindendsten manifest sein kann. Nur an der Grenze des Wahr¬ nehmbaren gibt es für Meyer eine äußerst schmale Zone dessen, was man symbolisch nennen kann, weil darin Zeitliches und Ewiges sich berüh¬ ren. Sie umfaßt lauter dem Tod verwandte Vorgänge, solche also, welche Goethe nur am Rand gelten ließ. Der Tod ist im Grunde die Chiffre dafür, daß sie mit der vergehenden Zeit zu tun haben. Daher bekommt das Akustische seine Bedeutung. Sie hängt an seiner Abstraktheit, Imma¬ terialität, Flüchtigkeit. Goethe setzte dafür in seiner vergleichenden Tabelle „Augenblicklichkeit“70. Das leitet zu früher Ausgeführtem zu¬ rück. Meyer ging aus von einem Augenblick, der ewig war, d. h. einer Lebenssituation und einer Empfindung, in der sich Gott unmittelbar kundtat. Die uns jetzt vorliegende Fassung hat ihr Zentrum in einem Augenblick, der nur noch augenblicklich ist, d. h. in dem die Zeit nicht erfüllt, sondern hinfällig ist. In seinem Verschwinden gewinnt die Zeitlosigkeit Raum. Im Gedicht wird das so gestaltet, daß nach der Wasser¬ fallstrophe eine Pause eintritt. Daß diese länger ist als die zwischen den übrigen Strophen, erreichen die Interpunktionen, Doppelpunkt und Ausrufezeichen, vor allem aber die sentenzenhaffe Abschlußzeile der drit¬ ten Strophe. In der Pause teilt sich die Stille dem Leser mit. Man kann sagen, daß darin die Gebirgslandschaft überhaupt zu Wort kommt. Die Antithetik der ersten beiden bereitet die Paradoxien der dritten Strophe vor, die in die Stille münden. Der Moment der Stille soll Gott offen¬ baren. Dessen Name wird jedoch nicht genannt. Durch die Art seiner Offenbarung ist er selbst einer der Stille. Auch der Gedichtschluß beschränkt sich auf das Pronomen. Das Wort der Stille wird zum „Excelsior!“ für das Ich. Es erhält den Anstoß, sich adlergleich aufzuschwingen. Erst und nur in dieser Fassung ist das Gedicht ein eigentliches Aufschwunggedicht. Die Nen¬ nung des Adlers macht seine Pointe aus. Der Adler ist jedoch eindeutig nicht mehr ein Bild der Lebenskraft, Was auf den Anruf der Stille im Ich antwortet, stammt ebenfalls aus einem reinen Bereich. Staub und Leidenschaft, äußere und innere Welt-

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Goethe, Werke, Gedenkausgabe. Zürich 1949 ff. Bd 16, S. 861

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Zugehörigkeit, werden negiert. Deutlicher als in den früheren Fassungen ist der ausgelöste Schauer in seiner Ambivalenz dem Tod verwandt. Der Aufschwung zum Ursprung gleicht einem Sterben, und zwar einem Kältetod, der nicht auflöst, sondern kristallisiert. Dem Ich eröffnet sich im Innern seine eigene Reinheit. Deutlicher als in der anfänglichen Kon¬ zeption besteht die gesteigerte Empfindung in einer momentanen Er¬ starrung. Mit der Fassung in „Romanzen und Bilder“ hat das Gedicht eine gewisse Vollendung erreicht. Es ist in sich stimmig, konsequent im Ver¬ lauf, einheitlich in der Stillage und dank der vorgenommenen Kürzungen von eindrücklicher Knappheit.

IV. In meiner Firne feierlichem Kreis Lagr’ ich an schmalem Felsengrate hier, Aus einem grünerstarrten Meer von Eis Erhebt die Silberzacke sich vor mir. Der Schnee, der am Geklüfte hing zerstreut, In hundert Rinnen rieselt er davon Und aus der schwarzen Feuchte schimmert heut Der Soldanelle zarte Glocke schon. Bald nahe tost, bald fern der Wasserfall, Er stäubt und stürzt, nun rechts, nun links verweht, Ein tiefes Schweigen und ein steter Schall, Ein Wind, ein Strom, ein Atem, ein Gebet! Nur neben mir des Murmeltieres Pfiff, Nur über mir des Geiers heisrer Schrei, Ich bin allein auf meinem Felsenriff Und ich empfinde, daß Gott bei mir sei.71 Die endgültige Fassung des Gedichts entstand, als Meyer, etwa zwölf Jahre nach „Romanzen und Bilder“ seine Gedichte für die Sammlung redigierte72. Die ersten drei Strophen sind, mit einigen Veränderungen, beibehalten, die letzten beiden sind getilgt; an ihre Stelle ist eine neue 71

Werke I, S. 113 (Nr. 73)

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Henel, Poetry S. 188

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vierte getreten. Dadurch, daß das Gedicht nur noch vier Strophen hat, ist die Wasserfallstrophe nicht mehr die Mitte des Gedichts. Diese liegt nun in der Pause zwischen den Strophen zwei und drei. Die erste Strophe hat nun fast den Charakter eines Introitus. Der Ton hat sich gehoben dank einiger Verdichtungen, Mutationen im Wort¬ schatz. Die Feierlichkeit wird besonders von den Assonanzen und Allite¬ rationen getragen. Sie geht aber nicht auf Kosten der Praezision. Man¬ ches ist sogar genauer bestimmt: „Silberzacke“ statt „Silberhorn“, „Fel¬ sengrat“ statt „Grat“, „grünerstarrt“ statt „grün“. Diese Nuancierungen verändern zugleich das Bild. Sie machen die Gebirgswelt eindeutig zu einer eingefrorenen starren Landschaft ohne Leben. Firne — Kreis — Felsengrat — Meer von Eis — Silberzacke. Erstarrtes Grün und Silber sind die einzigen Farben. Um so schärfer sind die Umrisse gezeichnet: Grat, Zacke, Kreis. Diese ödnis setzt das zweite Wort, das Possessivum, zu dem Ich in Beziehung. Es ist

seine

stammende Ausdruck

Landschaft. Der aus früheren Fassungen

„Kreis“

hat nun einen spezifischen Sinn. Er

bezeichnet die auf das Ich zentrierte Sphäre, seine Welt. Das vermag die vorgenommene Umstellung der Zeilen formal wiederzugeben. Es respondieren nun „In meiner . . .“, „Aus einem . . .“, „Lagr’ ich . . .“, „Erhebt die Silberzacke sich ..." in konsequentem Parallelismus. Die Übereinstimmung, die damit angedeutet wird, ist jedoch nicht stimmungshaft. Das Ich redet noch immer im Tempus der Reflexivität, die es von der Umwelt separiert. Darin gerade besteht die Entsprechung zur erstarrten Landschaft, daß das Ich ganz auf sich selber steht. Wir erinnern uns, daß Dr. Borrel die trotzige Ichbezogenheit des kranken Conrad als „cceur glacial“ bezeichnete. Diese Bildersprache ist auch hier noch am Werk. Aber mit einer Akzentverschiebung, auf die alles an¬ kommt. Es fehlt jegliche Wertung. Reflexive Konzentration auf sich selber ist nurmehr eine mögliche Form des Bewußtseins, vorhanden wie das Hochgebirge. Ihr gibt die Strophe in ihrer starren Feierlichkeit Aus¬ druck. Das Hieratische des Tons, die Starrheit der Landschaft und die Bezogenheit des Ich auf sich selbst bilden einen geschlossenen Komplex. Anders als in den früheren Fällen kann hier das an der ersten Strophe Erkannte nicht auf das ganze Gedicht ausgedehnt werden. An der zweiten Strophe wurde keine Silbe angetastet. Sosehr sie die Stil¬ lage der ersten beibehält, es fehlt ihr die hieratische Sprachgebärde. Die Syntax ist beweglicher, sie wagt sogar einen Anakoluth, zur vierten Zeile führt ein Zeilensprung. Offensichtlich kam es Meyer auf die Diffe156

renzierung beider Strophen an. In der zweiten kommt inhaltlich und in der Darstellungsweise in Bewegung, was in der ersten einen starren Komplex bildet. Die Reimwörter der jeweils ersten Zeilen, „Kreis“ — „zerstreut“, signalisieren den Unterschied: Die Zerstreuung besteht in der Lösung der Starre zu neuem Leben. Der Schnee schmilzt. Leben sprießt hervor. Das Grau der Eiswelt polarisiert sich in Schwarz und Hell von Feuchte und Soldanelle. An die Stelle des parallelen Aufbaus tritt das Prinzip der Entgegensetzung. Das auf seine Situation reflektierende Ich ist verschwunden. Gram¬ matisch tritt es nicht mehr in Erscheinung. Es ist nur noch da als Einheit der Apperzeption, die den Dingen Ort und Zeit zuweist. Von sich selbst hat es ganz abgesehen. So steht die zweite Strophe in jeder Hinsicht zur ersten im Gegen¬ satz. Die Antithese, die sie zusammen bilden, hat das gemeinsame opti¬ sche Wahrnehmungsmedium zur Voraussetzung. Insofern gehören sie zusammen. Nach der zweiten Strophe liegt die Mittelachse des Gedichts. An der dritten Strophe ist, im Vergleich mit den übrigen und mit ihrer vorausgegangenen Fassung, die Interpunktion am auffallendsten. Es gibt nun nur noch ein Ausrufezeichen am Schluß, der Doppelpunkt in der dritten Zeile ist ein Komma geworden. Es kommt nicht mehr auf den nuancierten Verlauf an, den wir umständlich nachzuzeichnen hatten, und nicht mehr auf die Hinführung auf eine Pause. Die Strophe ist dadurch einheitlicher geworden. Während die übrigen Strophen höchstens zwei Kommata haben, sind es hier neun. Das deutet auf kürzere und zahlreichere Kola. Diese ergeben sich aus einer Auflösung im Syntakti¬ schen, die schließlich zum Verlust des Praedikats führt. Diese Zersplit¬ terung des in sich geschlossenen Gefüges ist die formale Entsprechung zur inhaltlichen Steigerung des Rieselns zum Wasserfall. Der Schmelz- und Auflösungsprozeß gelangt in dieser Strophe auf seinen Höhepunkt. Die ganze Realität wird zum Vorgang, der, da er Subjekt und Praedikat in einem ist, substantiviertes Verbum oder dynamisches Substantiv, keines finiten Verbums mehr bedarf. Und wiederum ist auch das Ich von der Auflösung betroffen. Ist es zu Beginn der Strophe noch vorhanden als Zuteiler von rechts und links, so geht es am Schluß ganz in das Wahrgenommene ein. Wind, Strom, Atem, Gebet, sind Synonyma geworden, Subjektives und Objektives durchdringen sich. Liest man die Schlußzeile spondäisch, wird die Einheit der Bereiche vollends deutlich. Die Schlußzeile ist neu. Das Rauschen des Wasserfalls ist nicht mehr das Medium, in dem sich Gott dem Menschen offenbart. Was nun im H7

V

mittleren und vermittelnden Bereich des Ohrs zusammenkommt sind Ich und Welt, Inneres und Äußeres, Subjektives und Objektives. Es ist eine lyrische Einheit entstanden in dieser Verschmelzung der Gegen¬ sätze. Darin liegt zwar noch eine Richtung auf Gott, das letzte Wort heißt „Gebet“, aber es ist nicht mehr eine augenblickshafte Kundgabe Gottes. Mit der Wasserfallstrophe ist das Gedicht bei der extremen Gegen¬ position zu der, von der es ausging, angelangt. Aber nicht mehr, wie in der Fassung von „Romanzen und Bilder“, auf seinem Höhepunkt. Denn so wenig die reflexive Starre einen minderen Zustand des Ich darstellt, so wenig die lyrische Aullösung einen höheren. Die Zerstreuung ist so wertfrei wie die Konzentration. Beides wiegt sich gegenseitig auf. So ist, was auf die dritte Strophe folgt, nicht mehr nur Nachspiel. In der neu dazugekommenen Schlußstrophe liegt, nicht nur äußerlich, der Unter¬ schied dieser zu allen vorangegangenen Fassungen. Die vierte Strophe ist in mehrfacher Hinsicht auf die erste bezogen. Sie verwendet dieselben Reimvokale ei — i, aber in umgekehrter Reihen¬ folge. Das Prinzip der Umkehrung bestimmt auch den Aufbau über¬ haupt. Wie in den Zeilen drei und vier der ersten ist das Ich in den Zeilen eins und zwei der letzten Strophe nur als Bezugspunkt gegen¬ wärtig. Wie hier in den Anfangs- wird es dort in den Schlußzeilen zum Subjekt. Das Possessivum

„meinem“

kehrt wieder.

„Felsenriff“

kor¬

respondiert bis auf die Stellung in der Strophe genau spiegelbildlich mit „Felsengrat“. „Feierlich“ aus der ersten Zeile erhält in der letzten mit der Nennung Gottes ein Pendant. Beiden Strophen sind auffallende Parallelstellungen und Assonanzen gemeinsam. Die erste und die letzte Strophe bilden somit einen Rahmen, die mittleren werden zu Binnenstrophen. Im Rahmen ist das Ich seiner selbst bewußt der Landschaft gegenübergestellt, in den Binnenstrophen löst es sich in die Landschaft auf. Das Ich, nachdem es in einen anderen Aggre¬ gatzustand übergegangen ist, kehrt zu seiner ursprünglichen Konsistenz zurück. Die dynamische ist in die statische Partie eingelegt. Da das ganze Gedicht nun spiegelsymmetrisch um eine Symmetrieachse zentriert ist, ist es selber überwiegend statisch. Aber die Schlußstrophe bezieht sich nicht nur auf den Anfang, sie führt in manchem auch die dritte Strophe weiter. Wie diese hat sie Akustisches zum Inhalt. Das Ich als hörendes bleibt dem Medium seiner Auflösung verhaftet. Doch die Einheit von Schweigen und Schall ist aus¬ einandergebrochen. Pfiff und Schrei brechen die Stille. Henel hat er-

158

kannt, daß im Geier der Adler der früheren Fassungen steckt72. Die Mutation scheint zugunsten der Assonanzenreihe erfolgt zu sein. Sie ist aber auch ein Symptom dafür, daß das Gedicht aufgehört hat, ein eigentliches Aufschwunggedicht zu sein. Wie der Geier in der Luft mit dem erdgebundenen Murmeltier konfrontiert wird,

so ist der Auf¬

schwung durch die Opposition zur Gegenmöglichkeit, dem Hingelagert¬ sein, ausbalanciert. Er hat seine Vorrangstellung eingebüßt. Als Geier ist der Adler seines Adels entkleidet. Dennoch endet das Gedicht mit der Zeile: „Und ich empfinde, daß Gott bei mir sei.“ Darauf ist zusammengeschrumpft, was in den ersten Niederschriften die ganze zweite Hälfte des Gedichts beanspruchte. Und hieß es früher: „O Glück, in deiner Gegenwart zu sein“, so ist diese Feststellung

nun

gebrochen,

in

einen

abhängigen

konjunktivischen

Nebensatz gefaßt. Aus der unmittelbaren Gewißheit ist eine Empfindung geworden, in der sich Gewißheit und Unsicherheit die Waage halten. Gott ist bei aller Nähe in eine gewisse Distanz gerückt. Die indirekte Formulierung hängt damit zusammen, daß die Selbstaussprache des Ich nicht auf einer Ebene mit der Landschaftsbeschreibung liegt. Sie zieht daraus das Fazit. Sie ist insofern die Pointe des Gedichts, als sie ent¬ schlüsselt oder mindestens andeutet, was im Vorangegangenen verborgen ist. Die Empfindung der Nähe Gottes ist für das Ich das Ergebnis des¬ sen, was es durchlaufen hat. Am Anfang war es nur der Landschaft gegenüber. Der Durchgang durch die Stimmung der mittleren Strophen hat es mit einer andern Möglichkeit seines Bewußtseins vertraut gemacht. Auf beide zurückblickend, beide in Murmeltier und Geier vor Augen, wird es sich seiner Identität bewußt, die jenseits beider liegt. Dabei ist nicht zu übersehen, daß im Verbum „empfinden“ noch ein Stimmungs¬ rest erhalten geblieben ist. Weil die Landschaft, die dem Ich noch immer vor Augen steht, die gegensätzlichen Erfahrungen vermittelt hatte, ist der Zugang zum Selbst nicht nur ein abstraktes Wissen. Mit „empfinden“ ist gewissermaßen das Identische in Sehen und Hören bezeichnet, ebenso wie mit „Selbst“ das Identische in den ihnen entsprechenden Bewußt¬ seinseinstellungen, Reflexion und Unmittelbarkeit. Daß der Schluß nicht einfach zum Anfang zurückkehrt, macht die letzte Zeile klar. Sie hat deutlich den Charakter einer Pointe, auf die das Gedicht in einer unumkehrbaren Bewegung hinläuft. Die Bemerkung, das Gedicht sei überwiegend statisch, die sich aus der Erkenntnis der Rahmenstruktur ergab, muß also berichtigt werden. Es hat zugleich einen

U9

\

einsinnigen Verlauf, ist also auch dynamisch. Dieses Gleichgewicht besteht in den früheren Fassungen noch nicht. Erst die letzte Umarbeitung machte die statischen Bezüge so deutlich, daß sie den ursprünglich domi¬ nierenden dynamischen die Waage halten. In der doppelt orientierten Schlußstrophe kommen beide Momente zusammen, nicht zur Synthese, sondern zu größtmöglicher Nähe. Das Ich ist einerseits wieder in seine Selbstbezogenheit zurückgekehrt. Aber es befindet sich in der Nachbarschaft von Lebendigem. Geier und Mur¬ meltier bilden als Raubvogel und Opfer nochmals die Antithetik nach, wie sie im Binnenteil bestimmend war. Die Veränderung gegenüber der Fassung aus „Romanzen und Bil¬ der“ besteht vor allem darin, daß kein einzelnes Phänomen mehr Gott zu offenbaren vermag. Der Wasserfall ist wieder eine Einzelheit unter andern. Gott steht damit hinter der Landschaft als ganzer. Überall müs¬ sen darin seine Spuren feststellbar sein. Wir haben gesehen, daß sich die Landschaft, wie das Gedicht sie schildert, aus Antithesen aufbaut. Der Gegensatz ist das ihr zugrundeliegende Prinzip. In ihm kündigt sich die Nähe Gottes an. Als sinnliches Paradox macht die Landschaft des Gebirges Gott offenbar. Gott ist nicht in einem Einzelnen praesent und nicht im ganzen, sondern die Phänomene verweisen auf ihn als auf die Einheit ihres Widerspruchs. Damit, daß der Widerspruch zum göttlichen Prinzip geworden ist, das die Landschaft durchwaltet, ist seine Umfunktionierung am Ende angelangt. In der ersten Fassung war die Antithese die Ausdrucksweise der starken Empfindung des Subjekts, das von Gott ergriffen war. Nun ist die Antithese zum Gesetz der Objektwelt geworden. Damit ist die Forderung Vischers nach der Objektivierung des Subjektiven endlich erfüllt. Indem aber Gott in einem Nebensatz genannt wird, der vom Ich abhängt, tritt er zu ihm in engste Beziehung. Die letzte kann denn auch nicht ohne die vorletzte Zeile genommen werden: Ich bin allein auf meinem Felsenriff. Bevor die Landschaft auf Gott hinführt, verweist sie das Ich auf sich selbst. Und zwar wiederum durch den Widerspruch. Wir haben gesehen, daß das Ich einerseits starr dem starren Gebirge gegenübersteht, daß es im Binnenteil mit ihm verschmilzt. Früher lag im Aufschmelzen die Annäherung an Gott. Nun ist dieses als Gegenpol zur reflexiven Selbst¬ behauptung ebensowenig gnadenhaft wie diese. Das Ich erfährt vor dem Gebirge den Widerspruch zweier Zustände seiner selbst, die beide nicht

160

sein Wesen ausmachen. Dieses ist als Einheit beider nicht mehr unmittel¬ bar erfahrbar. Aus der Ausdrucksform der unmittelbaren Ichemphase ist die Antithese zum Gesetz der Erscheinung des nicht mehr anders fa߬ baren Selbst geworden. Deshalb auch ist das Ich auf die Landschaft angewiesen. Allein durch ein Medium kann es seiner selbst inne werden. In den beiden letzten Zeilen sind Ich und Gott in Parallele gesetzt. Darin zeigt sich, daß der ursprüngliche theologische Ansatzpunkt noch immer beibehalten ist. Selbst und Gott hängen zusammen. Beide sind im Lauf der Geschichte des Gedichts aus dem Bereich des unmittelbar Erfahrbaren hinter die Phänomene zurückgetreten. Zu beiden ist die Berglandschaft der Zugang. In der ersten Fassung war das Gebirge wichtig als Anlaß für ein Augenblickserlebnis. Nun, da nichts Einzelnes mehr zum Gefäß der Offenbarung zu werden vermag, weder ein einzelnes Phänomen noch ein einzelner Moment, wird das Gebirge zum Ort der Himmelsnähe. Vom Zeitlichen ist die Offenbarungskraft an das Räumliche übergegangen. Der Raum wird zum Gleichnis der Ewigkeit, erst recht ein solcher, an dem in Eis und ewigem Schnee die Zeit stillzustehen scheint. Aber die Bergwelt ist nicht wie für den patriotischen Pantheismus des „Schwei¬ zerpsalms“ der bevorzugte Sitz Gottes, sondern sein reinstes und dauer¬ haftestes Gleichnis. Indem die letzte und endgültige Fassung von „Him¬ melsnähe“ dieses gestaltete, erfüllte sie die Bitte um Überwindung des Augenblicks, mit der die erste schloß.

.

V.

Die Entstehungsgeschichte von „Himmelsnähe“ läßt erkennen, daß es Meyer u. a. darauf ankam, Antithesen herauszustellen und antithetisch zu gestalten. Diese Tendenz läßt sich auch in seinen andern Gedichten und im erzählenden Werk nachweisen. Sie ist denn auch oft beschrieben worden. Wesen und Funktion dieser Antithetik läßt sich wiederum aus einem kurzen Vergleich mit Goethe verdeutlichen. In Goethes naturwissenschaftlichen Schriften spielt der Begriff der Polarität neben dem der Steigerung eine entscheidende Rolle. Goethe hatte ihn vom Magnet auf die Farben und schließlich auf alle Natur¬ phänomene übertragen. Selbst seine Freundschaft mit Schiller sah er unter diesem Zeichen. Polarität war ihm das Grundgesetz aller Erschei¬ nung: „Was in die Erscheinung tritt, muß sich trennen, um nur zu er161

11

Pestalozzi, Lyrisches Ich

V

scheinen.“73 „Erscheinen und Entzweien sind synonym.“74 Was Goethe mit Polaritäten meint, sind komplementäre Gegensätze. So kann er etwa sagen: „Wenn nun zwei aus derselben Quelle entspringende ent¬ gegengesetzte Phänomene, indem man sie zusammenbringt, sich nicht aufheben, sondern zu einem dritten angenehm Bemerkbaren verbinden, so ist dies schon ein Phänomen, das auf Übereinstimmung hindeutet. Das Vollkommenere ist noch zurück.“70 Die Beobachtung, die Goethe zu die¬ ser Feststellung führte, war die, daß die Mischung von Gelb und Blau Grün ergibt. Das Vollkommenere, auf das die neue Einheit hindeutet, ist die elementare Kraft, aus welcher die Polarität entsprang. In ihr wird die Einheit der Pole offenkundig. — Welch fundamentale Bedeutung diesem Befund zukam, zeigt sich in dem Satz: „Das Wahre ist gott¬ ähnlich: es erscheint nicht unmittelbar, wir müssen es aus seinen Mani¬ festationen erraten.“76 Das scheint in die Nähe unseres Gedichts zu führen. Aber die Gegensätze, auf die es Meyer ankommt, sind nicht komplementär, son¬ dern kontradiktorisch. Ihr Modell ist der Gegensatz Leben-Tod. Sie heben sich gegenseitig auf. So können sie nicht ein Drittes ergeben, son¬ dern nur bis zum Paradoxon enggeführt werden. Das Paradoxon aber ist nicht eine Manifestation Gottes im Goetheschen Sinne; denn es führt aus der Welt heraus in ein Jenseits. Es zeigt die Unvereinbarkeit von Gott und Welt. Rosenfeld hat in bezug auf Meyer von einem „gebro¬ chenen Pantheismus“ gesprochen77. Mit diesem Stichwort ist die Sache recht gut getroffen. Gott kann sich bei Meyer nicht mehr in allen Din¬ gen, sei es unmittelbar oder indirekt, manifestieren. Die Erscheinungen verweisen dort auf ihn, wo sie widersprüchlich sind. Widersprüchlichkeit bedeutet Unerlöstheit. In einem Brief aus Rom schreibt Meyer an seinen frommen Freund Friedrich von Wyss: „. . . gerade das relativ Vollkom¬ mene gibt uns das traurige heidnische Gefühl der wie ein Ring sich in sich selbst schließenden Menschheit, während ein realistisch behandeltes Werk, das, jener lächelnden uns selbstgenügsamen Idealität ermangelnd, leidende Körper und ringende Geister zeigt, uns, durch den Gegensatz unserer Gebrechen auf die erlösende himmlische Vollkommenheit hin73 74 75 76 77

Goethe, Werke a.a.O. S. 864 A.a.O. Bd 17, S. 700 A.a.O. Bd 16, S. 188/9 A.a.O. Bd 17, S. 700 Hellmut Rosenfeld, Das deutsche Bildgedicht. Leipzig: Mayer u. Müller 1935 (Palaestra 199) S. 202

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weist. Wo die Kunst die Leidenschaften reinigt, d. h. der Mensch sich selbst beruhigt und begnügt, entsteht die Vorstellung einer trügerischen Einheit, während wir (und so photographiert uns auch die realistische Kunst) doch so gründlich zwiespältig und nur durch ein Andres als wir, durch Gott, zu heilen sind.“78 Im Gegensatz ist zugleich dessen Antithese, die Einheit, impliziert. Was dieser Brief noch unter dem Aspekt von Sünde und Gnade sieht, wird später bei Meyer zu einer Art natürlicher Theologie, aus dem theologischen ein logisches Verhältnis. Zu dieser Konzeption war Meyer durch Pascal gekommen, den er in Prefargier und Lausanne in der Darstellung Vinets kennengelernt hatte79. Rosen¬ feld verwendet auch den Ausdruck „dialektischer Pantheismus“80. Das kann nicht so verstanden werden, als sei Gott die Synthese der Gegen¬ sätze, als offenbare er sich innerhalb der Zeit. Dialektisch kann nur der Prozeß heißen, durch den der Mensch Gott durch die Vermittlung von Antithesen und Paradoxien erkennt; wie ja denn die letzte Zeile von „Himmelsnähe“ sich aus dem Durchgang durch die vorangegangenen Strophen ergibt. Diese logische ist aber keine historische Dialektik. In einer solchen erhielte der zeitliche Verlauf göttliche Relevanz. Meyer sucht jedoch gerade aus der Zeit ins Zeitlose vorzustoßen. In seinen Balladen und historischen Novellen liebt er es, den einsinnigen Ablauf durch einen Rahmen aufzufangen. Auch die Geschichte wird so zur Landschaft, in welcher antithetische Strukturen auf Gott verweisen. — Gott ist für Meyer nicht so sehr der Allgegenwärtige als der Gerechte, und das in einem fast juristischen Sinn. Er bevorzugt nicht einen ein¬ zelnen Ort oder Moment, sondern verfährt nach dem Grundsatz des audiatur et altera pars. Im Neben-, ja Ineinander entgegengesetzter Zustände oder Charakterzüge wird seine Gerechtigkeit ahnbar. Deshalb können etwa Paulus und Thomas Becket seine Zeugen sein. In der Schlußstrophe der ersten Fassung von „Himmelsnähe“ konnte Gerech¬ tigkeit dem augenblickshaften Erfassen Gottes entgegengehalten werden. Für Goethe lagen die Polaritäten klar vor Augen. Er konnte sie als Naturforscher oder als Dichter sprachlich wiedergeben. Mit der Antithetik bei Meyer verhält es sich anders. Sie ist nicht natürlich. Dem unbefangenen Auge, und blicke es noch so rein, ist sie verborgen. Erst der Dichter bringt sie im Gedicht zu Tage. Mit den Mitteln dichterischer Darstellung arbeitet er sie aus der Realität heraus. Das Gedicht hat 78 79 80

Briefe I, S. 59/60 Lusser a.a.O. S. 64 ff. A.a.O. S. 202; 213

16 3 11*

V

damit offenbarende Funktion. Es stellt Realität so dar, daß darin die auf Gott verweisende Antithetik sichtbar wird. Dabei sind zwei falsche Möglichkeiten zu vermeiden: Weder kann Realität so, wie sie sich dem täglichen Betrachter darbietet, in das Gedicht eingehen, denn als solche wäre sie blind. Noch kann die Antithetik an sich wiedergegeben werden. Mit der Konkretheit büßte sie ihre allgemeine Legitimation ein. Sie er¬ schiene als willkürliche Unterstellung des Dichters. In dem oben zitierten Brief an Fr. von Wyss gebraucht Meyer „realistisch“ bezeichnenderweise im Sinne einer zwiespältig dargestellten Wirklichkeit. Als Vorform seiner so verstandenen „realistischen“ Gedichte hat Meyer einen Gedichttypus gepflegt, der aus den beiden oben skizzierten einseitigen Möglichkeiten zusammengesetzt war: das sog. „Gleichungs¬ gedicht“81, in dem erst eine Gegenständlichkeit geschildert und dann ihre abstrakte Bedeutung nachgetragen wurde. Beispiele dafür sind „Das heilige Feuer“, „Mövenflug“, „Auf dem canal grande“. Dieser Typus geht auf das barocke Emblemgedicht zurück82. Als Vermittler zu Meyer hin kommt wiederum die pietistische Tradition in Frage. Wir haben gesehen, daß sich auch „Himmelsnähe“ in einer frühen Phase dem Gleichungsgedicht annäherte. Am Schmelzen des Schnees las das Ich seinen eigenen Zustand ab. In der letzten Fassung sind Sinnbild und Deutung in eins genommen. Deshalb konnte der Adler ohne weite¬ res als Geier in die Landschaft eingehen. Das Ich, das ursprünglich das Verglichene war, ist in das Gleichnis aufgenommen. Ich und Welt sind nun wechselseitig Metaphern. Auf der andern Seite hatte „Himmels¬ nähe“ von Anfang an das Aussehen eines Erlebnisgedichts. Die Identität zwischen Ich und Landschaft, wie sie damit supponiert war, hat sich im Verlauf der Umarbeitung als Gleichheit herausgestellt. Das tertium ist wiederum die antithetische Struktur. Von da aus kann auch auf den umstrittenen Symbolismus Meyers etwas Licht fallen, wobei noch einmal die Abgrenzung von Goethe hilf¬ reich sein kann. Goethe begegneten Symbole in der Realität. Sie waren

81 82

Henel, Gedichte: Nachwort S. 145 Rosenfeld a.a.O. S. 218. Als Vermittler der Emblematik kommen die oft aufgelegten „Erbaulichen Sinnbilder“ zu Joh. Arnds „Wahrem Christentum“ in Frage. Vgl. Hans Zeller, Von den Quellen des „Römischen Brunnens“. Zürichsee-Zeitung Nr. 122, 27. Mai 1966. — Ders., Abbildung des Spiegel¬ bilds. C. F. Meyers Verhältnis zurv bildenden Kunst am Beispiel des Ge¬ dichts „Der römische Brunnen“. GRM 49 (N. F. 18) 1968, S. 72—81

164

ihm „eminente Fälle“83, welche eine Reihe ähnlicher repräsentieren. Die Dichtung griff sie auf und suchte mit dem Mittel der wechselseitigen Spiegelung ihre Bedeutung transparent zu machen. Bei Meyer gibt es keine Symbole in diesem Sinn, sondern nur symbolistische Dichtung. Da¬ mit soll gesagt sein, daß erst in der dichterischen Gestaltung natürliche Phänomene symbolisch werden. Henel hat erarbeitet, daß Meyer über eine relativ beschränkte Zahl von „Symbolen“ verfügte, die er seinen Dichtungen einzubauen suchte. Die Beispiele, die er anführt, etwa „Weiße Blüten der Nacht“, „Nachen ohne Ruder“, „Der verheiratete Mönch“84 sind durchweg enggeführte Antithesen. Die Gedichte zeigen, daß Meyer nicht nur auf sie angewiesen war. In ihnen waren ihm sozusagen sinn¬ liche Paradoxien am leichtesten zur Hand. Grundsätzlich konnte ihm in Natur und Geschichte alles zum Symbol werden, woran sich ein Widerspruch aufweisen ließ. — Staiger sah in der Konzentration auf wenige Symbole oder ein einziges das Spezifische von Meyers Symbo¬ lismus85. Der Zug zur Konzentration läßt sich an manchen Umarbeitun¬ gen, in gewisser Weise auch an der Entwicklung von „Himmelsnähe“ nachweisen. Auch die Beschränkung hängt mit der antithetischen Struk¬ tur zusammen. Denn nur dort tritt sie deutlich hervor, wo nicht eine Fülle zusätzlicher Motive sie verdunkelt. „Zwei Segel“ ist dafür ein reines Beispiel. Faßt man „Symbolismus“ für Meyer so, daß es bei ihm nur dich¬ terische Symbole und nur solche mit antithetischer Struktur gibt, so nähert sich dieses Verständnis des Symbols wieder dem religiösen. Symbolisiert wird immer ein Jenseitiges. Dabei ist freilich nicht zu über¬ sehen, daß der stoffliche Gehalt fast ganz hinter einer Struktur oder Konstellation zurücktritt. Da den Phänomenen ihre symbolische Bedeu¬ tung nurmehr durch ihre dichterische Behandlung zukommt, sind die Mittel der Darstellung von entscheidendem Gewicht. Durch die Form werden antithetische Konstellationen geschaffen. An

„Himmelsnähe“

ließ sich die Funktion von rhetorischen Figuren beobachten, Parallelis¬ mus, Chiasmus usf. Auch Strophenbau und Reimschema kommt symbo¬ lisierende Kraft zu. Alle diese Elemente machen jene Gedichtform aus, die Henel als „statische“ beschrieben hat. 83

Goethe an Schiller am 16. August 1797. Diese Symboldeutung gilt denn auch v. a. in dieser Epoche Goethes.

84 85

Henel, Poetry. passim Emil Staisger, Das Spätboot, zu C. F. Meyers Lyrik. Die Kunst der Inter¬ pretation. Zürich: Atlantis 1955. S. 254

Indem das Gedicht Realität in ihrer Widersprüchlichkeit gestaltet, ist es zugleich als einheitliches Gebilde ein Vor-schein dessen, worauf diese verweist. Es macht sichtbar, daß die Gegensätze eins sind. Was Meyer im Brief an Wyss „Erlösung“ nannte, deutet sich darin an. Darum kam auf die Vollendung eines Gedichts soviel an. Da die Erlösung im Gedicht gleichsam verbürgt werden soll, hat der Dichter ein religiöses Amt. Daß sich Meyer so verstanden hat, be¬ zeugen verschiedene Äußerungen. Das Gedicht „Das heilige Feuer“ stellt den Dichter den Vestalinnen an die Seite. Adolf Frev überliefert den Ausspruch: „Ehe sich Machiavell zum Schreiben niedersetzte, zog er sein Feierkleid an. Ein verwandtes Gefühl überkommt mich, wenn ich mich an die Arbeit begebe. Mir ist, ich betrete die Schwelle eines Tempels.“86 Von der ersten Fassung von „Himmelsnähe“ an bestand zwischen Gott und Ich ein Zusammenhang: Im Augenblick, in dem der Mensch einer göttlichen Einwirkung teilhaftig wurde, wurde er auch seines wahren Wesens inne, da dieses seinen Ursprung in Gott hatte. Die alte Gottebenbildlichkeit, wenn nicht gar Gottgleichheit, stellte sich wieder her. Das wahre Ich, das Selbst, erweist sich somit als ein allgemeines jenseits aller individuellen Ausprägungen. Beides konnte momentweise eins werden. Die Einheit zwischen Gott und Ich-Identität drückt ein früher Brief Meyers an Nüscheler folgendermaßen aus: „Lieber Freund, tout casse, tout lasse, tout passe. Die Mutter Natur zeichnet ein Gesicht, röthet die Backen, rundet es, macht den Schnauz, verstärkt die Schat¬ ten, zieht die Falten, und am Ende hat sie es satt und legt es weg. Was bleibt? Was hält: nur der feste Punkt: Gott und Heiland. Da ist Licht, Kraft. Jugend. Bestand und Liebe.“87 Was im Augenblick eins war, ist hier unterschieden: Das Leben des Menschen in der Zeit und der Fix¬ punkt seiner Identität. Dieser bleibt in der Transzendenz. Somit gilt das oben über das Verhältnis des Gedichtes zu Gott Gesagte auch für seinen Bezug zum Selbst. Die Arbeit am Gedicht ist zugleich eine Arbeit an der eigenen Identität. Da diese nicht mehr unmittelbar erfahrbar ist, bedarf sie innerhalb der Empirie eines Repräsentanten und Garan¬ ten noch mehr als Gott, der in einer überlieferten Dogmatik fixiert ist. Das fertige Gedicht garantiert das Selbst als die Identität des Ich. Meyer sah seine Arbeitsweise in Analogie zu derjenigen Michelangelos. „Ich stehe, wie M. Angelo sagt, vor dem Stein und sage mir stündlich: 86 87

Adolf Frey, a.a.O. S. 286 Vgl. Anm. 54

166

Courage, es steckt darin, es handelt sich nur darum, es herauszukrie¬ gen.“88 Der Stoff, der Michelangelos Material entspricht, ist bei Meyer off etwas Geschichtliches oder sonst literarisch Überliefertes. Im Fall von „Himmelsnähe“ ist es ein eigenes Erlebnis und seine erste Formulierung in einem Stimmungsgedicht. „Stimmung“ war noch die erste Abteilung in „Romanzen und Bildern“ überschrieben. Wort und Sache gerieten später bei Meyer in Mißkredit89. Friedrich von Wyss erklärte er einmal, daß er die Güte haben müsse, „die Stimmung, welche bei Leuten meiner Gattung stark ist, von dem Bleibenden immer zu unterscheiden.“90 Die Umarbeitungen hatten zum Ziel, das Bleibende aus der Stimmung her¬ auszuarbeiten. Dem Erlebnis war dann Gerechtigkeit widerfahren, wenn es in seiner Ambivalenz erschien. Das Moment der Erstarrung, das zu¬ nächst nur eine kleine Unstimmigkeit schien, mußte zum gleichwertigen Gegensatz der Aufschmelzung erhoben werden. Meyer verfuhr auch darin wie Michelangelo, daß seine Arbeit in verschiedener Hinsicht ein Wegschlagen war. Weggenommen wurde alles Zufällige, die Landschaff um den Jochpaß ist schließlich kaum mehr wiederzuerkennen. Reduziert wurde der Umfang. Die herausgearbeitete Widersprüchlichkeit soll im Gegensatz zur trüge¬ rischen Stimmungsharmonie eine wahre Einheit verbürgen. Diese ist andrerseits auch der Auflösung in lauter isolierte Ichmomente entgegen¬ gesetzt, wie sie der Begriff der Stimmung gleichfalls impliziert. In der Behandlung historischer Gestalten ging Meyer so vor, daß er die bunte Mannigfaltigkeit auf wenige große Züge reduzierte. Darauf bezieht sich ein Ausspruch, den Betsy mitteilt: „In der Wirklichkeit sind die Leute weniger einheitlich. Sie sehen sich selbst nicht immer ähnlich.“91 Die Ähn¬ lichkeit mit sich selbst bestand bei Hutten, Jenatsch, Thomas Becket, Pescara in derselben rätselhaften paradoxen Zwiespältigkeit wie beim Ich aus „Himmelsnähe“. Mit sich identisch ist für Meyer nur der Mensch im Widerspruch. So sehr aber bei Meyer das Gedicht die mit Gott zu¬ sammenfallende Identität verbürgt, es ist sie nicht selbst. Es bleibt reali¬ stisch, d. h. der empirischen Welt verhaftet. Es tritt in den Funktions¬ bereich der Religion, ohne religiös zu sein. Gerade die Ausrichtung auf Gott, im Hinblick auf Nietzsche formuliert: die Beibehaltung Gottes, bewahrt es davor, für sich selber Göttlichkeit zu beanspruchen. 88 89

An Rahn am 18. Jan. 1872. Briefe I, S. 232 Walter Köhler, C. F. Meyer als religiöser Charakter. Jena 1911 S. 228

90 91

Zit. bei Köhler S. 227 Betsy Meyer, Conrad Ferdinand Meyer. S. 177 167

Baudelaire „Elevation“ Charles Baudelaire, GEuvres completes. Notice, notes et eclaircissements de J. Crepet. Paris: Conard 1922 ff. Charles Baudelaire, GEuvres completes, texte etabli et annote par Y.-G. Le Dantec, ed. revisee, completee et presentee par Claude Pichois. Paris: Gallimard 1961 (Bibliotheque de la Pleiade) [zit. CEuvres] Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal, notes par Antoine Adam. Paris: Garnier 1959 Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal, ed. etablie par Jean Pommier et Claude Pichois. Club des Libraires de France 1959 Baudelaire, Les fleurs du mal. Die Blumen des Bösen. Aus dem Fran¬ zösischen übertragen von Friedhelm Kemp. Frankfurt: Fischer 1962 (FischerBücherei, Exempla classica 63)

Baudelaire in diese Arbeit und an dieser Stelle einzubeziehen, bedarf kurz einer Rechtfertigung. Darüber, daß mit Baudelaire die moderne Lyrik beginnt, besteht ein allgemeiner Konsensus. Auch die Erneuerung der deutschen Lyrik in den achtziger Jahren verdankt sich der Über¬ nahme der Anstöße, die von ihm ausgingen. Sie legitimierten gewisser¬ maßen die Ablösung von der goethezeitlichen Lyriktradition. Dabei hat gerade die jüngere Forschung gezeigt, daß Baudelaires Lyrik stark von Anregungen bestimmt war, deren Quelle in der deutschen Frühromantik, ja bei Schiller lagen1, so daß man etwas überspitzt sagen kann, daß sich mit Baudelaires Piilfe in der deutschen Lyrik der in Schiller kulminie¬ rende Traditionsstrang wieder gegen den von Goethe herkommenden durchsetzte. Im Verhältnis zu Meyer ist Baudelaire sowohl älter als auch jünger. Älter insofern,

1

als er der Tradition zugehörte,

die in

Vgl. Edgar Löhner, Schiller und die moderne Lyrik. S. 33 ff. — Hugo Fried¬ rich, Die Struktur der modernen Lyrik. Hamburg: Rowohlt 1956. (rororoEnzyklopädie) 3. Aufl. 1967. — Werner Vordtriede, Novalis und die fran¬ zösischen Symbolisten. Stuttgart: Kohlhammer 1963. (Sprache und Lite¬ ratur Bd 8)

168

Deutschland vor dem Aufkommen der Erlebnislyrik dominiert hatte; jünger, weil der später geborene Meyer, wie wir sehen konnten, sich erst aus der von Goethe geprägten Lyrik herausarbeiten mußte und da¬ her nur in Ansätzen dorthin gelangte, wo Baudelaire stand. Meyer scheint zudem von Baudelaire keine Notiz genommen zu haben. Die viel besprochenen romanischen Einflüsse auf ihn entstammten einer frü¬ heren Periode. So mag es denn legitim sein, gegen die Chronologie Baudelaire nach Meyer zur Sprache zu bringen. Jedoch, es soll nicht der Eindruck entstehen, als gehe es hier vor allem um die Darstellung einer Entwicklungskette in ihren einzelnen Gliedern. Unser Interesse gilt nicht so sehr einem historischen Konnex. Dazu ist das Verfahren der Einzelinterpretation ungeeignet, die je¬ weilige Textbasis zu schmal. Wir sehen vielmehr die Gedichte, die wir ausgewählt haben, in einer idealen Gleichzeitigkeit. Diese beruht nicht nur darauf, daß sie alle demselben halben Jahrhundert angehören; sie ist vielmehr geschichtstheologischer Art. Alle versuchen jene Frage zu beantworten, die wir an Schillers Gedicht „Das Ideal und das Leben“ zu fassen suchten, die Frage nämlich, wie nach der kopernikanischen Wende der Mensch zu einem Fixpunkt gelangen könne, der, obwohl von der Vergänglichkeit aus konzipiert, dennoch Ewigkeit und Absolut¬ heit beanspruchen dürfe. Baudelaire als der seiner Wirkung nach bedeu¬ tendste europäische Lyriker des Jahrhunderts darf in einem Katalog der Antworten, der einigermaßen repräsentativ sein will, nicht fehlen. Das vorhin flüchtig berührte Verhältnis von Meyer und Baudelaire läßt sich verdeutlichen durch einen Blick auf Baudelaires Jugendgedicht „Incompatibilite“2, das als Berggedicht mit „Himmelsnähe“ soviel Ähn¬ lichkeit hat, daß die Differenz sich daran leicht ablesen läßt. Baudelaire verfaßte es mit siebzehn Jahren nach einem Ausflug mit seinem Stief¬ vater in die Pyrenäen. „Incompatibilite“ beschwört zunächst in fünf vierzeiligen Strophen die Bergwelt als B.aum jenseits alles Bewohnten und Belebten. Inbegriff dieser todähnlichen Leblosigkeit ist ein Bergsee von erhabener Unbewegtheit.

Im Zusammenhang mit ihm fällt das

Schlüsselwort „silence“. Die Stille wird durch Geräusche, die von fern andringen, noch spürbarer. So mündet die Beschreibung in die Strophe: Sous mes pieds, sur ma tete et partout, le silence, Le silence qui fait qu’on voudrait se sauver,

2

Baudelaire, CEuvres, S. 193. Das Gedicht entstand 1838.

169

V

Le silence eternel et la montagne immense, Car l’air est immobile et tout semble rever. Die beiden Schlußstrophen versuchen darauf hypothetisch eine Aus¬ deutung der von Stille beherrschten Bergeinsamkeit. Zunäcnst wird ver mutet, daß sich der Himmel im See spiegle und die Berge ein göttliches Geheimnis vernehmen. Ähnlich wie in der einen Fassung von „Himmels¬ nähe“ erscheint die Stille als Offenbarung Gottes. Doch diese richtet sich bei Baudelaire nicht an den Menschen. Er versteht sie nicht. Die geo¬ graphische Himmelsnähe macht ihm gerade seine Gottferne bewußt. Der Aufstieg vermochte ihn nicht zu Gott zu führen. Anders als bei Meyer ist hier Gott dem Menschen auch nicht mehr indirekt zugänglich. Dieser weiß zwar noch von ihm, aber zitiert eine zweifelhaft gewordene Mög¬ lichkeit — „on dirait“ —, wenn er die Stille auf Gott hin deutet. Die Stille ist für ihn zum Schweigen geworden. — Die Schlußstrophe deutet eine aufschwebende Wolke, die sich im See spiegelt, auf einen

„esprit

qui voyage et passe dans les cieux“. Diese Deutung ist mit „on croirait eingeleitet. Ihr wird größere Wahrscheinlichkeit beigelegt, ja sie scheint die Begründung dafür zu sein, daß der Mensch Gott nicht vernimmt. Dem schattenhaften, vom Körper befreiten Geist ist der Aufschwung ge¬ währt.

Der Tod bringt

den Menschen

mit Gott in

Verbindung.

Die

tote Wüste der Gebirgslandschaft vermag davon erst eine vage Ahnung zu

vermitteln,

solange

der Mensch,

der zu ihr

aufgestiegen ist,

noch

lebt. Die Distanz zwischen Gott und Mensch ist radikaler als die zwischen Gebirge und bewohnten Niederungen. Deshalb kommt in der Höhe die Empfindung „daß Gott bei mir sei“ nicht zustande. Die radikale Differenz zwischen Mensch und Gott, die noch unbehol¬ fen in

diesem

Jugendgedicht zum

Ausdruck

kommt,

gibt Baudelaires

Hauptwerk den Rahmen. Dieses bemüht sich unablässig darum,

diese

Differenz aufs neue zu nennen und zu überbrücken. Nun wird jedoch Baudelaires Bedeutung allgemein gerade darin gesehen, daß er mit den „Fleurs du Mal“

den Bereich der Lyrik nach unten, nach den aesthe-

tischen, moralischen, sozialen und sensuellen „Niederungen“ hin erwei¬ tert habe. Eine Frage nach Aufschwüngen hätte somit wenig Chancen, eine Antwort zu finden. Doch Baudelaire selbst hatte zur Rechtfertigung seines inkriminierten Gedichtbuches

angeführt:

„Je

repete

qu un livre

doit etre juge dans son ensemble. A un blaspheme j’opposerai des elancements vers le Ciel, ä une obscenite des fleurs platoniques.“0 Das war

3

Notes et documents pour mon avocat. CEuvres S. 181. Cherix spricht in

170

ein Argument zu Händen seines Advokaten. Trotz dem Titel der ersten Abteilung „Spleen et Ideal“ ist die tatsächliche Gewichtsverteilung da¬ mit nicht bestimmt. Der Vogel Albatros, der aus der Höhe herunter¬ gekommen ist und nun unter den Menschen herumhinkt, ist dafür das richtigere Vorzeichen. Die Parität von Blasphemie und Aufschwung besteht jedoch tatsäch¬ lich zwischen den Gedichten und den übrigen Teilen von Baudelaires Oeuvre. „Les paradis artificiels“ und die Schriften über Richard Wagner etwa sind durchgängig bestimmt von der Frage, wie sich der Mensch aus der ihn innen und außen umdrängenden Wirklichkeit in die reine Höhe aufschwingen könne. Dabei sah Baudelaire im „goüt de Plnfini“4 keine

private

Marotte,

sondern

ein

Streben

und

eine

Sehnsucht,

die

dem Menschen von Natur innewohnen. Er setzte die Möglichkeit gnaden¬ haft erhöhter Zustände immer voraus. Sein Interesse galt den Metho¬ den, sie herbeizuführen. Innerhalb reinste

der

Beispiel

„Fleurs

eines

du

Mal“

„elancement

ist

vers

das le

Gedicht

Ciel“.

„Elevation“

Seine

das

Vorstellungen

berühren sich so eng mit manchen Stellen des Wagner-Aufsatzes,

daß

man schon vermutet hat, es sei unter dem Eindruck wagnerscher Musik entstanden5. Doch ist das chronologisch nicht möglich. Das Verhältnis scheint gerade umgekehrt zu sein: die Musik Wagners aktualisierte später in Baudelaire, was „Elevation“ entworfen hatte.

seinem Kommentar davon, daß ein platonischer Zug als Nebenströmung die Fleurs du mal durchziehe. Robert Cherix, Commentaire des Fleurs du mal, Essai d’une critique integrale. Paris: 1949. S. 28 f. 4

5

Das einführende Kapitel von „Le poeme du Haschisch“ mit dem Titel „Le goüt de l’Infini“ ist als Hintergrund des Gedichtes „Elevation“ außerordent¬ lich wichtig. Doch hat es sich als notwendig erwiesen, bei der Interpretation primär vom Wortlaut des Gedichts auszugehen. Richard Wagner et Tannhäuser ä Paris. CEuvres S. 1208 ft. An dem Aufsatz über Wagner ist besonders Baudelaires Versuch bemerkenswert, auf gewisser¬ maßen demokratischem Weg, aus dem übereinstimmenden Zeugnis von drei verschiedenen Wagner-Hörern, die Objektivität der durch die LohengrinOuvertüre ausgelösten Elevation zu beweisen. Das beleuchtet die Proble¬ matik, in die die Annahme einer sprachlosen Offenbarung gerät, wie sie das Gedicht „Elevation“ am Schluß proklamiert. — Der Hinweis auf einen mög¬ lichen Zusammenhang von Lohengrin-Ouvertüre und den Gedichten „Ele¬ vation“ und „Correspondances“ wird von Crepet in seinem Kommentar zu „Richard Wagner et Tannhäuser“ aus dem Kommentar von Ernest Ray¬ naud übernommen, aber merkwürdigerweise nicht widerlegt. Nach allem, was über Baudelaires Zugang zu Wagner bekannt ist, kann das zeitliche Verhält¬ nis jedoch nur umgekehrt sein. —

171

Der Titel „Elevation“ zitiert eine Tradition, die durch die Namen Bossuet und Alfred de Vigny bezeichnet ist. Bossuet schrieb zu Ende des 17. Jahrhunderts seine „Elevations a Dieu sur tous les Mysteres de la religion Chretienne.“6 Es handelt sich dabei um kürzere Andachten in feierlicher Prosa über die Hauptpunkte der christlichen Dogmatik. Sie sind an eine geistlich interessierte Zuhörerschaft gerichtet und glie¬ dern sich, jedoch ohne Strenge, in Text, Auslegung und Paränese. Die andächtigen Zuhörer sollen belehrt und zugleich erbaut, d. h. innerlich zu Gott erhoben werden. — Auf Bossuet bezieht sich die Definition im „Littre“: „Elevation: Genre de composition litteraire inspire par uri mouvement d’elevation vers Dieu.“7 Sie ist dahin zu ergänzen, daß diese literarische Gattung die Erhebung zu Gott nicht allein zur Quelle der Inspiration hat, sondern sie auch als Wirkung auf Zuhörer und Leser intendiert. Stilistisch wird diese Absicht im rhetorischen, ja emphatischen Stil faßbar, in dem sich Argumentation und Suggestion verbinden. Es läßt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob Vigny bewußt und direkt an Bossuet anknüpfte oder durch andere Mittler mit dieser Tradition in Verbindung getreten war, als er 1829 plante, einer Gruppe von zwölf Gedichten den Sammeltitel „Elevations“ zu geben. Die innere Nähe zu Bossuet ist jedoch unverkennbar. Auch Vigny verwendet den Titel als Gattungsbezeichnung, alternierend mit gründete

er

das

ausführlich:

„J’ai

„poeme“.

nomme

ces

In einem Brief be¬ poemes

Elevations,

parce que tous doivent partir de la peinture d’une image terrestre pour s’elever ä des vues d’une nature plus divine et laisser (autant que je le puis faire) l’äme qui me suivra dans des regions superieures: la prendre sur terre et la deposer aux pieds de Dieu.“8 Auch in dieser Begründung geht es um Gehalt und Wirkung. Ein Gedicht dieser Gattung soll, offenbar ganz ähnlich, wie es Schiller vorgezeichnet hat, einen Perspektivenumsprung enthalten, wobei jedoch nicht ganz deutlich wird, ob irdisches Bild und göttlicher Aspekt zum selben Objekt oder zu ver¬ schiedenen Gegenständen gehören. Der Verlauf des Gedichtes zeichnet dem Leser die Bahn vor, die er nachzuvollziehen hat und die ihn von der Erde in den Himmel erhebt. Anders als bei der Paränese sind Aufforderung und Ausführung hier simultan. Die Gemeinsamkeit der Konzeption der Gattung bei Bossuet und 6 7 8

Bossuet, CEuvres completes ed. par F. Lachat. Vol. VII. Paris 1914 Littre Bd III, 1958 Alfred de Vigny, Poemes. Notes et eclaircissements par F. Baldensperger. Paris: Conard 1914. S. 359

172

Vigny macht auf jenen grundlegenden Unterschied aufmerksam, der uns in anderem Zusammenhang, innerhalb der deutschen Entwicklung, schon bei den Vorstudien auf fiel. Bossuets Andachten suchten die christlichen Heilswahrheiten mitzuteilen in der Weise, daß das intellektuelle Begrei¬ fen von der Erhebung der Seele begleitet wurde, so daß die unmittelbare Erkenntnis die begriffliche stützte, ja auch in gewissen Grenzen beglau¬ bigte. Vigny spricht von seinen Gegenständen nur ganz allgemein. Sie sind nicht mehr die christlichen, ja sie werden bestimmt nur im Hinblick auf die Wirkung. Diese besteht nicht mehr in begrifflicher Einsicht, nur noch in stimmungshaffer Erhebung, wenn nicht gar in Rührung. Ver¬ bindlichkeit der Wirkung garantiert anstelle der allgemeinen erhabenen Gegenstände die erhabene poetische Form. Vigny behielt zwar den Na¬ men Gottes bei, sowohl im zitierten Programmbrief als auch in den Ansätzen zu dessen Realisierung. Aber „Gott“ gibt nur der hohen Gestimmtheit der Seele die Weihe zum obersten Wert. In der Elevation „Les amants de Montmorency“9, einer sentimentalen Liebesgeschichte, unterlassen es die Liebenden, ihrem durch die Todesnähe gesteigerten Gefühl noch den Namen Gottes zu geben; sie werden dafür vom Dichter getadelt, obwohl sie darin konsequenter sind als er. Ähnlich wie der „schönen Seele“ war ihm „göttlich“ Synonym von „erhaben,, und „in¬ tensiv“ in bezug auf die Empfindung. Damit hängt zusammen, daß er nicht mehr an die Gefolgschaft einer Gemeinde, sondern einer Einzel¬ seele dachte. Die Lebendigkeit dieser Gattung im weiteren geht daraus hervor, daß Mallarmes Jugendfreund Emmanuel des Essarts 1865 einen Gedichtband mit dem Titel „Les Elevations“ veröffentlichte, dessen letzte Abteilung übrigens unter dem Stichwort „Excelsior“ stand10. Laut Vivier hat Baudelaire von Vigny den Titel „Elevation“ ent¬ lehnt11. Bei näherem Hinsehen gewinnt man den Eindruck, er habe sich noch weitergehend auf ihn bezogen, und zwar auf „Les amants de Montmorency“. Nicht nur ist darin die Dreiteilung, die Baudelaires Gedicht gliedert, vorgezeichnet, innerhalb der drei Teile lassen sich ein¬ zelne

9 10

11

konkrete

Anklänge

feststellen.

Bei

Vigny

werden

zu

Beginn

A.a.O. S. 15 5—159 Mallarme, Correspondance, ed. par Henri Mondor. Paris: Gallimard 1959. I, S. 153. Dem abschätzigen brieflichen Urteil über die Gedichte von Des Essarts steht die lobende öffentliche Empfehlung in „La derniere mode“ gegenüber. Mallarme, CEuvres (Pleiade) S. 803 Robert Vivier, L’originalite de Baudelaire. Bruxelles 19653 S. 220

173

\

„Esprits qui le savez“ angesprochen wie bei Baudelaire „mon esprit“. Die Liebenden sehen auf ihrem Weg die Landschaftselemente wie Spiel¬ zeug zu ihren Füßen liegen, sie werden einzeln aufgezählt, ähnlich wie Teiche, Täler etc. in der ersten Strophe bei Baudelaire. Im zweiten Teil heißt es bei Vigny: Et les fleurs exhalaient de suaves odeurs Autant que les rayons de suaves ardeurs12 Bei Baudelaire stehen an der entsprechenden Stelle ebenfalls Düfte und Feuer der Sonne zu einander in Opposition. Und selbst der be¬ rühmte Schluß deutet sich an, wenn es bei Vigny heißt: „Le parfum est le secret langage.. .“13, und wenn die Blumen sprechen. Eindeutig ist schließlich die Beziehung der beiden dritten Teile. Bei Vigny ist Baudelaires Klimax des dreimaligen „heureux qui“, wenn auch in banalem Kontext, vorgebildet in der Passage: Heureux celui dont Pagonie Fut dans les bras cheris avant Pautre finie! Heureux si nul des deux ne s’est plaint de souffrir! Si nul des deux n’a dit: Qu’on a peine ä mourir! Heureux l’homme surtout, s’il a rendu son äme Sans avoir entendu ces angoisses de femme.14 Diese Ähnlichkeiten sollen nicht eine Abhängigkeit belegen. Dazu sind sie einerseits zu offensichtlich, andrerseits, was den Kontext betrifft, zu isoliert. Baudelaires Gedicht erscheint vielmehr als eine Antwort auf dasjenige Vignys. Man möchte fast eine polemische Absicht annehmen im Sinne der Notiz Walter Benjamins: „Die Fleurs du Mal als Arsenal; Baudelaire schrieb gewisse seiner Gedichte, um andere, vor ihm gedich¬ tete, zu zerstören. So ließe die bekannte Reflexion von Valery sich weiterentwickeln.“15 Die Übernahme des Titels weist jedoch darauf hin, daß die vermutete Zerstörung nicht dem Aufschwung selbst gilt, son¬ dern der intensiven Empfindung als seinem Medium. Es sollte dagegen ein anderer und neuer Weg in die Höhe gebahnt werden. Damit machte sich Baudelaire zum Fortsetzer der angedeuteten Tradition. i2, 13, 14 Vigny, a.a.O. S. 155—159 15 Walter Benjamin, Schriften, hrsg. von Gretel und Th. W. Adorno. Frank¬ furt: Suhrkamp 1955. Bd. I, S. 491 („Zentralpark“). Die Reflexion Valerys lautet: „Une oeuvre de Pesprit est importante quand son existence determine, appelle, supprime d’autres oeuvres dejä faites ou non. . ..“ CEuvres, ed. par Jean Hytier, Paris: Gallimard i960 (Pleiade). II, S. 482

174

Daß das Gedicht auf diese Frage antwortet, deutete Baudelaire da¬ mit an, daß er ihm in der dritten Auflage der „Fleurs du Mal“ das Gedicht „L’Albatros“ voranstellte, das den Sturz aus der Höhe in die Niederungen zum Thema hat. Zusammen mit dem Schluß des ersten Gedichtes, „Benediction“, das im Gebet die Hoffnung des Dichters auf Aufnahme in den Himmel des reinen Lichtes ausspricht, ergibt sich als Eröffnung der ganzen Sammlung eine Kurve von Aufstieg nach der Verdammung, Sturz und neuerlichem Aufschwung, der in „Correspondances“ ein neues Ziel bekommt. Elevation Au-dessus des etangs, au-dessus des vallees, Des montagnes, des bois, des nuages, des mers, Par dela le soleil, par dela les ethers, Par dela les confins des spheres etoilees, Mon esprit tu te meus avec agilite, Et, comme un bon nageur qui se päme dans l’onde, Tu sillonnes gaiement Pimmensite profonde Avec une indicible et male volupte. Envole-toi bien loin de ces miasmes morbides; Va te purifier dans Pair superieur, Et bois, comme une pure et divine liqueur, Le feu clair qui remplit les espaces limpides. Derriere les ennuis et les vastes chagrins Qui chargent de leur poids Pexistence brumeuse, Heureux celui qui peut d’une aile vigoureuse S’elancer vers les champs lumineux et sereins; Celui dont les pensers, comme des alouettes, Vers les cieux le matin prennent un libre essor, — Qui plane sur la vie et comprend sans effort Le langage des fleurs et des choses muettes!16 Erhebung Über den Teichen, über den Tälern, Den Bergen, den Wäldern, den Wolken, den Meeren, 16

CEuvres S. io. — Kommentare dazu von A. Adam S. 269; R. Cherix S. 28 f.; Hugo Friedrich a.a.O. S. 35/36; Leon Bopp, Psychologie des Fleurs du Mal 1964, III, S. 265; Gerhard Hess, Die Landschaft in Baudelaires ,Fleurs du MaP, Heidelberg 1953. S. 148

175

\

Jenseits der Sonne, jenseits der Ätherräume Jenseits der Grenzen der gestirnten Sphären, Mein Geist, bewegst du dich mit Leichtigkeit, Und wie ein guter Schwimmer, der im Meer außer sich gerät, Pflügst du froh die tiefe Unermeßlichkeit Mit unsagbarer und männlicher Lust. Flieg weit weg von diesen verseuchten Dünsten; Geh und reinige dich in der höheren Luft, Und trink, wie einen reinen und göttlichen Trank, Das helle Feuer, das die klaren Räume erfüllt. Im Rücken die Schwermut und den grenzenlosen Gram, Die mit ihren Gewichten auf dem nebligen Dasein lasten, Selig wer sich auf kräftigem Flügel Aufschwingen kann zu den lichten und heiteren Gefilden. Wessen Gedanken wie Lerchen Plimmelswärts am Morgen frei sich schwingen — Wer über dem Leben schwebt und ohne Mühe versteht Die Sprache der Blumen und der stummen Dinge!17 Die fünf Strophen gliedern sich von der Syntax her in 2 + 1+2. Doch kann man kaum von Gliederung sprechen. Die einzelnen Teile bilden so sehr in sich abgeschlossene Blöcke18, die untereinander kaum in Beziehung stehen, daß das Gedicht gewissermaßen dreimal neu an¬ setzt resp. in drei Stößen verläuft. Diese Diskontinuität ist allen Inter pretationen entgegenzuhalten, die eine geradlinige Abfolge zu konstruie¬ ren suchen. Sie stellt freilich auch die crux der Interpretation dar. Im ersten Teil ist „mon esprit“ angeredet. Es werden Aussagen über seine Verfassung gemacht. Die erste Strophe bestimmt mit neun negier¬ ten Lokalitäten seinen Ort. Es ist eine Region, die sich in bezug auf 17

18

Die Übersetzung soll lediglich der Verständigung mit dem Leser dienen. Sie folgt weitgehend der Prosaübersetzung von Kemp. Konsultiert wurden fer ner die Übersetzungen von George und Hausenstein. Die Beobachtung, daß die „absolute Dichtung aus selbständigen „Blöcken besteht, verdanke ich dem instruktiven Buch von Ernst Howald, Das Wesen der lateinischen Dichtung. Erlenbach; Zürich: Rentsch 1948. Der das 19- Jahr¬ hundert betreffende Teil ist wieder abgedruckt in: Zur Lyrik-Diskussion, hrsg. von Reinhold Grimm. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1966 (Wege der Forschung Bd in) S. 46 f. Dagegen trifft auf keines der hier betrachteten Gedichte Howalds weitere Bemerkung zu, die einzelnen Blöcke ließen sich in ihrer Abfolge untereinander austauschen. Das Erhebungsmotiv fordert einen einsinnigen Verlauf.

176

Erde und Himmel als ein absolutes Jenseits darstellt, wofür „Höhe“ nur noch eine metaphorische Bezeichnung sein kann. In der Bezeichnung „immensite profonde“ kommt die Irrelevanz der Begriffe „oben“ und „unten“ zum Ausdruck. Der Geist bewegt sich in dieser Absolutheit „wie ein guter Schwimmer im Meer.“ Der Vergleich enthält mehrere Momente. Zunächst gibt er dem Geist Personalität. Er manifestiert sich als spontane Kraft uneingeschränkt. Deren Autonomie reicht so weit, daß sie sich durch ihre Bewegung selber den Raum schafft, in dem sie sich bewegt19. Das ist mit der Reihung der ersten Strophe angedeutet und im Verbum „sillonner“ ausgesprochen. Die personale Kraft ist auch nicht der Zeit untertan.

Sie erneuert sich jeden Augenblick aus sich selbst. Diese

„agilite“ steht dem Geist selbstverständlich zu Gebote. Er ist als ab¬ soluter in der Absolutheit in seinem Element. Wie schon das Verb „tu te meus“ andeutet, gründet diese absolute Spontaneität in Reflexivität. Diese äußert sich auch darin, daß sich der Geist seiner Bewegtheit und Beweglichkeit bewußt ist. Er genießt sie als Freude. Auf diesen Um¬ stand ist dreifach hingewiesen:

„Gaiment“,

„se pame“,

„avec une

indicible et male volupte“. Darin besteht offensichtlich das entschei¬ dendste

und

wichtigste

tertium

comparationis

zwischen

Geist

und

Schwimmer. Die Schlußzeile dieses ersten Teils gibt zu erkennen, daß der Geist in seiner Absolutheit ekstatisch bei sich selbst und außer sich ist. Das durchgängig praesentische tempus ist im Zusammenhang mit dem Gattungsgesetz einer „Elevation“ zu sehen. Es drückt ein Sein und zugleich ein Sollen aus, d. h. das Sollen trägt in sich schon seine Er¬ füllung. Der angeredete Geist befindet sich nicht in der Ekstase, er wird durch die beschwörende Vorwegnahme im Medium der Sprache dazu gebracht. Der Widerstand, der dabei zu überwinden ist, läßt sich an dem aufgewandten Pathos ermessen. Die Aussage ist rhetorisch auf das üppigste instrumentiert. Das führt in der ersten Strophe zu einem er¬ staunlichen Mißverhältnis von sprachlichem Aufwand und Information. Der Begriff der Höhe ist aufgefächert in eine neungliedrige Reihe von Konkretionen, die, aufgeteilt in sechs und drei, eine weitgespannte Klimax ergeben. Die neun Lokalitäten sind Stufen des sich steigernden Pathos, welches dem Geist seine Ekstase suggeriert. Durch die Reihung verlieren die einzelnen Wörter an semantischem Inhalt, dies besonders auch deshalb, weil ihnen mit „au - dessus“ und „par delä“ Negationen vorangestellt sind, die dem griech. üjt£Q entsprechen; dafür füllen sie 19 Vgl. Georges Poulet, Baudelaire. In: Les metamorphoses du cercle. Paris: Pion 1961. S. 399 f.

177

12

Pestalozzi, Lyrisches Ich

V

sich mit Emphase. So stellt sich durch die Sprache die sprachlose Lust des Geistes her. Der Höhepunkt ist mit der Anrede „mon esprit“ der Strophensprung gibt noch den letzten Stoß — erreicht. Sie klingt darauf wieder ab. Der rhetorische Ornatus reduziert sich auf den Ver¬ gleich, die Sprache gewinnt wieder Sinnhaltigkeit, die Syntax wird komplizierter, der Ton fällt. Die „unsagbare Lust“ ist mit ihrer nament¬ lichen Erwähnung abgeklungen. — Die innere Voraussetzung, daß die pathetische Beschwörung gelingt, ist in der Anrede „mon esprit“ gege¬ ben. Beschwörer und Beschworener sind eins, es handelt sich um eine differenziertere Form jener Autosuggestion, die das Gedicht „Excelsior!“ darstellt. Die Verbindung von Spontaneität und Reflexivität, die sich in der Ekstase als das Wesen des Geistes erweist, bestimmt somit auch die Methode, durch die die Ekstase zustande kommt. Pygmalion ist auch hier am Werk. Was vom Geist ausgesagt wird, objektiviert da¬ mit nur den Vorgang dieses Aussagens selbst. Die ersten beiden Strophen von Baudelaires Gedicht führen also das Gattungsgesetz der Elevation, das bei Bossuet und Vigny zu beobachten war, um einen wichtigen Schritt weiter. Bossuet wollte auf eine ge¬ meindeartige Zuhörerschaft einwirken, Vigny auf eine folgewillige Leser¬ seele. Bei Baudelaire dagegen geht es um ein Selbstgespräch. Bei Bossuet führte die Elevation zu Gott, dem geoffenbarten und innerlich erfahr¬ baren. Vigny verabsolutierte den innerlichen Vorgang, ohne jedoch den Namen Gottes preiszugeben. Bei Baudelaire ist hier an die Stelle Gottes ein ekstatischer Zustand des eigenen absolut gewordenen Geistes getre¬ ten. Die Lokalisierung in der Höhe, die ein absolutes Jenseits bedeutet, die schöpferische Spontaneität, die sich mit Selbstbewußtsein verbindet, und schließlich die Unaussprechlichkeit erinnern noch an Gott. Was das thematische Substrat, dessen sich der Aufschwung bedient, betrifft, so stellten es bei Bossuet die christlichen Mysterien, bei Vigny war es eine sentimentale Geschichte oder ein anderer erhebender Gegenstand. Die bei Baudelaire herrschende Reflexivität zeigt sich dagegen auch daran, daß das Ziel des Aufschwungs selber Thema ist. Dabei geschieht die sprach¬ liche Lokalisierung so, daß der Eindruck eines Aufstiegs entsteht: die neun Bestimmungen ergeben keine ganz, aber doch annähernd konse¬ quente Aufstiegsroute20, die von der Erde in den Kosmos hinausführt.

20

Die Reihung untersteht offensichtlich stärker Gesetzen des Rhythmus als solchen der Vorstellung. Die Strophe als ganze folgt dem Schema der „Ab¬ wehr“, welche vor allem im Barock als Topos für Gedichtanfänge beliebt

178

Dabei fällt auf, daß offensichtlich das alte ptolemäisch-aristotelische Weltbild zugrunde liegt. Die Unermeßlichkeit, in der sich der Geist bewegt, befindet sich jenseits der Fixsternsphäre, dort also, wo nach der alten Vorstellung Gott thronte. Dieser Archaismus gibt dem Aufschwung des Geistes etwas Zweideutiges. Einerseits entspricht er demjenigen, den Brunos Sonett „E chi mi impenna“ darstellt. Der Geist hat sich von allen Eiindernissen und Befangenheiten, auch hier stehen sie fast ausnahmslos im Plural, befreit. Er hält sich nicht mehr an die Natur, wie sie sich seinem Auge darbietet, sondern vertraut seiner Spekulation, die ihn darüber erhebt. Er genießt seine Überlegenheit über die Natur, in der seine eigene Absolutheit zum Ausdruck kommt. Weil aber diese Be¬ freiung anders als bei Bruno das alte Weltbild bestehen läßt, wird sie weiterhin daran gemessen. Der Aufenthalt „par delä les confins des spheres etoilees“ wird damit zur Grenzüberschreitung, die dem Geist eigentlich nicht zusteht. Er wagt sich in die absolute Region vor, die Gott Vorbehalten ist. Wird somit der angesprochene Geist als moderner erkennbar, der die Gottheit in seinen Willen aufgenommen hat, so wird er als solcher zugleich durch die Gestaltung kritisiert. Sein Aufschwung macht keinen Sündenfall rückgängig, sondern ist selber Anmaßung, sein Selbstvergnügen luziferische Elybris. Der triumphale Ton, der ihn feiert, ist brüchig. Das Wort „volupte“, das den Schlußpunkt setzt, schillert zweideutig. Nur wenn man diese Doppeldeutigkeit des Anfangs berücksichtigt, verliert der zweite Teil des Gedichts, die dritte Strophe, ihre Befremdlichkeit. Darin beginnt das Gedicht gewissermaßen nochmals. Der Geist wird, als wäre nichts geschehen, aufgefordert, sich aufzuschwingen, wo¬ bei der dabei vorausgesetzte vertikale Aufriß nichts mit dem voraus¬ gegangenen geographisch-kosmischen des ersten Teils zu tun hat. Er ist vielmehr theologisch-spiritueller Art. Unten sind „kranke Dünste“, oben reine Luft und lichterfüllte Räume, die an das Dantesche Paradiso er¬ innern. Dabei sind hinter den metaphorischen oder mythologischen Be¬ zeichnungen die Landschaftselemente des ersten Teils noch vage zu erkennen. Im zweiten Teil geht es somit um eine Erhebung, bei der sich der Geist nicht an die Stelle Gottes setzt, bei der er vielmehr den auf Gott ausgerichteten Stufenkosmos mit seinen theologischen und ethischen

war. Vgl. Renate (Böschenstein-)Schäfer, Die Negation als Ausdrucksform. Diss. Bonn 1959. S. 60 f. 179

12*

\

Implikationen akzeptiert, so daß ihm die Höhe nicht seine eigene Ab¬ solutheit bringt, sondern im Gegenteil eine Reinigung von dem, was ihm an Eigenem anhaftet. Die Göttlichkeit, die er erlangt, indem er das klare Feuer der obern Räume trinkt, ist ihm aus eigener Kraft gerade nicht erreichbar. Der Aufschwung, den der zweite Teil ins Auge faßt, ist historisch gesehen im Vergleich mit dem Anfang ein Rückschritt. Gegen Bruno und was auf ihn folgte wird Dante gesetzt, gegen die Renaissance das Mittelalter. Doch die Fronten haben sich verkehrt. Im Aufschwung der ersten beiden Strophen waren Sein und Sollen in pathe¬ tischer Beschwörung eins. Die imperativischen Aufforderungen der drit¬ ten Strophe belassen es beim Sollen. Die Realisierung steht noch aus. Es wird anerkannt, daß ein Widerstand zwischen Sprechen und Voll¬ bringen liegt. Das spirituelle muß sich erst wieder gegen das moderne entgötterte Weltbild durchsetzen. So einleuchtend diese Deutung des zweiten Gedichtteils sein mag, sie krankt daran, daß die Bezüge zum ersten nur indirekt sind und sich nicht sprachlich fassen lassen. Doch eine, wenn auch schmale Brücke scheint beide Teile zu verbinden. In „ces miasmes morbides“ könnte das Demonstrativum eine Anknüpfung an das Vorausgegangene sein. Fäßt sich diese Annahme rechtfertigen? Es seien in einem Ausschließungs¬ verfahren zunächst vorliegende andere Deutungen des „ces“ geprüft. Hugo Friedrich21 versteht „ces miasmes morbides“ als „Miasmen des Irdischen“. Das Pronomen wiese damit auf die außerhalb des Ge¬ dichtes liegende Realität, die im Gedicht bisher nicht zur Sprache ge¬ kommen ist, um dem zweiten Aufschwung eine Basis zu geben. Friedrich unterscheidet jedoch überhaupt nicht zwei Aufschwünge. Er sagt: „Drei Strophen sind Anrede an den eigenen Geist, Aufforderung, über Teiche, Täler, Berge, Wälder, Wolken, Meere, Sonne, Aether, Sterne sich hinauf¬ zuschwingen in eine jenseitige Feuersphäre, die von den Miasmen des Irdischen reinigt. Dann bricht die Anrede ab.“22 Indem so der genaue Ablauf des Gedichts verwischt wird, tritt das Problem, um das es sich hier handelt, gar nicht in den Blick. Damit verliert die angeführte Deu¬ tung von „ces miasmes morbides“ ihre Relevanz. Hess verfährt vorsich¬ tiger und anerkennt einen immanenten Bezug, wenn er davon spricht, daß die irdische Welt „erst neutral in ihren landschaftlichen Elementen und dann gewertet als ,miasmes morbides* erscheint“23. Doch ginge der 21

A.a.O. S. 35

22 23

Ebd. Hess, a.a.O. S. 58

180

Bezug über eine ganze Strophe hinweg, und über die doppelte Auf¬ forderung wäre nichts gesagt. Wichtig ist an dieser Auffassung, daß sie die verstärkte Pejoration erkennt, die im Demonstrativpronomen liegt. Unserer Auffassung nach ist jedoch damit nichts Einzelnes aus dem ersten Teil abgewertet, sondern dieser erste Teil als ganzer. Er wird nachträg¬ lich kritisiert. Der zweite setzt den ersten Teil nicht geradlinig fort, er reflektiert über ihn, befindet sich also auf einer höheren Ebene. Deshalb scheint das Gedicht neu einzusetzen. Für die zweite imperativische For¬ derung sich aufzuschwingen, bildet der erste Aufschwung die Basis. Es geht um eine Elevation über die Elevation, um eine Elevation in zweiter Potenz24. Die Möglichkeit, „ces miasmes morbides“ als Metapher für den ersten Teil des Gedichts anzusehen, soll ein kurzer Exkurs über das Gedicht hinaus in Baudelaires übrige Verwendungen des Wortes noch stützen25. „miasmes“ kommt in den „Fleurs du Mal“ noch zweimal vor, in „Le Flacon“ und „Les Femmes damnees“26. Beidemale spezifiziert es den Oberbegriff „parfum“. Gerüche spielen bekanntlich bei Baudelaire eine zentrale Rolle. Es war seine grundlegende Beobachtung, daß Ge¬ rüche den Geist in stärkstem Maße zu Gedanken und Vorstellungen an¬ zuregen vermögen, in denen Vergangenes wieder gegenwärtig wird. Sie wecken die „memoire involontaire“. Auf dieser Beobachtung basierte 24

Diese Deutung sucht offensichtlich die Übersetzung Hausensteins wieder¬ zugeben, deren erste drei Strophen lauten: Hoch über Tälern hin, den Weihern und den Teichen, Gebirgen, Wäldern und dem blanken Wolkenschnee, Jenseits der Himmelsluft, der Sonne und der See Und oberhalb der Sphären mit den Sternenzeichen Bewegst du dich, mein Geist, lebendig und geschickt. In Wollust liegt der gute Schwimmer auf der Welle; So furchst du die Unendlichkeit, der tiefen Helle Unsäglich froh, von männlichem Genuß erquickt. Enthebe dich im Flug aus diesen faulen Feuchten! Im allerhöchsten Äther läutere die Kraft Und trink wie einen rein von Gott geschenkten Saft Den klaren Brand der Fernen, die durchsichtig leuchten! Baudelaire, Ausgewählte Gedichte, deutsch von Wilhelm Hausenstein. Mün¬

25

26

chen: Alber 1947 Dabei erwiesen sich als hilfreich: Baudelaire, Les fleurs du mal. Concordance. Paris: Larousse o. J. — W. T. Bandy, A word index to Baudelaires Poems. Madison 1939. — R. T. Cargo, A concordance to Baudelaire’s „Les fleurs du mal“. University of North Carolina Press 1965 CEuvres S.45; S. 139

181

auch Baudelaires Interesse für Haschisch und Opium, mit denen die „memoire involontaire“ scheinbar manipulierbar geworden war. „Miasmes“ nannte er auch die Dünste, welche aus dem Mohn aufstiegen und die Mohnpflücker, die davon betäubt wurden, erstmals auf die Fähig¬ keiten des Haschisch aufmerksam machten27. Düfte und Gerüche als materielle Träger von Geistigem sind bei Baudelaire über ihre eigentliche Bedeutung hinaus auch mögliche Meta¬ phern für andere Medien, Töne und Farben z. B. In die Synaesthesie ist die Sprache mit einbeziehbar. So wird in dem Huldigungsgedicht an Sainte-Beuve „Tous imberbes alors. . .“ die lesende Aneignung eines Buches folgendermaßen geschildert: j’en ai tout absorbe, les miasmes, les parfums, Le doux chuchotement des Souvenirs defunts, Les longs enlacements des phrases symboliques, — Chapelets murmurants de madrigaux mystiques; — Livre voluptueux, si jamais il en fut.28 Die Erinnerungen, welche durch die Gerüche heraufgeführt werden, sind besonderer Art. Anders als dann bei Proust, wo die „memoire involontaire“ vergegenwärtigt, was aus seinem eigenen Leben der Ver¬ gessenheit anheimgefallen war, führt sie bei Baudelaire in eine fiühere Zeit der Menschheitsgeschichte zurück29. Sie weckt anthropologische Er¬ innerungen an eine „vie anterieure“. Damit sind die Gerüche Brücken zu einer besseren und glücklicheren Epoche der Menschheit und des Ein¬ zelnen. Daher überschrieb Baudelaire seine Abhandlung über Haschisch und Opium, in die er auch den Wein mit einbezog, als „paradis artificiels“. Er überprüfte die Rauschgifte auf ihre Qualität als Erlösungs¬ mittel hin. Denn nicht allen Gerüchen war darin zu trauen, manche bereiteten, was er „jouissances morbides“30 nannte; statt zu erlösen, vertieften sie nur die menschliche Misere. Dabei läßt sich die Entschei¬ dung darüber nicht unter der unmittelbaren Wirkung treffen. Erst im Nachhinein zeigt sich ihr wahres Wesen. Im Gedicht „Le Flacon“ ist ein solcher Umschlag beschrieben, wenn es von Gerüchen, die aus einer alten Flasche ausströmen, heißt: 27 A.a.O. S. 351 28 A.a.O. S. 199 29 Mit dieser Abgrenzung folge idi Walter Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire. Schriften I, S. 456. Benjamins Aufsatz verdanke idi überhaupt manche Anregung. 30 CEuvres S. 349

Mille pensers dormaient, chrysalides fun^bres, Fremissant doucement dans les lourdes tenebres, Qui degagent leur aile et prennent leur essor, Teintes d’azur, glaces de rose, lames d’or. Voilä le Souvenir enivrant qui voltige Dans Fair trouble; les yeux se ferment; le Vertige Saisit Farne vaincue et la pousse a deux mains Vers un gouffre obscurci de miasmes humains;31 Was im Augenblick der Wirkung höchstes Glück vermittelt, kann darnach völlig negativ erscheinen. Der Grund für diesen Umschlag liegt im Aufhören der Bezauberung. In der pejorativen Wertung objektiviert sich die nachträgliche Enttäuschung. Sie trifft somit nicht die Sache selbst. Auf diesem Hintergrund verliert der Ausdruck „ces miasmes morbides“ als nachträgliche zusammenfassende Charakterisierung des ersten Teils von „Elevation“ sein Befremdliches. Es richtet sich ex post gegen die Selbstvergötterung des Geistes im Medium der pathetischen Sprache und damit gegen die Verabsolutierung des eigenen Geistes überhaupt. Nach¬ dem die Ekstase abgeklungen ist, kommt ihre innere Widersprüchlichkeit zum Vorschein. Ja es macht den Anschein, als sei auch hier das Abklin¬ gen der Anlaß zur Kritik. Eine Absolutheit, die zu Ende gehen kann, hört auf, eine zu sein. Die nachträgliche pejorative Einschätzung ent¬ spräche verschärft Meyers Zeile „nicht eines Augenblickes kurzer Raub“. Auch Baudelaires Abwertung hat einen literaturgeschichtlichen Aspekt. Man hat gerade für die ersten beiden Strophen des Gedichts zahlreiche Parallelen bei romantischen Dichtern namhaft gemacht32. Das Pathos zu¬ mal erinnert deutlich an Victor Hugo. „Immensite“ gehört zu Hugos Schlüsselwörtern. Daß die negative Reihe diejenige von „Incompatibilite“ relativ unverändert aufnimmt, bestätigt indirekt das Traditio¬ nelle der Gestaltung des ersten Teiles. „Ces miasmes morbides“ trifft die romantische Dichtung, genauer die mühelose Verfügbarkeit roman¬ tischer Stilmittel, die dem Nachgeborenen scheinbar eine unendliche 81

32

A.a.O. S.45. Solche plötzlichen Umschläge finden sich bei Baudelaire z. B. auch in „Alchimie de la douleur“, „Un voyage pour Cythere“, „Les metamorphoses du vampire“, „Le masque“. Vgl. Vivier a.a.O. S. 220 f. Auf die Vorliebe Hugos für das Wort „immensite“ weist auch Hess hin. Baudelaire selbst sagt einmal: „L’excessif, Fimmense sont le domaine naturel de Victor Hugo; il s’y meut comme dans son atmosphere natale." CEuvres S. 709

183

Agilität aus eigener Kraft erlaubt. Auch von dieser Seite erfährt die Sprache als Medium des Aufschwungs Kritik. „Envole-toi bien loin de ces miasmes morbides“ fordert somit den Geist auf, von der im ersten Teil des Gedichtes realisierten Möglichkeit der Selbstapotheose abzulassen

und sich auf andere Weise

aufzu¬

schwingen. Nach der ersten Zeile steht ein Strichpunkt. Die beiden folgenden Imperative sind Ausführungsbestimmungen zu „envole-toi“. Dabei ist der dritte — „bois le feu clair“ — eine Spezifizierung des zweiten „va te purifier“. Der Geist wird auf gef ordert, sich zu reinigen. Das reini¬ gende Gegenmittel, das den „miasmes morbides“ entgegengesetzt ist, ist „le feu clair qui remplit les espaces limpides“. Dünste und Feuer sind bei Baudelaire durchaus kommensurabel. Die Brücke schlägt der Ver¬ gleich mit „liqueur“. Der Wein steht in den „Paradis artificiels“ als Stimulans des Geistes in einer Reihe mit Haschisch und Opium. Auch in den „Fleurs du Mal“ ist ihm eine Abteilung gewidmet, die seine tröstende und erlösende Wirkung herausstellt. Indem das Feuer einem Wein verglichen wird, wird deutlich, daß es mit den miasmes das Stimulierende verbindet. Anders als beim ekstatischen Aufschwung, den der erste Teil des Gedichtes suggeriert, soll sich der Geist einem ihm scheinbar fremden Medium, das er außer sich vorfindet, anvertrauen. „Le feu clair qui remplit les espaces limpides“ ist eine Umschreibung der Sonne im Hinblick auf ihre Klarheit und Helle. Im Vergleich, der die Funktion des Feuers verdeutlicht, taucht das Adjektiv „göttlich“ auf. In Verbindung mit „liqueur“ ruft es Assozia¬ tionen an Nektar oder an Abendmahlswein hervor. Auf die Unterschei¬ dung heidnisch oder christlich kommt es hier nicht an, es geht um die¬ jenige zwischen menschlich und göttlich. Im ersten Teil des Gedichts war das Göttliche scheinbar ganz an den Menschen gefallen, dessen Geist sich ekstatisch in der Absolutheit bewegte. Die Reinigung davon besteht darin, daß der Mensch auf seine Göttlichkeit verzichtet und ein Medium akzeptiert, das in Analogie zu den Gaben Gottes oder der Götter steht. Dadurch, daß „divine“ im Vergleich steht, wird nicht die Rückkehr zu vergangenen religiösen Wegen der Selbstvermittlung gefordert. „Le feu clair“ tritt an ihre Stelle; etwas Natürliches also. Auch darin zeigt sich der Gegensatz zum ersten Teil, in dem der Geist irdische und kos¬ mische Natur völlig unter und hinter sich gelassen hatte. Was aber soll das heißen, daß der Geist von den „miasmes morbides“ an das „feu clair“ verwiesen wird? „Miasmes morbides“ wurde als 184

Reflexion über den ersten Teil des Gedichts verstanden. Da „le feu clair“ ihm entgegengesetzt ist, also auf der gleichen Denkebene steht, kann es nicht einfach mit der wirklichen Sonne gleichgesetzt werden. Es ist gleichfalls Metapher. Wie „miasmes morbides“ sich auf den ersten Teil des Gedichts bezog, so richtet es sich auf den dritten. Dieser soll hell und klar und göttlichem Weine vergleichbar sein. Er muß Mög¬ lichkeiten der Elevation enthalten, die, weil sie nicht vom Menschen aus¬ gehen, an religiöse Formen erinnern. Der dritte Teil muß folglich einen gereinigten ersten darstellen. Der zweite ist der Mittelteil des Gedichts. Er leitet vom ersten zum dritten über in Gestalt einer kritischen Reflexion, aus der die Forderung nach einer reineren Gestaltung hervorgeht. Diese Reflexion ist selbst eine Aufforderung zum Aufschwung. Dessen Ausgangspunkt ist der erste, dessen Ziel der letzte Teil des Gedichtes. Der dritte Teil korrespondiert mit dem ersten in verschiedener Elin¬ sicht. Er besteht ebenfalls aus zwei Strophen, die eine syntaktische Konstruktion umgreift. In der Kadenzordnung entspricht die vierte der zweiten Strophe, die fünfte der ersten. Der Einsatz der vierten Strophe mit der vorangestellten adverbialen Bestimmung des Ortes läßt gram¬ matisch und rhythmisch den Anfang des Gedichts anklingen. Diese Ent¬ sprechungen bilden den Rahmen für eine grundsätzliche Gegenläufigkeit. Im Schlußteil herrscht nach dem mit „heureux“ erreichten Tongipfel ein Decrescendo inhaltlicher und grammatischer Art, dessen Ausklingen das letzte Wort „muettes“ in jeder Weise besiegelt. In Korrespondenz und Gegenläufigkeit sind die in der Mittelstrophe angedeuteten Bezüge zwi¬ schen Anfang und Schluß realisiert. Dafür, daß der Schluß die Forderung der dritten Strophe realisiert, ist sein Aufbau die Bestätigung. Er ist bestimmt durch die Formel „heureux celui qui“, welche die biblischen Seligpreisungen einleitet. Die drei so eingeleiteten Sentenzen sind eine Kontrafaktur dazu33. Darauf offenbar bereitete der Vergleich „comme une pure et divine liqueur“ vor. 33

Der Bezug braucht nicht unmittelbar zu sein. Bei Dante begleiten die sieben biblischen Seligpreisungen jeweils den Aufstieg von einem zum andern Gürtel des Purgatorio, vgl. Gmelin II, S. 216. — Später scheinen sie zu einem fast topischen Gedichtschluß geworden zu sein. Vgl. Goethes „An den Mond“. Dabei wirken wohl das biblische Vorbild und das „beatus ille qui procul negotiis“ des Horaz zusammen. — Erstaunlich nahe steht Baudelaires For¬ mulierung dem folgenden Gedichtanfang aus Boethius: Felix, qui potuit boni fontem visere lucidum, 185

Mit der Form der Seligpreisung erscheint im Gedicht eine dritte auf Zukünftiges gerichtete Aussageweise. Hatte der erste Teil in der Form pathetischer Beschwörung Zukunft kühn zur Gegenwart gemacht, hatten die Imperative des Mittelteils auf die noch in der Nähe liegende Reali¬ sierung vorausgedeutet, so ist diese nun in unbestimmte Ferne gerückt. Zwar bezeichnen die biblischen Seligpreisungen einen gegenwärtigen Zu¬ stand als selig, weil darin der Keim künftiger Erlösung lag. Hier nun fehlt bei „heureux“ eine Kopula, die es in der Gegenwart festlegte. Die Seligkeit beruht auf den in den Nebensätzen formulierten Ausnahme¬ bedingungen, deren zeitliche Fixierung ungewiß ist. Diese unterschied¬ lichen Sprachformen der drei Gedichtteile bezeichnen somit die Stadien einer Bewegung, in der sich Aussage und Ausgesagtes immer weiter von¬ einander entfernen. Das wird auch daran ablesbar, daß der zu Beginn angeredete Geist schließlich nicht mehr genannt ist. Aus dem suggestiven Selbstgespräch ist eine Sentenz von neutraler Allgemeinheit geworden. Ihr Ton ist entsprechend sachlicher, weniger pathetisch als der des Anfangs. Die ersten beiden Zeilen stellen die Hindernisse voran, die für alle drei Seligpreisungen gelten Derriere les ennuis et les vastes chagrins Qui chargent de leur poids Fexistence brumeuse An dieser Stelle wird besonders deutlich, wie sehr das Gedicht ver¬ sucht, den geistigen Vorgang abzubilden. „Ennuis“ und „chagrins“ stehen am Anfang der Strophe, so daß die heureux-Formeln, die ihre Überwin¬ dung bedeuten, auch räumlich hinter ihnen stehen. Ebenso war mit „l’air superieur“ in der dritten Strophe auch ganz wörtlich der folgende Ge¬ dichtteil gemeint. Das pathetische Anordnungsprinzip des Anfangs weicht von der dritten Strophe an einem metaphorischen. Mit „ennui“ und „chagrin“ treten jene Zentralbegriffe ins Gedicht, die leitmotivisch die erste Abteilung der „Fleurs du Mal“ durchziehen. Es sind die Komponenten des Spleen, die dem Ideal auch hier ent¬ gegengesetzt werden. Der Aufschwungsthematik sind sie durch die Metaphorisierung als lastende Gewichte eingefügt. Auf ihnen beruht hier jene

felix, qui potuit gravis terrae solvere vincula. Boethius, Philosophiae Consolationis libri quinque, hrsg. von Karl Büchner. 2., erneuerte Auflage. Heidelberg: Winter i960. III metr. XII. S. 69

Gravitation, welche, wie die Vorstudien gezeigt haben, motivgesetzlich dem Aufschwung entgegenwirkt. Mit „existence brumeuse“, zu der sie gehören, werden sie andeutungsweise begründet. „Brumeux“ ist zunächst ganz wörtlich zu verstehen. „Les brumes“, die aus der Seine aufsteigen, sind ein Spezificum der Pariser Atmo¬ sphäre. „Brumeuse“ ist die Existenz in Paris als dem Inbegriff der Großstadt,

wie

sie

Baudelaire

oft

beschrieben

hat.

Das

Adjektiv

„brumeux“ läßt punktuell eine unterschwellige Verbindung von „Eleva¬ tion“ zu den „Tableaux Parisiens“ sichtbar werden. Die Großstadt, wie Baudelaire sie zeichnete, isoliert den Einzelnen von der Umwelt und macht es ihm schwer, an ihr Anteil zu nehmen. Sie wirft ihn auf sich selbst zurück und liefert ihn dem eigenen Trübsinn aus, der ihm auch von innen her alles gleichgültig werden läßt. So befördert sie die Hauptsünde der Acedia. Im deutschen Wort „Schwermut“ wird diese als die dem Aufschwung widerstrebende Gemütsverfassung deutlich. „Existence brumeuse“ betont die Eicht- und Glanzlosigkeit, das Graue daran. Wichtig ist die mit dem Ennui gegebene Einstellung zur Zeit. „Spleen et Ideal“ schließt mit dem Gedicht “L’horloge“. Der Ennui erscheint darin als das Bewußtsein der stetig, unwiederbringlich und fruchtlos verrinnenden Zeit, das die Zeit erst recht beschleunigt. Da dem Ennui nichts Gegenwärtiges genügen kann, gibt er alles, was ist und was er hat, für ein unbestimmtes Besseres preis, das noch aussteht. Aber un¬ fähig, dieses Bessere selbst herzustellen, erwartet er es von außen. Darum spannt er sich auf alles Neue und Sensationelle, das ihm doch, wenn es eintritt, gleichgültig wird wie alles andere. Das Gewesene aber wird ihm zum Schuttplatz des Versäumten. Der Ennui lähmt deshalb jeden Aufschwung von vornherein, weil er auf ein ewig Zukünftiges hofft und auf das unwiederbringlich Gewesene starrt. Im dritten Teil von „Elevation“ erfolgt die Nennung von „ennuis“ und „chagrins“ ähnlich unvermittelt wie die von „miasmes morbides“ zu Beginn des zweiten. Ähnlich wie dort scheint sich das Gedicht damit auf eine Wirklichkeit zu beziehen, die in ihm noch nicht zur Sprache kam. Doch auch hier tritt unter einen neuen Aspekt, was voraus¬ gegangen war. Das Verfahren der Mittelstrophe, den Aufschwung des ersten Teils abzuwerten und um eines vage erahnten Besseren willen zu verwerfen, ist genau die Taktik des Ennui. Der ekstatische Aufschwung der ersten Strophe verlief in der Zeit. Das machte ihn für die Kritik des Ennui anfällig, der statt dessen etwas Anderes und Besseres erhofft.

V

Dabei orientiert er sich am Gewesenen. Das archaische Moment in seiner Aufforderung ist deutlich. Damit relativiert sich die Berechtigung, den ersten Teil als „miasmes morbides“ zu kennzeichnen. Als negativ erweist sich nicht der erste Teil, sondern der Ennui als die Instanz, die dieses Urteil gefällt und damit rückwirkend die Spontaneität sabotiert hat. Mit der Einsicht in diesen Zusammenhang stellt sich das Problem, Möglichkeiten des Aufschwungs zu finden, die dem im ersten Teil realisierten gleichkommen, jedoch außer¬ halb der Reichweite des Ennui liegen. Ennui und chagrin sind Spiel¬ arten des Bewußtseins. Insofern sie hier dominieren, stehen sie für Bewußtsein überhaupt. An dessen Rand, in dessen Rücken nur bestehen die Chancen einer ungetrübten Spontaneität. Das eben ist mit „derriere“ gemeint, das den dritten Teil einleitet. Diese Rücksicht auf den Ennui räumt diesem indirekt doch auch Ein¬ fluß auf die neuen Möglichkeiten ein. Wir meinen ihn in der unbe¬ stimmten Zukünftigkeit sowie in der Beibehaltung des Weltaufrisses der Mittelstrophe zu erkennen. Die Seligpreisungen entwickeln somit drei Wege, auf dem Hinter¬ grund des Ennui zu jenem Zustand zu gelangen, wie ihn der erste Teil des Gedichtes exponierte. Doch soll jene subjektive Lust einer Erlöstheit weichen, die objektiv verbürgt ist und eine äußere sichere Basis hat. Die erste Seligpreisung lautet: Heureux celui qui peut d’une aile vigoureuse S’elancer vers les champs lumineux et sereins. Diese erste Formel ist die vollständigste. Die Assonanzen geben ihr eine besonders feierliche Note. Die Vorstellung, auf die verwiesen wird, bleibt jedoch merkwürdig unklar. Der starke Flügel und die lichten Gefilde lassen an den Adler denken, der seine jungen zur Sonne trägt. Doch bleibt dieses Bild unausgeführt. Der Schlüssel dazu ist in den „champs lumineux et sereins“ enthalten. Diese beziehen sich wohl auf die elysischen Gefilde, in denen sich die Verstorbenen aufhalten. Der geheimnisvolle Akt des Aufschwungs umschreibt den Tod. Dieser er¬ scheint an andern Stellen der „Fleurs du Mal“ oft als Engel34. Zu ihm gehört offenbar der starke Flügel. Wie in Beispielen, die uns früher begegnet sind, ist auch hier der Tod, genaugenommen der Akt des Sterbens, der Inbegriff des Auf-

34

Vgl. „La mort des amants“, „La mort des pauvres“.

18 8

schwungs. Er befreit den Menschen von seiner Kreatürlichkeit und führt ihn zurück in seinen reinen Ursprung. Auch bei Baudelaire steht ein Platonismus hinter dieser Auffassung, wie seine Charakterisierung des „elancement vers le Ciel“ als „fleur platonique“ gezeigt hat. Der Gegen¬ satz, der in „Elevation“ mit hell und dunkel bezeichnet wird, liegt jedoch innerhalb des Bewußtseins. Der Tod befreit vom Spleen, statt „vastes“ hießen die „chagrins“ ursprünglich „sombres“, und führt das Ich zur Heiterkeit, in der es bei sich ist. Dieser Aufschwung wird deshalb nicht vom Ennui gelähmt und in Frage gestellt, weil er außerhalb der Verfügungsgewalt des Ich steht. Er ergreift das Ich ohne sein Zutun und bewirkt, was es aus sich selbst nicht zu leisten vermag. Zwischen Tod und Ennui besteht zudem eine innere Verwandtschaft. Auch der Ennui destruiert. Er tötet Spontaneität und Aktivität. Im Tod unterliegt er seinem eigenen Prinzip. Indem die vernichtende Acedia vernichtet wird, tut sich ein heiterer Himmel auf. Damit könnte Zusammenhängen, daß die erste Seligpreisung den Welt¬ aufriß der Mittelstrophe übernimmt. Daß der Tod nicht unmittelbar als solcher kenntlich ist, ist die Folge der metaphorisierenden, ja mythischen Umschreibung. Dadurch wird er auch verallgemeinert. Der „starke Flügel“

trägt den unbestimmten

Artikel. Es lassen sich also auch andere Ausdeutungen denken, die mit dem Tod nur die Struktur gemeinsam haben. Auch das erinnert an frühere Beispiele, in denen sich die Aufschwünge durch die Einbezie¬ hung des Todes in das Leben ergaben. In Baudelaires Werk erfüllen auch Drogen, Wein, intensive Sinnlichkeit und Musik diese Funktion. Sie alle vermögen als Medien das Ich aus dem Trübsinn in Heiterkeit zu versetzen, unter die Seligen. Gegen diese Erweiterung spricht jedoch, daß diese Medien in ihrer Wirkung zeitlich begrenzt sind. Sie haben den Ennui nicht ein für alle Mal im Rücken. Damit nähern sie sich eher dem Aufschwung an, der durch die pathetische Sprache zustande kommt; auch in ihnen wirkt, wenn auch indirekter, Reflexivität. Auch die zweite Seligpreisung spricht von einer Gegenbewegung zur Schwerkraft des Ennui. Celui dont les pensers, comme des alouettes, Vers les cieux le matin prennent un libre essor. Im Vergleich zur ersten ist sie abgeschwächt in mehrfacher Hinsicht. Der Aufschwung betrifft nur die Gedanken, nicht den ganzen Menschen, er ist auf eine Zeit fixiert, sein Ziel ist unbestimmter, und in der Verb189

V

form geht es mehr um einen Anlauf zur Aufwärtsbewegung als um ihr Gelingen. Die Lerchen des Vergleichs, die dem starken Flügel entspre¬ chen, machen die Differenz anschaulich. Doch auch der Auftrieb, den die Gedanken am Morgen beim Erwa¬ chen erhalten, entspringt einer unverfügbaren Spontaneität. In ihnen kommt etwas vom ungetrübten Kern des Ich zum Ausdruck. Dem Ennui ist dieser Aufschwung deshalb entzogen, weil ja auch er vom Erwachen des Bewußtseins abhängig ist. Doch da mit den aufsteigenden Gedanken auch ihre Gegenkraft wach wird, kann diese Erhebung nicht von Dauer sein. Sie verhält sich zum Tod wie der Anfang zum Ende. Beide sind Randzustände des Bewußtseins. In den „Fleurs du Mal“ kommen nur an dieser Stelle Lerchen vor. Ihre Erwähnung deutet einen historischen Bezug an. Die Lerche ist ein außerordentlich beliebtes Motiv in der romantischen Lyrik35, ja gewis¬ sermaßen deren Symbol. Man denke an Byron, Eichendorff, Victor Hugo. In bezug auf Shelley sagt Bachelard: „Aussi l’alouette nous parait le modele meme de ce romantisme de la joie . .

,“36

Die Lerche

stellt in reiner Form den Aufschwung der Seele in der Freude dar, bei dem sich Gesang und Aufschwung wechselseitig bedingen. Ihr Bedeu¬ tungsfeld umfaßt bei Eichendorff Morgen, Aufschwung zum Himmel, Freude, Gesang. Sie ist dabei das Vorbild für den Dichter. Wie sie soll er seiner frommen Freude im Jubellied unmittelbar Ausdruck geben. — In Baudelaires „Elevation“ sind aus dem Bedeutungsfeld nur Morgen, Himmel und Aufschwung übriggeblieben, zudem ist durch die Pluralisierung die Pfeillinie zum Himmel geschwächt. Von Gesang ist nicht mehr die Rede. Der Vergleich bezieht sich gerade auf die noch unarti¬ kulierten Gedanken. Auf diesen Restbestand ist die Unmittelbarkeit reduziert, aus der sich romantische Lyrik und Selbstbewußtsein speisten. Der durch die Nennung der Lerchen angedeutete historische Reduktions¬ prozeß ist das Analogon zu demjenigen, den die Elevation des ersten Teils, die in diesem Sinn „lerchenhaft“ ist, im Verlauf des Gedichts erfährt.

35

Vgl. J. G. Hamanns Satz: „Das leirische der lyrischen Dichtkunst ist das Tireli der Lerche.“ An Kant am 27. Juli 1759. — Merkwürdigerweise er¬ scheint die Lerche nicht unter den emblematischen Vögeln. Dennoch ist ein literarischer Ursprung anzunehmen. Selbst Goethe hatte keine eigene An¬ schauung von der Lerche, wie aus dem ornithologischen Gespräch mit Ecker¬ mann vom 26. Sept. 1827 hervorgeht.

36

Gaston Bachelard, L’air et les songes. Paris: Corti 19502. S. 103

190

Der Gedankenstrich in der zweitletzten Zeile des Gedichts kündigt etwas Neues und Überraschendes an. Tatsächlich ist die dritte Selig¬ preisung, was das Ausrufezeichen unterstreicht, die Pointe des dritten Teils und damit des ganzen Gedichts: — Qui plane sur la vie et comprend sans effort Le langage des fleurs et des choses muettes! Die Überraschung liegt einmal darin, daß das Schweben über dem Leben eine erreichte Höhe voraussetzt. Diese als Folge des tödlichen oder morgendlichen Aufschwungs zu betrachten, verbietet die Gleichordnung der drei von „heureux“ abhängigen Relativsätze. Alle drei rechnen mit der Realität des vom Ennui geprägten Bewußtseins. Die ersten beiden weichen diesem nach vorwärts oder rückwärts aus, in den Tod oder in das Erwachen. Für die dritte scheint das nicht zu gelten. Doch liegt gerade in „planer sur la vie“ der Bezug auf den Ennui. Zu ihm gehört, wenn wir den Mittelteil richtig interpretieren, ebenfalls eine vertikale Distanznahme vom Gegebenen. Auf dieser Isolierung beruht die Lähmung der Aktivität. Das Gedicht „Le goüt du neant“ sagt davon: Et le Temps m’engloutit minute par minute, Comme la neige immense un corps pris de roideur; Je contemple d’en haut le globe en sa rondeur Et je n’y cherche plus l’abri d’une cahute.37 Die Einbeziehung des Ennui kommt auch im Zusatz „sans effort“ zum Ausdruck. Beim tödlichen und beim morgendlichen Aufschwung geht es um die Wiederherstellung des gelähmten Effort von außen. Hier ist die Lähmung beibehalten, sie ist die innere Entsprechung zur äußeren Distanz. Doch sie ist umfunktioniert zur universalen Empfänglichkeit. Das Neue dieser letzten beiden Zeilen liegt in der Umkehrung der Blick¬ richtung. Die Höhe über dem Leben dient nicht wie bisher im Gedicht der Befreiung vom Leben, sondern einer neuerlichen und veränderten Zuwendung zu ihm. In ihm tut sich das Jenseits auf, das bisher in der Höhe lokalisiert war. Dieser Wechsel der Perspektive war uns zum ersten Mal bei Pe¬ trarca begegnet, der vom Gipfel des Mont Ventoux aus sein Leben als ganzes überschaute. Er wurde in der deutschen Lyrik des 18. Jahrhun¬ derts wichtig im Zusammenhang mit der poetischen Gestaltung der Theo37

CEuvres S. 72 191

V

dicee. Dem Blick von oben enthüllten sich die „Risse“ der Schöpfung und in ihnen die Gedanken Gottes. Das wirkte noch nach in Goethes Vorliebe für den Blick vom Turm auf die Städte, die er durchlaufend zuerst unmittelbar kennengelernt hatte. Anthropologische Relevanz be¬ kam der Niederblick aus der Höhe auf das Vollendete in Schillers „Das Ideal und das Leben“. Ihm zeigte sich, in die schöne Gestalt verhüllt, das als Freiheit der Vernunft verstandene Selbst. Der Kontext von Baudelaires Gedicht macht deutlich, indem er den Blick von oben den Möglichkeiten des Aufschwungs beiordnet, daß auch hier der veränderten Perspektive sich im Irdischen etwas Überirdisches eröffnet, das im Selbst des Menschen seine Entsprechung hat. Durch das von oben betrachtete Leben wird dessen Spontaneität wie durch Tod und Erwachen geweckt. Das bedeutet eine paradoxe Weiterführung der ange¬ deuteten Motivtradition. Es kommt nicht auf die Distanzierung von der Unmittelbarkeit an, die Distanzierung ergibt gerade neue Möglichkeiten der Unmittelbarkeit, und zwar solche, die dem dem Leben Verhafteten verschlossen sind. Sie heißen „die Sprache der Blumen und der stummen Dinge“. Das ist ein Märchenmotiv, es schließt sich den Vorstellungen des kräftigen Flügels und den auffliegenden Gedanken an. Aber wie in diesen Fällen sich in der geheimnisvollen Verkleidung deutlich umschreibbare Tatbestände festmachen ließen, so beruht auch hier das Wunderbare auf Beobachtung und Erfahrung. Es war schon in einem früheren Zusam¬ menhang davon die Rede, welche Bedeutung Baudelaire den Farben und Gerüchen zumaß. Sie vermögen bei ihm die „memoire involontaire“ anzuregen — „involontaire“ entspricht „sans effort“ — und im aufneh¬ menden Bewußtsein einen paradiesischen Zustand zu reproduzieren. Sie entrücken das Ich in seinen Ursprung. Wurde unter diesen Vorausset¬ zungen in der ersten Zeile der dritten Strophe der pathetische Auf¬ schwung des ersten Teils als „miasmes morbides“, „giftige Dünste“, be¬ zeichnet, so bekommt nun umgekehrt der Duft die Qualität einer Sprache zugesprochen. Ihm gelingt die erlösende Suggestion. Die Antithese des Schlusses zum Anfangsteil ist auch in mehrfacher anderer Hinsicht deutlich. Dort die absolute Distanz zu Himmel und Erde, hier ein kommunizierendes Einverständnis. Dort eine Bewegtheit, die den Vergleich mit dem Schwimmer herbeiführt, hier eine Ruhelage „sans effort“. Dort selbstbezogene ekstatische Gottgleichheit, hier die Offenheit für die Botschaft von Blumen und stummen Dingen. In diesem Punkt liegt der offensichtlichste Bezug. „Chose muette“ antwortet auf „indicible volupte“. In den ersten Strophen bestand die Paradoxie, daß 192

die unsagbare Lust durch die Sprache zustandegebracht und ausgespro¬ chen wurde. Das band sie an den sprachlichen Verlauf. Diese sprachlose Lust drückte Freiheit und Isolierung des Geistes aus. In der Sprache der stummen Dinge ist die Paradoxie umgekehrt. Statt daß aus der Sprache Stummheit entsteht, ist aus der Stummheit Sprache geworden. Der subjektive Zustand ist nun der der Objektwelt. Diese bezieht den Geist ein. Damit befreit sie ihn aus seiner Eigenmächtigkeit, die ihn der Ver¬ gänglichkeit aussetzt, und läßt ihn an der zeitlosen „familiarite“ mit Blumen und Dingen teilhaben. — „Muettes“ reimt auf „alouettes“. Für die Romantiker sang in der Lerche die Natur dem Dichtergeist vor in einer Sprache, die der seinigen glich. Er konnte singen wie der Vogel singt, und im Gesang schwang er sich auf. Das gilt noch für den ersten Gedichtteil. Hier nun sind Natur und Lautsprache auseinandergetreten. Erst wo der Geist die Sprache verläßt und ohne Worte versteht, gewinnt er mit der Natur Kontakt. Blumen und stumme Dinge haben die Ler¬ chen abgelöst. Von ihnen heißt es nun „Qui chantent les transports de l’esprit et des sens“38. Die Freude ist übergegangen in die Randzone des Geistes, wo er sich mit den Sinnen berührt. Die Duftsprache ist den Blumen zugeordnet. Was unter der Sprache der stummen Dinge zu verstehen ist, hat Baudelaire z. B. in dem Prosa¬ gedicht „La chambre double“ beschrieben, wo die ganze Einrichtung spricht: „Les etoffes parlent une langue muette, comme les fleurs, comme les ciels, comme les soleils couchants.“39 Angesichts der „Fleurs du Mal“, ihres Titels und ihrer Wirkung, liegt es nahe, bei den stummen auch noch speziell an tabuierte Dinge zu denken. Tabus bedeuten, daß einer Sache, indem sie verschwiegen wird, faszinierende und schockierende Kraft40 zugeleitet, resp. die in ihr wirksame bewahrt wird. Solche Ungesagtheit resultiert nicht allein aus moralischer Konvention, sondern grundsätz¬ lich aus der notwendigen Begrenztheit jeder geltenden sprachlichen Weit¬ sicht. Jede hat Ränder, an denen ungesagte Dinge und Empfindungen warten. Die Gegenstände und Themen, die Baudelaires Gedichtband der Zeit skandalös erscheinen ließen, waren bislang stumme und verschwie¬ gene Dinge. Sie drangen nun in das allgemeine Bewußtsein ein und er¬ zeugten zunächst einen Schock. Dessen Kraft gleicht der des Sterbens und Erwachens. 38 39 40

„Correspondances“, CEuvres S. n Gkivres S. 243 Den Begriff des Choks verwendet Benjamin im Bezug auf Baudelaire. A.a.O. S. 434 193

13

Pestalozzi, Lyrisches Ich

\

Die Gemeinsamkeit der dritten mit den beiden vorausgehenden Selig¬ preisungen ist denn auch darin zu sehen, daß es ebenfalls um eine Rand¬ zone des Geistes geht, nun aber nicht wie bei Anfang und Ende um eine zeitliche, sondern um die räumliche nach unten. Das gibt dem Kon¬ takt mit ihr Dauer. Statt der ingressiven Verben wie in den ersten beiden „heureux“-Sätzen sind ihr durative angemessen. Blumen und Dinge sprechen immer, auch wenn sie nicht alle Zeit vernommen werden. Jene Enttäuschung, welche den pathetischen Aufschwung zu „miasmes morbides“ machte, ist hier nicht zu befürchten. Worin die Botschaft der Blumen und der stummen Dinge besteht, geht aus Thematik und Kontext des ganzen Gedichts hervor. An sie ist jene Offenbarung übergegangen, welche die Elevation bewirkt, d. h. das Ich zu sich selbst bringt. Die Seligkeit, auf welche sich die Seligpreisungen beziehen, besteht in diesem Bei-sich-selbst-sein. Es ist, nimmt man alle drei zusammen, ein Zustand, in dem Bewußtsein und Unbewußtes, mit einer Formel Baudelaires, „volupte et connaissance“41, eins sind. Man hat oft angemerkt, daß mit der Schlußzeile des Gedichts die alte Überlieferung vom „Buch der Natur“ wieder zu Wort kommt42. Sie war Baudelaire durch Lavater, Swedenborg und Fourier vermittelt worden, doch verhalfen ihm diese Mittelsmänner zur Klärung von An¬ schauungen, denen er von sich aus zuneigte. Schon das Gedicht „Incompatibilite“ enthält Ansätze dazu, wenn es See und Wolke spirituell ausdeutet. Die mittelalterliche Ansicht Omnis mundi creatura quasi über, et pictura nobis est et speculum43 setzte neben der Heiligen Schrift die Schöpfung als zweite Offenbarung an. Der Inhalt war für beide derselbe. Auch die Dinge der Natur ver¬ kündigten die christliche Heilslehre. Man mußte sie nur zu deuten wissen. Auch die Emblematik beruhte auf dieser Voraussetzung einer symbolischen Theologie, wobei sie jedoch die in der Natur geoffenbarten

41

Baudelaire spricht, im Zusammenhang mit Wagner, von der Notwendigkeit

42

„de transformer ma volupte en connaissance“. S. 1215 Zu diesem ganzen Komplex vgl. das ausgezeichnete Buch von Jean Pommier, La mystique de Baudelaire. Paris 1932. Eine gute Ergänzung dazu

43

stellt die genannte Arbeit von Vordtriede dar. Alanus ab Insulis. Zit. Emblemata XVI. Vgl. auch die Parallele bei Angelus Silesius:

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Inhalte auch auf die der Weltweisheit ausdehnte. Die Emblematik hielt sich im Optischen und Akustischen. Bei Baudelaire treten Gefühl, Geruch und Geschmack als Medien hinzu. Das hängt damit zusammen, daß sich, wie wir gesehen haben, die Gotteserfahrung mehr und mehr emotionalisiert hatte und wie bei Vigny „Gott“ zum Namen von intensiver Emp¬ findung geworden war. Offenbarungsgehalt und Offenbarungsträgef haben sich gewandelt. Das führt zu einer Spannung zwischen Schrift-und Schöpfungsoffenbarung. Letztere erhielt mehr und mehr den Vor¬ rang. Baudelaires Gedicht „Elevation“ setzt sie einander entgegen. Im Verlauf des Gedichts wird die von der Sprache getragene Erhebung von der durch die Sinne vermittelten abgelöst. Das führt zu einer Spannung im Gedicht selbst. Der dritte Teil kann die Erhebung nicht unmittelbar zum Ausdruck bringen. Er formuliert in der Art einer sentenziösen Pre¬ digt eine Lehre, in der er den Geist auf die Offenbarungsquellen Tod, Erwachen, Blumen und stumme Dinge hinweist. Aber eben nur hinweist. Es fiel uns auf, daß bei den in den drei Teilen des Gedichts aufeinander¬ folgenden Aussageweisen Wort und Vollzug immer weiter auseinander¬ traten. Die beschwörend vorwegnehmende Sprache wird im dritten Teil predigend. Die sprachlose Offenbarung entzieht sich notwendig dem Gedicht. Ja, dieses steht im dritten Teil gerade dem im Wege, worauf es als erlösende Möglichkeit aufmerksam macht. Solange es spricht, schneidet es der jederzeit vernehmbaren Sprache der Blumen und stummen Dinge das Wort ab. Erst sein Verstummen gibt dieser die Chance, vernommen zu werden. Auf diesen Moment scheint das Gedicht nun aber gerade angelegt zu sein. Es verläuft von Anfang bis Schluß in einem kontinuierlichen decrescendo44. Der pathetische Hochton, mit dem es einsetzt, wird stufenweise herabgestimmt bis zum Verklingen im Schlußwort „muettes“. Im Verlaufe dieses Prozesses wird die Elevation vom Wortpathos an die Stummheit überantwortet. Dadurch, daß sie die Aussage aufnimmt, ist sie nicht Leere, sondern eben stumme Sprache. Das Gedicht selbst wird so zu einer „chose muette“. Es hat eine sprach-

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Sich nicht verstellen, ist nicht sündigen. Was ist nicht sündigen? du darfst nicht lange fragen, Geh hin es Werdens dir die stummen Blumen sagen. Ch. W. III, 98 Benjamin stellt fest: „Viele seiner [Baudelaires] Gedichte haben ihre unver¬ gleichliche Stelle am Anfang, da wo sie gleichsam neu sind. Man hat oft dar¬ auf hingewiesen.“ A.a.O. S. 489. — Auch Hess spricht davon, daß sich im Verlauf des Gedichts in der Form der Aussagen eine abnehmende Kraft bekundet. A.a.O. S. 148

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13*

N.

lose Offenbarung hervorgebracht. Vom Inhalt ist es gleichsam zum Rand des Gefäßes geworden. Mit diesem Verfahren einer Translatio ist die Problematik behoben, die sich mit der Wiederaufnahme des emblematischen Verfahrens stellt. In den alten Emblemen waren vorliegende und bekannte Heils- und Weltlehren zur Anschauung gebracht worden. Die Deutung der Bilder stellte nur die Verbindung zwischen Bild und Lehre her. Wo wie bei Baudelaire die Sprache der Blumen und stummen Dinge der Wort¬ sprache entgegengesetzt wird, erhebt sich sogleich die Frage nach Ver¬ ständlichkeit und Verbindlichkeit der stummen Offenbarung. Indem das Gedicht eine zeitliche Abfolge konstruiert, durch die sich die stumme Offenbarung aus der negierten Wortoffenbarung ergibt, wächst den Blu¬ men und Dingen die Bedeutung zu, die vorher von der Sprache getragen wurde. So kommt die Verbindung von Empfindung und Bewußtsein zustande. Das Ich bringt die wissende Erwartung mit, in der Empfin¬ dung sein verlorenes Selbst wiederzufinden. Unter den Gestaltungen des Aufschwungmotivs, die wir in den Vor¬ studien betrachtet hatten, steht diejenige aus dem „Cherubinischen Wan¬ dersmann“ Baudelaire am nächsten. Auch dort war durch die negierende Reflexion auf traditionelle Praedikate Gottes eine stumme Offenbarung in den Blick getreten. Doch bei Baudelaire geht paradoxerweise der Auf¬ schwung nach unten, das Überbewußtsein liegt am Rand der Sinnlich¬ keit45. Deren Stummheit birgt nun das Geheimnis. Dabei geht es gerade nicht um eine „leere Idealität“, sondern um deren neue und dauerhaftere Füllung. Was als „ruinöses Christentum“46 verstanden werden könnte, 45

Vgl. dazu Erich Auerbach, Baudelaires Fleurs du Mal und das Erhabene. In: Vier Untersuchungen zur Geschichte der französischen Bildung. Bern: Francke

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Hugo Friedrich, a.a.O. S. 33. Es wird deutlich geworden sein, daß die hier vorgetragene Deutung des Gedichts derjenigen Friedrichs im einzelnen und im ganzen widerspricht. Die Diskrepanzen im einzelnen rühren daher, daß Friedrich das Gedicht zugunsten seiner These verzeichnet. Dabei wird über¬

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sehen, daß das Gedicht gerade die Bedingungen der Möglichkeit einer Elevatio reflektiert und in den drei Seligpreisungen, die Friedrich mit den meisten Übersetzern als eine nimmt, Medien eines Aufschwungs nennt. Be¬ zeichnenderweise tut Friedrich die Schlußzeile kurz ab, obwohl deren Be¬ deutung durch das nachfolgende „Correspondances“ besonders unterstrichen wird. So geht es in „Elevation“ m. E. eher als um „ruinöses Christentum“ um dessen Restaurierung. Friedrich sieht das Gedicht zu sehr von Mallarme aus. Mallarme selbst jedoch betrachtete Baudelaire durchaus als christlichen Dichter. Vgl. das Mallarme-Kapitel dieser Arbeit.

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ist der Ausgangspunkt für dessen neue Fundierung. Die auffallend häu¬ fige Dreizahl in „Elevation“, vor allem die der Seligpreisungen, hat sakralen Charakter. Sie bereitet auf den Satz vor, mit dem das folgende Gedicht „Correspondances“ beginnt: La Nature est un temple oü de vivants piliers Laissent parfois sortir de confuses paroles.47 „Correspondances“ errichtet auf dem Schlußsatz von „Elevation“ ein neues Lehrgebäude. Es gibt eine Anleitung, jene Stille der Natur, in der das Gedicht „Incompatibilite“ Gottes Offenbarung vermutete, zum Sprechen, ja zum Singen zu bringen. Damit erfüllt auch Baudelaires Gedicht jene Gattungsgesetzlichkeit einer Elevation, die von Erhebendem spricht und zugleich Leser und Eförer selbst erhebt. Doch Vignys romantisches Programm, die folge¬ willige Seele auf dem Erdboden zu ergreifen und in der Höhe Gott zu Füßen zu legen, ist auf den Kopf gestellt. Der pathetische Höhenflug des Anfangs ist das Irdische. Der Leser, der sich davon ergreifen läßt, wird durch das Gedicht der Stille überantwortet, die es hinterläßt. In ihr soll er im verhallenden Echo des verworfenen Anfangs und im Ausblick auf die Möglichkeiten unmittelbarer sprachferner Erfahrung seiner selbst inne werden.

47

Zum Verständnis von „Correspondances“ vgl. die differenzierte Interpreta¬ tion von Marcel Raymond, De Baudelaire au Surrealisme. Paris: Corti 1952. S. 23 f. 197

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Nietzsche „Aus hohen Bergen“ Friedrich Nietzsche, Gesammelte Werke. München: Musarion 1922 ff. Musarionausgabe [zit. MA]

Friedrich Nietzsche, Werke, hrsg. von Karl Schlechta. München: Hanser 1954 [zit. Schlechta I, II, III] Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin: de Gruyter 1967 ff. [zit. Werke] Friedrich Nietzsche, Gesammelte Briefe, hrsg. von Elisabeth FörsterNietzsche. Leipzig: Insel. Bd III 19052 [zit. Briefe]

Nietzsches Gedicht „Aus hohen Bergen“ wurde 1886 als „Nach¬ gesang“ zu „Jenseits von Gut und Böse“ publiziert1. Wir halten uns zunächst und hauptsächlich an die frühere Fassung, wie sie in einem Brief Nietzsches an Heinrich von Stein von Ende November 1884 ent¬ halten ist. Sie trägt den Titel „Einsiedlers Sehnsucht“. Die Rechtferti¬ gung, so vorzugehen, muß sich aus diesem Vorgehen selber ergeben. 1

Schlechta II, S. 757. — MA XV, S. 263—265 Das Gedicht hat bei der Generation nach Nietzsche großen Eindruck gemacht. Ich stieß auf die folgenden Echowirkungen: Schnitzler an Hofmannsthal am 27. Juli 1891: „Gelesen wird mancherlei ... Besonders Nietzsche — zuletzt hat mich sein Schlußcapitel und das Schlußgedicht zu Jenseits von Gut und Böse ergriffen. — Erinnern Sie sich? Nietz’sche Sentimentalität! — Weinen¬ der Marmor! Stellen, die sogar auf Weiber wirken, ohne daß man den Stellen oder den Weibern bös werden müßte.“ Briefwechsel, hrsg. von The¬ rese Nicki und Heinrich Schnitzler. Frankfurt: Fischer 1964. S. 9. — Rilkes „Stundenbuch“ enthält einen deutlichen Bezug in dem Gedicht „Wer seines Lebens viele Widersinne ...“ (1899) Rilke, Sämtliche Werke hrsg. von Ernst Zinn. Insel-Verlag. Bd I, S. 263, Bd III, S. 318. — Der Hinweis darauf und ein Kommentar dazu bei Erich Heller, Rilke und Nietzsche. In: E. H., Nietz¬ sche, Frankfurt: Suhrkamp 1964 (edition suhrkamp 67). S. 77. — Gundolf an George am 23. Febr. 1911: „Neulich las ich wieder einmal den Nietzsche Nachgesang aus hohen Bergen — ,0 Lebens Mittag' das ist doch eines der größten Gedichte, die je geschaffen wurden — ... insbesondre Nietzsches eigenes Schicksal steht so überwältigend groß darin, daß einem alles biogra¬ phische und psychologische Geschwätz über ihn ganz unerträglich wird. Was

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Einsiedlers Sehnsucht Oh Lebens Mittag! Feierliche Zeit! Oh Sommer-Garten! Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten! Der Freunde harr’ ich, Tag und Nacht bereit: Wo bleibt ihr Freunde? Kommt! S’ist Zeit! S’ist Zeit! Im Höchsten ward für euch mein Tisch gedeckt: Wer wohnt den Sternen So nahe, wer des Lichtes Abgrunds-Fernen? Mein Reich — hier oben hab ich’s mir entdeckt — Und all dies Mein — ward’s nicht für euch entdeckt? Nun liebt und lockt euch selbst des Gletschers Grau Mit jungen Rosen, Euch sucht der Bach, sehnsüchtig drängen, stoßen Sich Wind und Wetter höher heut’ ins Blau Nach euch zu spähn aus fernster VogelschauDas seid ihr Freunde! — Weh, doch i c h bin’s nicht, Zu dem ihr wolltet? Ihr zögert, staunt — ach, daß ihr lieber grolltet! Ich bin’s nicht mehr? Vertauscht Hand, Schritt, Gesicht? Und was ich bin, — euch Freunden bin ich’s — nicht? Ein Andrer ward ich und mir selber fremd? Mir selbst entsprungen? Ein Ringer, der zu oft sich selbst bezwungen, Zu oft sich gegen eigne Kraft gestemmt, Durch eignen Sieg verwundet und gehemmt? — Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht, Ich lernte wohnen, Wo niemand wohnt, in öden Eisbär-Zonen, man auch gegen, sein Werk, seinen Willen und sein Wissen, von der Kreis¬ schließenden Liebe aus einwenden kann, er war einfach eine große Seele und hatte ein erhabenes inneres Schicksal: wirklich ein Recht zu seinen höchsten Worten.“ Briefwechsel hrsg. von Robert Böhringer mit Georg Peter Land¬ mann. München und Düsseldorf: Küpper/Bondi 1962. S. 224. Vgl. auch Walter Benjamins Aphorismus „Kurze Schatten“ in Schriften Bd II, der unten zitiert wird. — Ödön von Horvath legte die Zeile „Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt“, dem Alfred in „Geschichten aus dem Wienerwald“ in den Mund. Horvath, Stücke. Hamburg: Rowohlt 1961 199

Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet, Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht. Ein schlimmer Jäger ward ich: seht wie steil Gespannt mein Bogen! Der Stärkste war’s, der solchen Zug gezogen — Doch wehe nun! Ein Kind kann jetzt den Pfeil Drauf legen: fort von hier! Zu eurem Heil! — Ihr alten Freunde! Seht nun blickt ihr bleich, Voll Lieb’ und Grausen! Nein, geht! Zürnt nicht! Hier könntet ihr nicht hausen! Hier zwischen fernstem Eis- und Felsenreich — Da muß man Jäger sein und gemsengleich. Ihr wendet euch?-Oh Herz, du trugst genung! Stark blieb dein Hoffen! Halt neuen Freunden deine Thüre offen, Die alten lass! Lass die Erinnerung! Warst einst du jung, jetzt — bist du besser jung! Nicht Freunde mehr — das sind, wie nenn’ ich’s doch? Nur Freund-Gespenster! Das klopft mir wohl noch Nachts an Herz und Fenster, Das sieht mich an und spricht „wir warens doch“? — Oh welkes Wort, das einst wie Rosen roch! Und was uns knüpfte, junger Wünsche Band, — Wer liest die Zeichen, Die Liebe einst hineinschrieb, noch, die bleichen? Dem Pergament verglich ich’s, das die Hand Zu fassen scheut — ihm gleich verbräunt, verbrannt! — Oh Jugend-Sehnen, das sich mißverstand! Die ich ersehnte, Die ich mir selbst verwandt-verwandelt wähnte — Daß alt sie wurden, hat sie weggebannt: Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt! Oh Lebens Mittag! Zweite Jugend-Zeit! Oh Sommer-Garten! Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten! Der Freunde harr’ ich, Tag und Nacht bereit: — Der neuen Freunde! Kommt! S’ist Zeit! S’ist Zeit!2 2

Briefe III, S. 243—245

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I. Der engültige Titel „Aus hohen Bergen“ bezeichnet die Tradition, in die das Gedicht seiner Topographie nach gehört. Sie verlief, inner¬ halb unserer Studien, vom „Purgatorio“ zu „Incompatibilite“, „Excelsior“, „Himmelsnähe“. Nietzsches Gedicht ist von dieser Tradition umso stärker bestimmt, als es nicht eine individuelle Berglandschaft nachge¬ staltet, sondern die Gebirgsposition nur knapp durch Gletscher, Bach, Wind und Wolken andeutet. Daß die Anschaulichkeit fehlt, macht die spirituelle Bedeutung umso stärker. Der deutlichste Hinweis darauf ist die Figur des Einsiedlers. Die spirituelle Bedeutung des Gebirges speist sich aus ehrwürdigsten Quellen. Auf hohen Bergen wohnten die olympischen Götter, hier offen¬ barte sich oftmals der Gott des Alten Testaments, man denke vor allem an die Psalmen, in der Bergpredigt wurden die Gebote des Neuen Bun¬ des verkündet. Von Alters her war die Bergeshöhe eine Offenbarungs¬ stätte für das Göttliche in der Zeit. Die Nähe der Bergeshöhe zum Himmel wird jedoch im Gedicht nur kurz angedeutet mit den Versen Wer wohnt den Sternen So nahe, wer des Lichtes Abgrunds-Fernen? Es ist der Himmel nach Kopernikus und Bruno. Der Berg ragt in den leergewordenen kosmischen Raum hinein. So ist es nicht verwunderlich, daß der Einsiedler einer ist ohne Gott. Er scheint eine verlorene Stellung zu halten. Nietzsches Entwürfe zu diesem Gedicht lassen jedoch deutlich erkennen, daß das Gebirge noch immer metaphysisch virulent ist. Der früheste lautet: Oh gute Zeit, die jetzt mit blüht Oh feierliche große Jahreszeit — Vom Nord zum Süd Die Götter-Gäste — ewig fremd und unbekannt, Die Namenlosen Ihr göttlich-königlichen Gäste Von allen Höhen strömt mir Verkündigung Gleich Wohlgerüchen 201

s,

Gleich ahnungsvollen Winden läuft Vom Nord zum Süd Mein Herz, dem seine Festzeit blüht Einsiedler soll nicht länger einsam sein!3 Und auch wie die erste Strophe schon beinahe feststand, erwog Nietzsche noch als vorletzte Zeile: Die Götter-Gäste sind [nicht weit] sie weit noch? weit?4 Damit wird die Position des Einsiedlers erst ganz verständlich. Ere¬ miten der christlichen Zeit hatten mit ihrem Rückzug aus der V eit auf die in Christus ergangene Offenbarung Gottes geantwortet. Der Einsied¬ ler des Gedichts sehnt im Gebirge eine neuerliche Offenbarung herbei. Er deutet die Unruhe, die ihn ergriffen hat, auf die unmittelbar bevor¬ stehende Parusie neuer Götter. Diese brächten seinem Einsiedlertum die Rechtfertigung. In götterloser Zeit hätte er erfolgreich die metaphysiscne Bereitschaft aufrechterhalten. Die erwarteten Götter heißen „ewig fremd und unbekannt“. Diese Bezeichnung unterscheidet sie sowohl von den antiken Göttern als auch von dem biblischen Gott, „des Namen über alle Namen ist“. Wiederum aber werden sie aus dem Süden erwartet. Sie würden den für tot erklärten christlichen Gott ablösen entsprechend der Nachlaßnotiz: Ihr nennt es die Selbstzersetzung Gottes: es ist aber nur seine Häu¬ tung: Er zieht seine moralische Haut aus und ihr sollt ihn bald Wiedersehen, jenseits von Gut und Böse3. Aus den beiden fertiggestellten Fassungen des Gedichts ist die theo¬ logische Problematik verschwunden. Von Gott und Göttern ist darin nicht mehr die Rede. Dennoch ist aufgrund der Motive „Berg *

Die Leitung der „Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar“ gestattete mir freundlicherweise, in die Handschriften des Nietzsche-Nachlasses Einblick zu nehmen. Bei der Ent¬ zifferung war mir Herr Dr. Mazzrno Montinari, der Mitherausgeber der neuen kritischen Nietzsche-Ausgabe, behilflich, dem ich auch sonst für vieler¬ lei Anregungen und Hinweise zu danken habe. — Die Entwürfe zu „Ein¬ siedlers Sehnsudit“ stehen in den Notizheften ZII 5, Z II 6, Z II

4 5

und

j.

Das

Zitat in Z II 5, S. 63 Z II 5, S. 65. Dieser Entwurf trägt bereits den Titel „Einsiedlers [Gast¬ freunde] Sehnsucht“. MA XIV, S. 80. Diese Notiz steht als Motto über dem ausgezeichneten Buch von Eugen Bieser, Gott ist tot. Nietzsches Destruktion des christlichen Be¬ wußtseins. München: Kösel 1962

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„Einsiedler“ zu vermuten, daß diese Problematik in anderer Form er¬ halten geblieben ist. Zunächst muß als äußere Bestätigung genügen, daß das Gedicht schließlich, ganz im Sinne der obigen Notiz, zum „Nach¬ gesang“ von „Jenseits von Gut und Böse,, wurde. Der Einsiedler des fertigen Gedichtes ist selbstbewußter als der der Entwürfe. Er wartet nicht auf eine neue Offenbarung, sondern hat die Höhenposition für sich selbst in Besitz genommen. Das Gebirge macht in Gletscher, Bach und Wolken seine Sehnsucht offenbar, er ist im mehr¬ fachen Sinn des Wortes der Herr der Berge. Stolz nennt er sich deren Entdecker und bezeichnet das Gebirge mit einem biblischen Terminus als „Mein Reich“. Auch sein Gastmahl für die Freunde in der Höhe hat biblische Vorbilder: „Ihr aber seid’s, die ihr beharret habet bei mir in meinen Anfechtungen. Und ich will euch das Reich bescheiden, wie mir mein Vater beschieden hat, daß ihr essen und trinken sollt an meinem Tische in meinem Reich und sitzen auf Stühlen und richten die zwölf Geschlechter Israels.“ (Luk. 22, 28—30) Der feierliche Anruf, mit dem das Gedicht einsetzt, bestimmt Ort und Zeit in bezug auf den Einsiedler. Das Gebirge ist sein Garten, der Zeitpunkt, banal gesagt, sein Geburtstag. Dabei werden Ort und Zeit nicht geographisch-historisch benannt, sondern an der solaren Zeit gemes¬ sen. Mittag, Sommer, Lebensmitte bezeichnen dreimal einen Zenit. Die Spannung, die den Einsiedler erfüllt, ist die eines Wendepunktes, an dem sich Vergangenes und Zukünftiges berühren. Das macht das Geburtstags¬ glück unruhig. Die erste Strophe verläuft so, daß sich diese Unruhe schrittweise artikuliert und damit konkretisiert. Am Anfang stehen emphatische Ausrufe. In der dritten Zeile lösen nominale Verben, wiederum in feier¬ licher Dreizahl, die Substantive ab. „Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten“, Erwartung, Wartender und Erwartetes sind noch unge¬ schieden. Erst in der Zeile darauf erscheint die Ich-Form. Als Objekte der Erwartung werden die Freunde eingesetzt. So kommt es zu einem grammatisch vollständigen Satz. In der Schlußzeile hat der Ausruf, der an den Anfang anknüpft, einen festen Inhalt. — Die folgenden zwei Strophen führen diese Entfaltung weiter. Mit der dritten ist die Exposi¬ tion des Gedichtes abgeschlossen. Von der tautologischen Gestalt, die das Gedicht dadurch nicht nur am Anfang bekommt, wird später ausführlich zu sprechen sein. Für die Methode ergibt sich aus dieser Beobachtung, daß hier anders als bei Meyer und Baudelaire nicht Wort für Wort interpretiert werden kann. 203

Es muß zunächst darum gehen, den Gedankengang des Gedichtes schritt¬ weise zu klären. Daß sich die Sehnsucht des Einsiedlers auf die alten Freunde fixiert, deutet darauf, wie er sich und seine Höhenposition versteht. Obwohl er zunächst den Anschein erweckt, scheint er doch nicht als absoluter Einzelner die Stelle Gottes einnehmen zu wollen. Er sieht sich als Vor¬ läufer einer Gemeinschaft. Für diese hat er ein festliches Freundschafts¬ mahl vorbereitet. In den Vorstufen taucht für das Reich der Höhe einmal der Ausdruck „Reich der Freude“ auf. „Festzeit“ weist in derselben Richtung. Die Ausrufe am Anfang nehmen diese gemeinsame Freude vorweg. Das geplante Mahl erinnert damit an dasjenige, das Schillers „Ode an der Freude“ voraussetzt, wie es die Freunde des Tübinger Stifts auf dem Ettersberg in Hölderlins Jugend enthusiastisch begingen; nur ist die Gemeinschaft nicht der Repräsentant des Göttlichen, sondern selber göttlich. Es ist bedeutsam, daß der Freundschaftsbund nicht auf ein Ideal oder einen Zweck verpflichtet ist. Freundschaft an sich ist das Ideal. Das motiviert ihre Fokalisierung auf hohen Bergen. Die Gemeinschaft, die die Stelle Gottes eingenommen hat, ist der Bezugspunkt für das Selbstver¬ ständnis des Einzelnen. Das Gedicht antwortet auf eine anthropologi¬ sche Fragestellung. Dieses Verständnis seiner selbst macht das Eintreffen der Freunde zu einer Notwendigkeit für den Einsiedler. Von der Gemeinschaft her gesehen, ist seine Einsamkeit ein, wenn auch vorläufiger, Mangelzustand. Schillers Ode verbannte deshalb den Einsamen aus dem Bund der Freude. Durch die Freunde käme ein Konsensus zustande, für das, was der Einsiedler zunächst ganz allein verbürgen muß. Seine Sendung bekäme Objektivität. All das erklärt die Spannung, in der er nach den Freunden Ausschau hält. Mit der vierten Strophe erfüllt sich die Erwartung. Die Freunde kommen. Doch aus der Freude des Wiedersehens wird alsbald Enttäu¬ schung. Diese wird in den folgenden fünf Strophen zum Thema. Sie bewirkt eine völlige Umorientierung des Verständnisses, das sich der Einsiedler von sich und seiner Position zurechtgelegt hatte. Ausgelöst wird die Entwicklung dadurch, daß der Anagnorismos ausbleibt. Die Freunde erkennen im Einsiedler nicht mehr den, der er früher war. Sie rechnen ihn nicht mehr zu ihrer Gruppe. Das tangiert das Bild seiner Identität. Er hatte sich bisher als Freund der Freunde ver¬ standen, d. h. so, wie er sich vorstellte, daß er ihnen erscheinen würde. 204

Noch ihr Groll hätte dieses Verhältnis anerkannt. Ihre Reaktion zeigt ihm jedoch, daß er seine auf sie bezogene, auf konstanten physiognomischen Merkmalen beruhende Identität eingebüßt hat. Der Spiegel, den sie für ihn dargestellt hatten, ist plötzlich blind geworden. Nun muß er sich selber abtasten, um in Erfahrung zu bringen, wer er ist. Das geschieht in der Kette von Fragen nach sich selbst, die der Schock in ihm auslöst. Den Kernpunkt formulieren die Sätze: Ein Andrer ward ich und mir selber fremd? Mir selbst entsprungen? Das ist von raffinierter Doppeldeutigkeit. Einerseits fassen diese Zei¬ len die offenbar gewordene Veränderung als Selbstentfremdung, ja als Verlust der Identität. Doch diese Identität beruhte auf der Relation zu den Freunden. Sie hatte die Struktur der Eitelkeit. Der Ausdruck „mir selbst entsprungen“ gibt dem Verlust dieser Identität eine positive Be¬ deutung. Der Einsiedler verdankt nach dem Bruch mit den Freunden, so schließt er, seinen Ursprung nur noch sich selbst. Er beginnt zu ahnen, daß er damit autonom geworden ist. Wie aber kann ihm aus seiner Unmittelbarkeit ein Bewußtsein der Identität kommen? Der Einsiedler sucht auf dem Umweg über seine Geschichte zu begrei¬ fen, wer er ist. Er faßt sie zunächst in das Gleichnis des Ringers. Dessen Paradoxie klärt sich, wenn man in die Strophen fünf und sechs Longfellows „Excelsior!“ interpoliert, das sich als Vorgeschichte des Einsied¬ lers auffassen läßt. Der Ringkampf wäre demnach einer zwischen der eigenen Kraft und der Neigung, sich von Konventionen und Traditionen her zu verstehen. „Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet.“ Preis¬ gegeben wurde auch die theozentrische Orientierung, die Bestimmung des Menschen aus dem Verhältnis zu Gott. Mit diesem zentralen Dogma wurden auch die daraus begründeten übrigen Werte fallengelassen. Die Überwindung dieser Anschauungen führte den Einsiedler aus der Ge¬ meinschaft heraus dorthin, „wo niemand wohnt“. Mit „Excelsior!“ stimmt auch überein, daß diese Loslösung als Wirkung eines oft wiederholten Aktes gesehen wird. Anders jedoch als der Aufstieg des Longfellowschen Jünglings ist der Aufstieg des Einsiedlers nicht in einem vorgegebenen Programm begründet. Sonst brauchte er sich nicht mühsam zu vergewis¬ sern. Er wurde von einem Kraftzentrum gesteuert, das sich von innen gegen alle von außen kommenden Lebensformen durchsetzte. Der Ein¬ siedler war in diesem Ringkampf Sieger und Besiegter in einer Person. An dieser Stelle der Selbstvergewisserung des Einsiedlers verliert nun 205

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auch die Gebirgsregion ihr wirtliches Aussehen. Sie ist nun statt ein einladender Garten eine „öde Eisbärzone“, die auf niemanden wartet. Nur der kann sich darin aufhalten, der sich aus allen Bindungen an eine Umwelt gelöst hat. Er gleicht einem Toten. Der Hinweis auf den Eisbär bewahrt aber davor, den Aspekt des Todes absolut zu nehmen. Von den Niederungen aus erscheint die Gletscherwelt als gespenstisches Totenreich. In dem, der sich in ihr befindet, wachsen durch die Ausein¬ andersetzung mit ihr vitale Kräfte. Schnee und Eis gehören bei Nietzsche wohl auch in den Umkreis der Selbstbezogenheit entsprechend dem „coeur glacial“, das die pietistische Umgebung dem jungen Meyer zuschrieb. Aber aus der Konzentration auf sich selbst ergibt sich nicht jene Totenstarre, an der noch der Excelsior-Jüngling umkommt, wie sie auch Baudelaires kalte Kostbarkeiten ausstrahlen. Eis macht hier, indem es reduziert, stark und lebendig3 * * 6. Diese Paradoxie von Kraft und Schwäche faßt das zweite Gleichnis zusammen. Es läßt sich aus dem Gedichttext selbst nur zum Teil deuten. Ganz verständlich wird es erst aus dem Briefwechsel zwischen Nietzsche und Stein7. Darnach identifiziert sich der Einsiedler hier mit dem antiken Helden Philoktet. Er lebte, nachdem ihn die nach Troja fahrenden Grie¬ chen ausgesetzt hatten, als kranker Einsiedler auf der Insel Lemnos. Doch er hatte schicksalhafte Macht in Händen. Er verwahrte den Bogen des Herakles, ohne den nach dem Orakel Troja nicht erobert werden konnte. In Philoktet waren eigene Schwäche und eine Kraft, über die er nicht verfügen konnte, also Menschliches und Göttliches, vereint. Das Göttliche erscheint in der Verbindung mit dem Bogen als Spannung, Potentialität, die sich bei der geringsten Berührung auf unberechenbare Weise entladen kann. Mit Philoktet hat der Einsiedler ein Bild für sich selbst gefunden, das ihm und seinem bedeutenden Standort angemessen ist. Der Verzicht hat in ihm eine Kraft aufkommen lassen, die ihn selbst übersteigt. Einmal dadurch, daß sie seiner Kontrolle entzogen ist, zum andern aber durch

3

Diese „Umwertung“ der Motive Kälte, Eis, Schnee ist für die Verschiebung des Verhältnisses von Ich und Welt außerordentlich bezeichnend. Die ge¬ nannten Motive bekommen dadurch positive Bedeutung, daß sie das Ich gegen die Welt auf sich selbst verweisen. Der Ansatz zur Umwertung ist schon in Goethes Gedicht „Wanderers Sturmlied“ zu erkennen. In den Tex¬ ten Wilhelm Müllers zu Schuberts „Winterreise“ sind beide Wertungen nebeneinander vorhanden.

7

Briefe III

206

ihr welthistorisches Ausmaß. „Der Stärkste“, von dem er so geheimnis¬ voll spricht, der Herakles der Sage, ist der in der Höhe in seinen Willen eingegangene Gott, den er als Spannung und Unruhe in sich spürt. In dieser Strophe scheint der Einsiedler dem seiner Position ange¬ messenen Verständnis von sich am nächsten gekommen zu sein. Er hat seine Paradoxie erkannt. Doch noch als bedrohliche Macht bleibt er auf die Freunde bezogen. Auch Feindschaft ist ein Relationsbegriff. Insofern ist hier zwischen Freund und Feind kein Unterschied. So leitet die zen¬ trale Jäger-Strophe zwar zur Abwehr der Freunde über, aber sie führt nicht aus der Struktur heraus, die am Anfang ins Spiel gekommen ist. Nach dem Abgang der Freunde wird das Herz zum Gesprächspart¬ ner des zurückbleibenden Einsiedlers. Doch die Auseinandersetzung mit den Freunden ist damit noch nicht zu Ende. Das Herz ist hier nicht, wie man erwarten möchte, Ursprung der Spontaneität und damit Sitz einer unmittelbaren Selbstgewißheit. Es hält im Gegenteil viel zäher als das Bewußtsein an den Freunden fest. In der Hinwendung zu ihm werden die Voraussetzungen geprüft, die zur Bindung an die alten Freunde führten. Es ergibt sich eine Reflexion auf die Erinnerung. Die Erinnerung hält, was einmal war, unverändert fest. Sie entzieht es der Zeit, die es der Vernichtung überliefern würde, und mumifiziert es. Diese Aufbewahrung wird besonders dem Wertvollen zuteil, dem auf diese Weise Einfluß auf das weiterschreitende Leben eingeräumt wird. Das Vergangene gelangt so dazu, das Gegenwärtige und Zukünftige zu be¬ stimmen. Medium dieses Einflusses ist eben das Herz. Es reagiert jenseits des Bewußtseins mit Vorliebe aufgrund von Erinnerungen, die sich iii ihm abgelagert haben. Das Fühlen ist konservativer als das Denken. Wir haben am Anfang gesehen, daß der Gedankengang des Gedichts aus der Artikulation einer noch unfixierten Sehnsucht hervorging. Das erklärt, weshalb der Einsiedler seinen positionsbedingten Zustand mi߬ verstand. Als Stimmung stand die Spannung seinem Herzen am näch¬ sten. Dieses lenkte sie auf die alten Freunde, deren Erinnerung es pietät¬ voll und sentimental aufbewahrte. Das Kommende dachte es als Wieder¬ kehr des Gewesenen. Die Differenzierung und inhaltliche Festlegung des unbestimmten Stimmungszustandes führte zur Konfrontation mit der Realität und damit zur Reflexion, die nun die voreilige Festlegung kor¬ rigiert. Aus der Abwehr der falschen Deutung der anfänglichen Span¬ nung kann sich nun eine neue und reflektierte Deutung entwickeln. Auch dieses neue Selbstverständnis des Einsiedlers verzichtet nicht auf den Bezug zu einer Gemeinschaft. Doch nun versteht er sich nicht als 207

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Vollstrecker des Willens alter Freunde, sondern als Begründer, ja Stifter eines künftigen neuen Freundschaftsbundes. Dieser bestünde aus seines¬ gleichen. Sein Programm formuliert der Satz Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt. Er geht auf die Paradoxie aus, daß derjenige bleibt, der sich ständig verwandelt. Das heißt zunächst, daß sich der Einsiedler selbst als in ständiger Verwandlung begriffen erkannt hat. Wer sich ebenso ständig wandelt, ist ihm gleich. Damit setzt er sich als Maß für die Freunde, von denen her er seine Lage begreift. Sie können, als seine Verviel¬ fachungen, ihm sein Selbst treu zurückwerfen. — Der Satz besagt ferner, daß eben der Vorgang der Verwandlung das Bleibende an dem Ein¬ siedler ausmacht. Darauf beruht paradoxerweise seine Identität. Genau¬ genommen liegt das Identische in der Kraft, die die ständige Metamor¬ phose bewirkt. Die Überwindung des Bezugs auf die Freunde und der Entwurf einer neuen Freundschaft ist selbst eine solche Metamorphose. Sie ist Erledigung und Neugründung in einem, ewige Jugend. Das Mißverständnis des Einsiedlers bestand darin, daß er diese ewige Jugend, eine Qualität, die mit dem göttergleichen Standort unmittelbar zusammenhängt, mit seiner biographischen Jugend verwechselte. Hinterher erscheint das Mißverständnis als List, mit deren Hilfe der genius loci als genius des Einsiedlers in ihm ein angemesseneres Bewußtsein erzeugte. Das Ergebnis dieses Prozesses geht in die am Ende wieder¬ holte Anfangsstrophe ein. Die unbestimmte „feierliche Zeit“ ist nun zur „zweiten Jugendzeit“ geworden. Die alten überwundenen Freunde sind durch neue Freunde ersetzt. So bedeutsam jedoch diese Umwandlung von „alt“ in „neu“ ist, man darf dabei nicht übersehen, daß auch das neue Verständnis die Struktur des alten beibehält. Der Einsiedler versteht sich noch immer nicht als einmalige und einzigartige Person. Er ist noch immer darauf gerichtet, daß seine Einmaligkeit einmal in einen größe¬ ren Verband aufgehen wird. Sein Individualismus ist vorweggenommene Allgemeinheit. Sein explizites Bewußtsein widerspricht somit jener Auf¬ fassung seiner selbst, zu der er im mythischen Vergleich mit Philoktet gekommen ist. Vergleicht man das Ergebnis mit dem ersten Entwurf, so erkennt man, daß die neuen Freunde an die Stelle der erwarteten Götter getre¬ ten sind. Aus der Hoffnung auf einen neuen Aeon ist damit eine auf einen Fortschritt geworden, der restaurative Züge enthält. Es macht den Anschein, als sei das Gedicht platter geworden, als es ursprünglich kon¬ zipiert war. 208

II. Bisher wurde nach Möglichkeit davon abgesehen, daß es sich bei „Einsiedlers Sehnsucht“ um ein Gedicht Nietzsches handelt. Zwar stand die Kenntnis von Nietzsches Gedankenwelt im Hintergrund, doch wurde der Gedankengang primär aufgrund des Textes aufgehellt. Nun soll ver¬ sucht werden, die aufgezeigte Grundproblematik von Nietzsches philo¬ sophischen Erörterungen her zu betrachten. Das soll im Sinne eines Kom¬ mentars geschehen, der durch die Beiziehung paralleler Äußerungen ver¬ deutlicht und vertieft, was aus dem Gedicht gewonnen wurde. Es ging darin um das Selbstverständnis und die Identität des Ein¬ siedlers, der die Position Gottes eingenommen hatte. Damit gehört es in den Umkreis von Gedanken, die für Nietzsche von „Menschliches-Allzumenschliches“ an eine wichtig Rolle spielen. Parallel mit der Destruktion der christlichen Gottesvorstellung verläuft als deren anthropologische Konsequenz eine Polemik gegen das traditionelle Ich-Verständnis. Wie beides zusammengehört, wie darüber hinaus überhaupt Ich-Bewußtsein zustande kommt, ist das Thema des folgenden Fragments aus der Zeit der „Fröhlichen Wissenschaft“: Die letzten

Organismen, deren Bildung wir sehen (Völ¬

ker, Staaten, Gesellschaften), müssen zur Belehrung über die ersten Organismen benutzt werden. Das Ich-Bewußtsein ist das Letzte, was hinzukommt, wenn ein Organismus fertig fungiert,

fast

etwas

Überflüssiges: das Bewußtsein der Einheit, — jedenfalls etwas höchst Unvollkommenes und Oft-Fehlgreifendes im Vergleich zu der wirklich eingeborenen, einverleibten, arbeitenden Einheit aller Funk¬ tionen. Unbewußt ist die große Haupttätigkeit. Das Bewußtsein erscheint erst gewöhnlich, wenn das Ganze sich wieder einem höheren Ganzen unterordnen will als Bewußtsein zunächst dieses höheren

Ganzen

des Außer-sich. Das Bewußtsein entsteht

in bezug auf das Wesen, dem wir Funktion sein könn¬ ten — es ist das Mittel, uns einzuverleiben. Solange es sich um Selbst¬ erhaltung handelt, ist Bewußtsein des Ich unnötig. — So wohl schon im niedersten Organismus. Das Fremde, Größere, Stärkere wird als solches zuerst vorgestellt. — Unsere Urteile über das „Ich“ hinken nach, und werden nach Anleitung der Außer-uns, der über uns waltenden Macht vollzogen. Wir bedeuten uns das, als was wir einem höheren Organismus gelten — allg. Gesetz. Die Empfindungen und die Affekte des Organischen sind 209

14

Pestalozzi, Lyrisdies Ich

V

alle längst entwickelt, bevor das Einheitsgefühl des Bewußtseins ent¬ steht.8 Der Zusammenhang zwischen Gott und Ich klingt gegen Ende dieses Aphorismus an. Er wird aufgrund seiner Struktur in einen größeren Rahmen gestellt. Der Mensch gewinnt Bewußtsein von sich selbst als einem Ich grundsätzlich aus dem Bezug zu einer ihm übergeordneten Macht, und zwar so, daß er sich deren Bild von ihm zu eigen macht. Er betrachtet sich von außen, mit fremden Augen, und sucht in seinem Verhalten diesem Bild zu entsprechen. Auf das Verhältnis zu Gott an¬ gewandt heißt das: indem ich mich als Geschöpf, ja als Kind Gottes weiß, fasse ich mich selbst so, wie ich denke, daß Gott mich sieht. Darin eben besteht mein Ich-Bewußtsein. Nietzsche denkt hier möglicherweise daran, daß „Bewußtsein“ das lateinische „con-scientia“ wiedergibt, das diesen übergreifenden Bezug andeutet. Nach seiner Argumentation kann der Staat oder sonst eine übergeordnete Macht zum Träger dieser identi¬ fizierenden Funktion werden. Diese scheinbar beschreibende Ableitung richtet sich gegen das cartesisch-idealistische Ich, das Unbedingtheit und Autonomie für sich be¬ ansprucht. Es soll seiner logischen und entwicklungsmäßigen Bedingtheit, damit seiner inneren Widersprüchlichkeit überführt werden, um seinen Herrschaftsanspruch zu brechen. Mit der Lehre vom Tod Gottes hängt dieser Aphorismus insofern zusammen, als er die übergeordneten Mächte allgemein einer verfälschenden Wirkung bezichtigt und Wege sucht, ohne sie ein Ich-Bewußtsein zu begründen. Die Notwendigkeit, überhaupt ein einheitliches Bewußtsein von sich selbst zu haben, wird daraus abgeleitet, daß der Mensch von Natur aus als Organismus ein einheitliches Ganzes ist. Nietzsche spricht von der „wirklich eingeborenen, einverleibten, arbeitenden Einheit aller Funktionen“, die unbewußt ist. Es geht ihm um die Auflösung des Widerspruchs, daß diese selbsttätige Einheit, die der Mensch darstellt, in dem Moment aufhört, selbständig zu sein, wo sie sich dessen bewußt wird, daß sie eine ist. Er tendiert darauf, ein dem unbewußten Organis¬ mus adaequates Ich-Bewußtsein aus diesem selbst zu entwickeln, das die Selbständigkeit zu erhalten und zu steigern vermöchte. Damit sucht er im Sinne der Natur zu denken. Doch der zitierte Aphorismus beschreibt gewissermaßen auch ein Gesetz der menschlichen Natur. So hätte die Natur selbst das falsche 8 MA XI, S. 263/4 210

Ich-Bewußtsein hervorgebracht oder doch gefördert. Andere Aphorismen Nietzsches bekräftigen diese Auffassung. Damit hätte Nietzsche das Wagnis auf sich genommen, die menschliche Natur selbst zu korrigieren. Der Nachweis der inneren Widersprüchlichkeit ist der eine Weg, auf dem Nietzsche versuchte, den traditionellen Ich-Begrift auszuschalten. Der andere, positive, bestand in der Proklamation eines Gegen-Ich, das er meistens als „Selbst“ bezeichnet; doch ist die terminologische Scheidung von Ich und Selbst nicht immer durchgehalten. Die Ver¬ kündigung des Selbst ist einer der Aufträge Zarathustras. Am deutlichsten wird der Gegensatz von Ich und Selbst im Abschnitt „Von den Verächtern des Leibes“ ausgeführt: „Leib bin ich und Seele“ — so redet das Kind. Und warum sollte man nicht wie die Kinder reden? Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Herde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du „Geist“ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner großen Vernunft. „Ich“ sagst du und bist stolz auf dies Wort. Aber das Größere ist, woran du nicht glauben willst — dein Leib und seine große Vernunft: die sagt nicht Ich, aber tut Ich. Was der Sinn fühlt, was der Geist erkennt, das hat niemals in sich sein Ende. Aber Sinn und Geist möchten dich überreden, sie seien aller Dinge Ende: so eitel sind sie. Werk- und Spielzeuge sind Sinn und Geist: hinter ihnen liegt noch das Selbst. Das Selbst sucht auch mit den Augen der Sinne, es horcht auch mit den Ohren des Geistes. Immer horcht das Selbst und sucht: es vergleicht, bezwingt, er¬ obert, zerstört. Es herrscht und ist auch des Ichs Beherrscher. Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser — der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er. Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit. Und wer weiß denn, wozu dein Leib gerade deine beste Weisheit nötig hat? Dein Selbst lacht über dein Ich und seine stolzen Sprünge. „Was sind mir diese Sprünge und Flüge des Gedankens?“ sagt es sich. „Ein 211

14*

Umweg zu meinem Zwecke. Ich bin das Gängelband des Ichs und der Einbläser seiner Begriffe.“ Das Selbst sagt zum Ich: „hier fühle Schmerz!“ Und da leidet es und denkt nach, wie es nicht mehr leide — und dazu eben soll es denken. Das Selbst sagt zum Ich: „hier fühle Lust!“ Da freut es sich und denkt nach, wie es noch oft sich freue — dazu eben soll es denken.9 Diese Zarathustra-Rede teilt mit dem zitierten Aphorismus die Ten¬ denz, den Anspruch auf Autonomie des Ich zu widerlegen. Doch die Argumentation schlägt einen anderen Weg ein. Sie ist offen polemisch und daher deutlich von dem geprägt, wogegen sie sich wendet. Bewußt wird auf den Kopf gestellt, was die idealistische, ja die abendländische Tradition insgesamt über das Verhältnis von Leib, Seele und Geist ge¬ dacht hat. Die Vernunft, zur „kleinen Vernunft“ degradiert, wird ebenso wie die Seele in Abhängigkeit von jener Empirie gesehen, als deren Gegenprinzip sie sich verstanden hatte. Sie wird dem Leib unterworfen. Damit büßt sie mit ihrer Autonomie ihre Unveränderlichkeit und ihre Unsterblichkeit ein. Sie hört auf, ewig zu sein. Daß umgekehrt der Leib als „große Vernunft“ bezeichnet wird, ist fast höhnisch gemeint; denn ihm sind Lust und Schmerz, Triebe und Instinkte eigen, die seit je im Rufe der Blindheit standen. Doch nun bekommt der Leib wichtige Charakteristika der Vernunft zugesprochen. Wie diese ist er Wille, wenn sich sein Wille auch dem Trieb nähert, und auch der Leib wirkt als Gesetzgeber, der ganz aus sich heraus will, aus Freiheit jenseits aller Kausalität. Es scheint Bedeutung zu haben, daß nicht vom Körper, son¬ dern vom Leib die Rede ist. Der Leib ist belebte Materie, nicht bloßer Stoff. Damit aber ist er nicht das Gegenprinzip zur Vernunft im bis¬ herigen Sinne, sondern eine Ganzheit, die diese umgreift. Die „kleine Vernunft“ ist ein Teil der großen. Zarathustras Rede geht darauf aus, dem dualistischen Bild des Menschen ein einheitliches gegenüberzustellen. In unserem Zusammenhang ist vor allem wesentlich, daß Zarathustra auf diese als Leib gefaßte Einheit den traditionellen Begriff des Selbst anwendet. Auch dabei verhält er sich offensichtlich polemisch. Wir hatten gesehen, daß Dante erst am äußersten Punkt seiner Jenseitsreise, in Gott, sich selbst begegnete. Gott blieb auch in der Folgezeit der Garant des Selbst. Doch erhielt dieses innerhalb der unmittelbaren Erfahrung Äqui-

9 Schlechta II, S. 300

valente. Schillers berühmter Satz von der Aufnahme der Gottheit in den menschlichen Willen deutete einen Umbruch an. Doch noch der Plural seiner Anrede weist darauf hin, daß dem so verstandenen Selbst Allge¬ meinheit erhalten blieb. So konnte er auch noch immer von Gottheit und Göttern sprechen. Gerade „Das Ideal und das Leben“ ist noch ganz von dem Dualismus beherrscht. Erst im Tod gelangt Herakles zu seinem göttlichen Selbst. Nicht zuletzt gegen Schiller könnte sich Zarathustras Rede gegen die leibfeindliche Vernunft richten10. Indem er das Selbst mit dem Leib gleichsetzt, nimmt er ihm zweierlei, seine Allgemeinheit und seine Transzendenz. Mit seinem eigenen Leib hat jeder Mensch ein eigenes und eigentümliches Selbst, das ihm allein zugehört. Er unter¬ steht einem individuellen Gesetz, das nur für ihn gilt. Es erlischt mit seinem Tode. Wenn aber Selbst und Leib identisch sind, der Mensch aber von Geburt an einen Leib hat, folgt nicht daraus, daß er nicht anders kann als bei sich selbst sein, daß er sein individuelles Gesetz immer schon „von selbst“ erfüllt? Daß Zarathustras Rede diesen Eindruck erweckt, hängt mit ihrem speziellen Adressaten zusammen.

Er sucht die Verächter des Leibes

dessen zu überführen, daß sie der Macht des Leibes gar nicht entrinnen können, mögen sie ihn auch noch so verachten. Noch ihre Verachtung sei sein Werk. Der Akzent liegt somit auf der Widerlegung der Leib¬ verächter, nicht auf der Auslegung des Leib-Willens. Dieser wird in geheimnisvolles Dunkel gehüllt: „...ein unbekannter Weiser — der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er. ... Und wer weiß denn, wozu dein Leib gerade deine beste Weisheit nötig hat?“ Indem das Selbst mit dem Leib gleichgesetzt wird, wird es zwar in die menschliche Existenz hineingenommen. Aber es eröffnet sich damit eine neue innermenschliche Transzendenz, die, da sie als individuelle keinen Namen mehr haben kann, schwieriger zu erkennen und zu kennen ist, als die göttliche. Sie hat manche Merkmale eines noch nicht offenbar gewordenen

Gottes,

Fremdheit,

Rätselhaftigkeit,

Unberechenbarkeit.

Darüber darf die okkasionelle Bezeichnung „Leib“ nicht hinwegtäuschen'. Sie ist eine Benennung von etwas Unbenennbarem, weil Unbewußtem.

10

Nietzsches Einstellung zu Schiller war jedoch ähnlich ambivalent und schwan¬ kend wie diejenige zu Wagner, mit welchem Nietzsche Sdiiller zuweilen zusammen nannte. Das Wort vom „Moraltrompeter von Säckingen“ trifft nur eine Seite. Der Aphorismus 336 aus „Menschliches-Allzumenschliches“ II zitiert „Das Ideal und das Leben“ in zustimmendem Sinne, freilich ohne Schiller namentlich zu nennen. Vgl. Schlechta I, S. 856

213

Es gehört zu Nietzsches Problematik, daß ihm selbst zuweilen dieses Gleichnis zur Sache wurde. So konnte er wie in „Ecce homo

zu den

Vorschlägen über Elygiene und Eugenik kommen11. Seine biologischen Ausleger berufen sidi nicht nur zu Unrecht auf ihn. Immerhin gibt es ebenfalls spätere Bemerkungen Nietzsches, die in diesem Punkt unüber¬ hörbar zur Vorsicht mahnen: Alles, was als „Einheit" ins Bewußtsein tritt, ist bereits unge¬ heuer complicirt: wir haben immer nur einen Anschein von Einheit. Das Phänomen des Leibes ist das reichere, deutlichere, faßbarere Phänomen: methodisch voranzustellen, ohne etwas auszu¬ machen über seine letzte Bedeutung.12 Das Studium des Leibes gibt einen Begriff von der unsäglichen Complication (sc. dessen, was dem Ich zugrunde liegt).13 So irreführend es ist, wenn der als „Leitfaden" gebrauchte Leib mit dem Selbst identisch gesetzt wird, so erhellend ist er als Metapher für das, was Nietzsche mit „Selbst" meinte. Zuweilen versucht er andere Umschreibungen:

„Zusammenspiel

der leiblichen

Funktionen"14,

„Le¬

benssystem“15, „System"16, „Klugheit des ganzen Organismus“17, „orga¬ nisierte Einheit"18, „Atomgruppe"19. Neben dem Vorstellungsfeld „Organismus“ erscheint an andern Stel¬ len das der Organisation. „Einheitliche Verwaltung“20, „leitendes Ko¬ mitee“21. Diese Modellvorstellungen des Selbst sind bei Nietzsche ver¬ einzelt. Kafkas Bilderwelt hätte hier ansetzen können-“. In diesen verschiedenen Benennungsversuchen wird die Tendenz fa߬ bar, das Selbst als Spannung von Vielfalt und Einheit zu bestimmen. 11

Selbst der späte Nietzsche sah den Zusammenhang von Genie und Krank¬ heit jedoch nicht naturwissenschaftlich kausal. Er betrachtete die Krankheit als distanzierendes Moment, das es erlaubt, die Welt anders und neu zu sehen und darzustellen.

12

MA XIX, S. 17

13 14 15 iß

MAXVI, S. 117 MAXIX, S. 35 MAXI, S. 241 MAXIX, S. 150

17 iS

MA XVI, S. 117 MA XIX, S. 59

19 29

MA XIV, S. 59 MA XVIII, S. 258

21

MAXIX, S. 35 Ich denke hier an die undurchschaubare Verwaltungswelt, die die Helden

22

in Kafkas Romanen bedroht oder die sie zu durchdringen suchen.

214

Was den Leib abgesehen davon zur Metapher des Selbst tauglich macht, ist die aus ihm erwachsende Lebendigkeit. Das Selbst ist gerade keine Substanz, sondern „Urtatsache“23, „primum mobile“24, „Instinkt“25. In seinem Umkreis erscheinen die Termini „Kraft“, „Fülle“, „Span¬ nung“, „Willen zur Macht“. Das Selbst will sich durchsetzen, aus sich heraus, denn es besteht nur als Bewegung. In Zarathustras Rede an die Verächter des Leibes erscheint es als vielfältige Aktivität. Das Epi¬ theton „primum mobile“ entstammt bezeichnenderweise dem Prädika¬ tionen des kosmischen Schöpfer-Gottes. Die Vielfalt der Vorschläge zur genaueren Bestimmung des Selbst, die paradoxe Formulierungen bevorzugen, hängt mit dessen grundsätz¬ licher Unbekanntheit zusammen. Gerade darauf scheint es Nietzsche an¬ gekommen zu sein, als er dem Namen „Leib“ den Vorzug gab. Schon in einem früheren Aphorismus heißt es: Wie von Alters her den Mensch in tiefer Unbekanntschaft mit seinem Leibe lebt und an einigen Formeln genug hat, sich über sein Befinden mitzutheilen, so steht es mit den Urteilen über den Wert von Menschen und Flandlungen: man hält bei sidi selber an einigen äußerlichen und nebensächlichen Zeichen fest und hat kein Gefühl davon, w i e tief unbekannt und fremd wir uns selber sind. Und was das Urteil über andere anlangt: wie schnell und sicher urteilt da noch der Vorsichtigste und Billigste!26 Das bekräftigt ein Entwurf-Fragment aus der Zarathustra-Zeit: Aber was sind wir selber? Sind wir nicht selber auch nur Bilder? Ein Etwas an uns, Veränderungen an uns, die uns bewußt geworden sind? Unser Selbst, von dem wir wissen: ist nicht auch das nur ein Bild, ein Außer-uns, Äußeres, Äußerliches? Immer rühren wir nur an das Bild und nicht an uns selber. Sind wir uns selber nicht eben so fremd und eben so nah, als der Nächste?27 Die Spannung zwischen Ich und Selbst ist schließlich die von Bewußt¬ sein und Existenz. Das Bewußtsein kann, weil es Bewußtsein ist, das Selbst nicht erfassen, das sich verleiblicht hat. Die räumliche Annähe¬ rung von Ich und Selbst bringt damit eine radikale Trennung beider.

23 24 25 26 27

MA XIV, S. 59 MA XIV, S. i22 MA XVII, S. 270 MAXVI, S. 181 MA XIV, S. 138 215

Zarathustras polemische Rede hat jedoch nicht den Zweck, seine Hörer auf eine unauflösliche Fatalität aufmerksam zu machen. Er weist sie darum auf ihr falsches Ich-Bewußtsein hin, damit sie es mit dem Selbst in Einklang bringen. Sie sollen ihr Bewußtsein den Impulsen ihres Selbst öffnen und so mit sich selbst eins werden. Das ist der eine Programmpunkt, der sich aus seinem Verständnis von Ich und Selbst ergibt. Der Einwand dagegen, ob denn das mächtige Selbst nicht von sich aus dem Bewußtsein seinen Willen aufzwingen könne, läßt sich jedoch erst ganz aus dem Weg räumen, wenn man ihn mit einem zweiten zusammensieht. Die Diskrepanz von Ich und Selbst rührt für Nietzsche daher, daß das Selbst krank ist. Es ist nicht in der Lage, seine Herr¬ schaftsfunktion auszuüben. Diese Schwäche hat im falschen Ich-Bewußt¬ sein ihr Symptom und ihren Grund. So würde dessen Korrektur die Kräftigung und Gesundung des Selbst ermöglichen. Beide Aspekte ge¬ hören unmittelbar zusammen. Da das Selbst als lebendige Kraft konzi¬ piert ist, ist die Überwindung eines bestehenden Verständnisses bereits die Manifestation seiner Gesundheit. Man wird jedoch der Versuchung widerstehen müssen, Nietzsches Gedanken zu harmonisieren. Ihre Einheit läßt sich nicht als System fassen. Sie besteht eher in einer Tendenz, die sich an verschiedenen Themen zeigt. Der frühere Nietzsche stellte die Bewußtseinsänderung in den Vordergrund, Zarathustras Verkündigung richtet sich direkter an das Selbst. Die Unterschiede des sprachlichen Mediums, hier dichterische Prosa, dort reflektierende, hängen damit zusammen. Bereits vor dem „Zarathustra“ sind Nietzsches Gedanken zu Ich und Selbst von einer Bildersprache begleitet, die z. T. konstanter und stim¬ miger ist als die der Begriffe. Das Bild des Berges, das im Zusammen¬ hang damit auftaucht, kann nun auch die Brücke bilden, die uns zum Gedicht „Einsiedlers Sehnsucht“ zurückführt. Im

ersten

Band

von

„Menschliches-Allzumenschliches“

steht

ein

Aphorismus mit der Überschrift: „Verkehr mit dem höheren Selbst“28. Der Terminus „höheres Selbst“ wird auch sonst oft verwendet. „Höher“ ist hier nurmehr eine verblaßte Metapher mit steigernder Bedeutung. Die darin enthaltene Vorstellung einer Vertikalität ist nicht berück¬ sichtigt. Diese geronnene Bildlichkeit macht der folgende Aphorismus wieder flüssig:

28

Schlechta I, S. 720

216

Der Wanderer im Gebirge zu sich selber. — Es gibt sichere Anzeichen dafür, daß du vorwärts und höher hinauf gekommen bist: es ist jetzt freier und aussichtsreicher um dich als vordem, die Luft weht dich kühler, auch milder an, du hast ja die Torheit verlernt, Milde und Wärme zu verwechseln, — dein Gang ist lebhafter und fester geworden, Mut und Besonnenheit sind zusammengewachsen: — aus allen diesen Gründen wird dein Weg jetzt einsamer sein dürfen und jedenfalls gefährlicher sein als dein frü¬ herer, wenn auch gewiß nicht in dem Maße, als die glauben, welche dich Wanderer vom dunstigen Tale aus auf dem Gebirge schreiten sehen.29 Dieser Aphorismus schließt an die Motivtradition an, die im Zentrum dieser Arbeit steht. Man kann darin ein sichtbares Zeichen dafür sehen, daß der Begriff „Selbst“ an die Stelle Gottes getreten ist. Doch ist auf eine Verschiebung zu achten. Zum Sitz Gottes konnte der Berg deshalb werden, weil er in den Himmel hinaufragt, von ewigem Schnee bedeckt ist, unzugänglich war. Das Auge brachte Gott und Berg zusammen. Für Nietzsche wohnt das Selbst nicht auf dem Gipfel. Der Berg vermittelt es durch die physische Anstrengung, die seine Ersteigung kostet. Da sie nicht vom lebendigen Menschen abgelöst ist, kann sich einzig bei seinem Aufsteigen die Beziehung von Berg und Selbst ergeben. Diese Umdeutung der traditionellen Motivik hatte in Nietzsches eigenem Erlebnis ihren Grund. Im Sommer 1877 hatte er zum ersten¬ mal längere Zeit in einer Gebirgsgegend verbracht, in Rosenlauibad, worüber er an die „Idealistin“ Malwida von Meysenbug schrieb: In der Schweiz bin ich mehr ich, und da ich die Ethik auf möglichste Ausprägung des „Ich“ und nicht auf Verdunstung baue, soIn den Alpen bin ich unbesiegbar, namentlich wenn ich allein bin und keinen andern Feind als mich selber habe.30 Diese Erfahrung wiederholte und steigerte sich im Oberengadin, „jenem Lande der Verheißung“, das er sich nach 1879 fast regelmäßig zum Sommeraufenthalt erwählte. St. Moritz und Sils-Maria boten ihm

29 Schlechta II, S. 831. Vgl. auch Nietzsches Brief an Mathilde Maier, zit. Werke IV/4, S. 52. — Die zentrale Bedeutung des Höhenmotivs bei Nietz¬ sche untersucht Gaston Bachelard, Nietzsche et le psychisme ascensionnel, in: G. B., L’air et les songes, Essai sur Pimagination du mouvement. Paris: Corti 19502. S. 146—185 30 Schlechta III, S. 1146 217

V

die klimatischen Voraussetzungen, die ihm ein einigermaßen erträgliches physisches Befinden garantierten, wie er es brauchte, um denken und schreiben zu können. Da er selbst in der Höhe und im Gebirge eine Steigerung seines Selbst erlebte, wurde ihm der Berg zur Chiffre für das eigene Selbst, ja für das Selbst überhaupt. Aus Tradition und eigenem Erlebnis baute sich Nietzsche seine Zara¬ thustra-Landschaft auf. Daß sie, was man oft bemerkt hat, frei ist von geographischen Anspielungen, rührt davon her, daß der Berg nicht an sich bedeutungsvoll ist, sondern nur durch die Reaktionen, die er beim Bergsteiger auslöst. So ist denn auch wichtiger als der erstiegene Gipfel, auf dem man sich ausruht, der Weg, der zu ihm hinaufführt und doch nie endet. Das kann der Eingang zum dritten Teil des Zarathustra illustrieren: ... Als nun Zarathustra so den Berg hinanstieg, gedachte er unter¬ wegs des vielen einsamen Wanderns von Jugend an, und wie viele Berge und Rücken und Gipfel er schon gestiegen sei. Ich bin ein Wanderer und ein Bergsteiger, sagte er zu seinem Herzen, ich liebe die Ebenen nicht, und es scheint, ich kann nicht lange still sitzen. Und was mir nun auch als Schicksal und Erlebnis komme — ein Wandern wird darin sein und ein Bergsteigen: man erlebt endlich nur noch sich selber. Die Zeit ist abgeflossen, wo mir noch Zufälle begegnen durften; und was könnte jetzt noch zu mir fallen, was nicht schon mein Eigen wäre! Es kehrt nur zurück, es kommt mir endlich heim, — mein eigen Selbst, und was von ihm lange in der Fremde war und zerstreut unter alle Dinge und Zufälle. Und noch eins weiß ich: ich stehe jetzt vor meinem letzten Gipfel und vor dem, was mir am längsten auf¬ gespart war. Ach, meinen härtesten Weg muß ich hinan! Ach, ich be¬ gann meine einsamste Wanderung!31 Auf dem Hintergrund dieser Scheidung von Ich und Selbst läßt sich der Gedankengang unseres Gedichts noch verdeutlichen. Der Ein¬ siedler hat den Aufstieg im Gebirge zu sich selbst vollbracht. Er ist dank oftmaliger Selbstüberwindung bei sich selber. Sein Selbst teilt sich ihm als Unruhe und glücklich gespannte Erwartung mit.

31

Schlechta II, S. 403 f. — Klages kommt zum Urteil: „Alles in allem ist der Zarathustra eine schwärmerische unheimliche Exegese des Bezugswortes ,über“‘. Ludwig Klages, Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches. Leipzig: Barth 1926. S. 204

218

Es wird Sprache. Zuerst äußert es sich in unmittelbaren Ausrufen, dann artikuliert sich daraus ein Ich-Bewußtsein. Dieses deutet die SelbstPosition. Es bezieht deren Gegenwärtigkeit auf Vergangenes, und es sieht sie, wie das der zitierte Aphorismus beschreibt, in der Relation zu einem größeren Verband. Das Ich kommt somit auf doppelte Weise von außen zustande. Die Bewegung führt zum Abbau dieses täuschenden Ich-Bewußtseins. Der Einsiedler wird

seiner

tatsächlichen

Situation annäherungsweise

inne. Sein Bild von sich selbst kommt dem Selbst dann am nächsten, als er sich als Philoktet mit dem Herkulesbogen versteht. Es ist bedeutsam, daß gerade an dieser Stelle ein dichterisch überlieferter antiker Mythos beigezogen wird, also ein in gewissem Maße zeitloses Exempel. Da je¬ doch die Orientierung an der Gemeinschaft erhalten bleibt, kann es nicht zur Übereinstimmung von Ich und Selbst kommen. Das mythische Selbst¬ verständnis wird wiederum zugunsten eines Gruppen-Ichs aufgegeben. Doch ist nun eine andere Gruppe gemeint, die in die Zukunft gesetzt wird. An Stelle der Erfahrung ist damit die Utopie getreten. Doch von der Zukunft ist der gegenwärtige Stand ebensowenig adäquat zu fassen wie von der Vergangenheit her. Denn Zukunft und Vergangenheit sind als nicht hic et nunc real im Bewußtsein verankert. Wo aber dieses die Priorität hat, kann es nicht zur Übereinstimmung von Ich und Selbst kommen. Das Mißverständnis seiner selbst, das auch am Ende des Gedichts bestehen bleibt, bringt das Motiv klar zu Tage. Wer Freunde will, darf nicht auf hohe Berge steigen. Er muß in den Niederungen bleiben, wo die Menschen wohnen. Nach der von Nietzsche aufgestellten Alternative aber hieße das, auf sich selbst verzichten, von sich selber absehen. Das wiederum war eine der Grundmaximen des Christentums, das der Ein¬ siedler für sich hatte überwinden wollen. So könnte denn das Mißver¬ ständnis doch auch gerade mit seiner Position Zusammenhängen. Er hatte zwar die Stätte Gottes besetzt, aber das bisherige Modell der Selbstverständigung beibehalten.

Darin war

der übergeordnete

Gott

durch die noch immer übergeordnete Gemeinschaft ersetzt worden, erst die vergangene, dann die zukünftige. Sucht man nach historischen Kon¬ kretisierungen dieser Modelle, gelangt man auf Nationalismus und Sozia¬ lismus, Bewegungen also, die Nietzsche sehr kritisch betrachtet hatte32.

32 Beide Strömungen bilden den zeitgenössischen Hintergrund, auf dem und gegen den Nietzsche seine Philosophie des Selbst formulierte. Das in Frage 219

\

Der Hintergrund unseres Gedichts läßt sie als Erben, nicht als Ver¬ wandlungen des Christentums erscheinen. Schließlich aber weist

der Widerspruch im

Selbstverständnis

des

Einsiedlers auf objektive, man möchte sagen naturgegebene Schwierig¬ keiten hin, ein isoliertes Selbst zu erfassen und zu leben. Gerade wenn Selbst und Leib einander so angenähert werden wie bei Nietzsche, fällt es schwer, das Selbst als Monade zu fassen. Stilistisch meinen wir den aufgezeigten Widerspruch bereits in der Mischung des monologisch angelegten Gedichtes mit pseudodialogischen Elementen zu erkennen. Aus einer eingehenderen Betrachtung der stili¬ stischen Eigenart müßte über das Verhältnis von Ich und Selbst weiterer Aufschluß zu gewinnen sein.

III. Das Gedicht durchläuft einen Gedankengang, der zum Schluß eine Modifizierung des Anfangs ergibt. Doch diese Argumentation allein macht nicht das Gedicht. Dessen Eigentümlichkeit beruht auf dem sprach¬ lichen Medium, in dem sie sich darstellt. Auffallend ist dem ersten Blick die Häufigkeit und Vielfalt der phrasierenden Interpunktionen, Frageund Ausrufezeichen, Gedankenstriche, Doppelpunkte und auslaufenden Punkte, Sperrungen. Die geschriebene bekommt durch sie den Charakter der mit feierlichem Nachdruck gesprochenen Sprache33. Das Druckbild ist eine Art Partitur, die auf akustische Realisierung angewiesen ist. Die logische wird so von einer melodisch-emphatischen Argumentation be¬ gleitet. Ein ähnliches Nebeneinander ist in der Grammatik vorhanden. Es fällt auf, daß Sätze gerne um das Prädikat oder doch um die Kopula verkürzt werden. Auch herrscht eine Vorliebe für artikellose Gruppen, stehende Gedicht kreist um eine Vermittlung von Selbst und Gesellschaft in der Freundschaft, ohne die Polarität aufheben zu können. 33 Nietzsches Stilideal bestand fast von Anfang an darin, die geschriebene der gesprochenen Sprache anzunähern. Der „Zarathustra“ unterscheidet sich stili¬ stisch auch darin von den Aphorismenbüchern, daß sein Rahmen Zarathustras Worte als Reden ausdrücklich kennzeichnet. Die rhetorischen Mittel treten gehäuft auf. Vgl. dazu Michael Landmann, Zum Stil des Zarathustra. Trivium II, 1944. — „Einsiedlers Sehnsucht“ steht dem „Zarathustra“ sehr nahe. Für das Gericht trifft vieles von dem zu, was Landmann an Beobach¬ tungen anführt, vor allem das Gesetz der Repetition. S. unten 220

der

die häufige Voranstellung des Genitivattributes

entgegenkommt.

Elisionen im An- und Auslaut kommen dazu. Dadurch sind manche bloß grammatischen Formelemente weggefallen. Dafür treten in großer Zahl Fügungsmittel lautlicher Art auf, Assonanz, Alliteration, Anapher, Epi¬ pher, Gleichklang etc. Sie verbinden, was nicht logisch, sondern seinem Sinne nach zusammengehört. Indem so Sinnbezüge lautlich wahrnehmbar gemacht werden, kommt ein altes Bildungsmittel der Sprache zur Gel¬ tung. Das Vorbild dafür kann man im Spiel mit dem Ablaut sehen, wie es die figura etymologica „der solchen Zug gezogen“ verwendet, in der sich sprachgesetziich eine semantische Beziehung lautlich darstellt. Darauf beruhen auch die scheinetymologischen Paronomasien „verwandt-verwandelt“, „verbräunt-verbrannt“, für die Nietzsche eine spezielle, die Parodie herausfordernde Neigung hatte. Das traditionelle poetische Mit¬ tel, Sinnzusammenhänge durch Lautanklänge anzudeuten oder herzustel¬ len, der Reim, ist in ein Schema gebracht, das die Möglichkeiten einer Vierzeilenstrophe noch um eine vermehrt. Binnenreime treten dazu. So wirkt neben und teilweise anstelle der formalen Grammatik eine an¬ dere, lautliche, welche als einzige Regel hat, daß zusammengehört, was gleich oder ähnlich tönt. Unmittelbare lautliche Evidenz soll die logische bekräftigen respektive ersetzen34. Entsprechendes läßt sich an der Syntax zeigen. Es überwiegen kurze Hauptsätze wie in der gesprochenen Sprache. Ihre Zuordnung geschieht statt durch Konjunktionen durch Satzfiguren, Chiasmus, Parallelismus, Anakoluth, Inversion, rhetorische Fragen. Interjektionen setzen Sinnund Wertungsakzente. Auf der Ebene der Bedeutung schließlich gehen abstrakte und bild¬ hafte Redeweise nebeneinander her. Neben Einwort-Metaphern „LebensMittag“35, „Freunds-Gespenster“, werden auch größere Zusammenhänge in Bilder transponiert, beispielsweise in der sechsten Strophe: „Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet“, faßt abstrakt, was die voran¬ gegangenen Zeilen bildlich ausgedrückt hatten: „Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht / ich lernte wohnen / wo niemand wohnt in öden Eisbärzonen.“ Ähnlich, in umgekehrter Reihenfolge, verfährt die fünfte Strophe, wo es heißt: „Ein andrer ward ich und mir selber fremd? / 34 35

Diese Stilmittel sind bekanntlich bei den barocken Dichtern, u. a. den Nürnbergern, beliebt. C. R. von Greiffenberg bedient sich ihrer sehr häufig. Die Entwürfe zeigen die Abfolge: „Oh Jahres Mitte“ (Z II 5, S. 64); „Le¬ bens Mitte“ (Z II 6, S. 46); „Lebens Mitt[e]ag“ (Z II 7, S. 85). Die Meta¬ pher kam also erst zuletzt hinzu. 221

V

mir selbst entsprungen? / Ein Ringer, der zu oft sich selbst bezwun¬ gen . .Selten hat die Bildlichkeit wie im Jägergleichnis allein den Sinn zu tragen. Die Argumentation bewegt sich meistens gleichzeitig auf beiden Gleisen voran, die Weiterführung kann da oder dort anschließen. Daß auch in der Bildlichkeit ein altes Bildungsmittel der Sprache reakti¬ viert wird, zeigt sich daran, daß vorhandene, zur Katachrese erstarrte Bilder neu belebt werden. Am Beispiel von „Höhe“ und „entsprungen“ kam das schon zur Sprache. Auch die Redensart vom „Band der Hoff¬ nung“ wird beim Wort genommen. Archaismen sind auch in Wortschatz, Flexion und Wortstellung zu beobachten. Die aufgezeigten Stilmittel, welche die Argumentation auf sprachsinnliche Weise intensivieren, sind solche, welche die antike Rhetorik36 dem ornatus zurechnete. Dessen Wirkung sollte einerseits darin bestehen, die Rede eindringlicher und überzeugender zu machen. Solche Eindring¬ lichkeit kommt zustande, wenn eine Aussage aus der gewohnten in eine ungewöhnliche, unerwartete, verblüffende Sprechweise übersetzt wird. Die Rhetorik nennt das xd ^evixov, Verfremdung. Wo diese die Rück¬ sicht auf Verständlichkeit vernachlässigt oder gar preisgibt, wird sie zur Verrätselung. Emanzipierter ornatus führt zur obscuritas. Das Gedicht als ganzes ist nicht dunkel. Nur an einzelnen Stellen in seiner Mitte gewinnen gewisse Bildkomplexe Selbständigkeit, so daß sie nicht mehr a prima vista aufzuschlüsseln sind. Aber es ist doch deut¬ lich eine allgemeine Tendenz dazu festzustellen. Die Lautbezüge sind oftmals rein spielerisch. Mit der Feststellung, die logische Sprache sei in diesem Gedicht rhetorisch verfremdet, ist erst eine negative Bestimmung getroffen. Es ist weiter nach der Gesetzmäßigkeit der so entstandenen sprachlichen Gestalt zu fragen. Das auffallendste Gestaltungsprinzip ist die Einmün¬ dung des Endes in den Anfang. Das Gedicht hat zwar einen Verlauf, aber daraus ergibt sich eine nur leicht abgewandelte resp. korrigierte Wiederaufnahme des Anfangs. Das Gedicht vollzieht einen Kreis. Die Tendenz, auf den Anfang zurückzugreifen, meinen wir auch in der un¬ gewöhnlichen Strophenform zu erkennen. Das Reimschema abbaa ist eine Erweiterung des umarmenden Reims abba. Durch die Verdoppelung wird das Wiederkehrende der letzten Zeile unterstrichen, zumal in manchen Fällen sogar das Reimwort aus der ersten Zeile wieder erscheint. Das

30

Vgl. Heinrich Lausberg, Hueber 19632

222

Elemente'der literarischen

Rhetorik.

München:

ist vor aliem in den Strophen am Anfang zu beobaditen. Später ließ es sich offenbar nicht mehr durchhalten. Die Strophen beschreiben auch in sich eine Kreisbewegung. Gegeneinander sind sie dagegen ganz abge¬ schlossen. In der endgültigen Fassung konnte ihre Abfolge ohne großen Schaden umgestellt werden. — Das Verfahren, auf Vorausgegangenes zurückzugreifen und es dann erst weiterzuführen, läßt sich auch inner¬ halb der Strophen nachweisen. In diesem Sinne wirken die oben ange¬ führten Figuren Alliteration, Assonanz etc. Ein besonders deutliches Beispiel für die ständige Wiederaufnahme ist die fünfte Strophe, was eine veränderte Drudeanordnung heraussteilen kann: Ein Andrer ward ich und mir selber fremd mir selbst entsprungen Ein Ringer, der zu oft sich selbst bezwungen zu oft sich gegen eigene Kraft gestemmt Durch eignen Sieg verwundet und gehemmt? Audi wo es sich nicht so deutlich an verbalen Übernahmen zeigen läßt, greift oft ein Gedanke auf einen vorhergehenden zurück. Wir hatten ge¬ sehen, wie die erste Strophe sich aus der ersten Zeile entfaltet. Gerade auch das Nebeneinander von abstrakter und bildlicher Sprache gestattet es, manches zwei- und dreimal zu sagen. „Noch einmal!“ scheint das stilistische Grundgesetz des Gedichtes zu sein. Es gereicht ihm ästhetisch nicht zum Vorteil. Die ständigen Wiederaufnahmen geben ihm etwas durchgehend Tautologisches. Zwischen repetierendem Pathos und Gehalt entsteht ein Mißverhältnis. Das ändert jedoch nichts daran, daß ein deutlicher Stilwille, der auf Repetition tendiert, zu erkennen ist. Es liegt nahe, diese Tendenz mit dem Zentralpunkt von Nietzsches spätem Denken, der Lehre von der ewigen Wiederkunft, zusammen¬ zusehen. Diesen in seinem Verständnis umstrittenen Gedanken hier in all seinen Aspekten zu entfalten, ist nicht möglich37. Es soll versucht werden, aus einer dafür zentralen Stelle das in unserem Zusammenhang Wichtige zu entwickeln. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft wird im dritten Teil des „Zarathustra“ im Kapitel „Der Genesende“ eingeführt, nachdem ihn mehrere Kapitel zuvor „Gesicht und Rätsel“ so vorbereitet hatte, daß 87

Vgl. Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Glei¬ chen. Stuttgart: Kohlhammer 1956. — Ders., Von Hegel zu Nietzsche. Stutt¬ gart: Kohlhammer 195 84

223

V

der Leser eine Art von dejä vu erfährt. Wie der Wiederkunftsgedanke auftaucht, ist er selbst bereits eine Wiederholung. Die ewige Wiederkunft bestimmt die Weitsicht der Tiere Zara¬ thustras. In ihrem Zeichen steht ihr Preislied auf die Welt: Alles geht, alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, alles grüßt sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.38 Die ewige Wiederkunft des Gleichen ist das Gesetz der Natur und des Kosmos. Alles ist in Bewegung. Die Phasen der Bewegung kehren wieder. „Das Gleiche“ das sich wiederholt, sind die Maßeinheiten der Bewegung. „Wiederkunft des Gleichen“ ist somit die Umschreibung einer rhythmischen Bewegung. Was die Tiere davon sagen, heißt, daß alles natürliche und kosmische Sein in festen Rhythmen verläuft. Das Prädi¬ kat „ewig“ bezeichnet einerseits die unendliche Dauer. Es erklärt dar¬ über hinaus diese rhythmische Bewegung zum absoluten, höchsten Wert. Die Rede der Tiere bildet selber eine rhythmische Bewegung mit rhetorischen Mitteln nach. Die Sätze sind nach einem festen Schema gebaut: Alles .. .x, alles . . .xx etc. ewig xxxxx.des Seins. Der Vergleich mit der Drehorgel, den Zarasthustra verwendet, trifft parodierend diese stilistische Wiederkehr des Gleichen. Daß die Tiere auf diese „rhythmische“ Weise reden, beweist ihre Natürlichkeit. Die Wieder¬ kunft ist das Gesetz ihres Daseins. Die ewige Wiederkunft des Gleichen erscheint hier somit unter zwei Aspekten. Sie umschreibt einerseits den in Natur und Kosmos waltenden Rhythmus, andrerseits eine Weise stilistischer Gestaltung. In der Rede von Zarathustras Tieren sind beide vereint als Inhalt und Form. Der Inhalt formuliert das Prinzip des Stils. Der Stil bildet den Inhalt im Material der Sprache, also metaphorisch, nach. Der Anfang des Kapitels „Der

38

Schlechta II, S. 463

224

Genesende“ schildert die Konfrontation Zarathustras mit seinem „ab¬ gründlichsten Gedanken“, der sich später als der der ewigen Wieder¬ kehr entpuppt. Obwohl er ihn selbst heraufbeschworen hat unter Beru4 fung darauf, er sei der Gottlose und der Lehrer des Kreises, vermag er ihm nicht standzuhalten. Bei seinem Anblick verliert er für 7 Tage das Bewußtsein; denn er befindet sich nicht auf dem Bewußtseinsstand der Tiere. Seine Genesung beruht in der Aneignung des Wiederkunftsgedan¬ kens und damit in der Überwindung der Diskrepanz zu den Tieren. Diese Aneignung erfolgt von zwei Seiten her, durch Zarathustras Anstrengung und entscheidend durch die Vermittlung seiner Tiere. Die Formulierung, die Zarathustra seinem abgründlichsten Gedanken gibt, bringt die Diskrepanz zum Ausdruck, in der er zu ihm steht. Er be¬ schreibt dessen „nihilistischen“39 Aspekt. Wiederkehr des Gleichen be¬ deutet für ihn, daß alles auf der Welt nichtig ist. „Zur Flöhle wandelte sich mir die Menschen-Erde, ihre Brust sank hinein, alles Lebendige ward mir Menschen-Moder und Knochen und morsche Vergangenheit.“ Das erinnert an Gryphius’ Kirchhofgedanken. Doch ist dem „gottlosen“ Zara¬ thustra nicht ein dauerndes Gut der Maßstab für die Nichtigkeit der Welt. Er beklagt nicht das Vergehen des Großen ins Nichts, sondern die Reproduktion des Kleinen, die alles Erreichte wieder auf das Niveau des Menschlich-Allzumenschlidien herabdrückt. Zarathustras Kriterium ist ein Fortschrittsdenken, ohne das er nicht Lehrer und Verkündiger sein könnte. Der Wiederkunftsgedanken scheint im Gegensatz zu seiner Sendung zu stehen. Dessen Anerkennung wäre ein Zeichen der Re¬ signation. Zarathustras Erziehungs- und Fortschrittsdenken ist ein Rest der ein¬ sinnigen christlichen Zeitauffassung. Dieses steht der Aneignung des Wiederkunftsgedankens im Wege. Zwar deutet sich auch in seinen Über¬ legungen die Lösung Baudelaires an, aus dem Nichtigen einen neuen Reiz zu gewinnen. Er versucht eine Art Masochismustheorie, in deren Ent¬ faltung er auch die Erlösungswirkung des Kreuzestodes als sadistischen Lustgewinn deutet, doch wendet er die Erkenntnis, das Böseste sei das Beste, nicht auf seinen Ekel gegenüber dem Gedanken aus der Tiefe an, wie der Aufbau des Abschnitts zunächst erwarten läßt. Zarathustra gelingt es nicht, aus seinem Bewußtsein heraus, das noch auf die Erfahrung bezogen ist, zu einer positiven Auffassung der ewigen Wiederkunft zu kommen.

39

Löwith, Nietzsche S. 60 f.

225

15

Pestalozzi, Lyrisches Ich

Die Vermittlung zwischen Zarathustras Bewußtsein und dem der Tiere leistet die Sprache. Das entscheidende Stichwort wird in diesem Zusammenhang „Garten“. Wie Zarathustra aus seiner langen Bewußt losigkeit erwacht, sagen seine Tiere zu ihm: Tritt hinaus aus deiner Höhle: die Welt wartet dein wie ein Garten. Der Wind spielt mit schweren Wohlgerüchen, die zu dir wollen, und alle Bäche möchten dir nachlaufen. Darauf aber heißt es: — O meine Tiere, antwortete Zarathustra, schwätzt also weiter und laßt mich zuhören! Es erquickt mich so, daß ihr schwätzt: wo geschwätzt wird, da hegt mir schon die Welt wie ein Garten. Wie lieblich ist es, daß Worte und Töne da sind: sind nicht die Worte und Töne Regenbogen und Schein-Brücken zwischen EwigGeschiedenem?40 Nachdem Zarasthustra wieder ins Klagen verfallen ist, erneuern die Tiere ihren Hinweis auf den Garten. Im Garten ist der Gegensatz zwischen Natur und Mensch aufge¬ hoben. Darum kann er Zarathustra Erholung bieten. Doch der Garten ist vom Menschen für sich geordnete Natur. Das Mittel zur Genesung stammt indirekt von ihm selbst. Zarathustra erkennt auch in der Sprache eine Gartenkunst in diesem Sinne. Sie macht die Welt dem Menschen angenehm. Dabei verfährt sie so, daß sie das Einmalige und Einzigartige, indem sie es ins Wort faßt, gleich macht. Zarathustra nennt die Worte „Schein-Brücken“. Sie sind es im doppelten Sinn. Gemessen an der Vhrkhchkeit sind sie lügen¬ haft. Sie erwecken einen falschen Anschein. Zugleich aber breiten sie einen schönen Schein über die Welt. Der eben macht aus der Welt einen Garten. Diese beiden Seiten hängen für Zarathustra zusammen. Gerade die moralische Fragwürdigkeit macht den ästhetischen Schein wirksam. Auch hier gilt, was Zarathustra kurz darauf an der Grausamkeit mit einer Art Sadismus-Masochismus-Theorie exemplifiziert, daß das Böseste das Beste ist. Daraus folgt, daß die Sprache dann am schönsten ist, wo sie am meisten lügt, d. h. in der Dichtung, im Lied. Daß die Dichter lügen, macht sie zu Dichtern41. Sind nicht den Dingen Namen und Töne geschenkt, daß der 40 41

Schlechta a.a.O. Vgl. Maria Bindschedler, Nietzsche und die poetische Lüge. Berlin: de Gruyter 1954

226

Mensch sich an den Dingen erquicke? Es ist eine schöne Narretei, das Sprechen: damit tanzt der Mensch über alle Dinge. Wie lieblich ist alles Reden und alle Lüge der Töne. Mit Tönen tanzt unsre Liebe auf bunten Regenbögen —,42 Die Gleichheit, welche die Sprache bewirkt, ist die Voraussetzung für die Wiederkehr des Gleichen, die Rhythmisierung der Welt im Lied. Dieses Sprechen nennt Zarathustra ein Tanzen. Es wirkt zurück auf den Sprechenden und bezieht ihn ein in seinen Rhythmus. Als singender und tanzender stimmt er mit dem Dasein der Tiere überein. „Heile mit neuen Liedern deine Seele“, rufen die Tiere Zarathustra zu. Deshalb soll er zu den Singevögeln gehen. Und tatsächlich schließt „Der Gene¬ sende“ damit, daß Zarathustra seiner Seele Lieder singt. An diesen wird seine Übereinstimmung mit den Tieren offenbar, die sich, überflüssig geworden, still davon machen. Die Tiere repräsentieren Zarathustras Selbst. Indem er singend ihre Sprache angenommen hat, hat er die Übereinstimmung mit sich selbst gefunden. Die ewige Wiederkunft in ihm hat ihn nun ganz durchdrungen. Er ist selbst und ganz zur rhythmischen Gestalt geworden. Aber die Tiere lehren ihn nicht nur und nicht einmal primär die Wiederkunft als ästhetisches Prinzip. Schon bei der schockierenden Be¬ gegnung mit ihr heißt sie „ein Gedanke“. Die Wiederkunft wird von den Tieren explizit als Lehre vorgetragen. Sie ist der Inhalt der Lieder, die Zarasthustra singen soll. In der Wiederkunfts lehre sprechen die Lieder ihr Prinzip aus, indem sie es zum Prinzip von Natur und Kosmos er¬ heben. Diese werden umgekehrt dadurch ästhetisiert, zugleich aber wird das ästhetische Prinzip allgemeinverbindlich erklärt. Das Selbst, zu dem der Zugang durch das ästhetische Gebilde vermittelt wird, ist zwar ein Einmaliges und Einzigartiges. Aber sein Rhythmus ist zugleich der von Natur, Geschichte und Kosmos. Dank dieser Korrespondenz ist das Selbst doch nicht im letzten einsam. Indem Zarathustra nicht nur den Übermenschen lehrt, sondern zugleich die ewige Wiederkunft aller Dinge, die das Gesetz des individuellen Selbst universal macht, ist die gedank¬ liche Voraussetzung für einen möglichen Erfolg seiner Lehre geschaffen. Daher aber ist seine Lyrik immer zugleich Predigt. Die ästhetische Fassung des Wiederkunftsgedankens ergibt sich auch von einem andern Punkt her. Bei Kant begleiten Lust und Unlust die Urteilskraft43. Das Schöne hat eine notwendige Beziehung auf das Wohl-

42 43

Schlechta a.a.O. Kant, Kritik der Urteilskraft. Einleitung XLV

227

15*

gefallen. Die Wirkung des Schönen und der Kunst auf den Menschen besteht auch für Nietzsche in der Erregung von Lust. Doch faßt er „Lust“ stärker als Befindlichkeit des Leibes. Sie ist für ihn eine Äußerung von dessen „großer Vernunft“. In ihr fühlt das Selbst sich selber. Von der Lust aber heißt es im „trunkenen Lied“, das das berühmte „O Mensch gib Acht“ glossiert: Lust will sich selber, will Ewigkeit, will Wiederkunft, will Allessich-ewig-gleich.44 Oder mit den Worten des Vorbilds Denn alle Lust will Ewigkeit Will tiefe, tiefe Ewigkeit.45 Der Wiederkunftsgedanke ist die Entsprechung des Selbst im Bewußt¬ sein. Das Lied, das davon singt, bildet die Verbindung zwischen beiden. Im Grunde entspringen damit beide aus ihm, es ist der Kern von Mensch und Welt. Die Einreihung dieser Auffassung in den uns interessierenden Motivzusammenhang unternimmt der letzte Teil des „Ja- und AmenLiedes“, das den dritten „Zarathustra“ beschließt: Wenn ich je stille Himmel über mir ausspannte und mit eignen Llügeln in eigne Himmel flog: Wenn ich spielend in tiefen Licht-Lernen schwamm, und meiner Lreiheit Vogel-Weisheit kam: — — so aber spricht Vogel-Weisheit: „Siehe, es gibt kein Oben, kein Unten! Wirf dich umher, hinaus, zurück, du Leichter! Singe! spricht nicht mehr! — sind alle Worte nicht für die Schweren gemacht? Lügen dem Leich¬ ten nicht alle Worte! Sprich nicht mehr!“ O wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe — dem Ring der Wiederkunft? Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, es sei denn dieses Weib, das ich liebe; denn ich liebe dich, o Ewigkeit! Denn ich liebe dich, o Ewigkeit!46

44 45

Schlechta II, S. 556 . A.a.O. S. 557. — In der Glossierung heißt es „Denn alle Lust etc.“, in der anschließenden Zitierung des ganzen Gedichts dagegen „Doch alle Lust etc. . Der Unterschied ist lediglich einer des syntaktischen Bezugs.

46

Schlechta II, S. 476

228

Hier vollends wird deutlich, daß die Lehre von der ewigen Wieder¬ kunft des Gleichen die Objektivation der Selbstbezauberung durch ein eigenes Lied ist, so wie das Selbst zuvor schon in der Aufforderung zu singen sein inneres Gesetz äußert. Die ästhetische Selbstbezauberung er¬ weitert sich zur Bezauberung der Welt, welche jener zur Objektivität verhelfen würde. Motivgeschichtlich knüpft dieser Abschnitt an das Sonett von Giordano Bruno an. Es ist nicht verwunderlich, daß Nietzsche dieses wie ein eigenes Gedicht aufnahm47. Brunos Ich schwingt sich auch in eigene Himmel auf und macht sich frei von allen vorgegebenen Orientierungen^ Doch es fühlt sich dabei von einer ihn transzendierenden göttlichen Kraft getrieben, und auch der Raum, in den es sich aufschwingt, ist ihm von Gott in Gestalt des Äthers erfüllt. Hier bei Nietzsche fehlt dieser Rahmen. Der Aufschwung setzt sich auch nicht mehr gegen Wider¬ stände durch. Er geschieht spielend. Nun erst kommt zum Vorschein, daß ihm ein Zirkelverhältnis zugrunde liegt. Das Ich fliegt mit eignen Flügeln in eigne Himmel. Es entwirft seinen Raum und ist zugleich in diesem Raum enthalten, ist sich selbst Schöpfer und Geschöpf. So ist es mit sich eins. Wir glauben von da auch Zarathustras Tiere, die sein Selbst repräsentieren, deuten zu können. Sie stammen aus der Emblematik. Der Adler ist uns als Emblem für Stolz und Selbstbewußtsein begegnet. Die Schlange als Schlangenring ist ein Sinnbild der Ewigkeit. Eine der zu ihr gehörenden Devisen heißt „Finis ab origine pendet“48, und ein Wappenspruch erklärt sie: Anulus in sese revoluti circulus anguis Aeternum signans est Hieroglyphicon.49 Adler und Schlange Zarathustras deuten an, daß die ewige Wieder¬ kunft des Gleichen sein Selbst ausmacht. Der zitierte Abschnitt korrespondiert aber auch bis in Einzelheiten mit dem Anfang von Baudelaires „Elevation“. Während bei Baudelaire der Geist von der Höhe herunter- und zurückgeholt wird in den Bereich natürliche Offenbarungen,

fühlt sich hier das

überschwengliche

Ich

47

Vgl. Anm. 2 zum Kapitel über Giordano Bruno in den „Vorstudien“ dieser Arbeit.

48 49

Emblemata Sp. 6 53 A.a.O. Sp. 654

229

stark und frei genug, seine Position zu behaupten und ewig zu repro¬ duzieren50. Wir kehren zum Gedicht „Einsiedlers Sehnsucht“ zurück. Der Ex¬ kurs über die Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen hat erbracht, daß einer ihrer Aspekte, wenn nicht gar der grundlegende, ästhetischer Art ist, was dazu berechtigt, die auffallenden Wieder¬ holungstendenzen des Gedichts darauf hin zu deuten. Die Verfremdun¬ gen der gewöhnlichen Sprache zielen auf diese Wiederkunft des bleichen. Demnach lassen sich in dem Gedicht zwei Sprachen unterscheiden. Die eine ist die Gemeinsprache, welche im Wesentlichen die Argumentation trägt. Sie ist verständlich und tendiert auf Kommunikation des Einsied¬ lers mit den Freunden. Die andere ist die emphatische und rhetorisch verfremdete Sprache. Sie instrumentiert die Gemeinsprache mit sprachsinnlichen Mitteln. Ihr geht es um suggestive Wirkungen. Ihr Gesetz ist die ewige Wiederkehr des Gleichen. Diese beiden Sprachen lassen sich Ich und Selbst des Einsiedlers Zu¬ teilen. Das von den Freunden her geprägte Ich-Bewußtsein bedarf der Gemeinsprache. Gegen diese drängt die Sprache des Selbst an. Am rein¬ sten kommt sie in der Jäger-Strophe zu Wort, die deshalb auch am schwierigsten zu verstehen ist. Auch Anfang- und Schlußstrophe sind weitgehend ihr zuzurechnen, wie überhaupt die Emphase ihre unmittel¬ barste Ausdrucksform ist. Die Formel „Ewige Wiederkehr des Gleichen“ wurde als Umschrei¬ bung von Rhythmus verstanden. Man kann jedoch nicht sagen, daß, was als Sprache des Selbst bezeichnet wurde, besonders rhythmisch sei. Was wiederkehrt, sind Redeteile, Wörter, Laute, also rhetorische Ele¬ mente, nicht Kola. Das gibt diesem Gedicht wie auch andern Nietzsche¬ gedichten die spröde Trockenheit des Tones. Auch Zarathustras „Lieder“ sind eher deklamiert als gesungen. Man kann darin einen ästhetischen Mangel sehen. Doch er hat offensichtlich Methode. Er steht im Zu-

50

Das Verhältnis Nietzsches zu Baudelaire bedürfte einer eingehenden Unter¬ suchung. Einerseits stellte Nietzsche Baudelaire in die Nähe Wagners und ließ ihm entsprechende Verachtung zuteil werden, andererseits bewunderte er Baudelaires schonungslose Selbstanalyse in „Mon coeur mis ä nu“, das er ausgiebig exzerpierte. Die Nähe beider scheint mir weniger groß zu sein, als Benjamin sie sah: „Die heroische Haltung von Baudelaire dürfte der Nietz¬ sches auf das nächste verwandt sein. Wenn Baudelaire am Katholizismus festhält, so ist doch seine Erfahrung des Universums genau der Erfahrung zugeordnet, die Nietzsche in dem Satz faßt: Gott ist tot.“ Schriften, I, S.483

230

sammenhang damit, daß Nietzsches Lyrik zugleich monologisch und dialogisch ist.

Sie gibt den Anspruch auf Allgemeinverständlichkeit

nicht auf, obwohl sie doch auch einsame Lyrik sein will. Noch in Nietzsches reinstem lyrischem Gebilde, „Venedig“, das er als Kranker auf der Reise von Turin nach Basel sich selber sang, wird die von einem schwebenden Rhythmus getragene Stimmung mit der Schlußfrage „Hörte jemand ihr zu?“ zerbrochen. Der dichterischen Realisierung der ewigen Wiederkunft wirkte der Drang, sie mitzuteilen, entgegen. Was im bezug auf den Einsiedler des Gedichts als Sprache des Selbst bezeichnet wurde, darf nicht als Ausdruck von Nietzsches eigener Spon¬ taneität mißverstanden werden. Das Selbst kann gerade nicht unmittel¬ bar zur Sprache kommen, weil die normale Sprache auf die intersubjek¬ tive Wirklichkeit ausgerichtet ist. Diese muß unter das Gesetz der Wie¬ derkunft gezwungen werden. Nietzsches Entwürfe zu dem Gedicht lassen ermessen, welche Mühe es ihn kostete, Gedankengang und poetische Gestalt zu vereinen. Das ungewöhnliche Strophenmaß war nicht leicht zu füllen. Wie ein gefangener Vogel flatterte Nietzsche in dem Käfig des selbstgewählten Reimschemas. Diese Arbeitsweise erinnert an die¬ jenige C. F. Meyers. Auch Nietzsche „machte“ seine Gedichte, ohne daß ihm die Improvisation zu Hilfe kam. Aber er arbeitete kleinräumiger. Man gewinnt den Eindruck, als habe sich ihm erst bei der Arbeit geklärt, was er mit einer Strophe sagen wollte. Meyer dagegen setzte am Anfang oft schlechte aber fertige Fassungen auf das Papier, aus denen er dann mit immer neuen Veränderungen die endgültige Kunstgestalt heraus¬ präparierte. Auf Nietzsches Verfahren läßt sich eine frühe Stelle aus dem ersten Band von „Menschliches-Allzumenschliches“ beziehen: Der strenge Zwang, welchen sich die französischen Dramatiker auf¬ erlegten, in Hinsicht auf Einheit der Handlung, des Ortes und der Zeit, auf Stil, Vers- und Satzbau, Auswahl der Worte und Gedan¬ ken, war eine so wichtige Schule, wie die des Kontrapunkts und der Fuge in der Entwicklung der modernen Musik oder wie die Gorgianischen Figuren in der griechischen Beredsamkeit. Sich so zu binden kann absurd erscheinen; trotzdem gibt es kein anderes Mittel, um aus dem Naturalisieren herauszukommen, als sich zuerst auf das Allerstärkste (vielleicht Allerwillkürlichste) zu beschränken. Man lernt so allmählich mit Grazie selbst auf den schmalen Stegen schrei¬ ten, welche schwindelnde Abgründe überbrücken, und bringt die höchste Geschmeidigkeit der Bewegung als Ausbeute mit heim: wie 231

\

die Geschichte der Musik vor den Augen aller Jetztlebenden be¬ weist.. .51 Die Metaphorik des Bergsteigens schafft eine Verbindung zum Ge¬ dicht „Einsiedlers Sehnsucht“. Dichten und Bergsteigen sind in Analogie gebracht. Den Berührungspunkt bildet der Akt der Selbstüberwindung. Wie der Mensch, den der Einsiedler darstellt und Zarathustra lehrt, durch Überwindung zu sich selbst kommt, so kann nur ein künstliches Gedicht, das alles „Naturalisieren“ aufgegeben hat, zum Äquivalent des Selbst werden. Was für den Dichter ein solches Machen, ist für den Leser das Aufnehmen. In unserem Gedicht hat er eine solche Selbstüberwindung nur halb zu leisten, wie im Einsiedler Ich und Selbst noch nicht ganz zur Übereinstimmung gebracht sind.

IV. Nietzsches Gedicht „Einsiedlers Sehnsucht“ hat eine Geschichte, deren Einbeziehung sein Verständnis zu erweitern vermag. Die ersten Entwürfe zu Strophen des Gedichts enthält ein Notiz-1 buch Nietzsches52, das auf seiner hintersten Seite — Nietzsche beschrieb seine Hefte von hinten nach vorn — datiert ist „Ende Oktober 1884, Zürich. Pension Neptun.“ Die Entstehung läßt sich durch zwei weitere Notizbücher aus dieser Zeit verfolgen53. Diese drei Hefte enthalten außerdem Aphorismen zu „Jenseits von Gut und Böse“, ZarathustraFragmente, die Gedichte “An den Mistral“, „Rimus Remedium“, „SilsMaria“, „Der Freigeist“, „Die Krähen schrein“. Auch taudien darin Bruchstücke zu den Liedern des vierten Zarathustra auf. Das eine davon54 enthält zudem zwei Listen zu einer Gedichtsammlung „Lieder eines Einsiedlers“, die durch unser Gedicht eröffnet und mit „An den Mistral“ beschlossen werden sollte. „Einsiedlers Sehnsucht“ sprach einen bestimmten Adressaten an. Ende November 1884 übersandte es Nietzsche mit den Worten: „— — — Dies ist für Sie, mein werther Freund, zur Erinnerung an Sils-Maria und zum Dank für Ihren Brief, einen solchen Brief! F. N.“55 an Heinrich von Stein nach Berlin. „Einsiedler“ war zu der 51 52 53 54 55

Schlechta I, S. 577 Z II 5 Z II 6, Z II 7 Z II 7 Briefe III, S. 243

232

Zeit eine von Nietzsche gern verwandte Selbststilisierung. Das Gedicht war Ausdruck seiner eigenen Sehnsucht. Er sprach sie im Gedicht aus, um Heinrich von Stein zum „neuen Freund“ zu werben. Das macht einen kurzen Blick auf dessen Biographie notwendig. Heinrich von Stein war 1857 geboren56. Er stammte aus einer from¬ men Familie. Erst studierte er Theologie, wandte sich dann aber der Philosophie und den Naturwissenschaften zu. Nach der Dissertation „Über die Wahrnehmung“ verfaßte er ein lyrisch-philosophisches Werk „Die Ideale des Materialismus“. Der erste Satz faßt Steins Entwicklung in die Sätze: Mit fünfzehn Jahren war ich jesugläubig, mit achtzehn Jahren athe¬ istisch, mit zwanzig Jahren Materialist. Eine Lüge zuerst, dann eins Bekehrung und dann eine Religion.57 Stein bekannte sich darin als Anhänger Eugen Dührings. Er kam von einem materialistischen Ansatz her zu Gedanken, die sich eng mit solchen Nietzsches berührten. Ihm ging es darum, daß der Mensch seine „Eigen¬ bedeutung“ findet, die sich „mit dem Ruhm gleichsam vor Gott und den Menschen deckt“58. Sie entspricht jenem von Nietzsche anvisierten Selbst¬ bewußtsein, das nur im Individuum selber gründet. Stein faßte eine zukünftige Gesellschaft aus solchen Individuen ins Auge, die wie Säulen nebeneinander stehen sollten. Seine Vision einer zukünftigen Gesell¬ schaft enthielt auch deutlich sozialistische Momente. In der Wahl seiner historischen Beispielfiguren verließ er auf selbständige Weise den Bil¬ dungskanon. Seine besondere Vorliebe galt Giordano Bruno und Jean Paul. Steins Dühringsche Phase wurde abgelöst durch die Verehrung für Richard Wagner. Durch Vermittlung Malwidas von Meysenbug59 wirkte er ein Jahr lang als Erzieher des jungen Siegfried. Angeregt durch Wagners künstlerische Produktivität und die Regsamkeit seines Kreises 56

Zu Heinrich von Stein lag mir an Material vor: Heinrich von Stein, Ge¬ sammelte Dichtungen, hrsg. von Friedrich Poske. 3 Bde, Leipzig: Insel o. J. — Hermann Glöckner, Heinrich von Stein, Schicksal einer deutschen Jugend. Tübingen: Mohr 1934 (Philosophie und Geschichte, Heft 48). — Lou AndreasSalom4, Lebensrückblick, hrsg. von Ernst Pfeiffer. Zürich/Wiesbaden: Niehans/Insel 1951. — Malwida von Meysenbug, Memoiren einer Idealistin. Berlin: Schuster und Loeffler o. J. — Cosima Wagner und Houston St. Chamberlain im Briefwechsel, hrsg. von Paul Pretzsch. Leipzig: Reclam 19342

57

H. von Stein, Dichtungen Bd I, S. 3

58 59

A.a.O. S. 90 M. von Meysenbug, a.a.O. Bd II, S. 304 f. 233

\

dichtete Stein imaginäre Dialoge historischer Figuren, „Dramatische Bil¬ der“, die unter dem Titel „Helden und Welt“, eingeführt von Wagner selbst, 1883 erschienen. Auch diese waren Darstellungen großer histori¬ scher Individuen in ihrer Einsamkeit. Wagner hatte den Kerngedanken in dem Satz gesehen: ... wie auch immer der gewaltige, dunkle Hintergrund der Dinge in Wahrheit beschaffen sein mag, der Zugang zu ihm steht uns einzig in eben diesem unserem armen Leben offen, und also schließet auch unser vergängliches Tun diese ernste, tiefe und unentrinnbare Be¬ deutung ein.60 Es berührt merkwürdig, daß dieser Mann, der sein Denken so sehr auf die Ausprägung des Individuums gerichtet hatte, seine Stelle im Hause Wagners schon nach einem Jahr aufgab, um sich einem väterlichen Wunsch zu fügen und auf die akademische Laufbahn vorzubereiten. Er habilitierte sich in Halle mit einer Abhandlung „Uber die Bedeutung des dichterischen Elements in der Philosophie Giordano Brunos“. Spä¬ ter erfolgte, seltsamerweise erst im zweiten Anlauf, eine Umhabilitie¬ rung nach Berlin. Auch als akademischer Lehrer hielt Stein an seiner Verehrung für Richard Wagner fest. Er hielt in Berlin Vorlesungen über Wagner und gab das Wagner-Lexikon mit heraus. Für die Jugend war er ein Idol. Er wurde es noch mehr, als er mit dreißig Jahren plötz¬ lich starb. Steins Lebensgang brauchte uns hier nicht so ausführlich zu beschäf¬ tigen, würde darin nicht manche Parallele zu demjenigen Nietzsches sichtbar: die Phasen der inneren Entwicklung, die frühreife Intelligenz, die Verehrung für Schopenhauer, Dühring, Wagner, das missionarische Bewußtsein.

In Paul Ree, Malwida von Meysenbug, Wagner, Lou

Salome hatten sie gemeinsame Bekannte, ehe sie sich persönlich begeg¬ neten. Nietzsche hatte gleich nach Erscheinen „Die Ideale des Materialis¬ mus“ in die Fland bekommen. Der Briefwechsel zwischen beiden begann 1882, nachdem Stein die Initiative ergriffen hatte, Nietzsche kennenzu¬ lernen, ihn aber in Leipzig nicht angetroffen hatte. Nietzsche übersandte Stein die Bogen der „Fröhlichen Wissenschaft“, die Stein mit denen von „Helden und Welt“ erwiderte. Nietzsche schrieb ihm darauf: Was „den Helden“ betrifft: so denke ich nicht so gut von ihm wie Sie. Immerhin: er ist die annehmbarste Form des menschlichen Da¬ seins, namentlich wenn man keine andere Wahl hat. 60

H. von Stein, Dichtungen Bd II, S. 28

234

Man gewinnt etwas lieb: und kaum ist es Einem von Grund aus lieb geworden, so sagt der Tyrann in uns (den wir gar zu gerne „unser höheres Selbst“ nennen möchten): Gerade

das

gieb

mir

zum

Opfer.“ Und wir gebens auch — aber es ist Thierquälerei dabei und Verbranntwerden mit langsamem Feuer. Es sind fast lauter Probleme der Grausamkeit, die sie behandeln: thut dies Ihnen wohl? Ich sage Ihnen aufrichtig, daß ich selber zuviel von dieser „tragi¬ schen“ Complexion im Leibe habe, um sie nicht oft zu verwün¬ schen; meine Erlebnisse im Kleinen und Großen, nehmen immer den gleichen Verlauf. Da verlangt es mich am meisten nach einer Höhe,

von wo aus gesehen das tragische Problem unter mir

ist.61 Dieser Brief ist aus dem Denken heraus geschrieben, das wir in dem Gedicht kennengelernt haben. Auch die Topographie ist dieselbe. Das Selbst erscheint hier jedoch in weniger harmloser Gestalt. Als absoluter Gegenpol zu aller Gemeinsamkeit kann ihm keine Vermittlung genügen. So wird es zum Feind sogar dessen, dem es zugehört. Seine Kraft der Negation ist der Ausdruck seiner unaufhebbaren Jenseitigkeit. Erst wenn man seinen in diesem Brief anklingenden dämonischen Aspekt mit der apologetischen Gleichsetzung mit dem Leib zusammenhält, zeigt sich in der Paradoxie, in welchem Maße der Mensch, der auf Gott Verzicht getan hat, sich selber unheimlich geworden ist. Nietzsche übersandte Stein dann die ersten beiden Teile des „Zara¬ thustra“. Dieser nahm sie skeptischer auf, antwortete aber doch mit Zustimmung. Die Gesinnungen^ und Ansichten, welche Sie in Ihrem neuesten Buche aussprechen, muthen mich so verwandt und vertraut an, wie ich dies nie erwarten konnte. Welcher Segen ruht auf diesem Buche, wenn es in einem Einzigen die große Sehnsucht — und zugleich das: Bleibt der Erde treu! bestärkt.62 Für den dritten „Zarathustra“ revanchierte er sich mit eigenen Übersetzungen von drei Sonetten Giordano Brunos,

die Nietzsche

größten Eindruck machten: Diese Gedichte Giordano Bruno’s sind ein Geschenk, für welches ich Ihnen von ganzem Herzen dankbar bin. Ich habe mir erlaubt, sie mir zuzueignen, als ob ich sie gemacht hätte und für mich — und

61 62

Briefe III, S. 225 A.a.O. S. 227 235

\

sie als stärkende Tropfen „eingenommen". Ja wenn sie wüßten, wie

selten noch etwas

Stärkendes

von außen her zu mir

kommt.63 Daß Nietzsche von den Gedichten Brunos so unmittelbar betroffen war, verwundert nicht. Sie paßten genau in seine Motivwelt. Zwei davon haben den Aufschwung aus der Welt der Gewohnheit und der Schwere zum Thema. Und in Steins Sprache ist stellenweise das Echo des Zarathustra-Stils zu vernehmen, etwa in den Zeilen: Erkühne — erkenne dich! Erklimme Die heiligen Firnen: Denn nun bist du bei Gott, du fluthest, Ein Flammenmeer, empor.64 Nietzsches Dank dafür enthält auch einen Hinweis darauf, was ihm Gedichte überhaupt bedeuteten. Sie waren ihm Medizin, die ihn zu stärken vermochten. Dabei waren vor allem eigene Gedichte einer solchen stärkenden Wirkung fähig. Das erinnert an das Pygmalionische der Jugendgedichte Schillers. Es wird auch für „Einsiedlers Sehnsucht" in Rechnung zu stellen sein. Das Briefgespräch, das so viele Gemeinsamkeiten zu Tage gefördert und so schnell bei Nietzsches zentralen Themen angelangt war, fand seine Krönung in einer beinahe festlichen Begegnung im August 1884 in Sils-Maria. Nietzsche war tief davon gerührt, daß Stein, einzig und allein um ihn zu sprechen, von Berlin her für drei Tage ins Ober¬ engadin gereist war. Es scheint zu Momenten intensiver Verständigung gekommen zu sein, was auch Steins nachträglich eher distanzierte Be¬ richte erkennen lassen. In den anschließenden gegenseitigen Dankesbe¬ zeugungen zittert spürbar die Freude darüber nach, daß einer sich im andern erkannt hatte und erkannt sah. Aus dem Gefühl, endlich einen ebenbürtigen Freund gefunden zu haben, übersandte Nietzsche an Stein drei Monate später das Gedicht „Einsiedlers Sehnsucht". Nietzsche hatte in Stein wohl zunächst einfach einen menschlichen Freund im Auge, der ihn von der Einsamkeit befreien würde, ohne deren Sinn zu zerstören. Aber seine Hoffnung enthielt auch ein utopisches Moment im Sinne der folgenden Nachlaßnotiz: Wenn ich mich jetzt nach einer langen freiwilligen Vereinsamung wieder den Menschen zuwende, und wenn ich rufe: wo seid ihr, 63 64

Aa.a.O. S. 231 A.a.O. S. 229

236

meine Freunde — so geschieht dies um großer Dinge willen. Ich will einen neuen Stand schaffen: einen Ordensbund höherer Menschen, bei denen sich bedrängte Geister und Gewissen Rats erholen können.65 Mit Stein hätte die Zukunft, wie Nietzsche sie herbeisehnte, ihren An¬ fang nehmen sollen. Er wäre damit vor sich selbst und vor der Welt gerechtfertigt gewesen als Prophet einer neuen Zeit. Sein jahrelanges trotziges Leiden hätte einen objektiven Sinn offenbar gemacht. So mußte Nietzsche der August 1884 als ein Kairos von weltgeschichtlicher Bedeutung erscheinen. Schon während der Begegnung mit Stein scheint Nietzsche solche Gedanken geäußert zu haben, verhüllt in den Mythos von Philoktet. Stein berichtet darüber zustimmend: In jedem Sinn traf N. das Rechte, als er der Stimmung nach unsere Zusammenkunft mit der Handlung des Philoktet verglich. Die ruhige Erhabenheit eines schönen Tages dort oben in Sils im Oberengadin ließ uns aufatmen aus tiefstem Gefühl des Welttragischen heraus, atmen im Lichte des Aeschylos, des Heraklit.66 Das Werbe-Gedicht führte, wie wir gesehen haben, die mythische Identifikation weiter aus. Es sann Stein mit dem Hinweis auf das Kind offensichtlich die Rolle des Neoptolemos an. Doch davor wich Stein zurück: Wiederum auf einen

solchen Anruf bliebe mir nur Eine Ant¬

wort: zu kommen; mich dem Verständnis des Neuen, was Sie zu sagen haben, zunächst einmal ganz und gar als einem edelsten Be¬ rufe zu widmen. Dies ist mir versagt. ... Lassen Sie mich, mit herz¬ licher Aufrichtigkeit, auf ein Bedenken eingehen, was ich in Ihrem Gedichte, wie in Ihrem vorhergehenden Briefe anklingen höre. In dem letzteren gaben Sie unserer Zusammenkunft das ergreifende Symbol des Philoktet. Sie sprachen von dem Philoktetglauben. Ich theile diesen Glauben, nämlich: daß ohne die Pfeile des Philoktet Troja nicht erobert wird. Glaubt Neoptolemos darum weniger, daß der todte Held den größten Antheil an der Eroberung Trojas habe? Wird ihn dieser Glaube hindern, den Philoktet zu verstehen? Giebt ihm nicht vielmehr dieser Glaube ein, einem Philoktet in jedem Falle gänzlich un-Odysseisch zu begegnen?67 65 66

MA XV, S. 247 Zit. Glöckner, Stein S. 41

87

Briefe III, S. 247 237

\

Der tote Held — das war im Gleichnis Achill, in Wirklichkeit Richard Wagner. Stein entzog sich Nietzsches Werbung unter Berufung auf Wag¬ ner. Die Beziehung suchte er dadurch aufrecht zu erhalten, daß er Nietzsche im selben Brief zur gelegentlichen Mitarbeit am WagnerLexikon einlud. Manches weist darauf hin, daß Nietzsche in Stein ein alter ego gesehen hatte, das nach einer analogen Entwicklung nun auch noch den entscheidenden letzten Schritt, den über Wagner hinaus, tun würde, um seine Stufe zu erreichen. Daß Stein seine Freundschaft ausschlug, und zwar so, daß er ihm ausgerechnet Wagner vorzog, verletzte Nietzsche tief. Wagner erschien ihm zu dieser Zeit als der Schauspieler, der ganz auf den Beifall seiner Umgebung ausgerichtet gewesen war und sich damit von dieser sein Selbst hatte zudiktieren lassen. Deshalb hatte Wagner nach Nietzsches Meinung auch an den christlichen Wertvorstel¬ lungen festgehalten. Nietzsches Antwortentwürfe verraten Erbitterung und Zorn. Er legte sie darauf an, Stein den Unterschied zwischen sich und Wagner deutlich zu machen. Ich weiß sehr gut, daß Ihre Liebe und Verehrung für R. W. zu groß ist, als daß Sie einen M[enschen]

erkennen könnten, der

grundsätzlich von ihm verschieden ist. Was würden Sie von mir den¬ ken, wenn ich Ihnen sagte, daß ich R. W. ebenso tief bedaure als verachte? Sie werden denken, ich sei verrückt. Es ist mein Los, mich nur unter Masken zu zeigen, ich bin sehr ehrlich gegen Sie, Ihnen so viel von mir zu verraten. —68 Das ist der Versuch, die Selbstpreisgabe zurückzunehmen, sich wie¬ der zu verhüllen und zu verrätseln, mit Berufung auf grundsätzliche Unerkennbarkeit. Zu diesem Rückzug gehört als Komplement die nach¬ trägliche Herabsetzung des Umworbenen wie im folgenden Brief an die Schwester: Glaubst Du wirklich, daß Steins Arbeiten, die ich nicht einmal zur Zeit meiner schlimmsten Wagnerei und Schopenhauerei gemacht ha¬ ben würde, von einer ähnlichen Wichtigkeit sind wie die ungeheure Aufgabe, die auf mir liegt? Oder hältst Du es meiner Würde gemäß, mich um seine Freundschaft zu bewerben? Ich bin viel zu stolz um je zu glauben, daß ein Mensch

mich

lieben könne. Dies würde

nämlich voraussetzen, daß er wisse, wer ich bin. Ebensowenig 's

68

Ebd.

238

glaube ich daran, daß ich je jemanden lieben werde: dies würde vor¬ aussetzen, daß ich einmal — Wunder über Wunder! — einen Men¬ schen meines Ranges fände. — Vergiß nicht, daß ich solche Wesen wie Richard Wagner und A. Schopenhauer, um einiger persönlicher Dinge willen, ebensosehr verachte als tief bedaure und daß ich selbst den Stifter des Christentums in mancher Hinsicht oberflächlich emp¬ finde.69 Das Verhältnis zu Stein war für immer gestört. Doch als Stein 1887 plötzlich starb, nannte ihn Nietzsche gegenüber Gast einen der „ganz wenigen Menschen, an dessen Dasein ich Freude hatte“.70 Der Verlauf der Begegnung mit Heinrich von Stein ist typisch für Nietzsches Versuche, aus seiner Einsamkeit auszubrechen. Er bestätigt auf unheimliche Weise jene Gesetzmäßigkeit, die Nietzsche selbst zu Beginn des Kontaktes mit Stein in der zitierten Antwort auf „Helden und Welt“ mit schonungsloser Klarsicht dargelegt hatte. Im Falle Steins schien jedoch nicht sein eigensüchtiges Selbst der Urheber des Bruches zu sein, sondern der in Aussicht genommene Freund. Das Werbe-Gedicht aber läßt erkennen, daß bereits im Kriterium der Wahl, wenn es kon¬ sequent beibehalten wurde, der Mißerfolg angelegt war. Das Gedicht „Einsiedlers Sehnsucht“ war direkt an Heinrich von Stein adressiert. Er sollte damit für Nietzsche gewonnen, ja eigentlich zu ihm bekehrt werden. Das ist der äußere Grund für das Nebenein¬ ander von dichterischer und Gemeinsprache. Das Gedicht mußte ver¬ ständlich bleiben, wenn es seinen Zweck erreichen sollte. Hatten wir bisher den Akzent darauf gelegt, daß dieser Wille zur Kommunikation der reinen Sprache des Selbst im Wege stand, so tritt nun die Umkehrung davon hervor, daß das Gesetz von der Wiederkehr des Gleichen der wirklichen Verständigung entgegenwirkt. Der Einsiedler versucht im Gedicht, sich durch die Abwehr der alten Freunde von seiner eigenen Vergangenheit zu befreien. Doch ist der Vorwurf an die alten Freunde grundsätzlicher. Er betrifft überhaupt ihr Anderssein. Daß sich der Einsiedler in ihrer Gegenwart seiner Verände¬ rung bewußt wird, genügt ihm schon, sie preiszugeben. Er hatte sich in seiner Einsamkeit die Jugendfreundschaft als völligen Einklang vorge¬ stellt, in dem die Einzelnen aufgehoben waren in einer Gruppeniden¬ tität. Daher kann er nun nicht anerkennen, daß die Freunde Wesen eige-

69 70

Zit. Glöckner S. 42 An Gast am 27. Juni 1887. Schlechta III, S. 1257 239

\

ner Art sind. Wer nicht unmittelbar mit ihm übereinstimmt, ist gegen ihn, resp. dessen Gegner ist er. Da er den Bezug auf die Gemeinschaft nicht aufgeben und doch zu einem angemessenen Selbstbewußtsein gelan¬ gen will, sieht er in dem Anderssein der Andern eine Gefahr für sich selbst. Darin zeigt sich die Paradoxie des Einsiedlers ohne Gott, daß er in der Einsamkeit sich auf jemand andern beziehen muß, um sich davon absetzen und so überhaupt bewußt erfassen zu können. Er unter¬ steht der verzwickten Dialektik der Eitelkeit, die Nietzsche oft beson¬ ders klarsichtig beschrieben hat. Die erhoffte Gemeinschaft trägt dieser Problematik dadurch Rech¬ nung, daß sie aus solchen Freunden bestehen soll, deren Wesen mit dem Einsiedler verwandt wären. In ihnen wäre die unüberbrückbare Andersheit aufgehoben. Als andere wären sie für den Einsiedler zugleich seinesgleichen. Die Beziehung zu ihnen brächte uneingeschränkte Selbst¬ bestätigung. Die so konzipierten neuen Freunde können bestehen, weil sie noch nicht Wirklichkeit geworden sind. Als erhoffte unterstehen sie noch ganz der Einbildungskraft des Einsiedlers. Er entwirft Spiegelbil¬ der seiner selbst, um von ihnen ein reines Selbstbewußtsein zu gewinnen und garantiert zu bekommen. In diesem Entwurf spukt das Gesetz der Wiederkunft des Gleichen pygmalionhaft. Der Einsiedler gewinnt von den neuen Freunden nur, was er ihnen verliehen hat. Er gesteht ihnen kein Eigenleben zu. Es sind seine Projektionen, die er erwartet. Diese Problematik kommt im Gedicht darin zum Ausdruck, daß der Schluß in den Anfang mündet. Wir haben gesehen, daß Floffnung und Erinne¬ rung das Überspringen der Gegenwart gemeinsam ist. Mit den erinner¬ ten alten Freunden bestand für den Einsiedler dieselbe ungestörte, weil fiktive Eintracht wie mit den erhofften neuen. Aber wie sich die Erinne¬ rung durch die Realisierung als Täuschung erwies, liegt in der Hoffnung der Keim neuer Enttäuschung. Das Gesetz der Wiederholung kann nicht außer Kraft gesetzt werden, wenn nicht das Selbst sich preisgeben soll. Unter diesen Auspizien stand Nietzsches Werben um die Freund¬ schaft Heinrichs von Stein. Dieser konnte der Rolle nicht genügen, die ihm zugedacht war. Vom Gedicht her gesehen liegt im Scheitern von Nietzsches Werbung über die individuellen Ablehnungsgründe Steins hinaus eine innere Notwendigkeit. Kein lebendes Wesen konnte Nietz¬ sches Ebenbild sein. So denken heißt jedoch das Leben literarisch sehen, heißt absehen von den unberechenbaren und unerwarteten Chancen, die es immer enthält. Aber Nietzsche selbst verquickte Literatur und Leben, 240

als er mit seinem Gedicht um Steins Freundschaft warb71. Folgerichtig hatte dessen Rückzug Konsequenzen für das Gedicht. V. Als Nietzsche das Gedicht unter dem Titel „Aus hohen Bergen“ als „Nachgesang“ zu „Jenseits von Gut und Böse“ 1887 erstmals veröffent¬ lichte, hatte er es zwar nur geringfügig verändert und einige Strophen umgestellt. Aber er hatte ihm zwei durch Sternchen abgesetzte neue Schlußstrophen angefügt, die es entscheidend verwandelten. Dies Lied ist aus — der Sehnsucht süßer Schrei Erstarb im Munde: Ein Zaubrer tats, der Freund zur rechten Stunde, Der Mittags-Freund — nein! fragt nicht, wer es sei — Um Mittag wars, da wurde Eins zu Zwei... Nun feiern wir, vereinten Siegs gewiss, Das Fest der Feste: Freund Zarathustra kam, der Gast der Gäste! Nun lacht die Welt, der grause Vorhang riss, Die Hochzeit kam für Licht und Finsternis.. .72 Damit ist Zarathustra an die Stelle getreten, die Nietzsche Heinrich von Stein zugedacht hatte. Er brachte als „Freund der rechten Stunde“, des Kairos, die Sehnsucht zum Verstummen. Einen Hinweis darauf, was das bedeutet, enthält die Formel „da wurde Eins zu Zwei“. Sie ist ein Zitat aus Nietzsches Gedicht „SilsMaria“. Aus den Entwürfen zu diesen neuen Strophen geht hervor, daß Nietzsche erwogen hatte, noch deutlicher darauf anzuspielen: Hier saß ich wartend, wartend — doch auf Nichts Du Zarathustra, du verläßt mich nicht, Freund Zarathustra.73 Ein Seibstzitat also anwortet auf die Frage nach den neuen Freun¬ den.

71

Die Verwechslung von Literatur resp. Kunst und Leben gehört zu den Cha¬ rakteristika des ausgehenden 19. Jahrhunderts. In der Ästhetik des Jugend¬ stils wurde sie programmatisch.

72 73

Schlechta II, S. 757 Die Entwürfe zu den beiden Schlußstrophen sind in dem Notizbuch W I 8, S. 105, 106, 103, 104 enthalten. Die zitierte Stelle S. 106 241

16

Pestalozzi, Lyrisches Ich

V

Tatsächlich ist Zarathustra dadurch geeignet, die Sehnsucht zu stillen, deren narzißtische Komponente uns deutlich geworden war, daß er Nietzsches Doppelgänger ist. In seine Gestalt hatte sich bei der berühm¬ ten Vision am Silvaplanersee Nietzsches Selbst von sich aus objektiviert. Er war ein reines Produkt der Einbildungskraft. Stein und andern gegenüber hatte ihn Nietzsche als „Sohn“74 bezeichnet, und in einem Brief an Rohde heißt es: „Mein ,Zarathustra* ist fertig geworden ... Es ist alles drin mein Eigen, ohne Vorbild, Vergleich, Vorgänger.. .“75 Auch dieser Brief übrigens kommt auf Zarathustra als Aequivalent für die ver¬ lorenen Freunde zu sprechen. Mit Zarathustra hatte sich Nietzsche sein Eigenstes zum Freund genommen. In ihm, dem reinen Spiegelbild, konnte er sich selbst rein erkennen. Zarathustras Einheit mit dem Selbst läßt sich wiederum auf dem Weg über das Höhenmotiv fassen. Er ist eigentlich der Genius der Höhe. Nicht nur war das Oberengadin die Stätte seiner Konzeption, auch bei der Ausarbeitung will Nietzsche in der Höhe gewesen oder aufwärts gegangen sein76. Der erste Satz stellt ihn als Bergeinsiedler vor, und auch der zweite und dritte Teil beginnen mit dem Aufstieg in die Höhe. Doch wie das Selbst nichts Statisches ist, so hält es auch Zarathustra nicht auf den Bergen. Unstet steigt er auf und ab, auch in „Sils-Maria“ geht er vorbei. Sich selber nennt er Weg, nicht Ziel. In jedem Sinn ist er transitorisch. Doch seine Bewegung verläuft in wiederkehrenden Phasen. Darin liegt seine Verwandtschaft mit der Sonne, auf die immer wieder angespielt wird. Wie sie steigt er auf und geht er unter. Uber die histo¬ rische Anspielung auf den Sonnenkult des Zoroaster hinaus wird in die¬ ser Parallele deutlich, daß seine Beweglichkeit der Ewigen Wiederkunft untersteht; ja er ist deren Personifikation. Sonnenumlauf und Höhe vereinigen sich im „Mittag“. Das ist Zara¬ thustras Zeit. Nicht daß das Selbst zu den andern Zeiten nicht bestünde. Aber am hohen Mittag tritt es unverhüllt in Erscheinung. Darum ist der Mittag die Zeit jenseits von Gut und Böse. Das Bild stimmt auch von der 74

75 76

An Stein am 22. Mai 1884. Briefe III, S. 231. — Wichtig ist in diesem Zu¬ sammenhang die folgende Stelle aus dem ersten „Zarasthustra“: Einer ist immer zuviel um mich* — also denkt der Einsiedler. ,Immer einmal eins — das gibt auf die Dauer zwei! Ich und Mich sind immer zu eifrig im Ge¬ spräche: wie wäre es auszuhalten, wenn es nicht einen Freund gäbe?*“ Schlechta II, S. 320. In „Aus hohen Bergen“ verläuft die Abfolge in der ent¬ gegengesetzten Richtung. Am 22. Febr. 1884. Schlechta III, S. 1215 Ecce Homo. Schlechta II, S. 1129

242

Gegenseite her. Die moralischen und mitmenschlichen Kategorien, mit denen der Mensch zum Ich-Bewußtsein zu gelangen sucht, sind bei Nietzsche oft, nicht zuletzt in Anlehnung an Platos Höhengleichnis, Trübungen der Atmosphäre, Schatten, Dunst und Nebel. Sie verstellen die wahre Selbsterkenntnis. Die Erfahrung, die den Mittag zum Kairos der Erkenntnis macht, hat Walter Benjamin, auf unser Gedicht deutend, beschrieben: Kurze Schatten Wenn es gegen Mittag geht, sind die Schatten nur noch die schwar¬ zen, scharfen Ränder am Fluß [Fuß?] der Dinge und in Bereitschaft, lautlos, unversehens in ihren Bau, in ihr Geheimnis sich zurückzuzie¬ hen. Dann ist, in ihrer gedrängten, geduckten Fülle, die Stunde Zarathustras gekommen, des Denkers im „Lebensmittag“, im „Som¬ mergarten“. Denn die Erkenntnis umreißt wie die Sonne auf der Höhe ihrer Bahn die Dinge am strengsten.77 Zarathustra definiert sich indirekt selber als schattenloses Selbst, wenn er von sich sagt: Und wer das Ich heil und heilig spricht und die Selbstsucht selig, wahrlich, der spricht auch, was er weiß, ein Weissager: „Siehe, er kommt, er ist nahe, der große Mittag.“78 Aus dem mittäglichen Offenbarwerden des Selbst in Zarathustra gewinnt der Einsiedler einen Freund, der ihm zu einem Bewußtsein verhilft, das nicht mehr im Widerspruch mit ihm steht. Der Unterschied von Licht und Schatten, von Instinkt und Bewußtsein fällt dahin. Dadurch, daß Eins zu Zwei wurde, wird nun wiederum Zwei zu Eins. „Die Hochzeit kam von Licht und Finsternis.“ Dieser Schlußsatz eröffnet heilsgeschichtliche Perspektiven. Der histo¬ rische Zarathustra hatte, so sah ihn Nietzsche, den Gegensatz von Hell und Dunkel ins Metaphysische erhoben und damit „den verhängnisvol¬ len Irrtum, die Moral“ geschaffen79. Verhängnisvoll war er deshalb, weil Moral ein autonomes Ich voraussetzte, das glaubte, in eigener Verant¬ wortung gewissenhaft urteilen und handeln zu müssen. Nietzsches Zara¬ thustra heißt in den Entwürfen zu den Schlußstrophen auch „mein

77 78

Benjamin, Schriften Bd II, S. 22 Schlechta II, S. 439

79

Zit. C. A. Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Jena: Diederichs 1908. I, S. 397

243

16*

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höheres Gewissen“80. Seine Maßstäbe sind nicht mehr Gut und Böse. Er bewegt sich wie das Selbst jenseits davon. Sein Kriterium ist Kraft. Indem das Ich nun an ihm seinen Maßstab bekommt, ist durch den Zarathustra redivivus der durch den historischen Zarathustra aufgeris¬ sene Gegensatz aufgehoben. Es beginnt die Zeit des Übermenschen, in dem Können, Sein und Sollen eins geworden sind. Zarathustra ist dessen Vorläufer und Verkündiger. Von dem neuen Schluß des Gedichtes her erscheint „Einsiedlers Sehn¬ sucht“ als Versuchung des Einsiedlers. Er hatte nach dem lod Gottes die Position in der Höhe eingenommen, um da auf eine neue Offenbarung zu warten. Daß er darauf verfiel, die Bestätigung seines Auftrages von anderen Menschen, den alten und den neuen Freunden, zu erwarten, war eine Anwandlung von Schwäche. Er suchte sich damit der Last seinem Einsamkeit unzeitgemäß zu entledigen. Der Mißerfolg dieses Ausbruch¬ versuchs wies ihn auf seine Aufgabe zurück. Er führte ihn zugleich zur Erkenntnis der neuen Offenbarung, auf die er gehofft hatte. Zarathustra, „der Gast der Gäste“, ist es, der sich auf hohen Bergen offenbart. Auf ihn hat der Einsiedler gewartet, ohne daß er es wußte. Sein Geburtstag, den er lange mißverstand, brachte ihm und der Welt die Wiedergeburt Gottes in neuer Gestalt. Zarathustra vermittelte seinem Bewußtsein sein eigenes Selbst und erklärte sich zum Heiland aller im falschen Ich-Bewußtsein gefesselten Menschen. Allen Altern, Ge¬ schlechtern, Ständen versprach er Erlösung zu sich selbst. Bedeutsamer als die einzelnen Lehren Zarathustras wurde, daß er eine erdichtete Gestalt ist. Seine Existenzform ist die Literatur. Daß er an die Stelle Gottes und der Freunde tritt, bedeutet nichts geringeres, als daß die Funktion der Selbstvermittlung ganz an die Literatur gefal¬ len ist. Das Buch muß nun schaffender Spiegel sein, jedes wird zum Buch der Bücher. Literatur soll die Menschen nicht mehr zerstreuen, son¬ dern auf sich selbst konzentrieren. Medium ist aber gerade nicht die Gemeinsprache, sondern eine geheimnisvolle esoterische Sondersprache, die von allen andern Zwecken befreit ist: die Poesie. Bei Nietzsche lassen sich aus allen Stadien seines Lebens Belege dafür beibringen, daß für ihn aus Büchern, eigenen oder fremden, die Erkennt¬ nis seiner selbst erwuchs. In einer frühen autobiographischen Skizze findet sich schon der Satz: „Überhaupt war stets mein Vorhaben, ein kleines Buch zu schreiben und es dann selbst zu lesen. Diese kleine Eitel-

80

Du bleibst mir treu mein höheres Gewissen W I 8, S. 106

244

keit habe ich jetzt immer noch.“81 Der Ausdruck Eitelkeit erhellt die kuriose Absicht. Sie tendiert darauf, Berühmtheit und Ansehen vor und für sich selbst zu gewinnen82. Gehn wir zu weit, wenn wir darin schon die Problematik angedeutet sehen, um die „Einsiedlers Sehnsucht“ kreist und die sich dann auch durch das Lesen des eigenen Buches löst? Der Jugendäußerung korrespondiert eine an Peter Gast aus der Zeit unmit¬ telbar vor dem Zusammenbruch: Ich blättere seit einigen Tagen in meiner Literatur, jetzt

zum

erstenmale

mich

der

gewachsen

ich

fühle.

Verstehen Sie das? Ich habe alles sehr gut gemacht, aber nie einen Begriff davon gehabt — im Gegenteil! . .. Zum Beispiel die diversen Vorreden, das fünfte Buch „gaya

scienza“ — Teu¬

fel, was steckt da drin? — Uber die dritte und vierte Un¬ zeitgemäße werden Sie in E c c e h o m o eine Entdeckung lesen, daß Ihnen die Haare zu Berge stehn — mir standen sie auch zu Berge. Beide reden nur von mir, anticipando... Weder Wag¬ ner noch Schopenhauer kamen psychologisch drin vor . . . Ich habe beide Schriften erst seit vierzehn Tagen verstanden. — Zeichen und Wunder!83 1876 hatte Nietzsche an Rohde als Antwort auf dessen Heirats¬ anzeige ein Gedicht gesandt, in dem er zu sagen versuchte, weshalb für ihn die Ehe nicht so nötig sei, nachdem er zuvor erklärt hatte: „Meine Not ist anders: ich weiß es kaum zu sagen und zu erklären.“ Auf das Gedicht aber folgt der Satz: „So geredet zu mir, nachts nach der An¬ kunft Deines Briefs.“84 Wir hatten oben gesehen, daß Nietzsche Brunos Gedichte wie eigene aufnahm und Stärkung aus ihnen zog85. Dieses Verhältnis von Autor und Gedicht ist zu unterscheiden von 81 82

Schlechta III, S. 21 Die Eitelkeit ist für Nietzsche ein wichtiges Thema, weil in ihr modellartig ein Verhalten zum Ausdruck kommt, bei dem sich der Einzelne von seiner Umwelt her versteht und bestimmen läßt, genauer von dem Bild, von dem er glaubt, das es sich die Umwelt von ihm macht. Die Tendenz Nietzsches ging auf die Autonomie des Ich. Darin berührt er sich mit derjenigen Baudelaires, wie sie in dem Satz zum Ausdruck kommt: „Avant tout, etre un grand homme et un saint pour soi-meme.“ Mon coeur mis ä nu. CEuvres completes S. 1286

83

An Gast am 16. Dez. 1888. Schlechta III, S. 1340

84 85

An Rohde am 18. Juli 1876. Schlechta III, S. 1122 In Weimar ist ein Wachstuchheft erhalten, in das der kranke Nietzscne mit ungelenken Buchstaben das Gedicht „Aus hohen Bergen“ abzuschreiben be¬ gonnen hat. 245

dem geläufigen, wonach sich die abundantia cordis im Gedicht ausströmt und objektiviert. Nicht nur daß Nietzsches Dichten aus einem qualvol¬ len Puzzle mit Wörtern bestand.

Selbstaussprache konnte für ihn

gerade nicht in der Umsetzung eines unartikulierten Gemütszustandes in allgemeinverständliche Sprache bestehen. Das Selbst stand aller All¬ gemeinheit entgegen. Nur eine unverständliche Sprache konnte ihm adaequat sein. Und nur, weil es mit allgemeinen Kategorien gerade nicht zu erfassen war, war das Selbst auf seine Offenbarung im Gedicht ange¬ wiesen. Diese aber konnte nicht so sehr in Gehalten liegen als in Ton und Rhythmus, im Musikalischen der Sprache. Das Gedicht „Einsiedlers Sehnsucht“ gehört nicht ganz in diese Kate¬ gorie. Es ist, worauf sein Titel deutet, noch viel zu sehr Aussprache eines Gemütszustandes. Es richtet sich an einen Adressaten, dessen von einem falschen Ich-Bewußtsein verdecktes Selbst es wecken wollte. Im Neben¬ einander einer greifbaren Botschaft und pathetisch-rhetorischer Instru¬ mentierung meinten wir die in der Intention begründete Doppelheit zu sehen. Die beiden neuen Strophen setzen ein „Dies Lied ist aus — der Sehn¬ sucht süßer Schrei erstarb im Munde.“ Darin kündigt sich eine andere Gedichtgattung an. Sie ist rein monologisch. Die Rücksichten auf allge¬ meine Verständlichkeit sind gefallen. Der Schluß ist der dunkelste Teil des Gedichts. In der Abwehr aller Frager — „fragt nicht, wer es sei“ — wird der Hang zur Esoterik thematisch. Die halben Andeutungen, die Umschreibungen,

die tautologischen Doppelformen,

die Bezeichnung

Zarathustras als Zauberer, das Verschweigen seines Namens in der ersten Strophe, die Formal „da wurde eins zu Zwei“ aus dem Hexen¬ einmaleins — alles deutet auf Geheimnishaftigkeit hin. Doch ist es noch eher Geheimnistuerei. Die stilistische Bindung an das vorangehende Ge¬ dicht, die Beibehaltung des Strophenmaßes, das Erfordernis einer Pointe setzen einer Verrätselung enge Grenzen. Erst einige Lieder des vierten Zarathustra und die Dionysos-Dithyramben erfüllen einigermaßen das hier angedeutete Ideal. Zarathustra, der auf dem Berg sich offenbart, ist aus weiterer Sicht be¬ trachtet nicht so sehr als Vertreter bestimmter Lebenslehren wichtig. Sein Bekehrungs- und Verkündigungsdrang erscheint eher als seine Grenze. Der Name Zarathustra bleibt als Chiffre für die magisch-geheimnisvolle, aus dem Rhythmus lebende Dichtung, die sich mit ihm für einige Zeit auf hohen Bergen inthronisierte als Spiegel für alle Einsiedler und als Trost über ihr nach dem Tod Gottes fremd gewordenes Selbst.

Mallarme „Autre Eventail, de Mademoiselle Mall arme“ Stephane Mallarme, CEuvres completes, texte etabli et annote par Henri Mondor et G. Jean-Aubry. Paris: Gallimard 1945. (Bibliotheque de la Pleiade) [zit. CEuvres] Henri Mondor, Mallarme

lyceen avec quarante poemes de jeunesse

inedits. Paris: Gallimard 1954 [zit. Mall.lyc.] Stephane Mallarme, Correspondance, I, 1862—1871, recueillie, classee et annotee par Henri Mondor. Paris: Gallimard 1959 [zit. Corr. I] II, 1871—1885, par Henri Mondor et Lloyd James Austin. Paris: Galli¬ mard 1959 [zit. Corr. II]

I. Von einem der Lehrer des Gymnasiasten Mallarme ist das mißbilli¬ gende Urteil überliefert: „Vous trouverez notre eher enfant revant poesie et n’admirant que Victor Hugo, qui est loin d’etre classique. Ce travers est peu favorable ä son education.“1 Spuren dieser Bewun¬ derung Hugos und der romantischen Lyrik überhaupt, von der Mallarme ausging, enthält das Gedichtheft des Gymnasiasten „Entre quatre murs“. Darin findet sich folgende Charakterisierung der zeitgenössischen Kunst: L’art ose, dans ces jours, sur les (plumes) d’Icare S’elancer, aigle, oü dort la foudre, voir des cieux!2 Mallarme spielte mit diesem Gedichteingang darauf an, daß Hugo das Aufschwungmotiv besonders liebte. Er mochte dabei an Gedichte wie das folgende denken: Oh! sur les ailes dans les nues Laissez-moi fuir! laissez-moi fuir

1

Mall. lyc. S. 65

2

A.a.O. S. 210

M7

V

Loin des regions inconnues C’est assez rever et languir! Laissez-moi fuir vers d’autres mondes. C’est assez, dans les nuits profondes, Suivre un phare, chercher un mot. C’est assez de songe et de doute. Cette voix que d’en bas j’ecoute, Peut-etre on l’entend mieux lä-haut. Allons! des ailes ou des voiles! Allons! un vaisseau tout arme! Je veux voir les autres etoiles Et la croix du sud enflamme. Peut-etre dans cette autre terre Trouve-t-on la clef du mystere Cache sous l’ordre universel. Et peut-etre aux fils de la lyre Est-il plus facile de lire Dans cette autre page du ciel.3 Dieser Aufruf zum Entdeckungsflug ins Weltall schließt an Bruno an. Doch steht er, sucht man nach dem Äquivalent in der deutschen Lyrik, von der Ausgestaltung des Motivs her Brockes näher als Schiller. Auch hier ist der Himmel ein Buch. Vom Kosmos wird nicht ein neuer Sinn, sondern die neuerliche Bestätigung des überlieferten erwartet. Da¬ für ist bezeichnend, daß von den Sternen einzig das Kreuz des Südens genannt wird. Nur aufgrund dieser vorausgesetzten traditionellen Er¬ wartung ist die Begeisterung der vielen möglich, zu der das Gedicht aufruft. Noch die Lyriker erscheinen in der Mehrzahl. Sie sind die An¬ führer bei der allgemeinen Erhebung der Gemüter, die zum neuen Beweis Gottes werden soll. Im pathetischen Ton ist das Gedicht denn auch weit von Brockes entfernt. Sein Stil suggeriert die Erhebung, zu der es auffordert. Wie sehr diese Art Aufschwung Mallarmes Bild von Hugo be¬ stimmte, zeigt auch sein Rat an einen Freund, der sich Hugo zum Vorbild gewählt hatte:

3

Victor Hugo, Les feuilles d’automne. -Les couchers du soleil IV. CEuvres completes (Pl£iade) S.788

248

. .. pour suivre le Maitre et ravir Petincelle Aux astres, c’est a toi d’4tendre ta jeune aile, De parcourir son vol que sillonne Peclair!4 Der Mallarme, der so sprach, nahm sich selber jedoch bereits von dieser Aufforderung aus. In beiden angeführten Gedichten dient ihm die Charakterisierung der Lyrik Hugos dazu, seine veränderte Dich¬ tungsauffassung davon abzusetzen. Auf das eben zitierte Terzett folgt als zweites: Moi, j’imite en ses jeux la verte demoiselle. Je vais de folle en folle, agitant ma crecelle: Boheme est ma patrie! ä toi le ciel et l’air.5 Gegen die himmelwärtsstrebende Lyrik stellt der junge Mallarm£ eine realistische, die sich an die Freuden des Lebens, Wein, Tanz, Liebe, hält, die daher auch keine Ansprüche auf Ewigkeit erhebt, sondern bereit ist, wie die Gelegenheit, die sie auslöste, zu verschwinden. Das Gelegenheitsgedicht dieser Art ist seine Alternative zum romantischen Aufschwunggedicht. „Entre quatre murs“ enthält als Beispiel der sich bescheidenden Gattung das Gedicht „Pour ouvrir un album“. Dessen An¬ fang bilden die Zeilen, mit denen sich Mallarme von der zeitgenössi¬ schen Kunst absetzte: L’art ose, dans ces jours, sur les (plumes) d’Icare S’elancer, aigle, oü dort la foudre, voir des cieux! Mais nous, au coin du feu, gais, de notre cithare Pour ces pages tiront quelques accords joyeux! Poete ou non, qui t’aime un soir ou deux s’enflamme Et qu’il grave, y semant quelques traits de son äme Ses larmes, ses amours et ses reves d’azur, Comme un gai papillon qui, vers le soir, se pose, Et laisse en s’endormant Por de son aile sur la rose!6 Wichtig ist hier die motivische Darstellung des Gegensatzes. Auch der Gelegenheitsdichter hat Flügel. Doch es sind die des Schmetterlings. Er flattert in Erdnähe, und sein Glanz leuchtet auf, wenn er sich nieder¬ läßt. Der abendliche Farbakkord von Gold und Rot ist gedämpfter als das direkte Licht, zu dem der Ikarusdichter strebt, dafür auch mensch4 Mall. lyc. S. 208 5

Ebd.

6 A.a.O. S. 210 24 9

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lieber und dauerhafter. An der großen metaphysischen Begeisterung gemessen geht es um kleine und stille Freuden. In dem gereimten Rechenschaftsbericht über seine lyrische Entwick¬ lung „Moi, quand j’etais petit et que j’etais classique ...“, den Mallarme ein Jahr nach „Pour ouvrir un album“, im April 1860, abfaßte, suchte er sich noch einmal von der romantischen Lyrik abzugrenzen: L’aigle, qui raille au ciel l’archange qui le craint, Enflamme tous les yeux; moi, dans ma carapace Mon ideal etait ces vieux coqs £tames Qui grincent betement sur les clochers ruines!7 Auch hier sind Adler, Erzengel und Turmhahn als geflügelte Wesen untereinander verwandt. Doch kommt nun ein geschichtsphilosophisches Moment in die Abgrenzung. Der spektakuläre Adler erscheint als Kon¬ kurrent des Erzengels. Er macht diesem seine Popularität streitig. Beide aber kämpfen um denselben Himmel. Mallarme dagegen sieht sich von der gläubigen Menge isoliert. Daß er sich den Turmhahn auf zer¬ störtem Kirchturm zum Vorbild nimmt, erfaßt seine geistesgeschichtliche Situation auf erstaunlich prägnante Weise. In der entscheidenden Phase von Mallarmes Entwicklung fiel seinem Freund Lefebure — in Erinne¬ rung an dieses Jugendgedicht? — der Vergleich mit dem Turmhahn ein. Was jedoch dem jungen Mallarme als letzte Rückzugsposition erschien, erkannte der spätere als Ausgangspunkt eines unvergleichlich Neuen. Die angeführten Gedichte geben die Einstellung wieder, mit der Mallarme 1860 auf Baudelaires „Fleurs du Mal“ stieß, die drei Jahre zuvor erschienen waren. Sie machten auf ihn größten Eindruck, 29 Ge¬ dichte schrieb er sich daraus in seine persönliche Anthologie ab8. Sein Interesse galt primär jenen Gedichten, die seine Hinwendung zu Themen des gewöhnlichen Lebens bestätigten und differenzierten, die Häßliches, Zwielichtiges, Obszönes und die entsprechenden Stimmungen gestalteten. Bald war Mallarme im Stande, im Tone Baudelaires zu schreiben, ja ihn an Kraßheit des Details zu übertreften. Es ist infolgedessen nicht erstaunlich, daß Mallarme „Elevation“, wie übrigens auch „Correspondances“, nicht in seine Auswahl auf nahm. „Elevation“ mochte ihn gerade an jene Adler- und Ikaruspoesie erinnern, von der er sich losgesagt hatte. Dennoch erkannte Mallarme, daß bei

7 8

Avril 1860. Ebd. S. 220 Die Liste dieser Gedichte Mall. lyc. S. 298/99

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Baudelaires Beschwörung der sündigen und satanischen Seiten des Lebens das Gegenspiel der göttlichen Gnade mitgedacht war, ja mehr noch, daß sie geradezu die christliche Aufschwungpoesie auf indirekte Weise erneuerte. Das geht aus dem Baudelaire gewidmeten „Satz“ der „Symphonie litteraire“ (1864) hervor. Er ist zweigeteilt. Der erste Teil beschreibt die Wirkung der „Fleurs du Mal“ im Bilde einer Landschaft, die erfüllt ist von Motiven aus dem Umkreis des Spleen; auch „quelques plumes d’aile d’ames dechues“ sind dabei. Die Sonne geht darüber unter, und mit der Dunkelheit verbreiten sich Verbrechen, Schuld und Tod. Im Betrachter werden dadurch Gefühle der Ausgestoßenheit rege, aber auch Sehnsucht nach der Heimat. Der zweite Teil antwortet darauf: J’ai ferme le livre et les yeux, et je dierche la patrie. Devant moi se dresse l’apparition du poete savant qui me l’indique en un hymne elance mystiquement comme un lis. Le rythme de ce chant ressemble a la rosace d’une ancienne eglise: parmi l’ornementation de vieille pierre, souriant dans un seraphique outremer qui semble etre la priere sortant de leurs yeux bleus plutot que notre vulgaire azur, des anges blancs comme des hosties chantent leur extase en s’accompagnant de harpes imitant leurs ailes, de cymbale d’or natif, de rayons purs contournes en trompettes, et de tambourins ou resonne la virginite des jeunes tonnerres: les saintes ont des palmes, — et je ne puis regarder plus haut que les vertus theologales, tant la saintete est ineffable, mais j’entends eclater cette parole d’une facon eternelle: Alleluia!9 Mit diesem Tableau schildert Mallarme die eigentliche Wirkung der Spleen-Landschaft. Es baut das geistige Universum in Sphären auf bis zur Spitze des unaussprechlichen Gottes. Baudelaire erscheint als ein im Grunde theologischer Dichter, für den gemäß dem christlichen Welt¬ bild das Böse notwendig auf das Gute, das Exil auf die Heimat des Menschen verweist. Er wird damit, wenn auch auf praeraffaelitische Weise, unmittelbar neben Dante gestellt. Das Gedicht, auf das sich Mallarme dabei beruft, die liliengleich in die Höhe schießende Hymne, erinnert an „Elevation“. Darin tritt für ihn die in den „Fleurs du Mal“ verborgene Intention rein ans Licht. Diese Deutung weist den poetisch revolutionären Baudelaire in traditionelle Zusammenhänge ein. Sie macht ihn geradezu zum Kirchen9

CEuvres S. 264

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V

lehrer. Auch gerät er dadurch in große Nähe zu den romantischen Auf¬ schwungdichtern. Man glaubt, bei aller Verehrung, die dieser Abschnitt der „Symphonie litteraire“ ausdrückt, darin doch auch Ansatzpunkte dafür zu sehen, wie sich Mallarme von seinem Vorbild distanzieren und zu einem eigenen Standpunkt gelangen könnte. Nähe und Abstand Mailands zu Baudelaire zeigt das Gedicht „Les Fenetres“10. Angelegt ist es als Gleichungsgedicht nach dem Muster vieler Gedichte aus den „Fleurs du Mal“. Georges Poulet hat darauf hingewie¬ sen, daß es sich deutlich an Baudelaire orientiert11. Von Baudelaire scheint schließlich auch das Bild des Kranken im Hospital zu stammen. Kurt Wais hat gesehen, daß es eng an die Rembrandt-Strophe aus „Les Phares“ anschließt. Rembrandt, triste hopital tout rempli de murmures, Et d’un grand crucifix decore seulement, Oü la priere en pleurs s’exhale des ordures, Et d’un rayon d’hiver traverse brusquement.12 Diese Strophe strukturiert der Gegensatz von Verlorenheit und Er¬ lösung. Er erscheint erst allgemein als der von traurigem Gemurmel und stummem Crucifixus und darauf aktualisiert in aufsteigendem Gebet und antwortendem Sonnenstrahl. Der innere Zusammenhang bleibt unausgesprochen, er ist ganz der Form zur Darstellung überlassen. In den beiden Anfangsstrophen von Mallarmes Gedicht kehren die¬ selben Motive wieder: Las du triste hopital, et de l’encens fetide Qui monte en la blancheur banale des rideaux Vers le grand crucifix ennuye du mur vide, Le moribond sournois y redresse un vieux dos, Se trame et va, moins pour chauffer sa pourriture Que pour voir du soleil sur les pierres, coller Les poils blancs et les os de la maigre figure Aux fenetres qu’un beau rayon clair veut häler.

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12

A.a.O. S. 32 Georges Poulet, La distance interieure. Etudes sur le temps humain II. Paris: Pion 1952. S. 305. Poulet sieht in diesem Gedicht zugleich eine Überwindung Baudelaires. Kurt Wais, Mallarme. Dichtung, Weisheit, Haltung. München: Beck 19522. S. 107 f.

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Hier aber ist der Weihrauch stinkend geworden, das Kruzifix sinn¬ los, das heilige Oel heißt kurz darauf „l’horreur des saintes huiles“. Der Mittler und die Gnadenmittel der Religion, welche noch bei Baude¬ laire dem Menschen in all seinem Elend den Weg zu Gott offenhielten, sind wirkungslos und verbraucht. Der Kranke dreht ihnen angewidert den Rücken. Er sucht sein Heil bei der Sonne und dem Azur. Für ihn sind sie nicht mehr Bilder der göttlichen Gnade, an sie ausschließlich ist die Offenbarungsfunktion übergegangen. Die Fensterscheiben werden dadurch Mittler zum Ewigen. Doch die Erlösung geschieht noch ganz auf Baudeiairesche Weise durch die „memoire involontaire“. Der Kranke küßt in seinem Sonnenhunger die Fensterscheibe, ihre laue Kühle ruft ihm die Erinnerung an die jungfräuliche Haut einer Geliebten von einst wach, und diese Erinnerung berauscht ihn so, daß er seine Misere ver¬ gißt. Vor seinem Auge verklärt sich die abendliche Fabrikstadt in ein prunkvolles Gemälde von Farbe und Duft. Mit „ainsi“ wird die Situation des Kranken im Spital in die des Ich in der Welt transponiert. Das Ich flüchtet aus der nur auf Materielles gerichteten Welt zu Fenstern, die die Unendlichkeit vergoldet. Auch es findet durch sie Erinnerung an Vergangenes: Je me mire et me vois ange! et je meurs, et j’aime Que la vitre soit l’art, soit la mysticite— A renaitre, portant mon reve en diademe, Au ciel anterieur oü fleurit la Beaute! Diese Erinnerung verläuft im Gegensatz zu der des Kranken vertikal. Sie führt über das Erdendasein hinaus in einen Zustand der früheren Existenz als Engel. Sie weckt die Sehnsucht nach Wiedergeburt, d. h. nach Rückkehr in die ewige Schönheit des Außen- und Überirdischen. Was die Fensterscheiben sind, die diese Entrückung hervorrufen, steht nicht fest. Es kann damit die Kunst oder eine Geheimnishaftigkeit reli¬ giöser Art gemeint sein. Ihre Wirkung ist jedoch nicht von endgültiger Kraft. Im folgenden versagt die Correspondance zwischen Bild und Deutung, die Baudelaires Gleichungsgedichten zugrundeliegt. Für die Verklärung der Welt im Lichte der erwachten Erinnerung fehlt die Parallele. Ernüchterung tritt ein. Mais, helas! Ici-bas est maitre: sa hantise Vient m’ecceurer parfois jusqu’en cet abri sur, Et le vomissement impur de la Betise Me force ä me boucher le nez devant Pazur. 253

V

Est-il moyen, mon Dieu qui savez Pamertume, D’enfoncer le cristal par le monstre insulte Et de m’enfuir, avec mes deux ailes sans plume — Au risque de tomber pendant Peternite? Auch die Vermittlungen zur Transzendenz sind von der übermäch¬ tigen Diesseitigkeit berührt. Damit ist das Absolute unzugänglich gewor¬ den und der Mensch uneingeschränkt dem „Ici-bas“ ausgeliefert. Das macht die Fensterscheibe zu einer undurchdringlichen Wand. Das glau¬ bende Ich allein muß die Erinnerung an Gott und seine eigene Gött¬ lichkeit aufrecht erhalten. An diesem Punkt ist die Deutung dort ange¬ langt, wo das Bild des Hospitals mit der Schilderung der verbrauchten Gnadenmittel begann. Was zunächst nur Kolorit zu sein schien, ist da¬ mit zum entscheidenden Symptom geworden. Daß auch die Kunst von diesem Verschleiß betroffen ist, rührt daher, daß ihr Mallarm4 wie Baudelaire religiöse Funktion zugetraut hatte. Die Schlußstrophe gerät ob der Frage nach einem Ausweg in das Kraftfeld des Vogel-aus-dem-Käfig-Emblems. Der Käfig besteht aus den erblindeten Fenstern zwischen Immanenz und Transzendenz. Daß er zer¬ schlagen werden muß, heißt nichts weniger, als daß ein Zugang zum Absoluten gesucht wird, der unmittelbar ist, so daß er nicht neuerlich zugeschüttet werden könnte. Das Ich kommt sich, weil ihm nun jede Möglichkeit zum Aufschwung genommen ist, als gerupfter Vogel vor. Es kann nicht mehr durch Spie^ gelung zum beflügelten Engel werden. Doch müßte der Aufschwung aus seiner eigenen Kraft geschehen. Das Risiko, das die Schlußstrophe an¬ deutet, hängt damit zusammen. Sie erwägt die Möglichkeit, daß mit den Gnadenmitteln Gott selbst hinfällig geworden sei, so daß, wer zu ihm aufbricht, ins Leere stößt. Diese Schlußzeile läßt an Bruno denken. Aber das gemeinsame Emblem ist gerade umgekehrt verwendet. Der Käfig, wie ihn Mallarme versteht, ist durch Brunos Kosmologie und die aus ihr hervorgegangene Entmythologisierung der kosmologischen Gottesvorstellung entstanden; sie hatten die Erlösungswege verbaut. Mallarm^s Frage gilt einem Weg, aus der gerade auch durch Bruno endlich gewordenen Welt herauszu¬ kommen. Aus dem Bezug der Deutung auf das vorangegangene Bild geht her¬ vor, daß es nicht um einen Erlösungsweg allein für das einzelne Ich geht. Dieses faßt seine Aufgabe allgemeiner. Die Kritik an Baudelaire, die

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das Gedicht implizite enthält, richtet sich gerade gegen die Identifizie¬ rung von sujektivem Glücksgefühl und objektiver Erlösung. Gesucht wird ein wirkliches Äquivalent zu den bisher gültigen religiösen Erlösungs¬ wegen. Daß freilich die Schlußfrage als Gebot an Gott formuliert ist, ist ein Widerspruch dazu, daß das Vorausgegangene die Unmöglichkeit des

Gebets

dargelegt

hatte.

In

einer

späteren

Redaktion

ersetzte

Mallarme die Zeile Est-il, moyen, mon Dieu, qui savez l’amertume durch Est-il moyen, 6 Moi, qui connais l’amertume13. Mit dieser Veränderung zog Mallarme die Konsequenz aus der gro¬ ßen geistigen und körperlichen Krise, der er in den auf das Gedicht fol¬ genden Jahren ausgesetzt war (1864—66), in der sich ihm das Fundament für einen neuen Weltaufriß und dessen dichterische Gestaltung bildete.

II. Über diese Krise berichtete Mallarme seinem Freund Cazalis am 14. Mai 1867 in einem ausführlichen Brief: Je viens de passer une annee effrayante: ma Pensee s’est pensee, et est arrivee a une Conception pure. Tout ce que, par contrecoup, mon etre a souffert, pendant cette longue agonie, est inenarrable, mais, heureusemerit, je suis parfaitement mort, et la region la plus impure oü mon Esprit puisse s’aventurer est l’Eternite, mon Esprit, ce solitaire habituel de sa propre Purete, que n’obscurcit plus meme le reflet du Temps. Malheurensement, j’en suis arrive lä par une horrible, sensibilite, et il est temps que je l’enveloppe, d’une indifference exterieure, qui remplacera pour moi la force perdue. J’en suis, apres une synthese supreme, a cette lente acquisition de la force — incapable tu le vois de me distraire. Mais combien plus je l’etais, il y a plusieurs mois, d’abord dans ma lutte terrible avec ce vieux et mechant plumage, terrasse, heureusement, Dieu. Mais comme cette lutte s’etait passee sur son aile osseuse qui, par une agonie plus vigoureuse que 13

QEuvres S. 1421

255

je ne l’eusse soup?onne chez lui, m’avait empörte dans les Tenebres, je tombai, victorieux, eperdument et infiniment

jusqu a ce qu enfin

je me sois revu un jour devant ma glace de Venise, tel que je m etais oublie plusieurs mois auparavant. J’avoue du reste, mais a toi seul, que j’ai encore besoin, tant ont ete grandes les avanies de mon triomphe, de me regarder dans cette glace pour penser et que si eile n’etait pas devant la table ou je t’ecris cette lettre, je redeviendrais le Neant. C’est t’apprendre que je suis maintenant impersonnel et non plus Stephane que tu as connu, — mais une aptitude qu’a l’Univers spirituel a se voir et a se developper, ä travers ce qui fut moi. Fragile comme est mon apparition terrestre,

je

ne

puis

que les developpements absolument necessaires pour que retrouve, en ce moi, son identite. Ainsi je viens, a

1

1

subir

Univers

heure de la

Synthese, de delimiter l’ceuvre qui sera l’image de ce developpement. Trois poemes en vers, dont Herodiade est

1

Ouvertüre, mais

d’une purete que Phomme n’a pas atteinte et n’atteindra peut-etre jamais, car il se pourrait que je ne fusse le jouet que d une illusion, et que la machine humaine ne soit pas assez parfaite pour arriver a de tels resultats. Et quatre poemes en prose, sur la conception spirituelle du Neant.14 Dieser Brief erzählt von der Erfüllung der Bitte, mit der

„Les

Fenetres“ schloß. Aber er ist keine Dichtung, sondern berichtet durch¬ lebte Wirklichkeit. Ein ungeheuerliches Dokument, das sich dem ver¬ stehenden Nachvollzug weitgehend entzieht. Von außen her können nur einige Züge aufgehellt werden. Der Vorgang, den dieser Brief beschreibt, trägt alle Zeichen von Tod und Wiedergeburt. Die physische und geistige Heimsuchung bis zum drohenden Verlust der persönlichen Identität erinnert aber dar über hinaus an alttestamentliche Berichte über die Berufung von Pro¬ pheten und ihr Ringen mit Gott. Alallarme erzählt seine Auseinander Setzung mit Gott in Anlehnung an den Rampf Jakobs am Jabbok (i. Mos. 32). Daher heißt Gott „le vieux et mechant plumage

und er¬

wähnt er den knochigen Flügel. Flügel aber waren für Mallarmes Ein¬ bildungskraft, wie wir sahen, Kennzeichen erdichteter Wesen. Indem er sich Gott als gefiedertes Wesen dachte, war er ihm nicht das Absolute schlechthin, sondern eine von Menschen erdichtete Erscheinungsweise de?

14

Corr. I., S. 240

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Absoluten, die damit identisch geworden war. Mallarmes Kampf mit Gott war ein Bildersturm. Er beruhte auf der Voraussetzung, daß das Absolute nicht mit Gott identisch und nicht an seinen Namen gebunden sei. Es ging also nicht um Abschaffung oder gar Leugnung des Abso¬ luten, sondern um dessen Reinigung von allen einschränkenden Vorstel¬ lungen und damit um die Wiederherstellung seines wahren Wesens. Mallarme war katholisch erzogen worden und in katholischen Schulen herangewachsen. Die mit dem Kampf gegen Gott verbundene Identitäts¬ krise hat auch den Aspekt, daß er sich protestierend von seinem Glau¬ ben und damit von der Umwelt seiner Jugend löste, um geistig nur auf sich selbst gestellt zu sein. Die Siegesmeldung beginnt mit dem FanfarenSatz: „Ma pensee s’est pensee et est arrivee ä une conception pure.“ Das Denken des eigenen Denkens und die Reinigung des Absoluten zur „conception pure“ gehören zusammen. Damit sind alle Zwischenträger des Absoluten verschwunden. Die Scheidung von Gott und Ich ist auf¬ gehoben. Wie schwierig es für Mallarme war, nur aus sich selbst zu denken, verrät der kleine Umstand, daß er zunächst für seine eigene „conception divine“ geschrieben hatte und offensichtlich erst nachträglich merkte, daß ihm der Ausdruck „göttlich“ nun verboten war15. Die Aufnahme des Absoluten in das eigene Denken bedeutete für Mallarme nicht nur die Individualisierung des Absoluten zum Selbst; das Absolute blieb als universales Prinzip bestehen. Auf dem Ich, das das Absolute leer gedacht hatte, lag es nun mit verzehrendem Anspruch. Sein Denken war es, das die Anstrengung des ganzen Körpers erforderte. In einem ungefähr gleichzeitigen Brief an Lef^bure18 suchte Mallarme zu erklären, was es mit dieser neuen Art zu denken auf sich habe. Er setzte es gegen das bloße Gehirndenken ab als Denken mit dem Körper und als Arbeit des Elerzens. Die äußere Legitimation dieses Denkens des Absoluten wurde geradezu die damit einhergehende körperliche Erschöp¬ fung. Konsequenterweise brächte, wie Mallarme erkannte, das auf das Ich gefallene Absolute dem individuellen Träger den Tod; denn nur so könnte die durch nichts und niemandem mehr vermittelte Transzen¬ denz erfahren werden. Insofern, als für Mallarme die denkerische Aneignung des Absoluten einem Sterben gleichkam, glich er wiederum dem Gotteskämpfer Jakob, der seinen Sieg mit einer physischen Beeinträch¬ tigung bezahlen mußte. Der Spruch, „Gottes Kraft ist in den Schwachen

15 A.a.O. S. 240 16 A.a.O. S. 249 257 17

Pestalozzi, Lyrisches Ich

V

mächtig“ (2. Kor. 12,9), hatte seine Geltung auf das Verhältnis von in¬ dividuellem und absolutem Ich ausgedehnt. Körperliche Schwäche, Des¬ integration der empirischen Person, Sensibilität erhielten die Würde von Beweisen des Absoluten. Wenn Mallarme Frau und Kind, obgleich scherz¬ haft, als Teufel bezeichnete, so steckt darin die Auffassung, daß im Grunde die ganze erfahrbare Wirklichkeit der Widersacher des Abso¬ luten sei. Die Reinigung des Absoluten von der Gottesvorstellung war für Mallarme keine Privatsache. Es war nicht damit getan, daß er sein eigenes Denken dachte. Auf ihn war die Aufgabe gefallen, das gereinigte Absolute zu objektivieren, ihm neue Symbole zu finden, es zu verkün¬ den. Eine solche Objektivation brauchte er auch, um sich selbst zu beweisen, daß er nicht das Opfer einer Illusion geworden sei. Die Briefe an die Freunde, die von dem Gotteskampf berichten, sind erste Schritte zur Mitteilung des verzehrenden Geheimnisses. Der Bericht an Cazalis mündet in das Programm einer zukünftigen Dichtung. Von da aus gesehen erscheint die Krise als höchste Steigerung jener Jugend versuche, die den eigenen Standort als Dichter feststellen wollten. Nun war die Position des Turmhahns auf der zerstörten Kathe¬ drale erreicht. An die Poesie fiel die Aufgabe, das an das Ich gefallene Absolute zu offenbaren, nun aber im Gegensatz zu der vergangenen religiösen Offenbarung auf eine Weise, die das Absolute nicht festlegte. Sie mußte reine Poesie sein. Der reinen Poesie drohten Gefahren von zwei Seiten her. Einer¬ seits von der Stummheit. Mit dem Verzicht auf sprachliche Äußerung würde Mallarme die Mission preisgeben, die er mit der Niederringung Gottes auf sich genommen hatte. Seine Krise käme um ihren allgemeinen und geschichtlichen Sinn. Das leergedachte Absolute bliebe das Nichts. Die Gegengefahr lag darin, daß das Gedicht Mitteilung von Empirischem wurde und damit das Absolute relativierte, statt es zu offenbaren. Die reine Dichtung durfte nur auf sich selbst bezogen bleiben. Als erstes Beispiel des neuen Kanons betrachtete Mallarme seine „Herodiade“. Die anthropologische Bedeutung der Dichtung für Mallarme selbst kommt am Ende des zitierten Briefes zum Ausdruck: J’espere que ta reine de Saba et mon Plerodiade seront deux amies. Puisque tu es assez heureux pour pouvoir, outre la Poesie, avoir l’amour, aime: en toi, FEtre et l’Idee auront trouve ce paradis que la pauvre humanite n’espere qu’en sa mort, par ignorance et par paresse, et, quand tu songeras au Neant futur, ces deux bonheurs 258

accomplis, tu ne seras pas triste et le trouveras meme tres naturel. Pour moi, la Poesie me tient lieu de l’amour par ce qu’elle est eprise d’elle-meme et que sa volupte d’elle retombe delicieusement en mon ame; mais j’avoue que la Science que j’ai acquise, ou retrouvee au fond de l’homme que je fus, ne me suffirait pas, et que ce ne serait pas sans un serrement de coeur reel que j’entrerais dans la Disparition supreme, si je n’avais pas fini mon oeuvre, qui est L’CEuvre, le Grand’ CEuvre, comme disaient les alchimistes, nos ancetres. Donc, bien que le Poete ait sa femme dans sa Pensee, et son enfant dans la Poesie, adore Ettie, que j’aime, moi, comme une rare soeur. N’est-elle pas liee a toute mon enfance, comme toi, Henri, — car avant mes premiers vers, qui remontent au temps ou je t’ai connu, nous n’etions que les foetus de nos esprits — foetus assez sabbatiques, te rappelles-tu?17 Es ist folgerichtig, daß hier die Vorstellung eines Jenseits und eines Paradieses fallengelassen ist, nachdem deren Voraussetzung, die Gottes¬ vorstellung, von Mallarme beseitigt worden war. Aber auch hier zeigt es sich, wird das jenseitige Paradies ins Diesseits hineingenommen. Seine Herstellung ist dem Menschen aufgetragen. Die Formel dafür heißt Zu¬ sammenführung von Sein und Idee. Cazalis Verbindung von Poesie und Liebe wird von Mallarme als eine mögliche Realisierung anerkannt. Von sich selber forderte er jedoch eine engere Verbindung beider. Poesie ist ihm sich selber liebende Liebe, entstanden aus der Ehe zwischen Sein und Idee. Neben ihr hat genaugenommen menschliche Liebe keinen Platz. Poesie ist das wiederhergestellte Paradies. Wie das Universum, gewinnt auch der Mensch durch sie eine neue Identität. Es ist bezeichnend, daß das Werk auch hier zum Ersatz der Unsterblichkeit wird. Doch macht es nicht der öffentliche Ruhm dazu, sondern die Bedeutung, die es für den Dichter selber hat. Sein Adressat ist zunächst er selbst. Es gibt kaum ein anderes Dokument, das so unpathetisch und klar wie der Brief an Cazacil die Konsequenzen enthüllt, die sich für den Menschen und die Menschheit aus dem Tod Gottes ergaben. Mallarmes Nähe zu Nietzsche ist frappant. Dessen Formel von der Wiederkehr des Gleichen spukt als Reflexivität in allen Gestaltungsproblemen, die sich für Mallarme aus dem Gotteskampf ergeben. Nicht zuletzt die Inthronisierung der Poesie als Offenbarerin des Absoluten ist beiden ge¬ meinsam. Umso wichtiger ist es, den entscheidenden Differenzpunkt

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A.a.O. S. 243

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auszumachen. Wir sehen ihn darin, daß Mallarme noch nach dem Tod Gottes an der Absolutheit des Geistes festhielt. Er war ihm nicht ein Anhängsel des Leibes, sondern suchte im Gegenteil den Leib in verzeh¬ render Weise heim. Daher individuierte sich das Absolute für Mallarme auch nicht völlig. Es wahrte seine Allgemeinheit. Das eben machte seine Offenbarung in der Dichtung unverzichtbar. Mallarme blieb damit innerhalb der christlichen Tradition. Sein Gotteskampf läßt sich verstehen als extreme Befolgung des Bilderverbots, das damit auf die Sprache aus¬ gedehnt wurde. Zugleich trieb er die Auffassung des personalen Gottes so weit vor, daß der Unterschied von Gott und Mensch zu dem von absolutem und empirischem Ich wurde. Anders als Nietzsche behielt Mallarme seine Erkenntnis für sich. Nach außen änderte sich sein Leben nicht. Auch während der Krise hatte er die Pflichten des Alltags immer treulich erfüllt. Des Wahrheitsgehaltes der Krise konnte er sich nur ver¬ sichern, wenn ihm das Werk gelang, „le livre“, das die Bibel des ge¬ reinigten Absoluten werden sollte. Auf diese Aufgabe konzentrierte sich im stillen seine ganze dichterische Kraft.

III. An dem Gedicht Mallarmes auf den Fächer seiner Tochter, das 1884, also im selben Jahr wie „Einsiedlers Sehnsucht“, entstand, soll versucht werden einzusehen, wie Mallarme seinen Vorsatz poetisch realisierte. Dieses Gedicht wurde gewählt, weil darin in Spuren die Aufschwungmotivik noch zu erkennen ist. Es läßt sich somit als weiterführende Ant¬ wort auf die Frage verstehen, mit der „Les Fenetres“ schloß. Es ist zu¬ dem ein für Mallarme typisches Gedicht. Seine Schönheit und seine Dunkelheit sind anerkannt. Und doch wohnt ihm, vielleicht dank seiner Adressatin, eine Leuchtkraft inne, die seiner Dunkelheit so weit die Waage hält, daß der Versuch, es interpretierend zu verstehen, nicht zum vornherein resignieren muß. Autre eventail de Mademoiselle Mallarme. O reveuse, pour que je plonge Au pur delice sans chemin, Sache, par un subtil mensonge, Garder mon aile dans ta main. 260

Une fraicheur de crepuscule Te vient a chaque battement Dont le coup prisonnier recule L’horizon delicatement. Vertige! voici que frissonne L’espace comme un grand baiser Qui, fou de naitre pour personne, Ne peut jaillir ni s’apaiser. Sens-tu le paradis farouche Ainsi qu’un rire enseveli Se couler du coin de ta boudie Au fond de Punanime pli! Le sceptre des rivages roses Stagnants sur les soirs d’or, ce Pest, Ce blanc vol ferm£ que tu poses Contre le feu d’un bracelet.18 Die erste Strophe hat den Charakter eines Proömiums. Sie sticht vor allem durch ihre Syntax von den folgenden ab. In einer differen¬ zierten Periode wird die Struktur aufgestellt, die das Gedicht bestimmt. Damit enthält sie auch die Anleitung für den Leser, wie er sich dem Gedicht gegenüber einzustellen hat. O Träumerin, damit ich eintauche in die reine Wonne ohne Weg wisse, durch eine geistreiche Lüge, meinen Flügel in deiner Hand zu bewahren. Zunächst gilt es zu entscheiden, wer hier „ich“ sagt. Die meisten Interpreten nehmen an, der Fächer selbst ergreife das Wort19. Sie können 18

GEuvres S. 58. Übersetzungen des Gedichts von Rilke, Nobiling, Schaukal, Netzer, Usinger, Reidemeister, zusammengestellt in: Gedichte des französi¬ schen Symbolismus in deutschen Übersetzungen, hrsg. von Wolfgang Kaiser. Tübingen: Niemeyer 1955 (Deutsche Texte 2). S. 34—38

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Folgende Interpretationen lagen mir vor: Hugo Friedrich, a.a.O. S. 101; Charles Mauron, Mallarme obscur. Paris: Denoel 1941, S. 131/2; Guy Michaud, Mallarme. Paris: Hatier 19583 (connaissance des lettres 37) S. 119 bis 120 (Diese knappe Deutung benennt alle wesentlichen Momente); E. Nou¬ let, Vingt Poemes de Stephane Mallarme. Paris/Geneve: Droz 1967 (textes litteraires franfais). S. 146—153; Jean-Pierre Richard, L’univers imaginaire de Mallarme. Paris: Seuil 1961, 8.309!.; Albert Thibaudet, La Poesie de St. Mallarme. 19182. S. in; Wais a.a.O. S. 284.

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V

sich dabei auf andere Fächergedichte Mallarmes berufen. Im Falle des vorliegenden gerät man jedoch damit in Schwierigkeiten. Der Fächer ist, das wird in der Schlußstrophe am deutlichsten, durch das ganze Gedicht hindurch von außen gesehen. Und umgekehrt verschwindet das Ich aus dem Gedicht, nachdem es zu Beginn das Verhältnis von Ich und Du festgelegt hat. Andrerseits steht nichts im Wege, Ich und Du personal zu verstehen. Das Ich ist die Fortsetzung desjenigen, welches z. B. im zwei¬ ten Teil von „Les Fenetres“ spricht, wie denn überhaupt von diesem früheren Gedicht her sich das dunklere spätere an manchen Punkten er¬ hellen läßt. Mailarme unterschied nicht zwischen lyrischem und real existierendem Ich20. Es ist somit nicht falsch, davon auszugehen, was jeder unbefangene Leser von selbst tut, daß im Gedicht Mallarme zu seiner Tochter spricht. Im Gegensatz zu andern Fächern, auf die Mallarme Verse geschrie¬ ben hatte, ist der Fächer mit diesem Gedicht nicht erhalten geblieben. Aber auch es ist auf den Fächer geschrieben zu denken, so daß, wenn Genevieve den Fächer zur Hand nahm, sie zugleich zum Gedicht griff. Das ist in der ersten Strophe vorausgesetzt. Die Mahnung „Sache . . . garder mon aile dans ta main“ bezeichnet demnach das Gedicht auf dem Fächer als Flügel des Ich, weil der Fächer einem Flügel gleicht und diese Gestalt dem Gedicht mitteilt. Wir haben gesehen, daß für Mallarmes Einbildungskraft Dichtungen überhaupt geflügelt waren. Daß das Ge¬ dicht auf den flügelartigen Fächer geschrieben wurde, brachte zum Vor¬ schein, was es seinem Wesen nach war. Die Bestimmung des Gedichts als Flügel rechtfertigt seine Einbeziehung in die Aufschwungmotivik. Wichtiger als der Umstand, daß der Fächer die Schreibgrundlage bil¬ det, ist für die Interpretation der andere, daß der Fächer Thema des Gedichts ist. Dieses schildert die verschiedenen Phasen der Fächerbewe¬ gung und deren Wirkung auf das Mädchen, das ihn bewegt. Soweit ist es als realistisches Gedicht konzipiert im Sinne der Gelegenheitsdichtung, der es zugehört. Doch der Fächer wird darin nicht ein einziges Mal direkt genannt, auch seine Wirkungen auf das Mädchen sind vielfach umschrieben. Der reale Vorgang ist so sehr verdunkelt, daß man jeweils die Formulierungen übersetzen muß, um ihn überhaupt zu erkennen. Fächer und Fächerspiel werden nicht in der Sprache der Mitteilung beschrieben, sondern auf dem Weg rhetorischer Verfremdung der Ge-

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Vgl. den Brief an Cazalis vom 8. Jan. 1864, in dem Mallarme sein Gedicht „L’Azur“ ganz als persönliches Dokument interpretiert. Corr. I, S. 103

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meinsprache. Anders als bei Nietzsche, wo vor allem Figuren diese Ver¬ fremdung leisteten, handelt es sich hier fast ausschließlich um Tropen. Sie übertragen, ja übersetzen das Spiel des Mädchens mit dem Fächer in andere Vorstellungen. Deren Zusammenhang meinen wir in einer Aufschwungbewegung zu erkennen. So wird erreicht, daß das Ich, indem es das Fächerspiel des Mädchens beschreibt, sich seinen eigenen Auf¬ schwung sprachlich suggeriert. Durch das Gedicht auf den Fächer macht ihn das Ich zu seinem Flügel. Das heißt, daß das Gedicht eine doppelte Sprache spricht. Neben der Beschreibung des Fächerspiels geht deren Bedeutung für das Ich ein¬ her. Ähnliches sahen wir schon bei „Les Fenetres“, das eine Episode be¬ richtet und sie dann auf das Ich hin ausdeutet. Im Fächergedicht sind die beiden Schichten nicht geschieden, sie durchdringen sich vollständig. Denn Bedeutung hat nicht sachlich das Geschehen, sondern seine sprach¬ liche Nachgestaltung. Das macht die Sprache des Gedichts doppelzüngig. Das Ich spricht, indem es mit dem Mädchen über den Fächer redet, zu¬ gleich zu sich selbst. Auf diese Doppelzüngigkeit ist mit „subtil mensonge“ verwiesen. In „Les Fenetres“ bestand zwischen Gleichnis und Deutung ein Analogieverhältnis. Die Deutung wertete aus, was der geschilderten Epi¬ sode an metaphysischem Gehalt innewohnte. Ein subjektives Erlebnis wurde deutend objektiviert. Das geschieht im Fächergedicht in ähnlicher Weise. An anderer Stelle umschreibt Mallarme den Fächer mit anderen Worten: Cet isolateur, avec pour vertu, mobile, de renouveler l’inconscience du delice sans cause.21 Der Fächer löst in dem, der sich fächert, traumhaft unbewußte Zu¬ stände aus. Er schafft sie nicht, sondern ruft sie neuerdings hervor. So offenbar wirkt der Fächer auf das Mädchen. Im Fächergedicht bezeichnet das Ich sein Ziel als „pure delice sans chemin“, also mit ähnlichen Worten wie die zitierte Stelle. Der Unter¬ schied liegt im Beiwort „pure“. Das Ich sucht eine Wonne, die nirgends in der Erfahrung begründet, sondern rein geistig, der Inbegriff aller möglichen Wonnen ist. Sie ist nicht nur „sans cause“, d. h. ursprünglich, spontan, unmittelbar, sondern „sans chemin“, unvermittelbar. Das Ich sucht sie auf dem Wege zu gewinnen, daß es die Wonne des Mädchens ins Wort faßt und damit aufhebt in eine nurmehr geistige Gestalt. Da-

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für, wie die Sprache ihren Realitätsgehalt zu tilgen versucht, enthält schon die erste Strophe ein Beispiel. Die Bewegung zur reinen Wonne bezeichnet sie mit dem Verbum „plonger“, „eintauchen“. Sie erscheint damit als Bewegung nach unten und nach innen. Die weitere Bestimmung „sans chemin“ negiert den so aufgebauten Vorstellungsgehalt zu dem einer reinen Bewegung. So wird auch die Bewegung uneigentlich, die die Erwähnung des Flügels impliziert. Die Differenz zwischen der Wonne des Mädchens und derjenigen, die das Ich für sich sucht, enthält auch ein geschichtliches Moment. Das Mädchen wird als „reveuse“ angeredet. Der Traum war der Zentralbegriff von Mallarmes früherer Poetik, die sich darin als romantisch bestimmt zu erkennen gibt. Für die Romantik war die „inconscience du delice sans cause“, wie wir gesehen haben, von metaphysischem Wert. In ihr wurde man Gottes unmittelbar inne. Bei Vigny war sie das Ziel der Elevation. Diesem Gott hatte Mallarmes Kampf gegolten. Dem von der Gottes¬ vorstellung gereinigten Absoluten entspricht demnach die von bewußten Regungen und allem Realitätsbezug gereinigte Wonne. Indem das Ich des Gedichts die historisch ältere Form des Aufschwungs zugrundelegt und in der Sprache aufhebt, sucht es in das gereinigte Absolute zu kommen. Das Gelegenheitsgedicht, das Mallarme früher einmal der Adlerpoesie entgegengestellt hatte, bekommt nun selber metaphysische Qualität. Soweit erscheinen Mädchen und Fächer als notwendige Voraussetzun¬ gen, die es sprachlich zu überwinden gilt. In Mallarmes Gotteskampf hatte sich jedoch die verzehrende Gefährlichkeit des von keiner Tradition mehr gehaltenen Absoluten für das Ich, das es auf sich nahm, es zu denken, gezeigt. Bereits der Schlußvers von „Les Fenetres“ hatte auf die Gefahr vorausgedeutet. Im Satz „Sache. . . garder mon aile dans ta main“ liegt der Akzent durchaus auch auf „garder“. Das Mädchen soll den Fächer-Flügel des Gedichts fest in der Hand halten, damit der Auf¬ schwung, den das Ich daraus gewinnt, ihn nicht ins Nichts entführt. Das Mädchen bekommt die Rolle zugewiesen, die der Spiegel, vor dem sich Mallarme seiner irdischen Existenz versicherte, spielte. Es ist somit von Belang, daß es sich bei der Adressatin des Gedichts um Mallarm^s Tochter handelt, in der der Vater zu Zeiten sein alter ego sah. Uber diese biographische Relevanz hinaus gibt die Realität von Du und Fächer dem Gedicht überhaupt die Möglichkeit zu sprechen. Alle Sprache ist ja primär Mitteilung iiber etwas an jemanden. Nur auf dieser Basis kann auch eine Sprache des Absoluten stehen, die absolute 264

Sprache sein will. Die erste Strophe deckt auf, wie das Gedicht aus der alltäglichen die absolute Sprache gewinnt. Sie enthält damit auch eine Anweisung für die weitere Interpretation. Diese hat auf die Doppel¬ züngigkeit zu achten, mithin darauf, wie aus der Beschreibung des Spiels zwischen Fächer und Du die Sprache wird, welche den reinen Aufschwung des Ich evoziert. Von „Aufschwung“ dürfte hier im Grunde genommen nicht mehr gesprochen werden. Der Terminus wird jedoch beibehalten, weil sich, wie sich zeigen wird, der reine Aufschwung stärker, als es zunächst scheint, noch im Strahlungsfeld der Motivtradition hält. Une fraicheur de crepuscule Te vient ä chaque battement Dont le coup prisonnier recule L’horizon delicatement. Eine Dämmerungskühle Kommt dir entgegen mit jedem Schlag Dessen gefangener Stoß zurückschiebt Den Horizont auf zarte Weise. Hat man sich in der ersten Strophe den Fächer offen ruhend in der Hand des Mädchens zu denken, so bewegt er sich nun hin und her, auf das Mädchen zu und wieder von ihm weg. Aus dessen Perspektive be¬ zeichnen „venir“ und „re“ (culer) die Phasen von Schlag und Rückschlag. Diese beiden Phasen gliedern die Strophe. Die beiden Hauptsätze stehen annähernd chiastisch zueinander. Den Umschlagpunkt bezeichnet das Relativum „dont“. Man erkennt Mallarmes Absicht, die Fächerbewegung sprachlich nachzubilden. Das Ich ist grammatisch aus dem Gedicht verschwunden. Die Strophe hat die Optik des Mädchens angenommen. Der Schlag des Mädchen? mit dem Fächer auf sich zu bringt ihm Kühlung, die durch den Hinweis auf die Dämmerung noch genauer bezeichnet wird. Soweit ist die Sach¬ lage ganz realistisch geschildert, sie läßt sich leicht aus der Erfahrung verifizieren. Keine andere Stelle des Gedichts ist so unproblematisch wie diese. Es scheint, die in der ersten Strophe proklamierte Janusstruktur sei preisgegeben. Der zweiten Strophenhälfte kommt ein realistisches Verständnis nicht so ohne weiteres bei. Zwar ist zu erkennen, daß der Schlag vom Mäd¬ chen weg sein Gesichtsfeld wieder frei gibt, was „zurückstoßen des Horizonts“ heißen kann. Doch die Bezeichnung „coup prisonnier“ für diesen Rückschlag ist aus der Anschauung nicht zu rechtfertigen. 265

Methodisch gesehen ist anzunehmen, daß solche starken Verfremdun¬ gen nach dem, was die erste Strophe ankündigt, Stellen sein müssen, an denen die Doppeldeutigkeit nicht ganz in die normale Sprache integriert ist, was bedeutet, daß hier die Perspektive des Ich-Aufschwungs domi¬ niert. „prisonnier“ nimmt offenbar auf „garder“ der ersten Strophe Bezug. Es schließt an dessen Bedeutung „bewachen, in Gewahrsam halten“ an. „coup prisonnier“ wäre eine Verkürzung aus „coup de l’aile prisonniere“. Das wiese auf das Ich zurück, das seinen Fächer in die Hand des Mädchens gegeben hat. Doch erst von der Aufschwungmotivik her ergibt sich ein deutlicher Sinn. Die Bewegungen des Fächers hin und her werden zu Flügelschlägen des aufwärtsfliegenden Ich. Mit wachsender Höhe weitet sich der Hori¬ zont, der es eingeschlossen hat. Im Hinblick auf ihn war der Flügel ge¬ fangen. Er schlägt gegen die Begrenzung der Endlichkeit, die ihn um¬ schließt. „prisonnier“ deutet somit an, daß sich noch dieser Aufschwung im Kraftfeld des „Vogel-aus-dem-Käfig“-Emblems vollzieht. Die Para¬ doxie von gefangen und frei soll dem Vorgang wiederum zur Unvollstellbarkeit verhelfen. Er führt weiter und verharrt doch auch als Aufschwung „sans chemin“ an Ort. Von der so verstandenen zweiten Strophenhälfte aus wird die erste nun gleichfalls zweideutig, „fraicheur“ ist „Frische“ im Doppelsinn des Kühlen und des Anfänglichen. Das macht auch in „crepuscule“ das Mo¬ ment des Beginns sichtbar. Es bezeichnet aber die Abenddämmerung, ja sogar den mythischen Weltabend, der alles vernichtet. Der Aufschwung des Ich führt, wie in der zweiten Strophenhälfte aus dem irdischen Raum, so in der ersten aus aller Erdenzeit hinaus in die Reinheit des Nochnicht und Nicht-mehr, die dem Nichts gleichkommt. Diesem Verständnis der Strophe auf den Aufschwung des Ich hin könnte mit dem Hinweis begegnet werden, vom Ich sei doch eben nicht mehr die Rede, angesprochen werde allein das Du. Doch gerade die DuAnrede kann transitiv und reflexiv genommen werden. Das Ich sagt nicht aus, was ihm geschieht, sondern was, indem es spricht, mit ihm geschehen soll. Es beschwört sich selber. Auch das Präsens kommt dem entgegen. Es funktioniert im Hinblick auf das Mädchen beschreibend, im Hinblick auf das Ich evozierend. Die dritte Strophe ist Mitte und Höhepunkt des Gedichts. Vertige! voici que frissonne L’espace comme un grand baiser 266

Qui, fou de naitre pour personne, Ne peut jaillir ni s’apaiser. Schwindel! mit einem Male schaudert Der Raum wie ein großer Kuß Der, irr für niemanden geboren zu werden, Nicht aufspringen noch sich beruhigen kann. Fächer, Du und Ich sind nicht mehr unterschieden. Sie sind eins im Schwindel, den das erste Wort benennt. Grammatisch ist die Strophe ein Ausruf, der die Syntax sprengt. Losgelöst, ohne Bezug, steht er frei da. An Stelle von „vertige“ steht in einer anderen Fassung des Ge¬ dichts „vaste jeu“22. Darin ist noch eine Verbindung zur Fächerbewegung ahnbar. Der Fächer wird möglicherweise nun in gesteigerter Bewegung weit ausholend geschlagen. Das bewirkt bekanntlich, daß das Auge, das der einzelnen Bewegung nicht mehr zu folgen vermag, den Fächer aus dem Blick verliert und nur noch einen vibrierenden Raum wahrnimmt. Der Fächer geht gewissermaßen unter im Wirbel, den er erzeugt. Die Ersetzung von „vaste jeu“ durch „vertige“ ist diejenige des Phänomens durch die Reaktion des Mädchens darauf. Es scheint einbe¬ zogen in den vibrierenden Raum, ihm schwindelt. Die Kühle aus der vorangegangenen Strophe löst in ihm einen Schauder aus. Dem Schauder als einem Zustand elementarer Ergriffenheit sind wir schon bei Meyer begegnet. Dort war der Bergwind auslösend, und er verwies auf Gott. Hier ist des Mädchens eigene Fächerbewegung die Ursache seines Schau¬ ders. In ihm wird es seiner selbst inne. Der Vergleich mit dem großen Kuß stammt aus seiner Sphäre. Der Vergleich gibt der vibrierenden Einheit von Mädchen und Raum Intentionalität auf eine Person hin. Sie ist Ausdruck von Spannung, Un¬ entschiedenheit, leerem Vermögen, das auf Realisierung drängt. All das aber ist nicht abstrakt, sondern erotisch verstanden. Was die Strophe umschreibt, ist die Jungfräulichkeit des Mädchens. Diese ist einerseits Reinheit vor aller Berührung, damit Ursprünglichkeit, andererseits Vor¬ läufigkeit und Unfruchtbarkeit. Darauf deutet auch das Moment der Kälte. Im Schauer erfährt das Mädchen sein eigenes tiefstes Wesen. Die Spannung des vibrierenden Raums ist jedoch zugleich die des Me¬ diums, das dazu geführt hat. Die Fächerbewegung ist reflexiver Art, eine 22

In „Le Decadent“ vom 9. Okt. 1886. Vgl. CEuvres S. 1475. Nach Noulet hatte Mallarme vor „vaste jeu“ „chaste jeu“ erwogen.

267

V

Selbststeigerung und Selbstbezauberung. Das Narzißtische daran teilt sich dem Resultat als unbefriedigte Spannung mit. Der erotische Schauder des Mädchens erinnert bis in Einzelheiten an die selbstbezogene Entrückung des kranken Mannes in „Les Fenetres“. Auch dort erscheint das Motiv der Jungfräulichkeit im Zusammenhang mit dem zeitenthebenden Taumel. Dort war der Kuß auf die Scheibe der Anlaß dazu. Hier nun ist konsequenter das magische Requisit dem Mädchen selbst in die Hand gegeben. Wir sehen darin eine Entsprechung zu dem früher beobachteten Unterschied, daß in „Les Fenetres“ die engere1 Situation das Gleichnis abgab, während hier das Ich durch seine sprach¬ liche Erfassung der Situation selber erst die Basis für den Vergleich legt. Die dritte Strophe scheint so sehr auf das Mädchen ausgerichtet, daß man zunächst kaum Spuren der zweiten Sprachebene darin findet. Daran scheint nicht viel zu ändern, daß das Relativum „qui“, das wir bisher auf das ihm unmittelbar vorausgehende „baiser“ bezogen, auch „espace“ näher bestimmen kann; denn „naitre“ hält den erotischen Vor¬ stellungsbereich aufrecht. Wiederum vermag eine Variante die Augen zu öffnen für das, was da steht. Für die zweite Gedichthälfte setzte Mallarme in der oben erwähnten andern Druckfassung: Qui fier de n’etre pour personne Ne sait ni jaillir ni s’apaiser.23 Hier sind mit den erotischen die negativen Aspekte der Reinheit getilgt. Der vibrierende Raum ist stolz auf seine Unmenschlichkeit. Daß er weder aufspringen noch sich beruhigen kann, ist nicht Unvermögen. Er befindet sich jenseits dieser Möglichkeit. Reinheit ist hier Absolutheit, aus der alle Bezüge nach außen verschwunden sind und die triumphie¬ rend sich selbst genügt. Das ist unzweifelhaft die auf das Ich gerichtete Sprache. Die Jungfräulichkeit wird ähnlich wie in „Les Fenetres“ ins Metaphysische umgedeutet. Der Aufschwung ist am Ziel, die reine Wonne ist erreicht. Der Raum ist das von Gott gereinigte Absolute. Wir erinnern uns, daß der Raum ein altes Prädikat Gottes war. Nun hat er sich an seine Stelle gesetzt. Er hat, wie sein Verbum ausdrückt, eine eigene Zeitlich¬ keit. „frissonner“ bezeichnet ein leichtes Zittern und Beben, keine gerich¬ tete Bewegung also, sondern eine Bewegtheit, die in der stetigen Wieder-

23

CEuvres S. 1475

268

kehr derselben unmerklichen Phase besteht. Das Vibrieren verläuft in der Zeit und hebt sie zugleich auf. Vergangenheit, Gegenwart und Zu¬ kunft sind darin ungeschieden enthalten. Das grammatische Verhältnis ordnet diese Zeitlichkeit dem Raum unter. Der Vergleich des uranfänglichen Raumes mit einem großen Kuß bringt Inkommensurables zusammen. Er verdeutlicht dadurch das Auf¬ hören aller menschlichen Orientierungsmöglichkeiten, die im Schwindel direkt zum Ausdruck kommt. Der Kuß-Vergleich ist ein Relikt des Realsubtrates inmitten des Ab¬ soluten. Es tingiert damit dessen Absolutheit. Wie die Jungfräulichkeit, die das Mädchen in sich entdeckt, dem Medium korrespondiert, durch das es zu ihr gelangte, so ist auch hier im Absoluten der Umweg über das Mädchen erkennbar, der dahin führte. So stellt sich die Strophe dar, wenn man die zitierte Variante inter¬ poliert. Daß Mallarme die erstgenannte Fassung für endgültig erklärte, muß, wenn unser Ausgangspunkt stimmt, bedeuten, daß er in ihr die Variante aufgehoben sah. Tatsächlich tritt im Lichte der Variante die Zweideutigkeit auch der endgültigen Fassung hervor, „n’etre“ ist auf¬ grund der Homonymie in „naitre“ aufgehoben. Ebenso kann „fou“ dank seiner Polysemie „fier“ in sich aufnehmen. Ähnliches gilt für „pouvoir“ und „savoir“. Nirgends so sehr wie in dieser Strophe läßt sich sehen, wie Mallarme die Unschärfe der Bedeutungsgrenzen, welche die moderne Semantik nach ihm erkannt hat, dichterisch auszunutzen wußte. Die vibrierende Spannung der Mittelstrophe löst sich in der darauf¬ folgenden.

^ Sens-tu le paradis farouche Ainsi qu’un rire enseveli Se couler du coin de ta bouche Au fond de l’unanime pli! Spürst du das wilde Paradies Wie ein begrabenes Lachen aus dem Winkel deines Mundes gleiten in den Grund der einhelligen Falte.

Diese Strophe korrespondiert mit der zweiten. Das Du erscheint wieder, ebenso der Fächer. Seine Nennung beschließt auf pointierte Weise die Strophe und den dreistrophigen Mittelteil des ganzen Gedichts. In der zweiten Strophe kam etwas auf das Mädchen zu, nun löst sich 269

\

etwas von ihm und verläßt es. Der Fächer erhält zurück, was von ihm ausgegangen war. Der Zustand des Mädchens, den die Mittelstrophe beschrieb, heißt nun „paradis farouche“. Damit ist seine Ursprünglichkeit auf gegriffen, „farouche“, im Sinne von „ungezähmt, unkultiviert“ unterstreicht das und betont nochmals den Aspekt der Jungfräulichkeit in seiner ganzen Zweideutigkeit. Mit dem Aufhören wird aus diesem Zustand eine kleine mimische Regung, ein Lächeln. Es geht ein in den Fächer. Doch dieser Übergang vom Innern in das Äußere ist kaum merklich. Er geschieht, wie das Lachen selber, am Rande des Nichtseins. Richard hat die Vorstellungen analysiert, die sich für Mallarme mit „pli“ verbanden24. Die Falte schließt etwas von der Außenwelt ab und wird zu seinem Aufbewahrungsort. So bildet auch hier der geschlossene Fächer einen Schrein, in dem der zum Lächeln gewordene Schauder ge¬ borgen ist. Der nicht entfaltete Fächer wird dadurch zum dinglichen Zeichen der Jungfräulichkeit des Mädchens. Überraschend ist das Beiwort „unanime“ für den zusammengefalteten Fächer. Auch hier bewährt sich jedoch der methodische Grundsatz, daß unauflösbare Verfremdungen andeuten, daß die Ich-Ebene nicht völlig integriert ist. „Unanime“ setzt eine Mehrheit, mindestens eine Doppel¬ heit voraus, die übereinstimmt. Könnte es sein, daß in der geschlossenen Falte die beiden Sprachebenen wieder Zusammenkommen, daß also Be7 Schreibung und Evokation sich decken? Fächerspiel und Aufschwung sind nun vorbei. Wie die Jungfräulich¬ keit des Mädchens ist auch der reine Raum des Ich in den geschlossenen Fächer eingegangen. Dieser ist insofern der Aufbewahrungsort beider, als er die Negation beider darstellt. Der geschlossene Fächer ist weder das Instrument der Selbstbezauberung für das Du, noch der Flügel des Ich. Darin liegt die „unanimite“. Es ist die der Negation, die das Ge¬ wesene aufhebt in jedem Sinn des Wortes. Das Ergebnis wird in der Schlußstrophe festgehalten. Le sceptre des rivages roses Stagnants sur les soirs d’or, ce Lest, Ce blanc vol ferme que tu poses Contre le feu d’un bracelet. Das Szepter der rosigen Gestade die über den goldenen Abenden stehenbleiben, das ist er,

24

Richard a.a.O.

270

Dieser helle abgeschlossene Flug, den du lehnst Gegen das Feuer eines Armbands. Mit dieser Strophe ist das Gedicht in jedem Sinn an seinem Ende. Der Fächer ist nun fest geschlossen. Das Mädchen lehnt ihn, vielleicht etwas ermattet, gegen sein Armband. Dieser anschaulichen Beschreibung geht eine Proklamation des Fächers zum Szepter des Abendhimmels voraus. — Im Ganzen des Gedichts entfaltet diese Strophe einen eige¬ nen Glanz. Auf einmal ist eine leuchtende Farbigkeit da. Auch erschei¬ nen, während bisher durchgehend der Singular herrschte, Pluralformen, als ob das Gedicht zum Schluß seine Stimme verstärkte. Alles zusam¬ men ergibt ein Finale von prunkender Feierlichkeit. Schluß- und Anfangsstrophe zusammen bilden den Rahmen des Ge¬ dichts. Die Anfangsstrophe hatte in gewöhnlicher Rede die Struktur, die in den drei Mittelstrophen gilt, vorgestellt. Auch die Schlußstrophe verzichtet auf die „geistreiche Lüge“. Sie beschreibt nicht nur auf nach¬ vollziehbare Weise das Schlußtableau, sie führt auch wiederum eine Scheidung von Ding und Bedeutung ein. Damit verfährt sie so traditio¬ nell wie das Gedicht „Les Fenetres“. Mit der Formel „ce Pest“ wird der Fächer im Anklang an das liturgische „hoc est“ zum Szepter des Abendhimmels eingesetzt. Ein Szepter ist ein sichtbares Zeichen der Macht sowohl als auch der Län¬ der und Reiche, die ihr unterstehen. Beides ist darin idealiter enthalten und gewinnt dingliche Realität. Der Machtbereich des Fächer-Szepters ist der Abendhimmel. Es ist an jene gestaffelten Wolkenbänke zu den¬ ken, deren blasses Rosa das Licht noch eine Weile festhält, wenn die Sonne schon untergegangen ist. Indem sie ihren Glanz noch bewahren, sind sie zugleich Signale des endgültigen Erlöschens. Wir waren schon in dem frühen Gedicht „Pour ouvrir un album“ der Kombination „Gold/ Rot“ als Farbakkord der Vollendung begegnet. Auch die Landschaft, die sich in „Les Fenetres“ dem entzückten Blick des Kranken eröffnet, ist in Rot und Gold getaucht. Gerade dafür aber fand sich in der Ausdeutung des Ich statt der Entsprechung nur die Frage „Est-il moyen...?“ nach der Möglichkeit, der Ifferrschaft des „ici-bas“ zu entgehen. Mit der Pro¬ klamation des Fächers zum Szepter des im Glanz der Vollendung stehen¬ den rot-goldenen Abendhimmels hat diese Frage eine Antwort erhalten. Der Fächer kann Flügel des Ich zum Aufschwung aus der Welt zum Absoluten sein, so daß er geschlossen das Absolute potentiell, eben als Szepter, in sich enthält. 271

V

Die Qualität, die den Fächer zum Szepter macht, heißt „ce blano vol ferme“. Das kann man als „dieser helle geschlossene Flug“ überset¬ zen, „geschlossen“ im Doppelsinn von „vollendet“ und „eingeschlossen“. Der Aufschwung, den der Fächer ermöglichte, als er offen war, ist nun in ihm als Möglichkeit enthalten und zugleich dinglich vorhanden. Wie sich der Aufschwung des Ich im Fächer objektiviert, wird sein Ziel, der vibrierende Raum im rotgoldenen Abendhimmel sichtbar. Als vibrie¬ renden Raum erlebte das Ich das von Gott gereinigte Absolute. Der abendliche Himmel wird von der untergegangenen Sonne erleuchtet. Auch von ihrem Nachglanz gilt, daß er „ne peut jaillir ni s’apaiser“. Beziehen wir ein, daß der Himmel traditionellerweise die Erscheinungs¬ stätte Gottes war, so offenbart sich im Abendhimmel das gereinigte Ab¬ solute, jedoch nicht im wirklichen Abendhimmel, sondern in demjenigen, den der geschlossene Fächer der Einbildungskraft mitteilt. Das vermag nicht der Fächer allein, sondern seine Position „contre le feu d’un bracelet“ des Mädchens. Helle des geschlossenen Fächers und Feuer des Armbands stehen hier zueinander in Opposition. Es ist aber auch, als wenn der Fächer aus dem Feuer des Armbands seinen Glanz bezöge. Zwischen Fächer und Armband bestünde dasselbe Verhältnis des Ab¬ glanzes wie zwischen der Sonne und dem abendlichen Himmel. „le vol“ ist ein zweideutiges Wort, es heißt auch „der Raub“, und zwar im Sinne der Aktion des Stehlens als auch des Ergebnisses, „ce blanc vol ferme“ ist also auch mit „dieser helle eingeschlossene Raub“ zu übersetzen. Der Aufschwung erscheint hinterher als Raubzug, das Raubgut ist in den Fächer eingegangen und nun darin aufbewahrt. Es ist nichts Geringeres als das Absolute. Es gibt dem Fächer seine Helle von innen heraus, obwohl er sich auch am Feuer des Armbands zu entzünden scheint. Durch den Aufschwung wurde das Absolute aus dem Himmel auf die Erde heruntergeholt. „ce blanc vol ferme“ weckt somit die Erinnerung an den Raub des Feuers durch Prometheus, ja er läßt den Vorgang des Gedichtes als Nachvollzug dieses Mythos erscheinen. Prometheus verbarg das Feuer, das er von der Sonne genommen hatte, um Zeus zu täuschen im hohlen Stengel der Narthex-Staude, die auch im bacchantischen Zug als Thyrsos diente25. Der Fächer, in dem nun das heruntergeholte Absolute ver25

Vgl. Karl Kerenyi, Prometheus. Hamburg: Rowohlt 1959 (rororo-Enzyklopädie 95) S. 82. Mallarme führt allerdings in seiner Nacherzählung des Prometheus-Mythos in „Les dieux antlques“ diesen Umstand nicht an. Vgl. CEuvres S. 1218

272

borgen ist, entspricht dem Narthex-Stengel. Auf den Vorgang des Verbergens deutet, wie wir nun hinterher zu erkennen meinen, das dunkel gebliebene Wort „enseveli“ der vorletzten Strophe. Die Opposition zwi¬ schen Fächer und Armband wäre dann die von offenem und verdecktem Feuer. Das Ich des Gedichts ist jedoch ein radikalerer Prometheus. Er raubte nicht nur Feuer vom Himmel, sondern die Sonne selbst und barg sie in der Unscheinbarkeit des Fächers. Insofern ist der Fächer das Szepter über den abendlichen, d. h. die Sonne entbehrenden Himmel, als der Untergang der Sonne sein Werk ist. Daß sich nun der Fächer gegen das Feuer des Armbands lehnt, faßt am Ende des Gedichts den ganzen epochalen Vorgang nochmals ins Bild. Der offene strahlende Glanz des Armbands vertritt die Offenbarung des Absoluten in Gott, der das Licht der Welt ist. Der im Fächer verborgene Glanz ist die neue Erscheinungs¬ weise des Absoluten in der Welt. Es hat nun im Unscheinbaren sein Symbol. Indem das Mädchen seinen Fächer gegen das Armband lehnt, vollzieht es in effigie eine translatio.

IV. Das Gedicht proklamiert den geschlossenen Fächer zum Symbol des gereinigten Absoluten, nachdem es dessen Realität und die der Wirkung auf das Mädchen in Sprache umgesetzt hat, aus der das Ich die sugge¬ stive Kraft für seinen reinen Aufschwung erhielt. Die Dinglichkeit des Fächers scheint somit lediglich ein zufälliger Anlaß für das Gedicht zu sein. Es ist denkbar, daß auch andere Dinge seine Stelle einnehmen könn¬ ten. — Nun hatte aber Mallarme eine besondere Vorliebe für Fächer. Neben dem besprochenen schrieb er zwei weitere große Fächer-Gedichte, und außerdem haben sich 18 meist vierzeilige Epigramme auf Fächer verwandter oder befreundeter Damen erhalten. Auch in den Prosa¬ schriften kommen bisweilen Fächer vor. Offensichtlich strahlte der Fächer bereits als Ding vor aller sprachlichen Erfassung eine starke Faszination auf Mallarme aus. Deren Grund hoffen wir zu erkennen, wenn wir im folgenden Mallarmes Äußerungen über Fächer zusammensehen26. Fächer tauchen am frühesten in jenen Gedichten Mallarmes auf, in 26

Vgl. dazu Charles Chasse, Les clefs de Mallarm£. Paris:

Aubier

1954.

S. 219 f. 273

18

Pestalozzi, Lyrisches Ich

V

denen er den Ton des in der „Symphonie litteraire

ebenfalls gefeierten

Theodore de Banville erprobte „A une petite laveuse“, „A un poete immoral“, „Placet futile“. Zur Rokokowelt, auf die in diesen Gedichten angespielt wird, gehört der Fächer als galantes Requisit. Mythische Sze¬ nen von Watteau und Boucher sind darauf gemalt. Solche Fächer empfahl Mallarme alias Marguerite de Ponty auch den Leserinnen von „La derniere mode“ neben anderen Accessoires aus dem Louis XV und Louis XVI als Inhalt einer „corbeille de Mariage“27. Aus anderen Äußerungen geht hervor, daß sich Mallarme auch der Herkunft des Fächers aus dem Fernen Osten bewußt war28. Der Fächer war somit ein für die Zeit typisches Requisit. Er gehörte zu jenen vielen antiquarischen und exotisdien Dingen, mit denen man in Paris, „musee lui-meme autant que bazar“29, sich und seine Umwelt dra¬ pierte, um überallher neue und frappierende Reize zu gewinnen. Mallar¬ mes Modezeitschrift liest sich wie eine Programmschrift dafür. Sie ver¬ hehlt freilich nicht, daß die Anleihen der Mode bei fremden Zeiten und Völkern aus einem Mangel an eigener schöpferischer Kraft hervorgingen, daß der Hang zur Dekoration zugleich einer zur Verhüllung und Mas¬ kierung war. Im Wust des schönen Scheins wurde der einzelne Mensch in seiner Bedürftigkeit unkenntlich. Dennoch hatte der Fächer unter den Modeutensilien für Mallarme eine Sonderstellung. Sein Reiz lag nicht im kostbaren Material oder in der Ausführung, sondern in den Bildern, die seitlich aufgemalt waren, rokokohaften oder modernen. Sie gaben ihm „une valeur ideale“30. Der Fächer ermöglichte innerhalb der modischen Gleichheit individuelle Nu-* ancen. Das zeigen besonders Mallarmes kurze Gedichte, die er auf Fächer plazierte. Er eignete sie ihren Besitzerinnen dadurch namentlich zu und schuf so eine Verbindung zwischen Fächer und Person. Die gesellschaftliche Funktion des Fächers, welche diese Gedichte erkennen lassen, bestand darin, die Damen zur Umgebung in Distanz zu setzen, sie vor zudringlichen Blicken und widrigen Winden zu schützen. Zugleich war der Fächer ein zusätzliches Ausdrucksmittel, das erlaubte, Zunei¬ gung, Abwehr, vor allem aber Würde und Souveränität zu bekunden. Was sich jedoch hinter der Bemerkung, der Fächer habe „einen idealen Wert“, verbarg, läßt sich erst aus anderen Stellen erkennen. 27

(Euvres S. 713 („La derniere mode“)

28 29

A.a.O. S. 374 A.a.O. S. 712

30

A.a.O. S. 714

274

Eine eigentliche Theorie des Fächers entwickelt Mallarme

über¬

raschend in „Quant au livre“ im Zusammenhang mit der merkantilen Beobachtung, daß Bücher nun bis zur Schwelle des Sommers erschienen. Le lancage ou la diffusion annuels de la lecture, jadis l’hiver, avance maintenant jusqu’au seuil d’ete: comme la vitre qui mettait, sur Eacquisition, un froid, a cesse; et l’edition en plein air creve ses ballots vers la main pour le lointain gantee, de l’acheteuse prompte ä choisir une brochure, afin de la placer entre ses yeux et la mer. Interception, notez — Ce que pour l’extreme-orient, l’Espagne et de delicieux illettres, Eeventail ä la difference pres que cette autre aile de papier plus vive: infiniment et sommaire en son deploiement, cache le site pour rapporter contre les levres une muette fleur peinte comme le mot intact et nul de la songerie par les battements approche.31 Auch in seinen Ursprungsländern erfüllt der Fächer eine distanzie¬ rende Funktion. Er stellt sich als Hindernis zwischen Ich und Land¬ schaft und schließt so die Wirklichkeit aus. Zugleich aber ersetzt er sie durch eine künstliche. In den gemalten Blumen, die er zu den Lippen bringt, erhält der träumerische Zustand, den sein Schlagen erzeugt hat, seine Entsprechung. Von innen und von außen versetzt er die Person, die ihn bewegt, in einen Zustand der Bezauberung. — Die Formulie¬ rungen, die Mallarme gebraucht, erinnern an den Schluß von „Eleva¬ tion“. Aber die Blumen sind hier gemalt. Sie sprechen nicht eine Sprache der umgreifenden Natur, sondern sind Wörter jener anderen mensch¬ lichen Sprache, in der sich die Bezauberung artikuliert. Auch die Blumen¬ sprache ist infolge von Mallarmes Aneignung des Absoluten zur Men¬ schensprache geworden. Der Gegensatz ist nun der von gewöhnlicher und künstlicher Sprache, wobei diese den „mots intacts“ entspricht. In Distanzierung und Bezauberung sah Mallarme die ursprüngliche Wirkung des Fächers. Er faßte beide Aspekte in die Definition, die schon einmal zitiert wurde: Cet isolateur, avec pour vertu, de renouveler Einconscience du d£lice sans cause.32 Die Bezauberung wird hier spezifiziert als Wiederherstellung eines ursprünglichen Zustandes des Menschen. Der Fächer versetzt aus der 31 32

A.a.O. S. 374 Ebd.

27S 18*

Welt der Diskursivität heraus ins Unbewußte resp. Vorbewußte zurück. Es hat erlösende Kraft. Mallarme kommt an dieser Stelle auf den Fächer zu sprechen, weil die Broschüre, welche sich die Reisende ersteht, scheinbar dieselbe distan¬ zierende Wirkung hat. Auch sie ersetzt die Wirklichkeit durch eine künst¬ liche Welt. Doch die Verzauberung kommt nicht zustande, weil die Bro¬ schüre und die gängige Literatur überhaupt den Leser nicht verwandelt, sondern bestätigt: „Voilä ce que, precisement, exige un moderne: se mirer, quelconque . . .“33 Der Leser sucht im Buch nur sein Spiegelbild, die Verdoppelung seiner selbst. Der Gegensatz von Fächer und Broschüre ist somit der eines gewöhn¬ lichen und eines verwandelnden Spiegels. Spiegelung eignet beiden, ja das reflexive Moment ist beim Fächer unmittelbarer zu erkennen. Doch er wirkt genau im Sinne des Satzes aus „Les fenetres : Je me mire et me vois ange! „Aile“ ist die häufigste Metapher für den Fächer. Er gibt dem Ich Flügel und bewirkt seinen Aufschwung aus der Wirklichkeit in seinen ursprünglichen Zustand. Der Fächer ist ein platonisches Requisit. Darin liegt sein idealer Wert. Die Bestätigung dieses Zusammenhanges enthält unter einem andern Gesichtspunkt der Anfang von „Crayonne au theätre“34. Dort erscheint die „Idee“ personifiziert als „une exquise dame anormale“, die den Dich¬ ter in das Theater begleitet hat. „Idee“ — auch „Seele“ genannt

wird

definiert als „la divinite presente ä l’esprit de l’homme“35. Das ist die genaue Umschreibung des nach der Auslöschung der Gottesvorstellung an den Menschen gefallenen Absoluten. Dessen Gegensatz zur empirischen Wirklichkeit zeigt sich alsbald. Kaum hat das Stück begonnen, drängt die Dame Idee den Dichter aus dem Theater hinaus, weil die Vorstellung zu perfekt zu werden verspricht. Sie schätzt eine Bühne gering, auf der sie nicht ihre eigenen Kunststücke aufführen kann. Das aber ist ihr nur dort möglich, wo das Vorgestellte sich nicht selbst genügt. Sie braucht dazu Leerstellen der Wirklichkeit, Öde und Langeweile z. B., auch vor Beginn des Stückes war sie in Aktion. — Die Geste, mit der die Idee ihren Wunsch wegzugehen unterstreicht, wird beschrieben als „me tendant le renoncement au vol, agite longtemps de son caprice“. Daß es sich

33 34

A.a.O. S. 375 A.a.O. S. 293 f.

35 Ebd. 276

hier um einen Fächer handelt ,wird in der nächsten Regiebemerkung klar „puis d’une main vide de l’eventail“. Die Idee ist ein geflügeltes Wesen. Ihr Flügel ist der Fächer. Seine Bewegtheit zeigt ihren Flug an. Er ist hier also nicht der Bewirkende, sondern Teil der Wirkung. Nicht weil, sondern indem er sich bewegt, manifestiert sich die Idee. Der Fä¬ cher als Medium des Aufschwungs ist zugleich dessen Ziel; denn es gibt keinen Himmel mehr, in den er hinaufführen könnte. Die beiden Aspekte der Fächerbewegung, Bezauberung, d. h. Erhebung zur Idee, und Mani¬ festation der Idee ergeben sich daraus, daß das Ich normalerweise nicht mit seiner Idee übereinstimmt. Der Fächer muß sie in ihm wachrufen. Er vermag das, weil im Rhythmus seiner Bewegung schon die Idee am Werk ist. Gerade der Darstellung dieser Reflexivität kommt der Fächer, mit dem man sich selber fächert, entgegen. So kann man den Fächer als sichtbaren Flügel der Idee zur Idee bezeichnen. Als Brücke zwischen Idee und Empirie scheint er Mallarme fasziniert zu haben. Man kann sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, als reichten die Begründungen aus der Kulturgeschichte und der Erfahrung nicht aus, um die Sakralisierung des Fächers zu legitimieren. Sie haben zur Vorausset¬ zung, daß die Idee überhaupt einen Flügel besitze. Diese Vorstellung stand für Mallarme fest. Ihre Herkunft gilt es in erster Linie zu er¬ fragen. In dem zitierten Brief an Cazalis über den Gotteskampf Mallarmes erscheint Gott als geflügeltes Wesen im Anschluß an Jakobs Kampfge¬ nossen. Die Idee ist die Nachfolgerin des überwundenen Gottes. Daß sie einen Flügel hat, erinnert daran. — Einleuchtender scheint jedoch eine andere Herleitung. Mallarm^s erste Gedichte sind geprägt von einer kindlichen Religiosität. Engel sind darin häufig, ebenso ist „aile“ ein oftgebrauchtes Wort36. Die Vorstellungswelt, die dahinter steht, läßt ein frühes Aufsätzchen über “L’ange gardien“37 erkennen. Es schildert, wie der Schutzengel den Menschen von der Wiege bis zur Bahre in allen Lebensumständen treulich begleitet. „Et lorsqu’il est lance au milieu du monde, seul vous veillez autour de lui, seul vous ne le quittez jamais, vous remplacez une mere qu’il a peut-etre perdue.“ Der Schutzengel ist das Prinzip der Identität. Er stammt geistesgeschichtlich vom antiken

36

37

Vgl. Pierre Guiraud, Index du vocabulaire du symbolisme. III, Index des mots des po£sies de Stephane Mallarme. Paris: Librairie Klindksieck 1953. „aile“ gehört zu den „mots-theme“ bei Mallarme. QEuvres S. 1383

277

Genius ab. Im Grunde genommen entspricht er schon ganz der „divinite presente a I’esprit de Phomme“. Der Gotteskampf löste ihn aus der Verbindung mit der Transzendenz und verselbständigte, d. h. verabsolu¬ tierte ihn. Als Idee des Ich ist er nun das neue Jenseits. Im Flügel, den die Idee bewahrt, ist der des Schutzengels aufgehoben. Nun aber darf der Flügel nicht zu einer neuerlichen Mythologisierung des Absoluten führen. Er muß der Idee äußerlich bleiben. Als ihr Zei¬ chen muß er sich zugleich wieder zurücknehmen. Der Fächer erfüllt diese Voraussetzung. Er sieht aus wie ein Flügel, ohne doch einer zu sein. Innerhalb der Wirklichkeit ist er dank seiner fremden Herkunft und seiner Zweckfreiheit zum Dienst an der Idee geeignet, als materielles Ding aber kann er sie nicht tangieren. Von seiner Reflexivität war schon die Rede. So ist er zwar der Flügel der Idee und zur Idee, aber auf uneigentliche und spielerische Weise. Was ihn dazu machte, war Mallar¬ mes vom „demon d’analogie“ regierte Einbildungskraft. Bei der Analogie von Fächer und Flügel blieb Mallarme nicht stehen. Nach der Schilderung in „Quant au livre“ kann der Fächer deshalb auch der Broschüre konfrontiert werden, weil er in enger Beziehung zum rich¬ tigen Buch stand. Der Fächer ist das Buch der Analphabeten, das Buch wiederum ist der Fächer der Gebildeten. Das tertium comparationis sah Mallarme in der Faltung. Die des Zeitungsblattes zum Buch vergleicht er einem „vol recueilli mais pret ä s’elargir“38, was genauso vom ge¬ schlossenen Fächer gesagt werden könnte. Mallarmes Kennzeichnung des Buches als „instrument spirituel“39 gilt ebenso für den Fächer. Ja, berück¬ sichtigt man den etymologischen Zusammenhang von „eventail“ mit lat. „ventus“ und dessen Bedeutungsüberschneidung mit „Spiritus“, so erwei¬ sen sich „instrument spirituel“ und „eventail“ unvermutet als Synonyma. Das betrifft bereits die geistige Gemeinsamkeit von Fächer und Buch. Insofern war der Fächer das Buch des Analphabeten, als er das Prinzip der Dichtung verkörperte, bevor es geschriebene Dichtung gab. Das war mit dem Hinweis auf „le mot intact et nul“ angedeutet. Darauf bezog sich Mallarmes ironisch-selbstkritische Bemerkung über den Fächer: „Aussi je crois, poete, ä mon dommage, qu’y inscrire un distique est de trop.“40 Ein Gedicht auf einen Fächer zu schreiben, war ein tautologisches Unterfangen, wenn man die geheime Identität beider an¬ nahm. Tatsächlich erkennt Mallarme an vielen Stellen dem Gedicht 38 A.a.O. S. 379 39 A.a.O. S. 378 40 A.a.O. S. 374 278

dieselbe Zauberwirkung zu wie dem Fächer, etwa in der folgenden negativen Feststellung aus der Nähe der angeführten Passage aus „Quant au iivre“ . .. que la tres simple chose appel^e äme ne consent pas fidMement ä scander son vol d’apres un ebat inne ou selon la recitation de quelques vers, nouveaux ou toujours les memes, sus.41 Und entsprechend an einer andern Stelle: Quiconque ouvre un livre pour chanter au-dedans de s o i, le vrai lecteur de vers a, depuis dix ans, en Angleterre, comme avant ce temps, en France, il le fera, emprunte pour son äme le deploiement d’ailes de chacune des stances de l’ceuvre lyrique de Swinburne.42 Die geheime Identität von Fächer und Gedicht impliziert nun auch den Unterschied von Gedicht und Literatur, wie er zwischen Fächer und Broschüre besteht. Auch das Gedicht spiegelt nicht wieder, was ist, sondern wirkt als schaffender Spiegel, der im Leser dessen Idee oder Seele weckt. Auch das Gedicht ist Flügel der Seele zur Seele. Und auch es muß in ironischer Distanz bleiben zu dem, was es evoziert. Es muß sich zurücknehmen, um das, in dessen Dienst es steht, nicht zu verun¬ reinigen. Es war uns zu Beginn aufgefallen, daß in Mallarmes Vorstellung Dichtungen geflügelte Wesen waren, Engel, Adler, Schmetterling, Turm¬ hahn. Daß ihm auch Gott als „plumage“ erschien, auch er ein erdich¬ tetes Wesen war, enthielt im Ansatz bereits die Überwindung. Er konnte durch eine andere Erdichtung abgelöst werden. Darauf war seitdem Maliarmes Anstrengung gerichtet. Doch sein Ziel waren Dichtungen, die sich selber Zurücknahmen. Die spielerisch-ironische Gleichsetzung des Fächers mit Flügel, Buch, Gedicht ermöglicht ein Sprechen, das sich nicht erneut mythologisch verfestigt. Verständlichkeit und Einheit aber ver¬ dankte es, und das gilt weitgehend für Mallarmes Sprache überhaupt, der christlichen Mythologie, die es negierte. Überblickt man die vielfältigen Analogien, die im Fächer ihren Quellpunkt haben, so erscheint er als ein zentrales Emblem von Mallar¬ mes Geist. Im Fächer sind Gott und Engel, die früheren Erscheinungs¬ formen des Absoluten, aufgehoben, und zwar so, daß deutlich wird, daß dieses nun in die Hand des Menschen gelegt ist.

41 A.a.O. S. 375 42 A.a.O. S. 702 2 79

V. „Aussi je crois, poete, a mon dommage, quJy inscrire un distique est de trop“. Dieser Satz trifft auch Mallarmes Gedicht auf den Fächer sei¬ ner Tochter. Die Interpretation des Gedichts hat jedoch ergeben, daß es gerade auf dieser scheinbaren Tautologie aufgebaut ist. Aus dem Fächer und seiner Wirkung auf das Mädchen machte das Ich sein Ge¬ dicht, das es bezaubert und entrückt. Was für das Mädchen der Fächer, ist das Gedicht für das Ich. Das eben macht die Doppelgesichtigkeit des Ganzen aus. Der Nachweis der geheimen Identität von Fächer und Ge¬ dicht hat jedoch zur Folge, daß nun auch die Beziehung zwischen den beiden parallel laufenden Sprachebenen des Gedichts in den Blick tritt. Wenn das Gedicht vom Fächer spricht, spricht es zugleich von sich sel¬ ber. Seine Schilderungen des Fächers in seinen Bewegungsphasen sind Reflexionen auf die Strophen, welche diese Schilderungen enthalten. Mallarme wandte damit an, was er als Grundsatz von Poes Poetik in ein Bild gefaßt hatte, das in die Vorstellungswelt des Gedichts gehört: „que l’eternel coup d’aile n’exclut pas un regard lucide scrutant l’espace devore par son vol.“43 Er baute diesen Rückblick in das Gedicht selber. In dieser Doppelperspektive des Gedichts kommt zum Ausdruck, daß es wie der Fächer Medium für den Aufschwung und der Aufschwung selber, Flügel zur Idee und Flügel der Idee ist. Die rückschauende Re¬ flexion versichert sich mit Hilfe des Fächers des jeweils erreichten Punk¬ tes der Aufschwungbewegung. Daß das Gedicht selber der Aufschwung ist und ihn nicht nur evoziert, bedeutet, daß sich dieser innerhalb seiner Sprache vollzieht, nämlich eben im Spielraum zwischen Information und Evokation. So muß zum Schluß das Gedicht auf diese dritte Dimension hin nochmals Strophe für Strophe betrachtet werden44. Die Anfangsstrophe steht der Umgangssprache am nächsten. Ein Ich spricht zu einem Du über eine Sache. Eine Argumentation findet statt, welche ein differenziertes syntaktisches Gefüge schafft. Der Titel macht es möglich, eigentliche und metaphorische Sprache voneinander zu unter¬ scheiden. Der Rhythmus der Sprache ist eher stockend. Der Stil ist bereits gehoben. Doch im ganzen ist die Strophe informativ. 43

A.a.O. S. 230

44

Auf diese dritte Dimension haben vor allem Thibaudet und Michaud hin¬ gewiesen. Eine genaue Nachzeichnung des Aufstiegs innerhalb der Sprache hättet* strenger semantisch vorzugehen, als das im folgenden geschehen kann. Vgl. ferner Hans-Jost Frey, Poesie und Poetik des Fächers, zu einem Gedicht von Stephane Mallarme. NZZ vom 25.0kt. 1964 (Nr. 4514)

280

In der zweiten Strophe ist der Flug im Gange. Es wurde festgestellt, daß die Strophe realistisch beginnt, daß dann die Metaphorik um sich greift und auch auf den deutlicheren Anfang der Strophe zurückwirkt. Der Vorstellungszusammenhang wird zweideutig. Einzelwörter gewinnen Selbständigkeit. Das Ich ist aus der Sprechsituation verschwunden. Die Du-Anrede ist informativ und evokativ zugleich. Dunkelheit und Zwei¬ deutigkeit wachsen. Wir meinen nun auch, in der Abfolge der beiden Strophenhälften die Doppelperspektive angedeutet zu sehen, auf die Mallarme bei Poe aufmerksam machte. Die Strophe ist einfacher gebaut als die erste. Der Rhythmus verlangsamt sich in der zweiten Strophen¬ hälfte so, daß die Bewegung auf „delicatement“ fast zum Stillstand kommt. In jeder Flinsicht ist die Sprachgestalt dieser Strophe übergänglicher Art. In der Mittelstrophe ist die Bewegung auf dem Höhepunkt ange¬ langt. Gemäß der Analogie von Fächer-, Gedicht- und Sprachbewegung muß hier die Sprache des Gedichts in ihre eigene Reinheit gelangen. Tatsächlich sind alle informativen Elemente verschwunden. Zur Reali¬ tätsebene konnte der Bezug nur mit Hilfe einer Interpolation und auf dem Umweg über eine andere Fassung hergestellt werden. Entsprechend groß ist die Unverständlichkeit. Alles ist Evokation. Vorzeichen der ganzen Strophe ist der Ausruf zu Beginn. Der „voici“-Satz ist gewis¬ sermaßen sein Nachhall. Die Strophe ist denn auch im Vergleich mit den übrigen ausgesprochen pleonastisch. Wir haben auch gesehen, daß keine der Strophen sprachlich so zweideutig ist wie diese. Die Unschärfe hängt mit der Lockerung, ja Auflösung des determinierenden Kontexts zusammen. Man könnte sagen, daß hier die parole in die langue über¬ geht, in der die Einzelwörter weite Bedeutungshöfe mit unscharfen Rändern um sich haben. In den Negationen der dritten und vierten Zeile wird das Aussetzen der Mitteilungsfunktion thematisch und sprach¬ lich deutlich. Verglichen mit dem Ausgangspunkt des Gedichts ist die Sprache hier absolut geworden. Doch noch als absolute bleibt sie Sprache. Ihre Reinheit besteht darin, daß nun die Bedingung ihrer Möglichkeit zu Tage tritt. Diese liegt in dem Vibrieren, das darauf tendiert, sich zu artikulieren und mitzuteilen. Genaugenommen ist es die Reinheit der Sprache des Gedichts, die sich hier zeigt, das a priori der Konstellation von Ich-Du-Es. Im Bild des Kusses kommt es rein hervor, auch mit sei¬ ner narzißtischen Komponente. Weil die Sprache, deren Reinheit hier erreicht ist, auf ein Du ausgerichtet ist, wird der Höhepunkt des Ge¬ dichts zum Ort seines Umschlags. Die Potentialität drängt weiter zur 281

\

Aktualisierung. Damit aber geschieht etwas für die Absicht des Gedichts Grundlegendes. Dem Aufschwung ist es nicht gelungen, sich von dem Medium, das ihn ermöglichte, zu befreien. Er gelangte, statt zum reinen Absoluten, nur bis zur Absolutheit der Sprache. Der Flügel wird, wie es die erste Strophe ankündigt, festgehalten und damit zur Fessel. Mit dem „sens-tu“ der folgenden vierten Strophe löst sich die Span¬ nung. Die Sprache kehrt aus der Höhe der Evokation in die Niederun¬ gen der Mitteilung zurück. Das Entstehen des Lächelns spiegelt den Vorgang der Artikulation und damit die Rückkehr aus der reinen in die gesprochene Sprache. „Le paradis farouche“ könnte auf einen präadamitischen Zustand der Sprache anspielen, der nun in menschliche Sprache übergeht. Die Spiegelsymmetrie der vierten zur zweiten Strophe ist offen¬ kundig. Der Übergang aus der Dunkelheit in die relative Deutlichkeit ist mit dem pointierten „unanime pli“ erreicht. Der Fächer hat seine Bewegung eingestellt. Diese Rückkehr könnte bedeuten, daß der Aufschwung in die reine Wonne mißlungen sei, weil er nicht über die Sprache hinausführen konnte. Wie aber, wenn dieser Mißerfolg gerade beabsichtigt wäre und damit kein solcher? Wenn es dem Ich gar nicht darum zu tun gewesen wäre, durch die Sprache über die Sprache hinauszukommen, sondern darum, das Feld der Sprache und damit das seiner Endlichkeit als der eines dichtenden Ich auszumessen? Das Gedicht endet mit einem feierlich-prunkvollen Finale. Wenn die angenommene Analogie gilt, reflektiert der geschlossene Fächer das ab¬ geschlossene Gedicht. Er verleiht diesem damit eine Bedeutung, die über den gedruckten Text hinausreicht. Wie der geschlossene Fächer zum Szepter des Abendhimmels wird, tut sich über dem Abschluß des Ge¬ dichts das Absolute in seiner Reinheit auf. Nun ist es auch vom geistig¬ sten Medium, der Sprache, befreit. Indem diese bis in ihren eigenen Ur¬ sprung vorstieß, wurde sie per negationem zur Wegbereiterin des Abso¬ luten. Dieses fängt dort an, wo sie am Ende ist. Aber sie mußte ans Ende kommen, damit es anfangen kann. So kommt nun im leeren Raum des weißen Papiers, in den das Gedicht mündet, die Aufschwungsbewegung ans Ziel. Darin sind die vorange¬ gangenen Aufschwünge die des Fächers, des Gedichts über den Fächer und der Sprache des Gedichts über den Fächer aufgehoben, wie der voll¬ endete Aufschwung in den zugefalteten Fächer einging. Dem nach dem Gedicht anhebenden Schweigen gilt der letzte Name des Fächers, „ce blanc vol ferme“. 282

Hugo von Hofmannsthal „Reiselied“ Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Stockholm: Bermann-Fischer, später Frankfurt: S. Fischer 1945 f. [zit. GLD = Gedichte und lyrische Dramen; P = Prosa; A = Aufzeichnungen] Hugo von Hofmannsthal, Briefe 1890—1901. Berlin: Fischer 1935 [zit. Briefe] Hugo von Hof mannsthal — Edgar Karg von Bebenburg, Briefwech¬ sel, hrsg. von Mary E. Gilbert. Frankfurt: Fischer 1966 Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal, hrsg. von Robert Böhringer. München/Düsseldorf: Küpper vorm. Bondi 19532 Hugo von Hofmannsthal — Arthur Schnitzler, Briefwechsel, hrsg. von Therese Nicki und Heinrich Schnitzler. Frankfurt: Fischer 1964 Im Selbstgespräch des jungen Hofmannsthal, wie wir es aus den postum veröffentlichten Aufzeichnungen seines Journal intime kennen, spielt die Frage, was das Ich sei, von Anfang an eine bedeutende Rolle. Die dritte veröffentlichte Eintragung lautet: 29. XII. 1890 — Wir verstehen nur uns selbst, und an uns selbst nur das Gegenwärtige, und auch den gegenwärtigen Gedanken nur solang als wir ihn denken, als er flüssig ist.1 Das wird ein halbes Jahr später noch verdeutlicht: Wir haben kein Bewußtsein über den Augenblick hinaus, weil jede unserer Seelen nur einen Augenblick lebt. Das Gedächtnis gehört nur dem Körper: er reproduziert scheinbar das Vergangene, d. h. er er¬ zeugt ein ähnliches Neues in der Stimmung. Mein Ich von gestern geht mich so wenig an wie das Ich Napoleons oder Goethes.2 Das Ich, das in diesen Bemerkungen bestritten wird, ist das ego cogitans, das als Konstante die wechselnden Vorgänge der Wahrnehmung und Empfindung begleitet und ihren Zusammenhang herstellt. Es ist hier weitgehend dem Gedächtnis gleichgesetzt, das Vergangenes lebendig hält.

1 A S. 89 2 A.a.O. S. 93 283

V

Doch diese Gleichsetzung geschieht bereits im Hinblick auf die Wider¬ legung. Die Identität in der Zeit wird dadurch angefochten, daß der Unterschied von Empfindung und Bewußtsein verwischt wird. Das Denken wird der Empfindung untergeordnet. Da deren Zeitform die Augenblicklichkeit ist, kann es keine Kontinuität des Bewußtseins geben. Was so aussieht, ist ein falscher Schein. Das Gedächtnis, das als Phäno¬ men nicht geleugnet werden kann, ist eine Funktion des Körpers. Dieser ist als lebendiger Organismus der Inbegriff ständiger Wandlung. Er kann keine wahre Dauer verbürgen. An deren Stelle tritt Augenblick¬ liches, das weder mit dem Vergangenen noch mit dem Folgenden Ver¬ bindung hat. Die traditionelle Ich-Einheit, auch Seele genannt, löst sich damit auf in eine unverbundene gesetzlose Abfolge unendlich vieler Ich-Momente resp. momentaner Ich-Regungen. Diese Atomisierung ist nicht nur eine in der Zeit. Wie die eine Seele zur Abfolge einer unendlichen Vielheit von Seelen wird, vervielfältigt sie sich auch in jedem einzelnen Augenblick. Die Entthronung des einen dominierenden Bewußtseins setzt verschiedene Regungen gleichzeitig frei. Es ist bezeichnend, daß Loris in einer andern Aufzeichnung der alten Mikrokosmosvorstellung nur den Aspekt der Vielfalt entnimmt, wenrt er feststellt: Mikrokosmos: eine Menagerie von Seelen. Das Wesen des Steines ist Schwere, des Sturmes Bewegung, der Pflanze Keimen, des Raubtiers Kampf... in uns aber ist alles zugleich: Schwere und Bewegung, Mordlust und stilles Keimen, Möwenflug, Eisenklirren, schwingende Saiten, Blumenseele, Austernseele, Pantherseele . . .3 Die augenfällige Darstellung eines „Ich“ ohne zeitliche und räumliche Einheit bildet das folgende Prosagedicht, der Entwurf zu einem metri¬ schen : 24.—25. VII. [92?] — die kleinen Quellen die (offenen) bebenden Adern des Gartens, die Sonne, die klein und golden übers Dach klettert zwischen dem Rauchfang und den dunkeln Blättern der Eberesche durch, der Wald voll schwebender Lichter und Schatten, abends mein kühles weißes Bett und draußen die blaue Sternennacht, das Atmen der Kerzen in der lauen Luft, mein Stock und die Bücher: Dante und Homer, darin die sieben göttlichen Tugenden mit frommen Kinderstimmen lateinisch singen und die Nausikaa Ball spielt.4 3 4

A.a.O. S. 92 A.a.O. S. 97

284

Man kann dieses Ich „impressionistisch“ nennen, wenn man den Be¬ griff weit genug faßt. Hofmannsthal registriert nicht nur die Flut der Sinnenreize, sondern ebenso die inneren Empfindungen, die Flucht der Gedanken, das Auf und Ab der Willensimpulse. In- und Nacheinander unterstehen keinem einsehbaren Gesetz, sie sind zufällig. „Zufall“ ist der Name für das Fehlen der synthetisierenden Einheit. Er kann sogar zur moralischen Kategorie werden, wie die entscheidende Stelle im Ab¬ sagebrief Hofmannsthals an George zeigt: Aber ich sehe keine Schuld und kein Verdienst, und was kann der Wille dort helfen, wo Tyche rätselhaft wirkt?5 Hofmannsthals Aufzeichnungen selbst scheinen die Zufälligkeit als Stilprinzip akzeptiert zu haben. Gedankensplitter, Stimmungsfetzen, Ge¬ dichte, Lesenotizen, Einfälle, Stichworte über Begegnungen gehen durch¬ einander. Problemen, die ihn etwas länger beschäftigen, gesteht er nur den Titel von voripaxa

JtQUxaveüovxa

6 gerade vorherrschenden Ge¬

danken zu. So kann er die Fiktion einer Seelendemokratie aufrecht¬ erhalten. Die Polemik gegen ein konstantes dominierendes Ich tendiert darauf, uneingeschränkte Offenheit und Verwandlungsfähigkeit zu ermöglichen. Der Mensch soll sich proteisch allem angleichen können, was ihm begeg¬ net, als „Spiel von jedem Druck der Luft“. Der Wahnsinnige im mikro¬ kosmischen Spiel des „Kleinen Welttheaters“ repräsentiert dieses Ideal in extremis. Er strebt darnach, sich in unendlicher Verwandlung zum All auszubreiten. Nur mit Zwang wird er von Arzt und Diener in den Schranken seiner körperlichen Existenz zurückgehalten. Am äußersten Ende seiner Bahn zeigt sich jedoch die Dialektik dieser Daseinsform. Sie besteht und kann mit Bewußtsein nur bestehen im Kampf gegen ein festes Ich. Sie bedarf dessen als eines Sprungbretts in das All. Würde die Auflösung total, verschwände jede Möglichkeit, sie zu genießen, überhaupt ihrer inne zu werden. In der Tendenz zur bewußten IchAuflösung ist so die Gegentendenz zur Ich-Konsolidierung mitenthalten. 5 6

A.a.O. S. 95; Briefwechsel George-Hofmannsthal S. 14 A S. 92, 93, 104, 117. Eine antike Herkunft des Terminus ließ sich nicht nachweisen. Hofmannsthal könnte ihn aus Schopenhauer übernommen haben, der im 4. Buch von „Die Welt als Wille und Vorstellung“ von „der herr¬ schenden (jzQvravevovga) Besorgnis des Tages“ spricht. Die Welt als Wille und Vorstellung, Leipzig: Brockhaus 1859. I, S. 374. — Nietzsche hebt in seiner vierten „Unzeitgemäßen Betrachtung“ den Terminus „der herrschende Gedanke“ durch Sperrung hervor. Schlechta I, S. 402. Er erscheint auch im „Zarathustra“. Schlechta II, S. 326, 338. 285

In den frühen Aufzeichnungen und in den ersten Prosaarbeiten Hof¬ mannsthals bereits steht die Ich-Auflösung in Spannung zur Ich-Bewahrung. Es macht den Anschein, als unterstehe schon die Gegenüber¬ stellung Byron — Goethe7, mit der die (publizierten) Aufzeichnungen anheben, diesem Gesiditspunkt. Goethe — „erfaßt das Universum, sieht das Ganze“ — würde merkwürdigerweise dem sich erweiternden Ich entsprechen, Byron dagegen — „erhebt das Individuum, sieht nur eine Seite“ — dem sich konzentrierenden. Überzeugender erscheint der Gegen¬ satz unter den Namen Amiel — Hebbel8. Hebbel ist für Hofmannsthal das Paradigma eines Menschen, der sich beschränkt, sich im Schaffen und Denken mit dem Fragmentarischen begnügt und noch das Gefühl begrenzt. Wie aber ist für Hofmannsthal selbst, der so entschieden von der Auflösung der Ich-Einheit überzeugt ist, eine solche Begrenzung denkbar? Da er in sich selbst keinerlei Identität verleihende Kraft verspürt, ist er genötigt, sich von außen ein Identitätsmodell zu leihen. Der „Prolog“ zum „Tod des Tizian“ demonstriert, wie das geschehen kann: Ich stieg einmal die große Treppe nieder In unserm Schloß, da hängen alte Bilder Mit schönen Wappen, klingenden Devisen, Bei denen mir so viel Gedanken kommen Und eine Trunkenheit von fremden Dingen, Daß mir zuweilen ist, als müßt ich weinen ... Da blieb ich stehn bei des Infanten Bild — Er ist sehr jung und blaß und früh verstorben . . . Ich seh ihm ähnlich — sagen sie — und drum Lieb ich ihn auch und bleib dort immer stehn Und ziehe meinen Dolch und seh ihn an Und lächle trüb: denn so ist er gemalt: Traurig und lächelnd und mit einem Dolch . .. Und wenn es ringsum still und dämmrig ist, So träum ich dann, ich wäre der Infant, Der längst verstorbne traurige Infant.. .9 Der Anstoß zur Wahl des Infanten als Vorbild erfolgt von außen; denn nur für die beobachtenden andern kann das Ich noch feste Kontu7 8 9

A S. 89; Mai 1890 A.a.O. S. 89/90 GLD S. 182 '

286

ren haben. Dann aber übernimmt der Prolog die ihm suggerierte Ähn¬ lichkeit und stilisiert sich darauf hin. In dieser Stilisierung gewinnt er ein festes Bild von sich. Das Ich verliebt sich nicht in sein Spiegelbild, es wird an dem, was es sich als Spiegel erwählt, überhaupt erst zum Ich. Im Spielen einer vorgegebenen Rolle gewinnt es umrissene Gestalt. In den Aufzeichnungen ist diese Möglichkeit avisiert, wenn es heißt: Einfluß des Verkehrs mit Schauspielern: Stimmung machen, durch Regie einen Charakter herausbringen, reale Leben.10

angewandt auf das

In diesen Zusammenhang gehört auch die Beobachtung: Ibsensche Menschen sehnen sich nach Künstlichkeit, Kunstverklärtheit des Lebens: Julian, Hedda.11 In der Ich-Schauspielerei wird das Prinzip der Verwandlung, das sich gegen ein festes identisches Ich richtete, gerade in dessen Dienst gestellt. Daß die Festlegung spielerisch geschieht, Distanz damit in die Identifi¬ zierung aufgenommen wird, unterscheidet die so gewonnene von der traditionell verstandenen Identität des Charakters. Es entsteht eine auf Zeit, wie sie ad hoc im Umgang mit sich und den andern gerade benö¬ tigt wird. Insofern ist auch sie dem Gesetz der Prytanie unterworfen. Die Ich-Identitäten gleichen Potemkinschen Dörfern12. Aber noch in der provisorischen Dauer, die das Ich sich erspielt, liegt eine Bedrohung, die nicht weniger tödlich sein kann als die totale Auf¬ lösung. Der Prolog gleicht sich einem Verstorbenen an, er räumt einem Toten Macht über sich ein. Seine Lebendigkeit ist damit gefährdet. In der Bedrohung durch das Vergangene, die Loris früh schon in allem Anspruch der Tradition witterte, kommt jedoch nur besonders deutlich zum Vorschein, was alle Ich-Konturierung impliziert: eben jene Erstar¬ rung, gegen die Loris Vielseelenlehre sich wandte. Den Einzelseelen, die sich revolutionär von der Herrschaft des Bewußtseins befreit hatten, drohte eine Diktatur von außen, die Identität um den Preis der Leben¬ digkeit gewährte. So empfand Hofmannsthal auch den Anruf Stefan Georges13. Indem er sich ihm entzog, suchte er die Vielfalt seiner Mög¬ lichkeiten uneingeschränkt zu erhalten. 10

A S. 103

11

A.a.O. S. 100

12

„Menschen führen einander durch ihre Seelen wie Potemkin die Kaiserin Katharina durch Taurien.“ A S. 92

13

Die Verbindung zu der zitierten Stelle aus dem Prolog zum „Tizian“ läßt eine Strophe aus dem Entwurf zu „Einem der vorübergeht“ erkennen: 287

\

So fand sich Hofsmannsthal, als er erkannte, daß ihm von Natur aus keine erfahrbare Identität mit sich selbst gewährt sei, im wörtlich¬ sten Sinn zwischen Scylla und Charybdis. Auf der einen Seite eröffnete sich die unendliche Möglichkeit der Verwandlung, die jedoch am äußer¬ sten Ende zur völligen Auflösung sogar der physischen Existenz wurde. Auf der andern Seite bot sich die Gegenmöglichkeit der schauspielerischen Anverwandlung eines gegebenen Identitätsmodells, auf deren Grund der Tod durch Erstarrung lauerte. Im Prolog zum „Tizian“ findet „der Dichter“ für die Zusammen¬ führung der Gegensätze die Formel „Schauspieler deiner selbstgeschaff¬ nen Träume“14. Die Rolle, die der Mensch aus sich selbst herausstellt, um sich ihr anzuverwandeln, erschien als Möglichkeit, seiner selbst hab¬ haft zu werden, ohne sich an Fremdes auszuliefern. Daß sie selbstgeschaffner Traum war, garantierte Lebendigkeit und Unfixiertheit. In der Polarität von Ich-Auflösung und Ich-Bewahrung steckt die Voraussetzung, daß der Mensch grundsätzlich eine Ich-Einheit ist. Nur kann diese sich nicht mit irgendeiner vermittelten Identität decken. Sie ist ursprünglicher und stellt darum alle erfahrbaren Ich-Formen in Frage. Unter den Notizen der Frühzeit bezeichnet die folgende diesen jensei¬ tigen Bezugspunkt am explizitesten: Theophr.

Paracelsus über den geheimnisvollen Regenten unseres

Lebens: „unser Geist, der nicht in uns wohnet und seinen Stuhl in die oberen Sterne setzt“, das wahre Ich, das große Ich Die wirk¬ lichen Vorgänge des transzendenten Weltlaufes sind über un¬ sere Phantasie hinausgehend und werden durch die kühnsten Bilder in ein unzulänglich banales Medium hinuntergezogen.15 Das Paracelsus-Zitat hatte Hofmannsthal bei Schopenhauer gefun¬ den16. Dieser verwandte es, um „die Absichtlichkeit im Schicksal des Einzelnen“ zu belegen, denn da er dieses leitende Prinzip als unerkenn¬ bar ansetzte, mußte er aus der Geschichte „Analogien und Gleichnisse“ Du warst wie das Bild, wie das alte Das wo im Dunklen hängt Und sich zuweilen seltsam In meine Sehnsucht drängt George-Hofmannsthal BW S. 237 14 15

GLDS. 182 A S. 120

10

Vgl. Martin Stern, Zu einem Gedicht Hugo von Hofmannsthals „Ein Traum von großer Magie“. FS Gottfried Weber, hrsg. von H. O. Burger und K. von See. Bad Homburg/Berlin/Zürich: Gehlen 1967. S. 265—298

288

Zusammentragen, um anzudeuten, was er meinte. Der Geist, von dem Paracelsus sprach, kam so in eine Reihe mit Dämon, Genius, spiritus familiaris und der christlichen Vorsehung, ja sogar mit Gott zu stehen17. Die Verbindung mit den Sternen war bei Paracelsus astrologisch ge¬ meint. Motivisch kam für Hofmannsthal darin zum Ausdruck, daß das Ich die Stelle Gottes eingenommen hatte. Kaum je wird so unmittelbar einsichtig wie hier, daß Hofmannsthal im Strahlungsfeld Nietzsches und Mallarmes auf wuchs18. Er hatte jedoch keinen Gotteskampf mehr zu bestehen. Sein Kaiser Porphyrogenitus braucht „Gottes Tod“19 als ge-

17

Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften, hrsg. von J. Frauenstädt. Berlin: Brockhaus 18622. Bd I, S. 225 f. 18 Die Anthropologie Hofmannsthals ist, wie deutlich geworden ist, bis in Ein¬ zelheiten von Nietzsche und Schopenhauer bestimmt. Der Einfluß beider auf Loris bedarf jedoch noch einer zusammenfassenden Darstellung. Er kann kaum überschätzt werden. Aus dem Briefwechsel mit Schnitzler geht hervor, daß H. schon 1890 auf Nietzsche aufmerksam gemacht wurde durch Paul Goldmann, den Redaktor der Zeitschrift „An der schönen blauen Donau“, die H. erstes Gedicht druckte. BW S. 65. Die ersten Spuren weisen auf die „Un¬ zeitgemäßen Betrachtungen“. Es scheint, daß schon die ersten Tagebuch¬ aufzeichnungen unter dem Einfluß Nietzsches entstanden. Schon die zweite Eintragung „Wir gehen auf staubverhüllten Perlen“, der im weiteren lyri¬ schen Werk zentrale Bedeutung zukam, ist ein deutlicher Anklang an Nietz¬ sches Satz: „So wie immer das große Problem dem edlen Gesteine gleicht, über welches Tausende hinwegschreiten, bis endlich Einer es aufhebt.“ (Ri¬ chard Wagner in Bayreuth, Schlechta I, S. 387), auf den der große Passus zur Sprachkritik folgt. H’ Sprachskepsis wurde offensichtlich stärker von Nietz¬ sche und indirekt von Wagner angeregt, als ich das in meiner Dissertation gesehen hatte. Vgl. K. P., Sprachskepsis und Sprachmagie im Werk des jungen Hofmannsthal. Zürich: Atlantis 1958. — Die frühen Aufsätze sind stark von Nietzsche geprägt. Durch diesen scheint H. schon sehr bald auch zu Schopenhauer gelangt zu sein. Der Name fällt im Aufsatz über Amiel zum ersten Mal. PIS. 30. Im weiteren drängt Schopenhauer Nietzsche mehr und mehr zurück. Man gewinnt den Eindruck, H. sehe auch Nietzsche von Schopenhauer her. — Schopenhauers Bedeutung betont nachdrücklich Gotthard Wunberg, Der frühe Hofmannsthal. Schizophrenie als dichterische Struktur. Stuttgart/etc.: Kohlhammer 1965 (Sprache und Literatur 25). Wunberg diskutiert auch den Einfluß Nietzsches und zitiert die einschlägige Literatur. Seine Grundthese, es bestehe ein enger Zusammenhang zwischen H. und Ernst Mach, veranlaßt ihn jedoch, die Bedeutung Nietzsches und Schopenhauers für H. abzuwerten, ohne daß freilich seine brüchige Brücke zu Mach an Tragfähigkeit gewinnt. Die von Wunberg S. 88 angeführte Äußerung Kassners, „Nietzsche hatte ihn [H.] nie beschäftigt oder gar be¬ unruhigt“, ist heute eindeutig widerlegt. 19 GLD S. 261. Dieser Fluch widerspricht jedoch der frommen Haltung, die der 289

19

Pestalozzi, Lyrisches Ich

läufiges Fluchwort wie frühere Jahrhunderte den Namen Gottes. Die selbstverständliche Identität von Gott und Selbst zeigt sich etwa auch darin, daß Loris in einem Brief an Karg von Bebenburg leichthin schreibt: „In sich selber verliebt“, ich mein halt ins Leben, oder wohl auch in Gott, wie man will.20 Stand es somit für Hofmannsthal von Anfang an fest, daß Gott zum innermenschlichen Absoluten geworden war, so ging es ihm als Dichter um so dringlicher darum, sich dessen zu versichern, Gleichnisse und Analogien dafür und für das Verhältnis von Ich und Selbst zu finden. Insofern enthält der Novellen-Plan, den das Paracelsus-Zitat auslöste, in nuce Hofmannsthals dichterisches Programm: Wien, 6. VI. — Gedanke. Eine Novelle, deren Held sich sucht, jenes große Ich, „das nicht in uns wohnet und seinen Stuhl in die oberen Sterne setzt“; eine Geschichte, die ihren Schwerpunkt in der transzendentalen Welt hätte. Ekstatische Momente der Erhöhung (Ergreifen des Genius), Momente der Verlassenheit, auch ein Be¬ schleichen und ahnendes Schauen, wie Aktäon durch die Büsche die Schönheit der Göttin beschleicht.21 Am Beispiel des „Reiseliedes“ soll untersucht werden, auf welche Weise Hofmannsthal die Erhebung zum „großen Ich“ dichterisch zu gestalten und damit dieses sprachlich offenbar zu machen unternahm. „Reiselied“ hat eine faßbare Erlebnisgrundlage, auf die der Titel noch anspielt. Im Sommer 1898 unternahm Hofmannsthal mit Arthur Schnitzler zusammen eine Radtour in die Schweiz. In Montreux trenn¬ ten sie sich. Hofmannsthal überquerte nach einem kurzen Abstecher nach Zermatt und zum Gornergrat mit seinem Fahrrad den Simplon. In der Schilderung, die er in einem seiner täglichen Briefe an die Eltern gibt, ist deutlich der Eindruck zu erkennen, auf den sich die erste Strophe des Gedichts bezieht: Ich hab’ geglaubt, daß das so ähnlich ist wie der Brenner, es ist aber absolut nicht zu vergleichen, sondern von einer unbeschreiblichen Großartigkeit. Abgründe, in die man ganze Bergketten hineinwerfen könnte, Gletscher, bis an die Straße herab, Schutzdächer, über die

20 21

Kaiser am Schluß des Stückes einnimmt. Er könnte also auch Zeichen der Gottverlassenheit sein, solange der Kaiser im Bann der Hexe steht. Hofmannsthal-Karg von Bebenburg BW S. 83 A S. 121. Stern weist a.a.O. mit Recht auf den platonischen Aspekt des Ak¬ täon Mythos hin. Einige der hier angedeuteten Motive sind in „Der Kaiser und die Hexe“ eingegangen. Porphyrogenitus sucht durch das Wegziehen von Hindernissen (Büsche, Vorhang, Ranken etc.) zur Hexe zu gelangen.

290

das Wasser herunterschäumt, und nach rückwärts riesige Bergketten und sich kreuzende, mit Schatten erfüllte Täler. Es war noch schöner dadurch, daß sich große finstere Wolken zusammengezogen haben. Wie ich fast oben war, — oben ist ein Hotel — hat es zu dunkeln und stark zu regnen angefangen (21. [8. 98]).22 Von der Simplonpaßhöhe ging die Fahrt hinunter nach Domodossola, von da per Eisenbahn und Dampfschiff nach Lugano, wo Hofmannsthal im Hotel du Parc abstieg. Über die südliche Landschaft berichtete er er wiederum an die Eltern: Jetzt geh’ ich mit einem Band Goethe in der Hand ganz oder wenigstens halb heiter herum, mache kleine Fahrten mit dem Dampf¬ schiff und Spaziergänge an den Ufern, die ein bissl an den Wolfgang¬ see erinnern, — nur freilich lieblicher und wieder ernster, in doppel¬ tem Sinn reicher, — vormittags und abends wieder nach dem Diner. Es gibt kleine Felsenstiegen an den steilen Ufern, zwischen gut¬ riechendem Gebüsch, dann wieder unter Weinlauben mit unzähligen raschelnden Eidechsen und schwirrenden Libellen und Schmetterlin¬ gen. Unten liegt dann der See manchmal grau wie eine angehauchte Eisenklinge, manchmal blau mit smaragdgrünen Reflexen wie TiffanyGlas (24. [8. 98]).23 Unter meinem Balkon in der Nacht das schönste Schimmern und Blinken des Sees, im Garten ein Platz zum Arbeiten unter den dichtesten, größten Bäumen und immer ein leichter Wind vom See her — ich bin sehr zufrieden (30. [8. 98]).24 In dieser Umgebung entstand am 21. und 22. August das „Reiselied“, das erst „Alpenübergang“ oder „Alpenstraße nach Italien“ heißen sollte25. Es gestaltete

die

Hauptstadien

der Reise

nach zu

dem

Ort hin,

an dem es entstand, und typisierte zugleich „die Alpenlandschaft als Urnatur, die Po-Ebene als die Sphäre gesegnetster Zivilisation“. Die starken Vögel werden in diesem Zusammenhang zur Mythisierung des Fahrrads. 22 23 23

Briefe I S. 260. Zur Chronologie vgl. Günther Erken, Hofmannsthal Chro¬ nik. Literaturwiss. Jb. der Görres-Gesellschaft N. F. 3, 1962. S. 239—313 A.a.O. S. 263 24 A.a.O. S. 265 Ich verdanke Prof. Eugene Weber, Harvard, dem Bearbeiter der Chronologie der Gedichte Hofmannsthals, durch die freundliche Vermittlung von Prof. Martin Stern den Einblick in die Entwürfe zum „Reiselied“. Sie tragen die genannten Daten. Vgl. auch E. W., A Chronology of Hofmannsthal’s Poems. Euphorion 63, 1969. S. 321

291

19*

Den Interpreten26 fiel jedoch nicht so sehr der Erlebnisgehalt des Gedichtes auf. Sie interessierten sich vielmehr für seine Nähe zu Goethes Italiengedicht „Kennst Du das Land . . Die Anklänge sind mit Hän¬ den zu greifen, und so wurde „Reiselied“ teilweise als eine Kontrafaktur der Mignonballade gedeutet. Tatsächlich verbietet es gerade die offen¬ sichtliche Nähe zu Goethe, in „Reiselied“ ein Erlebnisgedicht im Goetheschen Sinne zu sehen, und es stellt sich die Frage, wie sich persönliches Erlebnis und Nachbildung eines vorgegebenen Modells hier vereinbaren. In dieser Frage ist die anfangs skizzierte Problematik des Ich ins Dich¬ tungstheoretische gewendet. Das Gedicht kann als Antwort darauf ge¬ nommen werden. Reiselied Wasser stürzt, uns zu verschlingen, Rollt der Fels, uns zu erschlagen, Kommen schon auf starken Schwingen Vögel her, uns fortzutragen. Aber unten liegt ein Land, Früchte spiegelnd ohne Ende In den alterslosen Seen. Marmorstirn und Brunnenrand Steigt aus blumigem Gelände, Und die leichten Winde wehn.27 Die erste Strophe enthält auf paradigmatische Weise den Gegensatz von Fall und Erhebung, der zur Aufschwungmotivik gehört. Er ist zu einem geschlossenen Kräftespiel ausgestaltet. Die nicht näher bestimmten „wir“ sehen sich unmittelbar der Aggression durch Wasser und Fels, die auf sie hinabstürzen, ausgesetzt. Wasser und Fels sind untereinander 26

An Interpretationen lagen mir vor: Alfredo Dornheim, Das „Reiselied“ Hugo von Hofmannsthals: eine hyperboreische „Mignon-Landschaft“. Euphorion XLIX, 1955. 1, S. 50—55. — Josef Fick, Hugo von Hofmannsthal „Reiselied“. Der Deutschunterricht 5, 1953. 4. S. 29—33. — Curt Freiwald, Hugo von Hofmannsthals Landschaftserlebnis in seiner dichterischen Gestalt. Diss. Kiel 1932. S. 108/9. — Herbert Lehnert, Hofmannsthal, „Reiselied“, In: Struktur und Sprachmagie. Stuttgart/etc.: Kohlhammer 1966 (Sprache und Literatur 36). S. 90—99. — Franz Norbert Mennemeier, Die Gedidite Hugo von Hofmannsthals. Diss. Münster 1948- S. 9° f* — Paul Requadt, Die Bildersprache der deutschen Italiendichtung von Goethe bis Benn. Bern/ München: Francke 1962. S. 22 f.

27

GLDS. 11

292

Gegensätze. Das wird durch den verschiedenen Artikelgebrauch ange¬ deutet, und gegensätzlich ist auch ihre Bewegungsart: die des Wassers ist gerichtet, der Fels dreht sich. Als Flüssiges und Festes sind sie aber auch zueinander komplementär. Der Chiasmus, in dem sie zunächst zu¬ einander stehen, weicht in den zweiten Zeilenhälften einem Parallelis¬ mus. Sie fügen sich zu einer Totalität zusammen in der Gefahr, die sie für „uns“ bilden. Die Doppelheit macht sie unausweichlich wie Scylla und Charybdis. Die aggressive Bedrohung, welche von der Natur in Gestalt von Wasser und Fels ausgeht, empfinden „wir“ als tödlich. Da¬ bei ist in der Formulierung als infinitivischer Nebensatz die noch aus¬ stehende Zukunft fast schon gegenwärtig. Angesichts der Gefahr antizi¬ pieren „wir“ den Tod. Das Gebirge erweist sich als „locus terribilis“, an dem sich die Natur auf den Menschen stürzt, um ihn zu vernichten. In den Vögeln hält sie noch eine dritte Gefahr bereit. Der Aufbau der Strophe ordnet sie Wasser und Fels gleich. Man kann an Raubvögel denken, die es auf die in Aussicht stehenden Kadaver abgesehen haben. Daß das Auftauchen der Vögel die drohende Vernichtung der „wir“ durch Wasser und Fels zur Voraussetzung hat, ergibt die syntaktische Konstruktion: die Inversion der zweiten Zeile, welche mit der ersten zusammen den Chiasmus er¬ gibt, gibt im Hinblick auf das folgende der ersten Strophenhälfte kon¬ ditionale Bedeutung, sie steht für einen „wenn“-Satz. Die Abfolge be¬ kommt so den Anschein einer Gesetzmäßigkeit. Dazu passen auch das generalisierende Präsens und der Plural der ersten Person. Mit „schon“ in der dritten Zeile kommt zum konditionalen ein temporales Moment hinzu. Die Vögel erscheinen fast gleichzeitig mit den Elementen. Sie haben nicht nur den Sturz von Wasser und Fels zur Voraussetzung, son¬ der ebenso die Angst erregende Antizipation des Todes im Bewußtsein der Betroffenen. Sie sind somit, anders als die Elemente, auch eine psychische Realität. Es eignet ihnen etwas Märchenhaftes. In der Anti¬ zipation des Todes wird das Bewußtsein erhoben. Es objektiviert diese Empfindung in den Vögeln, die „uns“ fortzutragen kommen. Wie die Entwürfe zeigen, hat Hofmannsthal zwischen „forttragen“ und „weg¬ tragen“ geschwankt. Der Unterschied zwischen beiden liegt in der Stil¬ höhe, aber auch in der Bedeutung, „weg-“ betont mehr das absetzende, privative Moment, „fort-“ impliziert ein Ziel. So kommen die Vögel auch als Retter, die „uns“ anderswohin bringen werden. Das vermögen sie, weil sie nicht der Schwerkraft unterstehen, sondern sich aus eigener Kraft in der Luft bewegen. Dadurch können sie Wasser und Fels die 293

Waage halten. Sie kommen als Retter, aber da ihr Auftauchen den be¬ vorstehenden Tod zur Voraussetzung hat, retten sie nicht vor dem Tod, sondern im Tod. Mit ihnen enthüllt der Tod einen neuen Sinn. Er vernichtet und entrückt zugleich. Diese Doppelfunktion erfüllt er bereits, indem er antizipiert wird. Vernichtung und Entrückung ereignen sich im Bewußtsein, der Tod bezeichnet somit dessen Verwandlung. Im Gebirge wenden sich die Elemente vernichtend gegen den Men¬ schen. Indem sie ihn aber mit dem Tod bedrohen, erwecken sie in seinem Bewußtsein die Fähigkeit, sich von dem unmittelbaren Gefühl der Be¬ drohung zu lösen und sich von der Empirie, die es verursacht, hinweg, anderswohin tragen zu lassen. Es ist die elementare Bedrohung, die die Bewußtseinswandlung auslöst. Sowohl für Wasser und Fels als auch für die Vögel sind „wir“ Objekt. So ist selbst die Erhebung über die elemen¬ tare Sphäre durch den vorweggenommenen Tod ein bedingtes Gesche¬ hen. Eben darum kann sie nach Art eines Gesetzes formuliert werden. Dieses Gesetz ist kein anderes als das des dynamisch Erhabenen28, nach dem furchterregende Naturphänomene im Menschen höhere Seelen¬ kräfte wecken. Unter den Beispielen aus der Natur führen Kant29 und Schopenhauer30 drohende Felsmassen und Sturzbäche an. Aber im „Reise¬ lied“ werden sie nicht nur betrachtet, „wir“ sind ihnen unmittelbar aus¬ gesetzt. Der elementaren Bedrohung antwortet eine um so höhere innere Erhebung. Sie führt in andere Bereiche als bei Kant und Schopenhauer. Die Strophe bereitet offensichtlich einen Moment der Erhöhung vor, in dem der Mensch für Hofmannsthal seines „großen Ich“, d. h. seines Selbst, inne wurde. Am Schluß der Strophe besteht die Erwartung, daß die angekündigte Erhebung unmittelbar bevorstehe. Umso überraschen¬ der ist es, wie die zweite Strophe einsetzt. Deren erste Zeile erweckt den Anschein, als bleibe das Erwartete aus und werde lediglich der gefähr¬ lichen Bergwelt ein arkadisches Tiefland entgegengehalten. Dieses Ver¬ ständnis stellt jedoch den formalen Aufbau des Gedichts nicht mit in Rechnung. Das Gedicht besteht aus zehn vier-hebigen trochäischen Zeilen. Vers¬ maß und Zeilenzahl legen nahe, darin eine Dezime zu sehen, an deren Verwendung in der Glosse auch die sinnmäßig abgesetzte Schlußzeile er28

Das Erhabene hat eine Diskrepanz von Ich und Welt zur Voraussetzung. Insofern gehört die Erhebensmotivik in seinen Umkreis. Die etymologische Verwandschaft ist durchaus auch eine der Sache.

29 30

Kant, Kritik der Urteilskraft § 28 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. 1. Bd S. 241

294

innert. Doch sprechen Druck, Anordnung und Reimschema dagegen. Die Gliederung in ein Quartett und zwei Terzette, die abab cde cde gereimt sind, weist auf das Sonett, zu dem jedoch ein Quartett fehlt. Keine der in Frage kommenden Gedichtformen ist rein erfüllt. Das Gedicht macht sich in einer Art Kontamination Bruchstücke aus beiden zunutze. An der Sonettform gemessen fehlt dem Gedicht der Anfang. Es setzt denn auch völlig unvermittelt ein, grammatisch ohne Artikel, metrisch ohne Auftakt. Dadurch, daß sogleich von „stürzen“ die Rede ist, wird auch das Moment des Fallens, das im Trochäus liegt, deutlich herausgestellt. So kommt das Inchoative und Aggressive des Anfangs zustande. Das Ende des Gedichts erhält seine Akzentuierung einerseits von der Dezime. Doch auch dem Sonett wohnt ein Zug auf das Ende hin inne. Und zu¬ sätzliches Achtergewicht bekommt das Ganze aus der fragmentarischen Form dadurch, daß die Terzette im Gegensatz zu den Quartetten voll¬ ständig sind. In ihnen vollendet sich, was fragmentarisch begann. Das französische Sonett verlangt zwischen Quartetten und Terzetten einen Einschnitt. Dieser hat die Funktion eines Doppelpunktes: er schließt das Vorausgegangene ab und leitet zum folgenden über als ein Hiatus, der mit stummer Bewegung erfüllt ist. Diese Forderung ist in „Reise¬ lied“ im Wechsel des Reims, der Kadenz und des Tones realisiert. Das deutet darauf hin, daß sich die Bewegung, die sich in der ersten Strophe anbahnt, im Übergang zur folgenden vollzieht. In der Pause ereignet sich die durch die bevorstehende Vernichtung ausgelöste Erhebung. Diese Bewegung besteht, wie gezeigt wurde, in einer Abwendung des Bewußt¬ seins von der erlebbaren Empirie kraft der antizipierten Vernichtung und der Hinwendung zu einem Bereich, der jenseits dessen liegt. Sie geschieht in einem Augenblick. Dieser augenblickliche Tod ist als Aus¬ setzen der Sprache gestaltet. Daß sich in dieser Pause dennoch etwas ereignet, wurde durch die Anspielung auf die Sonettform darstellbar31. Die ersten beiden Strophen des Gedichts bilden gewissermaßen die Randstücke um diese bewegte Pause herum, in der der Aufschwung statt¬ findet. „Aber“, mit dem die zweite Strophe einsetzt, bezieht sich somit nur mittelbar auf die erste. Zunächst antwortet es auf die Pause. Indem es sich davon absetzt, bestätigt, ja artikuliert es ihren imaginären Gehalt. 81

Die Entwürfe lassen erkennen, daß H. erst ganz zum Schluß zu dieser Zeilenanordnung kam. Ursprünglich war als Reimschema vorgesehen ababcdcdee. Die Deutung als rudimentäres Sonett bestätigt Lehnert a.a.O., S. 99. Der Hinweis auf die Dezime bei Freiwald S. 108. 2 95

V

Das Terzett, das es einleitet, setzt in Ton und Gehalt voraus, daß sich zwischen ihm und dem Quartett etwas Entscheidendes gewandelt hat. Die Veränderung zeigt sich am Rhythmus. Die wilden Unregelmäßig¬ keiten des Quartetts sind ausgeglichen. Die Sprache fügt sich dem Schema von Metrum und Strophe. Die Zeilen sind ungebrochen, die Sinneinhei¬ ten decken sich mit ihnen. Das trochäische Grundmaß tritt bestimmend hervor: mehr als die Hälfte aller Wörter sind zweisilbig mit einem un¬ betonten e in der zweiten Silbe. Die Syntax ist klar und übersichtlich. In Land und Seen, die unten liegen, sind die Elemente Wasser und Fels aus dem Gebirge erkennbar. Doch hat sich ihre Gestalt geändert. Die aggressive Dynamik ist friedlicher Ruhe gewichen. Man kann sich zwischen diesen Polen eine Entwicklung denken, wie sie Goethes Sonett „Mächtiges Überraschen“ beschreibt, wo der stürzende Fels den Fluß zum See aufstaut, in dem die Sterne sich spiegeln. Es ist ein Zustand erreicht, in dem die Bewegung, die ihn herbeigeführt hat, nicht zu seiner Auflösung weiterschreitet. Da die Entwicklung ihr Ziel erreicht hat, steht die Zeit still. Sie ist erfüllt. Die Landschaft steht somit im Zeichen des Endes, das Abschluß und Erfüllung bedeutet. Sie repräsentiert die Welt im Stadium der Voll¬ endung. Insofern hat nun doch das Land unten einen Bezug auf die Gebirgslandschaft. Beide gehören zusammen als Anfang und Ende. Dabei erweist sich das Ende als Ziel. Indem Wasser und Fels nach unten stür¬ zen, erfüllen sie ihre Bestimmung. Das Gefälle verläuft von der elemen¬ taren Natur zur Kultur. Diesem Prozeß fehlt jedoch die Phase des Übergangs. Sie wurde oben mit dem Hinweis auf „Mächtiges Überraschen“ vorschnell interpoliert. Anfang und Ziel sind durch das Präsens und die Art seiner Verwendung geradezu synchronisiert. Was dazwischen stattgefunden hat, ist die cha¬ rakterisierte Veränderung im Standort des Betrachters. Durch diese räumliche Verschiebung ist die zeitliche bedingt. Im Zustand der Voll¬ endung erscheint die Welt dem Blick aus der Vogelschau. Der erhobene Standort ergab sich daraus, daß „wir“ den Tod vorwegnehmen. Dem vorweggenommenen Ende korrespondiert damit die vorweggenommene Vollendung der Welt. Wie aber auf der Subjekt-Seite die Antizipation, ein zeitlicher Vorgang, sich räumlich auswirkt als Bewegung nach oben, so liegt entsprechend das vollendete Land unten. Die vollendete Land¬ schaft verhält sich zum Gebirge wie die Tiefe zur Oberfläche. Hinter der Bewegtheit und dem chaotischen Gegeneinander eröffnet sich dem durch den Tod vermittelten Blick aus der Höhe die dauernde Harmonie. 296

Dem entspricht der Umstand, daß das Metrum, welches dem unruhigen Rhythmus des Quartetts zugrunde liegt, im ersten Terzett rein zum Vorsdiein kommt. Im Zentrum dieser Landschaft steht die Spiegelung. In ihr treffen die Gegensätze des Flüssigen und Festen zusammen. Früchte und Seen sind gleicherweise Ergebnisse von Prozessen. Doch sind die Seen nicht mehr als gewordene erkennbar, während die Früchte aus dem Jahres¬ lauf hervorgehen. Die Spiegelung nivelliert diese Differenz. Das Ephe¬ mere wird im Alterslosen gespiegelt. Es gleicht sich ihm an. Das be¬ deutet, daß sich der Schein von ihm ablöst und selbständig wird. So entsteht Schönheit auf Kosten der Lebendigkeit. Dieser Spiegelungs¬ vorgang entspricht insofern dem durch den Tod gewonnenen Standort in der Flöhe, als auch, in ihm eine Mortifizierung stattfindet. Die Spiegelung ist ohne Ende. Man kann sie sich als Spiel von vielfachen Reflexen denken. Dadurch, daß die Seen „alterslos“ heißen, wird auch bei ihnen angedeutet, daß sie in einem Verhältnis zur Zeit stehen, obwohl sie im Vergleich mit den Früchten zeitlos erscheinen. Das gilt auch für den schönen Schein auf ihrer Oberfläche. Quartett und erstes Terzett enthalten somit zwei entgegengesetzte Zustände des Bewußtseins und der Landschaft. Im Quartett sind „wir“ der feindlichen Natur unmittelbar ausgesetzt, was zur Erhebung führt. Im Terzett besteht zwischen „uns“ und der Welt größte Distanz. Dort ergibt sich aus der Gegnerschaft zu den Elementen ein reflexives Bewußt¬ sein, das die Bedrohten „uns“ sagen läßt. Hier ist das Personalpronomen verschwunden, „wir“ sind nur indirekt als Blickpunkt im Bild der arka¬ dischen Landschaft^ enthalten. Die Pveflexion erscheint zur Spiegelung objektiviert. Die Landschaft der ersten Strophe ist erhaben, die der zwei¬ ten schön. Dazu eben sind Aufschwung und reine Betrachtung die korres¬ pondierenden Haltungen. Diese Entgegensetzung verläuft in einer unumkehrbaren Abfolge. Aus der Unmittelbarkeit geht die Erhebung hervor, diese ist die Vor¬ aussetzung für den Blick aus der Vogelschau. Und in der Landschaft sind die Seen der Endpunkt des von den Bergen herabstürzenden Was¬ sers. Doch die Abfolge ist diskontinuierlich. Wie zwischen stürzendem Wasser und See das Mittelglied fehlt, besteht auch zwischen dem Kommen der Vögel und dem Blick aus der Vogelschau eine Lücke. Diese ausge¬ sparte Phase nimmt der Aufschwung ins ineffabile ein. Die Pause nach der vierten Zeile macht die Bedeutung dieses Gedichts aus32.

32

Die Besonderheit des Gedichts tritt klar hervor, wenn man es mit der in

2 97

\

Die zweite Pause, zwischen den Terzetten, hat eine andere Funk¬ tion. Die Bewegung, die das erste Terzett mit seiner Abfolge der Reime einleitet, wird vom zweiten aufgenommen. Dieses ist die Fortsetzung des ersten, und zwar im Sinne einer Weiterführung. In ihm kommt das Gedicht als Ganzes an sein Ende. Zugleich entsteht jedoch der Eindruck eines Neuanfangs, durch die neuerliche Nennung des Landes in „Ge¬ lände“, das Adjektiv „blumig“, das auf „Früchte“ folgt, das Aufkommen einer leichten Bewegung mit den Verben „steigt“ und „wehn“. Der Ton hat sich nochmals geändert. Zwar bestehen Getragenheit und Ausge¬ glichenheit weiter. Aber das Metrum ist wieder verhüllter, der Rhythmus lebendiger. Lehnert hat bemerkt, daß in den dreisilbigen Wörtern „Marmorstirn“ und „Brunnenrand“ die Kola — u — aus der ersten Strophe anklingen33. Die Schlußzeile „und die leichten Winde wehn“, mit der der Leser entlassen wird, bezieht indirekt die Betrachter wieder mit ein. Voraus gingen lauter optische Eindrücke. Doch schon das Steigen von Marmor¬ stirn und Brunnenrand erweckte den Eindruck, als kommen die Betrach¬ ter etwas aus der Flöhe herab. Darauf deutet auch der taktile Eindruck des Wehens. Die Situation der ersten Strophe, wo das Fallen der Ele¬ mente zum Steigen der „wir“ führte, ist damit umgekehrt. Alles das deutet darauf hin, daß sich die Gegensätze der ersten beiden Strophen in der dritten annähern. „Wir“ kehren aus der jensei¬ tigen Ferne in den Bereich der Welt zurück, diese hat ihre Gegnerschaft verloren. Unmittelbarkeit und Betrachtung, Erhabenheit und Schönheit treffen sich in einer Mitte. Das heißt, daß die dritte Strophe der ersten Pause entspricht. Sie unternimmt es zu gestalten, was dort unartikuliert

Motiv und Aufbau verwandten Strophe aus „Das Ideal und das Leben“ vergleicht: Aber der, von Klippen eingeschlossen, Wild und schäumend sich ergossen, Sanft und eben rinnt des Lebensfluß Durch der Schönheit stille Schattenlande, Und auf seiner Wellen Silberrande Malt Aurora sich und Hesperus. Aufgelöst in zarter Wechselliebe, In der Anmut freiem Bund vereint, Ruhen hier die ausgesöhnten Triebe,

33

Und verschwunden ist der Feind. Vgl. S. 91 dieser Arbeit. Lehnert a.a.O. S. 96

298

blieb. Wenn ihr das gelingt, hätte jener höchste Augenblick der Offenbarung des „großen Ich“ eine Möglichkeit der Darstellung gefunden. „Marmorstirn“ und „Brunnenrand“ verweisen nicht nur rhythmisch auf den Anfang. In ihnen haben Wasser und Fels nochmals neue Gestalt angenommen. Diese Veränderung ist tiefgreifender Art. Aus Natur sind sie Kunst geworden. Ihre Verbindung mit „und“, die Vereinigung in einer Zeile und das gemeinsame Verbum machen die im Spiegelungs¬ vorgang teilweise verwirklichte Zusammenführung der Gegensätze end¬ gültig. Und indem sie das Material für Menschliches abgeben, ist auch die Gegnerschaft zwischen ihnen und „uns“ aufgehoben. In der Vorstufe lautete diese Zeile „Marmorstirn und Marmorhand“. Das evozierte eine klassische Statue. Das ist erstaunlich, denn die klassi¬ sche Kunst hat zur Voraussetzung, daß sich das Wesen des Menschen mit seiner Erscheinung zur Deckung bringen lasse. Das Gedicht hatte bisher das Auseinandertreten beider zum Thema, das so radikal war, daß dafür der Tod einstehen konnte. Soll in dieser Strophe die erste Pause eine Formulierung finden, die ihr adäquat ist, so darf hier nicht ein klassisches Kunstwerk stehen. Die Ersetzung von „Marmorhand“ durch „Brunnenrand“ verwischt und polarisiert die eindeutige Assozia¬ tion. Neben das Nur-menschliche tritt etwas Dingliches, neben das Abge¬ schlossene eine Öffnung, neben das Oben ein Unten. Der schöne Brunnen, um den es sich nach Lehnert handelt, ist durch Metonymien vergegen¬ wärtigt, Teile stehen für das Ganze34. Es geht jedoch, genau genommen, nicht um eine metonymische Evokation eines klassischen Kunstwerkes, sondern um metonymische Kunst. Marmorstirn und Brunnenrand sind klassische Bruchstücke, wie sie zur Staffage arkadischer Landschaften gehören. Sie repräsentieren eine Kunst, welche durch die Vernichtung hindurch gegangen ist, ja diese in sich aufgenommen hat. Bezeichnender¬ weise handelt es sich bei Stirn und Rand um Begrenzungsstücke. Sie bil¬ den Übergänge zwischen Gestaltetem und Nichtgestaltetem. In ihnen ist jener Zeitpunkt ins Räumliche transponiert und damit verewigt, den der Tod, der Ende und Anfang zugleich ist, markiert. Die Zusammenstellung „Marmorstirn und Brunnenrand“ läßt sich sogar noch spezieller als Anspielung auf Erkennen und Unmittelbarkeit deuten. Der Todesaugen¬ blick wird somit in einer Gestaltung darstellbar, die ihre eigene Vernich¬ tung miteinbezieht, in fragmentarischer Kunst, die schön und erhaben zugleich ist. Diese fragmentarische Kunst, welche die Gegensätze zu-

34 A.a.O. S. 95 2 99

V

sammenführt, ohne sie aufzuheben, steht ihrerseits wieder in Antithese zur Natur, die sie als blumiges Gelände umgibt. Die Schlußstrophe bringt somit nur die größtmögliche Annäherung der Gegensätze. Sie werden nicht versöhnt. Als Widersprüche verweisen sie auf das unaussprechbare Dritte, das sie überwölbt. Damit ist ledig¬ lich in ein simultanes Verhältnis getreten, was im Ablauf des Gedichtes aufeinander folgte. Die dritte Strophe reflektiert das Gedicht als ganzes. Das aber bedeutet wiederum, daß die vorausgehenden Strophen die Stadien der Entstehung des Gedichtes selbst bezeichnen. Das hat metho¬ disch zur Folge, daß seine eigene Gestaltung das Exempel dessen, was es sagt, darstellt. Die erste Strophe stellt im Erlebnis der Bergwelt das Erleben selber dar, bei dem die Außenwelt unmittelbar auf „uns“ mit momentaner Plötzlichkeit eindringt. „Wir“ sind ihr ausgesetzt und reagieren unwill¬ kürlich mit einem erhabenen Gefühl. Das Erlebnis selbst erzeugt aus sich die Möglichkeit, sich ihm zu entziehen. Die unmittelbare Plötzlich¬ keit impliziert Vergänglichkeit. Die Zeitlichkeit des Erlebnisses führt zu jener Distanznahme, die es aus verändertem Standpunkt anders erschei¬ nen läßt. Dem Blick von oben zeigt sich die Spiegelung des Jüngstvollendeten im Längstvergangenen. Das unmittelbare Erlebnis, betrachtet man es ex post, erscheint im Bezugssystem vorgebildeter und vorgeformter Modelle. Es erweist sich als Nachvollzug von Gewesenem. Seinen Alpenübergang verstand Hofmannsthal offensichtlich von Goethe aus, von dem er einen Band im Reisegepäck bei sich hatte. Er reiste im Nachvollzug85 des Goetheschen Vorbildes, wie es die Dichtun¬ gen und Reiseberichte aufbewahrten. Später, anläßlich seiner Sizilien¬ reise36, erläuterte Hofmannsthal dieses Verhältnis ausführlich. Daß es ihn schon in Lugano beschäftigte, bezeugen die gleichzeitig mit dem „Reiselied“ entstandenen Epigramme, die das Verhältnis von Natur und Kunst behandeln. Eines davon heißt „Spiegel der Welt“ und lautet: „Einmal schon kroch ich den Weg“, im Mund eines schlafenden Königs Sprachs der gesprenkelte Wurm. — „Wann?“ — In des Dichters Gehirn.37 35

Den Begriff des „Nachvollzugs“ und die Aufmerksamkeit auf die damit zusammenhängende Problematik verdanke ich dem außerordentlichen Vor¬ trag von Thomas Mann „Freud und die Zukunft“. Ges. Werke. Frankfurt: Fischer i960. Bd IX

36

„Sizilien und wir.“ P IV S. 284—290

300

37

GLD S. 90

Daß das Leben die Rolle spielt, die ihm die Dichtung vorgezeichnet hat, hat in „Reiselied“ nicht diese absolute Bedeutung. Es ist ein Aspekt, der eine Position außerhalb des Erlebnisses zur Voraussetzung hat. Als Spiegelungsverhältnis verstanden, büßt das Leben seine Zeitlichkeit und damit seine Lebendigkeit ein. Dafür wird es gestaltbar. So wird einsichtig, weshalb im Gedicht auf die Spiegelungsstrophe die Erwäh¬ nung der Kunstgebilde folgt. Auf „Reiselied“ selbst angewandt, heißt das, daß für Hofmannsthal der Alpenübergang dadurch zum Gedicht werden konnte, daß er ihn als Spiegelung von Goethes „Italienischer Reise“ resp. des Mignonliedes sah38. Das kommt in den Goethereminiszenzen des Gedichts zum Aus¬ druck. Außer den Anspielungen auf die Mignon-Ballade in der ersten Strophe, fand man in den spiegelnden Früchten eine an das Gedicht „Auf dem See“39. Diese Elemente aus verschiedenen Epochen von Goethes Lyrik sind auf den Diwan- Ton gestimmt. Er klingt im vierfüßigen Trochäus an und in folgenden rhythmischen und wörtlichen Übernahmen: Wasser stürzt... Kommen schon auf starken Schwingen

Wasser wird sich ballen Ach um deine feuchten Schwingen

Aber unten liegt ein Land

Aber uns ist wonnereich

Marmorstirn und Brunnenrand

Frühlingshauch und Sommer¬ brand An des lustgen Brunnens Rand

Steigt aus blumigem Gelände Und die leichten Winde wehn

Nord und südliches Gelände Doch dein mildes sanftes Wehen40

Hofmannsthal verfährt somit in diesem Gedicht so, wie er es an Georges Gedichten beschrieben hat: Es wird niemandem ein gewisses Verhältnis der „Hirten- und Preisgedichte“ zu den Alten (und mehr zu dem Tone des Tibull und Horaz als dem der Griechen), ein gewisses Verhältnis der

38 39

Zu den Bezügen zur Mignon-Ballade vgl. Dornheim und Requadt a.a.O. Lehnert a.a.O. S. 95

40

Die Diwan-Verse entstammen, in dieser Reihenfolge, den folgenden Ge¬ dichten: „Lied und Gebilde“, „Suleika“, „Lied und Gebilde“, „Hatem“, „An des lustgen Brunnens Rand . ..“, „Talisman“, „Suleika“.

301

„Sagen und Sänge“ zu dem Tone der Deutschen des 13. Jahrhunderts entgehen. Auch wird hier die giebelige Stadt, die Kapelle, die beblümte Au der Miniaturen sparsam angedeutet, wie dort das Ent¬ sprechende in der Art der geschmückten Krüge. Nur ist dieses Ver¬ hältnis nicht stärker herbeigezogen, als es für Menschen später Ge-^ schlechter ganz unaufdringlich und selbstverständlich in den Land¬ schaften, den ererbten inneren Zuständen und äußeren Manieren zu liegen scheint. Wir sind von vielfältiger Vergangenheit nicht loszu¬ denken. Aber freilich ebensowenig in eine bestimmte Vergangenheit hineinzudenken. Hier wird der Takt eines Künstlers alles entschei¬ den: das Widerwärtigste und der feinste Reiz scheinen hier durch¬ einander zu liegen. Wir geben uns kaum Rechenschaft darüber, wie¬ viel von dem Zauber eines jeden Tones diese mitschwingenden Ober¬ töne ausmachen, dieses Anklingen des früheren herben im späten milden, des kindlichen im feinen, dieses Mitschwingen des Homer in den späten Griechen, der Griechen in den Römern, dieser Abglanz der Venus in den Bildern von christlichen Heiligen. Und sind nicht die Antike Goethes, die Antike Shelleys und die Antike Hölderlins drei so seltsam verwandt-geschiedene Gebilde, daß es einen traumhaften Reiz hat, sie nebeneinander zu denken, wie die Spiegelbilder dreier sehr seltsamer Schwestern, in einem stillen Wisser, am Abend?41 Dieser Passus unterstreicht, daß die Ausrichtung an Mustern aus der Vergangenheit von Hofmannsthal nicht als nachträgliche Stilisierung des Gegenwärtigen auf gef aßt wurde. Die Vergangenheitsbezüge sind in den „inneren Zuständen und äußeren Manieren“ selbst enthalten. Das Gedicht verfährt somit gerade, indem es stilisiert, realistisch in einem psychologischen Sinne. -— Für die Deutung der zweiten Reise¬ liedstrophe ist ferner bedeutsam, daß dieses Verhältnis von Gegen¬ wärtigem und Vergangenem als Spiegelung des Jüngeren im Älteren erscheint. In einer Notiz im „Buch der Freunde“ wird dieses Bild noch genauer ausgeführt: Betrachtet man die Wielandsche Auffassung der Antike und die Nietzschesche

nebeneinander,

ebenso

die von Winckelmann

und

von Jacob Burckhardt, so erkennt man, daß wir etwa noch mehr als die andern Nationen die Antike als einen magischen Spiegel behan-

41

PIS. 290

302

dein, aus dem wir unsere Gestalt in fremder, gereinigter Erscheinung zu empfangen hoffen.42 In „Reiselied“ ist Goethe der magische Spiegel. Diese Wahl hat im Spiegelungsverfahren selbst ihre Rechtfertigung, denn auch Goethes Dichtung ist eine vergangener Form sich nähernde, zumal im „Diwan“, auf den sich das „Reiselied“ am direktesten bezieht. Spiegelung aber ist gerade nicht Identifizierung. Sie setzt Distanz voraus und läßt Diffe¬ renz erkennen. „Reiselied“ ist über die erwähnten Einzelheiten hinaus auch in seiner Konzeption vom Vorbild Goethes bestimmt. Auch der klassische Goethe benutzte das Verfahren der doppelten Perspektive. Auf der „Italieni¬ schen Reise“ nahm er jeweils die Gelegenheit wahr, in den Städten, die er besuchte, auf einen Turm zu steigen, um sie von oben zu betrachten45. Dem distanzierten Blick aus der Höhe zeigte sich im Veränderlichen, das er im unmittelbaren Kontakt erlebt hatte, das Dauernde, und zwar dadurch, daß nun das Momentane auf Vergangenes und Künftiges bezogen werden konnte. So gelangte Goethe zu dem, was er den „leben¬ digen Begriff“ einer Sache nannte. Der Dichtung oder allgemein der sprachlichen Gestaltung fiel es zu, diese „Begriffe“ festzuhalten. Dieser Prozeß der Erkenntnis des Dauernden im Wechselnden hatte im er¬ kennenden Subjekt seine Entsprechung. Indem es sich den „Begriff“ verschaffte, reinigte es sich von seinen zufälligen Stimmungen und Vor¬ urteilen zum Typus, den es darstellte. Es wurde des Identischen in ihm selbst inne. Auf der subjektiven Seite liegt im „Wilhelm Meister“ das Gewicht, wo der Held vom Turm aus zurückschauend sein Gesetz in den mannigfaltigem Irrwegen, die er durchlaufen hatte, zu erkennen vermag. „Reiselied“ spielt auf diese Konzeption des klassischen Goethe an und modifiziert sie zugleich in bedeutsamer Weise. Sein Anfang zeigt den Erlebenden näher bei der Wirklichkeit. Diese vermag ihn unmittel¬ bar zu bedrängen und zu bedrohen. Die Distanznahme davon führt in höhere Höhen, die nur noch indirekt, aus dem Bild, das sich von ihnen aus bietet, erschlossen werden können. Die Bewegung zwischen beiden Punkten hat eine größere Amplitude. Entsprechend verändert sich die Welt für den Blick aus der Vogelschau. Zwar wird in der Kulturland42 43

Hofmannsthal, Buch der Freunde. Mit Quellennachweisen hrsg. von Ernst Zinn. Frankfurt: Insel 1965 (Insel-Bücherei 796). S. 47 Vgl. dazu und zum folgenden Emil Staiger, Goethe II. Zürich: Atlantis 1956. S. 16

303

schafl unten, auf welche die Bewegung von Wasser und Feld tendierte, auch Zukünftiges miteinbezogen. Aber es ist eine abgeschlossene, voll¬ endete Zukunft, genaugenommen die bevorstehende Vergangenheit. Das Dauernde ist anders als bei Goethe nicht zeitlos, nurmehr alterslos. Wie das Gedicht zeigt, haben Goethe und sein Werk die Stelle des Unver¬ gänglichen eingenommen. Der Unterschied von Erscheinung und Wesen ist modifiziert zu dem von Gegenwart und Vergangenheit dieser Gegen¬ wart, von Sein und Gewesensein. Beide durchdringen sich daher nicht mehr, es besteht zwisdien ihnen ein Bruch. Damit hängt zusammen, daß das Erlebnis der Nähe und der Blick aus der Ferne nicht mehr demselben Objekt zu gelten scheinen. Die Kulturlandschaft setzt gerade die Über¬ windung der Bergwildnis voraus. Identisch ist in beiden nur der Grund¬ stoff, das Flüssige und das Feste. Ihretwegen können beide Zustände überhaupt noch als Stadien einer Verwandlung aufgefaßt werden. — Das wird auf der Subjektseite noch deutlicher. Das Subjektspronomen ist in der zweiten Strophe verschwunden. Der Wechsel der Perspektive vollzog sich als dem Tode vergleichbarer Umschlag. Das Subjekt, das die Welt von oben betrachtet, unterscheidet sich vom unmittelbar Er¬ lebenden nicht nur nach dem Grade der Reinheit. Es hat sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Das Identische beider Zustände liegt auch hier nurmehr in der Tatsache der Existenz. — Für Goethe war im Auf¬ stieg die erreichte Höhe wichtig. Hier nun tritt die Aufwärtsbewegung ins Zentrum, der Vorgang der Distanznahme selbst. In ihm allein sind, für den Moment des Umschlags, unmittelbares Erlebnis und Reflexion, wilde Bewegtheit und abgelebte Ruhe, Gegenwart und Vergangenheit einander aufs höchste angenähert. Der Umschlag, in dem der Mensch seiner Identität inne wird, er¬ scheint als Tod. Daß der Tod bei Hofmannsthal zentrale Bedeutung bekommt, zeigt am schlagendsten die Differenz zum Goethe mindestens der „Italienischen Reise“. Dem Tod schlägt Hofmannsthal den für Goethes Lebensauffassung zentralen Begriff des Augenblicks zu. Der Tod bezeichnet den „Moment der Erhöhung“44. Für den klassischen

44

Der „erhöhte Augenblick“ ist für H. zentral. Er erscheint schon in den Tage¬ buch-Aufzeichnungen und der frühen Prosa, aber auch noch in „ad me ipsum“. Die Dichtung gestaltet ihn auf verschiedene Weise. Vgl. ChandosBrief, Briefe des Zurückgekehrten, Augenblicke in Griechenland. Auch der „Augenblick“ ist primär von Schopenhauer bestimmt, doch hat er bei H. im Gegensatz zu diesem Konsequenzen für den, der ihn erlebt. Borchardt hat im Bezug auf H. vom „ganymedischen Moment“ gesprochen, was den Zu-

3°4

Goethe sind im ewigen Augenblick die drei Extasen der Zeit versammelt. Das Ewige offenbart sich in der Zeit. Bei Hofmannsthal steht der Augenblick zwischen den Zeiten, genau zwischen Gegenwart und Ver¬ gangenheit. So kann er nur die Frist eines Hauchs dauern. Er gleicht dem Blitz, der die nächtliche Landschaft sekundenlang erhellt in allen ihren Dimensionen und sogleich wieder ins Dunkel zurücksinken läßt. Dem Gedicht fällt die Aufgabe zu, den flüchtigen Todesaugenblick, der dem Menschen seine Identität zeigt45, festzuhalten. Die Schlußstrophe deutet an, wie das die Kunst zu leisten vermag. Bruchstücke klassischer Kunst steigen aus blumigem Gelände. Erlebnis und historisches Vorbild werden nicht integriert wie in einem Goetheschen Gedicht. Es kommt gerade darauf an, die Spannung zwischen beiden darzustellen. Sie müs¬ sen daher unterscheidbar bleiben. „Reiselied“ realisiert diese Forderung mit Hilfe von Anspielungen formaler und inhaltlicher Art. Anspie¬ lungen sind Übernahmen aus anderen Werken, deren fremde Herkunft weiterhin kenntlich bleibt. Dadurch, daß das Gedicht kein vollständiges Sonett ist, aber auch keine echte Dezime, hält es die Distanz zwischen sich und den Gedichtformen, aus denen es Elemente verwendet, auf¬ recht. Es bleibt fragmentarisch. Auch die Goethereminiszenzen sind so deutlich, daß sie aus dem Gedicht hinausdeuten. Das meint Requadt, wenn er vom „Reiselied“ bemerkt, es sei „gebildeter“46 als die Mignon-

sammenhang mit der Erhebungsmotivik treffend erhellt. — Zum „Augen¬ blick“ bei H. Richard Exner, Hofmannsthals „Lebenslied“. Eine Studie. Hei¬ delberg: Winter 1964. S. 37 und passim. — Daß der „Augenblick" ein für die ganze Epoche charakteristisches Phänomen ist, zeigen Georges Poulet, Le point de depart. Etudes sur le temps humain III. Paris: Pion 1964. Introduction, und Theodore Ziolkowski, James Joyces Epiphanie und die Über¬ windung der empirischen Welt in der modernen deutschen Prosa, DVjS 35, 1961. S. 594—616 45

46

Die Gleichsetzung von Tod und Selbst steht hinter der Personifikation des Todes. Claudio wird von seinem eigenen Selbst heimgesucht. Die Eben¬ bildlichkeit beider auf der Zeichnung von Angelo Jank hat einen guten Sinn. (In: „Die Jugend“, 1899, abgebildet in: Albert Soergel/Curt Hohoff, Dich¬ tung und Dichter der Zeit. Düsseldorf: Bagel. 19612. S. 461.) — Im Hin¬ blick auf die Einheit von Tod und Selbst las Hofmannsthal wohl auch die folgende Stelle, die er sich abschrieb: „Abraham a Santa Clara, ,Merks Wienc. ,Die Gestalt des Todes bildet er zu einer gleichsam menschlichen Persönlichkeit aus und steigert den Charakter kalt lächelnder und verach¬ tungsvoller Ironie zu dramatischer Lebendigkeit. Hierin freilich hatten ihm die Totentänze vorgearbeitet/ (W. Scherer)“ A S. 99 Requadt a.a.O. S. 23

305

20

Pestalozzi, Lyrisches Ich

Ballade, in der das verwendete topische Material völlig integriert ist. Die deutlichen Goethereminiszenzen stehen auch zum Titel „Lied“, der etwas Einfacheres erwarten läßt, in einem gewissen Widerspruch47. Seiner Anlage nach ist „Reiselied“ ein Erlebnisgedicht traditioneller Art, das Präsens erweckt den Eindruck von Unmittelbarkeit. Der Leser würde jedoch kaum auf die Scheidung von Erlebnis- und Traditionselementen aufmerksam, wenn nicht das Gedicht selbst diesen Gegensatz zum Thema hätte. Von welcher Seite man das Gedicht betrachtet, man stößt immer auf antithetische Strukturen. Dabei sind Unmittelbarkeit und vorgegebene Rolle die grundlegenden Gegensätze. Die erste Pause führt, wie wir gesehen haben, aus der Entgegensetzung auf etwas Drittes zu. Diese Bewegung wird in der Schlußzeile wiederaufgenommen. Aus dem Gegen¬ über von Landschaft und Kunstfragmenten erhebt sich ein leichter Wind. In ihm ist die Wirkung vorwegnehmend materialisiert, die das Gedicht auf den Leser haben soll, wenn es zu Ende ist. Es will ihm Leichtigkeit vermitteln. Er soll im lesenden Nachvollzug des Gedichts einen Augen¬ blick der Erhöhung zu sich selbst erfahren. Wie die letzte Strophe das ganze Gedicht reflektiert, so erscheint auch im Wind eine Tendenz ex-? plizit, die das ganze Gedicht prägte. Die rhetorisch-rhythmische Nach¬ bildung dessen, was die Strophen aussagten, sollten den Leser in die Bewegung des Gedichts einbeziehen. Der Anspruch, der in der Schlußzeile verborgen ist, hat weiter zur Voraussetzung, daß das Gedicht grundsätzlich allgemeinverständlich sei. Sein Material sind denn auch allgemeine Erfahrungen. Auch die Verbin¬ dung von Tod und erhöhtem Augenblick hatte Hofmannsthal geglaubt, psychologisch begründen zu können48. Das Gedicht appelliert an das in allen Menschen liegende verborgene große Ich. Wo es auf empfängliche Leser stößt, soll es diesem Ich zur Offenbarung verhelfen. Da jedoch die Identität nur augenblicksweise erfahren werden kann, das Gedicht als Kunstwerk jedoch dauert, wird es zum Garanten des großen Ich in den vielfachen Verführungen zum Selbstverlust. Mit den Worten aus dem „Gespräch über Gedichte“: Wovon unsere Seele sich nähert, ist das Gedicht, in welchem wie im Sommerabendwind, der über die frischgemähten Wiesen streicht, 47

Dagegen entspricht das „Reiselied“ erstaunlich genau der Bestimmung des

48

Liedes, die Schopenhauer gibt. Welt als Wille und Vorstellung I, S. 295 „Das Erwachen des Gedächtnisses (Hypermnesie) im Traum, in Krankheit, Gefahr, in der Sterbestunde.“ A S. 93

306

zugleich ein Hauch von Tod und Leben zu uns herschwebt, eine Ahnung des Blühens, ein Schauder des Verwesens, ein Jetzt, ein Hier und zugleich ein Jenseits, ein ungeheures Jenseits. Jedes vollkommene Gedicht ist Ahnung und Gegenwart, Sehnsucht und Erfüllung zu¬ gleich. Ein Eifenleib ist es, durchsichtig wie die Luft, ein schlafender Bote, den ein Zauberwort ganz erfüllt.49 Auch hier wird das Gedicht als Kombination von Antithesen be¬ stimmt. Es setzt den beiden falschen Ich-Formen nichts Drittes entgegen. Es stellt sie eng zusammen. Sie geben das Material ab für das Gedicht. Das Gedicht als Gebilde, das mehr ist als seine Inhalte, repräsentiert jedoch jene ungreifbare Einheit. Als Form, die alle Antithesen umgreift, stellt es jene Synthese dar, die gedanklich nicht mehr gefunden werden kann. Diese ist rhythmischer Art, wie Hofmannsthal es in seinem Vor¬ trag „Poesie und Leben“ im Anschluß an George nannte, „jenes tief Erregende in Maß und Klang“50. Dadurch wird das Gedicht zur Ab¬ sprungstelle für den Aufschwung. Der Adler kann nicht vom flachen Boden wegfliegen; er muß müh¬ selig auf einen Fels oder Baumstrunk hüpfen: von dort aber schwingt er sich zu den Sternen.51 „Reiselied“ gehört in eine Zeit, in der Hofmannsthals lyrische Pro¬ duktivität im Abklingen war. Für sein lyrisches Gesamtwerk ist es nicht repräsentativ. Im Vergleich mit den vorausliegenden berühmteren Ge¬ dichten ermangelt es der sprachlichen Musikalität. Es ist nicht nur kürzer als die meisten andern Gedichte, auch wortkarger, strenger und konturierter. Dafür tritt der Bezug auf das literarische Vorbild freier hervor, den andere mehr .nur ahnen lassen. Dieser stilistische Unterschied ist auch einer des im Gedicht erschei¬ nenden Selbst. Das vermag ein kurzer Blick auf das Gedicht „Erleb¬ nis“52 herauszustellen, das thematisch unter den frühen Gedichten dem 49 P II S. no 50 P I S. 307. Die Worte des Hofmannsthal unbekannten, aber wertvollen Verfassers stammen aus Stefan Georges „Tage und Taten“, aus dem Ab¬ schnitt „Uber Dichtung“. Stefan George, Werke. München/Düsseldorf: Küp¬ per vorm. Bondi 1958. I, S. 530 51 Buch der Freunde S. 39. Die Lebendigkeit des Adler-Emblems noch bei Hof¬ mannsthal zeigt auch das Schlußbild des „Andreas“-Fragments, auf dessen Nähe zur Thematik des „Reiseliedes“ Exner, a.a.O. S. 34, und Lehnert, a.a.O. S. 98, hinweisen. 52 GLD S. 8

„Reiselied“ am nächsten steht. Auch darin geht es um einen Übergang zwischen zwei Polen. Er wird ausgelöst durch die dämmernde Land¬ schaft, die das Ich einbezieht und überwältigt. Es versinkt aus dem Leben in einen todähnlichen Zustand. Der Schlußteil beginnt, ähnlich wie die zweite Strophe von „Reiselied“, adversativ: „aber seltsam“. Der Blick wendet sich rückwärts und sieht das verlassene Leben, einem abgeschlossenen Bilde vergleichbar. Es spricht ein Ich, der Anlaß des Erlebnisses ist individuell, der dem Leben Entrückte erblickt sich selbst. Für unseren Zusammenhang ist von Bedeutung, daß der in „Reiselied“ in der stummen Pause erfolgende Umschlag hier ausgiebig artikuliert ist: Und dieses wußt ich, Obgleich ichs nicht begreife, doch ich wußt es: Das ist der Tod. Der ist Musik geworden, Gewaltig sehnend, süß und dunkelglühend, Verwandt der tiefsten Schwermut.53 In der Musik hat der Tod ein Medium, das ihn zur Erscheinung bringt, nach dem Satz Goethes: „Musik füllt den Augenblick am ent¬ schiedensten“, den Hofmannsthal später einmal zitiert. In der Musik spricht sich das Selbst unmittelbar aus. Dank seiner musikalischen Sprache ist das Gedicht sein Repräsentant. Mit dem Selbst des „Reiseliedes“ hat es damit das Ubergängliche gemeinsam. Doch ist hier, in „Erlebnis“, der Übergang als Stimmung faßbar. Sie ist, obwohl ambivalenter als die Schwermut, doch ihr ähnlich. Mit der Stimmungshaftigkeit geht zu¬ sammen, daß sich das Selbst nicht immer manifestiert. Die Begegnung mit ihm ist beinahe träumerisch. Das Gedicht wird zum Anlaß für eine Art Selbst-Genuß. Daher auch seine Länge. — „Reiselied“ setzt in der Schlußstrophe plastische Kunstformen als Medium für das Selbst ein. Diese können wie das ganze Gedicht, zumal in ihrer Bruchstückhaftigkeit, den Tod nur indirekt darstellen. Er bleibt jenseits der sinnlichen Faßbarkeit. Damit wird er stärker zu einem geistigen Vorgang. Das Selbst wird begreifbar aus der Spannung von Erlebnis und geschicht¬ liche Präfiguration. Der Anteil des Allgemeinen daran ist gewachsen.

53

Vgl. dazu Werner Vordtriede, Der Tod als ewiger Augenblick. Ein wieder¬ kehrendes Symbol bei Annette von Droste-Hülshoff und Hugo von Hof¬ mannsthal. Mod. Lang. Notes LXIII, 1948, S. 520—525. Dort auch der Hinweis auf die Nähe des Gedichts zum Monolog des Helden in Kleists „Prinz Friedrich von Homburg“ V/10

308

Daher kann das Gedicht „wir“ sagen und die spiegelnde Vergangenheit als überindividuelle auffassen. Damit hängt auf kaum nachprüfbare, aber um so elementarere Weise zusammen, daß der Vorgang als ganzer eindeutig ins Vertikale gewendet ist, und zwar so, daß der Tod in der Gegenbewegung zur Schwermut aufwärts ins Leichte und Luftige zieht. Gegenüber „Erlebnis“ bedeutet „Reiselied“ eine Befreiung.

N.

Stefan George „Entrückung“ Stefan George, Werke. Mündien/Düsseldorf: Küpper vorm. Bondi 1958 [zit. Werke] Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal, hrsg. von Robert Böhringer. Mündien/Düsseldorf: Küpper vorm. Bondi 19532 Deutsche Dichtung, hrsg. und eingeleitet von Stefan George und Karl Wolfskehl. Bd 3: Das Jahrhundert Goethes. Berlin: Bondi 19233 Blätter für die Kunst, Auslese. 3 Bde. Berlin: Bondi 1899—1909 Der George- Kreis. Eine Auswahl aus seinen Schriften, hrsg. von Georg Peter Landmann. Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1965 (Neue wissen¬ schaftliche Bibliothek)

I. An den Schluß seiner Auswahl früher Verse mit dem Titel „Die Fibel“ setzte George ostentativ das Gedicht „Ikarus“. Es gibt einen prägnanten Aufriß von Georges Welt und exponiert in erstaunlicher Deutlichkeit

die

damit

zusammenhängende

Problematik

des

Auf¬

schwungs. Du flogst zu hoch auf jenen leichten flügeln Die das geschick dir gab — aus erdenwegen . . . Doch konntest du des herzens trieb nicht zügeln Du flogst zu hoch dem feuerball entgegen. Längst warst du von der erde weggeflogen Da lösten sich vom heißen sonnenkuß Die schwingen und in wilde meereswogen Sankst du hinab — nun hilf dir Ikarus!1 Die Welt dieses Gedichts ist streng vertikal auf gebaut: zu oberst der „feuerball“, dann die „erdenwege“, schließlich die „meereswogen“. Audi 1

„Ikarus“. Werke II, S. 486. Das Gedicht steht in einer Motivtradition, die von der Renaissance bis zu Gottfried Benn reicht.

310

hier ist diese Anordnung eine nach Werten. Dem „feuerball“ kommt der höchste Wert zu, Erde und Wasser folgen absteigend. Was so in eine Skala gestellt ist, sind die Elemente. Bezieht man ein, daß der Weg zur Sonne durch die Luft führt, so ergibt sich die Hierarchie Feuer, Luft, Erde, Wasser. Ikarus war in der alten Emblematik eine beliebte Beispielfigur für menschliche Hybris, an der die Notwendigkeit des Maßhaltens demon¬ striert wurde2. Das Gedicht nimmt Ikarus in Schutz. Zwar greift das erste „Du flogst zu hoch“ den traditionellen Vorwurf scheinbar auf. Doch die Wiederholung klingt eher anerkennend, und zwar mit Rücksicht auf den Motor des Aufschwungs. Ikarus wurde von innen her getrieben, sein angestrebtes Ziel war der höchste Wert. Bezieht man ein, daß das Geschick ihm die „leichten Hügel“ verliehen hatte, so erscheint der Auf¬ flug zur Sonne als Erfüllung eines in ihm angelegten Gesetzes. Der pla¬ tonische Hintergrund ist deutlich. Es treibt ihn aus aller irdischen Be¬ dingtheit hinaus ins Unbedingte. — Der Sturz des Ikarus hat denn auch nicht den Charakter einer Strafe. Er ist die Folge davon, daß er im „sonnenkuß“3 des angestrebten Absoluten wirklich teilhaftig wurde. Da die Berührung mit dem Absoluten nicht Dauer haben kann, wenn der Mensch weiterleben soll, muß Ikarus abstürzen. Nur im Augenblick ist der Kontakt möglich. Vor dem einmal erreichten Absoluten aber kann nichts anderes mehr bestehen. Es zerstört alles Feste. Der Flug, der von den „erdenwegen“ ausgegangen ist, endet in „wilden meereswogen“, dem Gegenelement zum „feuerball“. Ikarus hat die Flügel, die er ur¬ sprünglich besaß, eingebüßt. So resultiert seine Notlage nicht aus einem 2 3

Emblemata Sp. 1617 Das Wort „Sonnenkuß“ stammt aus C. F. Meyers Gedicht „Die tote Liebe“, das mit den Zeilen beginnt: „Entgegen wandeln wir Dem Dorf im Sonnenkuß.“ . .. Die positive Einschätzung des Ikarus-Fluges durch George wirkt sich noch in seiner Übersetzung von Baudelaires „Les plaintes d’un Icare“ aus, welche, am deutlichsten in der 3.Strophe, die zweifelnden Einschränkungen ignoriert: Baudelaire: En vain j>ai voulu de l’espace Trouver la fin et le milieu; Sous je ne sais quel oeil de feu Je sens mon aile qui se casse; CEuvres S. 173 George: Ich wollte des Ungeheuern Mitte finden und Schluss, Ich fühle wie unter feuern Mein flügel zerfallen muss. Werke II, S. 301

Mangel, sondern aus genossener Fülle. Deshalb ist sein Schicksal damit nicht am Ende. Anders als im Mythos ertrinkt er nicht. Ihn erreicht die Aufforderung, sich selber zu helfen. Sie ist nicht ohne Ingrimm gespro¬ chen. Nun er keine Flügel mehr hat, soll er sich mit eigener Kraft, gleich¬ sam am eigenen Schopf, aus dem Wasser ziehen. Das weitere Werk Georges zeigt jedoch, daß der Aufruf „Nun hilf dir Ikarus“ darüber hinaus eine Aufforderung ist, aus eigener Kraft sich erneut zum „feuer¬ ball“ aufzuschwingen. Insofern ist mit dem Gedicht „Ikarus“ Georges Grundproblem Umrissen. Aus den Fibel-Gedichten gewinnt man den Eindruck, eine persön¬ liche Erfahrung habe George zu dieser Ikarus-Deutung veranlaßt. Das Ikarus-Gedicht enthält die Grundstruktur der ersten beiden Fibel-Ge¬ dichte, Ich wandelte auf öden düstern bahnen“, „Die Najade“4. Beide schildern eine plötzliche Begegnung mit einer himmlischen resp. märchen¬ haften Gestalt, die sich dann wieder zurückzieht und das Ich auf sich selbst verweist. Die vergangene Erfüllung wird zur Triebkraft der Sehn¬ sucht nach ihrer Erneuerung, aus der Enttäuschung entspringt ein neuer Versuch. Im ersten Gedicht gelingt er:

So muß ich doch das gütige Schicksal loben Das mich durch Deine hand zur tat getrieben Und zu den Sternen mich emporgehoben.5 Indem das Ikarus-Gedicht den Sturz mit der Erreichung des Ziels motiviert, setzt es einen unabschließbaren Prozeß in Bewegung. Solange das erstrebte Absolute dem Ich als etwas anderes entgegengesetzt ist, ist keine dauernde Synthese, nur jeweils eine augenblickliche Berührung denkbar. Was aber bedeutet ein solcher „sonnenkuß“? Das Absolute teilt sich dem Ich als Ergriffenheit mit, als inneres Erglühen, als Gefühl gesteigerter Intensität. Diese Wallungen, die für den jungen Dichter vor allem im Zusammenhang mit der Liebe stehen, haben jedoch objektive Bedeutung. Das Ich wird darin aus sich in etwas Göttliches erlöst. Es steht dahinter jene Auffassung, wonach sich Gott im Menschen als be¬ sonders intensives Gefühl kundtut, welche der Augenblickslyrik zugrunde liegt6. 4 5

Werke II, S. 470 Ebd.

6

Die Entsprechung zur Situation C. F. Meyers ist deutlich. Beide erweisen sich trotz des unterschiedlichen Alters als Zeitgenossen. George nahm 15 Gedichte Meyers in seine Anthologie auf. Sie beschließen darin „Das Jahr¬ hundert Goethes“.

312

Die Situation des gestürzten Ikarus prägt als Muster Georges Ge¬ dichte bis und mit dem „Jahr der Seele“. Sie umspielen in unendlicher Variation das Thema der verlorenen Erfüllung und der daraus ent¬ springenden Geisteslagen der Trauer, der Empörung, des Trotzes, der Sehnsucht und des ermattenden Neubeginns. Die durchgehende formale Strenge erscheint wie die Pedanterie dessen, der im Kleinen die Ordnung zu wahren und zu festigen versucht, da die Ordnung des Ganzen seiner Teilnahme entzogen bleibt. In den „Algabal“-Gedichten, die im Motiv des Sonnenkultes besonders eng an das Ikarus-Gedicht anschließen, wird das Verhältnis von Resignation und Formstrenge selber thematisch. Die entscheidende Weiterbildung der Ikarus-Konzeption bedeutet das „Vorspiel“ zum „Teppich des Lebens“7. Es ist ein legendenartiger Dialog zwischen dem Ich und dem Engel, der im ersten Gedicht auftritt. Diesem Dialog sind alle übrigen Themen untergeordnet. Er ist das einheits¬ stiftende Prinzip in den viermal sechs Gedichten. Bereits zu Beginn des zweiten Gedichtes richtet das Ich an den Engel die Bitte: Gib mir den großen feierlichen hauch Gib jene glut mir wieder die verjünge Mit denen einst der kindheit flügelschwünge Sich hoben zu dem frühsten Opferrauch.8 Das Ich erwartet vom Engel die Aufhebung der Situation des ge¬ stürzten Ikarus. Es vermutet, er verfüge über die Stimulantien, nach denen das Ich schon immer gesucht hatte und die dem „frühsten Opfer¬ rauch“ in ihrer erhebenden Wirkung gleich kämen. Der Engel weist die Bitte als widersprüchlich zurück. Der Widerspruch scheint darin zu be¬ stehen, daß das Ich den Engel als einen von außen oder vom Himmel kommenden Gnadenbringer betrachtet. Schon im ersten Gedicht klingt an, daß zwischen Ich und Engel eine geheime Identität besteht. Der Engel erscheint als leibliches Ebenbild des Ich, das zudem feststellt Und seine stimme fast der meinen glich.9 Diese Stimmenähnlichkeit wirkt sich im „Vorspiel“ selbst dahin aus, daß in einigen Fällen nicht sogleich klar ist, ob das Ich spricht oder der

7

Werke I, S. 171—187. Über die zentrale Bedeutung des „Vorspiels“ für

8

Georges dichterisches Selbstverständnis besteht Einhelligkeit in der Forschung. A.a.O. S. 172

ö Ebd.

3H

Engel. Dennoch bleibt zwischen beiden eine Spannung bestehen, groß genug, um einen Dialog zu ermöglichen. Der Engel ist im Verhältnis zum Ich der Natur näher. Auch hat er zur Kindheit des Ich eine nahe Beziehung. Von der leiblichen Ähnlichkeit war die Rede. Im Engel tritt dem Ich, das zuweilen auch „seele“ heißt, seine eigene Leiblichkeit, Na¬ türlichkeit und Ursprünglichkeit gegenüber. Claude David sagt von ihm mit Recht: „II represente cette partie de l’äme oü se logent le vouloir, les projets, la confiance en-soi-meme, cette image de soi que la reflexion se fixe comme un terme et ä laquelle l’äme tend a s’egaler. 10 Wichtig ist der Hinweis auf die Entstehung des Engels aus der Reflexion. Tatsäch¬ lich tritt der Engel in dem Moment in den Blick des Ich, als sich dieses auf seine bisherige Entwicklung besinnt11. Die früheren Werke Georges sind durch Anspielungen im „Vorspiel“ vergegenwärtigt. Der Engel ist das identische Prinzip in den verschiedenen durchlebten Zuständen. Er hat das Ich geführt. So liegt es nahe, im Engel das zum Ich gehörige Selbst zu sehen. Die Motivverbindung zu Genius und Schutzengel unter¬ stützen diese Deutung. Das mit der zitierten Bitte eingeleitete II. Gedicht schließt mit dem berühmten Satz Jakobs an seinen unerkennbaren Gegner: Ich lasse nicht, du segnetest mich denn.12 In der kaum merklichen Entstellung des Bibelspruches ist, dem Ich offensichtlich an diesem Punkt des „Vorspiels“ noch nicht bewußt, das wahre Verhältnis von Ich und Engel angedeutet. „Lassen“, hier absolut gebraucht, heißt, wie off bei George, „müde werden“, „auf eigene An¬ strengung verzichten“. Die Segnung durch den Engel bestünde darin, daß das Ich sich seiner eigenen Wünsche und Pläne entschlagen und sich ganz dem Engel anheimgeben würde. Das ist im folgenden Gedicht einge¬ treten, wo es heißt

10

Claude David, Stefan George, son ceuvre poetique. Lyon/Paris: 1952. Bibliotheque de la soci6t6 des Etudes Germaniques IX. S. 173

11

Das erinnert an Schillers „Das Ideal und das Leben“. Überhaupt ist George Schiller im „Vorspiel“ in den wichtigen Punkten außerordentlich nahe. — Vgl. Stefan Schultz, Uber das Verhältnis Stefan Georges zu Schiller. In: Studien zur Dichtung Stefan Georges. Heidelberg: Stiehm 1967. S. 68—90

12

Werke I, S. 173. — Die Bibelstelle 1. Mos. 32,27: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ — Die Anwendung dieses Bibelspruches auf das Ver¬ hältnis des Künstlers zur Inspiration öder zum Genius ist in der Zeit sehr beliebt.

3M

Nun hält ein guter geist die rechte waage Nun tu ich alles was der engel will.13 Damit hat sich das Ich seinem Selbst übergeben. Dieses ist fortan sein Herr. Die Unterstellung unter den Engel isoliert das Ich folge¬ richtig von seiner Umwelt. Es ist auf nichts mehr außer sich angewiesen. Darin sind Triumph und Vereinsamung gleicherweise beschlossen. Wäre jedoch der Engel lediglich das zum Ich gehörige natürliche Selbst, so wäre seine Engels-Gestalt nicht ausreichend gerechtfertigt. Sie weist auf eine religiöse Bedeutung hin. Diese verdeutlicht das VII. Ge¬ dicht „Ich bin freund und führer dir und ferge“14. Der Engel zeigt dem Ich von einer Bergeshöhe drei aktuelle Formen der Religiosität, die Weltfreudigkeit der Menge, die Weltentsagung des Christentums und das Hellenentum eines erwählten Kreises15. Das Ich bedarf nun dieser Weisen der Vermittlung des Göttlichen nicht mehr. Der Engel erscheint als Prinzip jeglicher religiöser Form. Er ist der Inbegriff des Mittlers. Das ist der Sinn der Christusanspielungen in seinem Umkreis. Mit dem Engel hat das Ich einen eigenen Zugang zum Göttlichen gewonnen. Dieses heißt im ersten Gedicht „das schöne Leben“ und ist allgemein mit dem Leben der Natur identisch, auf welches der Engel das Ich öfters hinweist. Im motivischen Zusammenhang ist besonders wichtig, daß der Engel Flügel hat. Er vermag dem Ich damit den Aufschwung zum Absoluten zu vermitteln. Mit seinem Erscheinen stellt sich somit die Frage nach dem Auf¬ schwung auf neue Weise. Die Antwort darauf gibt das XIX. Gedicht: Zu wem als dir soll sie die blicke wenden Die glühend Suchende der du zuerst Die höhen wiesest und das glück bescherst Das diese bunten tage nimmer senden? Du gibst den rausch, sie schwebt zum ewigen tore Erhoffter strahlen jauchzendem gemisch Sie gleitet durch den saal zum göttertisch Erfüllung leuchtet, lösung schallt im chore.

13

A.a.O. S. 173

14 15

A.a.O. S. 176 Der Blick aus der Höhe in die Tiefe hat auch hier die Funktion, im Wech¬ selnden das Dauernde sichtbar zu machen. Doch liegt dieses hier nicht in den Erscheinungen, sondern geht ihnen im Engel, der den Blick lenkt, voraus.

Die unerreichte flur scheint ihr gewonnen Sie überfliegt die klüfbe mit dem aar Und schaltet mit der kleinen Sterne schar Und stürzt entgegen väterlichen sonnen. Nun mußt du sie im irren hasten zügeln Du beugest dich aus deiner wolkenstatt Und hüllst die zitternd ist und freude-satt Getreuer geist! mit schweren traumesflügeln.16 Die Frage der ersten Strophe bekommt ihr Gewicht auf dem Hinter¬ grund der vielfachen Versuche des Ich in Georges bisherigen Gedichten, die jugendlichen Aufschwünge zu erneuern. Sie enthält zugleich den Ansatzpunkt der neuen Antwort. Jene frühen gelungenen Aufschwünge waren bereits das Werk des Engels gewesen. Dieser ist die Bedingung der Möglichkeit aller Aufschwünge, da diese leibliche Zustände, mithin solche des Selbst, darstellen. Mit dieser Einsicht ist die entscheidende Wendung vollzogen. Der Aufschwung ist nicht mehr als Bewegung auf ein in irgendeiner Höhe befindliches Ziel verstanden, sondern als Rausch¬ zustand, in dem sich Visionen von Höhe, Göttertisch etc. einstellen. Die Zielvorstellungen sind ein Produkt der Ergriffenheit des Ich durch sein Selbst. Dieses ist der Ursprung der Erhebung. Das macht seine Gestalt als Engel deutlich. Damit, daß die Möglichkeit des Aufschwungs in das Selbst gelegt wird, verlieren die gottfernen Zeiten ihr Erschreckendes. Audi sie sind ia dem Engel unterstellt. Er ist es auch, der den Rauschzustand mit Hilfe des Traumes dämpft. Und da der Engel der Gesetzmäßigkeit der Natur untersteht, enthalten die aufschwunglosen Zeiten dieselbe Hoff¬ nung auf ein Ende wie die Nacht auf den Tag, welchen Trost das XX. Gedicht17 formuliert. Er ist um so notwendiger, als damit, daß der Aufschwung zur Gabe des Engels wird, dem Ich jeder Einfluß dar¬ auf genommen ist. Es bleibt ihm nur der Glaube an die ständige Latenz dieser Möglichkeit. Zugleich aber erhält der Aufschwungs-Rausch gesteigerte Bedeutung. Er ist als vom Engel ausgelöst indirekt das Werk des schönen Lebens selbst. Dieses tut sich unverhofft in ihm kund: 16

Ebd. S. 184. Der Reim „zügeln“ — „flügeln“ ist aus dem Gedicht „Ikarus“

17

übernommen. Er enthält dadurch die Bedeutung einer Anspielung, da George normalerweise der Wiederholung eines Reims auswich. A.a.O. S. 184

31b

Es hebt sich leicht was eben dumpf und bleiern Es blinkt geläutert was dem staub gezollt... Ein bräutliches beginnliches entschleiern ... Nun spricht der Ewige: ich will! ihr sollt!18 Jede Erhebung wird zu einem Akt der Offenbarung des Ewigen in der Weise, daß es in der aus dem Rausch entspringenden Vision Ge¬ stalt annimmt. So wird der, dem der Aufschwung widerfährt, zum Pro¬ pheten und Verkündiger. Indem somit dem Dichter sein Selbst als Engel erscheint, erkennt resp. beansprucht er seine Berufung zum Propheten. Das „Vorspiel“ schließt damit an die Berufungsgeschichten der Bibel an. Das XII. Gedicht konfrontiert die frühere Auffassung des Auf¬ schwungs mit der neuen. Es geht in einer Ich-Rede von der Diskrepanz aus, daß der Mensch zwar die Fähigkeit habe, über Weltbilder als ihf Schöpfer frei zu verfügen, daß er aber im Metaphysischen immer noch von einer unverfügbaren Gnade abhänge, die Offenbarungen gebe und wieder zurücknehme. Das ist nochmals von der Ikarus-Erfahrung her gesprochen. Der Engel erwidert darauf die gewichtigen Verse: „Ich weiß daß euer herz verblutend stürbe Wenn ich den spruch nicht kennte der es stillt: Da jedes bild vor dem ihr fleht und fliehet Durch euch so groß ist und durch euch so gilt... beweinet nicht zu sehr was ihr ihm liehet.“19 Damit ist gesagt, daß es sich grundsätzlich mit den Götterbildern nicht anders verhalte als mit den Weltbildern. Auch sie haben ihre Kraft, womit sie die Menschen faszinieren, von diesen selbst erhalten. Ein naheliegendes Mißverständnis ist hier jedoch auszuschließen. Es geht nicht um die Schöpfung von Götterbildern. Diese sind als vorhanden gedacht. Was vom Menschen verliehen wird, betrifft ihre Gültigkeit. Sie sind für ihn nur solange wirklich, als er sich ihnen im Aufschwung nä¬ hert, der in seinem Selbst seinen Ursprung hat. Das XIX. Gedicht kann dazu als Illustration dienen. Im Rausch wird dem Ich die überlieferte Bilderwelt real. Es glaubt sich im Himmel. Doch diese Realität hat allein im Rausch ihren Grund. Er ist es, der die Götter für kurze Zeit lebendig macht. Im Moment des Rausches wird der Mensch unter dem

18 19

A.a.O. S. 178 A.a.O. S. 179

3W

Schein höchster Abhängigkeit der höchsten Stufe seiner schöpferischen Potenz inne. Er haucht den Göttern seinen Atem ein. Es ist wichtig, daß der Engel diesen Zusammenhang aufdeckt. Denn das Mißverständnis, als sei der Mensch der Gnade der Götter ausge¬ liefert, konnte deshalb entstehen, weil der Akt des Leihens, nichts an¬ deres ist der Aufschwung, nicht vom bewußten Ich ins Werk gesetzt werden kann, sondern aus der vom Engel repräsentierten Sphäre ge¬ lenkt wird. Die Analogie zur menschlichen Fähigkeit, aus eigener Kraft neue Weltbilder zu entwerfen, entzog sich gerade der Einsicht des Ich. Daher rührte seine Not. Erst durch die Erklärung des Engels ist der Anthropozentrismus einsichtig. Die Erklärung des Engels aus dem XII. Gedicht hilft auch zum Ver¬ ständnis von dessen eigener Existenz. Er ist, worauf viele Anspielungen hinweisen, ein biblisches Wesen. Er gehört in den Umkreis der christ¬ lichen Gottesvorstellung. Das „Vorspiel“ beläßt diese mythische Aura, zugleich aber gibt es dem Engel dadurch neue Geltung, daß es ihn zur Personifizierung des Selbst macht. Das „Vorspiel“ als Dichtung verleiht dem Engel, daß er „groß ist“ und „gilt“. Dieser Vorgang erscheint als Allegorisierung. Doch dieses Verständnis entspricht nicht dem vom Engel entwickelten. Nach diesem haben alle religiösen Gestalten nicht an sich Realität, sondern erst dadurch, daß ihnen Bedeutung verliehen wird. Wenn hier aber die Dichtung den Engel neu belebt, so heißt das, daß sie dadurch für sich beansprucht, Offenbarung des Ewigen zu sein. So schließt sich auch von dieser Seite der Kreis. Das „Vorspiel“ stellt Ge¬ orges Versuch dar, sich zum prophetischen Dichter zu ernennen. Er beanspruchte damit für seine Dichtung religiöse Weihe. Damit wurde sie jenseits aller besonderen Thematik grundsätzlich zur Aufschwunglyrik. Die Forderung „Nun hilf dir Ikarus“ war damit auf umfassendste Weise erfüllt. Mit der Unterordnung des Ich unter den Engel ist im „Vorspiel“ eine folgenschwere Entscheidung gefallen. Das Ich, das sich bisher als selbständig handelnd und leidend verstand, hat sich damit zur „kleinen Vernunft“ im Sinne Nietzsches erklärt, zum Anhängsel seines Selbst. Dieses steht dem Leib und der Natur nahe. Die Unterordnung des Ich unter den Engel bedeutet somit diejenige des Bewußtseins unter die Natur. Diese Verschiebung spiegelt sich im „Vorspiel“ indirekt in der Absage an alle historischen und gesellschaftlichen Formen. Die horizon¬ talen Orientierungen des Ich sind d^rch die eine vertikale ausgeschaltet und ersetzt. Daß das natürliche Selbst religiöse Qualitäten zugesprochen 318

erhält, bedeutet, daß auch Mythos und Religion zu Erscheinungen der Natur erklärt werden. Ihre überlieferten Inhalte sind demnach Objektivationen jener Sphäre, der das Selbst angehört. Sie sind als Natur¬ mythen Weisen, wie sich die Natur dem Ich verständlich macht. Die Identifizierung von Natur und Religion tendiert andrerseits darauf, den Naturgesetzen in der Ich-Sphäre verpflichtende Gültigkeit zu geben. Diese soll so in den alles durchwaltenden Rhythmus einbezogen werden. Indem die religiösen Gehalte naturalisiert werden, verlieren sie ihre Einmaligkeit. Sie können jeder Zeit und an jedem Ort neu entstehen oder neu belebt werden. Diese Erneuerung ist so gedacht, daß in den von der Natur dem Selbst eingegebenen Aufschwüngen traditionelle Gehalte aufgeschmolzen und mit neuem Leben erfüllt werden. Symptom dafür ist ein Synkretismus, der unbekümmert die Reinheit einmal ge¬ prägter Vorstellungen zugunsten ihrer Lebendigkeit preisgibt. Diese im „Vorspiel“ proklamierte Anschauung liefert die Theorie für die Elementarmetaphorik nach, die das bisherige Werk Georges hauptsächlich bestimmt hatte. Wir waren ihr schon in „Ikarus“ begegnet. Die Verbindung von höchstem Wert mit Sonne, Glanz, Glut, Feuer durchzieht das Gesamtwerk20. Die Objektivation des eigenen Selbstverständnisses hatte für George auch die Bedeutung eines Programms. Er weihte sich damit zum Sprach¬ rohr der ewigen Natur. Da er sich nun dem Göttlichen unverlierbar verbunden wußte, war die Aufschwungproblematik grundsätzlich ge¬ löst. Ein wirklicher Aufschwung mußte nun nur noch die Aktualisierung der Einheit mit dem Göttlichen bringen.

II. Georges

reinstes

Aufschwunggedicht

ist

„Entrückung“

aus

dem

„Siebenten Ring“. Es beschließt dort den innersten, „Maximin“ überschriebenen Teil. Enger als jedes andere der bisher betrachteten Auf¬ schwung-Gedichte gehört es zu einem Gedichtzyklus. Dieser wiederum zieht die Summe aus dem für George zentralen Maximin-Erlebnis. Dar¬ aus ergibt sich methodisch für die Interpretation, daß sie an manchen Stellen über das Gedicht hinausgehen und den gesamten Maximin-Kom-

20

Vgl. Stefan Schultz, Wellen und Flammen. A.a.O. S. 125—146

\

plex einbeziehen muß. Immerhin soll auch hier versucht werden, das Gedicht primär von seinem Wortlaut her zu verstehen. Ich fühle luft von anderem planeten. Mir blassen durch das dunkel die gesichter Die freundlich eben noch sich zu mir drehten. Und bäum und wege die ich liebte fahlen Daß ich sie kaum mehr kenne und Du lichter Geliebter schatten — rufer meiner quälen — Bist nun erloschen ganz in tiefem gluten Um nach dem taumel streitenden getobes Mit einem frommen schauer anzumuten. Ich löse mich in tönen • kreisend • webend • Ungriindigen danks und unbenamten lobes Dem großen atem wunschlos mich ergebend. Mich überfährt ein ungestümes wehen Im rausch der weihe so inbrünstige schreie In staub geworfner beterinnen flehen: Dann seh ich wie sich duftige nebel lüpfen In einer sonnerfüllten klaren freie Die nur umfängt auf fernsten bergesschlüpfen. Der boden schüttert weiß und weich wie mölke . .. Ich steige über Schluchten ungeheuer • Ich fühle wie ich über lezter wolke In einem meer kristallnen glanzes schwimme — Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimmme.21 Die Gliederung des Gedichts ist widersprüchlich. Von Strophenmaß und Reimschema her ist sie vierteilig. Durch die unechten Terzinen, die abacbc gereimt sind, werden je zwei Strophen zusammengebunden, was den Aufbau 2 + 2 + 2 + 2 ergibt. Die Mitte liegt zwischen der vierten und der fünften Strophe. Diesem Aufbau widerstrebt jedoch die syntak¬ tische Gliederung. Sie schließt die ersten drei und die letzten drei Stro-

21

Werke I, S. 293. Charles Du Bos geht in seinen „Maquettes pour un hommage ä Stefan George“ von „Entrückung“ aus, ohne jedoch eine strenge Inter¬ pretation zu geben. In: Approximations IV. Paris: Correa 1930. S. 165 ft.

320

phen zusammen, so daß sich die Strophen in 3 + 1 + 1 + 3 gliedern. Da¬ durch werden die beiden mittleren Strophen zur Symmetrieachse. Sie sind thematisch eine Einheit. Der Doppelpunkt am Schluß der fünften Strophe deutet eine Überleitungsfunktion an. Diese zweite Gliederung ist eher eine innere, sie steht zur ersten, gegen die sie sich durchzusetzen hat, in Spannung. Sie trägt schließlich die Bewegung, welche dem Terzinenmaß mit der Veränderung der Reimordnung genommen ist. Die erste Zeile kündigt aufs knappste die Bewegung an, auf die der Titel vorbereitet. Das Ich registriert an sich die Vorboten einer Ver¬ änderung. Noch aber ist alles unbestimmt, was sich grammatisch in der Artikellosigkeit ausdrückt. Unklar ist auch, wer mit „anderem planeten“ gemeint ist. „Planet“ ist in Georges eigenen Gedichten ein Hapaxlegomenon22. Es erscheint noch einmal in den Dante-Ubertragungen als Wie¬ dergabe von „pianeta“. Bei Dante ist damit die Sonne bezeichnet. Auch bei George wird in der sechsten Strophe in „sonnerfüllt“ die Sonne genannt. Doch in der ersten Zeile ist das noch nicht ersichtlich. Die Un¬ deutlichkeit macht auch eine astrologische Auslegung möglich. Das Ich spürt das Eintreten einer anderen Konjunktur voraus. Was bisher war, dreht sich von ihm weg. Die erste Zeile evoziert eine räumliche und eine zeitliche Bewegung. Das Ich ist von dieser Veränderung betroffen und beobachtet gleich¬ zeitig seine Betroffenheit. Die erste Zeile legt seine reflektierende Hal¬ tung fest. Sie gleicht derjenigen des Ich in C. F. Meyers „Himmelsnähe“. Doch gilt sie hier einem Vorgang, dem die Reflexion nicht ohne weiteres beikommt. Daraus resultiert die Unbestimmtheit, die das ganze Gedicht hindurch bestehen „bleibt. Was die erste Zeile geheimnisvoll andeutet, konkretisiert der erste Teil des Gedichts. Darin stellt das Ich eine Veränderung des Lichtver¬ hältnisses in seiner Umgebung fest. Die Inchoativa „blassen“, „fahlen“, „erlöschen“ zeichnen einen Vorgang des Verdämmerns nach. Er erfaßt fortschreitend Gesichter, Landschaft und den „geliebten Schatten“. In dieser Abfolge der Substantive scheint die Klimax der Verben preisgege¬ ben zu sein. Doch die Alliteration „lichter/geliebter Schatten“ läßt er¬ kennen, was es überhaupt mit diesem Lichtwechsel auf sich hat. Der Substantivreihe läuft diejenige der näheren Bestimmungen „die freund¬ lich eben noch sich zu mir drehten“, „die ich liebte“, „geliebter“ parallel. Daraus geht hervor, daß die Helligkeitswerte auf der inneren Anteil22

Vgl. Claus Victor Bock, Wortkonkordanz zur Dichtung Stefan Georges. Amsterdam: Castrum peregrini Presse 1964

321

21

Pestalozzi, Lyrisches Ich

nähme des Ich an den Objekten beruhen. Diese Objekte gehören alle einer näheren oder ferneren Vergangenheit an. Es sind Erinnerungen, Erinnerungsbilder des Ich. Es ist somit selbst die Lichtquelle der VAlt, zu der sie gehören. In jeder der ersten sechs Zeilen, die ihr eingeräumt sind, kommt ein Pronomen der ersten Person vor. Was das Ich in der ersten Zeile voraus spürt, ist das Verdämmern seiner bewußten Ich-Welt. Die Dämmerung, welche die ersten drei Strophen beschreiben, ist Abendund Morgendämmerung zugleich. Gesichter, Bäume und Wege versinken ins Dunkel, „durch“ wird wie oft von George im mittelhochdeutschen Sinn kausal verwendet. Die in der Erinnerung bewahrte Landschaft und Gemeinschaft werden unkenntlich, indem die Ich-Teilnahme daraus ver¬ schwindet. Damit löst sich auch die Bindung des Ich an die Umwelt. Im „rufer meiner quälen“ verschränken sich Licht und Dunkel untrennbar. Er ist ein „lichter schatten“ und erlöscht „in tiefere gluten“. Er ver¬ dämmert ins Licht. Rückblickend scheint die neue Lichtquelle, die sich durch ihn eröffnet, auch die Dunkelheit zu erklären, in welche Landschaft und Gesichter verdämmern. Es handelte sich dann um jene bekannte Er¬ scheinung, daß ein starkes Licht schwächere durch seine Helle überstrahlt. Interferenzpunkt von Licht und Dunkelheit ist der „rufer meiner quälen“. Durch ihn hängt das Gedicht mit dem Zyklus zusammen, den es beschließt. Der Geliebte Schatten ist Maximin. In der Umschreibung „lichter geliebter schatten — rufer meiner quälen —“ ist das Verhältnis Georges zu Maximin umschrieben, wie es auch die „Vorrede“ zu Maximin zeichnet. Daß er ein Schatten genannt wird, spielt auf seinen Tod an. Doch die antikisierende euphemistische Bezeichnung dient hier auch dazu, die Paradoxie zu verstärken, zumal die Apposition „rufer meiner quälen“ seine Dunkelheit unterstreicht. In doppelter Weise gilt diese Erinnerung einem leidvollen Objekt. Doch gerade durch die damit angedeutete zwiespältige und gesteigerte Inten¬ sität, die auf ihn gerichtet ist, kann der Schatten seine Bedeutung be¬ kommen. Die von ihm ausgelösten Emotionen überspülen ihren Anlaß und verselbständigen sich. Der Schatten verschwindet in Taumel und Schauer, die er hervorruft. Aus dem an ihn gebundenen wird auf diese Weise ein absolutes Gefühl. Der Schatten kann diese Mittlerfunktion zwischen den zuvor genannten erinnerten Objekten und dem absoluten Gefühl dadurch einnehmen, daß er allein nurmehr in der Erinnerung existiert. Er ist damit stärker als Gesichter und Landschaft dem Ich zu¬ gehörig. Das gibt dem Terminus „Schatten“ noch eine spezifischere Bedeutung. 322

Er deutet auf jenes Verhältnis, welches der Engel des „Vorspiels“ for¬ muliert. Maximins Göttlichkeit hatte ihren Ursprung in Georges Zu¬ neigung zu ihm. Er antwortete auf ein Suchbild des Heilbringers, das als Rolle an ihn herangetragen wurde. Mit den Worten der „Vorrede“: Als wir Maximin zum erstenmal in unserer Stadt begegneten, stand er noch in den knabenjahren. Er kam uns aus dem siegesbogen ge¬ schritten mit der unbeirrbaren festigkeit des jungen fechters und den mienen feldherrlicher Obergewalt jedoch gemildert durch jene regbarkeit und Schwermut, die erst durch jahrhunderte christlicher bildung in die angesichter des Volkes gekommen war. Wir erkannten in ihm den darsteiler einer allmächtigen jugend, wie wir sie erträumt hat¬ ten, mit ihrer ungebrochenen fülle und lauterkeit, die auch heute noch hügel versezt und trocknen fußes über die wasser schreitet — einer jugend die unser erbe nehmen und neue reiche erobern könnte.23

Doch zum tatsächlichen Heilbringer machte ihn nicht die Rolle, son¬ dern ein anderer, ursprünglicher Bereich, der als ihr Komplement durch sie zum Vorschein kam und den in der „Vorrede“ die Adjektive „ur¬ sprünglich, heldenhaft, märchenhaft, verwunschen, golden, fremd, un¬ faßbar, unheimlich, anders“ andeuten. Auch der Name gehört dazu, den „berger der goldenen kröne“24 umspielt. Es ist das Originelle an Maximin, im Doppelsinn des Ursprünglichen und Individuellen, das hinter dem mythischen Erscheinungsbild steht. Dieses ist es, was auf den Verleiher zurückwirkt, ja auch Maximin selbst beeinflußt. Medium dieses Bereichs und seiner Ausstrahlung ist vor allem die Stimme: Diese

stimme

war

besonders

rührend



am

mächtigsten

wenn

er lobte oder verteidigte oder uns aus den dichtem las und uns überraschte mit einem neuen Zauber des tönenden. Dann bezog sich die leichte bräunung seiner haut mit purpur und seine blicke leuch¬ teten so daß die unseren sich niedersenkten. Aber auch ohne daß er sprach und tat: seine bloße an Wesenheit im raum genügte um bei allen das gefühl von leibhaftem duft und wärme zu erwecken. Willig gaben wir uns der verwandelnden kraft hin die nur anzu-

23

24

Werke I, S. 522. Das Suchbild führt in der Struktur dasjenige weiter, das George 15 Jahre früher an Hofmannsthal herangetragen hatte. Doch ist es nun literarisch anders ausgerichtet. Vgl. George—Hofmannsthal BW S. 12 Der Hinweis auf diese scharadenartige Anspielung bei Schultz, a.a.O. S. 154. Schultz macht das Synkretistische an Georges Maximin-Kult durch die Beiziehung vieler mythengeschichtlicher Parallelen anschaulich.

hauchen oder anzurühren braucht um den alltäglichen Umgebungen einen jungfräulichen paradiesischen Schimmer zu spenden.25 Nach dem „Vorspiel“ ist aber gerade auch dieses „andere“

an

Maximin etwas Verliehenes, das sich objektiviert. Maximin wurde für George zur Personifikation seines eigenen anderen, des Selbst. In der „Vorrede“ wird Maximin so dargestellt, als habe das „andere“26 Maxi¬ mins Erscheinung gleichsam aufgezehrt und so zu seinem frühen und jähen Tod geführt, der zugleich das Suchbild des mythischen Heilbrin¬ gers bestätigte. Die Ewigkeit, in die er dadurch einging, war das Innere Georges und seiner Freunde. Er wurde ihnen nun endgültig zum Mitt¬ ler zu ihrem eigenen Selbst. Sein Tod war dafür Anlaß und Bedingung der Möglichkeit zugleich. Die dritte Strophe von „Entrückung“ deutet diesen Umwandlungs¬ prozeß des Schattens als Vorgang, bei dem das Helldunkel in die größere Helle verdämmert und darin aufgeht. Das Götterbild versinkt in dem Element, aus dem es lebte. Der letzte Rest ist in der Bezeich¬ nung des Schauers als „fromm“ zu erkennen. Er verdient dieses Ad¬ jektiv, weil er die Schwelle bildet zu jenem Bereich, der die Göttlich¬ keit verlieh. Damit ist der erste Teil des Gedichts abgeschlossen. Die Veränderung, die sich in ihm ereignete, betraf die Welt des bewußten Ich, die aus Erinnerungsbildern bestand, die zugleich von Emotionen tingiert waren. Überwog in Landschaft und Gesichtern der Anteil des Objektiven die Emotionalität, so war umgekehrt im geliebten Schatten diese dominie¬ rend. Sie löschte das Erscheinungsbild auf und wurde als „frommer schauer“ beinahe selbständig. Damit hatte sich das Ursprüngliche gegen seine Objektivationen durchgesetzt, doch hatte der Schatten als mythische Objektivation erst diesen Wandel möglich gemacht. Im Mittelteil setzt akustisches Geschehen ein. „Ich löse mich in tönen.“ Noch immer ist das Ich dabei Beobachter. Es vollzieht sich etwas an ihm ohne sein Zutun. Bei diesem unwillkürlichen Tönen ist an jene Sprache der Empfindung zu denken, die nach Herder aller artikulier25 26

Werke I, S. 524 Den Begriff „das andere“ stellt Koch, offensichtlich unter dem Eindruck von Rudolf Ottos Buch „Das Heilige“, ins Zentrum seiner George-Deutung. Willi Koch, Stefan George, Weltbild, Naturbild, Menschenbild. Halle 1933. Vgl. die Besprechung dieses Buches durch Walter Benjamin, Rückblick auf Stefan George. Schriften II, S. 323. Die Bedeutung von Benjamins Aufsatz liegt in der Einordnung Georges in den Jugendstil.

ten Sprache vorausliegt und in der sich „die empfindsame Maschine“ un¬ mittelbar äußert. Die Lautungen, die das Ich aus sich ausbrechen hört, sind mit „ungründigen danks“ und „unbenamten lobes“ als solche bezeichnet, denen aller Inhalt genommen ist. „Kreisend, webend“ benennt das Gesetz dieser Äußerungen. Es geht auch hier um eine Bewegtheit, deren gleiche Phasen wiederkehren. Zusammen mit den negativen Bestimmungen cha¬ rakterisieren sie eine ähnliche Doppelheit, wie wir sie bei Nietzsche ge¬ funden haben, wo die rhetorische Verfremdung auf die Wiederkehr des gleichen tendierte27. Die Lösung in Tönen ist entsprechend Georges Tendenz, Komposita unter Beibehaltung ihrer Bedeutung auf einfache Verben zu reduzieren, Ablösung, Auflösung und Erlösung zugleich. Der Vorgang, der im ersten Gedichtteil etwas Unheimliches hatte, enthüllt sich nun als eindeutig po¬ sitiv. Das Ich ergibt sich ihm „wunschlos“. Das Ich, das sich in Tönen löst, empfängt zugleich die Bewegung zurück, die von ihm ausgeht. In der fünften Strophe ist es demon¬ strativ als Objekt vorangestellt. Das Ausgesprochene wirkt auf den Sprecher zurück und tut ihm Gewalt an nach Art der reflexiv-patheti¬ schen Rede28. Nun wird die Funktion auch deutlich, die dem Akustischen zukommt. Es ist das Medium, in dem der Mensch zugleich hervorbrin¬ gend und empfangend sein kann. So kann es die Mitte bilden, an der die aus der Auflösung entstandene Bewegung wiederum produktiv wird. Diese Wirkung illustrieren die Beterinnen, die außer sich von der In¬ brunst ihrer eigenen Gebete im Staub liegen, nurmehr Attribute ihrer selbständig gewordenen Schreie. Das Gebet ist damit ebenfalls aller In¬ halte entkleidet und zum psychischen Vorgang der Selbstbeschwörung geworden, bei dem Betender und Erhörender verschiedene Schichten einer Person sind. Der Vergleich mit den Beterinnen erfüllt ferner die Funktion, auch das, was sich an dem Ich vollzieht, religiös zu deuten. Es steht in Ana¬ logie zu dem, was den Beterinnen widerfährt. Aber wie zuvor aus Lob und Dank die Inhalte getilgt wurden, so besteht auch hier die Weihe allein im Rausch. Sie geschieht nicht mehr im Namen von etwas oder jemandem. Diese Reduktion religiöser Phänomene auf physio-psycho-

27 28

Vgl. das Nietzsche Kapitel dieser Arbeit. Vgl. Staigers Bemerkungen zum Pathos in: Grundbegriffe der Poetik. Zürich: Atlantis 1946. S. 156 ff.

325

logische Vorgänge, resp. die Aufwertung der letzteren zu religiösen ist im „großen atem“ und in „ein ungestümes wehen“ am deutlichsten. Hinter beiden Ausdrücken ist der alte Begriff des göttlichen jiveüjia, Spiritus, zu erkennen, der die Menschen ergreift. Aber hier handelt es sich nur noch um den menschlichen Atem. Die Metapher ist rückgängig gemacht, das Bild ist zur Sache geworden. Das bedeutet, daß der weihende Atem derjenige des zu weihenden ist. Was aber berechtigt dazu, diesem physiologischen Vorgang religiöse Bedeutung zu geben? Wo liegt die Differenz zum gewöhnlichen Atem? „Atem“ und „Wehen“ sind quantifizierende Adjektive „groß“ und „un¬ gestüm“ beigegeben. Sie ordnen sich ein in die übrigen Adjektive des Mittelteils, „ungründig“, „unbenamt“, „wunschlos“, „ungestüm“, „in¬ brünstig“. Alle stehen sie unter dem Vorzeichen „fromm“ aus der Schlu߬ zeile des ersten Teils. Offensichtlich gilt die Intensität des Gefühls als Kennzeichen einer religiösen Macht. Sie geht hervor gerade aus der Til¬ gung aller inhaltlichen Momente, wie die privativen Adjektive zeigen. Intensität und inhaltliche Festlegung sind somit Alternativen. So geht aus dem Verdämmern im ersten Teil der Ausbruch des überstarken Gefühls hervor. In diesem besteht die Weihe. Sie öffnet den Zugang zu jenem Bereich, in dem die Intensität ihren Ursprung hat. Der Doppel¬ punkt markiert die Schwelle. Im Mittelteil wiederholt sich somit am Ich, was zuvor mit dem Schatten geschehen war: es löst sich auf unter der Einwirkung jener Sphäre, in der es seinen Ursprung hat. Das Ich wird im Rausch von seinem Selbst überwältigt. Es gerät unter dessen Befehl und wird zum Organ einer höheren Gewalt. Für den mit der sechsten Strophe beginnenden dritten Teil heißt das, daß er eine andere Qualität hat als der erste, mit dem ihn das Medium des Optischen verbindet. Er enthält eine Vision, die aus diesem eröffneten Ursprung gespeist wird. Jetzt erst beginnt der Aufschwung. Der dritte Teil gliedert sich gegen Strophenmaß und Syntax in drei Abschnitte a 4, 3 und 2 Zeilen, deren Trennung durch die auslaufenden Punkte und den Gedankenstrich angedeutet ist. Das sukzessive Kleiner¬ werden der Teile führt zu einer Verjüngung des Gedichts, die dem darin evozierten Aufschwung parallel läuft. Daß ein Zeilenpaar den Abschluß bildet, schiebt die Schlußpointe über das Gedicht hinaus in die Pause, die nach seinem Aufhören eintritt. Den drei Abschnitten entsprechen drei verschiedene Situationen: Zuerst eine wie auf hohen Bergen, dann der Aufstieg in das Lichtmeer, schließlich die Einheit mit dem Ursprung 326

des Kosmos. — Im dritten Teil des Gedichtes fällt der Reim „lüpfen“ —• „bergesschlüpfen“ besonders ins Ohr. Er stellt innerhalb des Gedichts einen sprachlichen Absturz dar. Ähnliches gilt für das Reimwort „mölke“. Ebenso deutlich aber ist die Absichtlichkeit dieser mundartlichen Färbung. Sie läßt die Intention erkennen, die Aufwärtsbewegung sprachlich zu spiegeln und dafür eine im gegebenen Rahmen des hohen Stils möglichst niedrige Ausgangslage zu schaffen. Diese ist nach den auslaufenden Punk¬ ten bereits wieder verlassen, und in den beiden parallelen „ich-bin“Formeln hat das Gedicht seine hieratischste Gestalt erreicht. Da bei diesem sprachlichen Aufstieg der Rahmen des hohen Stils bestehen bleibt, kann er nur stilisiert stattfinden. Das Mittel dazu sind die beschriebenen vereinzelten Andeutungen. Da diese jedoch nicht völlig integriert sind, entsteht dennoch der Eindruck eines Stilbruchs. Er ist um so deutlicher, als sich das Gedicht sonst weitgehend im Rahmen blasser traditioneller Reime gehalten hatte. Es ist kein Zufall, daß diese Pro¬ blematik in diesem dritten Gedichtteil auftritt. Hier geht es darum, zu gestalten, was vom Dichter aus jenseits des Sagbaren liegt, wofür daher einzig die Sprache selbst bürgen muß. Deshalb verstärkt sie das Auf¬ gebot rhetorischer Mittel, ja man meint die Tendenz zu erkennen, den Inhalt in Rhetorik aufzulösen. Wenn unsere Deutung des Mittelteils zutrifff, so geht es hier darum, jene Intensitätssteigerung wahrnehmbar zu machen, die nach der Konzeption des Gedichts in die Heiligkeit führt. Die Ausgangssituation wird der auf einer Bergeshöhe verglichen, welche zur Nebelgrenze hinaufreicht. Diese Bildlichkeit unterstreicht den zentralen Begriff der Freiheit, der in der zweiten Zeile anklingt. Wir meinen, auf dem Hintergrund der Motivtradition die Bedeutung dieses Ausgangspunktes zu erkennen. Der Berggipfel ist als höchster irdischer Punkt jene Stelle, an der der Mensch sich an der Grenze der Welt be¬ findet, ohne sie zu verlassen. Der Blick nach unten und oben ist frei. Hier ist der Tiefenblick durch den Nebel verstellt. Es geht nicht darum, vom äußeren Punkt der Welt aus ihr ewiges Gesetz zu erkennen. Viel¬ mehr kann von hier aus die Bewegung aus der Welt und über sie hinaus ihren Anfang nehmen auf den anderen Planeten zu. — Bei Nietzsche offenbarte sich auf hohen Bergen das individuelle Selbst. Hier bildet dieses lediglich den Ausgangspunkt für die Auflösung in ein Absolutes, das noch dieses Selbst übersteigt. Das individuelle Selbst ist eine Posi¬ tion, die ebenso ins Licht verdämmern muß wie die konkreten Bezüge zur sichtbaren Welt. Die ersten vier Zeilen des dritten Teils evozieren, wie die Bewegung 327

N

immer näher an das Ich herankommt. Erst sind es nur die Nebel, die in den Aufwind geraten. Dann kommt der Boden ins Wanken, schlie߬ lich greift die Bewegung auf das Ich über. Das Ich, das so ergriffen wird, ist das bewußte Ich, das bisher unverrückt beobachtend den Wandlungen entzogen geblieben war. Nun ihm der Blick auf die Welt genommen ist, setzt seine Veränderung ein. Diese Veränderung ist daran abzulesen, daß das Ich grammatisch und nach seiner Stellung im Vers beherrschend wird. Es tritt viermal an den Zeilenanfang als Subjekt. Die beiden Schlu߬ strophen korrespondieren insofern mit den beiden ersten, als fast ebenso viele Pronomina der ersten Person darin Vorkommen. Am Anfang ist, sieht man von der ersten Zeile ab, das Ich den Objekten, die zu ihm gehören, beigeordnet. Es steht in Relation zu andern Erscheinungen. Am Gedichtschluß aber ist es Subjekt intransitiver Verben. Seine beherr¬ schende Stellung ist verbunden mit seiner Bewegung, während es zuvor als Beobachter fest stand. Diese Bewegung über die Welt hinaus geschieht im Medium des Lichts. Das erinnert an den Schwimmervergleich in Baudelaires „Eleva¬ tion". Aber während dort das Ich für sich allein seine Losgelöstheit von der Welt genießt, „Dort regst du dich in freiheit"29, hat George über¬ setzt, geht es in „Entrückung" ein in den Glanz und das Licht. Es be¬ folgt damit, mißt man es an „Elevation", die Aufforderung der Mittel¬ strophe, die in der Übersetzung Georges den Bezug deutlich erkennen läßt: Flieh weit aus dieser kranken dünste giften, In einem höhern luftraum werde rein Und trink wie einen himmlisch echten wein Das klare feuer in den lichten triften!30 Die Zeile „Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer" antwortet direkt darauf. Damit ist es Ikarus gelungen, zum „feuerball“ zurückzukehren. Der „andere planet" ist erreicht. Doch nach der kopernikanischen Wendung, des „Vorspiels“ ist die heilige Sonne nurmehr eine Objektivation des Rausches, anders gesagt die Metapher für eine innerste Sphäre des Men¬ schen. Der Aufschwung spiegelt einen Abstieg dorthin, wo das Selbst in die Natur übergeht.

29 30

Werke II, S. 238 Ebd.

328

Es überrascht, daß die Schlußzeile, die der vorletzten genau parallel verläuft, dem abschließenden optischen noch einen akustischen Aspekt beifügt, ohne daß dadurch eine grundsätzlich andere Ich-Bestimmung dazu käme. Ließ sich zudem das „heilige feuer“ aus dem Kontext ver¬ stehen, so muß nach Abschluß des Gedichts völlig vage bleiben, was unter der „heiligen stimme“ vorzustellen ist. Im Kult um Maximin spielte Maximins Stimme eine zentrale Rolle. Sie ging von Maximin aus und war doch seiner Kontrolle entzogen. Er erschien als ihr Instrument, sie tönte durch ihn hindurch. Auf ihr beruhte in erster Linie seine verwandelnde Wirkung. Die „Vorrede“ beschreibt, wie die Stimme ihn überlebte und in die zurückgebliebenen Freunde eindrang. Auch im „Vorspiel“ wird besonders betont, daß die Stimme des Engels fast der des Ich glich. Und schließlich belegt auch der Mittel¬ teil von „Entrückung“ den Ursprung der Stimme aus dem Bereich des Selbst. In der Schlußzeile erklärt sich somit das Ich zum Instrument, das vom Selbst gespielt wird. Es dröhnt Naturlaute. Die Schlußzeile stellt das jedoch nicht nur fest. Sie stellt eine Reflexion darauf dar, daß das Gedicht und sie selbst gesprochen wird. Die heilige Stimme ist die Stimme dessen, der das Gedicht spricht. George und sein Kreis haben großen Wert darauf gelegt, daß Gedichte laut ge¬ lesen werden31. George soll dafür eine eigene psalmodierende Intonation entwickelt haben, die derjenigen Moissis nicht unähnlich war. In diesem Ton hat man sich das Gedicht vorgetragen zu denken. Diese Vortrags¬ weise darf jedoch, soll die Schlußzeile zurecht darauf reflektieren, nicht nach Belieben zum Gedicht hinzukommen. Es muß von seiner Gestalt her zu einer solchen Vortragsweise drängen. Georg von Lukäcs hat in seinem ein Jahr nach dem Erscheinen des „Siebenten Rings“ ge¬ schriebenen Aufsatz32 über George mit Recht davon gesprochen, daß in dieser Lyrik, anders als in der auf das Volkslied zurückgehenden, die Begleitmusik wegfallen könne, da sie durch die Kombination von Voka¬ len und Konsonanten in den Text selbst hineingenommen sei. Das führe zur Einheit von Text und Ton, Melodie und Begleitung. Das heißt, daß das Gedicht eine Sprechpartitur bildet, die in Lautung umgesetzt zu werden verlangt33.

31 32

Vgl. Robert Böhringer, Über Hersagen von Gedichten, Das Leben von Ge¬ dichten. Nun in: George-Kreis S. 93 ff. Georg von Lukäcs, Die neue Einsamkeit und ihre Lyrik. In: Die Seele und die Formen. Berlin 1911

Es ist hier nicht notwendig, auf alle Mittel der sprachlich-rhetori¬ schen Instrumentation im einzelnen einzugehen. Sie sind im wesentlichen dieselben wie bei Nietzsche, doch sind sie mit größerer Berechnung ein¬ gesetzt. Man kann eine Steigerung feststellen: Im ersten Teil sind sie sparsam verwendet. Die differenzierte syntaktische Konstruktion ist be¬ stimmender als vereinzelte Ornatuselemente.

Im Mittelteil kommen

Klangqualitäten ins Spiel, die sogar zu einem Binnenreim führen. Im dritten Teil setzt sich immer stärker der rhetorisch-pathetische Paralle¬ lismus durch, den dann die Schlußzeilen rein verwirklichen. Im rhetori¬ schen Ornatus verschwindet die inhaltliche Aussage immer mehr. In eben dieser Emanzipation des Ornatus besteht das Dröhnen, auf das sich die Schlußzeile bezieht. Schließlich gehört auch die Tektonik des ganzen Gedichts, von der am Anfang die Rede war, zu den musikalischen Momenten, von denen Lukäcs spricht. Die Gegenläufigkeit von Strophenordnung und Bewe¬ gungsablauf entspricht derjenigen von Takt und Rhythmus oder Melodie. Diese Beobachtungen hatte Georges berühmte Definition auf die For¬ mel gebracht: Den wert der dichtung entscheidet nicht der sinn (sonst wäre sie etwa Weisheit gelahrtheit), sondern die form d. h. durchaus nichts äußerliches sondern jenes tief erregende in maaß und klang wodurch zu allen Zeiten die Ursprünglichen die Meister sich von den nachfahren den künstlern zweiter Ordnung unterschieden haben.

. . . die Zusammenstellung, das Verhältnis der einzelnen teile zu einander, die notwendige folge des einen aus dem andern kennzeichnet erst die hohe dichtung.34 Form ist verstanden als Medium der Wirkung. In ihr liegt beschlossen, was George als das Besondere der Dichtung bezeichnet: das geheimnis der erweckung und das geheimnis des Übergangs.35 Form ist das provokative Moment des Gedichts. In ihr ist bereits ent¬ halten, was sie erregt, so daß es heißen kann: Strengstes Maß ist zugleich höchste freiheit.33

33

Schönberg hat „Entrückung" vertont im letzten Satz des Streichquartetts op. io Nr. 2

34 35 36

Werke I, S. 530 A.a.O. S. 531 A.a.O. S. 530

330

'■

Nach diesem Grundsatz ist der letzte Teil von „Entrückung“ ge¬ staltet. Durch die formalen Elemente wird suggeriert, was das Gedicht aussagt. Damit aber erscheint die Form doch als etwas Äußerliches. Die Form-Inhalt-Relation ist onomatopoetisch. Die sprachliche Form ist die Metapher des Gehalts und umgekehrt. Eines kommt zum andern hinzu. Auch der Reim wird metaphorisiert, wenn George fordert, daß zwischen durch den Reim verbundenen Worten eine innere Verbindung bestehen müsse, sonst sei er ein bloßes Wortspiel. Der Adressat dieser Wirkung ist der Leser. In ihm soll das Gedicht den Aufschwung provozieren, das Absterben der Erinnerungswelt und daraus sich ergebend das Lautwerden der eigenen Ursprünglichkeit. Das ist genau jene Art der Wirkung, welche im Mittelteil im Vergleich mit den Beterinnen anklingt. Indem nun das Gedicht zum Schluß auf die Stimme des Vortragenden aufmerksam macht, deutet es auf das, was es als ganzes legitimiert. Wenn die eigene Stimme vernommen wird als fremde und durch das Gedicht verfremdete, dann ist jene Ich-Freiheit erreicht, die das Gedicht anstrebt. Es ist zur Offenbarung der innersten Lebendigkeit geworden, die es wortlos weiterführt. Wir fanden auch bei Mallarme und Hofmannsthal Beispiele, wie das Gedicht auf etwas hinführt, was nicht mehr es selber ist. In beiden Fällen ging es um das Schweigen. Georges Entrückung zielt auf die kon¬ krete Leiblichkeit. In ihr soll der Leser sein Selbst erfahren. Schon Georges frühes Gedicht „Weihe“ arbeitet mit diesem Mittel: Die vorletzte Strophe bereitet dort den Kuß der Herrin vor, ein Dop¬ pelpunkt leitet zu ihm über, so daß er in der folgenden Pause als statt¬ findend zu denken ist. Die folgende Strophe spricht von ihm im Praeteritum. Die Schlußzeilen lauten: Daß sie im Kuß nicht auszuweichen strebte Dem finger stützend deiner lippe nah.37 Über die letzte Zeile ist viel gerätselt worden38. Sie klärt sich, wenn man sie als Andeutung auf die typische Lesehaltung versteht, die deshalb so unbestimmt gelassen ist, um möglichst viele verschiedene Nuancen aufnehmen zu können. Wie der Schluß von „Entrückung“ auf die Stimme, reflektiert dieses frühe Gedicht auf die Gebärde des Lesers, um zu beglaubigen, was es aussagt. Je ungewohnter dieser Gehalt, um 37 38

A.a.O. S. 9 Vgl. Ernst Morwitz, Kommentar zu dem Werk Stefan Georges. München. Düsseldorf: Küpper vorm. Bondi i960. S. 9 331

V

so wichtiger wird diese Legitimation durch das Leben. Wenn diese auch nur an einem Punkt, Haltung, Stimme, gelingt, ist die Übereinstimmung des Gedichts mit dem Leser und damit die Berechtigung seiner Aussage gewährleistet; denn es beansprucht, Offenbarung eines Göttlichen zu sein, das sich jeder dogmatischen Fixierung entzieht, aber jedem Ich als natürlicher Ursprung zugrunde liegt. Zu diesem Ursprung führt der Aufschwung zurück, den das Gedicht zum Thema hat und selber darstellt. Durch es soll sich der Mensch als Stimme erfahren und damit an jene Grenze gelangen, wo er als Einzel¬ ner sich mit dem Allgemeinen und Göttlichen berührt. Dieser Bereich ist jenseits des Bewußtseins. Er ist damit auch jenseits aller Vorstellung und Sprache. Dennoch hat das Gedicht eine festumrissene Sprachgestalt, und in den einzelnen Teilen bestehen konsequente Bildketten. Beides verdankt es der Orientierung am Vorbild Dantes. Um die Funktion dieser Stilisierung zu klären ist es nötig, auf Georges Verhältnis zu Dante etwas näher einzugehen. Nach verschiedenen Zeugnissen und Photographien bestand zwischen George und Dante, wie ihn die Bild¬ nisse überliefern, eine erstaunliche physiognomische Ähnlichkeit. Sabine Lepsius berichtet, daß George selbst einmal vor dem Spiegel angesichts seines durch eine entsprechende Drapierung unterstrichenen dantesken Aussehens betroffen verstummt sei39. Er legte der Physiognomie als Spie¬ gel des Innern große Bedeutung zu. Das kommt in seinen kurzen Cha¬ rakterisierungen von Mallarmö und Verlaine zum Ausdruck40. Die Ähn¬ lichkeit mit Dante konnte George nicht für zufällig nehmen. Wenn er auf den Münchner Faschingsfesten als Dante angetan erschien, war das nicht nur Mummenschanz, sondern Darstellung einer geheimen Identität. Sie schien zu profilieren, was die Natur angelegt hatte. Dante war für George nicht primär der Repräsentant des Trecento. Die erste Erwähnung im „Vorspiel“ nennt ihn neben den „attischen gottesdienern“, Petrarca und Shakespeare als einen jener „höchsten meister“, die „trost und beispiel“ sein können41. Im „Siebenten Ring“ tritt er mit Goethe, Nietzsche, Böcklin, Leo XIII., Elisabeth von Öster¬ reich und Carl August Klein in eine Reihe42. Im Abschnitt über Mal¬ larme schließlich wird er unter jenen Dichtern genannt, in deren Dunkel¬ heiten „wir das pochen und zucken unserer eigenen seelen mit genug39 40 41 42

Sabine Lepsius, Stefan George. Berlin: Die Runde 1935. S. 35/36 Vgl. Werke I, S. 505, 508 A.a.O. S. 183 Zeitgedichte; ebd. S. 227 ff.

332

tuung herausfühlen“43. Zu Dante bestand für George ein Verhältnis idealer Gleichzeitigkeit. Er war als Mensch und in seiner Dichtung gegen¬ wärtig als Gestalt, in der und durch die die eigene Lebendigkeit sich erkennen und erfassen konnte. Worin das Spezifische dieser Möglichkeit für George lag, deutet der Passus „Kunst und menschliches Urbild“ an: Unsere lebensfließung (rhythmus) verlangt außer uns das urbild das in den vielen menschlichen gestalten oft einzelne züge und zeit- und näherungsweise eine Verkörperung findet. Eine andere erklärung gibt es weder für die Dantesche Geliebte noch für den Shakespearischen Freund. Nach der einen wirklichen Beatrice und dem einen wirklichen W. H. zu suchen ist eine Spielerei der ausleger.44 Hinter diesen Worten ist dieselbe Konzeption zu erkennen wie hinter dem

„Vorspiel“. Der Lebensrhythmus verleiht einer andern

Gestalt Gültigkeit und macht es möglich, daß diese auf das Ich zurück¬ wirkt. Die Liebe wird so in einem subtilen Sinn homoerotisch verstan¬ den. Diese Gesetzmäßigkeit war es, die George u. a. bei Dante ausge¬ prägt fand. Er verhielt sich damit zu Dante wie dieser sich zu Beatrice verhielt: Er sah in ihm seine eigene „Lebensfließung“ gestaltet. Die Bestätigung dafür sind die Versuche, das Verhältnis zu Maximin in demjenigen Dantes zu Beatrice zu spiegeln. Diese Spiegelung realisierte sich wiederum am sinnenfälligsten im Münchner Fasching. Kronberger notierte 1904 in sein Tagebuch: Wir bildeten eine Dichtergruppe, und zwar Wolfskehl, geführt von einem Leierknaben, als Homer, dann Vergil, hierauf George als Dante, von mir als einem Florentiner Edelknaben geführt. — Def Anzug paßte mir prächtig. Ich hatte rote Strümpfe, einen rotseide¬ nen Überwurf, in der Hand eine rote Kerze und auf dem Kopf einen Kranz von roten Nelken. . . . George als Dante hatte einen weißen Überwurf, einen weißen Kopfputz und einen Lorbeerkranz.45 Die Verkleidung Maximius schließt an die Schilderung Beatrices bei ihrem ersten Auftreten in der „vita nuova“ an46. George rezitierte bei 43 44 45

A.a.O. S. 506 A.a.O. S. 532 Zit. in: Stefan George in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Franz Schönauer. Hamburg: Rowohlt i960 (rowohlts monographien 44).

46

S. in „Apparve vestita di nobilissimo colore, umile e onesto, sanguigno, cinta e ornata a la guisa, che a la sua giovanissima etade si convenia.“ „Vita Nuova“ II

333

dieser Gelegenheit seine Übersetzung des ersten Gesanges aus dem „Purgatorio“47, jene Stelle, an der Vergil Dante auf Catos Geheiß mit Schilf bekränzt, damit er sich nach dem Gang durch die Hölle gereinigt weiter¬ bewege: Dort geht die sonne auf, ihr sollt erproben Auf bestem steig den berg hinaufzuziehen.48 Es macht den Anschein, als wollte George damit eine Epoche seiner menschlichen und dichterischen Existenz markieren. Der plötzliche Tod Kronbergers zwei Monate nach dem geschilderten Aufzug erscheint wie die Vollendung dieser Inszenierung durch eine im Hintergrund wirkende Regie49. Auch Beatrice war in jungen Jahren gestorben. Georges unzweifelhaft echten Schmerz mag ein Gefühl von Schuld zu jener Krise gesteigert haben, die er nach diesem Ereignis zu überstehen hatte. Aber die Weiterführung der Spiegelung durch das Leben und die Intensität seines Schmerzes mußten ihm zugleich als schicksalhafte Bestätigung dafür scheinen, daß er nicht nur der Schau¬ spieler, sondern wirklich eine Art Reinkarnation Dantes sei. Hier hatte sich derselbe Übergang von der Dichtung ins Leben im großen vollzogen, der im Kleinen am Schluß von „Weihe“ und „Entrückung“ intendiert ist. So wurde es möglich, daß Leben und Tod Maximins zum Ausgangs¬ punkt einer Heilsgewißheit wurden, wie es Leben und Tod Beatrices für Dante gewesen waren. Der erste literarische Niederschlag, die „Vorrede“ zum Maximin Gedenkbuch, steht unverkennbar im Schatten Dantes. Lorenzo Bianchi50 hat die einzelnen Anklänge an die „Vita nuova“ und die „Commedia“ in einzelnen Ausdrücken, Bildern und selbst im Rhythmus aufgezeigt. Die „Vita nuova“ endet mit dem Hinweis, Dante werde dereinst von Beatrice in einer Weise sprechen, wie noch von keiner je gesprochen worden51. Dieses Versprechen löste Dante mit der „Divina Commedia“ auf das großartigste ein. Bei George scheint ein entsprechend gewaltiger Schlußteil zu fehlen. An dessen Stelle schien die Übersetzung einzelner 47 48

Vgl. Kronbergers Tagebuch, zit. bei Schönauer S. in Werke II, S. 52

49

Dieser Gedanke der Bestätigung der literarischen Stilisierung durch das Leben im Tod erscheint als Überlegung auch bei Hofmannsthal im Zusam¬ menhang mit Antinous. A S. 136. Er ist ferner der Kern einer Künstler¬ novelle von Dehmel.

50 51

Lorenzo Bianchi, Dante und Stefan George. Bologna: Zanichelli 1936 „Vita Nuova“ XLII

334

Partien aus der „Göttlichen Komödie“ zu treten, mit der George schon 1900 begonnen hatte. Das anthologische Verfahren seines Übersetzens rechtfertigte George in der Vorrede zur 1. Auflage von 1909: Er [sc. der Übersetzer] weiß, daß das ungeheure weit-, staats- und kirchengebäude nur aus dem ganzen werk begriffen wird. Was er aber fruchtbar zu machen glaubt ist das dichterische, ton bewegung gestalt: alles wodurch Dante für jedes in betracht kommende volk (mithin auch für uns) am anfang aller Neuen Dichtung steht.52 Das ist die Anwendung jener Maxime aus den „Blättern für die Kunst“: Die älteren dichter schufen der mehrzahl nach ihre werke oder woll¬ ten sie wenigstens angesehen haben als stüze einer meinung: einer Weltanschauung — wir sehen in jedem ereignis jedem Zeitalter nur ein mittel künstlerischer erregung. Auch die freisten der freien konn¬ ten ohne den sittlichen deckmantel nicht auskommen (man denke an die begriffe von schuld u.s.w.) der uns ganz wertlos geworden ist.53 Das bedeutet, daß in der „Divina Commedia“ das Geschichtliche, Ethische und Theologische zum Beiwerk wird, zum Medium der künst¬ lerischen Erregung. Wir hatten gesehen, daß dieses Moment auch in Dantes Werk eine wichtige Rolle spielt: Die äußere Bewegung durch den Stufenkosmos wird von einer inneren begleitet. George isolierte diese Schicht und erklärte sie für die eigentliche. Der mittelalterliche Weltaufriß wurde ihm so zum Überbau einer innersten Bewegung. Das Epos war eigentlich ein lyrisches Gedicht. So stellt es George dar, wenn er Dante in „Dante und das Zeitgedicht“ sagen läßt: Ich nahm aus meinem herd ein scheit und blies — So ward die hölle, doch des vollen feuers Bedurft ich zur bestrahlung höchster liebe Und zur Verkündigung von sonn und Stern.54 Nach dieser Auffassung Georges von Dantes Weltepos müßte seine Entsprechung dazu, die an die Maximin-Vorrede anschlösse, nicht eben¬ falls ein Epos sein. Sie könnte ein lyrisches Gedicht von durchschnittlicher

52

Werke II, S. 7 Vorrede. — Vgl. auch Gerd Michels, Die Dante-Übertragun¬

53 54

gen Stefan Georges. München: Fink 1967 Auslese I, S. 13 Werke I, S. 228. Auch hier ist die Feuer-Glut-Metaphorik wichtig. Davon, daß George das „Purgatorio“ unerwähnt läßt, wird weiter unten gesprochen.

335

V

Länge sein und auf Lehrinhalte irgendwelcher Art verzichten. Wir mei¬ nen es in „Entrückung“ vor uns zu haben. Die drei Teile des Gedichts lassen sich zu „Inferno“, „Purgatorio“ und „Paradiso“ in Beziehung setzen. Einerseits in bezug auf die Stil¬ lagen: Der dem ersten Teil gegenüber gehobenere Stil des Mittelteils ent¬ spricht dem gegenüber dem „Inferno“ erhabeneren des „Purgatorio“. Und ebenso gewinnt in beiden Fällen die Sprache im dritten Teil höchste Feierlichkeit. Was von Dante gesagt wurde, er sei im „Inferno“ teilnehmender Zuschauer, im „Purgatorio“ werde er selbst verwandelt und im „Paradiso“ erfolge der eigentliche Aufschwung55, gilt auch vom Ich in „Entrückung“. Dessen Bewegung verläuft gemäß der Topographie der „Commedia“ erst in die Tiefe, dann auf anderem Weg in die Höhe und schließlich von einer Bergeshöhe hinaus in den kosmischen Raum. Wie das große Vorbild ist „Entrückung“ von einer Lichtmetaphysik bestimmt, welche ein System von Hell und Dunkel schafft, in das sich alle Erscheinungen einordnen. Dabei spielt bei George der damit zusammen¬ hängende Aspekt der Wärme bezeichnenderweise eine größere Rolle als bei Dante. Eingeführt wird das Lichtthema mit der ersten Zeile, welche an die Verse Inf. I, 16—18 anknüpft, die George so übersetzte: Sah ich hinauf und schaute auf dem kämme Die strahlen schon sich breiten des planeten Der uns zum ziele führt auf jedem dämme.56 Eine Parallele zum „Inferno“ ist auch die Bezeichnung des toten Freundes als „schatten“. Er ist Vergil an die Seite zu stellen, auf den das Epitheton „rufer meiner quälen“ gleicherweise zutrifft. Die „tiefere glut“, in die er erlöscht, entspräche Beatrice, doch fallen die individualisieren¬ den Unterschiede dahin. So ist überhaupt das unübersehbare Personal der „Commedia“ auf wenige Menschen und Dinge reduziert. Diese sind von abstrakter Blässe, da es nicht auf sie als Individuen, sondern einzig auf die Bewegung, die sie tragen, ankommt. Am wenigsten einsichtig ist die Parallelität, um die es hier geht, im Mittelteil. Zwar ist die gehobenere Stillage durch einen reicheren Ornatus angedeutet, auch Lob und Dank und die Beterinnen können als Remi¬ niszenzen an die Läuterung auf der Höhe des Purgatorio gelten. Doch nirgends bei Dante ist dem reinen Tönen solche lösende Bedeutung ein¬ geräumt. 55 56

Vgl. S. 5 dieser Arbeit Werke II, S. 9

33^

Im dritten Teil ist „Entrückung“ Dante am nächsten sowohl in der Tonlage als auch in der Vorstellungswelt. Er erscheint wie ein Echo des dreißigsten Gesanges des „Paradiso“. Selbst der so entlegene MolkenVergleich kann sich auf Dante berufen, der, wie wir gesehen haben, seine Visionen gern durch Vergleiche aus der alltäglichen Erfahrungs¬ welt nachvollziehbar macht. Diese Entsprechungen und der Kontext, in dem „Entrückung“ in Georges Werk steht, machen es möglich, in dem Gedicht eine ins mikro¬ kosmische umgesetzte, d. h. lyrische „Divina Commedia“ zu sehen. Genaugenommen besteht die Umsetzung darin, daß Dantes Epos um alles reduziert wurde, was sie an Objektivem enthielt. Beibehalten wurde die Grundstruktur, die damit eben von der des Kosmos zu der des Ein¬ zelmenschen wurde. Im Unterschied zu Dante setzt George an Stelle des Praeteritums das Praesens. Damit ist die Distanz verschwunden, die bei Dante zwischen Erzählen und Erzähltem besteht. Vorgang und sprachliche Gestalt wer¬ den eins. Die Sprache allein ist Garant dessen, was sie ausspricht. Sie ist entsprechend starrer und monumentaler. Häufen sich bei Dante, je mehr sich seine Jenseitsreise dem Empyreum nähert, die Unsagbarkeitsbeteuerungen, so gewinnt bei George die Sprache immer beherrschendere Kraft, und wird zum ausschließlichen Träger der Intensität. Mit den „ich bin“-Formeln ist der Höhepunkt erreicht. Ja, mit der Reflexion auf die tönende Stimme greift die Sprache noch über das Gedicht hinaus. Das Prinzip der Befestigung der Sprache ist auch in der Umformung der Terzinen zu erkennen. Curtius hat die Terzine definiert als „eine metrische Form, die das Prinzip unendlich weiterschreitender Verkettung mit dem unausweichlicher Strenge verknüpft“57. Durch die Reduktion der Reimwörter auf zwei hat George diese Polarität zu gunsten der unausweichlichen Strenge gestört. Von der metrischen Form her ist die Bewegung endlich gemacht. Zwar kommt, wie wir gesehen haben, durch Thematik, Syntax und Enjambements eine Bewegung dagegen zustande. Die Spannung, die so entsteht, löst sich am Schluß. Im letzten Strophen¬ paar unterstützen auffällige Parallelismen und Enjambement, was die Reimordnung vorzeichnet. Eine monumentale Deckung ist erreicht. Die Veränderung der Terzinen beruht darauf, daß die Dreizahl der Zeilen der Zweizahl des Reims unterstellt wird, was eine paarweise Gruppie-

57

E. R. Curtius, Europäische Francke 19542. S. 383

Literatur

und

lateinisches

Mittelalter.

Bern:

337 22

Pestalozzi, Lyrisches Ich

V

rung der Strophen zur Folge hat. Auch im Gesamtaufbau ist gegen die Dreiteilung eine polarisierende Tendenz festzustellen: der Mittelteil hat nicht denselben Umfang wie die Randteile, was ihn stärker zur Achse macht. Es fällt auf, daß auch „Dante und das Zeitgedicht“ nur auf „Inferno“ und „Paradiso“ Bezug nimmt, also auf die extremen Pole der Intensitätsskala. In diesem Zusammenhang ist schließlich die Bemer¬ kung Bianchis interessant: Diesem Erlebnis [dem Maximinerlebnis] wohnt... Dreistufigkeit keineswegs als metaphysische Notwendigkeit inne, und wir haben ja auch gesehen, daß sie entweder als spätere Ordnung oder unter unmittelbarem Einfluß Dantes eintritt.58 Die „metaphysische Notwendigkeit“ ist bei Dante die Trinität, die als Gesetz der Dreizahl sein Epos durchwaltet. Inhaltlich wird sie fa߬ bar als System von Mittelspersonen und Vermittlungen zwischen Ich und Gott. Dabei kommt Beatrice die zentrale Stellung zu. Die Entsprechung von Beatrice und Maximin beruhte für George jedoch darauf, daß beide nicht eigenständige Wesen, sondern Projektionen ihrer Dichter seien. Sie waren nicht eigentlich Mittler, sondern Spiegel, die reflektierend sichtbar machten, was in sie fiel. Die erlösende Liebe wirkte auf reflexive Weise. George fand dafür die prägnante Formel: Ich Geschöpf nun eignen sohnes.59 Schultz60 hat im Zusammenhang damit auf mystische Vorbilder dieser Formel hingewiesen, insbesondere auf die Anrufung der Maria durch den Heiligen Bernhard im letzten Gesang des „Paradiso“: Vergine madre, figlia del tuo figlio61 in der Übersetzung Georges: Jungfrau und Mutter! Tochter deines Sohnes!62 Die Paradoxie erscheint bei Dante an derselben Stelle auch in bezug auf Gott, der durch Maria zur Schöpfung seines Geschöpfs wurde. Das Entscheidende an dieser Parallelität ist jedoch, daß George diese Formel für sich beansprucht, genauer für jenen heiligen Zustand, der am Ende des Gedichtes steht. Reflexive Selbstvergöttlichung ist die Bewegung, die 58 59 G0 61

Bianchi a.a.O. S. 25 „Einverleibung“. Werke I, S. 291 Schultz a.a.O. S. 150, Anm. 7 Par. XXXIII, 1

62

Werke II, S. 143

338

das Gedicht vollzieht und dem Leser suggeriert. Daß das Spiegelverhält¬ nis an die Stelle einer echten Vermittlung getreten ist, ist die inhaltliche Entsprechung zur formalen Dominanz der Zweizahl über die Dreigliedrigkeit. Die Diskrepanz zwischen Georges Konzeption und derjenigen Dan¬ tes läßt erkennen, wie gewaltsam George bei der Stilisierung des Eigenen auf Dante hin verfahren mußte. Es galt dabei eine jahrhundertelange historische Entwicklung auszuschalten, um aus der idealen eine reale Gleichzeitigkeit zu machen. Auf diese Weise sollte eine neue Verbind¬ lichkeit geschaffen werden. Von Georges Konzeption her gesehen erfüllte die Stilisierung des Gedichts auf die „Divina Commedia“ hin mehrere Funktionen. Zunächst erhielt „Entrückung“ so eine geschlossene und feierliche Gestalt. Es konnte sich die Vorstellungswelt einer jahrhundertealten Überlieferung zunutze machen. Doch sollte gerade nicht ein historisches Vorbild imi¬ tiert werden. Die Dante Anklänge sollten vielmehr zeigen, daß sich das Gedicht aus denselben Quellen speise wie Dantes großes Werk. In diesem Zusammenhang ist gerade wichtig, daß das Vorbild nicht sklavisch reproduziert wurde. Wenn die Verwandtschaft des Gedichts mit der „Divina Commedia“ auf einen gemeinsamen Ursprung zurück ging, konnte „Entrückung“ für sich dieselbe religiöse Verbindlichkeit bean¬ spruchen, die das Schwestergedicht erlangt hatte. Dann war es mehr als die Gestaltung eines individuellen Erlebnisses, nämlich tatsächlich eine Offenbarung des Ewigen. Die Dantenähe gab „Entrückung“ die Weihe.

III. Die Interpretation von „Entrückung“ ist auf manche Momente ge¬ stoßen, die George mit den Zeitgenossen verbinden, deren Aufschwung¬ gedichte wir betrachtet haben. Das „Vorspiel“ erscheint als die Aneig¬ nung von Schillers Position. Schultz hat in seinem Kommentar zum grundlegenden XII. Gedicht darauf hingewiesen63, daß der Begriff des „Leihens“ bei Schiller in derselben Bedeutung erscheint. Tatsächlich beschreibt der Engel die Pygmalionstruktur, die denn auch dem Maxi¬ min-Erlebnis, wie es die „Vorrede“ beschreibt, unverkennbar zugrunde liegt. Es ist weiterhin bedeutsam, daß das XII. Gedicht auf die koper63 Schultz a.a.O. S. 149. Schillers Brief vom 10. Sept. 1789 ist gerichtet an Lotte von Lengefeld und Caroline von Beulwitz. 339 22*

nikanische Wendung anspielt und seine Lehre als deren Weiterführung im Metaphysischen darstellt64. Diese hat ihr zentrales Moment darin, daß die Transzendenz ganz an den Menschen gefallen ist. Er ist als der erkannt, in dem die religiösen Vorstellungen ihren Ursprung haben. Auf die Nähe gerade des „Vorspiels“ zu Nietzsche ist von Böckmann ausführlich hingewiesen worden65. So modern somit George erscheint, von Mallarme und Nietzsche ist er durch einen Graben getrennt. An einem Detail läßt sich die Differenz zu Mallarme illustrieren. Bei George und bei Mallarme erscheint das Motiv des Kampfes mit dem Engel. Bei Mallarme hatte der Kampf zur Niederringung Gottes geführt, wodurch das Absolute an den dichtenden Menschen gefallen war. Er hatte nun die Aufgabe zu bewältigen, dem Absoluten einen neuen Namen zu finden, und zwar einen, der die Rein¬ heit des Absoluten nicht neuerdings tangierte. Bei George endete der Kampf mit dem Sieg des Engels. Das Ich fiel dadurch an das Ewige und wurde zu dessen Organ. Dieses Ewige war George dasjenige, das sich in den historischen Religionen objektiviert hatte. Dem Dichter war damit nicht eine radikale Neuschöpfung aufgetragen, sondern eine Wieder¬ belebung der religiösen Vorstellungswelt aus der Intensität seines Innern. Seine Sprache konnte synkretistisch sein, denn den modernen Dichter unterschied nichts von den historischen Vorläufern Shakespeare, Petrarca und Dante. Ihr Verhältnis zum Ewigen stiftete unter ihnen eine ideale Gleichzeitigkeit. Während Mallarme seinen Auftrag geschichtlich sah, verstand sich George als Künder eines Unveränderlichen. Mallarme traf sich mit Nietzsche in der bilderstürmerischen Tendenz. Diese gerade wirft das Gedicht „Nietzsche“ aus dem „Siebenten Ring“ Nietzsche vor: Erschufst du götter nur um sie zu stürzen Nie einer rast und eines baues froh? und erhebt dagegen die Forderung nun ist not: Sich bannen in den kreis den liebe schließt .. .66

64

65

George nahm Sdiillers Gedicht „Die Größe der Welt“ in seine Anthologie „Deutsche Dichtung“ auf. Seine Veränderung von „Weltsysteme“ in „Wel¬ tenkreise“ in der dritten Strophe enthält in nuce sein ganzes Programm. Vgl. Paul Böckmann, Die Bedeutung Nietzsches für die Situation der mo¬

66

dernen Literatur. DVjS 27, 1953. S. 77 f. Werkel, S. 65

340

Nietzsche hatte geschwankt zwischen der Demaskierung der geltenden Lehren und der Rücksicht auf die neu zu stiftende Gemeinschaft. Bei George überwog das zweite. Diese Notwendigkeit drängte ihn, verbind¬ liche Maßstäbe aufzurichten. Die Selbsternennung zum Propheten eines Kreises legte das Festhalten an traditionellen Vorstellungen nahe. Darin lag nicht zuletzt der Berührungspunkt mit Hofmannsthal. Dessen Goethe-Nachvollzug ist Georges Dante-Stilisierung nahe ver¬ wandt. Auch Hofmannsthal hoffte, aus dem Ererbten der Gegenwart sichere Fundamente geben zu können. „Reiselied“ gestaltet jedoch gerade die Diskrepanz zwischen Unmittelbarkeit und Tradition, eigener Erfah¬ rung und historischem Vorbild. Es nähert die Pole einander an, ohne sie zur Deckung zu zwingen. So verweisen sie beide auf ein UnfaßbaresDrittes, das allein im Tod und in der Stummheit ahnbar werden kann. George wollte das Geheimnis nicht im Dunkel lassen. Er suchte es mit Gewalt zur Sprache zu bringen. Wie keiner seiner Zeitgenossen wollte er konsequent die Lyrik zum Träger der Offenbarung des Göttlichen und zu dessen Garant machen. Mehr im machtvollen Anspruch der Dich¬ tung als in der poetischen Einlösung dieses Anspruchs gehört George mit den andern Aufschwungdichtern in eine Reihe.

34i

V

Schluß „Das lyrische Ich“

I. Der literaturtheoretische Ertrag der Entwicklung, um deren Ver¬ gegenwärtigung es dieser Arbeit ging, ist der Begriff des „lyrischen Ich“. Er erscheint zum ersten Mal in dem Buch „Das Wesen der modernen deutschen Lyrik“ von Margarete Susman 19io1. Die Verfasserin unter¬ nahm es darin, die geistesgeschichtliche Situation der neuen Lyrik zu bestimmen und deren wichtigste Vertreter, vor allem Nietzsche, George, Elofmannsthal und Rilke, vorzustellen. Das Buch ist in seinen Katego¬ rien ganz von Georges und Hofmannsthals Dichtungsauffassung be¬ stimmt. Aus seinem Wortlaut sind oft die Gedichte und Prosaäußerungen der beiden Dichter unmittelbar zu vernehmen. So kann es als Populari¬ sierung der neuen Auffassung gelten. Es ist ein Beispiel dafür, wie Dich¬ tung

die

literaturwissenschaftliche

Auffassung

dieser

Dichtung

und

schließlich die Literaturwissenschaft überhaupt beeinflußt2, wenn man 1 2

Margarete Susman, Das Wesen der modernen deutschen Lyrik. Stuttgart: Strecker & Schröder 1910. (Kunst und Kultur Bd 9) [zit. Susman] Margarete Susman stand durch ihre Freundsdiafl mit Karl Wolfskehl dem George-Kreis nahe. Gundolf schrieb an George über einen Besuch bei Sim¬ mel: „Margarethe Susman habe ich neulich dort getroffen, schwarz schwer still stolz reinlich rassig.“ (3. Febr. 1902) Stefan George/Friedrich Gundolf, Briefwechsel. München/Düsseldorf: Küpper vorm. Bondi 1962. S. 106. — Die Einbürgerung des Begriffs in die Literaturwissenschaft geht auf Oskar Walzel zurück. In seinem kleinen Buch „Leben, Erleben und Dichten. Ein Versuch“, Leipzig: Haessel 1912, erwähnt er Margarete Susman und den Begriff des „lyrischen Ich“ aus ihrem „interessanten, nur unnötig sdiwerverständlichen Büchlein“. (S. 42) — Walzel nahm den Begriff dann auf in seinem Aufsatz „Schicksale des lyrischen Ich“ in „Das literarische Echo“ (18. Jg., 10, 1916) (auch in: O. W., Das Wortkunstwerk. Leipzig: Quelle & Meyer 1926. S. 260 f.).

342

bedenkt, daß gerade der Begriff des „lyrischen Ich“ heute allgemein gebräuchlich ist, ohne daß man sich seiner Herkunft noch bewußt wäre. Er ist eingegangen in das methodische Instrumentarium der Interpreta¬ tion jeglicher Lyrik3. Aus der Literaturtheorie hat er wieder auf die Dichtung zurückgewirkt: bei Gottfried Benn wurde er, allerdings in entstellter Bedeutung, zur Formel für das dichterische Selbstverständnis4. Im folgenden soll versucht werden, zunächst den Begriff, wie ihn Margarete Susman verwendet, zu beschreiben. Im Anschluß daran sollen dann unter Verwertung der vorangegangenen Studien seine Implikatio¬ nen entfaltet werden, was am Ende zu einer abschließenden Übersicht über diese Arbeit führen kann. Dabei werden, da sie die ausführlichen Einzelinterpretationen im Rücken haben, Verkürzungen und Simplifikationen in Kauf genommen. Der Begriff des „lyrischen Ich“ ist von Margarete Susman polemisch verstanden. Sie richtet ihn gegen die Auffassung, das Ich des Gedichts sei dem individuellen Ich des Dichters gleichzusetzen. Im Sinne dieser Unterscheidung ist der Begriff heute fast allgemein gebräuchlich. Mar¬ garete Susman kommt es jedoch auf ein bestimmtes Verhältnis von indi¬ viduellem und lyrischem Ich an. Der Passus, in dem der Begriff und seine Abgrenzung eingeführt werden, lautet: Nur die ewigen Zusammenhänge des Mythos haben in der lyrischen Kunst Raum, nicht das Schicksal, sondern die über das persönliche Schicksal hinausgehobene Wahrheit des Dichters: die Form seines Schicksals. Und darum kann es nie das personale, sondern nur das in den allgemeinen ewigen Zusammenhängen des Seins lebende Ich sein, das in ihr Raum hat: das lyrische Ich, das eine Form ist, die der

3

4

In einer der ursprünglichen sehr verwandten Bedeutung verwendet den Be¬ griff Herbert Lehnert, Struktur und Sprachmagie. Stuttgart etc.: Kohlham¬ mer 1966. (Sprache und Literatur 36) „Das lyrische Ich ist die Einheit von Sprecher und Hörer oder auch ein Selbstgespräch, was strukturell auf das gleiche hinausläuft.“ S. 10 — Ich verdanke dem Buch von Herbert Lehnert viele Anregungen vor allem methodischer Art. Es arbeitet in einer dem vorliegenden Versuch verwandten Richtung. Gottfried Benn, Probleme der Lyrik. Wiesbaden: Limes 1951/61. Benn ge¬ braucht den Ausdruck „das lyrische Ich“ für das dichtende Ich. In unserem Zusammenhang ist die Stelle bezeichnend: „Lassen wir das Höhere, ant¬ wortet das lyrische Ich, bleiben wir empirisch.“ S. 34. — Benns Auffassung ist, wenn ich recht verstehe, in Käte Hamburgers Theorie von der „Beschaf¬ fenheit des lyrischen Ich“ eingegangen. Käte Hamburger, Die Logik der Dich¬ tung. Stuttgart: Klett 1957

343

V

Dichter aus seinem gegebenen Ich erschafft. Dies Gesetz, das die Grenze zwischen Wirklichkeit und Kunst festlegt, bleibt unveränder¬ lich für alle Lyrik bestehen.5 Die etwas unscharfe Diktion umkreist den Grundgegensatz, daß das persönliche „Schicksal“ des Ich zufällig und inkohärent sei, das „lyrische Ich“ dagegen zusammenhängend, notwendig und ganz, jenes wechselnd, dieses „ewig“, jenes formlos, dieses Form. Das Verhältnis des individuellen zum lyrischen Ich ist dabei einerseits das von Schöpfer und Geschöpf. Das „lyrische Ich“ ist das Produkt des empirischen. Es wird von ihm gemacht, ist also künstlich. Dazu heißt es weiter unten erläuternd: Es ist kein gegebenes, sondern ein erschaffenes Ich, das, wie das Kunst¬ werk selbst, völlig unabhängig von seinen individuellen oder allgemei¬ nen Inhalten seinen rein formalen Charakter bewahrt. Der Dichter fin¬ det dieses Ich nicht in sich vor, sondern ähnlich den redenden und handelnden Gestalten eines Dramas muß er auch das lyrische Ich erst aus dem gegebenen erschaffen. So wenig wie in der Plastik oder Malerei eine ungeformte natürliche Gestalt, so wenig können wir eine solche in der Dichtkunst — sei sie Drama, Epos oder Lyrik — ertragen.6 Bereits in dieser eindringlichen Betonung der Künstlichkeit stecken jedoch Einschränkungen. Sie treten zutage in der Metaphorik, unter der an einer anderen Stelle die Entstehung des „lyrischen Ich“ gefaßt wird. Das individuelle und das „lyrische Ich“ verhalten sich danach zueinander wie Puppe und Schmetterling, Keim und Blüte. Das sind die traditionel¬ len Beispiele des Entelechiedenkens. Die innere Notwendigkeit des Vor¬ gangs wird ein andermal durch den Vergleich mit dem der Kristallisation unterstrichen. Damit aber werden dem Dichter sein Dichten und sein Produkt, die ihm eben so deutlich zugesprochen worden waren, wieder halbwegs entwunden. Er erscheint nun als Organ eines ihn übergreifen¬ den naturhaften Gestaltungswillens. Diese Doppelheit zeigt auch die Bestimmung des Ergebnisses, wenn es vom „lyrischen Ich“ heißt, „daß es kein Ich im real empirischen Sinne, sondern daß es Ausdruck, daß es Form eines Ich ist“. „Form“ ist dem Aspekt des Schaffens zugeordnet7. Das geht nicht so sehr aus dem Terminus hervor als aus der Ergänzung durch „Ausdruck“, womit 5 6 7

Susman S. 16 A.a.O. S. 18 A.a.O. S. 16

344

der organische Aspekt gesondert benannt ist8. „Ausdruck“ meint, wie aus dem weiteren Kontext hervorgeht, Ausdrude dessen, was dem leben¬ digen Ich zugrunde liegt. Dafür kann auch „Offenbarung“ stehen. Das „lyrische Ich“ ist als Werk dem empirischen Ich nachgeordnet, zugleich aber wird es als ursprünglicher aufgefaßt. Es reicht in tiefere Schichten hinab. Diese sind mit den „ewigen Zusammenhängen des Mythos“ gemeint. Doch auch der Begriff des „Mythos“ ist schillernd. Zuweilen ist er Synonym zu Dichtung, der Etymologie entsprechend, und bedeutet einfadi „Ganzheit“ oder „Anschauung von Ganzheit“. Das „lyrische Ich“ ist insofern der Mythos des Ich. Doch wird diese Bezeichnung nur des¬ halb verwendet, weil mit Mythos zugleich angedeutet wird, daß diese erdichtete Ganzheit einer ursprünglich vorgegebenen korrespondiert. Der Gegensatz von „individuellem“ und „lyrischem Ich“ umfaßt somit nach Margarete Susman folgende Gegensatzpaare: individuelles Wirklichkeit

lyrisches Dichtung

vorhanden

geschaffen

inhaltlich Zufall

formal

individuell zeitlich

allgemein ewig

Werden empirisch

Sein

Ich

Zusammenhang

mythisch

Das Gedicht ist ein „lyrisches Ich“, unabhängig davon, ob darin in der ersten Person gesprochen wird oder nicht. Das Kriterium ist einzig das aller Kunst: Wahr ist das Kunstwerk, insofern es in sich selbst geschlossen ist, sein eigenes immanentes Gesetz verwirklicht und jeden Anteil an einer andern Welt, eines anderen Dinges als Wahrheitsmaßstab ab¬ lehnt.9 Als Kunstgebilde ist das „lyrische Ich“ autonom. Es gehorcht allein seinem eigenen Gesetz. Alles Stoffliche, auf das es nicht verzichten kann, wenn es in Erscheinung treten will, ist diesem Gesetz unterstellt. Das eigene Gesetz ist bei Margarete Susman verstanden als „Rhythmus“. Er ist das Prinzip, das das Ganze zum Ganzen macht.

8 A.a.O. S. 97 9 A.a.O. S. 32 345

V

... so wird ein zeitlicher Verlauf durch den Rhythmus aus einer zufälligen Reihenfolge zu einer gesetzmäßigen Harmonie entwickelt, in der die ewigen Zeitverhältnisse selber — die vielleicht von denen des Raums letztlich nicht verschieden sind — sich rein an wechselnden Formen enthüllen.10 Die Bestimmung des Rhythmus als

„Wiederkehr des Gleichen“

klingt hier an. Rhythmisierung wird als Stilisierung verstanden. Dabei schwankt die Verfasserin auch darin, wieweit diese Stilisierung Neues schafft oder wieweit sie enthüllt, was von Ewigkeit her ist. Die Zweiheit von empirischem und „lyrischem Ich“ gilt nach Mar¬ garete Susman für die Lyrik aller Zeiten. Immer spricht im Gedicht ein allgemeines Ich, das das individuelle übersteigt und in tieferen Schichten gründet. Daß es zur Verwechslung beider Ich in der Goethezeit kommen konnte, motiviert sie mit einem Hinweis auf die geistes- resp. religions¬ geschichtliche Entwicklung, die sich ihr folgendermaßen darstellt11: Ur¬ sprünglich war die Religion die Repräsentantin des Ewigen in der Zeit. Sie beherrschte als „zentrale Kulturmacht“ das Leben. Der Lyrik fiel dabei die Aufgabe zu, die in der Religion vorgegebenen mythischen Gehalte im Medium der Sprache zu gestalten. Daher kommt es, daß die Lyrik dieser Epoche eine beschränkte Thematik variiert. Das ist so bis in die Barockzeit hinein. — Mit der Reformation bereits hatte jedoch der Prozeß eingesetzt, in dessen Verlauf sich die Religion verinnerlichte und individualisierte. Mit ihrer „Objektivität“ büßte sie ihre zentrale Stellung ein. Das Mythische, dessen Träger sie gewesen war, fiel an die Nachbargebiete Philosophie und Dichtung. Während es der Philosophie um die Auflösung des Mythos ging, suchte ihn die Dichtung zu bewah¬ ren und zu erneuern. Dabei wurde die Lyrik zur wichtigsten Erbin der Religion. Ihr oblag es nun, der verinnerlichten Religion neuen Ausdruck zu geben. Das bedeutete für sie, daß ihr nicht mehr einfach Gehalte zur Gestaltung Vorlagen, sondern daß sie selbst Mythisches schaffen mußte. Als Stoff dafür hatte der Lyriker lediglich sein eigenes Leben, seine Er¬ fahrungen und Erkenntnisse zur Verfügung. Diese gestaltete er im Ge¬ dicht. So konnte der falsche Eindruck entstehen, das Gedicht sei ein indi¬ viduelles Bekenntnis. Dennoch kam ihm Verbindlichkeit zu als einem Symbol für das „Lebendige, Unauflösliche, ewig Inkommensurable“12.

10

A.a.O. S. 26

11

Das folgende nadi Susman S. 39 ff. A.a.O. S. 21

12

346

Es schöpfte aus derselben Quelle wie früher die Religion. So kann Mar¬ garete Susman auch von den dichterischen Symbolen insgesamt in reli¬ giöser Terminologie sprechen, welche die geschichtliche Differenz zu Gunsten des gemeinsamen Ursprungs verwischt13. Doch bestehe die Tra¬ gik der lyrischen Religiosität darin, daß sie „entgegen dem eigentlich religiösen Prinzip schaffen muß, statt zu empfangen und zu glauben“14. Deshalb sei das Gedicht bestrebt, obwohl es nur gemacht werden könne, als ein geoffenbartes zu erscheinen. Dadurch hoffe es, von der Religion auch die Legitimität zu erben. — Der geschichtliche Wandel, den Marga¬ rete Susman beschreibt, vollzieht sich innerhalb des Mythischen, das dabei dem Wirklichen stets unverändert entgegengesetzt bleibt. Die Ge¬ schichte erhält damit das Aussehen einer entelechisch gesteuerten Meta¬ morphose. In Margarete Susmans Bestimmung der modernen deutschen Lyrik kommt ein Widerspruch zum Vorschein, der sie der Ästhetik des Jugend¬ stils zuordnet. Es ist der Widerspruch von Schaffen und Wachsen, von Geschichte und Metamorphose, von Technik und Natur. Benjamin hat im Zusammenhang mit Stefan George den Jugendstil als Regressionserschei¬ nung gedeutet15. Er ist es, was Margarete Susmans Buch betrifft, inso¬ fern, als sie zwar die Technik des Mächens am Gedicht hervorhebt, zu¬ gleich aber, offenbar um der damit dem Gedicht drohenden Ungesichertheit und Unverbindlichkeit zu begegnen, dieses Machen auf ein Wachsen zurückführt. Und ebenso wird der irreversible geschichtliche Prozeß zwar als solcher erkannt und grundsätzlich gebilligt, zugleich aber zur Meta¬ morphose eines Ewigen erklärt und damit verharmlost. Fremdheit und Unverständlichkeit der modernen Lyrik werden als notwendig aufge¬ faßt, aber doch als „Mythos der Zeit“ gedeutet. Überall ist eine Scheu zu spüren, den Wirkungsbereich der bergenden Natur zu verlassen. Wie aber Jugendstilbauten und -geräte, entkleidet man sie aller floralen oder überhaupt organischen Ornamentik, mit einem Mal eine klare und sachliche Schönheit bekommen, so wird auch an Margarete Susmans Theorie eine unbestreitbare Relevanz sichtbar, wenn man ihre Wachstumsmetaphorik abstreift. Der Begriff des „lyrischen Ich“ erweist sich als Stichwort, unter dem die Ergebnisse der vorausgegangenen Inter¬ pretationen zusammengefaßt werden können. 13 Vgl. a.a.O. S. 22 14 A.a.O. S. 109 15 Walter Benjamin, Rückblick auf Stefan George. Schriften, hrsg. von Th. W. und Gretel Adorno. Frankfurt: Suhrkamp 1955. Bd 2, S. 323 f. 347

II. Indem Maragrete Susman den Begriff des „lyrischen Ich“ auf Ge¬ dichte aller Epochen anwendet, erklärt sie stillschweigend alle Dichter für in ihrem Sinne modern. Diese ideale Gleichzeitigkeit kommt jedoch dadurch zustande, daß ein moderner Begriff auf Dichtungen früherer Epochen angewandt wird. Was als Konstituens aller Lyrik erscheint, konstituiert in Wahrheit den Blick des Betrachters. Der Begriff des „lyri¬ schen Ich“ gehört einer bestimmten geistesgeschichtlichen Situation an. Sein Aufkommen läßt sich aus den geschichtlichen Gestaltungen des Er¬ hebungsmotivs verstehen. Aufschwung und Aufstieg erwiesen sich in dieser Arbeit als Bewe¬ gungen des Ich zu seinem Selbst, als Akte also, mit denen sich das Ich seiner Identität vergewissert. Bei Dante und überhaupt im christlichen Menschenverständnis ist das Selbst in Gott beschlossen. Vor Gottes An¬ gesicht erscheint der Mensch als der, der er in seinen verschiedenen Wor¬ ten und Werken wahrhaft ist. Gott in der Höhe ist der objektive Garant des Selbst. Die Erhebung zu ihm ist möglich dank dem göttlichen Mitt¬ ler und den in ihm begründeten Vermittlungen, vor allem dem göttlichen Wort. Aus eigener Kraft allein kann der Mensch nicht zu Gott gelangen. Die durch den ketzerischen Giordano Bruno eingeleitete Wendung besteht darin, daß Gott oder das Göttliche als unmittelbar im Menschen selbst wirksam dargestellt wird. Von innen sprengt es das Ich aus allen äußeren Verflechtungen heraus und bringt es im Vorgang der Loslösung zu sich selbst. Das Bei-sich-selbst-sein teilt sich dem Ich als erhöhtes Ge¬ fühl mit. Damit werden die Gefühlszustände, die bei Dante den Auf¬ stieg zum Selbst in Gott begleiten, an sich zu Manifestationen Gottes. „Aufschwung“ kann zum Synonym für Enthusiasmus werden. Auf die¬ ser momentanen Übereinstimmung von empirischem Ich und Selbst im intensiven Gefühl beruht die Goethesche Lyrik. Die religiöse Sprache ist zugleich Sprache des Gefühls. Das aber heißt auch, daß das Selbst seine Verbindung mit Gott noch nicht verloren hat. Beim klassischen Schiller wird diese enthusiastische Einheit von Gott und Selbst zerbrochen. Die Konsequenz der Einwanderung Gottes in den Menschen kündigt sich an. Schiller versteht das Selbst als Freiheit, die im Menschen angelegt, jedoch aller Erfahrung entzogen ist. Ahnbar wird sie in der ästhetischen Reflexion. Das Kunstwerk kann die Freiheit zur Erscheinung bringen im schönen Schein. Es wird zu ihrer Offenbarung. Die „ästhetische Erziehung des Menschen“ besteht zum einen Teil darin, 348

ihm mittels der Kunst sein freies und autonomes Selbst zum Bewußtsein zu bringen. Von jenem geschichtlichen Moment an, den hier Schiller bezeichnet, kann vom „lyrischen Ich“ gesprochen werden. Damit ist jenes Selbst benannt, das dem Ich, weil es auf keine andere Weise zu fassen ist, im Gedicht vermittelt wird. Der im Begriff des „lyrischen Ich“ implizierte Gegensatz zum empirischen Ich des Dichters entspricht demjenigen von Ich und Selbst, der nun unüberbrückbar geworden ist. Das „lyrische Ich“ ist der neue Repräsentant dieses neuen Selbst. Deshalb darf das Gedicht keinen Bezug zur Wirklichkeit haben. Seine Fremdheit in der Welt spie¬ gelt die Entfremdung des empirischen Ich vom Selbst. Die strenge For¬ derung, Kunst und Wirklichkeit müßten gänzlich geschieden sein, sucht das Kunstwerk für seinen höchsten Zweck, den beschriebenen anthropolo¬ gischen, freizuhalten, genauso wie auf einer früheren Stufe der Pietist die Freuden der Welt verketzerte, um die Freude als Manifestation Gottes davon zu unterscheiden. Reine Kunst, „lyrisches Ich“, ungreif¬ bares Selbst gehören somit zusammen. Für alle drei ist die Vorausset¬ zung der proklamierte oder verschwiegene Tod Gottes. Was sich so modellhaft umreißen läßt, ist bei Schiller erst im Prin¬ zip vorhanden. Schiller versuchte, in seinen Gedichten das neue Pro¬ gramm vorzüglich mit Hilfe antiker Vorbilder zu realisieren. Sein Klas¬ sizismus stellte als ewige Möglichkeit dar, was ein Ergebnis des mit der Renaissance beginnenden Prozesses war. Er setzte voraus, daß der Mensch, sofern er Mensch war, ein autonomes Selbst besaß. In den sechs im Hauptteil dieser Arbeit interpretierten Gedichten ist ein stufenweiser Übergang zu erkennen. Bei Meyer und Baudelaire steht das Selbst noch bei dem in der Natur offenbaren Gott. Doch ist der Anruf aus der Natur allein nicht mehr deutlich genug. Das Gedicht ist als Dolmetscher eingeschaltet. Es artikuliert die stumme Verkündi¬ gung. Dadurch wird es zum Medium des Aufschwungs, dessen Ziel es transzendiert. Bei Nietzsche und Mallarme erhebt sich die Frage nach dem Tod Gottes auf verschiedene Weise, aber mit gleicher Vehemenz. Dadurch wird dem Aufschwung das bisherige Ziel entzogen. Das Gedicht wird zum Versuch, das nirgendwo mehr Objektivierte auszusprechen. Der Fächeraufschwung Mallarmes und der Aufstieg des Nietzscheschen Einsiedlers führen in die Nähe des Selbst, ohne es erreichen zu können. Bei¬ den Gedichten ist jedoch gemeinsam, und darin kommt das entscheidend Neue zum Vorschein, daß sich das Gedicht schließlich auf sich selbst zurückwendet. Bei Nietzsche ist diese Selbstreflexion in der Begegnung 349

mit dem erdichteten Dichter Zarathustra noch primär programmatisch gestaltet, ohne unmittelbaren Bezug auf das Gedicht selbst. Bei Mal¬ larme dagegen wurde deutlich, daß das Gedicht sich selbst zum Gegen¬ stand wird. Der Aufschwung, von dem es spricht, mündet am Schluß in das Gedicht. Dieses erhält damit eine neue Dimension. Zugleich schließt es sich gegen außen ab. Es wird absolut. Daß der Aufschwung in das Gedicht mündet, besagt, daß das Ich auf dem Weg zu sich selbst zum „lyrischen Ich“ wird. Es erfüllt sich, was Rückerts Verse aus¬ sprechen : Ich bin gestorben dem Weltgewimmel Und ruh’ in einem stillen Gebiet Ich leb’ in mir und meinem Himmel In meinem Lieben, in meinem Lied.16 In der Klimax Himmel, Lieben, Lied sind die historisch aufeinander folgenden Objektivationen des Selbst aneinandergereiht. Nun hat das „Lied“ sie alle in sich „aufgehoben“. Die Gedichte von Hofmannsthal und George haben die Selbstrefle¬ xion des Gedichtes zum Prinzip. Der Aufschwung, den sie gestalten, ist zugleich der Entstehungsprozeß des Gedichts. Und wiederum reflektiert der Schluß auf das Gedicht, im einen Fall auf seine Gestalt, im andern auf sein Lautwerden. Indem aber diese Erhebungsgedichte das Eingehen des empirischen in das „lyrische Ich“ darstellen, sind sie selbst keine ganz reinen Gedichte, wie sie das „lyrische Ich“ verlangt. Es ließen sich ja auch in allen individuelle Erlebnisreste feststellen. Und in manchen erscheint noch der Schauer als unmittelbare göttliche Regung. Auch in bezug auf historische Vorbilder liegt ein Moment der Unreinheit. Die interpretier¬ ten Gedichte sind Gestaltungen des Obergangs vom empirischen zum „lyrischen Ich“. Sie proklamieren mehr, als daß sie selber ihr Programm bereits realisieren. Vorbild für die Gestaltung des „lyrischen Ich“ ist erklärtermaßen die Musik. In ihr ist die Entfernung von aller Empirie gelungen zugunsten einer Komposition, die in Melos, Takt und Rhythmus der Wiederkehr des Gleichen als ihrem Gesetz untersteht. Darin ist in der Zeit die Zeit aufgehoben. Im Medium der Sprache ist Rhythmus ebenso zu realisieren. 16

Friedrich Rückert, Werke, hrsg. von Conrad Beyer. 6 Bde Leipzig: Fock o. J. Bd I, S. 339. (Liebesieben, Dritter Strauß. 3: Ich bin der Welt abhanden gekommen ...) — Gustav Mahler hat dieses Gedicht unter seinen RückertLiedern komponiert.

350

Doch die Entstofflichung zu leisten ist schwierig, solange die Wort“ spräche die Basis bildet. Sie wurde in den sechs Gedichten vor allem auf dem Weg über rhetorische Verfremdungen zu erreichen gesucht. Mallarmes Spezialität lag außerdem in der Ausnützung der „natur¬ gegebenen“ semantischen Unschärfe der Wörter. Doch auch bei ihm blieb die normale Umgangssprache präsent. Erst die Lyrik des 20. Jahr¬ hunderts hat ergeben, daß das Ineinander von Rhtyhmus und Entstoff¬ lichung so weit gehen kann, wie es die ersten Modernen nicht hatten denken können. — Das Festhalten an der allgemeinen Mitteilungssprache ist jedoch nicht als Unvermögen zu deuten. Diese Basis garantierte und machte nachprüfbar, daß das Gedicht den Bezug zur Allgemeinheit wahrte. In der Scheu vor der totalen Unverständlichkeit kommt wie¬ derum der Ubergangscharakter dieser Lyrik zum Ausdruck. Im Moment, wo das „lyrische Ich“ die Funktion zugesprochen bekam, dem empiri¬ schen Ich ein Selbst zu vermitteln, stellte sich die Frage der Legitimation. Strenggenommen konnte das Gedicht nur aus sich selbst und aus seiner Wirkung seinen Anspruch auf Selbstvermittlung rechtfertigen. Damit setzte es sich jedoch dem Vorwurf aus, es verfahre willkürlich. An den sechs Gedichten und an Margarete Susmans Theorie ist immer wieder das Bestreben wahrzunehmen, das „lyrische Ich“ zum legitimen Erben religiöser Selbstvermittlung zu erklären, damit dem durch das Gedicht vermittelten Selbst ein davon unabhängiges Dasein zu geben. Das Ent¬ scheidende am „lyrischen Ich“ gegenüber allen andern Medien der Selbst¬ erfahrung besteht jedoch darin, daß es das Selbst vermittelt und kreiert. Wie Margarete Susman mit Recht erkannte: das Gedicht gestaltet und schafft in einem den Mythos des Ich. Doch dieser Mythos ist Dichtung, sosehr die Gedichte selbst mit Hilfe ihrer Bilderwelt ihn als Natur er¬ scheinen lassen möchten. Die Konzeption des „lyrischen Ich“ macht das Selbst ausschließlich zum Werk des menschlichen Geistes. Damit tritt das Moment der Wirkung des Gedichts in den Vorder¬ grund. Margarete Susman grenzte das „lyrische Ich“ allein vom Ich des Dichters ab. Doch der Dichter steht angesichts der Differenz von lyrischem und empirischem Ich mit dem Leser auf einer Stufe. Der Dich¬ ter wird im Gedicht seines Selbst inne, wie der Leser Ahnung oder Ge¬ wißheit des seinigen daraus liest. Da sich erst durch die Wirkung das Gedicht wahrhaft zu legitimieren vermag, treten die rhetorischen Mit¬ tel so deutlich hervor. Außer Mallarme benutzen alle Dichter die tradi¬ tionelle Rhetorik als Vehikel der Wirkung. Dazu kommen die Ansätze, auch die Typographie für die Wirkung des Gedichts nutzbar zu machen. 35i

In der Ausstattung von Georges Gedichtbänden durch Melchior Lechter erreicht dieses Bestreben einen Höhepunkt, neben dem Mallarmes druck¬ technische Versuche bescheiden anmuten. Es ist im geschichtlichen Zu¬ sammenhang bezeichnend, daß sich in diesem Moment die Dichtung jener Mittel zu erinnern begann, mit denen die Kirche jahrhundertelang ihren Text unterstützt hatte. — Das Gedicht kann seine Wirkung schließlich auch nicht beim einmaligen Lesen tun. Durch wiederholtes Lesen und Auswendiglernen erst bekommt es die Kraft, seine Funktion zu erfüllen. Im Gedicht „Excelsior kann man eine modellartige Veranschaulichung der intendierten Wirkungsweise erkennen. Unter dem Aspekt der Wirkung läßt sich das Verhältnis von Er¬ hebungsmotiv und Gedicht nun auch umgekehrt sehen. Nicht nur mündet die Erhebung, die das Gedicht darstellt, in das Gedicht selber, sondern in der Erhebung wird die Wirkungsweise des Gedichts thematisch. In diesem Motiv erhebt das Gedicht seinen Anspruch, „lyrisches Ich“ zu sein. Es soll den Leser aus allen äußeren Verflechtungen herausreißen und ihm das Bewußtsein geben, ein identisches autonomes Selbst zu besitzen. Diese Isolierung, die das Gedicht damit bewirkt, ist jedoch nicht als endgültige gedacht. Die kraft der Dichtung zu sich selbst Gekommenen sollen zusammen eine neue Gesellschaft bilden. Darauf sollte schon nach Schiller die ästhetische Erziehung hinarbeiten. Auch Nietzsche schwebte zu Zeiten eine Art neuer Bruderschaft vor. George unternahm in seinem Kreis die aktive Verwirklichung dieses Plans. Noch Karl Jaspers sah 1931 m seiner Diagnose der geistigen Situation im „Aufschwung“, in dem die Möglichkeit des Selbstseins gründe, das Prädikat eines neuen Adels17.

III. Mit der Bestimmung des geschichtlichen Ortes des „lyrischen Ich“ erhebt sich die Frage, ob wir heute noch im Bereich seiner Gültigkeit stehen. In einem parodistischen Gedicht „Die Königin der Vernunft“18 hat Liliencron an die Bedingung der Möglichkeit erinnert, durch ErheKarl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit (1931). Berlin: de Gruyter 1949. Unveränderter Abdruck der 5. Aufl. (Göschen Bd 1000). S. 216 18

Liliencron, Gesammelte Werke. Bd 3. Berlin: Schuster & Löffler 1921 S. 181 ff.

352

o

A *

bung im Gedicht zu sich selbst zu kommen. Im Danteschen Terzinenton evoziert das Gedicht im ersten Teil eine Nietzschesche Hochgebirgsland¬ schaft: In Klamm und Schroffen hatt ich mich verloren, Wo sich des Urgebirges höchste Zinken Spitz grades Weges in den Himmel bohren, Wo Einsamkeiten in die Stille sinken, So ungeheurer Stille sich verketten, Als wollten sie dem Tod die Tür aufklinken. In dieser Höhe gewahrt das Ich die geheimnisvolle Erscheinung einer „blassen Frau im Onyxstuhl“, die plötzlich zu reden beginnt. Die Offen¬ barung, die aus ihrem Munde kommt, beginnt mit den Worten: Zuerst halt die gekrümmte hohle Hand, Die Trinkgeldhand, dem lieben Schicksal hin, Dass sie mit Gold gefüllt wird bis zum Rand. Denn ohne Geld, heißt Leben ohne Sinn. Ein Tausendmarkschein, ach, der engelreine, Ist wirklich der erhebendste Gewinn. Und schließt: Dann stehst du bald im Lebensschiff am Steuer Und schaust ins Meer der Ängste still und kalt, Und wirst dir selber jeden Tag getreuer. Und wenn es noch in dir nach Freude lallt, Dann weihe dich der Philosophenzunfl: Die Einsamkeit sei deine Heilanstalt! Das kündet dir die Königin Vernunft. Liliencron parodiert von der früheren Auffassung aus, daß in der Freude und überhaupt im starken Gefühl der Mensch zu sich selbst komme. Sein eigenes, nicht parodistisches Gedicht „Aufschwung“ stellt die Erhebung als Husarenritt mit dem Schwert in der Hand dar, bei dem die Bekleidung des Reiters Stück um Stück von ihm fällt, bis er frei den Gipfel erreicht hat, von dem es ihn in des „Weltmeers Donner¬ chor“ reißt19. In „Die Königin der Vernunft“ wird der einsame Weg

19 A.a.O. S. 191 353 23

Pestalozzi, Lyrisches Ich

zu sich selbst als Ideologie der Wohlhabenheit hingestellt. Nur der kann zu sich selbst kommen, der eine sichere materielle Basis unter sich hat. Der einsame Aufstieg zu sich selbst ist Egoismus des besitzenden Ein¬ zelnen. Es fiele nicht schwer, Liliencrons Vorwurf mit Hilfe einer Unter¬ suchung der sozialen und ökonomischen Umstände der sechs Dichter zu bekräftigen. Sie waren vorwiegend immer oder zu gewissen Zeiten ihres Lebens Privatiers. Einzig Mallarme übte ständig einen bürgerlichen Be¬ ruf aus. Ist es zwar unbestreitbar, daß die Bedingungen, unter denen ein Kunstwerk entsteht, in irgendeiner Weise in dasselbe eingehen, so ist doch ebenso deutlich, daß diese über dessen Wahrheit und Wert nicht entscheiden. Die Frage nach den Bedingungen gehört eminent gerade in jene Zeit, aus der die sechs Gedichte stammen. Nietzsche hat wie niemand sonst außer Marx die Bindung des scheinbar freien Geistes an historische, soziale und psychische Voraussetzungen erkannt und aufgezeigt. Historisierung und Psychologisierung waren es nicht zuletzt, die ihn den Tod Gottes annehmen ließen. Ebenso resultierte daraus die Destruktion des traditionellen Ich-Verständnisses. Doch diese Widerlegungen waren nicht sein Ziel, sie standen im Dienst dessen, was er „Umwertung“ nannte. Wir haben gesehen, daß z. B. die Bezweiflung des ego cogitans auf die Verwirklichung des Selbst ausgerichtet war. Die neue Fundierung des Selbst im „lyrischen Ich“ ist gerade im Zusammenhang mit der verbreiteten Entlarvungstendenz zu sehen. Sie trägt alle Zeichen des Versuchs, das autonome Ich zu retten, indem man es der durchforschbaren Empirie entzog. Es sollte einen archimedischen Punkt bekommen, der die Wirklichkeit transzendierte und doch zu ihr gehörte. Das Gedicht sollte diesen archimedischen Punkt darstellen. Zu dieser Gefährdung des Ich von innen kam diejenige von außen. Die sechs Dichter stimmen in dem Mißtrauen überein, das sie der demo¬ kratischen Bewegung entgegenbrachten,

die sie allenthalben herauf¬

kommen sahen. Im künstlichen Aristokratismus, auf den hin sie ihr Leben ausrichteten, suchten sie sich für ihre Person dem Kollektivum zu entziehen. Dieser Haltung sollte das „lyrische Ich“ die innere Begrün¬ dung geben. Der Versuch der Rettung des Selbst mittels des „lyrischen Ich“ er¬ scheint uns heute historisch. Die Tendenzen, vor denen es bewahrt wer¬ den sollte, haben sich seither in einer- Weise verstärkt, wie es im aus¬ gehenden 19. Jahrhundert nicht vorauszusehen war. Das damit dring354

licher gewordene Problem der Begründung des autonomen Selbst kann nicht mehr von der Lyrik aus gelöst werden. Es macht jedoch den An¬ schein, als sei deren Funktion mittlerweile an die Literatur insgesamt übergegangen. Aus dem „lyrischen“ wurde das „literarische Ich“. Die allgemeine Lyrisierung aller Gattungen könnte diese Annahme bestä¬ tigen20. Und nicht an die Literatur allein, an die Kunst überhaupt scheint die Funktion der Selbstvermittlung gefallen zu sein. Niemals ist der Kunstkonsum so allgemein gewesen wie heute. Die von Nietzsche ver¬ kündigte Erlösung der Welt im ästhetischen Schein — ist sie nicht voll¬ zogen? Das „lyrische Ich“, in dem man den Ausgangspunkt der heutigen Situation sehen kann, basiert auf der Voraussetzung, daß Ich und Selbst grundsätzlich unüberbrückbar voneinander getrennt seien. Diese Vor¬ aussetzung ging als Forderung nach strenger Trennung von Kunst und Leben in das Programm der „reinen Poesie“ ein. Dabei lag der Akzent auf der Reinigung des Kunstwerks vom Lebensstoff. Im „lyrischen Ich“ lag jedoch die Gefahr des Mißverständnisses, als müsse die Kunst in das Leben umgestaltend eingreifen. Um die Jahrhundertwende sind Ver¬ wechslungen beider nicht selten. So ist heute der anderen Gefahr zu bebegegnen, der Ästhetisierung des Lebens. Das Kunstwerk kann seine selbstvermittelnde Funktion nur erfüllen, wenn es sich nicht an die Stelle dessen setzt, worauf es hinweisen soll. Die bilderstürmerische Forderung, sich kein Bildnis und Gleichnis zu machen, die bei Mallarme und Nietzsche zum Tod Gottes geführt hatte, gilt nun dem an dessen Stelle getretenen „lyrischen“, „literarischen“, ja allgemein „ästhetischen Ich“. Nur im Gedicht, das Konstruktion einer Ganzheit mit ihrer Destruktion verbindet, kann das Ich seines Selbst angemessen inne werden. Darin erst ist auch der Begriff des „lyrischen Ich“ konsequent verwirklicht. Die Bedeutung der ästhetischen Selbstvermittlung ist wohl heute unbestritten. Sind aber damit die früheren Wege der Selbstgewinnung, „FFimmel“ und „Liebe“, mit Rückert zu sprechen, überholt? Fieute wie immer gilt, daß in einer Epoche, ja sogar im einzelnen Menschen, ver¬ schiedene historische Möglichkeiten gleichzeitig vorhanden sind. Das „lyrische Ich“ hat demzufolge nicht aufgehoben, was vorher war, es ist als neue Möglichkeit dazugekommen. — Und schließlich: Wer sein 20

Diese Lyrisierung der Gattungen im 20. Jahrhundert stellt mit positiver Wertung sogar A. Eljaschewitsch fest in seinem Aufsatz „Einheit der Me¬ thode — Vielfalt der Stile“. Kunst und Literatur, Zs. zur Verbreitung so¬ wjetischer Erfahrungen. 15. Jg. 1967, H. 8, 10, 11.

355 23E

Pestalozzi, Lyrisches Ich

Verständnis seiner eigenen Gegenwart allein von einem geschichtsphilo¬ sophischen Entwurf abhängen läßt, verfällt seinerseits der Verwechslung von Dichtung und Leben und verbaut sich die Möglichkeiten, die nicht in seinen Entwurf passen. Eine Arbeit wie die vorliegende erfüllt ihren letzten Zweck darin, daß sie den Blick geschärft hat für das, was ihr widerspricht.

356

Namenregister Das Register enthält die Namen der Primär- und Sekundärautoren. Nicht aufgenommen sind in der Regel Herausgeber und Briefempfänger. Bei den im Text ausführlicher behandelten Dichtern sind die einzelnen Werke in der Reihenfolge Lyrik, Drama, Prosaschriften aufgeführt. Wo ein Name auf der¬ selben Seite im Text und in einer Anmerkung vorkommt, ist nur die Seiten¬ zahl gegeben. A = Anmerkung Abraham a Santa Clara (1644 bis 1709): 305 A Adam A.: 175 A Aeschylos: Die Eumeniden 90 Alewyn R.: 56 Ambrosius (ca. 339—397): (AdlerAllegorie) 47 f, 58 Amiel H. F. (1821 —1881): 286, 289 A Andreae J. V. (1586—1654): Turbo (1616) 57 Angelus Silesius s. Scheffler Ariost L. (1474—1533): 34 Aristoteles: 6, 12, 35, 40, 82 Arnold G. (1666—1714): 68; Auf den gecreutzigten Jesum 65 A Auerbach B. (1812—1882): 107 Auerbach E.: 196 A Augustinus A. (354—430): 23 ff, 27 f, 41; Confessiones 23 ff Avenarius F. (1856—1923): XA Bach J. S. (1685—1750): 63,67 Bachelard G.: XIII, 190 A, 217 A Balde J. (ca. 1603 —1668): Fried¬

hofsgedicht (Enthusiasmus...) 62; Ad Sabinum Fuscum Tyrolensem 7i

Bailauf F.: 88 A Baudelaire Ch. (1821 —1867): XII, 4 f, 168—197, 203, 206, 225, 229, 230 A, 250 ff, 349; Incompatibilite 169, 183, 194, 197, 201; Tous imberbes alors 182; Les Fleurs du Mal 170, 171, 174, 175, 181, 184, 186, 188, 190, 193, 250 f, 251 f: Albatros 175 — Alchimie de la douleur 183 A — Benediction 175 — Elevation 171 f, 175—197, 229, 251, 232, 275, 328 — Les femmes damnees 181 — Le flacon 181, 182 — Le goüt du Neant 191 —L’horloge 187 — La metamorphose du vampire 183 A — La mort des amants 188 A — La mort des pauvres 188 A — Les plaintes d’un Icare 311 A — Spleen et Ideal 171, 187 — Tableaux Parisiens 187 — Un Voyage pour Cyth^re 183 A; La chambre double

357 23E*

193? Mon coeur mis ä nu 230 A,

Bossuet J. B. (1627—1704):

245 A; Notes et documents pour

178; Elevations 172

mon avocat 170; Les paradis arti-

Bridgwater W. P.:

ficiels 171, 182, 184: — Le poeme

Brockes

du Haschisch 171 — Le gout de l’Infini

171 A;

Richard

Wagner

171, 194 A; Correspondances 171 A, 179, 250 Benjamin

(1680—1747):

82 A,

83, 97 A, 248 Bruno G. (1548—1600):

XI; 30—42,

455 49, 59, 71) 77, 82, 84, 100, 179, 180, 201, 233, 235 f, 245, 248, 254, 348; Mio passar solita-

182 A, 193 A, 195 A, 199 A, 230 A,

rio 30, 49; Uscito de prigione an-

243, 324 A, 374 A

gusta e nera

G.

(1892—1940):

120 A

174,

Benn

W.

B. H.

172, 173,

(1886—1956):

XIII,

E

chi mi

im-

penna 31 ff, 37 ff, 49, 179; Del’infinito, universo e mondi 30; De

343 Bernoulli C. A.: Bianchi L.: Bibel:

30;

243 A

immenso

et

3, 7, 132, 317, 318; Psalmen

49

201; Bergpredigt 201; i.Mose 32

Buchwald R.:

256,

Burckhardt

5. Mose

11,26—28

9 A; Arnos 5,23 69; Jeremia 9 A; Sprüche 1,15 f

9 A; Psalm 8

69;

Psalm 50,16 69 f; Psalm 102,8 30; Matth. 3,16—17

32;

Degl’Heroici Furori 33 A, 34, 36 A,

334 A, 338 A

314 A;

innumerabilibus

110; Matth. 7,13

78 A, 82 A, 97 A

J.

(1818—1897):

22 A,

302 Burdach K.: Byron

23 A

G. N. G.

(1788—1824):

190,

286

9 A; Matth. 7,14 21; Matth. 19,21 23; Luk. 22,28—30 203; Röm. 13,

Cassirer E.:

13—14 23; 2. Kor. 12,9 258; Phil.

Cazalis

H.

(1840—1909):

258 f,

262 A; Brief 255

2,6 137 Bidermann

J.

(1578—1639):

Ceno-

Chasse Ch.: Cherix R.:

doxus 57, 62 Bieser E.:

23 A, 35 A

170 A, 175 A

Cues N. v. s. Nikolaus von Kues

202 A

Billanovich G.:

273 A

Curtius E. R.:

19 A, 25 A

Bindschedler M.:

Czepko D. v. (1605—1660):

226 A

Blumenberg H.:

16 A, 337 A 70, 74 A

21 A

Böckmann P.:

340 A

BöhringerR.:

329 A

Böschenstein B.:

Dante

XI;

3—18,

28 f, 46, 53 A, 80, 86, 100, 110 A,

XII A

120,

Böschenstein R. s. Schäfer R. Boethius A. M. S.:

(1265—1321):

39 A, 128, 128 f,

185 A

132,

180,

185 A,

284, 32J, 332> 348—356 pass.;

212,

251,

341 pass., 342, Divina Comme¬

dia 3 ff, 6 f, 7 A, 10, 334 ff, 339.

Bonaventura

(1221 —1274):

Itinera-

— Inferno 336

f,

338. — Purga-

rium mentis ad Deum 12; (pseud.)

torio 28, 41, 201, 334, 335 A, 336.

Nachtwachen des Bonaventura 104



Bopp L.:

175 A

Borchardt R. (1877—1945):

358

Paradiso

41,

80,

130,

179,

336, 338; Vita Nuova 333 A, 334 304 A

David CI.:

314

Decartes R. (1596—1650):

210

Dehmel R. (1863—1920):

334 A

DiltheyW.:

Garve Ch. (1742—1798): Gast

35 A

P.

(eig.

1918):

Dionysius Areopagita (Ende 5. Jh.): 73

George

Köselitz

97 A H.)

(1854—

5, 239, 245 A

S.

(1868—1933):

6,

119,

198 A, 285, 287, 288 A, 307, 310

Döring A.:

88 A

Dornheim A.:

—342, 342 A, 347, 350, 352; Die

292 A, 301 A

Fibel 310, 312. — Ikarus 310 f.

Droste-Hülshoff A. v. (1797—1848): 308 A, 104 Dühring



Ich

wandelte

stern bahnen

K. E.

(1833—1921):

233,

234

auf

öden

dü-

310 f. — Die Na-

jade 31 o f; Weihe 331; Der siebente Ring 319. — Dante und das Zeit¬

Dyck, J.:

55 A

gedicht 335.— Einverleibung 3 3 8 A.

Dyck M.:

79 A

— Entrückung 6, 319 f, 340; Der Teppich

Eichendorff J. v.

(1788—1857):

Eljaschewitsch A.: EmrichW.: Erken G.:

190

355 A

Lebens



Vorspiel

313 A, 323 f, 328. — Nun hält ein guter Geist 315; Tage und Taten

XIII

307 A; Vorrede zu Maximin 322 f,

291 A

329,

Essarts E. des (1839—1909): Exner R.:

des

173

334,

339;

Kunst 335 f;

305 A, 307 A

Blätter

für

die

Übersetzungen 328,

334 ff, 338; Das Jahrhundert Goe¬ thes 312 A, 119

Ficino M. (1433—1499): Fick J.:

Gerhardt P. (1607—1676):

33, 34

292 A

Gmelin FI.:

Fiorentino F.: FöllmiH.: Fontane

Goethe

30, 37 A, 39 A

3—18 passim

J.W.

(1749—1832):

VIII,

XII; 77, 99, 100, 103, 119, 133,

70 A, 74 A Th.

70

(1819—1898):

110,

135, 139, 140, 152 f, 161, i62ff,

mf, 115 f; Aus den Tagen der

169,

Okkupation

308, 332, 341, 346, 348; Dämm¬

105 A,

uof;

Stech-

286,

291,

301 ff,

306,

rung senkte sich von oben 116A;

lin 112 Fourier Ch. (1772—1837): Francke

283,

A. H.

Ganymed

194

(1663—1727):

64 ff,

140;

XII;

136 f,

Harzreise

im

137,

Winter

138, XII;

131 f; Anfang und Fortgang der

Jägers Abendlied 139; Kennst du

Bekehrung 64 f

das Land 292, 301, 305; Mächti¬

Francois

L.

Freiligrath

v. F.

(1817—1873):

(1810—1876):

152 Über¬

ges

Überraschen

der Elegie

296;

Marienba¬

132 f; An den Mond

setzung von Longfellows „Excel-

185 A; Auf dem See 301; Wand¬

sior!“ 105 A

rers Sturmlied 206 A; West.-östl.

Freiwald C.: Frey A.: Frey H. J.: Friedrich

292 A, 295 A

Divan

140 A, 166

mit

H.:

VII,

22 A,

175 A, 180, 196 A, 261

A

168 A,

Faust

Eckermann

Reise

280 A

301 f; 301 ff;

4,

152;

Gespr.

190 A;

Wilhelm

Ital.

Meisters

Lehrjahre 131 A, 303; Schöne Seele

66,

131 f,

schaft!.

173;

Schriften

Naturwissen¬ 101 A,

161 f;

359

Farbenlehre

ioo,

153;

Über den

kehrten

Granit XII Greiffenberg

C. R. v.

63

47, 57, 61,

(1633 —1694):

55> 57> 58> 6°>

Gundolf

F.

304 A;

304 A;

Chandos-Brief

Gespräch

über

Gedichte

306; Aufsatz über Amiel 289 A;

A

Gryphius A. (1616—1664): 53>

302, 307 A; Briefe des Zurückge¬

43, 47 ff,

6l> 6z>

64

sie und Leben

Briefe

wir 304 A; Briefe 285 A, 290

332> 340 349 35L 354, 355; Entre quatre murs 247;

218 A

J.

(1616—1656):

Weihnachts-

Kleist H. v. (1777—1811): F. G.

Knodt K. E.: KochW.:

247, 249. — Moi,

quand j’etais petit 250. — Pour

liedt 56 Klopstock

— L’art ose

ouvrir un album

308 A

(1724—1803):

83!

Kopernikus N. (1473 —1543):

36, 71,

272 A; Crayonn4 au the-

tiques ätre

96, 100, 169, 201, 328, 339 f

276;

278,

78 A

Kuhlmann Qu. (1651 —1689):

45

162

Quant

279;

251 f,

30 A

au

livre

Symphonie

274;

Briefe

Langen A.:

220 A

Lausberg H.:

Martens W.:

Lavater J. C. (1741—1801): Lefebure E.:

194 97

Lehnert

292 A,

298 A,

295 A,

141 A, 167 A XII;

5,

77, 119—167, 183, 206, 231, 267,

332 A D. v.

120 A, 140 A,

Meyer C. F. (1825—1898):

301A, 307 A, 343 A Liliencron

292 A

Meyer B. (1831—1912):

(1646—1716):

104

261 A

Mennemeier F. N.:

Leibnitz G. W.

Lepsius S.:

134 A 104 A, 105 A

Mauron Ch.:

250, 257

H.:

300 A

Matthisson F. (1761—1831):

222 A

255^

A, 277

Markwardt B.:

97 A, 132 A, 136 A

275,

litteraire

173 A,

Mann Th. (1875 —1955): Landmann M.:

Fenetres

derniere mode: 274; Les dieux an-

167 A

Kuhlenbeck L.:

Les

271, 276; Herodiade 256, 258; La

324 A

Kudszus W.:

260 ft;

252 f, 256, 260, 262, 263 f, 268,

XA

Köhler W.:

eventail

249, 271. Autre

(1844—1909):

352

312 A,

349; Romanzen und Bil¬

—354; Die Königin der Vernunft

der 149, 155, 160, 167; Das bit¬

352; Aufschwung 353

tere Trünklein 139; Auf dem ca-

Livius T.:

nal grande 164; Die Dryas 139;

20, 22 r’

Löwith K.:

Der Frühling kommt 140; Die ge¬

223 A, 225 A

Lohenstein D. C. v. (1635—1683): 58,

62;

57,

Die Höhe des menschli¬

chen Geistes 57 Löhner E.:

88 A, 91 A, 168 A

Longfellow H. W. 102—116; 178,

205,

(1807—1882):

Excelsior 352;

Lusser K. E.:

136 A,

164,

Nachtgeräusche

151;

sche

163 A;

Brunnen

Römi¬

Flimmels-

165; Die tote Liebe 311 A; Engel¬

104;

berg 122; Huttens letzte Tage 167; Pescara Der

140 A,

142 A,

des

167; Jürg Jenatsch

Heilige Mönchs

167; 5;

Die

Briefe

167;

Hochzeit 119,

135,

137, 142, 146, 162, 164, 166 f. Meysenbug

XII;

Der

164;

102—116,

163 A

Mallarm^

166; Mövenflug

nähe ii9f, 201, 321; Zwei Segel

Selbstkommentar zu Excelsior 113 329

Feuer

5,

Hyperion

LukacsG. v.:

löschten Kerzen 139; Das heilige

S. 102,

(1842—1889): 173,

VII A;

196 A, 247—282,

233 f Michaud G.:

M.

v.

(1816—1903):

261 A, 280 A

361

Michel P. H.:

30, 33 A, 34 A, 36 A,

38 A, 49 A (1475 — M^4):

142,

f

53> 555 56; Vesuvius 54; Elegie 54; Begräbnuss-Gedicht 59

Michels G.: Mörike

48, 51—69,

68 f, 76; Deutsche Poeterey 51 f,

Michelangelo

166

Opitz M. (1597—1639):

335 A

E.

Otto Rud. (1869—1937):

(1804—1875):

141,

Moritz K. Ph. (1756—1793): Morwitz E.: Müller W.

142

97 A

Overbeck

F.

(1837—1905):

79 A,

243

331 A

Ovid N. P.:

(1794—1827):

324 A

Texte zu

68; Metamorphosen 96;

Ars amatoria 59

Schuberts Winterreise 206 A

Näf W.:

Paracelsus Th. B. (1493—I54I): Parmenides: 130

20 A

Netzer R.: Nietzsche

261 A F.

(1844—1900):

X;

5,

102, 105 A, 114 f, 120 A, 136, 167, 198—24h, 259, 260, 263, 289, 302,

3i8> 349>

325>

33°> 332> 34° f» 342> 352> 353> 355J Aus hohen

Bergen —

198—208,

Einsiedlers

241,

242 A.

Sehnsucht

216,

220 A, 230, 236, 239, 244 ff, 260; Dionysos-Dithyramben

246;

Der

Freigeist 232; Die Krähen sdirein 232; An den Mistral 232; Rimus Remedium

232;

Sils

Maria

232,

241, 242; Venedig 231; Ecce homo 214,

242 A,

245;

Fröhliche

Wis¬

Pascal B. (1623—1662): Pestalozzi K.:

288 f

142, 163

147 A, 289 A

Petrarca F. (1304—1374):

XI; 19—

29, 4U IO°> i28, 19U 332 Petsch R.: 88 A Plato:

39, 48 f,

53,

Soff,

86,

311;

Timaios 129 Poe E. A. (1809—1849): PommierJ.:

194 A

Pomponius Mela: Poulet G.:

280

20 A

XIII, 14 A, 28 A, 129 A,

177 A, 252, 305 A Proust M. (1871—1922): Ptolemäus:

182

71, 82 (ptolemäisch)

senschaft 114, 209, 234, 245; Jen¬ seits von Gut und Böse 232, 241;

Raymond M.:

Menschliches — Allzumenschliches

Reidemeister K.:

209,

Requadt P.:

213 A,

mäße

216,

231; Unzeitge¬

Betrachtungen

Zarathustra

211 ff,

245,

289 A;

213,

216,

218, 220 A, 224 ff, 228, 230, 232,

Richter

Rilke

de docta ignorantia 130 Nobiling F. J.: Noulet E.:

261 A

261 A,

267 A

Novalis (Hardenberg F. v.) (1772— 1801):

362

135

(1763 —1825):

104,

135, 138 A, 233

114, 198, 201, 217, 232, 234 ff 26, 35, 36, 82, 130, 133;

261 A, 270 A

J. P. F.

Richter K.:

— 1464):

261 A

292 A, 301 A, 305 A

Richard J.-P.:

235, 242, 246, 285 A; Briefe 31 A, Nikolaus von Kues (Cusanus) (1401

197 A

82 A

R. M.

(1875 —1926):

X A,

XIII, 261 A, 342 Ritter J.:

20 A

Rohde E. (1845—1898):

242,245

Ronsard P. (1524—1585): Rosenfeld H.:

162, 165 A

Rosenthal G.:

89 A

Rückert F. (1788 —1866):

51 — 53

350, 355

Schäfer R.:

73 A, 179 A

Schöne A.:

Schaukal R. (1874—1942):

63 A

261 A

Scheffler J. (Angelus Silesius) (1624— 1677):

43 A, 45,

82, 83,

70—76,

F. W. J.

(1775 —1854):

Schiller F. v. (1759—1805):

XI;

16 77,

78—101, 102, 104, m, 152, 161, 168,

172,

Schönauer F.:

213,

248,

339,

348 ff,

333 A

Schopenhauer A. (1788 —1860): 238 f,

194 f, 196 Schelling

45 A, 47 A, 50 A, 51 A,

245,

285 A,

288 f,

Schultz

St.:

314 A,

319 A,

Schulz G.:

87 A

Die Belohnung 97; Der berufene

332, 340

(1564—1616):

Leser 97; Die Dichter 94 A; Ele¬

Shelley P. B. (1792—1822):

gie auf den Tod eines Jünglings

Snell B.:

85;

Staiger

Freude

87,

88,

95,

323 A,

338 A, 339 A Shakespeare W.

die

294,

304 A, 306 A

352. Berglied 104; Bürgschaft 104;

An

234,

120,

190, 302

IX, 8 A E.:

XIII,

81 A,

86,

89 A,

100, 204; Geheimnis der Reminis¬

96 A, 98, 133, 137 A, 138, 151A,

zenz

165, 303 A, 325 A

80,

85;

Die

Götter

Grie¬

chenlands 88; Die Größe der Welt 84,

95,

340 A;

Das

Ideal

und

Stein Fi. v. (1857—1887):

31 A, 198,

232—241

das Leben 77, 88 ff, 97, 99, 113 f,

Stern M.:

169, 192, 213, 298 A, 314 A; Die

Storm Th. (1817—1888):

Künstler 88; Lauragedichte 80, 85,

Strauss D. F. (1808—1874):

89, 91; Laura am Klavier 79, 82,

Strich F.:

84,

Sudermann D. (1550—1631):

86; Messiade

ligen

87 A;

Augenblicke

79,

Die 86;

Se¬ Der

288 A, 290 A 134,138 141

44

Susmann M. (1874—1965):

62 342 ff

Spaziergang 94 A; An den Unend¬

Swedenborg E. (1688—1772):

194

lichen 83; Vorwurf an Laura 79;

Swinburne A. Ch. (1837—1909):

279

Zuversicht der Unsterblichkeit 85; Leichenfantasie

Carlos

Tansillo L. (ca. 1510—1558):

34

82 A, 85; Über die ästhet. Erzie¬

Tersteegen G. (1697—1769):

69, 136

hung des Menschen 88, 90, 91 ff,

Thibaudet A.:

261 A, 280 A

98,

Thomas

Aquin

348;

mental.

ß$;

Don

Über naive und senti¬ Dichtung

99;

Über

das

von

(1225 —1274):

129, 130

Pathetische 95; Spaziergang unter den

Linden

93;

Theosophie

des

Julius 80, 82, 84 A; Briefe 80, 81, 85, 87, 96, 97, 99 Schleiermacher F. E. D. (1768 —1834): 142

Usinger F.: Uz J. P.

(1720—1796):

83,

Valery P. (1871—1945):

174

Verlaine P. (1844—1896):

Schmitt W.:

68 A f

VietorK.:

Schmitz G.:

XII A

Vigny

Schmolck B. (1672—1737): Schnitzler A. (1862—1939): Schoeck G.:

82 A, 261 A

46 A

61 198 A

A.

97,

98

332

XIIA de

(1797—1863):

178, i95> 197 Vinet A. (1797—1847):

172 ff,

163

Vischer F. Th. (1807—1887):

140 ff,

363

160; Ästhetik X A; Krit. Gange

Winckelmann J. J. (1717—1768):

137 f

WölfFlin H. (1864—1945):

VivierR.:

Wolandt G.:

173, 183 A

Vordtriede W.:

168 A, 194 A, 308 A

Wolfskehl

302

X A, 44

VIII A K.

(1869—1948):

310,

333. 342 A Wagner

R.

(1813—1883):

213 A,

WunbergG.:

289 A

233 f, 238 f, 245, 289 A Wais K.:

252 A, 261 A

WalzelO.: WechsslerE.: Weiss R.:

Zeller H.:

342 A

Zinzendorf

17 A, 21 A

65

97 A

Wieland Chr. M. (1733 —1813):

302

Demco 38-297

N. L. v. 6y,

Ziolkowski Th.:

Date Due

364

A, 66,

165 A (1700—1760):

69, 70 A 303 A

o^böFb^a

809,14 P 439e Pestalozzi, Karl. Die Entstehung des Ich

lyrischen

3110064448 t)4/04/2018 7:02-3

Smile Life

When life gives you a hundred reasons to cry, show life that you have a thousand reasons to smile

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