Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung

Gegenwärtige Strategiebildungsprozesse müssen sich mit einer ihnen konstitutiv eingelassenen, zentralen Spannung befassen: Auf der einen Seite präsentieren sie sich stets als fixierte Form, stehen aber andererseits einer sicherheitspolitischen Umwelt entgegen, die dynamischer ist als jemals zuvor. Zentral hierbei ist nicht nur die Frage der zukünftigen (Neu-)Gestaltung sicherheitspolitischer Strategiebildung auf der institutionellen und prozessualen Ebene. Als Dokument eines demokratischen Gemeinwesens stellt sich gleichermaßen die Frage nach einer weiterreichenden Einbindung der Öffentlichkeit. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes debattieren diese Herausforderung entlang des Weißbuchs 2016 der Bundesregierung.

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Edition ZfAS

Daniel Jacobi · Gunther Hellmann Hrsg.

Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung Zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit

Edition ZfAS Reihe herausgegeben von T. Jäger, Köln, Deutschland

Die Edition ZfAS wird parallel zur Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik (ZfAS) publiziert. Die ZfAS ist die Zeitschrift für theoriegeleitete und empirisch gehaltvolle Analysen aus den Politikbereichen der Außen- und Sicherheitspolitik, die Außenwirtschafts- und Kulturpolitik ebenso umfasst wie Fragen der Inneren Sicherheit. In der Edition ZfAS werden innovative Forschungsergebnisse publiziert, die den strengen Qualitätsmaßstäben für die Publikation von Manuskripten in der Zeitschrift standhalten. Da die Zahl solcher Beiträge die Möglichkeiten der Publikation in der Zeitschrift mittlerweile übersteigt, wurde mit der Edition ZfAS ein neues Forum geschaffen, in dem Bände zu zentralen Themenschwerpunkten ergänzend zur Zeitschrift im Verlagsprogramm von Springer VS publiziert werden. Die Bände erscheinen in deutscher oder englischer Sprache.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15739

Daniel Jacobi · Gunther Hellmann (Hrsg.)

Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung Zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit

Hrsg. Daniel Jacobi Institut für Politikwissenschaft Goethe-Universität Frankfurt Frankfurt am Main, Deutschland

Gunther Hellmann Institut für Politikwissenschaft Goethe-Universität Frankfurt Frankfurt am Main, Deutschland

Edition ZfAS ISBN 978-3-658-23975-6  (eBook) ISBN 978-3-658-23974-9 https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Verantwortlich im Verlag: Jan Treibel Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhalt

Einleitung: Strategiebildung zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit . . . . . . 1 Daniel Jacobi und Gunther Hellmann Teil I Konzeptionen von Sicherheit und Strategie Von Strategiebildung, Strategievergewisserung und Strategischer Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Christoph Schwegmann Make Strategy Grand Again. Gedanken zum Konzept der Grand Strategy in der deutschen Sicherheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Tobias Bunde Wirklich strategiefrei? Eine Rekonstruktion des Strategieverständnisses in Weißbüchern der Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Jan Fuhrmann Wie entstehen strategische Dokumente? Eine empirisch-analytische Fallstudie zum Weißbuch 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 T. René Weber

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Inhalt

Teil II Der Prozess der Strategiebildung Strategiebildungsprozesse. Chancen und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Thomas Bagger Strategieentwicklung als institutionalisierter Prozess. Strategie und Vorausschau im Bundesministerium der Verteidigung . . . . . . . 121 Frank Richter … denn morgen wird heute schon gestern gewesen sein. Zukunftsanalyse als Instrument der Strategieberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Olaf Theiler Zur Fortentwicklung der Strategiebildung durch Strategische Vorausschau. Das Beispiel Storytelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Norbert Reez Teil III Strategische Kultur und Öffentlichkeit „Was haben die Römer je für uns getan?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Hans-Peter Bartels Mehr Mut wagen. Wie Selbstreflektion und Debatte zur Strategiefähigkeit beitragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Roderich Kiesewetter Das Land ohne Eigenschaften? Das Weißbuch 2016 und Deutschlands schwieriges Verhältnis zur eigenen sicherheitspolitischen Strategie . . . . . . . . 173 Christian Thiels „Einbinden“ und „Mitnehmen“ reicht nicht aus. Öffentlichkeit als strategisches Problem der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik . . . . . 187 Klaus Naumann

Inhalt

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Warten auf die große sicherheitspolitische Debatte in Deutschland? Jenseits von Defizitdiagnosen, Vermeidungsdiskursen, Erziehungskampagnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Anna Geis Die Öffentlichkeit der Sicherheit und die Sicherheit der Öffentlichkeit . . . . . 223 Daniel Jacobi Teil IV Zukunft und Herausforderungen der Strategiebildung Künstliche Intelligenz als sicherheitspolitische Herausforderung . . . . . . . . . 249 Alexander Stulpe und Gary S. Schaal Warum Europa ein Friedenscorps braucht – und warum Deutschland dafür kämpfen sollte. Eine kleine Streitschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Stefan Braun Reshaping World Order? Deutsche Strategiefähigkeit als Faktor der außenpolitischen Neuausrichtung Deutschlands und Europas . . . . . . . . . . . . 277 James D. Bindenagel Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern. Die Leitlinien der Bundesregierung in außenpolitischer Betrachtung . . . . . 287 Ekkehard Brose Warum Deutschland künftig mehr denn je auf einen gesamtstrategischen Ansatz in der Außen- und Sicherheitspolitik angewiesen ist . . . . . . . . . . . . . . 297 Ulrich Schlie Eine deutsche Strategie für EUropäische Einbindung. Imperative und Fallstricke strategischer Schicksalsbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Gunther Hellmann

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Dr. Thomas Bagger ist Ministerialdirektor und Leiter der Abteilung 2 „Ausland“ im Bundespräsidialamt, Berlin. Dr. Hans-Peter Bartels ist Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages, Berlin. Prof. James D. Bindenagel ist Henry Kissinger Professor und Leiter des Center for International Security and Governance an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn. Dr. Stefan Braun ist Büroleiter der Süddeutsche Zeitung Online, Berlin. Ekkehard Brose ist Beauftragter für zivile Krisenprävention und Stabilisierung im Auswärtigen Amt, Berlin. Dr. Tobias Bunde ist Postdoktorand am Centre for International Security Policy der Hertie School of Governance, Berlin, und Leiter Politik & Analyse der Münchner Sicherheitskonferenz Jan Fuhrmann ist Politikwissenschaftler und derzeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter eines Abgeordneten im Deutschen Bundestag tätig. Prof. Dr. Anna Geis ist Professorin für Internationale Sicherheitspolitik und Konfliktforschung an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr / Universität der Bundeswehr Hamburg.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Gunther Hellmann ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt deutsche und europäische Außenpolitik an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Dr. Daniel Jacobi ist Postdoktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Roderich Kiesewetter ist Mitglied des deutschen Bundestages und Obmann für Auswärtiges der CDU/CSU-Fraktion. Dr. Klaus Naumann ist Militärhistoriker und ehemaliger Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Dr. Norbert Reez ist Jurist und Diplom-Kriminologe im Bundespolizeipräsidium, Potsdam. Dr. Frank Richter, Oberst i.G., ist Leiter des Referats Politik II 1 des Bundesministeriums der Verteidigung, Berlin. Prof. Dr. Gary S. Schaal ist Professor für Politikwissenschaft, insbesondere Politische Theorie an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr, Hamburg. Prof. Dr. Ulrich Schlie ist Inhaber des Lehrstuhls für Diplomatie II an der Andrássy Universität Budapest. Dr. Christoph Schwegmann ist Militärpolitischer Berater im Planungsstab des Auswärtigen Amts, Berlin. Dr. Alexander Stulpe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Professur für Politikwissenschaft, insbesondere Politische Theorie, an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr, Hamburg. Dr. Olaf Theiler ist Referatsleiter im Planungsamt der Bundeswehr, Berlin. Christian Thiels, ist Verteidigungsexperte der Tagesschau, ARD-Hauptstadtstudio Berlin. René Weber ist Doktorand an der Goethe Universität Frankfurt am Main.

Einleitung: Strategiebildung zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit Daniel Jacobi und Gunther Hellmann1

Nach zehnjähriger Pause hat die Bundesrepublik seit 2016 wieder ein Weißbuch, das erstmalig unter dem Siegel der Bundesregierung außen- und sicherheitspolitische Orientierung für die nächsten zehn Jahre verspricht. Hinsichtlich seiner Entstehungsgeschichte ist besonders bemerkenswert, dass es sich einer politischen Debattenkultur anschließt, die seit 2013 insbesondere vom Auswärtigen Amt mit dessen Review 2014-Prozess angestoßen wurde. So verlief auch die Schreibphase des aktuellen Weißbuchs in einem so nie dagewesenen öffentlichen Prozess. Man könnte meinen, dass sowohl auf der politisch-institutionellen als auch der demokratisch-legitimatorischen Ebene nun alles gut sei. Doch gerade jener öffentliche Charakter des Weißbuchprozesses hat einer breiteren Kommunikation über Sicherheit neue Räume erschlossen. In diesen zeichnen sich nun wiederum Hinweise darauf ab, dass das Dokument – sowohl in seiner inhaltlichen als auch formalen Dimension – eher eine spezifische sicherheitspolitische Herausforderung deutlicher denn je herausarbeitet als für diese praktikable Lösungen anzubieten. Denn analog zu dem öffentlich-medialen Echo, das dem so öffentlichkeitswirksam vollzogenen Schreibprozess eine vergleichsweise zurückhaltende öffentliche Präsentation und Erklärung folgen ließ, fordern nun u. a. auch Beteiligte des Schreibprozesses, dass das Weißbuch lediglich als Wegmarke und Meilenstein, nicht aber als Endpunkt der Bemühung um eine sicherheitspolitische Selbstverständigung in der Bundesrepublik missverstanden werden dürfe (Breuer und Schwarz 2016, S. 84). So wies auch die Verteidigungsministerin bereits in der ersten Rede nach 1 Für ihre verlässliche Unterstützung in allen Phasen der Herstellung des finalen Manuskripts bedanken wir uns bei Florian Hubert, Aaron Müller und François Weinmann. Unser Dank gilt ferner Karl-Heinz Kamp und seinem Team bei der Bundesakademie für Sicherheitspolitik für die Zusammenarbeit in der Ausrichtung eines gemeinsamen Workshops im April 2018, der die Grundlage dieses Sammelbandes darstellte. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Jacobi und G. Hellmann (Hrsg.), Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Edition ZfAS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6_1

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ihrer Wiederernennung darauf hin, dass es ihr in dieser Legislaturperiode wichtig sei, den Weißbuchprozess weiter auszudifferenzieren. Der vorliegende Sammelband schließt sich diesem Konsens an und erörtert sowohl Fallstricke als auch Chancen des so weiter angestoßenen Dialogs über einen möglichen Wandel der deutschen Sicherheitskultur.

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Strategiebildung im Wandel

Eine weiter ausgreifende Beschäftigung mit Fragen der deutschen Sicherheitskultur – also jene Formen, in denen über Sicherheit diskutiert und folglich auch politisch gehandelt wird – empfiehlt sich jedoch nicht erst angesichts dieses Eingangsbefunds. Oft als Vorwurf formuliert, lässt sich der Einwand, dass das vorliegende Weißbuch mehr Fragen offenlässt, als es beantworten kann, auch positiv gegenlesen – schließlich spricht dies ebenfalls für die Anschlussfähigkeit des finalen Produkts an weiterführende und vertiefende Debatten. Viel schwerer scheinen aber jene Herausforderungen zu wiegen, die die weltgesellschaftlichen und damit auch weltpolitischen Kontexte aufwerfen, in denen sich der Arbeitsprozess heutiger sicherheitspolitischer Strategiebildung vollzieht und auf die er sich beziehen muss. So ist der zum Standard gewordene Verweis auf die Zäsur von ‚9/11‘ inzwischen zum prominentesten Signifikant für eine distinkte und neuartige Dynamik des sicherheitspolitischen Umfelds politischer Gemeinwesen geworden. Einst für diese als clear and present dangers angenommene Bedrohungen werden inzwischen zunehmend von den Risiken neuer und insbesondere immer abstrakter werdenden Bedrohungen komplementiert (Stichwort Cybersicherheit). Viele sicherheitspolitische Traditionen, sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaft, haben infolgedessen begonnen, ihre einst festen Grundannahmen selbstkritisch zu hinterfragen. Heute verwenden Beobachter internationaler Sicherheit mehr denn je ihre Anstrengungen darauf, neue Akteure, Strukturen oder Prozesse zu identifizieren und zu verstehen. Dies hat folglich auch sicherheitsstrategische Texte zu einem „genre in demand“ (Leander 2006, S. 370) gemacht. Zur gleichen Zeit provozieren diese neuen Sicherheitsdynamiken aber auch eine sich nach wie vor eher subtil vollziehende, d. h. nicht unbedingt in einer breiten Öffentlichkeit diskutierte und folglich auch nicht vollumfänglich angenommene Herausforderung an ein Kernelement jeglicher Sicherheitspolitik: die Erstellung ebenso dynamischer Sicherheitsstrategien. Erst seit Kurzem stellt sich – aufgrund der paradoxen Konstellation einer dynamischen Sicherheitsumwelt und eher statischer Sicherheitsdokumente – ein

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gesteigertes Bewusstsein dafür ein, dass jegliche Vorstellung von ‚reiner Strategie‘ eine Illusion sein muss (Betts 2000) und dass folglich zahllose Lücken zwischen beiden Dimension bestehen, die sukzessive bedacht werden müssen. Das vorliegende Wissen über die praktischen Grundlagen der Erstellung sowie der Evaluation solcher neuer Formen von Sicherheitsstrategie ist folglich noch ergänzungsbedürftig.

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Kernherausforderungen heutiger Sicherheitsstrategien

Die gegenwärtigen Dynamiken globaler Sicherheitsordnungen erfordern ebenso dynamische Prozesse der sicherheitspolitischen Strategiebildung. Lässt man sich auf diese Diagnose ein, dann lautet ein logischer Lösungsansatz, auf ein besseres Verständnis dieser beiden Dimensionen sowie ihrer Beziehung hinzuarbeiten. Das Hauptziel des vorliegenden Sammelbandes ist es daher, Anregungen für die verschiedenen Dimensionen eines solchen neuartigen Strategiebildungsprozesses zusammenzutragen. Im Sinne einer Hinführung zu diesen Lösungsangeboten bietet es sich aber auch an, zuerst einmal nachzufragen, was insbesondere der Herleitung produktiver Anstöße bislang im Wege gestanden hat und Vorhaben wie das vorliegende eher verhindert haben. Ein offensichtlicher Weg, den Strategiebildungsprozess dynamischer zu gestalten, liegt in dem Ansatz, dass dieser seinen exklusiven Fokus auf eine schriftliche Fixierung überwinden muss. Setzt man jedoch die reine Konzentration auf Schriftstücke kontingent, so stellt sich im nächsten Schritt sofort auch die Frage, wer an der – wie auch immer zu denkenden – neuen Form der Strategiebildung teilhaben soll. Spätestens in dieser Zuschneidung des neu zu vermessenden Teilnehmerkreises zeigt sich dann ein zentrales Hindernis der Dynamisierung von Sicherheitsstrategien. Dieses Hindernis zeigt sich in Form eines historisch verfestigten und exklusorisch verstandenen Konzepts der Dualität von ‚Theorie und Praxis‘. Die nach wie vor prominente Interpretation dieser Unterscheidung scheint aber inzwischen eher Teil des Problems als von dessen Lösung zu sein. Dies liegt insbesondere daran, dass dieses Verständnis die Einsicht verdeckt, dass die besagte Formalisierung von Sicherheitsstrategie in einer fixierten Form lediglich eine historisch erprobte Form der Strategiebildung darstellt. Sie repräsentiert eine Form, die erst Ende des 19. Jahrhunderts aufkam und zudem ihre heutige Bedeutung erst vor gut sechzig Jahren angenommen hat (Heuser 2010, S. 490). Das Problem der Fixierung (sicherheits-)politischer Doktrinen zeigt sich insbesondere in westlichen Demokratien. In diesen, insbesondere durch die Massen-

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medien gekennzeichneten modernen Gesellschaften, kann sich Sicherheitspolitik inzwischen nicht mehr der öffentlichen Kommunikation entziehen. Sie wird nun wie jedes andere Politikfeld kommentiert, kritisiert, angenommen oder zurückgewiesen. Moderne Gesellschaften finden sich nicht mehr in einer Welt, wo diejenigen, die Entscheidungen fällen, auch zwingend deren direkten Konsequenzen ausgesetzt sind. Im Gegenteil scheinen „Komplexität, Konflikt, Interdependenz die einzigen Elemente zu sein, derer wir uns in unseren Zeiten noch sicher sein können“ (Mogherini 2015). Infolgedessen haben sowohl die Einsicht in die Unsicherheiten, die den neuen Sicherheitsdynamiken innewohnen, als auch das daraus resultierende Bewusstsein für die Risikohaftigkeit jeglicher sicherheitspolitischer Entscheidungen dafür gesorgt, dass sich die Forderung nach öffentlicher Teilhabe nun auch auf den Strategiebildungsprozess ausgeweitet hat. Wo die besagten clear and present dangers nicht mehr so eindeutig wie vormals auf der Hand liegen, sondern vielmehr abstrakt und potentiell vielgestaltig sind, wird auch deren Identifikation unsicherer und somit wiederum (re)politisiert. Folglich haben sich Prozesse der Strategiebildung nicht nur in eine militärische und politische Sphäre ausdifferenziert. Vielmehr haben sie sich nun auch sukzessive im Hinblick auf eine breitere Öffentlichkeit ausgedehnt, die am Herstellungsprozess von Sicherheitswissen eine Teilhabe einfordert und somit in solchen Strategiebildungsprozessen mitgedacht sowie eingebunden werden muss. Wie das oben genannte Zitat aus dem inneren sicherheitspolitischen Zirkel zeigt, stimmen inzwischen auch sicherheitspolitische ‚Praktiker‘ zunehmend damit überein, dass Strategiebildung nicht mehr nur die Prärogative staatlich institutionalisierter (Regierungs)politik sein kann. Vielmehr bedarf sie einer stärkeren Anbindung an eine weiter gefasste (welt)gesellschaftliche Umwelt und muss im Verhältnis mit und zu dieser als kokonstitutiv gedacht werden (Steinmeier 2015). Dies spiegelt sich ebenfalls in den gewachsenen Bemühungen um eine öffentliche Rechtfertigung sicherheitspolitischer Praxis wider – wie beispielsweise in den kanadischen (2002) und zuletzt deutschen (2014) Review-Prozessen außenpolitischer Rahmenbedingungen. Die ersten Schritte zu einer umfassenderen Kommunikation über Sicherheit scheinen also getan.

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Hindernisse einer dialogischen Sicherheitskultur

Der vorliegende Sammelband greift diesen Impuls auf und erörtert sowohl Fallstricke als auch Chancen eines offen konzipierten sicherheitspolitischen Dialogs. Die Kernthese lautet, dass der Entstehungsprozess und Lebenszyklus eines Weißbuches

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– verstanden als eine Fixierungsform von Strategie – nicht in der eisernen Gussform von Zwecken, Mitteln und Zielen, sondern als ein stets temporär verstandenes Denken in sicherheitspolitischen Alternativen und Möglichkeitsräumen begriffen werden sollte. Im Sinne einer nicht lediglich reaktiven oder antizipativen, sondern proaktiven und damit zur demokratischen Mitgestaltung befähigten Ausweitung sicherheitspolitischer Handlungs- und Spielräume, gilt es demzufolge die Resonanzräume sicherheitspolitischer Öffentlichkeiten sukzessive auszuweiten. Denn es ist dieser kontinuierliche Dialog, der die conditio sine qua non für die Weiterentwicklung der außen- und sicherheitspolitischen Kultur der Bundesrepublik darstellt. Die breite Debatte um das aktuelle Weißbuch hat insbesondere den Verdienst, dass sie dessen Stellung im Rahmen heutiger Sicherheitspolitik deutlicher denn je hervorgehoben hat: Derartige Leitlinien sind nicht mehr, aber auch nicht weniger, als mit einem spezifischen Zeitstempel versehene Betrachtungsweisen. Sie bieten keinen zeitlosen Fluchtpunkt, der jeglichem politischen Handeln einen sicheren Anker bietet. Sie sind vielmehr eine notwendigerweise vorübergehende, wenn auch wichtige Orientierung im Hier und Jetzt – wobei Raum und Zeit den jeweiligen politischen Kontingenzen unterworfen sind. Hinter diese Einsicht darf die Debatte nicht mehr zurückfallen. Doch selbst mit der nie zuvor erreichten ‚Flughöhe‘ des aktuellen Weißbuchs, d. h. seines hohen Abstraktionsgrads, schöpft der daran anknüpfende sicherheitspolitische Dialog noch nicht annähernd sein Potential im Sinne einer nachhaltigeren und umfassenderen Sicherheitskommunikation (Jacobi et al. 2011) aus. Die Gründe hierfür finden sich in verschiedenen Dimensionen der deutschen Sicherheitskultur.

3.1

Das herrschende Leitbild sicherheitspolitischer Prozesse

Trotz dieser Einsichten in die Notwendigkeit eines umfassenderen Dialogs wird die Debatte im ‚Theater der Sicherheitsstrategie‘ weiterhin im Sinne einer ebenso dramaturgischen Metapher gedacht: Sicherheitsstrategie wird in aller Regel auf der Bühne von Sicherheitsexperten vorgeführt, denen das Publikum der restlichen Sicherheitsbeobachter folgt. Von beiden Seiten dieser Unterscheidung wird dieser Dualismus asymmetrisch gelesen und jeweils die eine der anderen Seite vorgezogen. Die geschieht über eingängige Selbst- und Fremdbeschreibungen: Sicherheitsstrategische Akteure sehen sich, idealtypisch gesprochen, als Insider, die direkt mit dem operativen Geschäft der Sicherheitspolitik verkoppelt sind. Sie besitzen niemals ein vollständiges, immer aber ein umfangreicheres Sicherheitswissen sowie eine bessere Informationslage als ihr Gegenüber. Sie können sich entwickelnde Lagen in Echtzeit verfolgen und beeinflussen. Typischerweise sind sie im Besitz der

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notwendigen Mittel und personellen Ausstattung, um mit sicherheitsrelevanten Problemen in einem angemessenen Zeitraum umzugehen. Aufgrund ihrer institutionellen Umwelt werden ihre Entscheidungen eher durch diese institutionellen Strukturen oder Kommandostrukturen beeinflusst als durch die Auswahl aus einer Palette ideal(istisch)er Lösungsoptionen. Während die meisten sicherheitsstrategischen Akteure fraglos die Wichtigkeit von reflexiven Prozessen einräumen, erwarten sie von diesen dennoch, dass sie in die für sie notorisch kleinen und eher noch immer knapper werdenden Reaktionsund Entscheidungszeiträume eingepasst werden können. Sie erleben in der Folge andere Experten, die nicht Teil ihrer internen Entscheidungsprozesse sind, als Beobachter, die ihre eigene Rolle als Berater konstitutiv überschätzen. Jenseits ihrer Wertschätzung eines zweiten Blicks halten sie den ersten dennoch für wichtiger, da ohne die primäre Fokussierung auf diesen niemals die notwendigen Entscheidungen getroffen werden könnten. Im Gegenteil: Ein ausgedehnter Reflexionsprozess führt stets implizit die Gefahr mit sich von ‚realweltlichen Herausforderungen‘ abzulenken. Insofern werden Sicherheitsstrategien eher als „eine Destillation von Kompromissen“ (Hill 2006, S. 161 in Heuser 2010, S. 490; unsere Übersetzung) gesehen und als die Anwendung eines Sets von (oft intuitiven) ‚praktischen‘ Prinzipien, die im Rahmen einer spezifischen institutionellen Kultur erwachsen sind. Im Kontrast zu sicherheitspolitischen Entscheidungsträgern im inneren Entscheidungszirkel sehen sich sicherheitsstrategische Beobachter, wiederum idealtypisch gesprochen, ausdrücklich als außerhalb des ‚Kerns‘ sicherheitsstrategischer Entscheidungsprozesse stehend. Gerade für wissenschaftliche Forscher ist die Selbstbeschreibung als Außenstehende eine conditio sine qua non für ihre Arbeit: die Fähigkeit, eine distanzierte und reflektierte Beschreibung dessen zu liefern, was ‚wirklich‘ in der Praxis vor sich geht. Es überrascht daher nicht, dass sie den zweiten Blick dem ersten vorziehen, da sie unterstellen, dass es letzterem an einer ausreichenden Reflexivität mangelt. Somit ist es gerade die Nähe der Sicherheitsakteure zu ihrem Thema, die ihnen als deren blinder Fleck erscheint. Intellektuelle, Think Tanks, politische Stiftungen oder andere politische Öffentlichkeiten sicherheitspolitisch interessierter Beobachter lokalisieren sich ebenfalls in der Umwelt sicherheitsstrategischer Praxis. Sie reklamieren für sich selbst eine ebenso kritisch Distanz wie es Wissenschaftler tun. Sie können aber ebenso vormals Teil des ‚inneren Kerns‘ gewesen sein (bspw. ehemalige Politiker oder Militärs), die diesen nun verlassen haben, aber dennoch ein Interesse an der Thematik aufrechterhalten. Im gleichen Maße beobachtet auch der ‚interessierte Bürger‘ sicherheitspolitische Prozesse aus der ihm eigenen Distanz; gerade weil es hierbei auch um fundamentale Fragen geht, deren Folgen ihn letzten Endes selbst berühren.

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Alle diese Beobachter sind von jenem typischen Zeitdruck sicherheitspolitischer Praktiker entlastet und haben daher auch die Möglichkeit (bzw. den ‚Luxus’), Sicherheitsprobleme mit einer höheren Detaildichte zu betrachten. Praktische Anwendungen ihrer Einwürfe erleben sie daher oft als Trivialisierung ihrer jeweiligen Sichtweisen. ‚Sicherheitsinsider‘ erscheinen ihnen zwar als grundsätzlich an Informationen von ‚Sicherheitsoutsidern‘ interessiert, aber gerade an jenen Punkten leicht zu verärgern, wo diese Insider selbst Teil der eingebrachten Analyse werden. Im Angesicht des ‚demokratischen Versprechens‘ westlicher Gesellschaften erfahren Sicherheitsbeobachter die auf Geheimhaltung bedachten sicherheitspolitischen Prozesse daher oft als anachronistische Versuche politische Verantwortung sowie eine transparentere Überprüfbarkeit sicherheitsstrategischer Entscheidungen zu umgehen. Auch wenn diese Zusammenfassung in ihrer idealtypischen Form sicherlich zu einem gewissen Grad überzeichnet ist, so zeigt sie dennoch, dass die diese Konstellation realiter strukturierende, dramaturgische Metaphorik in ihrer Folge eine harte Trennung einführt, die von beiden Seiten in einer eher exklusorischen Manier gelesen wird – und die sich sukzessive selbst verstärkt: Das Publikum sollte die Geschicklichkeit der Leistung der Bühnendarsteller angemessener würdigen, während die Bewertung dieser Qualität zuvorderst an dem (ausbleibenden) Applaus des Publikums festgemacht werden sollte.

3.2

Vorherrschende institutionelle Strukturen

Hinsichtlich der Idee eines offenen sicherheitspolitischen Dialogs zeigen sich zudem in der institutionellen Verankerung deutscher Sicherheitspolitik erste Hürden. Diese bündeln sich insbesondere im ministerialen Ressortprinzip, welches die politischen Handlungsfelder organisiert. Es ist jedoch nicht das Prinzip als solches, das unbedingt ein Problem darstellen muss. Vielmehr geht es um die Art, wie dieses de facto gehandhabt wird. Im Hinblick auf die bundesdeutsche Politik perpetuiert die geltende Handhabung des Prinzips allerdings den beharrlichen Fortbestand einer Gruppe parallel arbeitender, dabei jedoch gegeneinander abgeschlossener (Denk-)Systeme, die primär ihrer eigenen Logik folgen. Und selbst wo innerhalb dieser Einheiten ein Denken in alternativen Möglichkeiten angelegt ist, fehlt dennoch oft die Einsicht in die notwendige Selbstausstattung mit externen Irritationsmöglichkeiten. Sicherheit ist in praktisch allen Ressorts unbestritten ein zentrales Thema. Eine weitergehende Einsicht in die Notwendigkeit der ressortübergreifenden Vernetzung besteht fraglos,

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jedoch greift diese (noch) nicht umfassend.2 Auch im vorliegenden Weißbuch spiegelt dies der Umstand, dass der Ansatz der vernetzten Sicherheit nun nicht mehr die prominente Stellung innehat, die ihr noch im Weißbuch 2006 zukam. Allerdings ist auch zu beobachten, dass die Einsicht, dass Sprache, Begriffe und Konzepte zentral für die Erfassung von Kommunikation über politische Wirklichkeiten sind, nunmehr auch in diesen Ressorts deutlicher hervortritt. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass etwa der Strategie-Begriff, der selbst lange Zeit als in gewisser Weise ‚unausweichliche‘ politische Vokabel abgelehnt oder nur zögerlich gebraucht wurde, mittlerweile selbstverständlicher wird. Auch in dieser Hinsicht ist das Verständnis des Weißbuchs 2016 als eines ‚komplex-adaptiven Systems‘ ein Schritt in die richtige Richtung. Aufgrund des besagten hohen Abstraktionsgrades bietet es eine deutlich breitere Anschlussfläche für einen ressortübergreifenden sicherheitspolitischen Dialog darüber, welche Sicherheitspolitik praktiziert werden soll. Die Etablierung eines Strategiereferats im Verteidigungsministerium – als, vielleicht, erste ‚Materialisierung‘ der neuen Prioritätensetzung der Verteidigungsministerin – zeigt so auf ressortinterner Ebene, wie auch Ministerien sich selbst mit einem größeren Irritationspotential ausstatten können. Ob genügend personelle und zeitliche Ressourcen zur Verfügung gestellt und politische Prozesse gegen die ‚Säulen‘-Struktur so organisiert werden (können), dass dieses tatsächlich Früchte trägt, wird sich wiederum zeigen müssen.

3.3

Vorherrschende politische Herausforderungen

Sieht man die besondere Eigenschaft des Politischen darin begründet, dass es jenen Raum bezeichnet, in dem öffentlich darum gerungen wird, welche Sicherheitspolitik praktiziert werden soll, so zeigt sich auch in dieser Dimension eine unzureichend ausgeprägte Fähigkeit des politischen Systems zum sicherheitspolitischen Dialog. Dies beginnt bereits mit der begrenzten Präsentation des Weißbuchs nach seiner Fertigstellung: Kurz vor Beginn der parlamentarischen Sommerpause wurde die finale Fassung veröffentlicht, aber weder zu diesem noch einem späteren Zeitpunkt auf die Agenda des Bundestages gesetzt. Dieser Umstand unterstreicht, dass jenseits der bekannten Klagen um ein mangelhaftes sicherheitspolitisches Echo in einer breiteren Öffentlichkeit, insbesondere auch eine recht schwache Anbindung des Parlaments vorliegt. 2 So etwa in den Leitlinien der Bundesregierung „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ (ebd. 2017, S. 58–59). Vergleiche hierzu jedoch beispielsweise den Beitrag von Klaus Naumann in diesem Band.

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Dabei sollte den Abgeordneten nach den ersten Bundeswehreinsätzen auf dem Balkan Mitte der 1990er Jahre, spätestens aber seit dem Beginn des Afghanistanmandats die deutlich vernehmbare öffentliche Forderung nach einem Mehr an Legitimation deutscher Sicherheitspolitik bewusst sein. Ein deutlicher Mangel an demokratischer Rechtfertigung, die die reine Mandatslogik übersteigen muss, ist unübersehbar. Es wundert auch nicht, dass Rechtfertigungsangebote nach wie vor zumeist auf der Ebene der jeweiligen Ministerien zu finden sind. Dort aber wird Sicherheitskommunikation nicht als kreative Selbstverständigung zwischen Politik und Souverän, sondern primär als strategische Kommunikation verstanden, der es in erster Linie um den erfolgreichen ‚Verkauf‘ politischer Botschaften geht (de Maizère 2011). Die gewünschte sicherheitspolitische Auseinandersetzung nimmt somit eher die Form einer top-down-Kommunikation und nicht die eines Dialogs an. Als Beispiel kann hierfür der Review-Prozess 2014 angeführt werden, der als offener Kommunikationsprozess angelegt war, aber in wesentlichen Teilen eher die Form einer an die Bevölkerung sowie vor allem nach innen gerichteten Erziehungskampagne annahm (Hellmann 2015). Beispielhaft für diese Art der Zuschneidung des Adressatenkreises ist auch die Befragung von 57 Experten aus 26 Ländern, was ‚falsch‘ sei an der deutschen Außenpolitik und was gegebenenfalls ‚geändert‘ werden müsse.3 Eine ähnliche Kritik wird auch von manchem externen Teilnehmer der Workshops zum Weißbuch 2016 geäußert.

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Auf dem Weg zu einer dialogischen Sicherheitskultur

Wie lässt sich nun, so lautet die logische Folgefrage, ein produktiverer Weg zu einer dialogisch orientierten Sicherheitskultur und produktiven Sicherheitskommunikation beschreiten? Ein möglicher Ansatz könnte sich in der folgenden Feststellung finden: Im Alltag der Sicherheitspolitik zeitigen sowohl die Theatermetapher sicherheitspolitischer Prozesse wie auch die gegenseitige (Selbst)Abschottung politisch-institutioneller und öffentlich-bürgerlicher Sphären ein Äquivalent dessen, was bereits John Dewey „die ärgerliche Unterscheidung von Theorie und Praxis“ genannt hat (Dewey 1938, S. 437; S. 72–74; unsere Übersetzung). Die meisten Akteure im inneren Kern sicherheitspolitischer Entscheidungsprozesse würden wohl unterstellen, dass ‚Theorie‘ dem Primat der sicherheitsstrategischen ‚Praxis‘ zu folgen hat, während sicherheitsstrategische Beobachter dem entgegenhalten würden, dass ‚Theorie‘ zuallererst eine angemessen ‚Praxis‘ informieren sollte. Als eine weitere, an die 3 Vgl. hierzu allerdings im Kontrast den Beitrag von Thomas Bagger in diesem Band.

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Distinktion von ‚Akteur/Publikum‘ angekoppelte Unterscheidung bekräftigt die Unterscheidung von ‚Theorie/Praxis‘ somit die Idee, dass beide Sphären derart unterschiedlich sind, dass sich kein Weg finden lässt, wie diese in einen produktiven Dialog miteinander treten könnten. Es gibt einfach zwei unterschiedliche Typen – jene, die Sicherheitspolitik tatsächlich machen und jene, die sie lediglich beobachten – die Unterscheidung also, zwischen ‚bloßem Denken‘ und ‚tatsächlichem Handeln‘. Solche Sichtweisen lassen sich nicht nur aus einer historischen Perspektive entkräften – man denke nur an die offene Dialektik sich entwickelnder ‚souveräner‘ politischer Strukturen und deren Reflektion sowie Rationalisierung durch die politischen Theorien von Bodin und Hobbes. Gegenwärtige Entwicklungen höhlen diese klassische Unterscheidung von ‚Theorie‘ und/ versus ‚Praxis‘ noch weiter aus. Befördert von der Diagnose der neuen Unsicherheit impliziert der gegenwertig prominente Fokus auf die Risikohaftigkeit sicherheitspolitischer Entscheidungen auch, dass ein neues Verständnis von Strategiebildungsprozessen und deren Problem-/Lösungsstruktur entwickelt werden muss: Unter der Bedingung von Unsicherheit können punktuelle Lösungen nie zu endgültigen Ergebnissen führen. Vielmehr werden sie notgedrungen neue Probleme schaffen, die wiederum nach neuen Lösungen verlangen und so weiter. Diese zirkuläre Sichtweise auf den Problem-/Lösungsnexus untergräbt das klassische Verständnis von ‚Praxis‘ als mechanisch-kausaler Handlung und ‚Theorie‘ als der intellektuellen Herstellung reiner Ideen. Es unterstreicht stattdessen, dass sich sowohl Sicherheitsakteure als auch Sicherheitsbeobachter beständig am selben Problem abarbeiten: der komplexen Dynamik eines kontingenten Sicherheitsumfelds und der Herausforderung, dieses adäquat strategisch zu rahmen. ‚Komplexität‘ beschreibt in diesem Sinne den Umstand, dass diese neue Dynamik stets aus mehr strategischen Perspektiven beobachtet werden kann, als ein einziger Beobachter tatsächlich erfassen oder gar vollziehen kann (Luhmann 2005, S. 321). Komplexität muss daher, in einem ersten Schritt, zuerst reduziert werden, um einen Überblick zu erlangen und schließlich, in einem zweiten Schritt, müssen darauf basierend mögliche Entscheidungen entwickelt werden. Aufgrund der individuellen oder institutionellen Unmöglichkeit alle denkbaren strategischen Beobachtungsund Entscheidungsmöglichkeiten zu prozessieren, müssen ‚militärische‘, ‚politische‘ oder ‚öffentliche‘ Beobachter stets einem höchst selektiven Schema folgen. Dieses kann stets nur ausgewählte Befunde erheben und muss andere unbeobachtet lassen. Auf dieser basalen Ebene der Strukturierung des ‚strategischen Sichtfeldes‘ können ‚Sicherheitsinsider‘ und ‚Sicherheitsoutsider‘ folglich aus ihrer Opposition herausgelöst werden: Beide gehen praktisch mit einer komplexen Sicherheitsumwelt um, indem sie theoretisch ihre produktivsten strategischen Beobachtungsperspektiven konstruieren und adaptieren. An diesem spezifischen Punkt der Sicherheits-

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strategiebildung fallen ‚Theorie‘ und ‚Praxis‘ als parallel ablaufende Vollzüge nicht nur in eins. Vielmehr wird auf diese Weise ein nicht-hierarchisch strukturierter Kommunikationsprozess möglich, in dem die verschiedenen Beobachter „die Gepflogenheit des Lernens erwerben“ können (Dewey 1930, S. 54; unsere Übersetzung). Anstatt eines Verständnisses von Sicherheitsstrategie als entweder Fußkette oder Anker jeglicher Sicherheitspolitik, löst sich dieses Verständnis von einer eher statischen Sichtweise und versorgt den Strategiebildungsprozess mit einer echtzeitlichen Dimension. Diese Prozesse beschreiben dann nicht lediglich den Zeitraum zwischen der Abfassung und Veröffentlichung neuer Sicherheitsstrategien – verbunden mit der Hoffnung, dass diese zehn Jahre Bestand haben, so der allgemeine Tenor. Vielmehr ‚über-setzt‘ es Strategiebildungsprozesse in einen lernorientierten, kommunikativen Raum des offenen Dialogs. Selbstverständlich beseitigt dies nicht die Herausforderung der Implementation bestimmter Sichtweisen bzw. Problemformulierungen und Lösungsansätzen. Wie die politischen, militärischen oder öffentlichen Sphären dies vollziehen, bleibt nach wie vor deren je eigenen Auswahllogiken unterworfen. Dennoch führt dieses alternative Verständnis von ‚Theorie und Praxis‘ eine dynamische Dimension in die nach wie vor vorherrschende, eher mechanistische Idee von Sicherheitsdoktrinen und deren Implementation ein. Es injiziert dem Allgemeinplatz von der Streitbarkeit jeglicher Entscheidung eine neue, weil jetzt vor allem strukturell (nach-) vollziehbare Lebendigkeit. Die vorgeschlagene Umschrift tut dies über die Etablierung eines spezifischen kommunikativen Orts zur „gesellschaftlichen (Selbst-)Befragung“ (Dewey 1938, S. 487–512), die Übersetzungsprozesse (Rorty 1989) zwischen verschiedenen Sphären ermöglicht. Diese engere kommunikative ‚Verzahnung‘ verschiedener gesellschaftlicher Bereiche bringt wiederum den Vorteil des wechselseitigen Lernens mit sich. Ein beständig ablaufender Austauschprozess darüber, wie und warum sicherheitspolitische Probleme und Lösungen auf diese oder jene Weise gerahmt werden, ermöglicht es in der Folge auch eventuell unproduktive, strategische Selbstbeschränkungen zu erkennen. Diese Selbstbeschränkungen zeigen sich in der Form von unreflektiert mitgeführten Prämissen an Schlüsselstellen des Strategieprozesses, reduzieren dort evtl. Komplexität auf ein unergiebiges Niveau und verhindern so wiederum, dass ein größeres Maß an weltpolitischer Komplexität eingefangen werden kann. So zeigt beispielweise die Diskussion der Frage, mit welchen Partnern keine (temporären) sicherheitspolitischen Partnerschaften eingegangen werden können, dass solche Entscheidungsgrundlagen – „Wer wird aufgrund welcher Prämissen (nicht) als Partner gesehen?“ – stets hinterfragt werden können und müssen. Sonst gerät

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spätestens die Evaluation dieser Sicherheitsstrategien zum berühmten Blick in einen „blinden Spiegel“ (Naumann 2013). Wer Sicherheitsstrategien daher ehr als stets zu überholende Meilensteine sehen will, der sollte versuchen, solche Prämissen aufzuspüren und diese ggf. zu ersetzen oder so umzubauen, dass sie der Beobachtung und dem Handeln im sicherheitspolitischen Umfeld stets neue Möglichkeitsräume eröffnen, d. h. somit das politische Ausschöpfungspotential erhöhen. Es geht daher letztlich nicht nur um die Beantwortung offensichtlicher Fragen, sondern stets auch um das Hinterfragen des vermeintlich Offensichtlichen. Das gemeinsame Verstehen solcher Mechanismen ist damit beiden Beobachterkreisen aufgegeben.

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Strategiebildungsprozesse neu denken

Sicherheitspolitik weiter zu denken und damit die sicherheitspolitische Kultur der Bundesrepublik weiter zu entwickeln, fällt also mit einer notwendigen (Re-) Politisierung des sicherheitspolitischen Prozesses zusammen. Verstanden werden muss diese im Sinne der Ab-/Aufgabe von Kontrollversuchen über sicherheitspolitische Debatten und der Überwindung des Verständnisses von Kommunikation als bloßer Input-Legitimation. Moderne Sicherheitspolitik kommt auf verschiedenen Ebenen nicht mehr ohne Dialog aus. Dies entspricht einerseits grundlegenden demokratietheoretischen Anforderungen, andererseits aber auch der institutionellen Notwendigkeit einer vermehrten externen Irritation und Stimulation, um zu ‚guten‘, d. h. sowohl durchgreifenden wie auch revisionsfähigen sicherheitspolitischen Entscheidungen zu gelangen. Wenn es beispielsweise eine zentrale Leistung moderner Sicherheitsstrategien ist, Komplexität zu reduzieren und somit die eigene Handlungsfähigkeit überhaupt erst aufzubauen, dann ist eine auf Dauerhaftigkeit angelegte, dialogische Erörterung dieser Reduktionsmechanismen und ihrer möglichen produktiven Formen sowie blinden Flecken unumgänglich. Im gleichen Sinne wäre anzuraten, den ‚Strategie‘-Begriff selbst in den Mittelpunkt sicherheitspolitischer Debatten zu rücken – und zwar nicht im Sinne abstrakter und fixer Ziele und Mittel, sondern gerade in dem Sinne, in dem es die (exekutiven) ‚Praktiker‘ deutscher Sicherheitspolitik am Ende des Tages immer handhaben müssen: nämlich als kontinuierliche und im Lichte wechselnder Lagen anpassungsfähige Selbstverständigung über das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Zielen und Mitteln angemessener ‚Sicherheitsvorsorge‘ (um einen zentralen Begriff des Weißbuchs 2016 zu nutzen). Vor dem Hintergrund einer möglichen

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Weiterentwicklung des Weißbuchs hin zu einem ‚nationalen Sicherheitsdokument‘ der Bundesregierung wären unter anderem Debattenbeiträge zu der Frage interessant, ob man eventuell das Weißbuch auf einen allgemeineren sowie umfassenderen Strategieteil fokussieren und den Bundeswehrteil auslagern könnte. Notwendige Voraussetzung hierzu wären fraglos umfassendere Informationsaber auch Übersetzungsleistungen aus dem engeren politischen System sicherheitspolitischer Expertise, die sich primär auf exekutiver Ebene findet, hinein in die damit systematischer zu vernetzenden politischen Öffentlichkeiten. Entstehungsprozesse von Strategie müssen noch transparenter und aktiver vermittelt werden. Über mögliche Formen einer ‚Rede zur Lage der Nation‘ durch die Bundeskanzlerin wäre ebenfalls im Sinne einer erhöhten und insbesondere sichtbareren Informationsvermittlung nachzudenken. Denn damit würden unmittelbar sowohl die Legitimität, aber gleichwohl auch die Anforderungen an Abgeordnete steigen, Sicherheitspolitik und die Möglichkeit zur Teilhabe aktiver in ihren Wahlkreisen zu vermitteln. Ebenso sind die (v. a. auch lokalen) Medien als ‚vierte Gewalt‘ nicht aus diesen Vermittlungsprozessen wegzudenken. Sie sollten die mögliche Breite des sicherheitspolitischen Dialogs nicht vorschnell über Schlagzeilen und plakative Begriffe (Stichwort ‚Killerdrohnen’) einengen und -dämmen, bevor diese begonnen hat. Über die Einsicht in die heterogene Vielfalt und den Versuch der Einbindung dieser öffentlichen Medien und Kanäle würde nichts weniger entstehen, als eine komplexe Form des Dialogs über mögliche sicherheitspolitische Zukünfte sowie die Vermessung von Möglichkeitsräumen sicherheitspolitischer Gestaltung. Als Selbstverständigungsprozess lieferte dieses Verständnis von Öffentlichkeit den dauerhaft stabilen Hintergrund einer gestaltenden statt einer lediglich reaktiven Sicherheitspolitik. Dies wäre kein geringer Beitrag auf dem Weg zu einer friedlicheren Welt(sicherheits)politik. Dieser dialogische Grundstein einer sicherheitspolitischen Kultur kann nicht auf einen irgendwann ‚abschließenden‘ Konsens im klassischen Sinne ausgerichtet sein. Dass dieser nicht (mehr) erreichbar ist, sollte im Lichte der bisherigen Argumentation dieses Beitrags nachvollziehbar sein. Vielmehr ist diese Art des Dialogs für einen Umgang mit Differenz zu sensibilisieren. Dieses ‚Differenzgespür‘ impliziert nicht die Verwirklichung des wie auch immer gedachten politischen Ideals der gesellschaftlichen Vielfalt im klassischen Sinne. Vielmehr bietet dieses Zulassen und Aufgreifen von differenten Sichtweisen die Grundlage einer sicherheitspolitischen Kultur, die in ihren Prozessen der Selbstverständigung auf die Steigerung von Alternativen und die Erweiterung der Möglichkeitsräume politischen Handelns angelegt ist – und über diese Belebung des Gedankens von deren ‚Mitnahme‘, die Gesellschaft und deren Resilienz stärkt. Um das Vokabular des sogenannten ‚Münchner Konsenses‘ wie auch des Weißbuchs 2016 zu variieren: Eine Politik,

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die diese Herausforderungen ignorierte, verschlösse sich nicht nur zu viele Wege zu einem frühen und entschiedenen sicherheitspolitischen Handeln, sie beraubte sich auch der Möglichkeit, dies auf eine substantielle und damit nachhaltige Art und Weise zu tun.

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Die Struktur des Sammelbandes

Die Autoren greifen diese und andere Vorschläge zum Weiterdenken von Strategiebildungsprozessen im Allgemeinen und zum deutschen Weißbuchprozess im Besonderen auf. Der Sammelband beginnt mit einem ersten Abschnitt, in dem in der gegenwärtigen deutschen Sicherheitskultur vorherrschende Konzeptionen von Sicherheit und Strategie besprochen werden. Christoph Schwegmann beginnt mit der These, dass Sicherheitsstrategien stets nur zu einem Teil Strategien zur Wahrung der Sicherheit eines Landes sind. Vor allem, weil sie selten über die Ressourcen bestimmen, müssen sich Regierungen häufig auf die Beschreibung der Instrumente und Wege zur Wahrung der Sicherheit beschränken. Dieser Prozess der Selbstvergewisserung setzt wichtige Wegmarken, im Kontinuum politischer Gestaltung. Regierungen schaffen damit Transparenz nach außen und geben Richtung und stärken Kohärenz nach innen. Deswegen sind Sicherheitsstrategien auch immer wichtige Mittel der Kommunikation, was wiederum auf die Gestaltung ihres Inhalts zurückwirkt. Tobias Bunde widmet sich dem Befund, dass während sich der Begriff der Grand Strategy in der internationalen Debatte steigender Popularität erfreut, das Konzept im deutschen Kontext kaum eine Rolle spielt. Er legt dar, dass der Begriff trotz seines etwas diffusen Charakters und konkurrierender Definitionen, die seine Bedeutung als Analyserahmen schmälern, in der Debatte über die langfristigen Ziele, Instrumente und Strategien deutscher Außen- und Sicherheitspolitik von Nutzen sein kann, indem er Fragen aufwirft, denen man in den vergangenen Jahren nicht die Aufmerksamkeit geschenkt hat, die sie verdienen. Jan Fuhrmann greift die Klage auf, dass es deutscher Sicherheitspolitik an Strategie mangele. Da die Bundesregierung jedoch in unregelmäßigen Abständen Leitliniendokumente veröffentlicht, denen ein strategischer Charakter zugeschrieben wird, stellt seine Studie die Frage, welche Vorstellung von Strategie den Weißbüchern der Bundesregierung zugrunde liegt. Dazu rekonstruiert er den sprachlichen Gebrauch des Konzepts sowie Ziele und Mittel deutscher Sicherheitspolitik. Dabei offenbart die Studie ein Verständnis von Strategie, welches wesentlich adaptiver und dynamischer erscheint als akademisch etablierte (Grand-) Strategiekonzepte. Letztlich

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argumentiert der Beitrag, dass so eine Verständnislücke zwischen Strategie- und Wissenschaftspraktikern entsteht, die mit der reinen Erneuerung der Klage über deutsche Strategielosigkeit reproduziert wird. T. René Weber rekonstruiert abschließend in einer qualitativen Fallstudie die Erarbeitung des Weißbuchs 2006. Auf der Grundlage von 17 Experteninterviews und der vergleichenden Analyse von drei verschiedenen Entwurfsversionen des Weißbuchs wird die These bestätigt, dass die Autonomie des Planungsstabs des Bundesverteidigungsministeriums (BMVg) den Weißbuch-Prozess wesentlich beeinflusst hat. Im Ergebnis wird deutlich, dass durch Planungs- und Konzeptionsfehler bedingt, konkrete und weitergehende Aussagen des Weißbuchs 2006 eingeschränkt worden sind. Der zweite Abschnitt des Bandes beschäftigt sich mit dem eigentlichen Prozess der Strategiebildung. Thomas Bagger legt in einem ersten Zugriff dar, dass Strategieprozesse häufig mit unrealistischen Erwartungen überfrachtet sind. Sie sind weder Allheilmittel für fehlenden innergesellschaftlichen Konsens noch für die Unvorhersehbarkeit der internationalen Politik. Nüchterner betrachtet bieten sie dennoch einen Mehrwert für Politik, Ministerien und Streitkräfte, für Öffentlichkeit und internationale Partner. Ein Vergleich des ‚Review 2014‘ des Auswärtigen Amtes und des Weißbuchs 2016 erlaubt Rückschlüsse auf die Bedingungen, unter denen normative Präferenzen, nationale Interessen und erforderliche Ressourcen so weit wie möglich zur Deckung gebracht werden können. Frank Richter bietet dann einen ersten Einblick in Prozesse sicherheitspolitischer Vorausschau. In seinem Beitrag legt er dar, wie diese im sicherheitspolitischen Planungsalltag die Strategiefähigkeit des Bundesministeriums der Verteidigung verbessern. Denn die kontinuierliche Auseinandersetzung mit den potenziellen Zukünften ist das Fundament für eine belastbare Bestimmung sicherheitspolitischer Ziele und Prioritäten. Zudem fördert die sicherheitspolitische Vorausschau die Fähigkeit, über den Tellerrand zu blicken und starre Annahmen und Denkmuster zu überwinden. Sie ist somit auch ein mentales Training, das uns auf eine sich wandelnde Welt vorbereitet. In der ‚Abteilung Politik‘ des Bundesministeriums der Verteidigung sind eine Reihe von Maßnahmen initiiert worden, um die Vorausschau-Fähigkeiten zu stärken. Olaf Theiler legt darauf hin dar, warum strategische Vorausschau eine Ergänzung klassischer Politikberatung darstellt. Die Methoden einer wissenschaftlich orientierten Zukunftsanalyse liefern zusätzliche Hilfsmittel, deren besondere Stärken beim Umgang mit den „unknown-unknowns“ in der Außen- und Sicherheitspolitik liegen. Zukunftsbilder und das Denken in Szenarien oder alternativen Zukünften können für politische Strategieentwicklung wichtige Beiträge leisten. Angesichts

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der zahlreichen „strategischen Überraschungen“ der letzten Jahre gilt es, dieses Instrument gezielt zu nutzten, um „zukunftsrobuste“ Strategien entwickeln zu können. Norbert Reez beschließt diesen Abschnitt, indem er die These vertritt, dass Strategische Vorausschau (Foresight) die Fortsetzung der Strategiebildung mit anderen Mitteln ist. Diese Mittel sind Imaginationskraft, Phantasie und Kreativität. In der Praxis orientiert sich die Strategiebildung indessen noch am Modell der Planung bzw. der strategischen Planung (Langfristplanung). Empfohlen wird daher eine „Foresight-basierte Strategiebildung“: Die Praxis der strategischen Planung soll fortentwickelt werden zu einem Modell, das den Gebrauch kreativer Methoden der strategischen Vorausschau einschließt. Abschließend erprobt er das Potenzial der Erzählmethode (Storytelling/Narrative Foresight) am Beispiel des Klimawandels und der Arktis-Politik. Den dritten Abschnitt dieses Sammelbandes zum Thema Strategische Kultur und Öffentlichkeit eröffnet Hans-Peter Bartels mit einigen persönlichen Anmerkungen zur Kultur der strategischen Expertendebatte in Deutschland. Er legt dar, dass der oft angemerkte Mangel an sicherheitspolitischer Expertise und entsprechenden sicherheitspolitischen Debatten einer genaueren Betrachtung nicht Stand hält. Dies untermauert er mit einem internationalen Vergleich und endet mit der Forderung, dass Deutschland auch sicherheitspolitisch „mehr Europa“ wagen muss. Er sieht die Bundesrepublik aber ebenfalls auf einem guten Weg. Roderich Kiesewetter fordert anschließend mehr Mut, sicherheitspolitische Debatten in der Bundesrepublik zu reflektieren. Er beginnt mit der Einsicht, dass sich die strategischen Fähigkeiten Deutschlands erst noch im Aufbau befinden. Angesichts eines unsicheren internationalen Umfelds und weniger Vorhersehbarkeit muss Deutschland vorausschauend im Zuge von Szenario-Analysen Gefahren und Risiken abwägen. Hierfür ist eine ständige und breite Debattenkultur zentral, um der Regierung für Verhaltensänderung Legitimation zu verleihen. Gleichzeitig sind institutionelle Lernprozesse sowie umfassendes Denken innerhalb der Regierung eine Kernaufgabe im Rahmen eines methodischen Ansatzes für strategische Handlungsfähigkeit. Christian Thiels spricht zu den gleichen Herausforderungen, wenn er in seinem Beitrag feststellt, dass Deutschland sich mit der konkreten Definition eigener nationaler Interessen nach wie vor schwer tut. Den Grund sieht er wiederum darin, dass die sicherheitspolitische Debatte nur in kleinen, oftmals elitären Zirkeln von Wissenschaftlern, Militärs und wenigen Fachpolitikern stattfindet. Eine Einbindung der Gesamtgesellschaft gibt es kaum. Auch in den Massenmedien ist Sicherheitspolitik abseits von ereignisgetriebener Berichterstattung kaum präsent. Thiels untersucht daher die Ursachen für dieses Phänomen und zeigt mögliche Wege auf, wie der notwendige Diskurs breiter aufgestellt werden könnte.

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Klaus Naumann nimmt ebenfalls den Eingangsbefund auf und trägt vor, dass in den zeitgenössischen Krisen und Konflikten sich die „hearts and minds“ der Öffentlichkeit als strategische Herausforderung der Außen- und Sicherheitspolitik erweisen. Hier verzeichnet er große Defizite. Die hier zu Tage tretenden Desiderata beschreibt er auf drei Ebenen: Legitimationsschwächen, Komplexitätszumutungen und Vulnerabilitäten. Anna Geis widmet sich der seit langem bestehenden Forderung, dass in Deutschland endlich eine „große“ sicherheitspolitische Debatte geführt werden sollte. Sie meint, Weißbücher als Strategiedokumente der Exekutive können einen Anstoß zu einem breiteren gesellschaftlichen Diskurs bieten. Allerdings bleibt die „große“ Debatte auch nach der Veröffentlichung des Weißbuchs der Bundesregierung 2016 aus. Ihr Beitrag setzt sich mit einigen gängigen Defizitdiagnosen und Besonderheiten der Sicherheitskommunikation in Deutschland auseinander, um schließlich ein Plädoyer für mehr dezentralisierte Formate der Bürgerbeteiligung in der Außenund Sicherheitspolitik zu begründen. Daniel Jacobi beschließt diesen Abschnitt, indem er fragt, warum die inzwischen angelaufenen Bemühungen um eine bessere Sicherheitskommunikation mit den Bürgern diese nicht erreicht. Er stellt die These auf, dass das vorherrschende Verständnis von Öffentlichkeit unter einem zu großen normativen Erwartungsdruck steht. Über eine historische Herleitung des Konzepts zeigt er, wie dies geschehen konnte und zeigt im Anschluss auf, dass ein Blick auf die tatsächliche Sozialstruktur der deutschen Gesellschaft zur Umschrift eines sicherheitspolitisch- und strategisch produktiveren Öffentlichkeitsverständnisses beitragen kann. Den vierten und letzten Abschnitt des Sammelbandes bilden Beiträge zu Zukunft und Herausforderungen der Strategiebildung. Alexander Stulpe und Gary S. Schaal eröffnen diesen, indem sie zunächst die mögliche Bandbreite sicherheitspolitischer Herausforderungen aufgrund von Künstlicher Intelligenz (KI) als disruptiver Technologie mit vielfachen Auswirkungen auf die Gesellschaft, die internationalen Beziehungen und die Zukunft der Kriegsführung reflektieren und diskutierten. Sie beschreiben spezifische Formen und Dimensionen von asymmetrischen und hybriden Bedrohungen, mit denen sich liberale Demokratien infolge der KI-Technologie mit großer Wahrscheinlichkeit in den kommenden Jahren konfrontiert sehen werden. Abschließend wenden sie sich, unter besonderer Berücksichtigung der gegenwärtigen Lage in Deutschland, der Frage zu, wie liberale Demokratien mit diesen Gefahren umgehen, ihre Verwundbarkeiten reduzieren und ihre Resilienz stärken können. Stefan Braun schließt daran mit einer „kleinen Streitschrift“ an, in der er darlegt, warum Europa ein Friedenscorps braucht und warum Deutschland dafür kämpfen sollte. Er beginnt mit der Feststellung, dass Europa jahrzehntelang einen besonderen Luxus genossen hat: Es konnte es sich unter dem politischen und mili-

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tärischen Schutzschirm der Vereinigten Staaten außerordentlich bequem machen. Die Zeiten aber sind vorbei. Und damit stellt sich für die Europäer die Frage, was sie sein wollen und welche Rolle sie in einer Welt übernehmen möchten, die immer brüchiger, immer heterogener und immer gefährlicher geworden ist. Vorschläge und Beschlüsse zur militärischen Kooperation der Europäer gibt es schon lange. Die Idee eines europäischen Friedenscorps aber, in dem Soldaten und Zivilisten, Polizisten, Mediziner und Entwicklungshelfer unter einer Flagge agieren, ist bislang kein Thema. Dieser Artikel geht der Frage nach, warum ein solches Friedenscorps sinnvoll sein könnte und also geschaffen werden müsste. James D. Bindenagel greift daraufhin den Befund auf, dass die „neue Verantwortung“ Deutschlands und der Europäischen Union im Angesicht globaler Umbrüche in aller Munde ist. Er legt dar, dass Europa seine Werte und Interessen in der sich transformierenden Weltordnung nur auf Grundlage eines kooperativen Führungsmodells durchsetzen können wird. Sein Kommentar zeigt auf, dass die Steigerung der Strategiefähigkeit Deutschlands als größter EU-Mitgliedsstaat für die außenund sicherheitspolitische Umorientierung der EU von zentraler Bedeutung ist. Dem steht jedoch bislang der Mangel an strategischer Vorausschau in Deutschland und einer umfassenden öffentlichen Debatte über außen- und sicherheitspolitische Ziele, Prioritäten und Leitbilder im Weg. Der Beitrag argumentiert, dass die Bundesrepublik einen strategischen Planungsprozess an der Seite ihrer Partner aufnehmen muss und plädiert für die Einführung eines Sachverständigenrates für Strategische Vorausschau, um eine aufgeklärtere öffentliche Debatte anzustoßen und strategische Planungskultur zu fördern. Ekkehard Broses Beitrag reflektiert darauf, wie im Aufeinandertreffen von Krisen-Erfahrungen aus Afghanistan und politischem Handlungsdruck angesichts steigender Flüchtlingszahlen in Deutschland 2017 die ressortgemeinsamen Leitlinien entstanden sind. Außenpolitisch stehen bei diesen drei Ziele im Vordergrund: Die Kohärenz der Krisenmaßnahmen erhöhen; das außenpolitische Instrumentarium in Krisen stärken; einen Beitrag zur Beantwortung der Frage nach Deutschlands Rolle in der Welt leisten. Er argumentiert, dass die Umsetzung der Leitlinien in strategiegeleitetes, praktisches Krisenhandeln eine andauernde Herausforderung darstellt. Jenseits ihrer Nützlichkeit für die Arbeit der Ressorts verkörpern die Leitlinien ein Bekenntnis zu multilateraler Politik, internationalem Engagement und einem vieldimensionalen Begriff von Sicherheit. Ulrich Schlie zeigt in seinem Beitrag auf, warum Deutschland künftig mehr denn je auf einen gesamtstrategischen Ansatz in der Außen- und Sicherheitspolitik angewiesen ist. Hierzu beginnt er mit der Feststellung, dass Konsensbildung in einer parlamentarischen Demokratie nur in erweiterten politischen Debatten über nationale Interessen, außenpolitische Ziele und innenpolitische Folgen internati-

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onaler Verantwortung möglich ist. Deutschland hat nach wie vor eine erhebliche Lücke in seinem strategischen Ansatz der Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber den wichtigsten Verbündeten und Partnern. Ein verstärkter Dialog über wichtige außenpolitische Aspekte im Deutschen Bundestag wird zu einem höheren außen- und sicherheitspolitischen Bewusstsein beitragen. Der Artikel identifiziert große Stolpersteine in der deutschen Politik, die Fortschritte verhindern. Vor dem Hintergrund der außenpolitischen Debatte Deutschlands, seiner rechtlichen und politischen Entwicklungen seit der Wiedervereinigung, plädiert der Artikel für einen kohärenteren gesamtstaatlichen Ansatz. Die noch ausstehenden entscheidenden Entscheidungen zur Anpassung der außen- und sicherheitspolitischen Schlüsselinstrumente – Entscheidungsstrukturen in Kanzleramt, Streitkräften, Auswärtigem Dienst und Nachrichtendiensten – können nur durch eine konzertierte Aktion der Bundesregierung getroffen werden. Gunther Hellmann beschließt den Sammelband mit einem Plädoyer für eine Rückbesinnung auf die Bedeutung multilateraler Zusammenarbeit als essentieller Grundlage deutscher Sicherheit und daher auch einer übergreifenden außen- und sicherheitspolitischer Strategie Deutschlands. Diese Rückbesinnung scheint ihm vor allem deshalb angezeigt, weil der Multilateralismus derzeit aus vielen Richtungen unter massiven Druck gekommen ist. Da angesichts der wachsenden materiellen Macht Deutschlands und der Neuausrichtung US-amerikanischer Außenpolitik unter Präsident Trump Führungsanforderungen an die Bundesrepublik herangetragen werden, die mittlerweile auch militärische Führungsleistungen einschließen, wachsen auch die Gefahren, die sich daraus für Deutschlands nachbarschaftsverträgliche europäische Einbettung ergeben. Angesichts dieser Risiken erscheint es ihm umso wichtiger, dass Deutschland sich durch Selbstbindung aktiv um eine Festigung multilaterale Zusammenarbeit innerhalb der EU bemüht.

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Dewey, John. 1938. Logic. The Theory of Inquiry. New York: Henry Holt and Company. Hellmann, Gunther. 2015. Im offensiven Mittelfeld: Deutschlands neue Spielmacher-Rolle in der europäischen Politik. In „Früher, entschiedener und substantieller“? Die neue Debatte über Deutschlands Außenpolitik, Hrsg. G. Hellmann, D. Jacobi, U. Stark Urrestarazu, 473–491. Wiesbaden: Springer-VS. Heuser, Beatrice. 2010. The Evolution of Strategy Thinking War from Antiquity to the Present. Cambridge: Cambridge University Press. Jacobi, D., G. Hellmann und S. Nieke. 2013. Deutschlands Verteidigung am Hindukusch. Ein Fall misslingender Sicherheitskommunikation. In Zehn Jahre Deutschland in Afghanistan, Hrsg. K. Brummer und S. Fröhlich, 171–196. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft. Leander, Anna. 2006. Paradigms as a Hindrance to Understanding World Politics. Cooperation and Conflict: Journal of the Nordic International Studies Association 41(4): 370–376. Luhmann, Niklas. 2005. Die Praxis der Theorie. In Soziologische Aufklärung 1: Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Hrsg. Niklas Luhmann (7th Edition), 317–335. Wiesbaden: Springer Verlag. De Maizere, Thomas. 2011. Vortrag an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. https:// audioboom.com/posts/453581-de-maiziere-baks-26-august-2011. Zugegriffen: 03.09.2018. Mogherini, Federica (2015), Speech by High Representative/Vice-President Federica Mogherini at the Munich Security Conference. Online at: http://eeas.europa.eu/statements-eeas/2015/150208_01_en.htm. Zugegriffen: 30. November 2015. Naumann, Klaus. 2013. Der blinde Spiegel: Deutschland im afghanischen Transformationskrieg. Hamburg: Hamburger Edition. Rorty, Richard. 1989. The Contingency of a Liberal Community. In Contingency, Irony, and Solidarity, Hrsg. Richard Rorty, 44–69. Cambridge: Cambridge Universtiy Press. Steinmeier, Frank-Walter. 2015. Auf dem Weg zu einer Außenpolitik der Gesellschaften – Strategischer Dialog zwischen Auswärtigem Amt und Stiftungen. Rede des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier. http://www.auswaertiges-amt.de/DE/ Infoservice/Presse/Reden/2015/151130-BM-Stiftungskonferenz.html. Zugegriffen: 03. November 2015.

Teil I Konzeptionen von Sicherheit und Strategie

Von Strategiebildung, Strategievergewisserung und Strategischer Kommunikation Christoph Schwegmann1 Von Strategiebildung, Strategievergewisserung …

Zusammenfassung

Sicherheitsstrategien sind stets nur zu einem Teil Strategien zur Wahrung der Sicherheit eines Landes. Vor allem, weil sie selten über die Ressourcen bestimmen, müssen sich Regierungen häufig auf die Beschreibung der Instrumente und Wege zur Wahrung der Sicherheit beschränken. Dieser Prozess der Selbstvergewisserung setzt wichtige Wegmarken, im Kontinuum politischer Gestaltung. Regierungen schaffen damit Transparenz nach außen und geben Richtung und stärken Kohärenz nach innen. Deswegen sind Sicherheitsstrategien auch immer wichtige Mittel der Kommunikation, was wiederum auf die Gestaltung ihres Inhalts zurückwirkt. Schlüsselbegriffe

Deutsche Sicherheitspolitik, Sicherheitsstrategie, strategische Kommunikation, Strategie

1 Der Autor gibt hier allein seine persönliche Analyse und Ansicht wieder. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Jacobi und G. Hellmann (Hrsg.), Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Edition ZfAS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6_2

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Sicherheitsstrategien halten nie, was sie versprechen. Sie sind immer mehr und weniger als was sie zu sein vorgeben. Denn Sicherheitsstrategien – und dies schließt die deutschen Weißbücher ein – haben vielerlei Zwecke zu erfüllen. Sie sind Strategie, sie sind Selbstvergewisserung und sie sind Mittel der politischen sowie strategischen Kommunikation. Strategiebildung heißt die Mittel und Wege finden, die ein Staat verfolgen muss, um Sicherheit dauerhaft zu gewähren. Dies ist eigentlich ein kompromissloses Unterfangen, denn Sicherheit ist ein absolutes Gut: Man ist sicher oder eben nicht. Jede Sicherheitsstrategie wird daher behaupten, ihre Umsetzung schaffe Sicherheit und Schutz für das Land und seine Menschen – oder bei den Strategien von EU und NATO ihrer Länder und Völker. Anders als bei Lawrence Freedmans Strategiedefiniton (2013, S. xi) geht es also nicht um „die Balance, zwischen Zielen, Wegen und Mitteln“. Denn diese schlösse ein, dass Ziele angepasst werden, damit sie erreichbar sind. Die Sicherheit des Staates darf aber keine Variable sein, sie ist eine zu gewährleistende Konstante; eine Ewigkeitsaufgabe (Schwegmann 2014, S. 49). Staaten, die sie vernachlässigen, drohen Lehrstücke für die Strategiegeschichte zu werden. Athen nach dem Peloponnesischen Krieg für Thukydides und Platon, Florenz in Zeiten der italienischen Kriege für Macchiavelli oder Preußen nach seiner vernichtenden Niederlage 1806 für Clausewitz sind nur die Klassiker (Freedman 2013, Gaddis 2018, Paret 1986). Die Geschichte jedoch kennt viele mehr. Manche dieser Länder, Nationen und Völker verschwanden sogar gänzlich, manche erlebten Jahrzehnte später ihren Wiederaufstieg, viele sind vergessen. Eine Mahnung sollte das Ende des Chinesischen Kaiserreiches sein. Dies war erst 1912 und nur wenige Jahre, nachdem China infolge des „Boxeraufstands“ endgültig zum Spielball fremder Mächte – Europäer, Japaner, Russen, Amerikaner – geworden war. Eine Sicherheitsstrategie muss daher Wege beschreiben und Ressourcen benennen, die den Bestand des Staates in Form und Inhalt sowie den Schutz der Bürger garantieren können. Die Bereitstellung ausreichender Mittel ist allerdings eine kaum zu erfüllende Aufgabe, da deren Zuweisung politischen Entscheidungen in der Regel nachgelagert und der Entscheidungsgewalt der Exekutive entzogen ist. Tatsächlich gibt es nur selten Bemühungen, Strategie „haushaltsfest“ mit Ressourcen zu hinterlegen. Ein Beispiel ist das Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsausgaben auszugeben, was seit den 90er Jahren in der NATO als Richtschnur für eine nachhaltige Finanzierung der Verteidigung gilt und deshalb 2014 im Wales Capability Pledge als Zielgröße verbindlich verankert wurde (NATO 2014). Auch die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (SSZ, englisch PESCO) im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU beinhaltet verbindliche Verpflichtungen. Dazu gehören: „1. Regularly increasing defence budgets in real terms, in order to reach agreed objectives. 2.

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Successive medium-term increase in defence investment expenditure to 20% of total defence spending (collective benchmark) in order to fill strategic capability gaps by participating in defence capabilities projects in accordance with CDP and Coordinated Annual Review (CARD).” (Europäische Union 2017) In Polen hat der Sejm im September 2017 beschlossen, dass die Verteidigungsausgaben bis 2020 auf 2,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und bis 2030 auf 2,5 Prozent steigen sollen (Radio Poland 2017). Auch das französische Instrument „Militärisches Programmgesetz“ (Loi de Programmation Militàire), mit dem militärische Vorhaben einschließlich ihrer Finanzierung für fünf Jahre in Gesetzesform gegossen werden, stellt einen Zusammenhang zwischen Strategie und verbindlicher Finanzierung her. In Deutschland und den Niederlanden wurden Aussagen über Erhöhungen der Verteidigungsbudgets jüngst auch in Koalitionsverträgen getroffen. Diese Vereinbarungen zwischen Parteien, basieren jedoch auf Kompromissen vor dem Hintergrund von unterschiedlichen Parteiinteressen und korrespondieren nur unzulänglich mit den jeweiligen nationalen Strategien (CDU, CSU und SPD 2018; Bureau Woordvoering Kabinetsformatie 2017). In der Regel aber verhandeln Staaten ihre Haushalte jährlich oder machen allgemeine Haushaltsvorbehalte geltend, was Aussagen zur Finanzierung von strategischen Vorhaben in Weißbüchern oder Sicherheitsstrategien zu Absichtserklärungen mit zunächst lediglich politischer Verbindlichkeit macht. Das ist ein Sicherheitsdilemma, was auch die untergeordneten Strategie- und Planungspapiere, v. a. die kostenintensiven Verteidigungsstrategien und -konzeptionen, wie die Quadrennial Defense Review der USA oder in Deutschland die Konzeption der Bundeswehr (KdB), betrifft. Die Ministerien müssen entscheiden: Für was soll geplant werden? Für das was benötigt und oft in NATO und EU zugesagt wurde, oder für das, was hoffentlich finanziert werden kann? Wenn das Ziel konstant ist und die Ressourcen unbestimmt, so kommt dem Weg und den Instrumenten, mit denen Sicherheit hergestellt werden soll, besondere Bedeutung zu. Diesbezüglich verfolgt die Bundesrepublik Deutschland fast von Beginn an eine ausgesprochen erfolgreiche Grand Strategy. Konrad Adenauers früh eingeschlagene Marschrichtung, West-Deutschland mittels Westintegration (dadurch das Zurückweisen eines deutschen Sonderwegs), einschließlich der Mitgliedschaft in der NATO, Europäischer Integration und Förderung einer regelbasierten internationalen Ordnung zu einem sicheren, stabilen und wohlhabenden Staat zu machen, ist bis heute erfolgreich. Deswegen hat diese Strategie Regierungswechsel und selbst den Epochenwandel und die Wiedervereinigung 1990, bei der eine Überprüfung hätte anstehen können, überdauert. Eine Revision fand aus zwei wesentlichen Gründen nicht statt: Erstens, hatte die Strategie überzeugt und sogar die Wiedervereinigung erst möglich ge-

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macht. Sie dient auch einem souveränen und wiedervereinigten Deutschland, das als Wirtschafts- und Handelsmacht auf regionale und globale Stabilität angewiesen ist, bestens. Zweitens, waren auch Deutschlands Nachbarn mit dieser Politik zufrieden – sie gab ihnen Transparenz und Verhaltenssicherheit, auch wenn sich die Sowjetunion bestimmte Einschränkungen in Bezug auf militärische Präsenz und Infrastruktur im Zwei-plus-Vier-Vertrag zusichern ließ. Frankreichs Ängste vor einem zu starken Deutschland wurde dagegen mit einer weiteren Vertiefung der Europäischen Integration begegnet, die USA erhielten früh die Zusage eines Verbleibs Deutschlands in der NATO. Das deutsche Beispiel falsifiziert daher Eliot Cohens These: „grand strategy is an idea whose time will never come, because the human condition does not permit it“(2016, S. 204). Großereignisse wie die Terroranschläge vom 11. September 2001, so Cohen, würden strategische Planungen immer wieder durchkreuzen. Eine wirkliche (Groß-)Strategie ist aber eine, deren Anwendbarkeit auch größere politische Verschiebungen aushält und Flexibilität für ergänzende politische Großlinien lässt. Zu diesen Ergänzungen gehört in Deutschland sicher die Entspannungs- und Ostpolitik unter Willy Brandt (Brandt 1958). Sie war vollkommen abhängig von der Westintegration, da diese Deutschland eine starke Verhandlungsposition verschaffte und der Regierung trotz des sowjetischen Faustpfands „DDR“ eine freiwillig ausgestreckte Hand ohne Unterwerfungsgeste erlaubte. Helmut Schmidts Entscheidung für den NATO Doppelbeschluss war daher auch keine Revision der Ostpolitik. Beide Politiken fanden im Großschema der deutschen Strategie ihren Platz. Vor diesem Hintergrund erscheint die oft geäußerte Kritik, Deutschland habe keine Strategie oder sei nicht strategiefähig, falsch oder zumindest unpräzise (u. a. Techau/Mangasarian 2017, Gnad 2016, Arbeitskreis Internationale Sicherheitspolitik 2014). Die Kritik zielt eigentlich auf politische Entscheidungsprozesse oder Entscheidungen selbst, also auf die konsequente Umsetzung der Strategie. Wenn es heißt, Deutschland übernehme zu wenig Verantwortung für Europa, für europäische Sicherheit und die globale Ordnung (einschließlich Klima, Entwicklung) und es gebe zu wenig für Verteidigung aus, so bedeutet dies implizit, und wenn nicht allein normativ argumentiert wird, dass dadurch Stabilität und Frieden gefährdet sind. Es ist letztlich jene Form von Kritik, die auch Nationen mit vermeintlich hochentwickelter strategischer Kultur ausgesetzt sind. Sowohl der britische BREXIT, als auch die US-Politik des Amerika First werden heute dahingehend hinterfragt, ob sie den Sicherheitsinteressen der Länder wirklich angemessen sind. Hilfreich erscheint daher die von Maximilian Terhalle erarbeitete Definition: „Strategie ist die langfristige Konfliktplanung und akute konfliktangetriebene Entscheidungsfindung in einem“ (2018, S. 96). Denn da die Sicherheit des Staates Zweck und Ziel jeder Strategieüberlegung zu sein hat, muss eine Sicherheitsstrategie

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an möglichen Konflikten, also dem perspektivischen Austrag von Interessengegensätzen unterschiedlicher Art, ausgerichtet sein. Wenn dieser Konfliktaustrag vermieden oder gewonnen werden soll, ist frühzeitig Vorsorge zu treffen. Zusätzlich muss eine Strategie, ganz im Sinne von Clausewitz, Raum für taktisch situative Anpassungen lassen. Strategien wie jene der Bundesrepublik oder unserer westlichen Nachbarn, die so imposante „Schwarze Schwäne“, also unerwartete Ereignisse, wie den plötzlichen Zerfall des Warschauer Paktes und des Ostblocks überstehen oder auch Ereignisse wie den 11. September 2001 oder die Russische Annexion der Krim erscheinen daher durchaus der Kategorie Grand Strategy würdig zu sein. Die darin enthaltene Flexibilität wird auch an einem Vergleich der deutschen Weißbücher 2006 und 2016 deutlich. Beide bekennen sich zum Dreiklang aus NATO, EU und UNO als wesentliche Instrumente deutscher Sicherheitspolitik. Im Weißbuch 2006 findet jedoch eine planerische Abkehr von der Landes- und Bündnisverteidigung statt, wenn geschrieben wird, die Bundeswehr konzentriere sich auf die wahrscheinlichen Aufgaben, also Krisenmanagement, und diese seien fortan strukturbestimmend: „Die Struktur der Bundeswehr wird konsequent auf Einsätze ausgerichtet. Zu diesem Zweck werden die Streitkräfte in die Kategorien Eingreif-, Stabilisierungs- und Unterstützungskräfte gegliedert“ (Bundesministe­ rium der Verteidigung 2006, S. 12). Das aktuelle Weißbuch revidiert diese Aussagen vor dem Hintergrund einer neuen russischen Bedrohung des Bündnisgebiets und entsprechender NATO Beschlüsse in Wales und Warschau und erklärt die um ein Vielfaches anspruchsvollere Landes- und Bündnisverteidigung zur gleichrangigen Aufgabe: „Die stärkere Akzentuierung von Landes- und Bündnisverteidigung einschließlich der Abschreckung – insbesondere an der Peripherie der Allianz – verlangt von der Bundeswehr, ihre Einsatzorientierung auf diese anspruchsvolle Aufgabe und die hierzu notwendige Vorbereitung zu erweitern“ (Bundesregierung 2016, S. 88). In der Konsequenz muss die Struktur der Bundeswehr und ihre Ausrüstung wieder komplett auf Landes- und Bündnisverteidigung umgestellt werden, da diese im Extremfall die gesamte Bundeswehr fordern würde. Es ist nichts weniger als eine drastische Korrektur langjähriger Politik, die jedoch kaum als solche wahrgenommen wird, da sie sich innerhalb der Institution NATO und den Streitkräften abspielt. Weil Deutschlands Sicherheit über die NATO stets garantiert und durch die USA abgesichert war, fiel lange nicht auf, dass Deutschland und andere Europäer ihre angemessenen Beiträge zur Bündnisverteidigung nicht mehr beisteuerten. Die räumliche Ausweitung von NATO und EU schufen zudem einen Puffer an Staaten, die das direkte Bedrohungsgefühl für Deutschland reduzierte. Eine lange Zeit wirksam erscheinende Partnerschaftspolitik gegenüber Russland und die erst spät wahrgenommene Rückkehr Chinas auf die geostrategische Bühne reduzierten

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das Unsicherheitsgefühl weiter. Bis heute ist es in der deutschen Bevölkerung wenig ausgeprägt (Pew 2017). Die militärischen Defizite wurden erst offensichtlich, als die NATO ab 2014 die theoretisch vorhandenen Kräfte auch konkret einforderte – und deren geringe Einsatzbereitschaft offenbar wurde. Über viele Jahre aber war die Strategie nicht nur wetterfest, sondern vermeintlich auch günstig. Die entstandenen Risiken wurden und werden noch heute von Alliierten kompensiert. Allerdings kommen diese Zeiten zu einem Ende. Seit einigen Jahren wird in Deutschland nun mit der sogenannten Trendwende bei Ressourcen und Personal versucht, die Lücken wieder zu schließen. Auch wird entlang des „Münchner Konsenses“ von 2014 (Giegerich und Terhalle 2016) eine aktivere Außenpolitik, zum Beispiel bei der Krisenprävention, betrieben, was ebenfalls mehr Geld kostet. Auch bei den Ausgaben für Wirtschaftshilfe und Entwicklung legt Deutschland zu. Es scheint, als würde das Geld, das in den vergangenen 15 bis 20 Jahren nicht für Sicherheit investiert wurde, nun sehr kurzfristig nachgefragt. Eine Strategieanpassung oder eine Weiterentwicklung der deutschen Grand Strategy würde vermutlich notwendig, wenn die Pfeiler der deutschen Strategie selbst gefährdet sind. Manche Politiker und Autoren weisen darauf hin, dass dies zunehmend der Fall ist. Der Zusammenhalt der EU ist durch den Brexit und national-populistische Bewegungen gefährdet, Präsident Trump, stellt die Rolle der USA in der NATO zumindest rhetorisch in Frage, der Multilateralismus kommt vor allem durch China, dass seine Interessen nicht hinreichend reflektiert sieht, aber auch durch fehlendes Engagement der USA unter Druck (u. a. Kagan 2018, Techau und Mangasarian 2017, Maas 2018). Neue Technologien sowie Big Data und ihre Auswirkungen auf weltweite oder regionale Machtbalancen werden ebenfalls noch nicht hinreichend in der deutschen und europäischen Strategiedebatte abgebildet. In den kommenden Jahren wird sich somit zeigen, ob die Pfeiler deutscher Sicherheit durch Politikwechsel und klugen Ressourceneinsatz repariert werden können. Techau und Mangasarian beispielsweise schlagen hierfür das Konzept der Servant Leadership vor, in der Deutschland seine dominante Rolle in Europa annimmt und mit Ressourcen ausstattet, aber diese nicht nur im eigenen sondern im Interesse aller Partner und Alliierten mit Gemeinsinn interpretiert (Mangasarian und Techau 2017, S. 17–24). Gelingt diese Strategie-Reparatur nicht oder wird eine alternative Strategie gewählt, kämen Deutschland und Europa siebzig Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges und knapp dreißig Jahre nach der Epochenwende 1989/90 an eine neue historische Wegmarke. Wenn Sicherheitsstrategien nur in sehr seltenen Fällen strategische Richtungswechsel verkünden und deshalb mitunter, wie das deutsche Weißbuch, auch nur selten erscheinen, so liegt die Frage nahe, warum sie überhaupt geschrieben werden. Ein schon genannter Grund liegt darin, dass sie als oberste Planungsgrundlage einer

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vielgefächerten Dokumentenhierarchie benötigt werden. Gleichfalls wichtig sind jedoch die Selbstvergewisserung und die Kommunikation, die in Sicherheitsstrategien enthalten sind. Gelegentlich braucht es ein Innehalten und eine Reflektion auf dem tagespolitischen Kontinuum der internationalen Politik. Dabei haben Staaten unterschiedliche Traditionen, wie oft sie den sicherheitspolitischen Stand der Dinge in einer Sicherheitsstrategie zusammenfassen und als Ausgangspunkt für künftige Politik und deren Ziele definieren. Die internationale Bandbreite reicht von jährlichen, auch gesetzlich vorgeschriebenen, bis zu sehr langen Rhythmen (Schwegmann 2017). Die Motivation zur Veröffentlichung kann exogen sein, wenn sich die Welt geändert hat und somit eine neue Politik erfordert, oder endogen, wenn eine (neue) Regierung einen möglicherweise lange geplanten und oft bereits kommunizierten Politikwechsel unterstreichen oder Politik neu erklären will. In den meisten Fällen ist es eine Mischung aus beidem. Entscheidend ist die grundsätzliche, doktrinäre Bedeutung, die innenpolitische wie außenpolitische Konsequenzen besitzt. Denn weil Sicherheitsstrategien anders als Reden oder Zeitungsartikel eine höhere Autorität und lange Haltbarkeit besitzen, ist ihr Inhalt vor allem eine wohlüberlegte und mitunter mittels Seminaren und Konferenzen aufwendig erarbeite Selbstvergewisserung und -verpflichtung einer Regierung zu einer im Grundsatz bereits verfolgten oder eingeleiteten Politik. Beispiele sind die Neuausrichtung in der deutschen Russlandpolitik als Antwort auf Russlands Annexion der Krim und dem Krieg in der Ost-Ukraine, die im Weißbuch 2016 ausgeführt wird (Bundesregierung 2016, S. 31–32) und die berühmte Ankündigung einer präventiven (preemptive) Verteidigungspolitik der US-Regierung nach 9/11 in der Nationalen Sicherheitsstrategie von 2002 (The White House 2002). Da Regierungsdokumente, zumal jene mit strategischem Charakter, gleichzeitig Kommunikationsmedien sind, sind darin enthaltene Veränderungen ebenso bedeutend wie die Konstanten. Das gilt nach innen, wo über die Ressortabstimmungen und Kabinettsbeschlüsse oder über Vorgaben eines nationalen Sicherheitsrates oder eines Präsidenten Grundlinien ausgehandelt oder vorgegeben werden, die dadurch für eine Regierung politisch bindend werden. Es gilt aber auch nach außen, weil jeder interessierte Staat (und mancher Bürger) die Texte nicht nur lesen sondern auch interpretieren wird. Die Nennung oder Nichtnennung eines Landes in einem bestimmten Kontext und in einer konkreten Weise, sind implizite oder explizite Botschaften oder werden unweigerlich als solche interpretiert. Dieses exegetische Interesse setzt Sicherheitsstrategien natürliche Schranken. Differenzen innerhalb einer Regierung werden entweder im Vorfeld gelöst oder in Kompromisse gegossen oder die Themen werden ausgespart. Das gleiche gilt für manche sicherheitspolitische Themen in der Außenkommunikation. Es ist gut zu überlegen, welche Akzente zu setzen sind und welche nicht, denn dies mag das

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strategische Kalkül oder auch nur die kurzfristige Politik anderer Staaten ungewollt beeinflussen. Strategie allein reicht für Strategien eben nicht aus. Es bedarf auch strategischer Kommunikation – also Taktik.

Literatur Arbeitskreis Internationale Sicherheitspolitik. 2014. Die deutsche Sicherheit braucht mehr Strategiefähigkeit. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung. Bundesregierung. 2016. Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin. Bundesministerium der Verteidigung. 2006. Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin. Brandt, W. 1958. Vortrag vor der Steuben-Schurz-Gesellschaft: www.willy-brandt.de/fileadmin/ brandt/Downloads/Rede_Brandt_Steuben_Schurz_1958.pdf. Zugegriffen 09 Aug. 2018. Bureau Woordvoering Kabinetsformatie. 2017. Vertrauen in die Zukunft. www.kabinetsformatie2017.nl/documenten/verslagen/2017/10/10/koalitionsvertrag-vertrauen-in-die-zukunft. Zugegriffen 27. Aug. 2018. CDU, CSU & SPD. 2018. Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/2018/03/2018-03-14-koalitionsvertrag. pdf. Zugegriffen 27. Aug. 2018. Cohen, E. 2016. The Big Stick. The Limits of Soft Power & the Necessity of Military Force. New York: Basic Books. Europäische Union. 2017. Joint Notification on Permanent structured Cooperation (PESCO) to the Council and to the High Representative of the Union for Foreign Affairs and Security Policy. www.consilium.europa.eu/media/31511/171113-pesco-notification.pdf. Zugegriffen 29. Aug. 2018. Freedman, L. 2013. Strategy. A History. New York: Oxford University Press. Gaddis, J. 2018. On Grand Strategy. New York: Penguin Press. Giegerich, B. und M. Terhalle. 2016. The Munich Consensus and the Purpose of German Power. Survival 2: 155–166. Gnad, O. 2016. Wie strategiefähig ist deutsche Politik? In Internationale Sicherheit im 21. Jahrhundert, Hrsg. J. Bindenagel, M. Herdegen und K. Kaiser. 125–140. Bonn: Bonn University Press. Kagan, R. 2018. The Jungle Grows Back. America and Our Imperiled World. New York: Knopf. Maas, H. 2018. Balancierte Partnerschaft. Handelsblatt 163. Mangasarian, L. und Techau, J. 2017. Führungsmacht Deutschland: Strategie ohne Angst und Anmaßung. München: dtv. NATO. 2014. Wales Summit Declaration. Issued by the Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in Wales. www.nato.int/cps/ en/natohq/official_texts_112964.htm. Zugegriffen 29. Aug. 2018.

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Paret, P. 1986. Makers of Modern Strategy from Machiavelli to the Nuclear Age. Princeton: Princeton University Press. Pew Research Center. 2017. Globally, People Point to ISIS and Climate Change as Leading Security Threats. Radio Poland. 2017. Polish MPs OK plan to increase defence spending. http://thenews. pl/1/9/Artykul/325888,Polish-MPs-OK-plan-to-increase-defence-spending. Zugegriffen 30. Aug. 2018 Schwegmann, C. 2017. The White Paper 2016 – Defining Germany’s new Role. In International Security in the 21st Century, Hrsg. J. Bindenagel, M. Herdegen und K. Kaiser 219–224. Bonn: Bonn University Press. Schwegmann, C. 2014. Sicher in der Zukunft. Anregungen für eine nachhaltige Sicherheitspolitik. Internationale Politik 4: 48–55. Terhalle, M. 2018. Strategie und Strategielehre. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 1: 83–100. The White House 2002. The National Security Strategy of the United States of America. www.state.gov/documents/organization/63562.pdf. Zugegriffen 29. Aug. 2018.

Make Strategy Grand Again Gedanken zum Konzept der Grand Strategy in der deutschen Sicherheitspolitik Tobias Bunde

Zusammenfassung

Während sich der Begriff der Grand Strategy in der internationalen Debatte steigender Popularität erfreut, spielt das Konzept im deutschen Kontext kaum eine Rolle. Trotz seines etwas diffusen Charakters und konkurrierender Definitionen, die seine Bedeutung als Analyserahmen schmälern, kann der Begriff in der Debatte über die langfristigen Ziele, Instrumente und Strategien deutscher Außen- und Sicherheitspolitik von Nutzen sein, indem er Fragen aufwirft, denen man in den vergangenen Jahren nicht die Aufmerksamkeit geschenkt hat, die sie verdienen. Schlüsselbegriffe

Grand Strategy, Strategie, außenpolitische Instrumente, Interessen

Wenn im angloamerikanischen Raum über die langfristigen Linien der Außen- und Sicherheitspolitik diskutiert wird, findet dies häufig unter dem Schlagwort Grand Strategy statt. So wird nach Amtsantritt eines neuen US-Präsidenten regelmäßig die Frage gestellt, ob die neue Regierung denn über eine Grand Strategy verfüge (vgl. Drezner 2011; Dombrowski und Reich 2017). Untersuchungen der Unterschiede zwischen den verschiedenen Regierungen über Zeit nehmen häufig die jeweiligen Grand Strategies in den Blick (vgl. Brands 2014; Hemmer 2015). Dabei bleibt die Literatur nicht nur auf die wichtigsten Mächte wie die USA, Russland (z. B. Monaghan 2013; Starr und Cornell 2014) oder China (z. B. Goldstein 2010; Swaine © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Jacobi und G. Hellmann (Hrsg.), Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Edition ZfAS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6_3

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und Tellis 2010) beschränkt. Auch die Grand Strategies von Brasilien, Frankreich, Großbritannien, Indien oder auch der Europäischen Union werden mit einiger Regelmäßigkeit thematisiert.1 Ob die Bundesrepublik Deutschland eine Grand Strategy hat, wie sie aussieht oder ob es einer solchen bedürfte, wird hingegen kaum gefragt.2 Wenn man von einigen Ausnahmen absieht (Joffe 1996, Krause 2005), taucht der Begriff in der hiesigen Debatte zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik so gut wie überhaupt nicht auf – so wie auch „bereits der ‚Strategie‘-Begriff selbst seit Jahren als eigentlich unausweichliche politische Vokabel abgelehnt oder zögerlich gebraucht wird“ (Jacobi/ Hellmann 2018, S. 2, vgl. auch Naumann 2009, S. 14).3 Dies liegt nicht nur daran, dass es keine eingängige deutsche Übersetzung für den Begriff der Grand Strategy gibt, den man im Deutschen noch am ehesten als „strategisches Gesamtkonzept“ (Naumann 2009, S. 15) oder „Gesamt- oder Leitstrategie“ (Enskat 2014, S. 85) wiedergeben kann. Denn auch das dahinterliegende Konzept wird in der deutschen Debatte oft nur gestreift. Zwar kann man die gesamte Auseinandersetzung über die Grundlinien der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik seit der Vereinigung als eine Debatte über die Grand Strategy des vereinigten Deutschlands begreifen (Roos 2012: 7–8, Enskat 2014: 88). Man kann aber argumentieren, dass zentrale Elemente des Konzepts der Grand Strategy, wie es im Folgenden genauer betrachtet werden soll, in der deutschen Debatte bislang nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Dieser Beitrag beleuchtet den zugegebenermaßen sperrigen und unscharfen Begriff der Grand Strategy und erörtert, inwiefern er für die Debatte über die Grundlinien der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik von Nutzen sein könnte. Kann die deutsche Debatte etwas von den Auseinandersetzungen über Grand Strategy in anderen Ländern lernen? Oder handelt es sich hier nur um ein weiteres Schlagwort, das viel verspricht, aber wenig halten kann? Gibt es so etwas wie eine deutsche Grand Strategy? Wenn ja, wie sieht sie aus? Und was sind ihre Stärken und Schwächen? 1

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Beispielhaft seien hier nur einige jüngere Werke genannt: Zu Brasilien siehe Brands (2010) und Milani, Pinheiro und Soares de Lima (2017); zu Frankreich siehe Simón (2012); zu Indien Bajpai, Basit und Krishnappa (2014), zur EU siehe Howorth (2010) und Smith (2011). Als kleine Anekdote ließe sich hier ergänzen, dass ein neueres Projekt zur vergleichenden Grand Strategy zwar Beiträge zu den USA, China, Russland, Frankreich, dem Vereinigten Königreich, der EU, Brasilien, Indian, Iran, Israel und Saudi-Arabien umfasst, aber keinen Beitrag zu Deutschland. Vgl. Miller (2017). Vgl. auch Enskat (2014, S. 88, Fn. 39): „Dass der Begriff der Grand Strategy in der Debatte um die deutsche Außenpolitik nach 1990 so gut wie nie gebraucht wird, sagt für sich schon viel über die Besonderheiten deutscher Außenpolitik aus.“

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Grand Strategy – mehr als ein Modebegriff?

Wenn in der Literatur zu Grand Strategy Einigkeit besteht, dann darüber, dass keine Einigkeit darüber besteht, was unter Grand Strategy eigentlich zu verstehen sei. In der Tat scheint nahezu jede Arbeit, die sich mit Grand Strategy verfasst, eine eigene Definition anzubieten. Für Brands ist der Begriff ein „notoriously slippery concept“ (Brands 2014, S. 1), während Milevski sogar schlussfolgert, dass es sich um ein „standardless, incoherent concept“ handele, dessen Popularitätszuwachs seit dem Ende des Kalten Kriegs den Mangel an begrifflicher Schärfe, mit dem es benutzt werde, nur multipliziert habe (Milevski 2016, S. 141). Nina Silove (2018) kommt in ihrer systematischen Untersuchung des Konzepts jedoch dennoch zum Ergebnis, dass Grand Strategy mehr als nur ein „buzzword“ sei. Für sie ist die zunehmende Anzahl an Definitionen vor allem Ausdruck dessen, dass es in der Literatur eigentlich nicht nur ein Verständnis von Grand Strategy gibt, sondern genau genommen drei verschiedene, die aus meiner Sicht aber eher unterschiedlichen Positionen zur Frage geschuldet sind, wie man Grand Strategy am besten analysieren und sozialwissenschaftlich „messen“ sollte. Widmet man sich eher den in Dokumenten oder Reden dargelegten Plänen (grand plans)? Sucht man nach übergeordneten organisierenden Prinzipien oder Schlagworten (grand principles), an denen sich die Politik orientiert? Oder lässt sich eine Grand Strategy am besten im Mitteleinsatz erkennen, ist sie also zum Beispiel in sich verändernden oder gleichbleibenden Verteidigungsausgaben, der Stationierung von Truppen oder diplomatischen Aktivitäten zu identifizieren (grand behavior)?4 Silove weist zurecht darauf hin, dass die Literatur gelegentlich inkonsistent ist oder das Objekt ihres Interesses nicht klar benennt, es deshalb der wissenschaftlichen Auseinandersetzung gut täte, die unterschiedlichen Konzepte klarer zu trennen.5 Was die drei verschiedenen von Silove identifizierten Konzepte zu Konzepten der Grand Strategy macht, lässt sich anhand mehrerer konstitutiver Elemente festmachen, die sich auch in anderen Definitionen wiederfinden. Zunächst behandeln Grand Strategies – das ist der wesentliche Bezug zum Strategiebegriff – das Verhältnis zwischen Zielen und Mitteln. Barry Posen (1984, S. 13) bezeichnet Grand Strategy als „a political-military, means-ends chain, a state’s

4 Vgl. zu den unterschiedlichen Perspektiven im Detail Silove (2018, S. 49). 5 Vgl. Silove (2018, S. 32–34). In diesem Beitrag soll jedoch weniger der spezifische wissenschaftliche Mehrwert von Grand Strategy als analytischem Rahmen im Vordergrund stehen, sondern die Frage, ob die mit dem Konzept verknüpften Ideen in der Auseinandersetzung über die Strategie der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik hilfreich sein könnten.

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theory about how it can best ‚cause‘ security for itself“, während Luis Simón (2014, S. 38) von „a means-ways-ends chain“ spricht, welche die Ressourcen und Mittel einer Nation mit ihren Zielen gleich welcher Art abstimmt. Im Unterschied zum Begriff der Strategie geht eine Grand Strategy über die militärische Komponente und die Anwendung militärischer Gewalt hinaus und bezieht jegliche Elemente staatlicher Macht ein, die aus Sicht der handelnden Personen geeignet sind, zur Erreichung der definierten Ziele beizutragen. Es handelt sich um “the highest level of strategy where all types of national power are mobilized to achieve the state’s highest political ends” (Martel 2010, S. 25). Dazu gehören zum Beispiel wirtschaftliche, diplomatische, aber auch kulturelle Macht. Dieses holistische Verständnis unter Einbeziehung verschiedener Sphären staatlichen Handelns ist jedenfalls wesentlicher Bestandteil des Konzepts der Grand Strategy, wie es heute verbreitet ist. Zudem ist Grand Strategy notwendigerweise an langfristigen Perspektiven interessiert. Selbst wenn es nicht immer, wie in Paul Kennedys Formulierung, um Jahrzehnte oder Jahrhunderte gehen muss,6 liegt der Schwerpunkt auf den großen, langen Linien der Außen- und Sicherheitspolitik. Und schließlich geht es bei einer Grand Strategy um die wichtigsten Interessen eines Staates, zwangsläufig also um die Gewichtung und die Abwägung von unterschiedlichen Interessen (Silove 2018, S. 46–47; Dueck 2006, S. 1). In der realistisch geprägten Literatur wird häufig auf Sicherheit oder Machtmaximierung als Kerninteresse verwiesen (Dueck 2006; Simón 2014, S. 38). Aber eine solche Verengung ist nicht zwangsläufig, verfolgen Staaten in ihren Grand Strategies mitunter auch andere Ziele (Narizny 2007, S. 9; Martel 2015, S. 23). Andere Aspekte sind, wie Silove (2018, S. 47–49) meines Erachtens zurecht hervorhebt, keine notwendigen Charakteristika von Grand Strategies, sondern können besser als Qualitäten von Grand Strategies verstanden werden, die in unterschiedlichen Ausprägungen vorhanden sein können. Hier ist zunächst die Kohärenz einer Grand Strategy zu nennen. Für einige Autoren wie William Martel (2015, S. 33–34) ist Kohärenz ein Kriterium für die Existenz einer Grand Strategy. Das ist aber nicht unproblematisch, wie Silove (2018, S. 48) hervorhebt: “If a grand strategy must be coherent to exist, is an incoherent grand strategy a ‚not-grand strategy‘?” Ähnlich verhält es sich mit der Balance einer Grand Strategy. Hier geht es vor allem um die Frage, ob die Mittel, die ein Staat zur Verfügung hat, adäquat eingesetzt werden. So ist eine Grand Strategy, die auf den unverhältnismäßigen Einsatz militärischer Gewalt oder allein auf ökonomische Instrumente setzt, vielleicht eine schlechte Grand Strategy, weil sie weder effektiv noch effizient ist, aber eben dennoch eine 6 Vgl. Kennedy (1991, S. 4): „[Grand Strategy is] about the evolution and integration of policies that should operate for decades, or even for centuries.“

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Grand Strategy (vgl. Silove 2018, S. 48). Beide Aspekte sind aber wesentlich bei der Bewertung von Grand Strategies. So lässt sich zum Beispiel in Bezug auf die Kohärenz fragen, ob eine Grand Strategy über adäquate Ziel-Mittel-Relationen für die Verfolgung der langfristig wichtigsten Ziele verfügt und diese sich nicht gegenseitig widersprechen. Können die definierten Ziele mit den begrenzten Mitteln erreicht werden? Und sind die vorgenommenen Priorisierungen logisch nachvollziehbar und aufeinander abgestimmt? Gleiches gilt für die Frage nach der Balance: Werden die Instrumente des Staates angemessen und koordiniert eingesetzt, um die langfristig wichtigsten Ziele zu erreichen? Werden bestimmte Instrumente zu häufig oder zu selten eingesetzt? Gelegentlich wird behauptet, nur Großmächte könnten auch eine echte Grand Strategy haben. So schreibt Williamson Murray, “[…] grand strategy is a matter of great states and great states alone. No small states, and few medium size states, possess the possibility of crafting a grand strategy” (Murray 2010, S. 75). Das in dieser Tradition möglichweise gegen die Auseinandersetzung mit einer deutschen Grand Strategy vorzubringende Argument, Deutschland sei schlicht zu klein und zu einflusslos, um sich mit solcherlei Fragen zu befassen, geht jedenfalls fehl. Während der deutsche Einfluss im Ausland tendenziell überschätzt wird, wie das Gerede von der Bundeskanzlerin als der Führerin der freien Welt zeigt, wird er im Inland im Allgemeinen unterschätzt. Außerhalb Deutschlands wird deutsche Macht durchaus als eine sehr reale Größe gesehen. Wenn schon die Bundesrepublik Deutschland – immerhin die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt – nicht in der Lage wäre, eine Grand Strategy zu verfolgen, blieben nur sehr wenige Staaten auf der Welt übrig, die dies könnten. Andere halten die Suche nach einer Grand Strategy angesichts der Komplexität heutiger Weltpolitik für weitgehend illusorisch (Krasner 2010). Dies gilt aber eigentlich nur, wenn man nach einem Ersatz für die Strategie der „Eindämmung“ (containment) des Kalten Kriegs oder einem vergleichbaren Prinzip sucht, das sich auf eine ebenso einfache Formel bringen ließe. Legt man das oben diskutierte Verständnis zugrunde, dass Grand Strategies die langfristig wichtigsten Ziele eines Staates definieren, in eine Rangordnung bringen und die entsprechenden Instrumente zu ihrer Umsetzung benennen und ausstatten, spricht wenig dafür, Grand Strategy als alleiniges Betätigungsfeld für die Großmächte zu verstehen oder die Suche danach gleich ganz aufzugeben: „All countries must make trade-offs between competing interests and priorities“ (Brands 2014, S. 6). In diesem Sinne sprechen gerade die begrenzten Möglichkeiten Deutschlands dafür, sich über die Beschaffenheit der deutschen Grand Strategy Gedanken zu machen. Wie Hal Brands (2014, S. 195) betont, ist trotz der Schwierigkeiten, in der komplexen Sicherheitsumgebung der Gegenwart eine Grand Strategy zu verfolgen, keine gute

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Alternative abzusehen: „[…] it is difficult to see how deliberately avoiding grand strategy offers a superior alternative.“

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Deutsche Außenpolitik und ihre Grand Strategies in der Geschichte

Wenn in der Literatur überhaupt einmal von deutscher Grand Strategy die Rede ist, handelt es sich meist um historische Betrachtungen, die sich mit der Grand Strategy des Kaiserreichs oder Nazi-Deutschlands beschäftigen (Xu 2017; Copeland 2012).7 Die zumindest vermutete Nähe zur Großmachtpolitik jener Zeit mag auch erklären, warum der Begriff der Grand Strategy im deutschen Kontext auf Vorbehalte stößt. Zugegebenermaßen klingt die Bezugnahme auf eine deutsche „Großstrategie“ ein bisschen nach der Sehnsucht nach einer „Großen Politik der europäischen Kabinette“, wie die Sammlung der diplomatischen Akten aus dem Auswärtigen Amt in den 1920er Jahren hieß (Lepsius et al. 1927). Steckt hinter der Forderung nach einer Auseinandersetzung mit der deutschen Grand Strategy nur der Wunsch nach einer Rückkehr zu einer national ausgerichteten Großmachtpolitik oder einer „machtpolitischen Resozialisierung“ (Hellmann 2005)? Das wäre ein fundamentales Missverständnis. Zunächst einmal lässt sich festhalten, dass die weltpolitischen Unternehmungen des späten Kaiserreichs und Nazi-Deutschlands auch unabhängig von ihren moralischen Irrwegen geradezu Paradebeispiele für fehlgeleitete Grand Strategies sind, die wesentliche Kriterien dessen verletzten, was erfolgreiche Grand Strategy ausmacht, weil sie über keine realistische Einschätzung des Verhältnisses ihrer Mittel und Ziele verfügten und in ihrer Fokussierung auf militärische Macht die politischen, ökonomischen und sozialen Aspekte von Strategie ignorierten (Showalter 1990, S. 65–66). Zudem lassen sich in der bundesrepublikanischen Geschichte Traditionslinien für eine sehr erfolgreiche Grand Strategy idenfizieren, die eben gerade durch den Verzicht auf nationale Selbstüberschätzung, eine kluge Beurteilung der Lage und die Zusammenarbeit im multilateralen Rahmen in der Lage war, ihre wesentlichen Ziele zu erreichen.8 Josef Joffe (1996, S. 263) zufolge musste die Bundesrepublik im 7 Eine Ausnahme stellt Simón (2014) dar, der die Grand Strategies des Vereinigten Königreichs, Frankreichs und Deutschlands der jüngeren Vergangenheit vergleicht. 8 Siehe dazu die prägnante Zusammenfassung von Hellmann, Wolf und Schmidt (2007, S. 24): „Grob vereinfachend könnte man von einer Entwicklung sprechen, die von einer

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Kalten Krieg keine Grand Strategy formulieren – und konnte dies auch gar nicht, weil diese aufgrund ihrer Lage in der bipolaren Konfrontation gegeben war. Dabei kann insbesondere die Zeit der deutschen Teilung durchaus als eine Phase verstanden werden, in der die Bundesrepublik eine klare Grand Strategy verfolgte (vgl. Krause 2005, S. 16–17), die nicht nur langfristig ausgerichtet war, sondern die Spielräume innerhalb ihres eingeschränkten Handlungsrahmens geschickt zu nutzen wusste. Die Kernelemente der Grand Strategy der Bundesrepublik bis 1990 lassen sich mit den Schlagworten Westbindung, europäische Integration und Ostpolitik recht knapp beschreiben: Die Bundesregierung schlussfolgerte, dass das überragende Sicherheitsinteresse der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg nur durch die Integration in die westlichen Bündnisstrukturen gesichert werden konnte. Außerdem sah man in der konsequenten Unterstützung des europäischen Integrationsprozesses die Möglichkeit, Handlungsfähigkeit durch partiellen Souveränitätsverzicht zurückzugewinnen und gleichzeitig den Grundstein für wirtschaftlichen Wohlstand zu legen. Zudem hatte die deutsche Politik das langfristige Ziel der Wiedervereinigung im Blick. Über Zeit setzte sich die Auffassung durch, dass dieses Ziel nur über eine Verständigung mit Moskau und dem Ostblock möglich sei. Dass die Bundesrepublik kein vollständig souveräner Staat war, bedeutete nicht, dass sich die Bonner Republik durch „Machtvergessenheit“ (Schwarz 1985) auszeichnete oder gar auf die Verfolgung nationaler Interessen verzichtete. Im Gegenteil lässt sich festhalten, dass es der Bundesrepublik mit einem relativ unauffälligem außenpolitischem Profil, aber einem langfristig ausgerichteten Kompass gelang, dass „die grundlegenden Ziele und Interessen […] auf diese Weise jedoch in einem Maße realisiert [wurden], das nicht nur alle Erwartungen übertraf, sondern Bonn letztlich sogar als einen späten Sieger des Ost-West-Konflikts erscheinen ließ“ (Hellmann, Wolf und Schmidt 2007, S. 33). Dies war durchaus ein „Erfolg der Methode des Souveränitätsgewinns durch Souveränitätsverzicht“ (Haftendorn 2001, S. 436). Dass handelnde Akteure der deutschen Politik durchaus in Kategorien einer Grand Strategy dachten, lässt sich an den entsprechenden Debatten über die Westbindung, die Ostpolitik oder die Nachrüstung ablesen, in denen es eben gerade um die Priorisierung unterschiedlicher Interessen, die Frage der angemessenen Mittel und letztlich die langfristigen Ziele der deutschen Politik ging. Selbst der Begriff der Grand Strategy wurde gelegentlich benutzt.9

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auf militärische Stärke und Status fixierten unabhängigen Großmachtpolitik eigenständiger außenpolitischer Eliten zu einer gesellschaftlich eingebundenen Politik ziviler internationaler Verflechtung führte.“ Als Helmut Schmidt 1985 auf Einladung der Yale University die Henry L. Stimson Lectures hielt, tat er dies unter dem Titel „A Grand Strategy for the West“ (Schmidt 1985).

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Etwas ketzerisch könnte man hingegen sagen, dass Deutschland nach 1990 keine Grand Strategy verfolgte, weil es sich in einer sehr komfortablen weltpolitischen Lage befand und es keiner bedurfte. Während der Ost-West-Konflikt, die mit ihm verbundene deutsche Teilung und die Gefahr einer militärischen Eskalation auf deutschem Boden als dem Hauptschauplatz eines möglichen Dritten Weltkriegs dafür sorgten, dass die Bonner Republik eine klare Vorstellung davon haben musste, wie sie ihre Sicherheit am besten gewährleisten konnte, war die sicherheitspolitische Lage des vereinigten Deutschland von der weitgehenden Abwesenheit militärischer Bedrohungen gekennzeichnet. So schrieb Joffe vor etwas mehr als zwanzig Jahren: „Today, there is no strategic solution because there is no clear strategic problem“ (Joffe 1996, S. 263). Es würde der deutschen Außenpolitik jener Jahre jedoch unrecht tun, ihr jegliche Grand Strategy abzusprechen; sie war nur auf den ersten Blick weniger stark gezwungen, Prioritäten zu setzen. So kann man die deutsche Außenpolitik der 1990er Jahre vor allem als Fortführung der westdeutschen Außenpolitik verstehen, die vor allem darauf bedacht war, ein Umfeld zu schaffen oder zu bewahren, in dem Deutschlands wesentliche Interessen am besten gewahrt würden. Man kann hier von einem guten Beispiel für eine milieu-orientierte Grand Strategy (Bulmer, Jeffery und Paterson 2000) sprechen, in der weniger spezifische nationale Interessen im Mittelpunkt stehen, sondern eher die Gestaltung eines wohlwollenden Umfelds, in dem die wesentlichen Interessen des eigenen Landes am besten verfolgt werden können. Aus dieser Perspektive lässt sich zum Beispiel anführen, dass die Bundesregierung nicht zufällig als Vorreiter der NATO-Osterweiterung und Befürworter der Eingliederung seiner östlichen Nachbarn in die Europäische Union auftrat. Das Ziel war gewissermaßen die dauerhafte Institutionalisierung der glücklichen Fügung, dass Deutschland zum ersten Mal in der Geschichte nur „von Freunden umzingelt“ war, wie es der frühere Verteidigungsminister Volker Rühe ausdrückte (zit. n. Beck 1992). Ansonsten beschied sich die deutsche Grand Strategy damit, möglichst viele Optionen offen zu halten (Joffe 1994, S. 43).

3

Herausforderungen und Defizite der deutschen Grand Strategy der Gegenwart

Blickt man durch die Linse des Konzepts Grand Strategy auf die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik der vergangenen Jahre, lassen sich einige Auffälligkeiten identifizieren. Zwei Entwicklungen scheinen mir für die Evaluation der Angemessenheit deutscher Grand Strategy von besonderer Bedeutung: Auf der einen Seite stellt sich

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die Frage, ob die weltpolitischen Entwicklungen der vergangenen Jahre nicht dazu führen müssten, dass bestimmte Festlegungen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik überprüft werden. Schließlich befinden sich nahezu alle grundlegenden Annahmen unter Druck, welche die deutsche Grand Strategy seit dem Ende des Ost-West-Konflikts geprägt haben, so dass man von den Jahren seit 2014 vielleicht in Zukunft als weiterer Zeitenwende sprechen wird (Bunde 2017b; Hellmann 2017; Krause 2017). Erstens steht heute in Frage, ob die Vereinigten Staaten tatsächlich auf Dauer eine europäische Macht bleiben werden, was wesentliche Fragen für die Organisation europäischer Sicherheit aufwirft. Präsident Donald Trump hat nicht nur wiederholt öffentlich die Beistandsklausel der NATO kritisiert, sondern auch generell seine Missachtung für einen institutionalisierten Multilateralismus demonstriert. Als „wohlwollender Hegemon“ der westlichen Welt fungieren die Vereinigten Staaten unter seiner Führung jedenfalls nicht mehr. Zweitens ist spätestens mit dem Brexit-Referendum deutlich geworden, dass der Prozess der europäischen Integration keine Einbahnstraße ist, die zwangsläufig in eine immer engere Union mündet. Mittlerweile ist in vielen Staaten Europas ein Streit über die Zukunft und Richtung des Einigungsprozesses entbrannt. Drittens hat sich mit der Annexion der Krim und dem russischen Eingreifen in der Ostukraine die deutsche Hoffnung zerschlagen, dass Russland tatsächlich zu einem echten Partner Europas und des Westens entwickeln würde. Viertens hat sich gezeigt, dass der Siegeszug der liberalen Demokratie keinesfalls unaufhaltsam ist. So sieht sich Deutschland nicht nur autoritären Großmächten gegenüber, die ein alternatives Modell propagieren, sondern muss auch mit illiberalen Kräften in EU und NATO umgehen, welche die beiden wichtigsten internationalen Institutionen für die deutsche Politik vor große Herausforderungen stellen. Jüngst hat Bundeskanzlerin Merkel in ihrer nüchternen Art davon gesprochen, „dass der bewährte oder uns gewohnte Ordnungsrahmen im Augenblick stark unter Druck steht“ (zit. n. Wiegold 2018). Kaum ein anderes Land auf der Welt wäre von einer weiteren Erosion der liberalen Weltordnung so betroffen wie Deutschland, das sich geradezu perfekt an diese Bedingungen angepasst hat und als Handelsstaat und Zivilmacht besonders von ihr profitiert hat (Bunde 2018, S. 7). Mit dem Ende der außenpolitischen Gewissheiten stellen sich also einige grundlegende Fragen für die deutsche Grand Strategy, auf die bislang wenig konkrete Antworten gefunden wurden. Während sich also das außenpolitische Umfeld in weiten Teilen gerade rasant verändert, werden einige grundlegende Annahmen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik kaum überprüft.10 Dies gilt 10 Stefan Bierling (2014, S. 270) kritisierte dies bereits vor den Umbrüchen der Jahre ab 2014 in deutlichen Worten: „Deutschland ist ein risikoscheuer, post-militärischer Handelsstaat, der sich auf die EU konzentriert, friedliche Mittel der Krisenbewältigung präferiert und

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für die Anpassung des außenpolitischen Entscheidungsprozesses, aber auch die stärkere Prioritätensetzung, die Bereitstellung angemessener Mittel oder die Pflege aller Instrumente des außen- und sicherheitspolitischen Instrumentenkastens. Auf der anderen Seite lässt sich fragen, ob die deutsche Politik gleichzeitig durchaus bewahrenswerte Traditionen deutscher Außenpolitik ausreichend gepflegt hat oder vielleicht selbst dazu beigetragen hat, dass wir uns heute in einer diffizilen Lage befinden. Es hat gewiss nicht in erster Linie mit der deutschen Politik der letzten Jahre zu tun, dass der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik die Partner abhandenkommen (Hellmann 2018, S. 28). Aber dennoch muss man sich kritisch die Frage stellen, ob Deutschland in den letzten Jahren ausreichend Rücksicht auf die Interessen seiner Nachbarn genommen hat. In vielen Nachbarstaaten ist über Zeit der Eindruck entstanden, dass Deutschland in besonderer Weise von den Früchten einer Ordnung profitiert, für die es selbst nicht bereit ist, die notwendigen Ressourcen bereitzustellen. Sowohl in der Debatte über die Finanzhilfen und Reformen in der Euro-Zone als auch in der Debatte über die Lastenteilung in der Verteidigungspolitik wird Deutschland in vielen Partnerländern als unsolidarischer Partner gebrandmarkt, der sich kaum um die Perspektiven anderer schert. So klaffen zum Teil sehr markante Lücken zwischen der Eigenwahrnehmung in Deutschland und den Wahrnehmungen seiner wichtigsten Partner (von Marschall 2018). Das gilt für die Debatte über die Lastenteilung in der Verteidigung, für die Austeritätspolitik innerhalb der Euro-Zone oder für die Flüchtlingspolitik. Man muss in diesen Streitfragen keine eindeutige Position beziehen, um zumindest zu erkennen, dass ein zunehmend „deutsches Europa“ (Beck 2015) zu einem Problem für Deutschland selbst wird, weil Berlin immer häufiger für die Probleme Europas verantwortlich gemacht wird und eine Gegenbewegung provoziert (Zielonka 2018, S. 77–79). Wolfgang Ischinger warnte jüngst davor, es drohe „eine politisch nicht ungefährliche Isolierung Deutschlands“ (Ischinger 2018a, S. 10). In der Kombination führen beide Aspekte – die allenfalls zögerliche Reaktion auf das Ende der außen- und sicherheitspolitischen Gewissheiten verbunden mit einer mangelhaften Selbstreflexion über die veränderte eigene Rolle – dazu, dass die deutsche Grand Strategy der letzten Jahre einige Defizite aufweist. Etwas überspitzt ließe sich formulieren, dass die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik dort Kontinuität zeigt, wo mehr Wandel gefordert wäre, und der stärkste Wandel dort zu beobachten ist, wo Kontinuität wünschenswert wäre. In den folgenden Abschnitten diskutiere ich einige zentrale Herausforderungen deutscher Grand Strategy und Führungsaufgaben ablehnt. Ob dies ausreicht, die Euro-Zone zusammenzuhalten, die europäische Peripherie zu stabilisieren und die Gefahren zu minimieren, die sich aus Staatszerfall und islamischen Terrorismus ergeben, kann bezweifelt werden.“

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verweise allein zur Illustration auf einige konkrete und markante Beispiele der jüngeren Vergangenheit oder der Gegenwart.

3.1

Zwang zur stärkeren Priorisierung – Politik des „sowohl als auch“?

Auf einige grundsätzliche Herausforderungen hat das vereinigte Deutschland bevorzugt mit einer klassischen „Sowohl-als-auch“-Politik geantwortet. Positiv gewendet kann man sagen, dass man sich mit einer solchen Nicht-Entscheidung größtmögliche Flexibilität bewahrt. In der Debatte über die Frage, ob die Zukunft der europäischen Integration vornehmlich in der Erweiterung oder in der Vertiefung zu sehen sei, antwortete Berlin lange Zeit mit einem entschiedenen „sowohl als auch“. Auch in der Debatte über die NATO-Osterweiterung erklärte man lange Zeit, dass die Aufnahme neuer Mitglieder und eine Stärkung der NATO-Russland-Beziehungen zwei Seiten einer Medaille seien. Und in der Auseinandersetzung über die Gewichtung zwischen der Stärkung der Europäischen Union im Bereich der Verteidigung und des traditionellen Primats der NATO heißt es nun, dass man „transatlantisch bleiben“ und „europäischer werden“ wolle (von der Leyen 2018). Häufig ist die Vermeidung von Entweder-oder-Entscheidungen keine schlechte Wahl – und in all diesen Fällen war der grundsätzliche Instinkt nicht falsch, zumindest zu versuchen, die verschiedenen Imperative miteinander in Einklang zu bringen. Oft wird mit einer solchen Strategie aber verdeckt, dass es Widersprüche zwischen den jeweiligen Optionen gibt, die eben langfristig nicht immer miteinander vereinbar sind, oder dass jede Entscheidung für etwas üblicherweise auch eine Entscheidung gegen etwas ist. Es ist zu erwarten, dass die Bundesregierung in Zukunft noch häufiger mit Fragen konfrontiert werden wird, bei denen sie eine strategische Entscheidung zwischen zwei Alternativen treffen muss. Um bei einem der genannten Beispiele – transatlantisch bleiben, europäischer werden – zu bleiben: Prinzipiell vermag die Logik zu überzeugen, die Stärkung europäischer Verteidigungsanstrengungen als Stärkung der NATO und der transatlantischen Partnerschaft zu verstehen. Dies wird aber nicht zwangsläufig in allen anderen Partnerstaaten auch so gesehen. So sind durchaus strategische Entscheidungen für die Bundesrepublik Deutschland denkbar, bei denen sie sich zwischen den zwei Imperativen entscheiden muss. Konkret lässt sich dies bei der Debatte über die Nachfolge der deutschen Tornado-Kampfflugzeuge zeigen, die, nachdem ihre Laufzeit bereits verlängert worden war, nun 2025 außer Dienst gestellt werden sollen. Die Luftwaffe braucht also, wenn es keine Fähigkeitslücke geben soll und Deutschland seinen Teil zur nuklearen Teilhabe der NATO beitragen will, einen

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Ersatz, der ebenfalls in der Lage ist, die nicht-strategischen Nuklearwaffen der USA aufzunehmen. Während Washington daran interessiert wäre, die F-35 an Deutschland zu verkaufen, hat Deutschland nun angefragt, zu welchen Konditionen der Eurofighter von den USA zertifiziert werden könnte, so dass er ebenfalls als Trägersystem fungieren könnte. Fraglich erscheint jedoch, ob die USA diese Zertifizierung bis 2025 durchführen können oder wollen (Keck 2018). Die gegenwärtigen politischen Spannungen zwischen Washington und Berlin könnten sich auch hier auswirken (Sprenger 2018). Frankreich wiederum, mit dem Deutschland gemeinsam unter dem Projektnamen Future Combat Air System (FACS) ein Kampfflugzeug entwickeln möchte, das ab 2040 Eurofighter und Rafale ersetzen soll, hat wohl bereits angedeutet, dass man dieses Flugzeug nicht von den USA für den atomaren Einsatz zertifizieren lassen möchte, weil man den US-Amerikanern nicht die dafür notwendigen Einblicke in die Technologie gewähren möchte (NDR Info 2018). Der Kauf der F-35 würde jedoch eigentlich die Entwicklung eines solchen deutsch-französischen Kampfflugzeugs der nächsten Generation in Frage stellen und somit den Versuchen, langfristig zu einer europäischen strategischen Autonomie zu gelangen, einen Bärendienst erweisen. Ein klare Entscheidung für eine deutsch-französische Lösung hingegen würde möglicherweise die Beteiligung der Bundeswehr an der nuklearen Teilhabe der NATO in Frage stellen und könnte dann in der Folge auch die Frage aufwerfen, ob die Luftwaffe in Zukunft statt US-amerikanischer Atombomben französische tragen könnte. Möglicherweise könnte der Kauf eines anderen zertifizierten Flugzeugs wie der F-15 oder F-18 eine Übergangslösung bieten. Diese Modelle verfügen aber wie die Tornados eigentlich nicht über die Eigenschaften, die aufgrund der Verbesserungen in der Flugabwehr von Fachleuten wie auch dem ehemaligen Inspekteur der Luftwaffe, Karl Müllner, als notwendig erachtet wurden, weswegen auch eine längere Verwendung der Tornados keine gute Lösung darstellt. Dass Müllner, der sich wiederholt auch öffentlich für die F-35 ausgesprochen hatte, in den Ruhestand versetzt wurde, wurde auch als Ausdruck der internen Auseinandersetzung gedeutet (Keck 2018). Die Bundesregierung wird bei dieser Entscheidung, deren Auswirkungen durchaus bis über die Mitte des Jahrhunderts hinausreichen, zwar versuchen, weder die USA noch Frankreich zu verprellen. Aber es ist unklar, ob beides vermieden werden kann. Das Beispiel macht zumindest klar, dass sich die deutsche Politik durchaus einmal in einer Position befinden könnte, in der sie zur Wahl zwischen wichtigen Partnern oder der transatlantischen Verankerung und einer Vertiefung der europäischen Verteidigungszusammenarbeit gezwungen wird.

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Stärkung der Kohärenz und Konsistenz – mangelnde Umsetzung des vernetzten Ansatzes?

Grand Strategies müssen aber nicht nur priorisieren. Sie sollten auch so kohärent und konsistent wie möglich sein und alle dem Staat zur Verfügung stehenden Mittel sinnvoll einsetzen. Der erste wesentliche Aspekt einer kohärenten Grand Strategy ist, dass das wesentliche Außenhandeln des Staates einer gemeinsamen Linie folgt und die Politik in einem Bereich nicht vitale Interessen in einem anderen Bereich konterkariert. Helmut Schmidt ging in seinen Vorlesungen in New Haven 1985 explizit darauf ein: “I will speak separately of foreign policy, of economic policy, and of military strategy in the classic sense. Yet I do believe that all three must operate in the end within one and the same framework […]. The goals that any nation, or a group of nations, sets for itself must be consistent over all three fields. They must, in short, be guided by a unifying concept, and this is what is meant by Grand Strategy.” (Schmidt 1985, S. 5–6)

Ob die Bundesrepublik Deutschland diesem Anspruch in den letzten Jahren gerecht geworden ist, ist zumindest umstritten. Hans Kundnani (2011) hat Deutschland als „geo-ökonomische Macht“ kritisiert, die sich vor allem für das Wohl der deutschen Exportwirtschaft einsetzt, es gleichzeitig aber unterlässt, sich in anderen Bereichen der internationalen Ordnungspolitik seinem Gewicht entsprechend zu engagieren. Ein wesentlicher Kritikpunkt ist, dass eine zu beobachtende Fokussierung Deutschlands auf wirtschaftliche Ziele bisweilen zu Lasten anderer außen- und sicherheitspolitischer Interessen geht, wie sich nicht zuletzt im Umgang mit Russland oder China zeigt (Szabo 2015). Ein sehr prägnantes Beispiel für die Dominanz ökonomischer Erwägungen auf Kosten außen- und sicherheitspolitischer Erwägungen ist das Pipeline-Projekt Nord Stream 2. Seit Jahren haben insbesondere die östlichen Nachbarn Deutschlands lautstark gegen die Position der Bundesregierung protestiert, es handele sich bei Nord Stream 2 um ein rein wirtschaftliches Projekt, und vor der Schaffung neuer Abhängigkeiten von Russland gewarnt. Zwar hat jüngst auch die Bundeskanzlerin eingestanden, „dass es sich nicht nur um ein wirtschaftliches Projekt handelt, sondern dass natürlich auch politische Faktoren zu berücksichtigen sind“ (zit. n. Umbach 2018, S. 1). In den letzten Jahren hat die Bundesregierung jedoch nicht den Eindruck erweckt, sie interessiere sich besonders für die Bedenken ihrer engsten Partner und der Europäischen Kommission oder habe die sicherheitspolitischen Implikationen der Pipeline im Blick, obwohl Expertinnen und Experten seit Jahren vor den „außen- und europapolitischen Kosten“ warnten und „Schritte zur Sicherung und bzw. Wiederherstellung von Vertrauen“ anmahnten (Lang und

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Westphal 2016, S. 42). Donald Trumps heftige Vorwürfe, Deutschland wolle von den USA verteidigt werden, transferiere aber Milliarden nach Russland (Bump 2018), mögen in Deutschland als vollkommen unangemessen erscheinen, treffen in anderen Teilen Europas aber, wenn schon nicht im Ton, so doch in der Sache auf Unterstützung. So springt Berlin auch niemand zur Seite, wenn in den USA über Sanktionen nachgedacht wird, von denen auch Nord Stream 2 betroffen wäre. Ganz unabhängig von der Frage, ob Deutschland und Europa mit dem Pipeline-Projekt ihre Energiesicherheit erhöhen,11 hat sich die deutsche Politik hier in eine Sackgasse manövriert. Frank Umbach zufolge könne Deutschland nicht mehr bestreiten, „dass das NS-2-Projekt ein (außen)politischer Spaltpilz ist. Dessen strategische Bedeutung und Auswirkungen werden in Deutschland weiterhin unterschätzt. Aus Sicht der osteuropäischen Staaten ist der Eindruck entstanden, dass selbst bei Fragen der nationalen Sicherheit, wie beim Bau von NS-2, von Berlin kein Verständnis und keine Rücksichtnahme zu erwarten ist […].“ Umbach argumentiert, dass das deutsche Vorgehen strategisch kurzsichtig ist und „nur zu weiteren Renationalisierungsbestrebungen der osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten zulasten der gemeinsamen Energie, Außen- und Sicherheitspolitik der EU“ führt (Umbach 2018, S. 5). Es ist gerade kein Beispiel für das, was Gunther Hellmann (2013) eine „reflexive deutsche Sicherheitspolitik“ nennt, welche die Sicherheit anderer Staaten in allen Entscheidungen von Anfang an berücksichtigt. Genauso negativ muss das Urteil über die innerstaatliche Abstimmung lauten (vgl. detailliert Umbach 2018, S. 1).

3.3

Einsatz aller staatlichen Instrumente – aber keine „militärischen Lösungen“?

Die Einsicht, dass die deutsche Sicherheitspolitik einen vernetzen Ansatz verfolgen muss, um ihre wesentlichen Ziele zu erreichen, ist seit Jahren ein Allgemeinplatz in der Debatte und zumindest auf der deklaratorischen Ebene weithin anerkannt. Die Praxis sieht häufig anders aus. Ein Merkmal einer Grand Strategy ist ja zunächst, dass sie darauf abzielt, alle wesentlichen Instrumente des Staates in koordinierter Weise zu nutzen und sie aufeinander abzustimmen. Im Fall Deutschlands ist jedoch 11 Für wohlwollendere Einschätzungen von Nord Stream 2 siehe Lang und Westphal (2016) sowie Fischer (2016, S. 4), der das Projekt aus energiepolitischer Sicht für sinnvoll hält, aber auch kritisiert, dass „the rules of good diplomacy and the perspective on geopolitics were absent in dealing with the proposal. Consulting the Russian government before talking to Central-Eastern European member states or the Commission was a major fault and discredit [sic] the commercial nature of the project.“

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weiterhin festzustellen, dass es sich nicht unbedingt aller Instrumente bedient, die bisweilen erforderlich wären. So richtig und wichtig es also ist, in Diplomatie und Entwicklungszusammenarbeit zu investieren, wenn man eine umfassende Grand Strategy verfolgen möchte, so richtig und wichtig ist es auch, das militärische Instrument nicht zu vernachlässigen. Damit tut sich Deutschland aber weiterhin schwer (Bittner et al. 2018; Puglierin 2018). Positiv gewendet hat sich die Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg als geradezu prototypische Zivilmacht entwickelt (Maull 2007), welche die Bereitstellung von Sicherheit weitestgehend anderen überließ und nur zurückhaltend nach und nach eine stärkere militärische Rolle annahm. Heute besteht bei den Partnern Deutschlands jedoch weniger die Sorge vor deutscher militärischer Dominanz, sondern eher vor der mangelnden militärischen Solidarität und Verlässlichkeit Berlins (von Marschall 2018). Hanns W. Maull, der das Konzept der Zivilmacht wesentlich geprägt hat, hat darauf hingewiesen, dass eine Zivilmacht keine pazifistische Macht ist, sondern dass das „Projekt der Zivilisierung der internationalen Politik unter bestimmten Umständen auch militärische Zwangsmaßnahmen der Staatengemeinschaft erfordern könnte“ (Maull 2013, S. 8). Denjenigen, die einer weiteren Zivilisierung der internationalen Politik mit militärischen Mitteln entgegentreten, wird eine Zivilmacht jedenfalls nur bis zu einem bestimmten Punkt mit wirtschaftlichen Sanktionen oder anderen nicht-militärischen Instrumenten begegnen können. Sie macht sich und ihre Verbündeten im wahrsten Sinne des Wortes angreifbar, wenn sie dies nicht berücksichtigt. Auch Maull (2018, S. 136) betont, dass Deutschland „bislang mit fadenscheinigen Argumenten, aber umso hartnäckiger eine Vermeidungsstrategie“ betreibt. Nicht zuletzt führt die durchaus nachvollziehbare Skepsis gegenüber dem Militär als Instrument deutscher Grand Strategy immer wieder zu Ergebnissen, die aus normativer Sicht problematisch sind (Ischinger und Bunde 2015b, S. 319–321; Bittner et al. 2018). Dabei geht es in vielen Fällen noch nicht einmal darum, militärische Gewalt anzuwenden. Militärische Macht kann gerade dann besonders einflussreich sein, wenn sie nicht „ausgegeben“ wird, sondern im Hintergrund wirkt (Milevski 2016, S. 137). Deutschland schließt hingegen regelmäßig bereits bestimmte Handlungsoptionen von Anfang an aus und beraubt sich damit eines wesentlichen Einflussfaktors. Die so verständliche Mahnung, dass es keine militärischen Lösungen gebe, führt leider immer wieder dazu, dass denjenigen Akteuren die Eskalationsdominanz überlassen wird, die militärische Lösungen durchsetzen. Anstatt zum Beispiel die Option von Waffenlieferungen an die Ukraine zumindest als Verhandlungsmasse zu verwenden (Ischinger/Bunde 2015a, S. 8), wurde dies von der deutschen Politik bereits von Anfang an ausgeschlossen und untergrub damit gleichsam auch eine mögliche gemeinsame Positionierung mit den Partnern. Im

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Zweifel profitieren davon diejenigen, die weniger Skrupel kennen. Wolfgang Seibel (2015) hat anhand der deutschen Diplomatie in Bezug auf den Krieg in der Ukraine gezeigt, wie schwer sich Deutschland damit tut, Akteuren entgegen zu treten, die der Logik einer Zivilmacht eben gerade nicht folgen. Aufgrund der veränderten Lage wird sich die deutsche Politik aber verstärkt mit diesen Fragen auseinandersetzen müssen. Das Modell der Zivilmacht war in seiner ursprünglichen Form die perfekt auf die Nachkriegsordnung ausgerichtete Strategie. Aber was macht eine Zivilmacht, wenn sich die Bedingungen ihres Erfolgs auflösen (vgl. auch Maull 2018, S. 134)?

3.4

Anpassung der Ziel-Mittel-Relationen – Außen- und Sicherheitspolitik zum Sparpreis?

Nicht zuletzt ist die deutsche Sicherheitspolitik von einem Missverhältnis zwischen den formulierten (oder auch impliziten) Zielen und den dafür vorgesehenen Mitteln gekennzeichnet. Das mag in früheren Jahren weniger problematisch gewesen sein, weil Deutschland von einer sehr vorteilhaften sicherheitspolitischen Lage profitieren konnte, in der die mangelnde Übereinstimmung von Zielen und Mitteln nicht weiter auffiel. Heute sieht die Situation anders aus. Im Wesentlichen gibt es zwei Optionen: die Anpassung der Ziele oder die Anpassung der Mittel. Die erste Option mag angebracht sein, wenn es um die Einhegung überambitionierter Strategien geht. Wenn es aber bei einigen grundlegenden Ziele keine Kompromisse geben kann und sollte, muss auch darüber nachgedacht werden, ob die vorgenommene Allokation der Budgetmittel angemessen ist. Bedauerlicherweise hat sich die Debatte in jüngster Zeit vor allem auf das ZweiProzent-Ziel der NATO beschränkt, demzufolge alle Mitgliedstaaten mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung aufwenden sollten. Die Schwächen dieser Zielmarke sind hinlänglich bekannt und insbesondere in Deutschland detailliert diskutiert worden: So sagt der Anteil der Verteidigungsausgaben am BIP wenig darüber aus, ob diese sinnvoll ausgegeben werden oder die entsprechenden Fähigkeiten auch der NATO zur Verfügung gestellt werden. Auch bleibt die Zahl letztlich eine arbiträre Größe (Kornelius 2018). Dennoch muss der historische Vergleich zumindest nachdenklich stimmen. Bis zu Beginn der 2000er Jahre gaben die europäischen NATO-Mitglieder im Schnitt noch über zwei Prozent ihres BIP für Verteidigung aus. Zu Zeiten des Kalten Kriegs lagen die Ausgaben der Europäer im Schnitt deutlich über drei Prozent (vgl. Bachmann et al. 2017, S. 17). Auch die Bundesrepublik Deutschland gab zwischen 1959 bis 1967 immer mindestens vier und zwischen 1968 und 1986 jedes Jahr über drei Prozent für Verteidigung aus. Erst ab dem Jahr 2000 fiel der Anteil unter 1,5 Prozent des

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BIP (Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags 2017, S. 6). Angesichts der veränderten sicherheitspolitischen Lage erscheint das gegenwärtige Ausgabenniveau im Bereich der Verteidigung also auch im historischen Vergleich als unzureichend. Denn wer wollte argumentieren, die heutige Lage sei wesentlich stabiler als beispielsweise jene in den 1990er Jahren? Dass die Bundeswehr einen massiven Finanzbedarf aufweist, um ihre langfristige Einsatzfähigkeit und internationale Verlässlichkeit sicherzustellen, ist unter Fachleuten jedenfalls unbestritten (Giegerich 2018; Mölling et al. 2018). Interessanterweise ist es auch nicht unbedingt so, dass die Bundesrepublik zum Ausgleich besonders stark in andere Instrumente investieren würde. Auch bei den Investitionen in Diplomatie oder Entwicklungszusammenarbeit besteht weiterhin Nachholbedarf (Ischinger und Bunde 2015b, S. 323). Vor diesem Hintergrund erscheint ein weiter definiertes Ziel sinnvoll, das über die reinen Verteidigungsausgaben hinausgeht und auch die anderen Beiträge eines Staates erfasst. So wäre beispielsweise ein Drei-Prozent-Ziel (Bunde 2017b, S. 240–241; Ischinger 2017; S. 276) denkbar, das Ausgaben in den Bereichen Verteidigung, Diplomatie und Entwicklungszusammenarbeit kombiniert. Auch hier bewegt sich Deutschland jedoch im europäischen Vergleich allenfalls im Mittelfeld und ist vom zugegebenermaßen ambitionierten Drei-Prozent-Ziel noch weit entfernt (Koenig/Haas 2017, S. 10).

3.5

Kommunikation einer Grand Strategy – Außen- und Sicherheitspolitik ohne Erklärung?

Es mag sein, dass zentrale sicherheitspolitische Fragen in der Vergangenheit zum Teil auch gegen die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung getroffen worden sind. Langfristig kann (und sollte) Außenpolitik in liberalen Demokratien aber nicht ohne die zumindest grundsätzliche Unterstützung durch die Bevölkerung betrieben werden. Grand Strategy kann schon deswegen kein Arkanbereich von Regierungen mehr sein. Sie kann heute nicht mehr einfach in Hinterzimmern erdacht und dann gewissermaßen als Masterplan nur noch von den Eingeweihten ausgeführt werden. Sie braucht Legitimation, wenn sie effektiv sein soll.12 Umso wichtiger 12 Dieser Gedanke ist der Literatur zu Grand Strategy nicht fremd, wird doch immer wieder darauf verwiesen, dass Grand Strategy alles im Blick haben muss, was ihren langfristigen Erfolg untergraben könnte. Dazu zählt natürlich auch die Unterstützung der Bevölkerung. Insofern ist auch Siloves Verengung des Begriffs auf individuelle Pläne bzw. Ideen kritisch zu sehen, berücksichtigt man insbesondere die konstruktivistische Literatur zu kollektiv geteilten Ideen und Identitäten, die für die Untersuchung von Grand Strategy von besonderer Bedeutung sein könnten. Zwar mag man in der Tat unter bestimmten

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ist es, dass grundlegende Entscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik von den führenden Politikerinnen und Politikern auch öffentlich begründet und erläutert werden. Das Schlagwort „mehr Verantwortung“ erfordert, wie Bierling (2017, S. 270–271) betont, „von den politischen Eliten, die Bevölkerung von der Notwendigkeit internationalen Engagements zu überzeugen und isolationistischen Neigungen entgegenzutreten. Dieser Führungsaufgabe nach Innen ist die deutsche Politik bisher nur unzureichend nachgekommen.“ So entsteht der Eindruck, dass eine Auseinandersetzung über „die grundlegenden außenpolitischen Fragen unserer Zeit eher vermieden als gesucht wird: Sie ist oft unbequem und anstrengend“ (Ischinger 2018b, S. 9). Dass die Forderung von Fachpolitikern (Schockenhoff und Kiesewetter 2012, S. 94), die Bundesregierung jedes Jahr zur Vorstellung eines Berichts zur sicherheitspolitischen Lage und einer außen- und sicherheitspolitischen Generaldebatte im Bundestag zu verpflichten, nicht umgesetzt wurde, spricht Bände. Dabei lässt sich argumentieren, dass die Bevölkerung möglicherweise viel empfänglicher für überzeugende Argumente ist und die immer wieder vorgebrachte Entschuldigung, eine zurückhaltende Öffentlichkeit, der man mehr nicht zumuten könne, verhindere ein stärkeres sicherheitspolitisches Engagement Deutschlands, nur vorgeschoben wird (von Marschall 2018, S. 10–11). In der Konsequenz führt dies dazu, dass manche durchaus weitreichende Entscheidungen hin zu „mehr Verantwortung“ in kleinen Schritten fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit umgesetzt werden, was vielleicht kurzfristig bequemer ist, aber langfristig durchaus gefährlich werden könnte. Ein markantes Beispiel ist die Kommunikation der deutschen Beteiligung an der „verstärkten Vornepräsenz“ (enhanced forward presence) der NATO in Polen und den Baltischen Staaten. Seit Anfang 2017 hat die Bundeswehr die Führungsverantwortung für ein multinationales Bataillon im litauischen Rukla übernommen. Mit diesem Engagement verdeutlicht die Bundesregierung ganz konkret ihre Solidarität mit den Bündnispartnern und sendet gemeinsam mit anderen NATO-Staaten ein klares Abschreckungssignal an Russland. Bündnisverteidigung ist also wieder gelebte Alltagspraxis der Bundeswehr – sie findet heute nur eben nicht mehr an der innerdeutschen Grenze statt, sondern an der Ostflanke der NATO. Bei der Entscheidung, ein Bundeswehrkontingent nach Litauen zu entsenden, handelte Umständen die Grand Strategy einzelner Personen in den Blick nehmen. Generell scheint für die Analyse staatlicher Grand Strategies aber gerade das interessant zu sein, was von den maßgeblichen Akteuren innerhalb der staatlichen Eliten, möglicherweise aber auch in weiteren Teilen der Bevölkerung, geteilt wird bzw. wie Legitimation hergestellt werden kann. Vgl. z. B. die jüngere Literatur zu Grand Strategy, Rhetorik und Legitimation (z. B. Goddard und Krebs 2015; Mitzen 2015), ontologischer Sicherheit (z. B. Della Salla 2018) oder strategischen Narrativen (Miskimmon, O’Loughlin und Roselle 2017; Schmitt 2018).

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es sich also keineswegs nur um eine kleine Anpassung, sondern um eine erste Antwort auf eine fundamentale Veränderung des europäischen Sicherheitsumfelds. In der Bevölkerung vorhandenen Sorgen bezüglich einer Eskalation in den Beziehungen mit Russland begegnet man aber nicht damit, dass man zwar das Richtige tut, es dann aber nicht öffentlich begründet und diese deutliche Neuausrichtung deutscher Russlandpolitik auch offensiv und klar genug kommuniziert. Selbst Befürworter des deutschen Engagements hielten sich – mit Ausnahme der Verteidigungsministerin – zu Beginn deutlich zurück, obwohl die westdeutsche Geschichte das naheliegende Argument liefert, dass heute von Deutschland die Solidarität gefordert ist, die es selbst in den Jahren des Kalten Kriegs erfuhr. So wie sich heute Polen und Balten eine dauerhafte Präsenz von NATO-Soldatinnen und -Soldaten auf ihrem Territorium wünschen, insistierte die Bundesrepublik damals darauf, dass ihre Alliierten unweit der innerdeutschen Grenzen postiert waren. Wer sollte dies besser als die Deutschen verstehen können?13 Nicht zuletzt ist die deutsche Beteiligung an der NATO-Mission auch eine Voraussetzung für die stärkere Betonung des Dialogs mit Russland im Rahmen der NATO, welche die Bundesregierung im Sinne einer Doppelstrategie anstrebt. Die Präsenz der Bundeswehr soll gerade eine Eskalation durch Abschreckung unwahrscheinlicher machen. Abschreckung kann aber nur dann effektiv sein, wenn sie auch glaubwürdig ist. Gerade deswegen ist die öffentliche Meinung ein wesentliches Element der Verteidigungspolitik. Laut einer Pew-Umfrage von 2017 waren nur 40 Prozent der Befragten in Deutschland der Auffassung, die Bundeswehr solle eingreifen, um Deutschlands Bündnispartner zu verteidigen, sollten diese in einen Konflikt mit Russland geraten. In keinem Land lagen die Zahlen niedriger (Pew Research Center 2017).14 Angesichts der vielfältigen weltpolitischen Veränderungen werden auf die Bundesrepublik Deutschland Entscheidungen von potentiell großer Tragweite zukommen, bei denen Bundesregierung und Bundestag auf Rückhalt in der Bevölkerung angewiesen sind. Dieser Rückhalt lässt sich aber weder über Nacht herstellen noch stellt er sich auf Dauer von selbst ein. Grand Strategy benötigt überzeugende stra-

13 Diese historische Analogie wurde von führenden Politikerinnen und Politikern erstaunlicherweise nicht genutzt. Der deutsche Botschafter bei der NATO, Hans-Dieter Lucas (2016), hingegen machte sich dieses Argument zu eigen: „Just as the Federal Republic of Germany could count on its Allies‘ support during the Cold War, we are today saying to our eastern and southern Allies: Your worries are our worries, and your security is our security. Both the North Atlantic Alliance and Germany’s security policy are built on this foundation of mutual solidarity […].“ 14 Dieser Abschnitt beruht auf Bunde (2017a).

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tegische Narrative und die Bereitschaft, möglicherweise unangenehmen Debatten nicht aus dem Weg zu gehen.

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Der Mehrwert einer vertieften Auseinandersetzung über die deutsche Grand Strategy

Angesichts der veränderten sicherheitspolitischen Großwetterlage und der skizzierten deutschen Herausforderungen spricht viel dafür, dass es sich lohnt, darüber nachdenken und zu streiten, welche Interessen prioritär verfolgt werden sollen, welche Instrumente dafür benötigt und eingesetzt und welche Mittel zur Verfügung gestellt werden müssen. In Zeiten der Krise schlägt die Stunde der Grand Strategy. An dieser Stelle sollte jedoch möglichen Missverständnissen vorgebeugt werden. Erstens ist eine neue Grand Strategy kein Allheilmittel für alle Probleme deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Dieses Plädoyer für eine Auseinandersetzung über die Fragen deutscher Grand Strategy sollte nicht insofern missverstanden werden, als damit suggeriert werden sollte, es könne eine einfache, übersichtliche Handlungsanleitung oder einen Kriterienkatalog geben, der im Zweifel für alle Fragen eine Antwort hat.15 Es wird nicht das eine Schlagwort, das eine organisierende Prinzip geben, an dem sich deutsche Außen- und Sicherheitspolitik in allen kritischen Fragen orientieren kann. Dieser Mythos wird regelmäßig in der immer wiederkehrenden Debatte über die angeblich fehlende „klare Definition nationaler Interessen“ bedient, die dann mittels einer Matrix im Handumdrehen Klarheit verschaffte (Rusche et al. 2010, vgl. Zamirirad 2011). Selbstverständlich geht es in einer Strategiedebatte auch darum, über Interessen zu streiten. Denen, die lautstark eine Definition nationaler Interessen fordern, geht es aber häufiger weniger darum, über die Grundlagen deutscher Außenpolitik zu debattieren, sondern eher darum, angeblich objektive Interessen zu verkünden (Bunde 2010 und Oroz 2010) oder schlicht auf eine national ausgerichtete Politik zu drängen, die langfristig gerade nicht im aufgeklärten deutschen Interesse wäre, weil sie die mit der „Unterminierung langfristig angelegter, regelbasierter multilateraler Arrangements“ die Grundlagen des deutschen außenpolitischen Erfolgs gefährdet (Hellmann 2018, S. 27). Die wichtigsten deutschen Interessen sind weniger umstritten als oft behauptet – und in gewisser Weise recht banal (vgl. Bundesregierung 2016, S. 24–25). Die Idee einer 15 Siehe auch Brands (2014, S. 206): „Too often, grand strategy is thought of as a grandiose, transformative project to remake global order, or as a panacea that will wipe away the complexity of world affairs.“

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Grand Strategy legt im Vergleich geradezu den Blick auf die interessantere Frage, wie die wichtigsten Interessen in welcher Priorisierung mit welchen Instrumenten unter der Berücksichtigung wesentlicher Rahmenbedingungen langfristig am besten erreicht werden können. Zweitens entsteht eine neue Grand Strategy weder über Nacht noch kann sie in der modernen Demokratie im Hinterzimmer ausgeheckt werden. Viel wichtiger als das mögliche Ergebnis ist der Prozess selbst, die „kontinuierliche und im Lichte wechselnder Lagen anpassungsfähige Selbstverständigung über das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Zielen und Mitteln angemessener ‚Sicherheitsvorsorge‘“ (Jacobi und Hellmann 2018, S. 4). In dieser Hinsicht haben die institutionellen Bemühungen um den Review-Prozess im Auswärtigen Amt oder das Weißbuch im Bundesministerium der Verteidigung genauso wie unterschiedliche Versuche in Universitäten, Think Tanks und Zivilgesellschaft, eine intensivere und verschiedenste Akteure einbeziehende Debatte über Außen- und Sicherheitspolitik anzustoßen (z. B. Stiftung Wissenschaft und Politik/German Marshall Fund of the United States 2013; Hellmann, Jacobi und Stark Urrestarazu 2015; Ischinger und Messner 2017), bereits wichtige Beiträge geleistet. Alternative Formate, wie sie beispielsweise der „Grassroot-Thinktank“ Polis 180 ausprobiert, oder Podcasts wie „PeaceByPeace“ (Brockmeier 2018) und „Sicherheitshalber“ (Franke et al. 2018) bieten hilfreiche Orientierung und Reibungsfläche für die strategische Debatte – möglicherweise auch für Zielgruppen, die über die bekannte strategic community hinausgehen. Und während bei den Studierenden große Nachfrage nach der Befassung mit den strategischen Fragen der Außenpolitik besteht, gibt es an deutschen Universitäten noch Nachholbedarf an entsprechenden Lehrangeboten und Stellen, wie der damalige Bundespräsident Joachim Gauck (2014) in München betonte: „Um seinen Weg in schwierigen Zeiten zu finden, braucht Deutschland Ressourcen, vor allem geistige Ressourcen – Köpfe, Institutionen, Foren. Jedes Jahr eine Sicherheitskonferenz in München – das ist gut, aber nicht genug. Ich frage mich: Ist es nicht an der Zeit, dass die Universitäten mehr anbieten als nur eine Handvoll Lehrstühle für die Analyse deutscher Außenpolitik?“ Grand Strategy erfordert eine andauernde und langfristige Anstrengung. Denn wie Gunther Hellmann und Daniel Jacobi (Jacobi und Hellmann 2018, S. 3) ausführen, ist die Vorstellung von einer einzelnen großen Debatte, die „wie ein reinigendes Gewitter über die Landschaft deutscher Sicherheitspolitik ziehen und im Sonnenschein eines sicherheitspolitischen Konsenses enden könnte“, eine Illusion. Wenn hier die Auffassung vertreten wurde, dass eine Auseinandersetzung über die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik entlang der Linien einer Grand Strategy überfällig und wünschenswert wäre, beruht sie also nicht auf der Annahme, dass eine einzige Grundsatzdebatte diese schwierigen Fragen zur allgemeinen Zufriedenheit eindeutig beantworten könnte. Es ist allein ein

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Plädoyer dafür, die Fragen, die das Konzept Grand Strategy aufwirft, immer wieder zu thematisieren: Welche Konsequenzen hat eine veränderte sicherheitspolitische Lage? Müssen Ziele oder Mittel angepasst werden? Welche Ziele sind prioritär zu verfolgen? Welche Instrumente müssen gestärkt werden? Wie werden abstrakte Vorstellungen oder Schlagworte wie „mehr Verantwortung“, „strategische Autonomie“ oder eine „Allianz der Multilateralisten“ in konkretes außenpolitisches Handeln übersetzt, wenn sie mehr als Floskeln sein wollen? Und wie wird ein kohärentes Außenhandeln sichergestellt, welches die wichtigsten langfristigen Ziele im Blick behält? Wie Sebastian Enskat (2014, S. 90) zurecht bemerkt, ist es also „vielmehr der Weg, der eine Debatte über Grand Strategy lohnenswert macht.“

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Wirklich strategiefrei? Eine Rekonstruktion des Strategieverständnisses in Weißbüchern der Bundesregierung Jan Fuhrmann

Zusammenfassung

Die Klage, dass es deutscher Sicherheitspolitik an Strategie mangele, ist auf politischer, akademischer und medialer Ebene gegenwärtig. Da die Bundesregierung jedoch in unregelmäßigen Abständen Leitliniendokumente veröffentlicht, denen ein strategischer Charakter zugeschrieben wird, stellt diese Studie die Frage, welche Vorstellung von Strategie den Weißbüchern der Bundesregierung zugrunde liegt. Dazu rekonstruiert sie den sprachlichen Gebrauch des Konzepts sowie Ziele und Mittel deutscher Sicherheitspolitik. Dabei offenbart die Studie ein Verständnis von Strategie, welches wesentlich adaptiver und dynamischer erscheint als akademisch etablierte (Grand-) Strategiekonzepte. Letztlich argumentiert der Beitrag, dass so eine Verständnislücke zwischen Strategie- und Wissenschaftspraktikern entsteht, die mit der reinen Erneuerung der Klage über deutsche Strategielosigkeit reproduziert wird. Schlüsselbegriffe

Strategie, Weißbuch, Deutsche Sicherheitspolitik, Pragmatismus, Grounded Theory

1 Einleitung Die Klage, dass es Deutschland an Strategie mangele, kann getrost als ein Standardnarrativ im Repertoire zu Debatten um deutsche Außen- und Sicherheitspolitik gezählt werden. In fast schon regelmäßigen Abständen wird der Vorwurf © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Jacobi und G. Hellmann (Hrsg.), Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Edition ZfAS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6_4

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der Strategielosigkeit sowohl von politischer, medialer als auch akademischer Seiter erhoben. Stellvertretend für diesen Narrativ lassen sich drei aktuelle Diskursbeiträge exemplarisch nennen. So forderte der damalige geschäftsführende Bundesaußenaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) in einer Grundsatzrede bei einer Veranstaltung der Körber-Stiftung in Berlin im Dezember 2017 eine „strategischere Außenpolitik“ (Gabriel 2017, S. 9). Mit ihrem essayistischen Buch „Führungsmacht Deutschland. Strategie ohne Angst und Anmaßung“ erheben Leon Mangasarian und Jan Techau (2017) eine ähnliche Forderung, während Maximilian Terhalle (2018) in einem Beitrag der Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik einen Mangel von Strategielehre als Forschungs- und Lehrthema in der akademischen Landschaft Deutschlands diagnostiziert. Dass sogar das Weißbuch 2016 als ranghöchstes sicherheitspolitisches Leitliniendokument der Bundesregierung ein ganzes Kapitel mit dem Titel „Strategiefähigkeit fördern und ausbauen“ versieht, kann – überspitzt formuliert – als ein Eingeständnis der vermeintlichen Defizite in der Bildung, Formulierung und Umsetzung von (Sicherheits-)Strategien interpretiert werden. Intuitiv betrachtet erscheint dieses Narrativ des Strategiemangels jedoch verwunderlich. Schließlich publiziert die Bundesregierung (oder einzelne ihrer Organe) in unregelmäßigen Abständen Leitliniendokumente, wie das Weißbuch zur Sicherheitspolitik 2016 (Bundesregierung 2016) oder die 2017 erschienenen Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ (Bundesregierung 2017). Zwar werden diese Texte nicht direkt als Strategie bezeichnet, dennoch wird ihnen oftmals zumindest ein strategischer Charakter zugeschrieben (Schwegmann 2017, S. 221). Entsprechend stellt die diesem Beitrag zugrundeliegende Studie die Frage, welches Verständnis von Strategie den vergangenen drei Weißbüchern (aus den Jahren 1994, 2006 und 2016) unterliegt.1 Um diese Fragestellung zu beantworten, entwickelt sie mithilfe eines rekonstruktionslogischen (Herborth 2010; Franke und Roos 2010) pragmatistischen Forschungsrahmens (Hellmann 2010), sowie der Methodologie der Grounded Theory (Strauss und Corbin 1998; Glaser und Strauss 1967; Strübing 2014), zentrale Kategorien bzw. Konzepte eines Strategieverständnisses der Bundesregierung in ihren letzten drei Weißbüchern. Die Rekonstruktion dieses aus der Praxis heraus erarbeiteten Strategieverständnisses erscheint vor allem deshalb lohnenswert, da dieses einen relativ großen Kontrast zu Strategiekonzepten aus dem Bereich der Grand Strategy und damit einherge-

1 Die Ergebnisse dieser Studie entstanden im Rahmen meiner Masterarbeit im Fach Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main im Wintersemester 2017/18. Für die hilfreichen Gespräche und die Unterstützung im Erstellungsprozess danke ich Gunther Hellmann und Daniel Jacobi. Für die Beratung in Fragen der Methodologie der Grounded Theory danke ich Iris Wurm.

Wirklich strategiefrei?

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henden Konzeptionen von Strategie als einer relativ starren Ziel-Mittel-Festlegung offenbart. Vielmehr zeigt sich in der Rekonstruktion ein dynamisches Verständnis von Strategie als „adaptive[m] komplexe[n] System“2. Folgt man diesem Gedanken, liegt der Schluss nahe, dass Akteure aus sicherheitspolitischer und akademischer Praxis in der deutschen Strategiedebatte aufgrund unterschiedlicher (impliziter) Referenzkonzepte von Strategie aneinander vorbeireden. Nach einer knappen Darstellung meiner ontologischen und epistemologischen Prämissen sowie der methodischen Vorgehensweise, werde ich in diesem Beitrag die zentralen Kategorien und Rekonstruktionsergebnisse darstellen, um im Anschluss daran die angesprochenen Kontraste zu bestehenden akademischen Konzepten von Strategie zu skizzieren. Abschließend werde ich argumentieren, dass eine deutsche Strategielücke vor allem in der Theorie-Praxis-Lücke des Verständnisses über den Begriff der Strategie selbst liegt. Somit reifiziert das eingangs beschriebene Narrativ einer deutschen Strategielosigkeit diese Lücke lediglich und verhindert ein Fortschreiten des Diskurses, was weder im Interesse der Strategiepraktiker noch der Strategieforschung sein kann.

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Epistemologische Prämissen und Methodologie

In diesem Kapitel möchte ich zum Zwecke der Transparenz und Nachvollziehbarkeit zunächst die sozialtheoretischen Grundannahmen und forschungslogischen Setzungen darstellen, auf denen die vorliegende Studie basiert. Sie fußt zentral auf den Annahmen des Pragmatismus als Theorie des menschlichen Denkens und Handelns (Dewey 1934). So fasst Hellmann (2010, S. 150) treffend zusammen: „Wir denken, weil wir handeln müssen, nicht umgekehrt (wenn man denn überhaupt eine starke Unterscheidung zwischen Denken und Handeln bzw. eine prozessuale Abfolge zwischen beidem einführen will […]“. In der Konsequenz heißt dies, dass Denken und Handeln immer notwendigerweise interdependent aufeinander bezogen sind und der Dualismus bzw. die Trennung dieser beiden Begriffe durch

2 Das Zitat stammt von einem hochrangigen deutschen Offizier, der zentral am Erstellungsprozess des Weißbuches 2016 beteiligt war. Es fiel auf einem Workshop zu Strategiebildung, der Ende April 2018 in Berlin unter Chatham House Rules von der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Bundesakademie für Sicherheitspolitik durchgeführt wurde. Ein Konferenzbericht erscheint voraussichtlich in Ausgabe 01/2019 der Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik.

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den Pragmatismus signifikant geschwächt, wenn nicht gar aufgelöst wird3. Damit ergibt sich für den Pragmatismus ein spezifisches Verständnis von Realität: „Realität ist im Pragmatismus zwar ‚real‘ in dem Sinne, dass da etwas ist; das was es ist, befindet sich aber in einem Prozess kontinuierlichen Werdens“ (Strübing 2014, S. 48). So betrachtet konstruiert auch die Bundesregierung in ihren Weißbüchern eine spezifische und kontextgebundene Form der Realität von Strategie. Diese Handlungsüberzeugungen (Peirce 1992, S. 129) werden im Rahmen dieser Studie rekonstruiert. Als rekonstruktiver Zugang (Herborth 2010; Roos 2010; Franke und Roos 2010, 2013) wurde für diese Studie die Methodologie der Grounded Theory (Glaser und Strauss 1967; Strauss und Corbin 1998; Strauss 1994; Strübing 2014) gewählt. Dabei stand vor allem die Ergebnisoffenheit ihrer interpretativ angelegten Verfahren im Mittelpunkt4. Statt bestehende theoretische Konzepte auf das Datenmaterial der Weißbücher zu projizieren, stand die Rekonstruktion zentraler Konzepte und deren Relationen zueinander im Vordergrund. Dabei wurden die Verfahren des offenen und axialen Kodierens durchgeführt, die dazu dienen das Datenmaterial anhand von generativen Leitragen aufzubrechen, um dann zentrale Kategorien zu identifizieren und deren Eigenschaften auszuarbeiten und so zu dimensionalisieren. Um der Frage nach der Strategievorstellung der Bundesregierung nachzugehen, wurden verschiedene Leitragen an das Material herangetragen. In Anlehnung an das Diktum von Ludwig Wittgenstein, dass Begriffe ihre diskursive Bedeutung erst über ihre Verwendung und Nutzung erhalten (Wittgenstein et al. 2009, S. 43), wurde gefragt, wie die Bundesregierung die Begriffe Strategie und strategisch verwendet. Daran anschließend wurde der Text nach Zielen und Mitteln deutscher Sicherheitspolitik befragt. Dabei wurde jedoch nicht von einer zweckrationalen Ziel-Mittel-Beziehung, sondern in Anlehnung an John Dewey von einem offenen und potenziell reziproken Verhältnis im Sinne von „ends-in-view“ (Joas 1992, S. 227) ausgegangen. Somit sind Handlungsmittel nicht unbedingt neutral gegenüber Handlungszielen, da sich Ziele auch aus der Wahl der Mittel ergeben können:

3 Dies bedeutet in der Konsequenz auch eine Auflösung des (sozial konstruierten) Dualismus von Theorie und Praxis, der von Pragmatisten abgelehnt wird. Insofern ist auch Forschung, die mithin der Bildung von Theorien dient, ein praktischer Prozess und damit nicht vom Handeln (und ggf. den Erfahrungen) des Forschenden zu trennen. 4 Die prinzipielle Ergebnisoffenheit und Irritationsfähigkeit hebt die Verfahren der Grounded Theory im Rahmen dieses Projekts beispielsweise gegenüber der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2010; Mayring und Fenzl 2013) hervor und lässt gleichzeitig größere Textmengen zu, als z. B. die Verfahren der objektiven Hermeneutik (Oevermann 2000).

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„Mittel spezifizieren also nicht nur Ziele, sie erweitern auch den Spielraum möglicher Zielstellung. ‚Ends-in-view‘ sind deshalb nicht vorschwebende Zukunftszustände, sondern Handlungspläne, die das gegenwärtige Handeln strukturieren. Sie leiten uns bei der Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten des Handelns, werden aber auch selbst von unserer Wahrnehmung solcher Möglichkeiten beeinflußt. Als Ziel bezeichnet Dewey also ‚die Voraussicht der einander ausschließenden Folgen, die sich aus verschiedenen, in einer gegebenen Sachlage möglichen Handlungen ergeben, und die Verwertung dessen, was vorausgesehen wird, zur Leitung der Beobachtungen und Ausführungsversuche.“ (Joas 1992, S. 227, eigene Hervorhebung)

Ergänzend zu diesen zwei zentralen Leitfragen wurden – ähnlich dem journalistischen Arbeiten – immer wieder ein Bündel W-Fragen an die entsprechenden Texte herangetragen (Wer? Was? Wie? Wann? Warum?). Dies dient dazu, erste Informationen über mögliche Interpretationen von Zusammenhängen und Funktionsmechanismen der Konzepte zu generieren (Jasper 2013, S. 47). Auf ein klassisches selektives Kodieren (Strauss und Corbin 1998, S. 143) wurde im Rahmen des Forschungsprozesses verzichtet, da es kein Ziel war, eine geschlossene Theorie deutscher Strategie zu erarbeiten, sondern vielmehr zentral mit Strategie assoziierte Kategorien und ihre Ausprägungen zu erarbeiten5. Die Beziehungen, die sich im Rahmen der Analyse zwischen den Kategorien ergeben haben, lassen sich jedoch zu einem Modell der Sicherheitsvorsorge zusammensetzen, das ich als ein verdichtendes Interpretationsangebot meiner Forschungsergebnisse später darstellen werde. Als Datenmaterial für die Rekonstruktion der Strategievorstellungen wurden die Weißbücher der Jahre 1994, 2006 und 2016 herangezogen (Bundesregierung 1994, 2006, 2016)6. Die Analyse dieser strategisch konnotierten Dokumente erscheint aus zwei Gründen sinnvoll. Zum einen weisen diese Dokumente einen hohen Grad an Intentionalität auf. Zum anderen kann man Sicherheitsstrategien als einen Versuch verstehen, eine gedankliche Sortierung in alltägliche Sicherheitsprobleme zu bringen, wie Max Boot (2017) es beschreibt: „They are worth paying attention to mainly because they represent an attempt by an administration to bring some

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Zudem zieht dieser letzte Schritt der Grounded Theory immer wieder Kritik auf sich, da er eine Engführung der vorher stattgefundenen Interpretationsarbeit implizieren kann. Dabei läuft der Forscher Gefahr „ausschließlich ‚schöne Stellen‘ zu analysieren […] und minimiert so die Wahrscheinlichkeit, auf Sequenzen zu stoßen, die nicht dazu geeignet sind, den Bestand jener Erklärungen zu hinterfragen, die sich auf die ‚Nicht-Schlüsselkategorien‘ beziehen.“ (Roos 2010, S. 107). 6 Der Untersuchungszeitraum umfasst damit alle Weißbücher, die seit der deutschen Wiedervereinigung im Oktober 1990 und dem Wegfall der Blockkonfrontation des Kalten Krieges veröffentlicht wurden.

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intellectual coherence to the day-to-day press of decisions on myriad matters.“ Um weitere Kontrastierungen im Datenmaterial herbeizuführen, wurden im Rahmen des „theoretical sampling“ (Strauss und Corbin 1998, S. 201) ebenso Äußerungen von Regierungsvertretern (Rühe 1994; Jung 2006; von der Leyen 2016) in die Analyse einbezogen, die im Kontext der Vorstellung der jeweiligen Weißbücher getätigt wurden.

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Zur Begriffsverwendung des Strategischen

Fragt man danach, wie die Bundesregierung die Begriffe Strategie und strategisch in ihren Weißbüchern7 nutzt und welche Konnotationen und Bedeutungsdimensionen damit verbunden sind, lassen sich sechs Aspekte herausarbeiten: Konflikthaftigkeit, Einbettung, Zeit, Zielorientierung und Handlungsanleitung, Beziehung sowie Kompetenzbedarf. Diese sollen im Folgenden dargestellt werden. Daran anschließend werden die rekonstruierten Ziele und Mittel deutscher Sicherheitspolitik dargestellt, um diese anschließend in einem Modell der Sicherheitsvorsorge verdichtend zusammenzuführen.

3.1 Konflikthaftigkeit Die erste Konnotation, welche beim Aufbrechen des Textmaterials der drei Weißbücher auffiel, war, dass die Begriffe Strategie bzw. strategisch meist in einem Kontext von potentiellem Konflikt, Risiko, Bedrohung, Sicherheit bzw. Unsicherheit verwendet werden, wie das folgende Zitat8 darstellt:

7 Eine direkte Nutzung des Begriffes des Begriffes Strategie findet in den untersuchten drei Weißbüchern nur selten, und wenn zumeist in Bezug auf die Europäische Sicherheitsstrategie oder die strategischen Konzepte der NATO statt. Dahingegen findet der Begriff strategisch als Adjektiv oder Adverb deutlich öfter Verwendung. Auch insgesamt betrachtet, ist die Nutzungshäufigkeit der Begriffe Strategie bzw. strategisch über die drei untersuchten Weißbücher hinweg angestiegen: Kamen sie im Weißbuch 1994 noch dreimal vor, stieg ihre Nutzung auf 75-mal im Weißbuch 2016 und 88-mal im Weißbuch 2016 an. 8 Die hier dargestellten Zitate stehen exemplarisch für vergleichbare Stellen, die im Prozess des Kodierens vergleichend analysiert wurden.

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„Militärische Konflikte, die Deutschlands Existenz gefährden können, sind unwahrscheinlich geworden, vor allem solange sich Deutschland im Verbund mit der Nordatlantischen Allianz die Fähigkeit zu seinem Schutz bewahrt. Im zukünftigen strategischen Umfeld sind militärische Risiken nur noch Teil eines breiten Spektrums sicherheitspolitischer Einflußgrößen.“ (Bundesregierung 1994, S. 39)

Ein zweiter Aspekt, der hier hervorsticht, ist der Begriff der „Einflussgrößen“, die Wirkungen auf das „strategische Umfeld“ (Bundesregierung 1994, S. 39) zu haben scheinen. Vom Vokabular ausgehend ließe sich dieser in den ökonomischen Bereich einordnen und eventuell mit intervenierenden Variablen vergleichen, die Einflüsse auf Handlungspläne ausüben und somit zu Einschränkungen führen können. Diese Interpretation verweist wiederum auf die Konflikthaftigkeit und den Aspekt des Widerstreits von Zielen oder Interessen, die mit dem strategischen Umfeld und somit mit dem Begriff der Strategie konnotiert werden. Der Widerstreit von Interessen und der Aspekt der Konflikthaftigkeit spiegeln sich auch in der folgenden Aussage zu strategischer Beharrlichkeit wieder: „Den enormen Herausforderungen, die mit der nachhaltigen Stabilisierung fragiler, scheiternder und gescheiterter Staaten verbunden sind, wird Deutschland mit strategischer Beharrlichkeit begegnen.“ (Bundesregierung 2016, S. 60)

Dabei verweist Beharrlichkeit neben einer zeitlichen Komponente auch auf einen Durchhaltewillen, welchen es benötigt, um Ziele zu erreichen. Dies scheint auch den Umgang mit kontraproduktiven Einflüssen und Entwicklungen einzuschließen und zeigt, dass Beharrlichkeit auch entsprechende Handlungsspielräume auf dem Weg zur Zielerreichung zu erlauben scheint.

3.2 Einbettung Über die drei analysierten Weißbücher sowie begleitenden Sprechakte der Bundesregierung hinweg, kommt die Einbettung von Strategie in eine „Lage“ (Bundesregierung 1994, S. 23), „strategische Rahmenbedingungen“ (Bundesregierung 2006, S. 19) bzw. ein „sicherheitspolitisches Umfeld“ (Bundesregierung 2016, S. 27) zum Ausdruck. „Deutsche Sicherheitspolitik berücksichtigt langfristig wirkende Rahmenbedingungen ebenso wie sich wandelnde Interessen. Zu den Konstanten gehören die geografische Lage Deutschlands in der Mitte Europas und die Erfahrungen der deutschen und europäischen Geschichte, die weltweite Verflechtung als Handels- und Industrienation ebenso wie internationale Verpflichtungen, die sich insbesondere aus unserer

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Jan Fuhrmann Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und der NATO ergeben. Deutsche Sicherheitspolitik muss auch Entwicklungen in geografisch weit entfernten Regionen berücksichtigen, soweit sie unsere Interessen berühren. Diese sind nicht statisch, sondern abhängig von internationalen Konstellationen und Entwicklungen. Interessen können im Zeitalter der Globalisierung nicht allein geografisch definiert werden.“ (Bundesregierung 2006, S. 23)

Insbesondere in einer verschriftlichten Form dienen Strategien aus Sicht der Bundesregierung aber auch dazu, selbst eigene Handlungen einzubetten: „Die Europäische Sicherheitsstrategie bildet den strategischen Rahmen für den Einsatz des Instrumentariums der Europäischen Union.“ (Bundesregierung 2006, S. 41)

So scheint es einen externen bzw. gesetzten Rahmen zu geben, während man durch Strategie(bildung) versucht, einen (quasi internen) Rahmen zur Bewältigung des externen Rahmens zu setzen. Dabei bestehen auf beiden Einbettungsebenen große, teilweise inhärente, Dynamikpotenziale, welche eine Strategie berücksichtigen muss. Das Phänomen der doppelten Einbettung erfordert also eine ständige Rejustierung sowohl der Analyse der externen Rahmenbedingungen als auch der angemessenen Einbettung eigener Handlungen.

3.3 Zeit Für die Kategorie der Zeit haben sich aus dem Textmaterial die Begriffsachsen kurz- versus langfristig sowie Vergangenheit versus Zukunft identifizieren lassen. Dabei finden die Begriffe Strategie bzw. strategisch zumeist in Richtung der Zukunft und im Kontext von Langfristigkeit Verwendung: „Deutschland hält am langfristigen Ziel einer strategischen Partnerschaft zwischen der NATO und Russland fest.“ (Bundesregierung 2016, S. 66)

Stellenweise verweist die Bundesregierung jedoch auch auf Strategien, die sie in der Vergangenheit angewendet hat: „Die in der Vergangenheit bewährten Strategien zur Abwehr äußerer Gefahren – wie Abschreckung und Einhegung – reichen gegen die neuen asymmetrischen, häufig auch durch nichtstaatliche Akteure verursachten Bedrohungen nicht aus.“ (Bundesregierung 2006, S. 17)

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Der Faktor Zeit wirkt, wie das Zitat zeigt, auf Strategien, da sich einbettende Rahmenbedingungen sowie Sicherheitsherausforderungen ändern und im Wandel befinden. Insbesondere die Kombination von Zukunftsrichtung von Strategien bringt zudem eine höhere Ungewissheit im Hinblick auf künftige Herausforderungen mit sich.

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Zielorientierung und Handlungsanleitung

Eng in Zusammenhang mit der (zumeist angewandten) Zukunftsrichtung von Strategie ist auch die Orientierung auf bestimmte Zielsetzungen hin verbunden: „Sie [, die vernetzte Operationsführung,] berücksichtigt alle Faktoren, die zur Erreichung politischer und militärisch-strategischer Ziele erforderlich sind.“ (Bundesregierung 2006, S. 9, Einschub JF)

In der Absicht, diese Ziele und Effekte zu erreichen, werden Handlungen auf diese hin ausgerichtet und dabei den Zielen angepasst: „Die euro-atlantischen Sicherheitsinstitutionen müssen über eine wirksame Strategie der vorausschauenden Konfliktverhütung verfügen. Sie benötigen zur Beherrschung der vielfältigen Krisenlagen und zur Eindämmung von Konflikten ein flexibles und effektives Instrumentarium der politischen und militärischen Krisen- und Konfliktbewältigung.“ (Bundesregierung 1994, S. 36)

Dabei findet Handlung im Kontext von Strategie auf zwei Ebenen statt. Zum einen ist Strategie selbst eine Handlung und wird als solche wahrgenommen. Zum anderen wirkt Strategie handlungsanleitend, indem bestimmte Handlungen als Aufgaben aus Strategie abgeleitet zu werden scheinen. Folgende Textsequenz aus einer Rede des damaligen Verteidigungsministers Volker Rühe (CDU) verdeutlicht dabei die Bedeutung von Strategie als Handlung: „Die Öffnung für neue Mitglieder ist nun erklärte politische Strategie der nordatlantischen Allianz.“ (Rühe 1994)

Hinzu kommt aus Sicht der Bundesregierung die Funktion von Strategie als Handlungsanleitung. Dabei werden bestimmte Aufgaben und Tätigkeiten abgeleitet: „Um das alles leisten zu können, müssen wir aus diesen strategischen Prioritäten, die ich eben geschildert habe, auch Aufgaben – Hausaufgaben – ableiten, die gesamte Bundesregierung.“ (von der Leyen 2016)

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Aus Formulierungen wie „Strategische Prioritäten“ (Bundesregierung 2016, S. 47, eigene Hervorhebung) oder „strategischen Hauptaufgabe[n]“ (Bundesregierung 1994, S. 53, eigene Hervorhebung) lässt sich zudem interpretieren, dass Strategie im Hinblick auf die formulierten Aufgaben auch versucht, Hierarchien zwischen den Aufgaben herzustellen und Tätigkeiten zu priorisieren. Die Motivation könnte dafür mitunter eine Begrenzung der eigenen Handlungsmittel sein, die einen bewussten Einsatz notwendig macht9. Auch das folgende Zitat würde diese Interpretation unterstreichen: „Unsere sicherheitspolitischen Mittel und Instrumente sind umfangreich und vielfältig. Dennoch sind sie begrenzt. Es bedarf strategischer Entscheidungen, ob, wann und in welchem Maße sich Deutschland engagiert.“ (Bundesregierung 2016, S. 57)

Insgesamt spricht aber auch die alleinige Verwendung des Begriffs der „strategischen Prioritäten“ (Bundesregierung 2016, S. 57), welcher im Weißbuch 2016 sogar als Kapitelüberschrift dient, dafür, dass das Attribut strategisch dazu dient, bestimmt Aspekte selbst in ihrer Bedeutung für Handlungen gegenüber anderen Aspekten, die nicht-strategisch sind, hervorzuheben. Dabei zeigt sich zugleich, dass Strategie bestimmten Prinzipien im Sinne von Handlungsüberzeugungen folgt: „Die Bündnisstrategie wird weiterhin von einer Reihe grundlegender Prinzipien geprägt sein.“ (Bundesregierung 1994, S. 51)

Zugleich setzt Strategie aber wiederum Prinzipien: „Transparenz ist ein strategisches Prinzip, das sich quer durch die Agenda Rüstung zieht.“ (Bundesregierung 2016, S. 132)

3.5 Beziehung Weiterhin verweist die Begriffsverwendung von Strategie/strategisch durch die Bundesregierung auf eine Beziehung zwischen Akteuren. Diese lässt sich bei einer Betrachtung des analysierten Textmaterials in die Begriffsachsen partnerschaftlich/ kooperativ versus rivalisierend sowie die Handlungsrichtungen „defensiv versus offensiv“ aufteilen. 9 Diese Interpretation ähnelt der von Beatrice Heuser (2018, S. 2), die die Priorisierung von limitierten Handlungsinstrumenten als ein Kernelement strategischen Denkens beschreibt.

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Zur Verdeutlichung der Begriffsachse partnerschaftlich/kooperativ versus rivalisierend und deren Ausprägungen soll zunächst das Konzept der strategischen Partnerschaft in den Fokus gestellt werden: „Die strategische Partnerschaft von NATO und EU ist eine tragende Säule der europäischen und transatlantischen Sicherheitsarchitektur.“ (Bundesregierung 2006, S. 47)

Betrachtet man die Inhalte einer solchen Partnerschaft bzw. Zusammenarbeit, lassen sich diese am ehesten als konsultativ beschreiben, da der Fokus weißbuchübergreifend auf dialogischen Prozessen liegt. Denkt man den Begriff der Partnerschaft im Sinne einer Begriffsachse in die Alternative fort, landet man schnell beim Konzept der Rivalität bzw. Feindschaft. Dieses findet in den Weißbüchern, mit Ausnahme einer Textsequenz im Weißbuch 2016, keine Verwendung: „Russland wendet sich dabei von einer engen Partnerschaft mit dem Westen ab und betont strategische Rivalität. International präsentiert sich Russland als eigenständiges Gravitationszentrum mit globalem Anspruch.“ (Bundesregierung 2016, S. 32)

In diesem Zitat eröffnet die Bundesregierung selbst die besagte Begriffsachse, indem sie Russlands Abwendung von der Partnerschaft als eine Hinwendung zur „strategischen Rivalität“ (Bundesregierung 2016, S. 32) beschreibt. Daran ist bemerkenswert, dass die Rivalität einem anderen Akteur zugeschrieben wird. Zudem wird auf dieses Konzept10 an anderen Stellen verzichtet. Rivalen oder Feinde werden nicht direkt benannt, eher sieht man sich, wie im obigen Zitat, als Projektionsziel von Rivalität oder in der Zuschreibung anderer als Feind: „Unsere offene, freie und auf Respekt vor Vielfalt gründende Gesellschaft ist diesem Terror Feind und Anschlagsziel.“ (Bundesregierung 2016, S. 34)

Zwar mutet der nahezu vollständige Verzicht auf Konzepte wie Feind oder Rivale vor dem Hintergrund diplomatischer Befindlichkeiten nachvollziehbar an. Gleichwohl erscheint er paradox, stellt die Bundesregierung Strategie – wie zuvor dargestellt – doch besonders häufig in den Kontext von Konflikten.

10 Eine weitere Referenz zum Begriff des Feindes findet sich lediglich noch im Vorwort des Bundeskanzlers Kohl im Weißbuch 1994 (S. VII), wobei dieses auch hier eher abstrakt ohne Zuschreibung eines bestimmten Akteurs verwendet wird: „Die Bundeswehr bleibt sichtbarer Ausdruck der Souveränität unseres Landes und der Bereitschaft unserer Demokratie, sich ihrer Feinde zu erwehren.“.

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Darüber hinaus sind im Hinblick auf die Eigenschaft von Strategie als Beziehung auch die Handlungsrichtungen in der Beziehung relevant. Diese Handlungsrichtung korrespondiert wiederum mit der Kategorie der Handlungsziele. Wenn die Bündnisstrategie der NATO „rein defensiv“ (Bundesregierung 1994, S. 51) sein kann, heißt dies im Sinne der einen Begriffsachse, dass Strategie (oder Handlungen, die sich aus Strategien heraus ergeben) genauso offensiv sein können. Da die Bundesregierung jedoch – ähnlich wie bei der Rivalität – weitgehend auf die Nennung von Begriffen wie Offensive oder Angriff verzichtet11, lässt sich das Strategieverständnis in Bezug auf die Einordnung der eigenen Handlungsrichtung und -bereitschaft als insgesamt relativ zurückhaltend charakterisieren.

3.6 Kompetenzbedarf Ein zentraler Begriff in der deutschen Debatte um Strategie, ist der Begriff der Strategiefähigkeit (Naumann 2009, 2008; Zapfe 2011). Diesen deute ich so, dass es für den Macher von Strategie bestimmter Kompetenzen bedarf, um seine Aufgabe erfüllen zu können. Der Begriff der Strategiefähigkeit kommt erstmals im Weißbuch 2016 vor, wird hier jedoch als Überschrift eines Unterkapitels verwendet. Doch worin besteht die Fähigkeit zur Strategie aus Sicht der Bundesregierung? Zunächst geht es darum „strategische Entscheidungen,“ darüber zu treffen, „ob, wann und in welchem Maße sich Deutschland engagiert.“ Dies sei erforderlich, da „unsere sicherheitspolitischen Mittel und Instrumente […] umfangreich und vielfältig [sind]. Dennoch sind sie begrenzt“ (Bundesregierung 2016, S. 57). Es geht also wieder um den Aspekt der Priorisierung von Handlungsmöglichkeiten und Handlungsmitteln. Dabei steht zunächst der Aspekt des Treffens von Entscheidungen im Vordergrund. Eine zentrale Rolle in Bezug auf die Herstellung der eigenen Strategiekompetenz der Bundesregierung spielen aus ihrer Sicht Strukturen, wie auch Verteidigungsministerin von der Leyen (2016; CDU) betont: „Das erste Beispiel ist das, was ich bereits angesprochen habe, die Notwendigkeit, dass wir stärker ressortgemeinsam unsere Strategiefähigkeit verbessern. Also den

11 Lediglich im Weißbuch 2016 kommt der Begriff offensiv zweimal im Hinblick auf militärische Fähigkeiten vor. Davon wird er einmal auf die Herausforderungen hybrider Kriegsführung – also auf andere Akteure – bezogen (Bundesregierung 2016, S. 38). Ein zweites Mal – und dies ist die einzige Eigenzuschreibung von offensiv – wird er in Bezug auf Fähigkeiten im Cyberraum bezogen: „Die Verteidigung gegen derartige Angriffe bedarf auch entsprechender defensiver und offensiver Hochwertfähigkeiten, die es kontinuierlich zu beüben und weiterzuentwickeln gilt“ (Bundesregierung 2016, S. 93).

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vernetzten Ansatz mehr leben. Und dazu brauchen wir auch effizientere Strukturen innerhalb der Bundesregierung.“

Dazu fordert die Ministerin „ein strukturiertes Gremium unterhalb des BSR12 […], das in der Lage ist, diese Themen dann auch ganz bewusst und systematisch innerhalb der Bundesregierung als Narrativ auch, das wir gemeinsam verfolgen, nach vorne zu bringen.“ Die Praxis der Struktur lässt sich auch so interpretieren, dass es darum geht, durch Kommunikation und Interaktion Sprachregelungen zu finden, die innerhalb der Regierung einheitliche Handlungsanschlüsse bieten sollen. Neben „institutionelle[m] Lernen“ fordert das Weißbuch 2016, dass „die Kompetenzen in den Bereichen strategische Vorausschau, Steuerung und Evaluierung ausgebaut und miteinander verknüpft werden“ (Bundesregierung 2016, S. 57). Mit den Bereichen der Vorausschau scheint hier auf bestehende Ansätze der Forschung zu Strategic Foresight13 Bezug genommen zu werden. Diese Forderung lässt sich als Wunsch nach einem stärkeren Einbezug wissenschaftlicher Sichtweisen, die gesellschaftlich oftmals mit Kompetenz konnotiert werden, interpretieren. Mit der Formulierung der Steuerung und Evaluierung, auf die sich das Adjektiv strategisch ebenfalls bezieht, wird wiederum eine Zeitachse eröffnet, die ein konkretes Handeln (die Steuerung) und eine Bewertung (die Evaluation) dessen beinhaltet. Folgt man der hier angewandten Interpretation, könnte dies heißen, dass der Prozess Strategie, welcher auf dieser Zeitachse stattfindet, irgendwo Wegmarken oder gar ein Ende hat, nach deren Erreichen er einer Bewertung unterzogen werden kann. Wie diese Bewertung aussehen kann, wird im Folgeabsatz erläutert: „[…] strategische Dokumente regelmäßig aktualisiert, aufeinander abgestimmt und möglichst mit messbaren Kriterien versehen werden; dies gewährleistet strategische Kontinuität und Kohärenz.“ (Bundesregierung 2016, S. 57)

Gerade diese „messbaren Kriterien“ (Bundesregierung 2016, S. 57) verweisen hier auf ein ökonomisches Vokabular und könnten implizieren, dass es eine Form der Objektivität gibt, nach der sich der Erfolg von Strategie messen ließe. Diese Evaluation, die es leisten müsste, Strategie sicht- und messbar werden zu lassen, scheint somit zur Konzeption der Bundesregierung von Strategiefähigkeit essentiell dazuzugehören. Weiterhin interessant erscheinen an letzterem Zitat aber auch die 12 Bundessicherheitsrat. 13 Da diese Ansätze – zumindest in der Forschung – relativ klar umrissen erscheinen, erfolgt hier auch aus Platzgründen keine weitere Ausdifferenzierung darüber, was mit dem Begriff der Vorausschau gemeint sein könnte. Für einen Überblick siehe Klüfers et al. (2017).

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Begriffe „strategische Kontinuität und Kohärenz“, die wiederum auf die zeitliche und eher langfristige Dimension von Strategie zielen (Kontinuität) und scheinbar auf eine sinnvolle Verknüpfung (Kohärenz)14 der Aufgaben und Handlungen, die aus Strategie erwachsen, beschreiben. Dabei können auch diese beiden Konzepte durchaus in einem Spannungsverhältnis stehen: Wenn sich über Zeit hinweg die Einbettung von Strategie oder eine Lage verändert, kann es mitunter kompliziert sein, immer einen kohärenten Handlungsanschluss zu erreichen.

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Ziele und Mittel deutscher Sicherheitspolitik

Nach der Rekonstruktion des Sprachgebrauchs des Begriffes der Strategie wurde das Datenmaterial der Weißbücher auf Ziele und Mittel deutscher Sicherheitspolitik hin befragt. Dabei wurde jedoch – wie in Kapitel 2 ausführlicher erläutert – von einem potentiell reziproken Verhältnis („Ends-in-View“, siehe Joas 1992, S. 127) ausgegangen. Auf diese Weise wurden die Kategorien Verantwortung, Werte und Interessen, Instrumentarium, Multilateralismus, Vernetzung und Vorbeugung rekonstruiert15.

4.1 Verantwortung Die erste Kategorie in der Strategievorstellung der Bundesregierung ist Verantwortung. Sie beschreibt sowohl eine Ermöglichungsbedingung als auch eine Rollenvorstellung, in der sich die Bundesregierung als verantwortungsbewusst handelnd sieht. Sie richtet sich nach innen in Form einer Verantwortung zum Schutz der Bürger sowie nach außen, in Form von Beiträgen zur internationalen Krisenprävention (und dem Krisenmanagement). Dabei kommt sie wahrgenommenen Verpflichtungen in Form von Erwartungen Verbündeter (vor allem aus der EU, NATO und VN-Mitgliedsstaaten) nach. Über die Zeit der analysierten Weißbücher hinweg nimmt die Freiwilligkeit der Verantwortungsübernahme weiter zu und schließt im Weißbuch 2016 auch den Aspekt der Führung mit ein. Dieser impliziert einen

14 Die Frage, was aus Sicht der Bundesregierung als kohärent erscheint und nach welchen Kriterien Strategie zu bemessen und zu bewerten ist, bleibt im Kapitel zu Strategiefähigkeit des Weißbuches 2016 jedoch offen. Zur Frage der Kohärenz und was die Bundesregierung mit diesem Konzept meint, böte sich mitunter eine eigene rekonstruktive Analyse an. 15 Bei diesen Kategorien handelt es sich (mit Ausnahme des Multilateralismus) genuin um in-vivo-Kodes. D. h. Kodes, die wörtlich aus dem Datenmaterial übernommen wurden.

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höheren Gestaltungsanspruch, welchen die Bundesregierung für sich sieht und wahrnehmen möchte: „Deutschland ist bereit, sich früh, entschieden und substanziell als Impulsgeber in die internationale Debatte einzubringen, Verantwortung zu leben und Führung zu übernehmen. Dazu gehört auch die Bereitschaft, zur Bewältigung heutiger und zukünftiger sicherheitspolitischer sowie humanitärer Herausforderungen beizutragen. Dabei wissen wir um das Maß unserer Möglichkeiten.“ (Bundesregierung 2016, S. 23, eigene Hervorhebung)

Die Verantwortung wird von der Bundesregierung über den Analysezeitraum hinweg als kontinuierlich wachsend wahrgenommen. Zugleich haben sich die Handlungsanschlüsse von Verantwortungsübernahme erweitert. Wies die Kategorie 1994 noch einen stark militärischen Bezug auf, sind über die neueren Weißbücher hinweg verstärkt zivile Instrumente ergänzend hinzugekommen: „Ich glaube, dass wir gerade im Rahmen unserer internationalen Verantwortung immer wieder deutlich unterstreichen müssen, dass unsere Sicherheitspolitik militärische, aber auch entwicklungspolitische, wirtschaftliche, humanitäre, polizeiliche und nachrichtendienstliche Instrumente der Konfliktverhütung und der Krisenbewältigung integriert. Dies muss auch im Rahmen unserer internationalen Verpflichtungen der Fall sein.“ (Jung 2006)

4.2

Werte und Interessen

Werte und Interessen sind zwei Handlungsziele, die die Bundesregierung im Rahmen ihrer Sicherheitspolitik verfolgt. Ihr Verhältnis lässt sich kompakt so beschreiben, dass Werte Interessen (mit) leiten und aus Interessen dann konkrete Ziele und Handlungen erwachsen16. Werte beruhen aus Sicht der Bundesregierung auf dem Grundgesetz: „Die im Grundgesetz vorgegebenen Werte leiten die Interessen, an denen sich Deutschland in seinem sicherheitspolitischen Handeln orientiert. Mit dem Auftrag zur Wahrung des Friedens, zur Einigung Europas, zur friedlichen Streitregelung und zur Einordnung in ein System kollektiver Sicherheit hat das Grundgesetz wesentliche Eckpunkte für die Festlegung der deutschen Sicherheitsinteressen gesetzt.“ (Bundesregierung 1994, S. 42)

16 Ein in den Internationalen Beziehungen oftmals thematisiertes Spannungsverhältnis zwischen Werten und Interessen sieht die Bundesregierung in ihren Weißbüchern nicht.

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Interessant erscheint hier die Formulierung der im Grundgesetz transportierten Werte als „Eckpunkte“ (Bundesregierung 1994, S. 42). Dies könnte darauf hindeuten, dass mit dem Grundgesetz zwar einerseits ein fixierter Bezugsrahmen für Werte festgelegt ist, in diesem aber andererseits auch Auslegungsspielräume zwischen diesen Ecken bestehen. Dies würde auf die Möglichkeit einer gewissen Dynamik in der Auslegung von Werten, deren Relation zu Interessen hier als leitend beschrieben wird, zulassen. Hinzugekommen ist im Weißbuch 2016 ein Verweis auf die europäische Rechtsgrundlage und die Hervorhebung des Prinzips der Menschenwürde und der Menschenrechte. Aufgrund der Inspiration von Werten durch kodifiziertes Recht, lässt dies für die deutsche Strategievorstellung auf eine gewisse Rechtsleitung schließen. Interessen17 werden größtenteils multilateral, d. h. bezogen auf andere Akteure, definiert. Immer oben in der Listung der Interessen steht der Schutz Deutschlands und seiner Bürger. Hinzu kommt 2016 auch die Sicherung des Wohlstandes (Bundesregierung 2016, S. 24–25). Insgesamt lassen sich die Interessen als konservativ, im Sinne von stabilitätsorientiert, beschreiben. Ihr gemeinsames Ziel ist die Bewahrung des Erreichten und die Sicherstellung von Stabilität. Auch wenn bei bestimmten Interessen ein Wandel, wie bei dem Streben nach einer Vertiefung der europäischen Integration, befürwortet wird, dient die Integration hier dem Ziel der Sicherstellung von Stabilität. Insgesamt korrespondiert dieses Interessenverständnis wiederum mit der bereits erläuterten defensiven Selbstbeschreibung der Bundesregierung.

4.3 Instrumentarium Im Sinne von Handlungsmitteln hat sich das Instrumentarium als eine der zentralen Kategorien der Strategievorstellung der Bundesregierung herausgestellt. Sie beschreibt das Spektrum der der Regierung zur Verfügung stehenden Instrumente. Die Regierung hat dabei den Eindruck, auf ein breites Maßnahmenspektrum zurückgreifen zu können, mit dem sie passgenau auf Herausforderungen reagieren kann: „[Zur Krisenverhütung und Konfliktlösung] muß stets das ganze Spektrum möglicher Maßnahmen betrachtet werden, die für dieses übergeordnete Ziel getroffen werden können. Es ist ein Ansatz erforderlich, der für den konkreten Einzelfall politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche, soziale, ökologische sowie militärische Aspekte berücksichtigt.

17 Für eine jeweilige Listung der Interessen in den Weißbüchern siehe Bundesregierung 1994, S. 42; 2006. S. 9; S. 24–25.

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Im Rahmen einer ursachenorientierten Politik zur Krisen- und Konfliktlösung kann auch der Einsatz militärischer Mittel erforderlich werden, um Gewalt oder Krieg zu verhindern, einzugrenzen oder zu beenden.“ (Bundesregierung 1994, S. 39)

Dabei zeigt sich in der Anwendung der Mittel der Versuch, diese spezifisch ausgerichtet auf verschiedene Problemlagen einzusetzen: „Angesichts der Bandbreite möglicher Herausforderungen ist unser sicherheitspolitisches Instrumentarium entsprechend agil und flexibel auszugestalten und anzuwenden.“ (Bundesregierung 2016, S. 56)

Hier verweisen vor allem die Begriffe „agil und flexibel“ (Bundesregierung 2016, S. 56) darauf, dass es bei der Wahl der Instrumente auf eine gewisse Problemangemessenheit in Bezug auf die jeweils zu lösenden Herausforderungen ankommt. Dies ließe sich durchaus auch so interpretieren, dass Handlung hier reaktiv geschieht. Sie ist erst in Bezug auf ein bestehendes Problem oder die Vorstellung einer (künftig) drohenden Gefahr möglich. Dabei weist das Instrumentarium und die im Weißbuch benannten Herausforderungen aber vor allem auf Aspekte, die gemeinhin mit äußerer Sicherheit konnotiert werden. Für das Strategieverständnis der Regierung im Kontext der Weißbücher verweist dies darauf, dass sich dieses ebenfalls vornehmlich auf äußere Gefährdungen (und Handlungskontexte) bezieht. Interessant erscheint mit Blick auf die Instrumente, dass diese über die Weißbücher hinweg erweitert wurden. So kam 2006 der Aspekt der Polizei hinzu, 2016 Instrumente des Rechts und der Justiz18. Über den Analysezeitraum hinweg scheint die Bundeswehr als Instrument der Krisenbewältigung an Akzeptanz zu gewinnen, auch vor dem Hintergrund der Einsatzerfahrungen im Kosovo und in Afghanistan. Es rückt beispielsweise in der Reihenfolge der Darstellung der Instrumente nach oben (Jung 2006) und wird zentral mit sicherheitspolitischem Engagement konnotiert. Gleichzeitig wird es jedoch konsequent rhetorisch von zivilen Instrumenten getrennt. Sein Einsatz unterliegt jedoch (scheinbar im Gegensatz zu zivilen Instrumenten) einer Einzelfalllogik und soll hinsichtlich der Gewaltanwendung möglichst skalierbar sein (Bundesregierung 2016, S. 104). Hier zeigt sich eine restriktive Haltung der Bundesregierung im Hinblick auf die Gewaltausübung, die durch die Anwendung militärischer Instrumente im Rahmen von Strategie stattfinden kann.

18 Die Anwendung rechtlicher Instrumente in der Krisenprävention und -bewältigung verweist ebenfalls auf einen rechtsgeleiteten Charakter der deutschen Strategievorstellung.

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4.4 Multilateralismus Die Kategorie Multilateralismus ist Handlungsvorstellung und Instrument deutscher Sicherheitspolitik zugleich. Dabei genießt sie einerseits durch ihre rechtliche Verankerung in den Werten des Grundgesetzes (Bunderegierung 2006, S. 29), andererseits in der Zuschreibung19 der Bundesregierung einen hohen Stellenwert. Multilateralismus wird notwendig, da sicherheitspolitische Herausforderungen nicht mehr von einzelnen Staaten lösbar erscheinen (Bundesregierung 2006, S. 2). Dabei folgt multilaterales Handeln aus Sicht der Bundesregierung aber aus einem Nutzenkalkül heraus, da sie im Multilateralismus eine höhere Handlungsfähigkeit für sich selbst sieht. Zudem sieht sie ihrem Handeln Legitimität zugesprochen (Bundesregierung 2016, S. 22). Darüber hinaus weist die Kategorie Multilateralismus auch auf den Einsatz des Instrumentariums hin, der im Rahmen mit Verbündeten und Partnern stattfinden soll. Andererseits wirkt Multilateralismus aber auch auf das Instrumentarium, da Instrumente fähig zum Einsatz im internationalen Verbund gemacht werden müssen: „Die deutsche Wiederbewaffnung in den 50er Jahren war auf das Engste verbunden mit der Integration des Landes und seiner Streitkräfte in das Atlantische Bündnis. Damals wie heute ist die Bundeswehr ausgerichtet auf ein Handeln im multilateralen Rahmen. Bei der Wahrnehmung von Verantwortung für die internationale Sicherheit sind wir in hohem Maße auf das abgestimmte Zusammenwirken mit unseren Partnern angewiesen.“ (Bundesregierung 2016, S. 23)

Für das Strategieverständnis der Bundesregierung bedeutet die Kategorie des Multilateralismus, dass Handeln grundsätzlich im Verbund mit Verbündeten und Partnern zu gestalten ist. Dies verweist einerseits auf einen gewissen Kooperationswillen, andererseits machen (bewusst eingegangene) Abhängigkeiten (Bundesregierung 2016, S. 23) eine besondere Beachtung und Einbeziehung von Partnerinteressen in eigene Handlungspläne notwendig20.

19 Beispielsweise wird betont, dass Bündnisse der „Kern“ und das „Fundament“ (Bundesregierung 1994, S. 43) deutscher Sicherheitspolitik sind. 20 Über die formalisierten Rahmen von Vereinten Nationen, NATO und EU hinaus stellt die Bundesregierung im Weißbuch 2016 aber auch fest: „Insbesondere Ad-hoc-Kooperationen werden als Instrumente der internationalen Krisen- und Konfliktbewältigung weiter an Bedeutung gewinnen. Deutschland wird dieser Entwicklung Rechnung tragen und sich in solchen Fällen, in denen es seine Interessen auf diesem Weg schützen kann, an Ad-hoc-Kooperationen beteiligen oder diese gemeinsam mit seinen Partnern initiieren.“ (Bundesregierung 2016, S. 81).

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4.5 Vernetzung Die nächste zentrale Kategorie der Strategievorstellung ist die Vernetzung. Sie ist einerseits eine Handlungsvorstellung, weist aber in sich auch Elemente eines Zieles auf. Dabei scheint der Stellenwert der Kategorie zuzunehmen. Wurde das Konzept im Weißbuch 1994 überhaupt nur einmal genannt, betont der Verteidigungsminister Jung (2006), das „Konzept der verbundenen oder der vernetzten Sicherheit spielt eine zentrale Rolle in diesem Weißbuch, es zieht sich sozusagen wie ein schwarz-rot-goldener Faden durch das Weißbuch.“21. Im Weißbuch 2016 ist es dann schließlich „zentrale Richtschnur unseres Regierungshandelns“ (Bundesregierung 2016, S. 58). Zudem scheint Verteidigungsministerin von der Leyen (2016) davon überzeugt zu sein, dass Strategiefähigkeit heißt, „den vernetzten Ansatz mehr [zu] leben“. Vernetzung ist also vor allem in den Weißbüchern 2006 und 2016 zentral und meint die Abstimmung bzw. Koordination von verschiedenen zivilen und militärischen Akteuren und deren Instrumenten (auf nationaler und internationaler Ebene). Dabei scheint besonders die Verbindung der Fähigkeiten im Sinne einer größeren Wirksamkeit von Bedeutung zu sein. Zugleich ist Vernetzung aber auch vom Gedanken der Effizienz motiviert, da die Bundesregierung überzeugt scheint, dass die „[d]ie nationale wie die internationale Erfahrung zeigt, dass zivile und militärische Akteure mehr Wirkung mit weniger Ressourcen erzielen, wenn sie bei konzeptioneller Planung und operativer Durchführung mit gebündelten Kräften koordiniert handeln“ (Bundesregierung 2006, S. 158). Dabei ist Vernetzung aber auch eine Reaktion auf zunehmend komplex wahrgenommene Sicherheitsherausforderungen, die nicht von einem Akteur (Ressort oder Staat) alleine gelöst werden können. Zudem ist Vernetzung ein Handlungsimperativ in Bezug auf das Instrumentarium, da Instrumente vernetzungsfähig zu gestalten sind.

4.6 Vorbeugung Die letzte zentrale Kategorie ist die Vorbeugung. Sie ist eine zentrale Handlungsvorstellung der Bunderegierung, die ihre Sicherheitspolitik als präventiv versteht. Dabei zielt Vorbeugung durch die Nutzung von Instrumenten darauf ab, Kon21 Insbesondere der „schwarz-rot-goldene[] Faden“ (Jung 2006) könnte zudem darauf hindeuten, dass dieses Konzept als ein spezifisch deutsches Konzept betrachtet wird. Wenn dem so ist, könnte dies wiederum implizieren, dass mit dem Konzept vernetzter Sicherheit auch ein gewisser Stolz auf das Eigene bzw. die eigene Leistung einhergeht.

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fliktausbrüche zu verhindern, um das Gewaltniveau niedrig zu halten und nicht mit dem Einsatz eigener Streitkräfte in der Konfliktbewältigung tätig werden zu müssen. Vorbeugung ist somit der präferierte Handlungsmodus zum Einsatz des Instrumentariums (Bundesregierung 2016, S. 60). Entsprechend ist Vorbeugung auch ein Handlungsimperativ zur Ausrichtung des Instrumentariums selbst. In Bezug auf das Instrumentarium ist von Bedeutung, dass sich Vorbeugung auf das ganze Instrumentenspektrum bezieht. Das heißt in der Konsequenz auch, dass ein Einsatz militärischer Mittel aus Sicht der Bundesregierung vorbeugender Natur sein kann: „Die im Jahr 2001 in der früheren Jugoslawischen Republik Mazedonien entstandene Krise konnte durch den präventiven Einsatz von Streitkräften im Rahmen eines internationalen Engagements bewältigt werden.“ (Bundesregierung 2006, S. 83)

Das Konzept ist in allen drei Weißbüchern zentral verankert, gleichzeitig wird ihm aber stetig eine steigende Bedeutung zugeschrieben, da es sich in einem Weiterentwicklungsprozess zu befinden scheint, der auch den Einschluss neuer Instrumente berücksichtigt: „Für die Wirksamkeit unseres zukünftigen gesamtstaatlichen sicherheitspolitischen Engagements wird insbesondere […] Verantwortung für die Stabilität und Sicherheit des internationalen Umfelds übernommen, unter anderem indem unsere präventive Sicherheitspolitik konsequent weiterentwickelt wird, insbesondere in den Bereichen Krisenfrüherkennung und Ertüchtigung.“ (Bundesregierung 2016, S. 138)

Somit scheint die Bundesregierung innerhalb ihres Handlungsspektrums Weiterentwicklungen zu sehen, wie sich im obigen Zitat durch den Verweis auf die Instrumente der Krisenfrüherkennung und Ertüchtigung22 zeigt. Darüber hinaus lässt sich festhalten, dass Vorbeugung als Konzept ein höherer Stellenwert zugeschrieben wird, dessen Endpunkt auch nach dem Weißbuch 2016 noch nicht erreicht scheint.

22 Zur Frage wie neu beispielsweise das Instrument der Ertüchtigung von Partnerstaaten ist, siehe Fuhrmann et al. 2017.

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Deutsche Strategie als Sicherheitsvorsorge

Was ist nun die Strategievorstellung der Bundesregierung? Um zur verdichteten Antwort auf diese Frage zu gelangen bildet diese Studie zum Abschluss ein Modell der Sicherheitsvorsorge. Sicherheitsvorsorge stellt dabei die Schlüsselkategorie23 dar, welche die anderen Ziel- und Mittelkategorien miteinander in Verbindung setzt. Dies ist auch in den analysierten Weißbüchern der Fall, wie die beiden folgenden Textsequenzen zeigen: „Deutsche Sicherheitspolitik ist eine Politik vorausschauender, ganzheitlich angelegter und multilateral vernetzter Sicherheitsvorsorge. Ihr Ziel ist die politische Gestaltung des Friedens im nahen und erweiterten Umfeld Deutschlands. Dialog, Kooperation und Verteidigungsbereitschaft sind dafür die entscheidenden Konzepte.“ (Bundesregierung 1994, S. 43, eigene Hervorhebungen) „Unsere Sicherheitsvorsorge beginnt in Deutschland. Synchronisiertes und vernetztes sicherheitspolitisches Handeln auf nationaler Ebene und die Abstimmung und Weiterentwicklung unserer Instrumente sind hierfür zentral.“ (Bundesregierung 2016, S. 56, eigene Hervorhebungen)

Nicht zuletzt trägt die Schlüsselkategorie Sicherheitsvorsorge auch zwei zentrale Kategorien direkt in sich: Erstens, das Interesse der Sicherheit sowie die Handlungsvorstellung der Vorbeugung. Während Prävention jedoch eher meint, Handlungen zu ergreifen, um bestimmte Phänomene zu verhindern, erinnert Vorsorge eher an einen Arztbesuch. Im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung wird neben der aktiven Prävention mitunter auch mithilfe von Früherkennung überprüft, ob bestimmte Krankheiten gerade ausbrechen oder bereits ausgebrochen sind. Mitunter heißt dies zulassen zu müssen, dass eine bestimmte Krankheit ausbricht, um sie dann möglichst schnell eindämmen zu können. (Sicherheits-)Vorsorge könnte also auch bedeuten, sich darauf vorzubereiten möglichst gut auf ein nicht ganz ausschließbares Risiko schnell und angemessen reagieren zu können. Diese Interpretation

23 Dieses Modell böte sich ebenfalls für ein selektives Kodieren (Strauss und Corbin 1998, S. 143–161) an, bei dem die Analyse vornehmlich dazu genutzt wird, das theoretische Modell weiter zu verdichten. Dies schließt allerdings auch einen höheren Grad an Subsumtion auf Kosten der Ergebnisoffenheit einer Studie ein (Roos 2010, S. 107). Für die vorliegende Studie lag das Ziel eher in der Ausarbeitung zentraler Konzepte und nicht in der Entwicklung eines perfekt geschlossenen Theoriemodells. Gleichwohl stellt das hier dargestellte Modell meine gedankliche Grundlage im Hinblick auf die Strategievorstellung der Bundesregierung in ihren Weißbüchern dar, mit dem ich eine noch tiergehende Verdichtung vornehmen würde.

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eines Restrisikos spiegelt sich auch in folgender Textsequenz zu Sicherheitsvorsorge wieder, da absolute Sicherheit aus Sicht der Bundesregierung nicht möglich scheint: „Zwar bleibt absolute Sicherheit für die Menschen in Deutschland unerreichbar, eine umfassend gestaltete Sicherheitspolitik vermag aber Gefährdungen zu vermindern. Deshalb muss entschlossene Sicherheitsvorsorge gesamtstaatlich konzipiert und geleistet werden.“ (Bundesregierung 2016: 59)

Fügt man die rekonstruierten Kategorien der Strategievorstellung der Bundesregierung um die Schlüsselkategorie der Sicherheitsvorsorge herum zusammen, ergibt sich folgendes Modell:

Die obere Ebene des Modells beschreibt die Konnotationen, die in der Begriffsverwendung von Strategie/strategisch vorkommen. Diese bilden im Modell einen diskursiven Überbau und setzen einen Bedeutungsrahmen, in dem Strategie als eine Handlung stattfindet. Die untere Ebene ist eine reine Beschreibungsebene, die nichts mit Strategie an sich zu tun hat, sondern lediglich dazu dient, das Modell in Kontext bzw. Rollenverständnis und Zielen sowie Mitteln und damit einhergehende Handlungsvorstellungen zu strukturieren. Diese stehen im (Handlungs-)Prozess der Sicherheitsvorsorge in einem kontinuierlichen Austausch. Die zentrale Ebene des Modells ist die mittlere. Hier findet die Handlung Sicherheitsvorsorge statt. Die Bundesregierung ist zentraler Akteur auf der mittleren

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Ebene und befindet sich im ständigen Handlungsmodus der Sicherheitsvorsorge. Darüber versucht sie, Handlungsziele und Handlungsmittel miteinander in Einklang zu bringen. Die rekonstruierten Kategorien sind hier in das Ziel-Mittel-Schema eingeordnet, wobei dieses als fluide zu betrachten ist und sich Ziele, Mittel und Handlungsvorstellungen gegenseitig beeinflussen24. Ebenso überlagern sich die zentralen Kategorien stellenweise, da sie Verbindungen miteinander aufweisen, die sich im axialen Kodieren herausgestellt haben. So werden beispielsweise Interessen von Werten geleitet. Verantwortung als Rollenvorstellung schließt aus Sicht der Bundesregierung ein, einen Schutz der Bevölkerung (Interesse) zu leisten. In ihrer Handlung der Sicherheitsvorsorge ist die Bundesregierung wiederum von zentralen Handlungsvorstellungen wie Vorbeugung und Vernetzung geprägt. Sicherheitsvorsorge kann also als der Handlungsmodus betrachtet werden, der Ziele und Mittel zusammenbringt und der Ausrichtung auf Handlungsziele vereint. Um die eingangs gestellte Frage nach der rekonstruierten Strategievorstellung der Bundesregierung kompakt zu beantworten, lässt sich Folgendes schließen: Strategie ist aus Sicht der Bundesregierung ein Handlungsmittel, das auf einer Analyse einer sicherheitspolitischen Lage beruht. Dabei werden die Auswirkungen dieser Lage auf die eigenen Ziele in Gestalt von stabilitätsorientierten Interessen und rechtsgeleiteten Werten evaluiert. Als verantwortungsbewusster Akteur (gegenüber Bürgern, Verbündeten und der internationalen Gemeinschaft) erfolgt dann eine Ableitung von Handlungsentwürfen, die darin bestehen, ein breites Instrumentarium aus zivilen und militärischen Mitteln problemgerecht in Bezug auf Herausforderungen einzusetzen und dabei den Zielen gerecht zu werden. Dabei handelt die Bundesregierung vorbeugend, um Konflikte zu meiden und möglichst wenig Gewalt ausüben zu müssen. Sie versucht ihre Ressorts und deren Kompetenzen vernetzt einzusetzen, um effizient Wirkungen zu erzielen. Zudem bindet sie die Interessen ihrer Partner mit in ihre Überlegungen ein und sieht ihren Intentionen und Handlungen im multilateralen Rahmen Handlungsfähigkeit und Legitimation verliehen.

6 Schluss Welche Vorstellungen von Strategie unterliegen den Weißbüchern der Bundesregierung (1994, 2006, 2016)? Die Leitfrage der vorliegenden Studie ergibt sich aus der Problematik, dass diese Dokumente nicht als Strategie bezeichnet werden, 24 Siehe hierzu ggf. nochmals die theoretischen Ausführungen zu „Ends-in-View“ (Joas 1992, S. 227) in Kapitel 2.

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während ihnen jedoch – trotz der oftmaligen Klage über einen vermeintlichen Mangel an Strategie in der deutschen Sicherheitspolitik – ein strategischer Charakter zugeschrieben wird. Dementsprechend wurden mithilfe der Verfahren der Grounded Theory (Strauss/Corbin 1998) über die Frage nach dem Sprachgebrauch von Strategie die Kategorien Konflikthaftigkeit, Einbettung, Zeit, Zielorientierung und Handlungsanleitung, Beziehung sowie Kompetenzbedarf rekonstruiert. Ebenso wurden als Ziele und Mittel deutscher Sicherheitspolitik die Kategorien Verantwortung, Werte und Interessen, Instrumentarium, Multilateralismus, Vorbeugung und Vernetzung ausgearbeitet. Das Modell der Sicherheitsvorsorge stellt schließlich eine Verdichtung der entwickelten Kategorien dar und zeigt, wie der Akteur Bundesregierung mithilfe von Strategie als Handlungsmittel, problemangemessen und damit individuell auf (als zunehmend komplexer wahrgenommene) Sicherheitsbedrohungen reagiert, bzw. mögliche Reaktionen auf künftige Risiken vorausdenkt. Damit weist das Ergebnis dieser Studie durchaus über die bloße Strategiekonzeption in den analysierten Weißbüchern hinaus, da die hier entwickelten Kategorien deutlich adaptiver und dynamischer erscheinen als wissenschaftlich etablierte Strategiekonzeptionen, die scheinbar auf einer zweckrationalen Handlungslogik beruhen, welche „ausschließlich orientiert ist an (subjektiv) als adäquat vorgestellten Mitteln für (subjektiv) eindeutig gefasste Zwecke“ (Weber 1968, S. 170). Solche Konzeptionen von Strategie weisen ein entsprechend eindirektionalen und relativ statischen Charakter von Zielen und Mitteln auf, da sich Mittel stets auf Ziele beziehen, wobei Ziele sich jedoch nicht aus Mitteln erwachsen können. Illustrativ für solche Konzeptionen ließe sich die (Grand-)Strategiedefinition von Basil Lidell Hart (1967, S. 322) nennen: “[T]he role of grand strategy – higher strategy – is to co-ordinate and direct all the resources of a nation, or band of nations, towards the attainment of the political object of the war – the goal defined by fundamental policy.”.

Alternativ beschreibt beispielsweise Colin Gray (2013, S. 13) in seiner „general theory of strategy“: “Grand Strategy is the direction and use made of any or all of the assets of a security community, including its military instrument, for the purposes of policy as decided by politics.”

Einem solchen Verständnis steht das hier rekonstruierte Strategieverständnis der Bundesregierung gegenüber, da bereits der Begriff Strategie in der Nutzung verschiedentlich besetzt ist. Er bezeichnet nicht nur Handlungspläne, sondern auch Handlungen selbst. Entsprechend ist Strategie im Sinne eines Prozesses auch

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inhärent dem Problem der Kontingenz sozialer Handlungen unterworfen25. Zudem lässt sich das Strategieverständnis der Bundesregierung als adaptiv, teilweise auch als reaktiv, beschreiben: Strategie wird erst durch mögliche Bedrohungen und Risiken notwendig, wie sich im Sprachgebrauch der Bundesregierung zeigt. Ebenso werden zentrale Kategorien wie Interessen, aber auch einbettende Rahmenbedingungen, durch die Bundesregierung als dynamisch und sich wandelnd charakterisiert. Darüber hinaus – und hier zeigt sich mitunter die größte Differenz zu akademischen Konzeptionen von Strategie – weisen zahlreiche der rekonstruierten Kategorien eine Konnotation als Handlungsziel und Handlungsmittel auf. Dies lässt sich beispielsweise anhand der Kategorie Multilateralismus aufzeigen, die als Legitimations- und Ermöglichungsbedingung für eigenes Handeln betrachtet wird. Gleichzeitig ist sie eine Handlungsvorstellung, die aus Sicht der Bundesregierung zu einer höheren Problemlösungsfähigkeit beiträgt, da Bedrohungen nicht mehr als von Einzelstaaten lösbar erachtet werden. Dadurch wird die in den Interessen formulierte Verstärkung multilateraler Strukturen auch zu einem Handlungsziel. Wie im Modell Sicherheitsvorsorge dargestellt, scheint die Wahl der Handlungsziele und -mittel dynamisch und angepasst auf bestimmte (zukünftig imaginierte) Problemlagen stattzufinden: „Angesichts der Bandbreite möglicher Herausforderungen ist unser sicherheitspolitisches Instrumentarium entsprechend agil und flexibel auszugestalten und anzuwenden.“ (Bundesregierung 2016, S. 56, eigene Hervorhebungen)

Dementsprechend verwundert es auch nicht, dass ein zentral an der Erstellung des Weißbuches 2016 beteiligter hochrangiger Offizier in einem Workshop äußerte, dass eine Strategie für ihn ein „komplexes adaptives System“ darstelle. „Strategisch zu handeln heißt, angemessen auf Dynamik reagieren zu können. Angemessen zu handeln heißt, was unseren Werten und Interessen dient.“ Das Weißbuch sei als ein „Korridor“ zu verstehen, „in dem wir uns bewegen können ohne uns dabei selbst zu verlieren.“ Entsprechend hoch sei auch die „Flughöhe“ des Weißbuches angesetzt worden. Einem solchen flexiblen Verständnis pflichtete auch ein anderer Mitarbeiter des Bundesverteidigungsministeriums bei: „Es ist eine Fehlvorstellung, dass Strategie gleich bestimmte Handlungen vorbestimmen würde. Wir müssen durchaus auch mal politische Umwege eingehen dürfen, um unsere Ziele zu erreichen.“26.

25 Hellmann (2010, S. 165; Hervorhebungen im Original) beschreibt das Phänomen der Kontingenz als „prinzipielle Ergebnisoffenheit problematischer Situationen, die gerade deshalb die genuine Kreativität menschlichen Handelns herausfordert.“. 26 Siehe dazu Fußnote 2.

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Zusammenfassend lässt sich für die deutsche Strategiedebatte feststellen: Es klafft eine erhebliche Verständnislücke zwischen dem Strategieverständnis der Praktiker und dem der Theoretiker. Diese Divergenz besteht vor allem im Hinblick auf die Fixierung bzw. Flexibilisierung von Handlungsmitteln und -zielen. Insbesondere bei der Forderung nach einer (schriftlich verfassten) nationalen Sicherheitsstrategie scheint die Hoffnung auf eine Fixierung von Zielen und Mitteln im Sinne einer Wenn-dann-Ableitung für die Zukunft besonders stark ausgeprägt. Dem aber steht das flexible(re) und anpassungsorientierte Strategieverständnis der Bundesregierung gegenüber. Insofern führt die oftmals aus der Wissenschaft und den Medien erhobene Klage über einen Mangel an Strategie ins Leere, da die Bundesregierung durchaus Vorstellungen darüber hat, was Strategie ist und wie sie funktionieren soll. Die bloße Erneuerung der Klage führt also nicht weiter. Vielmehr erscheint es für Akademiker, Praktiker und auch Medienvertreter künftig lohnenswert, Strategie(n) als gemeinsames Referenzobjekt zusammen aus verschiedenen Positionen zu betrachten. Dies garantiert zwar keinesfalls, dass ein gemeinsames Verständnis über Strategie entsteht, jedoch bietet insbesondere ein Fokus auf die Praxis des Strategie-Machens Chancen, neues Wissen zu generieren, dabei gleichzeitig Überzeugungen transparent zu machen und zur Diskussion zu öffnen. Für Strategiepraktiker heißt dies, sich auch in Zukunft öffentlich(er) der Debatte über Strategie(n) zu stellen. Für Strategiewissenschaftler muss dies heißen, die Elfenbeintürme und Lehnstühle zu verlassen und aktiv den Austausch mit Strategiemachern zu suchen, auch, um in der Theoriedebatte um Strategie voranzuschreiten. Gerade wenn Wissenschaftspraktiker, Strategiepraktiker und (Fach-) Öffentlichkeit(en) über die Vorstellungen über und die Prämissen von Strategie(n) diskutieren, kann dies nicht nur Mehrwerte für theoretische Weiterentwicklungen in der Wissenschaft produzieren, sondern auch einen Beitrag zu einer umfassenderen demokratischen Sicherheitskommunikation (Jacobi et al. 2011) leisten.

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Wie entstehen strategische Dokumente? Eine empirisch-analytische Fallstudie zum Weißbuch 2006 T. René Weber

Zusammenfassung

In einer qualitativen Fallstudie wird die Erarbeitung des Weißbuchs 2006 rekonstruiert. Auf der Grundlage von 17 Experteninterviews und der vergleichenden Analyse von drei verschiedenen Entwurfsversionen des Weißbuchs wird die These bestätigt, dass die Autonomie des Planungsstabs des Bundesverteidigungsministeriums (BMVg) den Weißbuch-Prozess wesentlich beeinflusst hat. Im Ergebnis wird deutlich, dass durch Planungs- und Konzeptionsfehler bedingt, konkrete und weitergehende Aussagen des Weißbuchs 2006 eingeschränkt worden sind. Schlüsselbegriffe

Nationale Sicherheitsstrategien, Außenpolitikanalyse, Weißbuch 2006, Kabinett Merkel I, Qualitative Feldforschung

1 Einleitung „Das Weißbuch zur ‚Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr‘ ist das sicherheits- und verteidigungspolitische Grundlagendokument der Bundesregierung. […] Das Weißbuch wird vom Planungsstab des Bundesministers der Verteidigung erarbeitet und mit den anderen Ressorts abgestimmt“ (Meier et al. 2012, S. 548, Hervorh. dort).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Jacobi und G. Hellmann (Hrsg.), Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Edition ZfAS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6_5

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Diese Definition, dem Wörterbuch zur Sicherheitspolitik entnommen, beinhaltet einen ersten Hinweis darauf, was das Weißbuch leisten soll (Grundlagendokument), wer für seine Erstellung federführend ist (Planungsstab BMVg) und wie der Abstimmungsprozess beschaffen ist (interministeriell). Mit dem Weißbuch 1969 zur Verteidigungspolitik der Bundesregierung (BMVg 1969) begann in der Bundesrepublik Deutschland die Reihe der Weißbücher, in der – zuletzt in 2016 – bisher insgesamt elf Weißbücher veröffentlicht worden sind. Diese Traditionalisierung hat gleichwohl bislang zu keiner Institutionalisierung geführt, sowohl der (Erarbeitungs-)Prozess eines Weißbuchs als auch die zeitlichen Abstände zwischen den einzelnen Ausgaben sind verschieden. Vor dem Hintergrund der Bedeutung solcher Dokumente ist für die Politikwissenschaften ein mangelndes Forschungsinteresse zu konstatieren: Nur wenig ist darüber bekannt, wie strategische Dokumente entstehen. Eine rekonstruktionslogische Analyse, wie sie im Folgenden zum Weißbuchprozess 2006 als bundesdeutsches Pendant einer Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS) vorgenommen wird1, ermöglicht daher ein umfassendes Verstehen darüber, wie solche Dokumente erarbeitet werden. Im Rahmen der Untersuchung wurden im Zeitraum von Juni bis November 2015 insgesamt 17 Experteninterviews geführt sowie mehrere Entwurfsversionen des Weißbuchs 2006 vergleichend analysiert. Die Analyse zeigt, dass die Konzeption des Planungsstabs und der Projektgruppe Weißbuch 2006 relevante Auswirkungen auf das Weißbuch 2006 hatte. Der Planungsstab des BMVg war der wichtigste Akteur bei der Erarbeitung des Weißbuchs 2006 und verfügte über eine umfassende Autonomie. Der Prozess selbst war dabei von organisatorischen Problemen geprägt, wodurch das Weißbuch 2006 unter den seinerzeit möglichen inhaltlichen Neuerungen zurückgeblieben ist. Suboptimale Vorbereitungen, hoher Zeitdruck und mangelhaftes Projektmanagement haben die Politisierung dieses Dokuments verschärft: Intra- und interministerielle Reibungen, politische Befindlichkeiten und mediale Störfeuer waren das Ergebnis dieser konzeptionellen Architektur. Im Folgenden stelle ich zunächst den Aufbau des Forschungsvorhabens, seine Zielsetzung und Konzeptualisierung vor. Der nächste Abschnitt diskutiert den Dokumententypus Weißbuch, bevor in einem weiteren Schritt die empirischen Befunde präsentiert werden. Präsentiert wird neben einer chronologischen Skizze die Abstimmung innerhalb des BMVg sowie die Abstimmung zwischen den Ressorts.

1 Die vorliegende Rekonstruktion des Weißbuchprozesses 2006 geht auf meine Master-Abschlussarbeit an der Goethe-Universität Frankfurt, eingereicht im Wintersemester 2015/16, zurück. In dieser wurde eine Rekonstruktion des Interessensbegriffs in der Bundesrepublik Deutschland vorgestellt.

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Der finale Teil enthält eine Zusammenfassung und Beurteilung des Weißbuchprozesses und diskutiert mögliche Impulse für weitere Analysen in diesem Themenfeld.

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Konzeption, Methode und Aufbau der Studie

Paradigmatisch und bündig ließe sich mit Hecht feststellen, „[F]ür diejenigen, die sich mit der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik näher befassen möchten, ist es eben nicht leicht, unmittelbare Einblicke in deren Organisation und Gefüge zu erhalten. […] Aufgabenteilung und das Zusammenwirken von Auswärtigem Amt und Bundesministerium der Verteidigung werden nur selten öffentlich dargestellt“ (Hecht 2013, S. 12). Vermag diese Einschätzung beim Leser auf den ersten Blick noch keine allzu große Verwunderung hervorrufen, gereicht der Hinweis zum biographischen Hintergrund ihres Autors – Axel Hecht war Kommandeur der Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation – zu einer veränderten Beurteilung: Wenn selbst ein Insider deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik zugesteht, dass Einblicke in den Maschinenraum deutscher Außen- und Sicherheitspolitik nur schwer zu erlangen sind, stellt sich in der Forschung erst recht die Frage, wie die notwendigen empirischen Informationen für eine Rekonstruktion von politischen Prozessen zusammengetragen werden können.2 Dabei ist durchaus festzustellen, dass ein großer Werkzeugkasten zur Verfügung steht, mit dessen Hilfe Analysen zur Außenpolitik erstellt werden können (Peters 2007, S. 832–4). Alexander Bogner et al. (2014) skizzieren mit ihrer Diskussion des sozialwissenschaftlichen (Experten-)Interviews eine Möglichkeit, wonach die Rekonstruktion eines ministeriellen Prozesses gelingen kann: „Häufig besteht ein Problem darin, dass andere Methoden der Datengewinnung nicht zur Verfügung stehen. Das betrifft insbesondere Prozessabläufe. In all diesen Fällen sind Expertinneninterviews zwecks Rekonstruktion von Prozessabläufen sinnvoll und notwendig“ (Bogner et al. 2014, S. 22). Experteninterviews, so die Annahme der Studie, erlauben eine Re-

2 Es verwundert nicht, dass es wenige umfassende Studien zu den Ressorts der Sicherheitspolitik gibt. Ausnahmen sind für das BMVg Christoph Reifferscheid/Ulf Bednarz (2013); für das Bundeskanzleramt (BKAmt) Thomas Knoll (2004) und für das Auswärtige Amt (AA) noch immer Wolf-Dieter Eberwein (1975 (unv. Ms.), zitiert nach Harnisch 2003, S. 8), siehe auch Bierling (2005, S. 37–38).

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konstruktion der Erarbeitung des Weißbuchs 2006.3 Für die Umsetzung bedeutet dies, dass die geführten Gespräche so nahe wie möglich als Experteninterviews, wie von Bogner et al. (2014)4 beschrieben, konzipiert wurden: Experten werden damit „nicht nur als abstrakte Funktionsinhaber und Träger bestimmter Herrschaftsstrukturen betrachtet, sondern als ‚konkrete soziale Akteure‘ mit spezifischen Handlungs- und Professionslogiken“ (Bogner et al. 2014, S. 4, Hervorh. dort). Für die Identifikation der einzelnen Gesprächspartner gilt demnach: „Wer der gesuchte Experte ist, definiert sich immer über das spezifische Forschungsinteresse und die soziale Repräsentativität des Experten gleichzeitig – der Experte ist ein Konstrukt des Forschers und der Gesellschaft“ (Bogner et al. 2014, S. 11). Sowohl Politiker, Beamte als auch Journalisten wurden in der Studie als Experten verstanden. Ihre Auswahl erfolgte fortwährend im Feld, sodass ein zunehmend komplementäres Abbild erstellt wurde, ohne dass zugleich alle beteiligten Akteure interviewt werden mussten (Rotter 2011, S. 38–39). Abweichungen von der Konzeption Bogners et al. erfolgten während der Erhebungsphase, wenn es für das Erkenntnisinteresse förderlich schien. Im Einzelfall bedeutete dies, dass – entgegen der Idealvorstellung (Bogner et al. 2014, S. 39) – Gespräche nicht nur persönlich in einem Raum, sondern beispielsweise via Telefon geführt wurden. Das galt auch für die Archivierung von Interviews, die nicht mittels einer Tonaufnahme festgehalten werden konnten, sodass im unmittelbaren Anschluss an das Gespräch ein Gedächtnisprotokoll erstellt wurde (vgl. Bogner et al. 2014, S. 39–43). Im Zeitraum von Juni 2015 bis November 2015 sind 17 Hintergrundgespräche geführt worden. Unter den Interviewten befanden sich aktive wie ehemalige Angehörige des BMVg, des AA, der Bundeswehr, des BKAmt, des Deutschen Bundestags und der überregionalen Presse. Zehn Interviews sind persönlich geführt worden, die restlichen sieben per Telefon, wobei die Gesamtdauer annähernd 14 Stunden betrug. Die Experteninterviews wurden

3 Die in diesem Beitrag präsentierte Sichtweise ist als eine von mehreren möglichen anzusehen. Obschon jene aufgrund der gewonnenen Informationen die richtige zu sein scheint, soll nicht ausgeschlossen werden, dass Beteiligte des Prozesses andere Erfahrungen in Erinnerung behalten haben. Quantitative Zugänge sollen nicht negiert werden, wenngleich ihr Anteil geringer ausfällt (Peters 2007, S. 833). Ein mögliches Beispiel quantitativer Bürokratieforschung in der Sicherheitspolitik findet sich bei Caspar (1978). 4 Diese „praktische und weitgehend pragmatische Einführung in das Expertinneninterview“ (Bogner et al. 2014, S. 1) stellt den state of the art des Experteninterviews dar. Wenngleich ich in manchen Punkten vom Vorschlag der Autoren abweiche, bleibt die Nützlichkeit einer solchen methodischen Einführung beträchtlich. Im Besonderen gilt dies für die Reflexion darüber, welchen Einfluss Forscher (un)willentlich ausüben (Bogner et al. 2014, S. 49–58).

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unter Anwendung der Chatham-House-Rule geführt und werden mit dem Muster Interview [römische Ziffernfolge] angegeben. Zusätzlich zu den Experteninterviews sind für diese Studie schriftliche Dokumente untersucht worden, wobei festzuhalten ist, dass deren Anzahl hinter den anfänglich gehegten Erwartungen zurückblieb. Ursächlich hierfür war in erster Linie die Tatsache, dass der Planungsstabs des BMVg weitgehend von der Pflicht zur Registratur ausgenommen war. Ferner wurde im Rahmen der Untersuchung festgestellt, dass verschriftlichte Dokumente als informelle Vorlagen verfasst und als solche zeitnah der Vernichtung zugeführt wurden. Gleiches gilt für das AA und für an Dienstposten gebundene Akten des BMVg nach der Auflösung des Planungstabs 2012. Umfang und Art der vorliegenden schriftlichen Daten erforderten daher weder ein inhaltsanalytisches Verfahren noch eine hermeneutisch-interpretative Herangehensweise, wie sie zum Beispiel von Vertretern der Grounded Theory5 gefordert wird. Vielmehr wurde eine historische Methode verwendet, deren (Um-) Benennung – in Process Tracing – mir im Hinblick auf den begrenzten Umfang zur Verfügung gestellter Akten und Schriftstücke nicht notwendig scheint (Harnisch 2010, S. 61; Peters 2007, S. 834). Für die Analyse liegen drei Versionen des Weißbuchs 2006 vor, welche im Rahmen der Feldforschung unter Zusicherung absoluter Diskretion überlassen wurden: Neben der veröffentlichten Version waren dies ein Entwurf vom 31.05.2006 und ein Entwurf vom 06.06.2006. Die beiden letztgenannten stellten die Haus-Version6 des BMVg dar und unterscheiden sich auch hinsichtlich des Layouts und der Formatierung. Trotz diverser Anfragen und ungeachtet der Unterstützung durch das BMVg7 ließ sich an diesem Manko im Verlauf der Feldforschung nichts ändern.

5 Zur Anschlussfähigkeit des Experteninterviews an die Grounded Theory siehe Bogner et al. (2014, S. 25, 76–78). 6 Haus-Version bezeichnet im Folgenden die finale Version, mit der das BMVg an andere Ressorts herantrat. 7 Das BMVg hat diese Studie insoweit unterstützt, das aktiv eine Kontaktaufnahme mit ehemaligen Mitgliedern des Planungsstabs gefördert wurde. Darüber hinaus hat es weder in logistischer, noch finanzieller Hinsicht eine Unterstützung gegeben. Zu keinem Zeitpunkt wurde der Versuch unternommen, Einfluss oder Einsicht in die Studie zu erhalten.

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Das Weißbuch der Bundeswehr: Grundlagendokument deutscher Außen- und Sicherheitspolitik

3.1

Die Weißbücher der Bundeswehr 1969–2016

Weißbücher stellen die entscheidenden Grundlagendokumente für die Gestaltung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik dar. An kein anderes Dokument werden höhere Anforderungen und Erwartungen gestellt, kein anderes Dokument erfährt eine solche Resonanz (BMVg 2005, S. 2–3; von der Leyen 2015). Das Weißbuch bietet schließlich Gelegenheit, grundsätzliche Überlegungen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik auf einer „Metaebene [zu] diskutieren“ (von der Leyen 2015). Kontinuität und Anpassung sind die beiden wichtigsten Charakteristika. Eine vergleichende Lektüre aller Weißbücher zeigt, dass sich diese durch ein Aufbauen auf und Fortschreiben von älteren Versionen auszeichnen. Angelegt ist dieses Merkmal der Kontinuität bereits in der Erstausgabe 1969: „Bei dem nun vorliegenden Weißbuch handelt es sich um das erste seiner Art in Deutschland. Es waren daher in einigen Grundsatzfragen längere Ausführungen erforderlich. Spätere Weißbücher werden sich auf aktuelle Probleme und die zu ihrer Lösung notwendigen Maßnahmen beschränken können“ (BMVg 1969, S. 9). Tatsächlich orientierten sich die nachfolgenden Weißbücher an diesem Urtypus. Seit der zweiten Ausgabe von 1970 wird der Aufbau in den folgenden Versionen weitgehend beibehalten. Diese Kontinuität beschränkt sich nicht nur auf vorangegangene Weißbücher, sondern bezieht auch themenverwandte Dokumente, wie die Verteidigungspolitischen Richtlinien oder die Sicherheitsstrategie der EU, mit ein (Meier et al. 2012, S. 549; Jung 2005; Schlie 2015, S. 150–52). Das zweite Merkmal, Anpassung, wird vor allem dann ersichtlich, wenn die politische Lage durch besondere Umwälzungen und Entwicklungen geprägt ist. Dazu zählten beispielsweise nicht nur das Ende des Kalten Krieges und die Wiedervereinigung Deutschlands, welche Niederschlag im Weißbuch von 1994 fanden (BMVg 1994, S. 11–39). Aufzuführen sind ferner das Weißbuch 1975/76, welches sich explizit auf die Auswirkungen des sogenannten Ölpreisschocks von 1973 bezog (BMVg 1976, S. 39–44), das Weißbuch 2006, welches die vielfältigen Auswirkungen des globalen Terrorismus nach dem 11. September berücksichtigte (BMVg 2006, S. 19–23) und schließlich das Weißbuch 2016, welches den Entwicklungen des Cyberwars Rechnung trug (BMVg 2016, S. 18–20).

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3.2

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Die Diskussion über das Weißbuch 2006 in der Literatur

„Die Verabschiedung des Weißbuchs 2006 durch das Kabinett ist ein großer Erfolg für die Koalition. Denn es zeigt uns, dass es in einem komplexen Politikfeld möglich ist, einvernehmlich Bilanz zu ziehen, ein sicherheitspolitisches Konzept zu entwerfen, fortzuentwickeln und ein Programm für die Zukunft zu beschließen“ (Jung 2006a).

Mit diesen Worten vor dem Führungspersonal der Bundeswehr am 26.10.2006 eröffnete Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung seine Rede über Inhalt und Zielsetzung des neuen Weißbuchs. Die optimistisch anmutende Wortwahl kann als Äußerung großer Erleichterung interpretiert werden – immerhin war die Verabschiedung durch das Bundeskabinett ursprünglich vor der parlamentarischen Sommerpause am 12.07.2006 geplant gewesen (Löwenstein 2006; Pieper/ Szandar 2006, S. 24). Ruft man sich den politischen Kontext in Erinnerung, dann ist festzuhalten, dass es der Vorgängerregierung nicht gelungen war, ein rot-grünes Weißbuch zu veröffentlichen. Der schwarz-rote Koalitionsvertrag im ersten Kabinett Angela Merkels kündigte die Erarbeitung eines neuen Weißbuchs an: „Die Bundesregierung wird bis Ende 2006 unter Federführung des Bundesministers der Verteidigung ein Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr vorlegen. Dieses Weißbuch beinhaltet auch eine Festlegung der Aufgaben und der Zusammenarbeit der für Sicherheit verantwortlichen Institutionen innerhalb einer umfassenden nationalen Sicherheitsvorsorge“ (Koalitionsvertrag 2005: Zeile 6.474–78). Große Erwartungen waren damit geweckt: Während es der Vorgängerregierung nicht (mehr) gelungen war, ein eigenes Weißbuch zu veröffentlichen, setzte sich die neue Große Koalitionsregierung das Ziel, ein ebensolches innerhalb der ersten 14 Regierungsmonate zu verabschieden. In der Forschung hat in der Breite bislang keine intensive Auseinandersetzung mit dem Weißbuch 2006 stattgefunden. Aus der Forschungsliteratur sind vier Beiträge herauszugreifen, welche sich ausführlicher mit dem Weißbuch 2006 auseinandersetzen. Ernst-Christoph Meier setzt es in seinem Beitrag in den politischen Kontext und legt dar, welchen Zwängen die Erarbeitung unterlegen hat, ohne jedoch konkret aufzuzeigen, wie dies in der Praxis en détail abgelaufen ist. Dabei weist er mehrfach auf die konzeptionellen Vorarbeiten hin, die verdeutlichen, dass das Weißbuch 2006 immer auch dem Merkmal der Kontinuität Rechnung trägt (Meier 2010, S. 55–56, 59, 63). In der Diskussion mit den Inhalten des Weißbuchs befasst sich Meier mit den sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands und bewertet deren Darstellung als richtigen Schritt, der jedoch vor einer konkreteren Formulierung zurückweicht. Wenngleich Meier selbst die Definition und Konzeption von Interessen nur für bedingt zielführend hält (Meier 2010, S. 60, Fn. 6), bemängelt er vor allem die fehlenden Verbindungen zu strategischen Handlungsfeldern. Interessen und

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Handlungsfelder können, so die Auffassung Meiers, nicht losgelöst voneinander betrachtet werden; genau dies sei jedoch im Weißbuch 2006 der Fall (Meier 2010, S. 61–62). Seine Bewertung weiterer Kernpunkte fällt ebenfalls durchwachsen aus, wenngleich er entlastend anführt, dass dies dem Charakter des Dokumententyps geschuldet ist: „Politische Grundsatzdokumente müssen damit leben, hohe Erwartungen zu wecken und nachfolgend Enttäuschungen zu generieren“ (Meier 2010, S. 68). Damit schließt sich Meier der Bewertung der sicherheitspolitischen Community an: Dem Weißbuch 2006 fehle es an konkreten Aussagen und es bleibe hinter den eigenen und fremden Erwartungen zurück (Meier 2010, S. 67). Herbert Maier konzentriert sich in seinem Beitrag auf den Aspekt einer sich wandelnden Bundeswehr im Rahmen internationaler Konfliktlösung. Er beschränkt sich bei der Diskussion des Weißbuchs 2006 auf jene Passagen, die für den tatsächlichen Einsatz von Streitkräften der Bundeswehr zur Konfliktlösung relevant scheinen. Die von ihm konstatierte Unschärfe im Weißbuch 2006 ist seiner Meinung nach Ausdruck einer gewissen Strategielosigkeit (Maier 2010, S. 4, 6–7; 2012, S. 194–95). Obschon er dem Weißbuch den Grundlagencharakter nicht absprechen will, spricht er sich langfristig für eine verschriftlichte Nationale Sicherheitsstrategie aus, denn „ein solches Papier hätte den Vorteil, dass die Politik gezwungen wäre, eine Debatte nicht nur zu führen, sondern auf oberster Regierungsebene auch Position zu beziehen und Verantwortung zu übernehmen. Ein vo[m] Verteidigungsministerium herausgegebenes Weißbuch kann diese Verantwortung nicht tragen – und die Bundeswehr vor Ort erst recht nicht“ (Maier 2010, S. 7). Damit bietet Maier eine zu diesem Beitrag konkurrierende Erklärung der beschränkten Aussagekraft des Weißbuchs: Ursächlich sei weniger die Konzeption des Weißbuchprozesses, als vielmehr eine generell verwurzelte Strategielosigkeit. Mit dem Beitrag Ulrich Schlies, dem damaligen Chef des Planungsstabs, liegt schließlich eine Analyse vor, die aufgrund des beruflichen Hintergrunds und des Titels („Der Weg zum Weißbuch und Folgerungen für die sicherheitspolitische Diskussion“) Tiefe und Detailkenntnis erwarten lässt. Jedoch erfüllt Schlie diese Erwartungen nicht. Wie Maier spricht auch Schlie die fehlende strategische Kultur in der Bundesrepublik an, hebt jedoch zugleich hervor, dass das Weißbuch 2006 mit den Weißbüchern anderer Länder zu vergleichen sei (Schlie 2015, S. 141). Ferner spricht Schlie die politischen Begleitumstände und Schwierigkeiten an: Von den Bearbeitern waren nicht nur „Behutsamkeit und Verschwiegenheit erfordert“, sondern „Befindlichkeiten der Großkoalitionäre“, „spekulative Zeitungsartikel“ und die „wiederholten Versuche, durch Indiskretionen Streit in die Reihen der großen Koalition zu tragen und das Unterfangen havarieren zu lassen“, „ließen die Erstellung des Weißbuchs 2006 von Anfang an zu einem sensitiven Unterfangen geraten“ (Schlie 2015, S. 141). Der Grundtenor des Beitrags verbleibt in einem

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(offensiv) verteidigenden Duktus und erlaubt lediglich eine grobe Rekonstruktion des Weißbuchprozesses 2006. Berthold Meyer schließlich bezeichnet das Weißbuch 2006 in seiner Untersuchung ebenfalls als Grundlagendokument deutscher Außen- und Sicherheitspolitik und diskutiert ausführlich den Aspekt der Interessensdefinition (Meyer 2007, S. 5–14). Besonders anschaulich gelingt der Vergleich zwischen den Weißbüchern 1994 und 2006, der sowohl die Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede erörtert (Meyer 2007, S. 11). Hinweise auf die Aushandlungsprozesse zwischen dem BMVg und AA erlaubt der Vergleich eines Weißbuch-Entwurfs mit der veröffentlichten Version, woraus zumindest an drei Beispielen konkrete Veränderungen erkennbar sind (Meyer 2007, S. 14). Eine detaillierte Rekonstruktion leistet Meyer wiederum nicht, es verdichten sich allenfalls Hinweise auf parteipolitische und ministerielle Konflikte während der Konzeptionsphase. Während keine der vier Beiträge eine umfassende Rekonstruktion des Weißbuchprozesses 2006 leisten will und leistet, verdichten sich die Hinweise, wonach eine detaillierte Rekonstruktion bisher nicht bekannte Befunde ermöglichen kann.

4

Der Weißbuchprozess 2006

Wenngleich wir dem Wörterbuch zur Sicherheitspolitik entnehmen konnten, dass ein Weißbuch im Planungsstab des BMVg erarbeitet wird (Meier et al. 2012, S. 548), bleibt unklar, wer genau damit befasst war. Bis zu seiner Auflösung unter dem damaligen Verteidigungsminister Thomas de Maizière im Jahr 2012 spiegelte der Planungsstab die einzelnen Abteilungen des Ministeriums wider und umfasste einen Umfang von 30–50 Mitgliedern. Wer und auf welche Weise für die Erarbeitung des Weißbuchs 2006 zuständig war, ist mithilfe des Wörterbuchs zur Sicherheitspolitik nicht zu beantworten.

4.1

Chronologische Rekonstruktion des Weißbuchs 2006

Erste Vorarbeiten für das Weißbuch 2006, wie beispielsweise die Durchführung von Bewerbungsgesprächen für die aktualisierte Besetzung des Planungsstabs, fanden im Dezember 2005 und Januar 2006 statt (Interview III). Ab Januar 2006 wurde mit der inhaltlichen Erarbeitung des Weißbuchs begonnen (Schlie 2015, S. 141; Interview VII; VIII). Ziel war es, einen ersten Entwurf sehr zügig zu erarbeiten, sodass eine Frist von ungefähr zwei bis drei Wochen vorgegeben wurde (Interview

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V). Diese erste Zielmarke ließ sich nicht erreichen (Interview V; VII). Bis April 2006 konnte schließlich die Haus-Version erarbeitet werden, die innerhalb des BMVg abgestimmt war, dem Minister vorgelegt wurde und für die Ressortabstimmung Verwendung fand (Interview III; VI; XIV). Dabei erfolgte in einer ersten Runde zunächst zwischen dem BMVg und dem AA eine Abstimmung auf bilateralem Wege, die im Groben bis Juli 2006 erreicht war. Parallel ist auch den Fraktionsvorsitzenden der Regierungsparteien im Bundestag ein Entwurf des Weißbuchs zugestellt worden (Interview VII; VIII; X). Bereits zu diesem Zeitpunkt konnten Mitglieder des Planungsstabs absehen, dass eine Verabschiedung vor der parlamentarischen Sommerpause nicht möglich war. Einerseits war nicht voraussehbar, wie viel Zeit die Ressortabstimmung in Anspruch nehmen würde, zum anderen erforderten organisatorische Maßnahmen, beispielsweise die Drucklegung, einen längeren zeitlichen Vorlauf (Interview VII). Auch die Bearbeitung am Wochenende und in den Nachtstunden, unterbrochen von kurzen Schlafphasen im Sanitätsraum des Ministeriums, vermochte daran nichts zu ändern (Interview VII). Nach der erfolgten Abstimmung zwischen dem BMVg und dem AA schloss sich eine zweite Abstimmungsrunde an, in welcher der neue Entwurf an alle Ressorts zur Mitzeichnung weitergeleitet wurde. Die Änderungswünsche der einzelnen Ressorts wurden im Anschluss bilateral mit dem BMVg abgeglichen. Wenngleich es im Rahmen der Ressortabstimmung nur zu geringfügigen Verzögerungen kam, verfestigten sich die bestehenden Zweifel am geplanten Veröffentlichungstermin (Interview VII). Bedingt durch die Veröffentlichung eines geleakten Entwurfs und die Diskussion über das neue Weißbuch stieg der (politische) Druck stetig, sodass unter allen Bedingungen an der nunmehr geplanten Veröffentlichung nach der Sommerpause festgehalten wurde (Interview VIII). In der dritten Runde der Ressortabstimmung wurden letztlich in der Runde aller Ministerien finale Änderungen diskutiert. War damit im Anschluss an die parlamentarische Sommerpause 2006 eine Einstimmigkeit aller Ressorts erzielt, haben die ausstehenden organisatorischen Prozesse (Layout, Auswahl der Fotos und Ähnliches) weitere Bearbeitungszeit erfordert. Schließlich ist es gelungen, das Weißbuch 2006 am 25.10.2006 im Bundeskabinett zu verabschieden und der Öffentlichkeit zu präsentieren. Für den Beschluss des Bundeskabinetts wurde auf Bestreben der Projektgruppe Weißbuch 2006 mit dem Stauffenberg-Saal im BMVg ein historisch bedeutsamer Ort ausgewählt. Diese symbolische Wahl sollte dem Konzept der vernetzten Sicherheit visuell gerecht werden und eine entsprechende Verbindung zwischen Bundeskanzlerin Merkel, den übrigen Kabinettsmitgliedern und dem Weißbuch ermöglichen (Interview VII; X). Die von der Bild-Zeitung veröffentlichten Bilder des sogenannten Totenkopf-Skan-

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dals8 bestimmten jedoch die Schlagzeilen des Tages und ließen die Verabschiedung des Weißbuchs 2006 durch das Bundeskabinett in den Hintergrund treten (Schlie 2015, S. 146–47; Interview VII).

4.2

Die Erarbeitung und Abstimmung des Weißbuchentwurfs innerhalb des BMVg

4.2.1 Verantwortlichkeiten Wer war für die Erarbeitung verantwortlich? Festzustellen ist, dass es innerhalb des Planungsstabs eine eigene, nach außen informelle Projektgruppe Weißbuch 2006 gab. Diese bestand im Wesentlichen aus sechs Personen: Neben dem Leiter des Planungstabs Schlie und seinem Stellvertreter, sind zu Beginn drei Referenten sowie ein für die Redaktion zuständiger Offizier hinzuzuzählen (Interview III; VI; VII; X). Die Projektgruppe Weißbuch 2006 setzte sich hierbei sowohl aus Mitgliedern zusammen, die bereits im Planungsstab unter Franz Borkenhagen, dem Vorgänger Schlies, tätig waren als auch aus Mitgliedern, die erst seit dem Regierungswechsel im November 2005 im Planungsstab beschäftigt waren. Im Rahmen der weiteren Erarbeitungsphase hat sich die Anzahl der beteiligten Personen in der Projektgruppe Weißbuch 2006 verringert, sodass spätestens ab April 2006 nur noch fünf Personen mit der Erarbeitung des Weißbuchs betraut waren (Interview III; VI). Die übrigen Mitglieder des Planungsstabs konnten faktisch den Gesamtprozess nicht überblicken, wenngleich sie regelmäßig einzelne Vorlagen für das Weißbuch 2006 erstellten. Die Festlegung von Umfang und Zusammensetzung der Projektgruppe Weißbuch 2006 wurde auf Vorschlag des Chefs des Planungsstabs von der Spitze des Ministeriums vorgenommen (Interview III).

4.2.2 Ein neuartiges Weißbuch Die Entscheidung, ein grundsätzlich neues Weißbuch zu erarbeiten und nicht auf den Entwurf des Weißbuchs 2005 zurückzugreifen, welches kurz vor der endgültigen Abstimmung der Haus-Version stand, ist auf den erklärten Willen des Planungsstabs zurückzuführen, nicht nur ein neues, sondern auch ein neuartiges Weißbuch zu erstellen (Interview VIII; V; VI; VII; X). Ältere Weißbücher wurden als wenig ambitioniert empfunden (Interview III; VI; VII). Es habe sich, so die Beurteilung, hauptsächlich um eine sehr detaillierte Beschreibung und Bestandsaufnahme der Bundeswehr gehandelt: Was die Truppe kann, was sie können soll und wie 8

Gemeint ist die Veröffentlichung geschmackloser Bilder deutscher Bundeswehrsoldaten mit skelettierten Körperteilen in Afghanistan.

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sie am besten dorthin kommt. Das Weißbuch 2006 hingegen sollte nicht nur der Selbstbeschreibung der Bundeswehr dienen, sondern einen wesentlichen Beitrag zur Gestaltung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik leisten. In besonderem Maße trifft dies auf den ersten Teil des Weißbuchs zu (BMVg 2006b, S. 14–62; Interview III; VI; VII; XIV).

4.2.3 Organisation des Arbeitsprozesses Die Organisation des Arbeitsprozesses ergab sich im Wesentlichen aus der Struktur der Projektgruppe Weißbuch 2006: Während die Spitze des Planungsstabs die Gesamtkoordination übernahm, wurden – zusammen mit dem Chef des Planungsstabs – zwei Referenten mit dem ersten Aufschlag des vorderen Teils (BMVg 2006b, S. 14–62) betraut. Ein dritter Referent war für die Koordinierung und Zusammenstellung des zweiten, sogenannten grünen Bundeswehr-Teils (BMVg 2006b, S. 65–158) verantwortlich, während mit der redaktionellen Umsetzung wiederum ein Projektoffizier befasst war. Es gab demnach eine klare Aufgabenteilung, während die Gesamtleitung gebündelt in den Händen des Planungsstabchefs lag. Bereits im Rahmen der Haus-Version wurde großer Wert auf die Formulierung einzelner Passagen gelegt. So wurden auch kleinteilig erscheinende grammatikalische wie semantische Einzelheiten ausgiebig erörtert, sodass bereits in einem frühen Stadium wesentlich mehr Zeit benötigt wurde, als ursprünglich angedacht (Interview III; VI). Während für die Erarbeitung des Weißbuchs 2005 ein sogenanntes Redaktionelles Konzept (BMVg 2005) erstellt wurde, in welchem detailliert festgeschrieben stand, welche Teile des Ministeriums für welchen Abschnitt zuständig sind und wann diese zu verfassen sind, gab es im Weißbuchprozess 2006 ein solches Konzept nicht (Interview VI; VII).

4.2.4 Die Erarbeitung der Haus-Version Für den Prozess der Erarbeitung der Haus-Version sind drei wesentliche Merkmale charakteristisch: Erstens hat die Projektgruppe Weißbuch 2006 einerseits eigene Inhalte formuliert, beispielsweise nahezu den gesamten ersten Teil des Weißbuchs. Ein gemeinsames Brainstorming zu Beginn bildete hierzu den Auftakt, in dessen Folge der Chef des Planungsstabs eine erste Skizze festlegte und einen Erstentwurf innerhalb von zwei bis drei Wochen anforderte. Im Laufe der weiteren Bearbeitung kam es sodann zu kontinuierlichen Überarbeitungen der erstellten Bestandteile des Weißbuchs (Interview VI; X). Vorlagen aus dem Haus flossen ein oder wurden vollständig übernommen, in besonderem Maße für den zweiten Teil des Weißbuchs. Neue Informationen, Anforderungen und Wünsche sind fortlaufend an die Projektgruppe Weißbuch 2006 herangetragen worden (Interview VI). Teilweise erfolgte dies

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mit zunehmender Projektdauer durch den Minister selbst: Hierzu wurden einzelne Teilpassagen zur Vorlage weitergereicht, die dann mit entsprechenden Vermerken zurück an den Planungsstab gereicht wurden (Interview V; X). Teilweise gab es auf informellem Wege einen regelmäßigen Informationsaustausch mit externen Dritten (Interview III; X; XIV), welcher mehrheitlich vom Chef des Planungsstabs persönlich geführt wurde, sodass für die übrigen Akteure in der Regel nicht nachzuvollziehen war, auf welche Weise neuer Input erfolgte (Interview III; VI; VII). Zweitens legte der Chef des Planungsstabs großen Wert auf die Informationshoheit innerhalb des Planungsstabs, wie auch innerhalb des BMVg (Schlie 2015, S. 141). In der Praxis führte dies dazu, dass die meisten Gespräche und Beratungen mündlich oder fernmündlich, das heißt weitgehend inoffiziell, geführt wurden (Interview III; VI). Nur in Ausnahmefällen fand ein schriftlicher Austausch statt. Das erklärte Ziel bestand darin, fixierte und damit weiterreichbare Versionen des Weißbuchs möglichst lange zu verhindern (Interview III; VI; VII). Durch die strikte Kontrolle sollte sichergestellt werden, dass – von individuellen Entscheidungen des Ministers abgesehen – nur eine Handvoll von Personen den Gesamtprozess überblicken konnte. Weder waren die militärische Führung der Bundeswehr, beispielsweise vertreten durch den Generalinspekteur der Bundeswehr, noch der Pressestab des BMVg involviert (Interview XI; XIV). Bis zur finalen Erarbeitung der Haus-Version gelang dies. Die unautorisierte Veröffentlichung der Haus-Version kurz nach Abschluss der BMVg-internen Prozesse wurde von der Projektgruppe Weißbuch 2006 als negativ aufgefasst, da schlagartig eine (öffentliche) Diskussionsgrundlage entstand, welche einer großen Zahl von Diskutanten eine Einmischung erlaubte (Interview X). Mit der Weitergabe an andere Ressorts zur Abstimmung und an die Fraktionsvorsitzenden der Regierungsparteien ließ sich eine strenge Informationspolitik ohnehin nicht mehr aufrechterhalten.9 Das dritte Merkmal betrifft die Frage, auf welcher Ebene die Zusammenarbeit zwischen der Projektgruppe Weißbuch 2006 bzw. den beauftragten Referenten stattgefunden hat. Hierbei ist festzustellen, dass die zuständigen Referenten im Planungsstab mit einzelnen Aufträgen betraut wurden. Diese traten direkt an die entsprechenden Spiegel-Referenten im BMVg heran und erarbeiteten gemeinsam eine Vorlage. Diese wurde dann in der Regel zunächst innerhalb des Planungsstabs abgesprochen und bei Bedarf dem Minister zur weiteren Entscheidung vorgelegt. 9 Die persönliche Auslieferung von Hardcopy-Versionen durch Mitglieder der Projektgruppe Weißbuch 2006, versehen mit teils individuellen Rechtschreibfehlern, ist in dieser Hinsicht vielmehr als formelle Eigenabsicherung verstanden worden (Interview VII; X).

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Das selbe Muster zeigte sich bei der Abstimmung mit anderen Ressorts. Ziel war es, bereits auf der Ebene der zuständigen Referenten einen Konsens zu erlangen, sodass im Idealfall das gesamte Weißbuch auf Arbeitsebene abgestimmt werden konnte. Gab es innerhalb des BMVg Widerstände und Probleme? In keinem Interview wurde von schwerwiegenden Problemen berichtet. Geäußert wurde jedoch auch die Einschätzung, dass bereits in der Organisationsstruktur des BMVg ein gewisser Grundkonflikt angelegt sei: Da grundsätzlich alle Abteilungen und Referate die uneingeschränkte Kompetenzhoheit über das eigene Sachgebiet beanspruchen, führe die Spiegelung innerhalb des Planungsstabs automatisch dazu, dass mindestens zwei Parteien für dasselbe Fachgebiet zuständig sind. Die Absicht, ein neuartiges Weißbuch zu schreiben, habe bei Einzelnen die Befürchtung geweckt, dass daraus Konsequenzen für den eigenen Hoheitsbereich erfolgen. Daneben war mit der weit fortgeschrittenen Erarbeitung des Weißbuchentwurfs 2005 ein weiterer Unruheherd identifizierbar: Die Projektgruppe Weißbuch 2006 ging davon aus, dass innerhalb des BMVg die Erwartung bestand, einzelne Passagen aus dem Weißbuchentwurf 2005 im Weißbuch 2006 wiederzufinden. Ein Vergleich zwischen dem Weißbuchentwurf 2005 und aktuellen Versionen der 2006er-Version sollten daher verhindert werden (Interview V; VII; VIX). Die strikte Informationspolitik wird einerseits nachvollziehbar, sie verursachte aber auch Reibungsverluste. In besonderem Maße galt dies für die militärische Führungsebene des BMVg, welche letztlich mit der operativen Umsetzung etwaiger Maßnahmen betraut werden würde. Sie wurde erst zu einem relativ späten Zeitpunkt einbezogen (Interview XI; XIV). In der Konsequenz führte dies nicht nur dazu, dass der Entwurf überarbeitet werden musste, da einzelne Passagen schlichtweg nicht umzusetzen waren, sondern auch, dass innerhalb des Hauses das Weißbuch 2006 lange Zeit als Dokument des Planungsstabs bewertet wurde.10 Dies ermöglichte es der militärischen Spitze sich davon zu distanzieren, andererseits wurde im Nachgang eine Informationskampagne innerhalb der Truppe nötig, um auch den militärischen Teil des Hauses vom Weißbuch 2006 zu überzeugen (Interview XI, XIV).11

10 So der Befund der auszugsweisen Akteneinsicht einer Vorlage für den Generalinspekteur. Anlass war die Auswertung des Weißbuchs 2006 durch die militärische Führung der Bundeswehr unter Berücksichtigung inhaltlicher wie sprachlicher Neuerungen. 11 Inwiefern auch die chaotischen Verhältnisse am Tag der Veröffentlichung Ausdruck einer gewissen Verstimmung zwischen Planungsstab und Pressestab sind, soll an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden (Interview I).

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4.3

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Das Weißbuch 2006 in der Ressortabstimmung

Grundsätzlich war für die beteiligten Akteure unstrittig, dass ein Dokument der Bundesregierung, versehen mit einem Vorwort der Bundeskanzlerin und offiziell verabschiedet durch einen Kabinettsbeschluss, der Zustimmung aller Ressorts bedurfte. Drei Ressort-Cluster lassen sich hierbei identifizieren: 1. Ressorts, welche keinerlei Verbindung zum BMVg und zu den Inhalten des Weißbuchs hatten und sich weitgehend darauf beschränkten, einzelne Entwürfe und Vorlagen kommentarlos mitzuzeichnen. 2. Ressorts, die inhaltlich wenig Interesse an einer Mitzeichnung hatten, jedoch indirekt von programmatischen Festlegungen und Absichten im Weißbuch betroffen sein könnten. Hier ist vor allem an das Bundesfinanzministerium zu denken, welches alle Aussagen des Weißbuchs auf mögliche Auswirkungen auf den Bundeshaushalt hin prüfte. 3. Die dritte Gruppe bildete Ressorts, die auch thematisch mit den im Weißbuch behandelten Themen eng verbunden waren oder für sich gar in Anspruch nahmen, selbst das zuständige Ressort zu sein. Für das Weißbuch 2006 waren in diesem Zusammenhang vier Ressorts dem dritten Cluster zuzuordnen: Neben dem AA sind das Bundesministerium der Justiz (BMJ), Bundesministerium des Inneren (BMI) und das Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (BMZ) zu nennen. Das BMJ und das BMI waren bezüglich eines möglichen Einsatzes der Bundeswehr im Inneren Verhandlungspartner im interministeriellen Abstimmungsprozess, das BMZ im Hinblick auf das Konzept der vernetzten Sicherheit. Das AA hingegen stellte neben dem BMVg den Hauptakteur dar und hat sich insbesondere im Hinblick auf den ersten Teil des Weißbuchs 2006 (BMVg 2006b, S. 14–62) nachhaltig engagiert. Die Federführung des BMVg stand hierbei dem Selbstverständnis des AA entgegen, wonach dieses ganz wesentlich für den ersten Teil des Weißbuches 2006 zuständig gewesen wäre (Interview III; VII; IX).12 Unbestritten war auf beiden Seiten jedoch die grundsätzliche Notwendigkeit zur Zusammenarbeit, sodass die erste Runde der Ressortabstimmung zwischen dem AA und BMVg stattfand (Schlie 2015, S. 141; Interview VIII; IX; X). Neben einem intensiven Austausch auf der

12 Wenngleich die offizielle Hoheit für das gesamte Weißbuch vom BMVg beansprucht wurde, konnte im Rahmen der Untersuchung festgestellt werden, dass die meisten Akteure des BMVg die Einschätzung des AA im Grunde – und freilich nicht öffentlich – teilten.

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Arbeitsebene der Referenten beinhaltete dies auch die direkte Abstimmung zwischen den Ministeriumsspitzen (Interview XIII). Im Rahmen der empirischen Analyse ließen sich drei konfliktbeladene Themenfelder identifizieren: Neben der konkreten Ausgestaltung des Konzepts der vernetzten Sicherheit handelte es sich um die Auseinandersetzung über den Einsatz der Bundeswehr im Inneren sowie um die Ausgestaltung deutscher Interessen. Am Beispiel des Konzepts der vernetzten Sicherheit lässt sich nachvollziehen, wie programmatische Aussagen im Rahmen der interministeriellen Abstimmung weichgespült wurden. Einerseits wurde das Schlagwort der vernetzen Sicherheit zum Grundmotiv des Weißbuchs 2006 erklärt – auch zehn Jahre nach Veröffentlichung betont der ehemalige Verteidigungsminister Jung die Bedeutung dieses Konzepts.13 Andererseits zeigte sich, dass eine wesentliche Konsequenz des Konzepts der vernetzten Sicherheit nicht Eingang in das Weißbuch 2006 fand (Schlie 2015, S. 147–48; Meyer 2007, S. 15–16). In der Haus-Version des BMVg wurde das Konzept der vernetzten Sicherheit nicht nur ausführlicher diskutiert, sondern war mit konkreten Vorschlägen versehen, welche institutionellen Schlussfolgerungen sich daraus ergeben (BMVg 2006a, S. 10–12). Der Entwurf des BMVg war von der Überzeugung geleitet, dass die bestehende Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik dem Konzept der vernetzten Sicherheit nur bedingt Rechnung trug und einer Veränderung bedurfte. Angedacht war die Etablierung eines Bundessicherheitsrats Plus14 (Interview VII). Im Rahmen der Ressortabstimmung kam es in der Folge zu einer verschärften Auseinandersetzung, die sodann lediglich einen Minimalkonsens erlaubte: Die Ausführungen zum Konzept der vernetzten Sicherheit sind aus diesem Grund in starkem Maße zusammengekürzt und in ihrer Aussagekraft abgemildert worden (BMVg 2006a, S. 10–12; BMVg 2006b, S. 25–28). So verdeutlicht ein Vergleich der unten aufgeführten Beispiele, wie aus einem proaktiven Duktus (wird geprüft, wird minimiert werden) ein den Status quo betonender Duktus gefunden wurde (bleibt offen für Anpassungen): „Im Rahmen der weiteren Umsetzung des umfassenden Ansatzes deutscher Sicherheitspolitik wird geprüft, ein nationales Schutzzentren-Konzept zu entwickeln, an dem sich alle Institutionen der staatlichen Sicherheitsvorsorge mit eigenen oder gemeinsamen Standorten einbringen können. Durch eine derart übergreifende Struktur wird der bisher bestehende Koordinierungsaufwand minimiert werden.“ (BMVg 2006a: S. 12). 13 Unter anderem beim Fachgespräch der Unionsfraktion anlässlich der Erarbeitung des Weißbuchs 2016, in: http://bit.ly/1LE3RXP. Zugegriffen: 08. Juli 2018. 14 So die Formulierung eines Interviewten.

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„Zum Aufbau einer ressortübergreifenden Netzwerkstruktur wurden mit der Einrichtung des Krisenreaktionszentrums des Auswärtigen Amtes“, in dem im Falle von zivilen Krisen und Katastrophen im Ausland der Krisenstab der Bundesregierung tagt, des „Nationalen Lage- und Führungszentrums Sicherheit im Luftraum“, des „Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums“ sowie verschiedener Einrichtungen im Bereich des Bevölkerungsschutzes von Bund und Ländern wichtige Schritte unternommen. Diese Struktur bleibt offen für Anpassungen an veränderte Aufgaben.“ (BMVg 2006b: S. 26).

Die konsensfähige Formulierung strittiger Passagen in der Ressortabstimmung geschah mithilfe eines dreistufigen Verfahrens. Zunächst kam es zu einer Verständigung zwischen dem AA und BMVg. Das BMVg trat hierzu mit der Haus-Version an das AA heran um möglichst rasch eine Mitzeichnung zu erlangen. Im Mittelpunkt der Diskussion stand der erste Teil des Weißbuchs 2006, welcher beinahe vollständig überarbeitet wurde. Mit diesem Prozess waren die Spitze des Planungsstabs des BMVg sowie im Wesentlichen zwei Referenten der politischen Abteilung im AA betraut (Interview IX; X). Nach ungefähr zwei Monaten bis Ende Juli 2006 gelang es, einen Konsens zu erzielen (Schlie 2015, S. 141). In der zweiten Stufe ist der zwischen dem AA und BMVg abgestimmte Entwurf des Weißbuchs an alle Ressorts einschließlich des BKAmts weitergeleitet worden. Die Ressorts wurden um Mitzeichnung gebeten, sodass in dieser Phase sämtliche Änderungsvorschläge gesammelt werden konnten. Die Abstimmung zwischen dem BMVg und den einzelnen Ressorts erfolgte wiederum bilateral: Die Spitze des Planungsstabs verhandelte hierzu solange mit den entsprechenden Ansprechpartnern bis eine Einigung erzielt wurde (Interview X). Gelang es in Einzelfällen allen Bemühungen zum Trotz nicht einen Konsens zu erreichen, wurden diese Aspekte für die finale dritte Stufe zurückgestellt. Bevor die Verabschiedung des Weißbuchs 2006 in großer Runde finalisiert werden konnte, wurden alle einzeln aufgenommenen Änderungen zusammengeführt. Am Ende der zweiten Stufe war demnach wiederum ein Weißbuchentwurf entstanden, welcher – von einzelnen Unstimmigkeiten abgesehen – von allen Ressorts bilateral mitgezeichnet worden war. In der dritten Stufe kam es dann im Rahmen sogenannter Mitzeichnungskonferenzen zu einer endgültigen Einigung. Diese Mitzeichnungskonferenzen waren aufgrund des großen Zeitdrucks so konzipiert, dass eine Einigung praktisch unumgänglich war. Die Ansetzung immer neuer Runden führte zu einer stetigen Annäherung. Während dies Pausen und Rücksprachen einschloss, ergaben sich zwei Vorteile: Erstens blieb der Abstimmungsprozess vital. Zweitens war ein Abbruch nur noch im äußersten Fall vorstellbar. Hier ist ein Wirkungsmechanismus erkennbar, wie er auch in anderen Zusammenhängen, beispielsweise im Rahmen

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der Eurokrise, zu beobachten war (Pinfari 2013; Friz 2015; Mussler 2015): Langwierige Verhandlungen bis tief in die Nacht erlaubten Übereinkünfte, die tagsüber noch nicht vorstellbar schienen. Im Laufe der Ressortabstimmung standen die Klarheit, Aussagekraft und im Zweifel auch die Stringenz des Weißbuchs 2006 in besonderem Maße zur Disposition. Wenngleich die Federführung de jure stets beim BMVg lag, handelte es sich spätestens mit Beginn der Ressortabstimmung um ein ressortübergreifendes Dokument der Bundesregierung. Das BMVg hatte de facto seine Prozesshoheit verloren und konnte seine Vorstellungen nur in dem Maße einbringen, wie dies ebenfalls für die anderen Ressorts galt.

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Zusammenfassung

Die weitreichende Autonomie des Planungsstabs war das bestimmende Element bei der Erarbeitung des Weißbuchs 2006. Angesichts ihrer eigenständigen Position im Organigramm und dem damit verbundenen direkten Zugang zur Ministeriumsspitze war es der Projektgruppe Weißbuch 2006 möglich, weitgehend frei von den zu erwartenden bürokratischen Abläufen und Zwängen einen Entwurf des Weißbuchs 2006 zu erarbeiten. Der Zielsetzung, ein neues und zugleich neuartiges Weißbuch zu erarbeiten, welches zu einer Diskussion über deutsche Außen- und Sicherheitspolitik führt, wurde damit Rechnung getragen. Bedingung für die autonome Erarbeitung eines solchen Entwurfs war eine strikte Informationspolitik und eine Organisation des Arbeitsprozesses, dessen Kommunikation weitgehend auf informellem Weg verlief. Im Vergleich zur Organisation des Weißbuchprozesses 2005 stellte dies eine Neuerung dar. Dies erlaubt die Einschätzung, dass – in Verbindung mit der Neubesetzung wichtiger Schlüsselpositionen – in organisatorischer Hinsicht weitgehend Neuland betreten wurde. Die Autonomie des Planungsstabs war größer, als bisher in der Politikwissenschaft angenommen (Hellmann und Baumann 2014): Es war im Wesentlichen einer einzigen Person möglich, die Konzeption – inhaltlich wie organisatorisch – zu bestimmen. Iver B. Neumann rekonstruierte, wie Ministerreden als abgestimmte Dokumente innerhalb eines Ministeriums produziert werden (Neumann 2007). Dieser Beitrag hingegen leistet eine Rekonstruktion eines Dokuments, hinter welchem – um Neumann zu paraphrasieren – weder das ganze Ministerium noch das gesamte Kabinett standen. Die weitere Abstimmung der Haus-Version zwischen den Ressorts folgte einem eingespielten Ablauf, der allen Beteiligten bekannt war und sich beliebig auf weitere Dokumente und Vorgänge übertragen lässt. Der autonom

Wie entstehen strategische Dokumente?

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erarbeitete Entwurf des Planungsstabs wurde während des gesamten Prozesses immer weiter geschliffen. Dieses charakteristische Nachbessern war insbesondere deshalb notwendig, da zunächst keiner der relevanten Veto-Player beispielsweise aus der militärischen Führung, dem Parlament oder dem Auswärtigen Amt einbezogen wurde. Der Preis des neuartigen ersten Entwurfs ist in den folgenden Monaten mit einem mehrfachen Nachbessern bezahlt worden. Geopfert werden mussten unter anderem die konkreten Ausführungen zum Konzept der vernetzten Sicherheit, wobei plausibel scheint, dass ein alternatives Prozessmanagement weitergehende Aussagen im Weißbuch 2006 erlaubt hätte.15 Können wir nun rekonstruieren, wie das Weißbuch 2006 erarbeitet wurde, erhalten wir zugleich eine Erklärung, warum dieses Dokument – trotz der geschilderten Probleme – verabschiedet wurde: Der erklärte Wille zur Verabschiedung des Weißbuchs, dokumentiert im Koalitionsvertrag und im Wunsch einer Abgrenzung zur rot-grünen Vorgängerregierung, führte dazu, dass im Rahmen der Ressortabstimmung auch größere Widerstände überwunden werden konnten. Freilich geschah dies zu dem politischen Preis, dass die Einigung zulasten der Stringenz und inhaltlichen Wirkung ging. Planungs- und Konzeptionsfehler bezüglich der Erarbeitung des Weißbuchs spiegeln sich damit in den programmatischen Aussagen wider: Die mutige, teils forsche Haus-Version konnte ihren Charakter nicht bis zum Schluss bewahren. Verallgemeinerbare Aussagen über sicherheitspolitische Strategien und zur strategischen Kultur in der Bundesrepublik erlaubt diese Analyse nicht. Hierzu bedürfte es vielmehr einer besseren Datenlage und es müsste eine Vielzahl an Einzelfallstudien vorliegen, um Muster erkennen und Veränderungen entdecken zu können. Bereits die im Vergleich zum Weißbuch 2006 unterschiedlich gestalteten Prozesse beim Review2014 des AA und des Weißbuchs 2016 des BMVg unterstreichen die Volatilität solcher Dokumente und Konzepte: Sie sind Ausdruck ihrer Zeit und sollten – so das Plädoyer dieses Beitrags – immer auf die befassten Personen, Umstände und die politische Großwetterlage zurückgeführt werden. Der Inhalt des Weißbuchs 2006 ist nur vor dem Hintergrund seiner Erarbeitung zu verstehen und zu bewerten. So betrachtet, sollte davon Abstand genommen werden, allzu direkt vom Weißbuch 2006 auf die strategische Kultur der Bundesrepublik zu schließen. Man mag als Politikwissenschaftler einer historisierenden Einzelfallstudie skeptisch begegnen, sollte sich aber stets in Erinnerung rufen, dass für die Politikwissenschaft 15 So liefert der Weißbuchprozess 2016 eine Argumentation dafür, kritische Stimmen und Vetoplayer bereits in einem frühen Stadium einzubeziehen und Widerstände zu entkräften. Mit Neumann (2007) lässt sich freilich einwenden, dass ein hausinterner partizipativer Prozess mindestens genauso zu einem Abschleifen geführt hätte.

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das Verstehen politischer Prozesse elementar ist (Hellmann und Rudolf 2007). Erst aus einem solchen umfassenden Verständnis heraus können weitergehende Fragen gestellt werden und gegebenenfalls Gesetzmäßigkeiten und Theorien gebildet werden. Die vorliegende Sonderausgabe und die zugrundeliegenden Gespräche und Konferenzen bilden hierzu einen fruchtbaren Boden und stärken den Austausch zwischen Praktikern und Theoretikern der außen- und sicherheitspolitischen Community in einem herausragenden Maße. Die Studie zum Weißbuch 2006 gestattet dessen ungeachtet eine Reihe von Anschlussfragen: Wie lassen sich die unterschiedlichen Prozesse zwischen den beiden letzten Weißbüchern erklären? Kam es zu einem Lernprozess oder hat man, gerade im Hinblick auf das Prozessmanagement, im Wesentlichen wieder von vorne angefangen? Hätte das BMVg auch ohne den partizipativen Charakter des Review2014-Projekts eine Vielzahl an partizipativen Workshops im Rahmen der Erarbeitung des Weißbuchs 2016 veranstaltet? Welchen Einfluss hatte die Reorganisation der Ministeriumsspitze im Jahr 2012? Wir sollten uns all diesen und weiteren Fragen annehmen, damit wir gut gerüstet sind für die Frage: Was stünde in einem Weißbuch, wenn man morgen damit anfinge, es zu schreiben?

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Wie entstehen strategische Dokumente?

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Teil II Der Prozess der Strategiebildung

Strategiebildungsprozesse Chancen und Grenzen Thomas Bagger1

Zusammenfassung

Strategieprozesse sind häufig mit unrealistischen Erwartungen überfrachtet. Sie sind weder Allheilmittel für fehlenden innergesellschaftlichen Konsens noch für die Unvorhersehbarkeit der internationalen Politik. Nüchterner betrachtet bieten sie dennoch einen Mehrwert für Politik, Ministerien und Streitkräfte, für Öffentlichkeit und internationale Partner. Ein Vergleich des „Review2014“ des Auswärtigen Amtes und des Weißbuch 2016 erlaubt Rückschlüsse auf die Bedingungen, unter denen normative Präferenzen, nationale Interessen und erforderliche Ressourcen so weit wie möglich zur Deckung gebracht werden können. Schlüsselbegriffe

Deutsche Außenpolitik, Sicherheitspolitik, Strategie, Review2014, Weißbuch2016

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Autorenhinweis: Dr. Thomas Bagger ist deutscher Diplomat. Als Leiter Planungsstab des Auswärtigen Amtes von 2011 bis 2017 verantwortete er u. a. den Prozess „Review2014 – Außenpolitik Weiter Denken“ und war für das AA in die Erstellung des Weißbuchs 2016 eingebunden. Dieser Beitrag gibt ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Jacobi und G. Hellmann (Hrsg.), Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Edition ZfAS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6_6

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Thomas Bagger

Strategiebildungsprozesse – Chancen und Grenzen

Strategiebildung gilt gemeinhin als die hohe Schule der Außen- und Sicherheitspolitik. Es geht ums große Ganze, um die langen Linien, um den Versuch, Ordnung und Richtung in die Komplexität der Phänomene und die Unordnung der Politik zu bringen. Kein Wunder also, dass Strategiebildungsprozesse in schöner Regelmäßigkeit eingefordert und dass sie ebenso oft mit unrealistischen Erwartungen überfrachtet werden. In Deutschland ist die Klage verbreitet, es fehle an strategischem Denken und überhaupt an einer strategischen Community. Ebenso oft wird gefordert, es brauche eine nationale Sicherheitsstrategie, die alle Bedrohungen in den Blick nehmen und alle Handlungsfelder und Akteure der Politik miteinander verknüpfen müsse. Sie würde, so die verbreitete Annahme, die Politik schlüssiger, weniger widersprüchlich, einfach besser machen – sie aber mindestens vor vermeintlichen Fehlentscheidungen bewahren. So war nach der deutschen Enthaltung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zur Libyenintervention im März 2011 die Forderung nach einer deutschen Sicherheitsstrategie auch deshalb besonders populär, weil man sich davon versprach, ein solches Dokument würde eine Wiederholung einer derart kontroversen Entscheidung verhindern.2 Dass auch ausgefeilte Strategiedokumente die Außen- und Sicherheitspolitik nicht zuverlässig vor Kontroversen und auch nicht vor katastrophalen Fehlern bewahren können, verdeutlicht ein Blick in die strategiegesättigte amerikanische Wirklichkeit. Die Entscheidung für den Irakkrieg 2003 hatte ihre ganz eigenen Motivationsstränge. Die nach 9/11 grundlegend erneuerte Nationale Sicherheitsstrategie gehörte kaum dazu. Und in Zeiten von Donald Trump tritt das Problem noch greller zutage. Ed Luce konstatierte nach der ersten „State of the Union“-Rede des Präsidenten in der Financial Times: „Mr Trump’s administration this month released the four-yearly national security strategy. The challenges posed by a rising China and Russia topped the list of threats. On Tuesday night, Mr Trump had nothing to say about either. It was almost as if there were two administrations – one headed by Mr Trump; the other known as the deep state. To put it mildly, they do not read from the same teleprompter.” (Luce 2018). Was aber steckt bei einem nüchternen Blick überhaupt an Chancen in Strategiebildungsprozessen, welchen Nutzen können sie haben, und welche Grenzen sind ihnen gesetzt? Die Entstehung des „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ (Bundesregierung 2016) und der unmittelbar vorher im Auswärtigen Amt abgeschlossene 2

Aus diesen Forderungen entstand ein von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und dem German Marshall Fund verantworteter Reflexionsprozess, dessen Ergebnisse im Herbst 2013 im Papier „Neue Macht, neue Verantwortung“ veröffentlicht wurden.

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„Review2014“ (Auswärtiges Amt 2015) liefern einige aktuelle Einsichten in die Chancen und Grenzen solcher Prozesse.

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Selbstüberprüfung, Konsensbildung, Handlungsanleitung – was soll, was kann ein Strategieprozess?

Mit Strategiebildungsprozessen und Strategiedokumenten verbinden sich für verschiedene Akteure sehr unterschiedliche Erwartungen. Große bürokratische Apparate sind sehr gut darin, Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten festzulegen, aber sie machen die Grundannahmen ihres Handelns nur selten explizit und stellen sie noch seltener in Frage. Strategieprozesse, die in offeneren Formaten und jenseits etablierter Abläufe stattfinden, bieten dafür eine rare, aber umso wichtigere Gelegenheit. Gerade in Zeiten grundlegender Umbrüche und wachsender Ungewissheit ist es von hohem Wert, sich der normativen Grundlagen und übergeordneten Prioritäten zu vergewissern. Darüber hinaus will der ministeriale Apparat in der Regel staatliches Handeln möglichst optimal organisieren. Dafür sollen Selbstverständnis, normative Vorgaben und operationalisierbare Ziele so präzise definiert werden, dass sie als Handlungsanleitung dienen können und es sollen – ganz wichtig – die dafür erforderlichen Ressourcen möglichst unverzüglich bereitgestellt werden. Die Politik hingegen muss Handeln begründen. Ihr ist deshalb besonders – und spürbar immer stärker – an einer möglichst breit angelegten Einbeziehung der Öffentlichkeit gelegen. Denn politische Handlungsfähigkeit ist auch in der Außen- und Sicherheitspolitik immer enger an innenpolitische Zustimmung geknüpft. Für die politisch Verantwortlichen konkurriert zudem die Aussicht, über Strategieprozesse Orientierung über den engen Horizont des Tagesgeschäfts hinaus zu gewinnen, mit der Erkenntnis, dass Politik vielfach aus einzelnen, kontingenten Entscheidungen besteht, die sich nicht leicht zu einem schlüssigen Ganzen fügen, ja dass die Politik überhaupt nicht allein „policy“-Erwägungen gehorcht (Krasner 2009). Strategieprozesse, die nicht gleich zu Beginn einer Legislaturperiode angestoßen werden, laufen deshalb immer Gefahr, auch der nachträglichen Rationalisierung bereits getroffener Entscheidungen dienen zu müssen. Eine Strategie vermittelt schließlich Transparenz für eine breite Öffentlichkeit und Berechenbarkeit in den Augen der Anderen. Sie signalisiert Ziele, Interessen und Prioritäten an Partner und an Kontrahenten – je offener und überzeugender der Prozess, umso glaubwürdiger das Signal. Die Internationalisierung moderner

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Strategieprozesse reflektiert dabei eine zunehmende Verflechtung der Diskurse ebenso wie das gewachsene Gewicht Deutschlands und das parallel dazu gewachsene Interesse an der Motivation, der Debattenlage und den Parametern deutscher Entscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik. Der ursprünglich als Prozess der „kritischen Selbstüberprüfung“ (Steinmeier 2013) konzipierte Prozess des „Review2014“ im Auswärtigen Amt setzte von Beginn an stark auf eine öffentliche, international wie national breit angelegte Debatte. Das begann mit der bewusst provokativ gestellten Frage „Was ist falsch an der deutschen Außenpolitik?“ an 50 internationale Experten und mündete in einer zweiten Phase in einem ambitionierten Online-Auftritt und über 60 öffentlichen Debattenveranstaltungen in neuen, ungewöhnlichen Formaten quer durch Deutschland zu außenpolitisch kontroversen Themen (ausführlicher zu Genese, Verlauf und Schlussfolgerungen des Projekts: Bagger 2015). Dabei war die Einbeziehung der Öffentlichkeit bewusst dialogisch angelegt. Es ging nicht allein um Vermittlung offizieller Positionen und Politik, sondern gleichzeitig um die Aufnahme von Fragen, Erwartungen, Ideen und Anregungen aus einer interessierten Öffentlichkeit. Der unmittelbar im Anschluss konzipierte, aber von vornherein stärker auf das Ziel einer Handlungsanleitung ausgerichtete, und an die Tradition früherer Weißbücher anknüpfende Prozess zum Weißbuch 2016 nahm viele dieser Erfahrungen auf: eine eigene Webseite, Workshops mit internationaler Beteiligung, interaktive Diskussionen, eine halbjährige Phase öffentlicher Beteiligung. Er fügte außerdem mit der stärkeren Nutzung professioneller „Foresight“-Instrumente auch methodisch neue Ansätze hinzu. Die dadurch angeregten Diskussionen verweisen auf ein gemeinsames Strukturmerkmal, das oft unterschätzt wird. Bei der Diskussion über alternative Zukünfte geht es um Plausibilitäten und Entwicklungspfade, nicht um Gewissheiten. Längst nicht alles schlägt sich im Text der Strategiedokumente nieder, es befördert aber eine gemeinsame Reflexion. Die alle vier Jahre vorgelegte umfassende Perspektivstudie des amerikanischen National Intelligence Council kann man unter dem Titel „Die Welt im Jahr 2035“ auch in der Buchhandlung finden (dort mit Verweis auf die CIA, vermutlich weil sich das besser verkauft). Aber das fertige Produkt ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der Fülle von Gesprächen, Debatten, Studien, Szenarien und unterschiedlichsten Anregungen, die das Autorenteam des NIC in einem mehrjährigen Prozess weltweit führt und sammelt. Dieses strukturierte Gespräch, wie es auch bei Review2014 und dem Weißbuch 2016 erst mit einem breiteren Kreis von Experten und interessierter Öffentlichkeit, dann unter den beteiligten Akteuren innerhalb des AA bzw. der Bundesregierung geführt wurde, ist Teil einer Konsensbildung, die Erfahrungshintergründe, vor-

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handene Ungewissheiten und präferierte Handlungsoptionen abgleicht und so jenseits des Tagesgeschäfts Erkenntnisprozesse bündelt und schon dadurch zu einer größeren Schlüssigkeit und Geschlossenheit ministerialen Handelns beiträgt. Der Prozess selbst kann so, richtig angelegt und durchgeführt, einen größeren Nutzen entwickeln als das Produkt, d. h. das Strategiedokument, das als gemeinsamer Nenner am Ende sichtbar wird.

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Prioritäten, Strukturen, Ressourcen – was haben „Review2014“ und das Weißbuch 2016 erreicht?

In der Rückschau lässt sich feststellen, dass beide Strategieprozesse in den „weichen“ Kategorien der Selbstvergewisserung und Priorisierung Erhebliches geleistet haben. Der „Review2014“ entwickelte sich dynamisch von der Ausgangsfrage „Tun wir das Richtige?“ zu einer internen, intensiv und unter breiter Beteiligung geführten Debatte „Tun wir es auf die richtige Art und Weise?“, in der neben Inhalten auch Strukturen, Abläufe und die Arbeitskultur des Hauses insgesamt auf den Prüfstand kamen. Der Abschlussbericht unter dem programmatischen Titel „Krise, Ordnung, Europa“ reflektierte eine von der politischen Leitung des Auswärtigen Amtes getragene und konsequent umgesetzte Priorisierung. Eine Sprache größerer deutscher Verantwortung, „verhandelter Führung“, eines „europäischen Reflexes“ oder auch der „Einsicht in die Begrenztheit unserer eigenen Möglichkeiten“ und der Notwendigkeit, dass „wir uns von der Illusion verabschieden, wir könnten jede krisenhafte Zuspitzung der modernen Welt durch Prävention oder entschlossenes Eingreifen verhindern oder entschärfen“ beschreibt den Pfad einer realistischeren deutschen Außenpolitik, die zugleich ihren praktischen Instrumentenkasten erweitert. In weit ausführlicherer und systematischerer Form ist diese begriffliche und konzeptionelle Weiterentwicklung deutscher Sicherheitspolitik im Weißbuch 2016 sichtbar. „Deutschland ist bereit, sich früh, entschieden und substanziell als Impulsgeber in die internationale Debatte einzubringen, Verantwortung zu leben und Führung zu übernehmen“, heißt es da – eine Sprache, die noch zehn Jahre zuvor keinesfalls konsensfähig gewesen wäre.3 Die neun beschriebenen Herausforderungen

3 Die Formel „früher, entschiedener, substanzieller“ wurde zuerst von Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 benutzt. Der damalige Bundesaußenminister machte sie sich in seiner eigenen Rede vor derselben Konferenz zu eigen. Sie findet sich sowohl im Abschlussbericht des „Review2014“ als auch im Weißbuch2016.

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für die deutsche Sicherheitspolitik spiegeln eine veränderte Bedrohungslage wieder, vom transnationalen Terrorismus an erster Stelle über die – neu aufgenommenen – Herausforderungen aus dem Cyber- und Informationsraum, bis hin zu fragiler Staatlichkeit und unkontrollierter und irregulärer Migration. Die Sprache zu den fünf strategischen Prioritäten reflektiert einen breit angelegten Sicherheitsbegriff ebenso wie die elementare Bedeutung einer regelbasierten internationalen Ordnung für Deutschland. Erst wenn wir uns den konkreten Folgeschritten, den Fragen von Strukturen und Ressourcen, zuwenden, fallen die grundlegenden Unterschiede beider Prozesse ins Auge. Hier lautet die entscheidende Frage: kann der erreichte begriffliche und konzeptionelle Konsens tatsächlich in gemeinsames Handeln übersetzt werden? Leisten Prozess und Dokument einen Beitrag zu „unity of purpose“? Hier ist nicht die kluge Analyse entscheidend, auch nicht die elegante Formulierung, sondern die Staatskunst, das Verstehen und die Konsequenzen daraus für das eigene Handeln so eng wie möglich zu verknüpfen. Im Auswärtigen Amt konnte der verantwortliche Minister den ohnehin auf sein Ressort beschränkten Prozess „Review2014“ in eigener Entscheidung in einen ambitionierten Aktionsplan übersetzen. Der ausgeprägte politische Wille an der Spitze des Hauses, den „Instrumentenkasten“ und das Handwerkszeug der deutschen Außenpolitik zu stärken, machte es möglich, aus den analytisch-konzeptionellen Vorarbeiten ohne Verzug konkrete Schlussfolgerungen zu ziehen. Mit der Schaffung einer neuen Abteilung für „Krisenprävention, Stabilisierung, Konfliktnachsorge und Humanitäre Hilfe“, weiteren Strukturveränderungen und einer grundsätzlichen Öffnung des Amtes für Impulse von außen wurde die weitreichendste Reform des Auswärtigen Amtes seit Jahrzehnten in Gang gesetzt. Ressourcenfragen waren explizit nicht Teil des „Review“-Prozesses. Aber die Wirklichkeit mischte sich massiv in den Strategieprozess ein: Die angesichts der akuten humanitären und politischen Krisen (Ukraine, Ebola, ISIS, Flucht und Migration) 2015 und 2016 rasant anwachsenden Mittel des AA fanden somit eine konzeptionell sorgfältig vorbereitete und im Hause gut eingebettete neue Struktur vor. Strategische Neuausrichtung und Ressourcenaufwuchs gingen Hand in Hand.4 Der Weißbuch 2016 stand in diesen Fragen von vornherein vor komplexeren Herausforderungen. Als gemeinsam vom Kabinett zu beschließendes Dokument 4

Der deutsche Auswärtige Dienst war damit eine absolute Ausnahme. Zahlreiche ähnliche Strategie- und Reviewprozesse anderer europäischer Außenministerien waren vielmehr von der Notwendigkeit getrieben, angesichts drastisch schrumpfender Ressourcen eine neue Priorisierung vorzunehmen, die vor allem der Schadensminimierung diente (vgl. beispielhaft die Beiträge aus Irland und den Niederlanden im Hague Journal of Diplomacy (10) 2015).

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entfaltete es deutlich größere Bindewirkung als ein allein auf das Auswärtige Amt beschränkter Reviewprozess. Genau dieses Konsenserfordernis begrenzt andererseits die Ambitionen des Weißbuchs. Das BMVg konnte weitgehend eigenständig einen „Teil II – Zur Zukunft der Bundeswehr“ entwerfen, der auch wichtige Wegmarken zu künftigen Strukturen und Ressourcen enthält. Aber an entscheidenden Stellen des „Teil I – Zur Sicherheitspolitik“, gerade im Abschnitt „Nationale Gestaltungsfelder“ über das gesamtstaatliche Zusammenwirken wurden die Grenzen des Prozesses unübersehbar. Das Bundesfinanzministerium achtete darauf, dass das Kapitel „Nachhaltige finanzielle Rahmenbedingungen“ im Teil II vage genug blieb, um nicht über die vom Kabinett in den jährlichen Bundeshaushaltsberatungen beschlossene Finanzplanung hinauszugehen. Und im Teil I blieben Überlegungen zu strukturellen Reformen im Ansatz stecken. In der Schlussphase der Ressortabstimmung im April 2016 versuchte die Führung des BMVg, bis dahin nicht in die Ressortabstimmung eingeführte Passagen zu den absehbar kontroversen Themen Einsatz der Bundeswehr im Innern und Aufwertung des Bundessicherheitsrates in die Schlussfassung des Weißbuchentwurfs einzufügen. Dies endete vorhersehbar in einem auch medial ausgetragenen Koalitionsstreit, in dem das BMVg aufgrund des Konsensprinzips für die notwendige Verabschiedung im Kabinett den Kürzeren ziehen musste. Im Gegenzug wurden AA-Überlegungen, ressortgemeinsame Strukturen in der Stabilisierungs- und Krisenpräventionspolitik zu stärken, vom BMVg blockiert. Substanzielle Fortschritte bei der strukturellen Umsetzung des konzeptionell bereits im Weißbuch 2006 angelegten und 2016 bekräftigten und ausbuchstabierten „vernetzten Ansatzes“ blieben so in Ressortkonkurrenz und Koalitionsarithmetik stecken. Die Bundesregierung behilft sich weiterhin mit verschiedenen „Teilkonstruktionen“: ressortgemeinsamen Übungen zum Horizon Scanning, den „Task Forces Fragile Staaten“, dem Ressortkreis Stabilisierung und anderen mehr. Rückblickend war es neben der Frage nach der Weisheit des taktischen Vorgehens wohl auch eine grundsätzliche Überforderung des Strategieprozesses Weißbuch 2016, solche politisch aufgeladenen Fragen in einem Ressortkonsens zu lösen. Im deutschen Kontext von Koalitionsregierungen wäre dies ein Thema für die nächsten Koalitionsverhandlungen gewesen. Dort findet sich auch ein Abschnitt „Außen-, sicherheits- und entwicklungspolitische Handlungs- und Strategiefähigkeit sicherstellen“(CDU, CSU und SPD 2018, S. 146). In diesem werden allerdings lediglich zusätzliche Mittel für eine Liste von zehn außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischen ThinkTanks versprochen. Nun ist gegen das Weltwissen, das dort produziert wird und das ein global vernetztes Land wie Deutschland notwendig braucht, nichts einzuwenden. Aber eine wirkliche Stärkung der Handlungs- und Strategiefähigkeit ist das allein noch nicht. Gerade nach den deutlich gewordenen

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Grenzen des Weißbuchprozesses wären die Koalitionsverhandlungen der Ort gewesen, analytische Erkenntnis und strukturelle Folgerungen miteinander zu verbinden. Der neue Koalitionsvertrag von 2018 aber erwähnt das Weißbuch 2016 nur sehr beiläufig. Er hat sich so auch der Chance begeben, den dort erreichten breiten und durchaus überzeugenden analytischen und konzeptionellen Konsens mit der erforderlichen Aufstockung des Verteidigungshaushaltes glaubwürdig zu unterfüttern. Dass beides unterblieben ist, in der Struktur- und der Ressourcenfrage, markiert vielleicht deutlicher als alle inhaltliche Kritik die Grenzen des jüngsten Versuchs, mittels eines Strategieprozesses die Glaubwürdigkeit und Kohärenz des gesamtstaatlichen deutschen außen- und sicherheitspolitischen Handelns zu erhöhen.

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Strategiebildung für eine offene Zukunft – einige Schlussfolgerungen

Erstens: Betrachtet man die hier geschilderten Erfahrungen, dann sollte man annehmen, ressortinterne Strategieprozesse würden viel häufiger angelegt und zum Erfolg geführt. Die entscheidende Erfolgsbedingung – der politische Wille an der Spitze – ist scheinbar viel leichter zu organisieren als in einer komplexen „whole of government“-Übung wie der Erstellung eines neuen Weißbuches. Aber eben nur scheinbar. Auch innerhalb eines Ressorts muss das Verständnis der politischen Führung für die Bedeutung eines funktionierenden Verwaltungsapparates erst einmal hinreichend ausgeprägt sein, um das politische Risiko eines wirklich offenen Strategieprozesses und einer Infragestellung des status quo einzugehen. Wie selten dies tatsächlich überzeugend geschieht, muss vor dem Hintergrund des externen Veränderungsdrucks mindestens ebenso Anlass zur Sorge sein wie der begrenzte Erfolg des Weißbuch 2016. Zweitens sollte eine Kurzatmigkeit bei derartigen Grundlagendokumenten vermieden werden. Strategieprozesse sind aufwendig, sie sind ein bürokratischer und politischer Kraftakt, der Neugier und Veränderungswillen benötigt und keine Routine. Es ist ein Prozess, der sich – wenn er Wirkung entfalten will – nicht abkoppeln darf von der Politik. Im Idealfall schafft er ein Bindeglied zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen der Politik, der bürokratischen und militärischen Apparate und der Öffentlichkeit. Er muss deshalb immer mehrere Interessen gleichzeitig bedienen und möglichst die gemeinsame Schnittmenge aller Beteiligten vergrößern. Er soll neue Spielräume eröffnen für das Nachdenken über die Zukunft und für gemeinsames Handeln, aber das kann er nicht losgelöst von der

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politischen und der Verwaltungswirklichkeit. Deshalb spricht viel gegen eine regelmäßig mandatierte Wiederholung, die den politischen Kontext außer Acht lässt. Drittens: In einem sich fundamental und rasch wandelnden Umfeld sind Strategiedokumente immer nur Wegmarken und Kristallisationspunkte, die keine ewige Gültigkeit beanspruchen können. Interessen und Fähigkeiten müssen angesichts neuer Herausforderungen immer wieder überprüft und von neuem zur Deckung gebracht werden. Für Deutschland, dem in der kurzen Zeit seit Veröffentlichung der „Review“-Schlussfolgerungen und des Weißbuch 2016 viele seiner Gewissheiten und grundlegenden Annahmen verloren gegangen sind – vom Brexit bis zur täglichen Wirklichkeit eines US-Präsidenten Donald Trump – wird der Bedarf an strategischer Selbstvergewisserung und Neuorientierung weiter zunehmen. Für Deutschland tut sich eine „doppelte Lücke“ auf, die beide Strategieprozesse von 2014 und 2016 versucht haben anzugehen, welche aber trotz aller Bemühungen heute eher noch größer geworden ist. Zum einen zwischen den überhöhten Erwartungen anderer an Deutschland und dem eher zurückhaltenden, aber stark moralisch aufgeladenen Verständnis der deutschen Rolle in der Welt innerhalb der deutschen Gesellschaft. Zum anderen zwischen der Fremdwahrnehmung Deutschlands als stark interessengeleitetem Akteur, der den eigenen Nutzen maximiert und einer deutschen Selbstwahrnehmung, die sich oft in der Rolle des Musterschülers sieht, der seine eigenen – einzigartigen – historischen Erfahrungen, Prägungen und Lektionen universalisieren möchte. Einer Selbstwahrnehmung, in der das Land sich bis heute als weltweite Avantgarde versteht, wenn es darum geht, den Regler der internationalen Politik auf dem Spektrum zwischen Macht und Recht immer weiter in Richtung Recht zu verschieben – eine noble Ambition, die nur nicht (länger) mit dem vermeintlich erkannten Lauf der Geschichte verwechselt werden darf. Künftige Strategieprozesse werden sich noch stärker dieser doppelten Lücke zuwenden müssen, wenn sie die in „Review2014“ und Weißbuch 2016 als existenziell wichtig erkannte Einbindung Deutschlands in europäische und transatlantische Strukturen auch in Zukunft erhalten und stärken wollen.

Literatur Auswärtiges Amt. 2015. Krise-Ordnung-Europa, Abschlussbericht Review2014, Berlin: Auswärtiges Amt. Bagger, T. 2015. ‘Review 2014’: A Process of Reflection and Change in German Foreign Policy. Hague Journal of Diplomacy 10: 421–429.

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Thomas Bagger

Bundesregierung. 2016. Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin. CDU, CSU und SPD. 2018. Ein neuer Aufbruch für Europa, Eine neue Dynamik für Deutschland, Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. https://www.bundesregierung. de/Content/DE/_Anlagen/2018/03/2018-03-14-koalitionsvertrag.pdf;jsessionid=33C72CCD7137D3528A78DF03938DA3D5.s2t1?__blob=publicationFile&v=6. Zugegriffen: 10. September 2018 Krasner, S.D. 2009. The Garbage Can Framework for Locating Policy Planning. In Avoiding Trivia: The Role of Strategic Planning in American Foreign Policy, Hrsg. D.W. Drezner, 159–172. Washington D.C.: Brookings. Luce, E. 2018. Trump unites Republicans in his war on the deep state. Financial Times, 1. Februar 2018, S. 9. Steinmeier, F.-W. 2013. Rede zum Amtsantritt am 17.12.2013 Auswärtiges Amt. https:// www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/131217-bm-antrittsrede/258728. Zugegriffen: 30. Aug. 2018.

Strategieentwicklung als institutionalisierter Prozess Strategie und Vorausschau im Bundesministerium der Verteidigung Frank Richter1

Zusammenfassung

Durch sicherheitspolitische Vorausschau verbessern wir die Strategiefähigkeit des Bundesministeriums der Verteidigung. Denn die kontinuierliche Auseinandersetzung mit unseren potenziellen Zukünften ist das Fundament für eine belastbare Bestimmung sicherheitspolitischer Ziele und Prioritäten. Zudem fördert die sicherheitspolitische Vorausschau unsere Fähigkeit, über den Tellerrand zu blicken und starre Annahmen und Denkmuster zu überwinden. Sie ist somit auch ein mentales Training, das uns auf eine sich wandelnde Welt vorbereitet. In der Abteilung Politik des Bundesministeriums der Verteidigung haben wir eine Reihe von Maßnahmen initiiert, um unsere Vorausschau-Fähigkeiten zu stärken. Schlüsselbegriffe

Strategie, Strategiefähigkeit, Strategieentwicklung, Sicherheitspolitische Vorausschau, Zukunft, Bundesministerium der Verteidigung, Weißbuch 2016

Das Referat Politik II 1 im Bundesministerium der Verteidigung trägt seinen Auftrag der „Strategieentwicklung“ im Titel und ist unter anderem für die Erarbeitung sicherheitspolitischer Strategiepapiere verantwortlich. Dass wir uns in diesem Referat daher auch mit sicherheitspolitischer Vorausschau befassen, ist eine logische

1 Der Autor ist Leiter des Referats Politik II 1 des Bundesministeriums der Verteidigung. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Jacobi und G. Hellmann (Hrsg.), Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Edition ZfAS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6_7

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Frank Richter

Konsequenz. Strategie und Vorausschau sind auf das engste miteinander verknüpft: Wer strategiefähig sein will, braucht ein ausgeprägtes Bewusstsein und Kenntnis über das, was uns in der Zukunft erwarten könnte. Im Idealfall durchdenkt der Strategieentwickler eine Vielzahl möglicher Zukunftsszenarien. Denn die Kenntnis möglicher Zukünfte und ihrer Auswirkungen auf die unterschiedlichen Politikbereiche ist eine der Grundlagen für die Formulierung langfristig belastbarer politischer Ziele und Prioritäten. Im Referat „Strategieentwicklung“ der Abteilung Politik haben wir daher das Portfolio sicherheitspolitische Vorausschau zu einem der Schwerpunkte unserer Tätigkeiten gemacht und bauen es kontinuierlich aus. Der Prozess der Strategieentwicklung wird dadurch ein Stück weit institutionalisiert, die intensive und kontinuierliche Auseinandersetzung mit möglichen Zukünften macht uns fit für die Erstellung des nächsten sicherheitspolitischen Strategiepapiers. Durch die intensive Auseinandersetzung mit potenziellen Zukunftsentwicklungen verbessern wir unsere Strategiefähigkeit und wappnen uns für die Erstellung sicherheitspolitischer Strategiedokumente wie Weißbücher, Strategische Leitlinien oder die Mitarbeit an sicherheitspolitischen Grundlagendokumenten anderer Ressorts. In unserer heutigen Welt Vorausschau zu betreiben ist dabei durchaus eine Herausforderung. Bereits die sicherheitspolitische Gegenwart, mit ihrer Vielzahl und Gleichzeitigkeit von Krisen und Gefahren, ist schwer zu (be-)greifen. Der internationale Terrorismus, die revisionistische Machtpolitik Russlands, Cyberangriffe und hybride Kampagnen oder die Zuspitzung der Lage im Nahen Osten stehen beispielhaft für die enorme Komplexität und Dynamik unseres globalen Umfelds. Um trotz des stark fordernden, operativen Tagesgeschäfts die langfristigen Linien nicht aus den Augen zu verlieren und vorausschauendes politisches Handeln auch weiterhin zu ermöglichen, ist sicherheitspolitische Vorausschau daher mehr denn je eine Notwendigkeit. Deshalb haben wir uns im Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr aus dem Jahr 2016 dazu bekannt, der Steigerung unserer Fähigkeiten in den Bereichen strategische Vorausschau, Strategieentwicklung und -evaluierung eine hohe Priorität einzuräumen. Der aktuelle Koalitionsvertrag knüpft mit seinem Bekenntnis zur Stärkung unserer Kapazitäten zur strategischen Analyse daran an. Mittlerweile wird sicherheitspolitische Vorausschau über die Ressortgrenzen hinweg durch ein beeindruckendes Portfolio verschiedenster Initiativen betrieben. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, diese unterschiedlichen Initiativen komplementär zu halten und gut aufeinander abzustimmen. Andernfalls nähmen wir erhebliche Wissenseinbußen in Kauf. In diesem Sinne ist unser langfristiges Ziel auch die ressortübergreifende Zusammenführung all unserer Vorausschau-Bemühungen

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Sicherheitspolitische Vorausschau: Was kann sie leisten – und was nicht

Nach nunmehr einigen Jahren Erfahrung mit sicherheitspolitischer Vorausschau erscheint mir eines essenziell: Eine gesunde Portion Demut! Schließlich hilft der Blick in die Glaskugel nur bedingt – treffgenau werden wir unsere Zukunft niemals voraussehen können. Unerwartete globale Entwicklungen wie der Arabische Frühling, die Flüchtlingskrise oder die autokratische Drift, nicht nur in der Türkei, haben uns das vor Augen geführt. Trotz all unserer Vorausschau-Bemühungen müssen wir somit einkalkulieren, potenzielle Zukünfte einfach zu übersehen, da sie aus unserer heutigen Warte schlicht undenkbar sind. Darüber hinaus gilt es, uns einzugestehen, dass stets mehrere – im Zweifelsfall sogar eine wahre Vielzahl – Zukunftsszenarios möglich sind. Kurzgefasst: Die Zukunft ist offen – der sicherheitspolitischen Vorausschau zum Trotz. In unserem komplexen Jahrhundert der Technologie und Digitalisierung gilt dies ganz besonders. So müssen wir also akzeptieren, dass die sicherheitspolitische Vorausschau nie alternativlose, sichere Zukunftsszenarien generieren wird und dies auch transparent machen. Die Erwartung, konzise sicherheitspolitische Empfehlungen ableiten zu können, die unverändert umgesetzt oder unmittelbar in den politischen Raum übertragen werden könnten, wäre ein Trugschluss. Doch was kann die sicherheitspolitische Vorausschau dann konkret leisten? Dass wir unsere (sicherheitspolitische) Zukunft niemals mit hundertprozentiger Sicherheit und im Detail erfassen können, heißt keineswegs, sich nicht intensiv mit ihr befassen zu müssen. Schließlich können wir uns der Zukunft durch sicherheitspolitische Vorausschau annähern, indem wir Trends und Risikofaktoren identifizieren, diskutieren und in all ihren Konsequenzen deklinieren. Doch die sicherheitspolitische Vorausschau kann noch mehr: Sie hat das Potenzial, unsere Denk- und Arbeitsweisen zu verändern. Durch das kontinuierliche Reflektieren globaler Zusammenhänge und den kreativen, ergebnisoffenen Umgang mit Szenarien der Zukunft werden starre Denkmuster aufgebrochen und sicher geglaubte Annahmen bzw. Zusammenhänge herausgefordert. Im Rahmen der sicherheitspolitischen Vorausschau sind wir gefordert, ohne Tabus zu denken und zu diskutieren. Wir sind gefordert, über den Tellerrand der eigenen Disziplin und der community, in die wir eingebettet sind, zu blicken. Damit ist sicherheitspolitische Vorausschau nicht nur eine Sammlung von Aktivitäten und Methoden zur Erfassung potenzieller Zukünfte, sondern auch ein mentales Training: Sie zwingt uns, unsere Komfortzone zu verlassen und mit konträren Meinungen, ja sogar Provokationen und Irritationen, umzugehen. Dadurch stärkt sie unsere Selbstreflexivität, schult holistisches Denken und fördert unsere

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Fähigkeit, produktiv mit Komplexität umzugehen. Mit einem solchen Strauß an Fähigkeiten sind wir gut gewappnet, der Zukunft – mit all ihren Unwägbarkeiten – kompetent zu begegnen. Damit liegt es auf der Hand, dass wir gut beraten sind, unsere Kapazitäten zur sicherheitspolitischen Vorausschau weiter zu intensivieren und zu institutionalisieren.

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Sicherheitspolitische Vorausschau in der Abteilung Politik des Bundesministeriums der Verteidigung

In der Abteilung Politik des Bundesministeriums der Verteidigung haben wir im Nachgang zum Weißbuch 2016 eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um unsere Fähigkeiten zur sicherheitspolitischen Vorausschau zu stärken. Diese sind methodisch, in Bezug auf die jeweilige Zielsetzung und mit Blick auf den Zeithorizont, komplementär zu den Aktivitäten anderer Abteilungen des Ministeriums: So greift die Abteilung Strategie und Einsatz zur Krisenfrüherkennung unter anderem auf quantitative Methoden, einschließlich Big Data Analysen, zurück und fokussiert auf einen Zeithorizont bis ca. 18 Monate. Ihr Ziel ist vor allem das frühzeitige Erkennen regionaler und lokaler Krisen und Konflikte. Die Abteilung Planung, die – insbesondere mithilfe des Planungsamts der Bundeswehr – Strategische Vorausschau betreibt, hat hingegen einen Betrachtungshorizont bis ca. 30 Jahre und bedient sich klassischer Vorausschau-Methoden, z. B. der Szenarioanalyse oder Wildcards. Aus den gewonnenen Erkenntnissen zieht sie Schlüsse für das zukünftig erforderliche Fähigkeitsprofil der Bundeswehr. Die Abteilung Politik betreibt sicherheitspolitische Vorausschau qualitativ, vor allem durch eine institutionalisierte Interaktion mit Expertiseträgern. Dabei fokussieren wir auf einen Zeithorizont bis ca. 5 Jahre – einen Zeitraum, in dem politisches Handeln konkret werden kann und sich wirksame Ergebnisse erzielen lassen. Im Zentrum unserer Vorausschau-Bemühungen steht das Netzwerk Strategie und Vorausschau – ein interdisziplinäres Diskussionsforum, das wir 2016 gegründet haben. Die Mitglieder des Netzwerks sind hochrangige Vertreter aus Regierung, Wissenschaft und Wirtschaft, die regelmäßig zusammenkommen, um über sicherheitspolitische Zukunftsthemen zu diskutieren. Im Fokus stehen beispielsweise Themen wie „Autoritäre Staaten“, „Extremismus, Terrorismus und Radikalisierung“ oder die „Sicherheitspolitischen Auswirkungen der Digitalisierung“. Mit dem Netzwerk Strategie und Vorausschau haben wir ganz bewusst ein Forum zum offenen und vertraulichen Austausch über potenzielle Zukunftsszenarien, Trends und Risiken geschaffen. Die Treffen des interdisziplinären Netzwerks ver-

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stehen wir als kreative Räume, innerhalb derer, losgelöst von Tagespolitik und über unterschiedliche Hierarchieebenen hinweg, frei und intensiv diskutiert werden soll. Darüber hinaus haben die regelmäßigen Zusammenkünfte auch einen Netzwerkeffekt: Mit sicherheitspolitischer Vorausschau befasste Akteure aus Regierung, Wissenschaft und Wirtschaft lernen sich kennen, kommen regelmäßig zusammen, tauschen sich aus und blicken gemeinsam über den Tellerrand. Die im Rahmen der Netzwerktreffen gewonnenen Erkenntnisse liefern Stoff zum Nachdenken. Sie sollen aber auch sowohl die tagtägliche ministerielle Arbeit, als auch die berufliche Praxis innerhalb der Bundeswehr, der Wissenschaft oder der Wirtschaft inspirieren. Dabei hat sich zu einer Reihe zukunftsrelevanter Schlüsselthemen mittlerweile ein ebenso produktiver wie kontinuierlicher Austausch etabliert, der über die regelmäßigen Treffen des Netzwerks Strategie und Vorausschau hinaus geht. Dem gleichen Ziel der Stärkung unserer Strategiefähigkeit dienen auch eine Reihe von Kooperationen mit nationalen wie internationalen Think Tanks und Stiftungen, die wir kontinuierlich ausbauen. Dazu zählt beispielsweise das 2017 an der Universität der Bundeswehr München gegründete Pilotprojekt Metis, dessen Wissenschaftler die Abteilung Politik zu verschiedenen Zukunftsfragen von sicherheitspolitischer Relevanz beraten.

Pilotprojekt Metis Benannt nach der griechischen Göttin des praktischen Wissens und klugen Rats, widmet sich das Pilotprojekt Metis den strategisch relevanten Fragen der aktuellen und zukünftigen internationalen Politik. Angesiedelt an der Universität der Bundeswehr München, dient es der engeren Verzahnung zwischen universitärer Forschung und politischer Praxis. Das Projekt verbindet die kontinuierliche und wissenschaftlich fundierte Verfolgung langfristig angelegter Fragestellungen mit problemorientierten und interdisziplinären Beratungsleistungen für die Abteilung Politik im Bundesministerium der Verteidigung. Metis trägt auf diese Weise zur Strategiefähigkeit der deutschen Sicherheitspolitik und zum deutschen sicherheitspolitischen Diskurs bei. Das Projektteam legt in regelmäßigen Abständen längerfristig geplante Studien zu zukunftsrelevanten Fragestellungen vor, verfasst kurzfristig Analysen zu aktuell im Fokus stehenden Themen, organisiert Fachgespräche und stellt bei Bedarf schnell abrufbare Beratung und Expertise bereit. Darüber hinaus ist Metis gleichermaßen Teil wie Koordinationsstelle für das regelmäßig im Bundes

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ministerium der Verteidigung in Berlin zusammentreffende Netzwerk Strategie und Vorausschau. Weiterhin kooperieren wir mit dem an der Universität der Bundeswehr in Hamburg angesiedelten interdisziplinären Forschungsschwerpunkt Maritime Sicherheit (iFMS) zu Zukunftsthemen mit maritimem Bezug ebenso wie mit der Universität Tübingen, die in unserem Auftrag ein Forschungsprojekt zu „Krisenfrüherkennung durch Literatur“ durchführt. Sicherheitspolitische Vorausschau durch institutionalisierte Interaktion mit Expertiseträgern – so wie wir sie in der Abteilung Politik betreiben – schließt eine Lücke. Die gezielte Interaktion mit Experten und insbesondere die Netzwerkarbeit ergänzen die Vorausschautätigkeiten der anderen Abteilungen des Bundesministeriums der Verteidigung, sowohl methodisch als auch inhaltlich. Führt man diese unterschiedlichen Puzzleteile systematisch zusammen, ergibt sich ein umfassendes Bild, das das Potenzial in sich trägt, vorausschauendes politisches Handeln zu erleichtern. Darüber hinaus zielen all unsere Bemühungen im Bereich der sicherheitspolitischen Vorausschau mittel- bis langfristig darauf ab, die Strategiefähigkeit der Bundesregierung als Ganzes zu stärken. Daher suchen wir den regelmäßigen Austausch mit den anderen Ressorts und binden sie in all unsere Tätigkeiten ein. Wir arbeiten daran, unsere unterschiedlichen Vorausschau-Bemühungen noch besser aufeinander abzustimmen und die jeweiligen Erkenntnisse dann auch gemeinsam auszuwerten und zu nutzen. Dies muss der nächste Schritt hin zu einer verbesserten Strategiefähigkeit der Bundesregierung sein und langfristig in der ressortübergreifenden Zusammenführung all unserer Vorausschau-Bemühungen münden. „Die einzige Konstante im Universum ist die Veränderung.“ (Heraklit)

Unsere Welt ist im Fluss und unser globales Umfeld wandelt sich stetig. Das können wir nicht ändern, aber wir können uns darauf bestmöglich einstellen. Das tun wir durch sicherheitspolitische Vorausschau, die es uns ermöglicht, unsere potenziellen Zukünfte bestmöglich zu antizipieren und mental beweglich zu bleiben. Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, ihre Fähigkeiten zur sicherheitspolitischen Vorausschau weiter zu stärken und eine Kultur der Vorausschau zu entwickeln. Die Abteilung Politik im Bundesministerium der Verteidigung leistet hierzu bereits ihren Beitrag.

… denn morgen wird heute schon gestern gewesen sein Zukunftsanalyse als Instrument der Strategieberatung Olaf Theiler1

Zusammenfassung

Strategische Vorausschau ist eine Ergänzung klassischer Politikberatung. Die Methoden einer wissenschaftlich orientierten Zukunftsanalyse liefern zusätzliche Hilfsmittel, deren besondere Stärken beim Umgang mit den „unknown-unknowns“ in der Außen- und Sicherheitspolitik liegen. Zukunftsbilder und das Denken in Szenarien oder alternativen Zukünften von können für politische Strategieentwicklung wichtige Beiträge leisten. Angesichts der zahlreichen „strategischen Überraschungen“ der letzten Jahre gilt es dieses Instrument gezielt zu nutzten um „zukunftsrobuste“ Strategien entwickeln zu können. Schlüsselbegriffe

Zukunftsanalyse, Strategie, Strategische Vorausschau, Politikberatung, Methoden

1 Der Autor drückt hier ausschließlich seine eigene, persönliche Meinung aus. Der Artikel spiegelt nicht die offizielle Position der Bundeswehr oder des Planungsamtes der Bundeswehr wider. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Jacobi und G. Hellmann (Hrsg.), Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Edition ZfAS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6_8

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Olaf Theiler

1 Prolog „Amtsantritt des neuen EU-Kommissars für Verteidigungsfragen“ Pressemeldung der EU, Brüssel, 3.6.2042 Der neue EU-Verteidigungskommissar, Mathis DeJong, ist heute Morgen vom Chef des Verteidigungsrates der Europäischen Streitkräfte, General Henri Rèchard, mit militärischen Ehren empfangen worden. Auf den neuen Ressortchef warten herausfordernde Aufgaben. Noch immer verfügen die EU-Landstreitkräfte allein bei gepanzerten Gefechtsfahrzeugen über sechs unterschiedliche, national konzipierte und dezentral beschaffte Systeme, die nur begrenzt kompatible HMIs (Human-Machine-Interfaces) sowie WAV-C2-Systeme (Warfighting Air Vehicles – Command & Control-Systems) aufweisen. Dass bis 2045 mit Mazedonien, Serbien und Moldawien auch die letzten drei Länder des Balkans den Europäischen Sicherheitskräften beitreten werden, wird diese Aufgabe nicht leichter machen. Zu den Herausforderungen gehört u. a. auch die aktuell desolate Nachwuchslage bei den hoch spezialisierten Cyborg- und HMI-Controllern sowie die Umrüstung der europäischen Marinestreitkräfte auf die neuen über wie unter Wasser einsatzfähigen MuMaCS Einheiten (Multidimensional Unmanned Maritime Combat Systems) mit ihren hochpräzisen autonomen Selbstverteidigungsvorrichtungen HEAIS (High-Energy Anti-Air Systems) und SCD (Supercaviation Defense Systems). Letztere ermöglichen aufgrund neuerster Technik erstmals die Bekämpfung von Unterwasserzielen mit Überschallgeschwindigkeit. Diese Science-Fiction-hafte und rein fiktive EU-Pressemitteilung ist ein plastisches Beispiel für die kreative Kraft, mit der das in Deutschland noch recht junge Instrument der „Strategischen Vorausschau“ neue Wege in der Politikberatung gehen kann. Auf den Methoden der Zukunftsanalyse aufbauend bietet sie einen innovativen Ansatz zum Umgang mit den Überraschungen, die die Zukunft aktuell so zahlreich für uns bereitzuhalten scheint.

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Zukunft und Sicherheitspolitik

Obwohl seit der Wiedervereinigung immer wieder Debatten über eine „Normalisierung“ oder Deutschlands gewachsene Verantwortung in der internationalen Politik aufkamen, scheint die Bundesrepublik ihre außen- und sicherheitspolitische Rolle noch nicht wirklich gefunden zu haben. Bisher hatte die deutsche Politik langfristiges militärisches und strategisches Denken ganz in der Tradition der alten westlichen Bundesrepublik überwiegend seinen Partnern und Verbündeten in der

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NATO überlassen. Doch in „einer durch zunehmende Komplexität, Geschwindigkeit und ‚Grenzenlosigkeit‘ bestimmten globalen Umwelt wird ein intelligenter Umgang mit Unsicherheiten und ungeplanten Entwicklungen immer mehr zur Erfolgsvoraussetzung gerade außen- und sicherheitspolitischen Handelns“ (Kaim und Perthes 2012). Das Ergebnis dieser Entwicklungen beschreibt der Trierer Politikwissenschaftler Hanns W. Maull so: „Immer kompliziertere Wirkungsketten und immer mehr relevante Akteure, zunehmende Interdependenzen und Machtdiffusion erschweren also die Steuerung der Weltpolitik, […] Interessenausgleich wird schwieriger, Problemlösungen werden komplexer und politische Steuerung wird aufwendiger.“ (Maull 2015, S.31-32). Dies führt tendenziell zu zeitlich wie örtlich sehr begrenzter Wirksamkeit politischen Handelns, während langfristige Entwicklungen und Notwendigkeiten unter dem Druck der Tagespolitik immer wieder aus dem Blickfeld der Akteure verdrängt werden. Schließlich ist die Fähigkeit, „sich mögliche Zukünfte auszumalen und dabei konsequent mitzudenken, was sein wird, wenn die Dinge schief- oder zumindest nicht linear laufen“ nur selten vorhanden, denn „dafür bleibt im politischen Alltag nur wenig Zeit und auch für die Bürokratie ist das noch keine Routineübung“ (Perthes und Lippert 2013, S.5). Unter den veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen ist das nun jedoch eigentlich keine Option mehr, da weder Europa noch Deutschland „so etwas wie ein stiller Garten inmitten des universellen Durcheinanders“ bleiben können (DIE ZEIT 2015). Unter diesen veränderten Rahmenbedingungen muss man nun feststellen, dass: „Wichtige Entscheidungen […] nur von einer Handvoll Leute getroffen werden [können], etwa den Ministern, den Staatssekretären und vielleicht noch den Abteilungsleitern. So wenige Personen können aber nicht mehr als zwei, maximal drei große Krisen gleichzeitig verfolgen und intensiv bearbeiten. Zwar arbeiten ihnen viele Menschen zu, aber Entscheidungsverantwortung tragen nur wenige. Weil sich drängende Probleme in den letzten Jahren massiv häufen […] bleibt kaum Raum für die Antizipation künftiger Herausforderungen“ (Brozus 2015). In der politischen Praxis führen diese gegensätzlichen Entwicklungen der rasanten Veränderungen internationaler Rahmenbedingungen und der unveränderten internen Bewältigungsmechanismen zu einer Art politischer „Adhocismus“(Dirk Messner zit. n. DIE ZEIT 2008), einem stetigen Verharren im passiv-reaktiven Modus des durch externe Ereignisse oder Handlungen Getriebenen. Doch dann hat das Jahr 2014 in Deutschlands sicherheitspolitischer Community ein kleines Erdbeben ausgelöst, als die Außen- und Sicherheitspolitik geradezu beispielhaft gleich von drei „unknown unknowns“ strategisch überrascht wurde: der Krim- und Ukraine-Krise, den IS-Eroberungen in Syrien und Irak sowie der Ebola-Epidemie in Afrika. Diese Ereignisse haben zumindest teilweise zu einem

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Olaf Theiler

Umdenken geführt, zu dem Bemühen, neue Wege der Strategieentwicklung und auch der Politikberatung zu entwickeln. Fast paradigmatisch für dieses Umdenken hat der amerikanische Politikwissenschaftler Richard Danzig vor einigen Jahren einen neuen Anspruch an die Politik formuliert: „Policymakers will always drive in the dark. However, they must stop pretending that they can see the road. A much better course is to adopt techniques to compensate for unpredictable conditions and, in so doing, better prepare us for perils that we will not have foreseen” (Danzig 2011, S.28). Ganz in diesem Sinne hatten die Regierungsvertreter von CDU, CSU und SPD bereits im Koalitionsvertrag von 2013 das Ziel formuliert, „die Kompetenzen und Kapazitäten der strategischen Vorausschau in den Ministerien [zu stärken], um Chancen, Risiken und Gefahren mittel- und langfristiger Entwicklungen besser erkennen zu können“ (Koalitionsvertrag 2013, S.151-52). Dies verlieh den zuvor eher vereinzelten Ansätzen zur Zukunftsanalyse bzw. strategischen Vorausschau innerhalb der Ministerialstrukturen frischen Schwung, und auch bei der zunehmenden Vernetzung zwischen den unterschiedlichen Zukunftsanalysten in den einzelnen Ressorts waren in den ersten Jahren danach auch deutliche Fortschritte zu verzeichnen (Theiler 2015). Allerdings drohen inzwischen diese Ansätze wieder in Vergessenheit zu geraten, obwohl die Methoden der Strategischen Vorausschau, richtig und systematisch betrieben, wertvolle Beiträge zur langfristigen und nachhaltigen Strategiebildung leisten könnten (Opachowski 2015).

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Strategische Vorausschau als Konzept und Methode in der Politikberatung

Zukunftsanalyse und Strategische Vorausschau sind im Kern Methoden zum Umgang mit Ungewissheiten. Sie bieten keine Kristallkugel, liefern keine langfristigen Vorhersagen (diese wären gerade bei langfristigen Entwicklungen höchst irrtumsanfällig), aber sie ermöglichen die Entwicklung von Strategien zum vorbeugenden Umgang mit Überraschungen und tragen damit zur Resilienz politischer Konzepte bei. Zukunftsanalyse ist dabei in erster Linie ein Prozess zur systematischen und langfristigen Beschäftigung mit möglichen zukünftigen Entwicklungen. Zentrales Element dieses Prozesses sind die an wissenschaftlichen Standards ausgerichteten Methoden der Zukunftsanalyse – insbesondere die Ansätze der Trend- und Szenarioanalyse. Diese bilden das Instrument, mit dem „fundierte Grundlagen für langfristige politische Entscheidungen“ erarbeitet werden (Buehler und Döhrn 2013, S.1), die eine wirklich zukunftsfähige und vorausschauende Politik erst

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ermöglichen. Die Strategische Vorausschau ist zwar inhaltlich wie methodisch sehr ähnlich ausgerichtet und wird auch häufig als Begriff praktisch synonym verwendet. Sie ist jedoch im Gegensatz zur reinen Zukunftsforschung (Kraibich 2008)2 strikt handlungsorientiert, d. h. unmittelbar an den konkreten langfristigen Entscheidungsbedürfnissen der Politik ausgerichtet. Bei beiden Ansätzen geht es dabei u. a. auch um das „Unwissenheitsmanagement“ – also den Umgang mit dem, was der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld als „known unknowns“ und „unknown unknowns“ (DoD News Briefing 2002) bezeichnete. Für Ersteres, die „bekannten Unbekannten“, bietet die strategische Vorausschau einen Ansatz zur Erarbeitung bisher nicht berücksichtigter Perspektiven im Sinne einer strategischen Vorbereitung auf die Frage: „Was wäre wenn …?“ Im Fall der „unbekannten Unbekannten“ geht es hingegen oftmals um den Umgang mit dem Fehlen von eindeutigen und validen Antworten auf strategische Fragen, deren Formulierung an sich schon wichtiges Ergebnis der strategischen Vorausschau sein kann. Dies erklärt vielleicht auch die aktuell große Nachfrage nach diesem oder vergleichbaren Instrumenten zum Umgang mit sogenannten strategischen Überraschungen in unterschiedlichsten Bereichen der Politik, die mehr als je zuvor seit dem Ende des Kalten Krieges mit dem Phänomen der „Dynaxität“3 zu kämpfen haben. Strategische Vorausschau nähert sich diesen politischen Ungewissheiten mithilfe von „gedanklichem Probehandeln“ hinsichtlich dreier Kernfragen: „Was kann passieren?“, „Wo wollen wir hin?“, und natürlich: „Was können wir bzw. wie können wir es tun?“ In dieser ausdrücklichen Abkehr von Prognosen, Vorhersagen (engl. „Forecast“) oder simplen Wenn-dann-Implikationseinschätzungen unterscheidet sich der Ansatz sowohl von älteren Konzepten der Zukunftsforschung als auch von klassischen Methoden der Politikberatung. Stattdessen wird hier auf Basis der vom Auftraggeber mit einzubringenden Fachexpertise ein methodisch fundierter Prozess angeboten, sich auf zukünftige Entwicklungen mit ihren Chancen und Herausforderungen gedanklich vorzubereiten (engl. „Foresight“).

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Zukunftsforschung wird nach Rolf Kraibich allgemein definiert als „die wissenschaftliche Befassung mit wahrscheinlichen, möglichen und wünschbaren Zukunftsentwicklungen (Zukünften) und Gestaltungsoptionen sowie deren Voraussetzungen in Vergangenheit und Gegenwart“ (Kreibich 2008, S.4). 3 Vgl. die von Prof. Dr. Kastner vom Institut für Arbeitspsychologie und Arbeitsmedizin eingeführte Kombination der Begriffe „Dynamik“ und „Komplexität“. Gemeint ist eine zu beobachtende Steigerung der Anzahl, Vielfalt und Vernetzung von Entwicklungen sowie deren Geschwindigkeit der Zustandsveränderung, die das menschliche intellektuelle Potenzial tendenziell zu überfordern drohe.

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Olaf Theiler

In der strategischen Vorausschau werden zunächst Trends im Sinne begründeter Richtungsaussagen identifiziert und in die Zukunft fortgeschrieben. Neben möglichen Trendentwicklungen und ihren Folgen geht es dabei vor allem darum, sogenannte Trendbrüche zu berücksichtigen und aus dem Gesamtbild einen schlüssigen Zukunftsraum zu entwickeln. Dieser wird zudem durch Szenarioanalysen methodisch erschlossen, aus denen multiple alternative Vorstellungen von Zukunft, sogenannte Zukunftsbilder entstehen. Diese werden als Narrative entwickelt und gewinnen mit durchaus plastischen und zuspitzenden Formulierungen wie dem eingangs zitierten fiktiven Pressetext an Profil. Sie sollen die Zukunftsbilder vom „Übermorgen“ dem Leser möglichst plastisch und (be)greifbar machen, um dann den Blick zurück aufs „Morgen“ zu lenken. Auf diese Weise können aus den erkennbaren Entwicklungspfaden (Backcasting) oder identifizierbaren Indikatoren (Monitoring) Erkenntnisse für strategisches und langfristiges Handeln von „Heute“ abgeleitet werden.4

4

„Strategische Vorausschau“ in der Praxis: Herausforderungen und Perspektiven

Das mit dem Koalitionsvertrag von 2013 geschaffene Momentum wurde in vielen Ministerien sowie in der BAKS genutzt, um die Strategische Vorausschau weiter voranzubringen und allgemein bekannter zu machen. Während einige Bereiche wie das Bundesministerium für Bildung und Forschung, das Umweltbundesamt, das Bundeskriminalamt oder auch das Planungsamt der Bundeswehr hier schon zahlreiche erfolgreiche Projekte durchführen konnten, betreten andere Ministerien gerade erst Neuland (Nachweih 2018). Damit die damit verknüpften Erwartungshaltungen nicht enttäuscht werden, muss man sich neben den Stärken des Ansatzes auch seiner Grenzen bewusst werden. Aus den im Referat Zukunftsanalyse des Planungsamtes der Bundeswehr gemachten praktischen Erfahrungen kann man in dieser Hinsicht eine Reihe von Hinweisen und Schlussfolgerungen ziehen.

4

Das Verfahren, bei dem Entwicklungspfade zurückverfolgt werden, wird in Fachkreisen als „Backtracking“ oder „Backcasting“ bezeichnet, während die Beobachtung identifizierbarer Indikatoren „Monitoring“ genannt wird.

… denn morgen wird heute schon gestern gewesen sein

4.1

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Nähe zur Politik

Die ressortinternen Strukturen und Ansätze zur Strategischen Vorausschau haben den Vor- und Nachteil zugleich, näher an der Politik zu sein, als viele klassische Instrumente der Politikberatung in Universitäten, Verbänden oder Stiftungen. Als Forschungs- oder Analyseeinheiten innerhalb der Ministerien bzw. der untergeordneten Bereiche kennt man die Prozesse und Themen, die die politische Leitung gerade umtreiben, kann sich also methodisch wie inhaltlich unmittelbar und ohne Zeitverluste darauf einstellen und die Ergebnisse auch sprachlich „anschlussfähig“ an aktuelle Diskurse gestalten. Gleichzeitig ist man jedoch auch den politischen Notwendigkeiten dieser Prozesse stärker unterworfen als jede externe Politikberatung. Während letztere von der Politik zumeist entweder argumentativ aufgegriffen oder einfach ignoriert wird (Fichtner und Smoltczyk 2013), steht die ressortinterne Forschung und Analyse unter unmittelbaren Einfluss der politischen und administrativen Leitung. Politische Rücksichtnahmen (oder Ängste) ebenso wie hausinterne Befindlichkeiten können daher jedes Projekt der Strategischen Vorausschau in jeder Phase (von der Ideenfindung bis hin zur Ergebnisverwertung) jederzeit maßgeblich beeinflussen.

4.2

Abhängigkeit von Moderation und Expertise

Im Vergleich zu anderen Arten der Politikberatung bietet Strategische Vorausschau nicht von vornherein fertige Ergebnisse an, sondern liefert vielmehr einen prozessualen Ansatz, um die benötigten Ergebnisse auf Basis des Fachwissens in den jeweiligen Ministerien (oder bei den dazu eingebundenen Experten aus Wissenschaft und Praxis) unter Anwendung wissenschaftlich fundierter Methoden gemeinsam zu erarbeiten. Das heißt im Umkehrschluss jedoch auch, dass die Ergebnisse nur so gut sind, wie die Organisations- und Moderationsleistung der Methodenexperten einerseits und die Fachkenntnisse sowie das Engagement der Projektteilnehmer andererseits es zulassen. Dieser doppelte Qualitätsvorbehalt ist in seinen Auswirkungen nicht zu unterschätzen, stellt er doch besonders hohe Anforderungen sowohl an eine Projektleitung als auch an alle Teilnehmer. Außerdem erfordern solche Projekte bei vergleichbarem Zeitbedarf in der Regel mehr organisatorischen Aufwand (Experteneinbindung, Workshop-Durchführung und Auswertung) als klassische, oft externe wissenschaftliche Studien.

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4.3

Olaf Theiler

Kreativität und institutionelle Kultur

Kreativität ist eine Grundvoraussetzung für die Anwendung der Methoden der Zukunftsanalyse, Herkunft und Einbindung des Personals in die administrativen Rahmenbedingungen moderner Verwaltung wird diesem Anspruch nicht immer gerecht. D. h. die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter ist letztendlich abhängig von einer geschickten Personalpolitik einerseits und dem gezielten Schaffen und Verteidigen von Freiräumen für „out-of-the-box“-Denken andererseits. Ohne die Freiheit zum kreativen Denken verkümmert auch die Strategische Vorausschau allzu schnell zur klassischen Stabsarbeit, also zum Abarbeiten von Aufträgen und zu routinemäßiger Abwicklung von Projekten, ohne jemals das wirkliche Potential dieser Methode ausreizen zu können.

4.4 Interdisziplinarität Eine weitere wichtige Grundlage für die erfolgreiche Umsetzung der Strategischen Vorausschau ist das interdisziplinäre Arbeiten. Dies ist jedoch erfahrungsgemäß innerhalb staatlicher Strukturen noch schwieriger als außerhalb. So ist es selten genug, dass, wie im Referat Zukunftsanalyse des Planungsamtes der Bundeswehr, der ‚Luxus‘ einer von Beginn an interdisziplinären Zusammensetzung der Mitarbeiter gegeben ist. Hier vertreten fünf zivile Wissenschaftler die Disziplinen des STEEP-Ansatzes5, ergänzt durch die militärische Fachexpertise zweier Stabsoffiziere. Häufig genug jedoch bestehen die mit der strategischen Vorausschau befassten Strukturen in den Ressorts nur aus kleinen oder gar Kleinstteams von einem bis drei Mitarbeitern, die dann interdisziplinäres Arbeiten organisieren, anleiten oder qualitativ beurteilen sollen. Keine leichte Aufgabe also. Natürlich kann man die dafür notwendigen Fachleute extern hinzuziehen oder durch die relevanten Fachreferate mit einbinden, was jedoch beim ersteren Ansatz finanziell und organisatorisch nicht unproblematisch und beim letzteren angesichts der hohen Auslastung moderner Bürokratie in der Regel nur schwer praktisch umzusetzen ist. Insgesamt darf der Aufwand also nicht unterschätzt werden, den Interdisziplinarität mit sich bringt.

5 STEEP steht für „Sociology“ (Sozialwissenschaft), „Technology“ (Technologie- bzw. Ingenieurswissenschaft), „Environment“ (Umwelt- bzw. Naturwissenschaften), „Economics“ (Wirtschaftswissenschaft) und „Politics“ (Politik- bzw. Geisteswissenschaft).

… denn morgen wird heute schon gestern gewesen sein

4.5

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Zusammenarbeit über Ressortgrenzen hinweg

Noch schwieriger wird es bei der für umfassende Interdisziplinarität unverzichtbaren Zusammenarbeit über Ressortgrenzen hinweg, die beim Regierungshandeln immer dann gefordert ist, wenn die Komplexität der Aufgabe die Kooperation mehrerer Ministerien notwendig macht. Oft genug stehen dann Ressortegoismen bzw. Zuständigkeits- und Budgetfragen oder einfach nur praktische Probleme wie die teilweise doch sehr unterschiedlichen Arbeitsweisen und Denkkulturen in den verschiedenen Ministerien einer reibungslosen Kooperation entgegen. Dabei wären gerade bei diesen immer häufiger auftretenden Fällen auch die größten Zugewinne im Sinne eines umfassenden sicherheitspolitischen Ansatzes zu erhoffen. Schon deswegen ist der integrierte Ansatz der BAKS als gemeinsame ressortübergreifende Plattform für die Strategische Vorausschau geradezu unverzichtbar.

4.6

Herausforderung der (Ergebnis-)Kommunikation

Neben dem prinzipiellen Aufruf zur Bescheidenheit sowohl in Bezug auf die eigene Erkenntnisfähigkeit als auch auf die Wirkungsmacht wissenschaftlicher und analytischer Arbeit bedeutet das für die Praxis der Politikberatung, dass die eigentliche Arbeit mit dem Erstellen einer Studie oder eines Projektberichtes in der Regel noch nicht getan ist. Vielmehr gehört die Kommunikation der Studie sowie ihrer Ergebnisse entscheidend mit zum Prozess. Dabei ist es ein wichtiger Vorteil der methodenorientierten Strategischen Vorausschau, schon auf dem Weg der Projektumsetzung viele Entscheidungsträger (zumindest auf der Arbeits- und mittleren Managementebene) mit einzubinden. Deren Engagement kann und sollte dazu beitragen, die Erkenntnis auch in den jeweiligen Hierarchien zu verankern, dass es sich lohnt, die Ergebnisse bei der Entscheidungsfindung mit einzubeziehen – möglichst schon vor einer strategischen Entscheidung und nicht erst zu ihrer nachträglichen Begründung. Gleichzeitig sind jedoch gerade bei dieser unverzichtbaren Einbindung auch die Hürden am höchsten. So sind zum einen die dauerhaft knappen Zeitressourcen gerade in den politischen Leitungen der Ministerien ein kritischer Engpass. Zum anderen ist hier auch noch die größte Überzeugungsarbeit zu leisten, wenn man Entscheidungsträger dazu bringen will, bei diesem in der deutschen Politik noch jungen und wenig bekannten Instrument die ohnehin knappe Arbeitszeit und Aufmerksamkeit zu investieren, was jedoch für ein erfolgreiches Projekt unabdingbar ist. Strategische Vorausschau kann also idealerweise wertvolle Anhalte für mögliche Zukunftsentwicklungen liefern, die wichtigsten Indizien, An- und Vorzeichen für

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das rechtzeitige Erkennen der Entscheidungspunkte auf dem Weg zu diesen Entwicklungen identifizieren und konkrete Handlungsoptionen anbieten, um schon vorab so gut wie möglich auf die unterschiedlichen Zukunftsentwicklungen vorbereitet zu sein. Diese Fähigkeit, sich in der Gegenwart bereits so flexibel aufzustellen, dass man für mehrere mögliche Zukunftsoptionen vorbereitet ist, wird in Fachkreisen „Zukunftsrobustheit“ genannt. Dieses Kriterium zu erfüllen oder zumindest Wege dorthin aufzuzeigen ist eines der erklärten Ziele der strategischen Vorausschau.

5

Zukunftsorientierung als Hilfestellung für Entscheidungsträger

Man darf dabei nicht vergessen, dass die Strategische Vorausschau selbst im besten und erfolgreichsten Falle keinen Ersatz für strategisches Handeln liefert, sondern nur eines von vielen Hilfsmitteln für die Entscheidungsfindung auf dem Weg dahin darstellt. Das Wechselspiel von Wissenschaft und Politik ist und bleibt selbst hochkomplex, keine der beiden Seiten darf sich und ihre Rolle dabei unterschätzen. So stellt einerseits Wolfgang Schäuble aus politischer Sicht grundsätzlich fest: „Wissenschaft ist wichtig, weil man sich immer bemühen muss zu begreifen“, andererseits muss auch die Wissenschaft einschließlich der Ressortforschung akzeptieren, dass sie zumeist nur „ein Mittel zum Zweck“ und kein „Navigationssystem“ für die Politik darstellt: „Es mag die Eitelkeit mancher Experten kränken, aber ihre Expertise wird in der Politik zwar als Argumentationshilfe gebraucht, aber nie umgesetzt, schon gar nicht eins zu eins“. Denn, so das Resümee des Finanzministers, man könne schließlich „politische Entscheidungen nicht an die Wissenschaft abtreten“ (Fichtner und Smoltczyk 2013, S.65 und S.68). Natürlich sind die sich aus Studien der Zukunftsanalyse und der Strategischen Vorausschau ergebenden Schlussfolgerungen abhängig von der Fragestellung, den einzubeziehenden Parametern und den sich daraus ergebenen Schlüsselfaktoren. Die eingangs zitierte fiktive Pressemeldung illustriert das Beispiel eines möglichen Zukunftsbildes, wie es im Rahmen eines Projekts der strategischen Vorausschau neben verschiedenen anderen Bildern möglicher Zukünfte stehen würde. Diese werden systematisch und wissenschaftlich nachvollziehbar aus klar zu definierenden Schlüsselfaktoren entwickelt. Vielleicht wäre eine dieser Welten ein zersplittertes und schwaches Europa, eine andere eine zwar wirtschaftlich erfolgreiche, jedoch politisch und militärisch praktisch unbedeutende Europäische Gemeinschaft. Um der Grundidee der Zukunftsrobustheit gerecht werden zu können, müssten daher Politikansätze von diesen Zukunftsbildern abgeleitet werden, die dem handelnden

… denn morgen wird heute schon gestern gewesen sein

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Akteur erlauben, in jeder der hier umrissenen Zukünfte weiterhin erfolgreich agieren zu können. Es sollte bereits bei dieser zwangsläufig sehr kursorischen Beschreibung klar geworden sein, dass strategische Vorausschau der Politik helfen kann, „die heute anstehenden Entscheidungen auf eine rationalere Basis zu stellen und dergestalt abzusichern, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt nicht zu bereuen sein werden“ (Voß 1983). Sie kann Zukunftspotenziale sichtbar machen und Zukunftsorientierung leisten, „ohne deswegen gleich in Prognosewahn oder modischen Skeptizismus zu verfallen“ (Opachowski 2015, S.45). Eine so flexibel aufgestellte und dennoch verlässliche, langfristig orientierte Politik verdient dann wahrlich das Prädikat „zukunftsrobust“. Alles in allem stellt Strategische Vorausschau keine Konkurrenz zu den klassischen Ansätzen der Politikberatung dar. Stattdessen sollte man das Konzept als Ergänzung betrachten, ein zusätzliches Hilfsmittel, dessen besondere Stärken beim Umgang mit den gerade aktuell so drängenden „unknown-unknowns“ in der Außen- und Sicherheitspolitik liegen. Zukunftsbilder und das Denken in alternativen Zukünften, etwa in Form von Szenarien oder Simulationsmodellen können für politische Entscheidungen sehr wichtig sein. Albert Einstein soll gesagt haben: ‚Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben‘. Die Strategische Vorausschau will den Entscheidungsträgern dabei helfen, diese aktiv selbst mit zu gestalten.

Literatur Brozus, L. 2015. Von welcher Krise werden wir als Nächstes überrascht? SWP Berlin, http:// www.swp-berlin.org/de/publikationen/ kurz-gesagt/swp-foresight-von-welcher-krisewerden-wir-als-naechstes-ueberrascht.html .Zugegriffen: 11. Februar 2016. Buehler, I. und Döhrn J. 2013. Government Foresight in Deutschland: Ansätze, Herausforderungen und Chancen. Stiftung Neue Verantwortung, Impulse 7/13 http://www.stiftung-nv. de/sites/default/files/201304_impuls_nr._7_gf.pdf .Zugegriffen 11. Februar 2016. Danzig, R. 2011. Driving in the Dark: Ten Propositions about Prediction and National Security. Center For A New American Century. DIE ZEIT 2008. Der große Umbruch: Drei Krisen mit einer Klappe – Finanzen, Klima, Hunger. DieZeit 16.10.2008 https://www.zeit.de/2008/43/Krise-und-Nebenfolgen. Zugegriffen am 23. Juli 2018. DIE ZEIT 2015, 10. Dezember Die Zeiten ändern uns!, S. 2. DoD News Briefing 2002, Secretary Rumsfeld and Gen. Myers, February 12, 2002. http:// archive.defense.gov/Transcripts/Transcript.aspx?TranscriptID=2636 (Zugegriffen am 26. Juli 2018) Fichtner U. und Smoltczyk A. 2013. Mein Gott, liegen wir richtig?. Der Spiegel, 39/2013:64-68.

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Kaim, M. und Perthes, V. 2012. Herausforderungen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik bis 2030: Gestaltung in einer turbulenten Welt. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/fachpublikationen/121016_ZfAS_Deutschland2030_prt_kim.pdf (Zugegriffen 11. Juli 2018). Koalitionsvertrag 2013. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD 2013: Deutschlands Zukunft gestalten. http://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/2013/2013-12-17-koalitionsvertrag.pdf?__blob=publicationFile .Zugegriffen 11. Februar 2016. Kreibich, R. 2008. Zukunftsforschung für die gesellschaftliche Praxis. IZT-Arbeitsbericht Nr. 29/2008. https://www.izt.de/fileadmin/downloads/pdf/IZT_AB29.pdf .Zugegriffen 30. Juli 2018. Maull, H.W. 2015. Von den Schwierigkeiten des Regierens in Zeiten der Globalisierung. Aus Politik und Zeitgeschichte (ApuZg), Nr 31–32:34–39. Nachtweih, W. 2018. Krisenfrüherkennung und Vorausschau in der Friedens- und Sicherheitspolitik: Früher, entschiedener, substanzieller agieren! In: Ethik und Militär, Kontroversen der Militärethik & Sicherheitskultur, 2018/1 Strategic Foresight. http://www. ethikundmilitaer.de/de/themenueberblick/20181-strategic-foresight/nachtwei-krisenfrueherkennung-und-vorausschau-in-der-friedens-und-sicherheitspolitik-frueher-entschiedener-substanzieller-agieren/ .Zugegriffen 27. Juli 2018. Opachowski, H.W. 2015. Mode, Hype, Megatrend? Vom Nutzen wissenschaftlicher Zukunftsforschung.ApuZg 31–31:40–45. Perthes, V. und Lippert, B. 2013. Ungeplant bleibt der Normalfall: Acht Situationen, die politische Aufmerksamkeit verdienen, SWP-Studie 16, S. 5. Theiler, O. 2015. Angebot an die Entscheider: Strategische Vorausschau als Instrument der Politikberatung, in: Jahrbuch Innere Führung 2015: Neue Denkwege angesichts der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Krisen, Konflikte und Kriege, Hrsg. Hartmann, Uwe; Rosen, Claus v.,78–90. Voß, A. 1983. Systematische Zukunftsanalyse als Entscheidungshilfe, In: Proceedings der Jahrestagung GEE: Ölkrise: 10 Jahre danach. TÜV Rheinland: 286–291.

Zur Fortentwicklung der Strategiebildung durch Strategische Vorausschau Das Beispiel Storytelling Norbert Reez1 Fortentwicklung der Strategiebildung durch Strategische Vorausschau

Zusammenfassung

Es wird die These vertreten, dass Strategische Vorausschau (Foresight) die Fortsetzung der Strategiebildung mit anderen Mitteln ist. Diese Mittel sind Imaginationskraft, Phantasie und Kreativität. In der Praxis orientiert sich die Strategiebildung indessen noch am Modell der Planung bzw. der strategischen Planung (Langfristplanung). Empfohlen wird daher eine „Foresight-basierte Strategiebildung“: Die Praxis der strategischen Planung soll fortentwickelt werden zu einem Modell, das den Gebrauch kreativer Methoden der Strategischen Vorausschau einschließt. Abschließend wird das Potenzial der Erzählmethode (Storytelling/Narrative Foresight) am Beispiel des Klimawandels und der Arktis-Politik erprobt. Schlüsselbegriffe

Strategie, Strategiebildung, Strategische Vorausschau, Foresight-Prozess, Strategische Planung, Erzählmethode, Imaginationskraft, Kreativität, Klimawandel, Arktis

1 Der Autor ist Jurist und Diplom-Kriminologe. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Jacobi und G. Hellmann (Hrsg.), Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Edition ZfAS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6_9

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Vorbemerkungen Strategische Vorausschau (Foresight) ist die Fortsetzung der Strategiebildung mit anderen Mitteln. Die Mittel, die eingesetzt werden, sind Imaginationskraft, Phantasie und Kreativität. Foresight-Prozesse konstruieren mögliche und denkbare, nicht notwendig wahrscheinliche Welten. Die Zukunft wird im Plural („Zukünfte“) gedacht – als Inbegriff und Ensemble von Möglichkeitsräumen. Inspiriert sind Prozesse der Strategischen Vorausschau von bisherigen Erfahrungen, schon sichtbaren Entwicklungen und Trends – manchmal auch nur von außergewöhnlichen unscheinbaren Vorkommnissen, Winzigkeiten der Alltagswelt. Antizipation erfordert Achtsamkeit. Sie ist die größte Tugend, wenn es darum geht „Latenzstrukturen“ (E. Bloch) und Innovationskeime im Hier und Jetzt zu erkennen und daraus plausible Konstrukte für eine politische Zukunftsgestaltung zu machen. Auch Strategiebildung dient der Zukunftsgestaltung – Strategien selbst sind nichts Anderes als politische Gestaltungsmittel. Allerdings ist der Weg zum Ziel ein anderer. Strategie-Prozesse sind sehr viel direkter auf konkrete Maßnahmen gerichtet. Sie vermeiden Umwege, müssen – so die oft zu hörende Begründung – sehr viel mehr den Anforderungen der Praxis (statistische Wahrscheinlichkeit, Zeitmangel, Entscheidungsdruck etc.) genügen. Strategiebildung in der Praxis orientiert sich daher am bekannten und scheinbar verlässlichen Modell der Planung für den Umgang mit der ungewissen Zukunft. Strategiebildung in der Praxis ist im weit überwiegenden Fall Langfristplanung. Planung indessen fußt auf der Überlegung der Projektion von Ist-Zuständen auf erwünschte Soll-Zustände bei gleichbleibenden Bedingungen. Die unausgesprochene Annahme hierbei ist, dass sich die Kontextbedingungen der jeweiligen Planung nicht grundsätzlich ändern werden. Diese Form der linearen Extrapolation ist unterkomplex angesichts der zu beobachtenden dynamischen Komplexität in der globalisierten Welt von heute. Mit anderen Worten: Der Vertrag, den strategische Planer mit der Realität eingehen wollen und dabei auf die Einhaltung der Geschäftsgrundlage – clausula rebus sic stantibus – drängen, wird von der Wirklichkeit durch unerwartete Ereignissee (Wildcards), nicht einkalkulierte Faktoren, die zu Störvariablen im Umsetzungsprozess werden, immer öfter einseitig aufgekündigt. Das Ergebnis sind Krisen und Politikversagen (Weidenfeld 2018). Unsere These ist: Strategiebildung der herkömmlichen Art bedient sich kaum – jedenfalls viel zu wenig – jener schöpferischen Mittel (Methoden, Techniken und Verfahren), die Foresight ausmachen. Es ist sinnvoll, Langfristplanungen zukunftsrobuster auszugestalten. Die hergebrachte Form der Strategiebildung sollte daher

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zu einer Art „Szenario-Planung“ (Godet 2000; 2006)2 fortentwickelt werden. Die Frage der Methodik und des konzeptionellen Instrumentariums bei der Strategiebildung ist mitentscheidend für die Weiterentwicklung dessen, was soziale Resilienz genannt wird, d. h. das Vorbereitet-Sein auch auf unvorhergesehene Ereignisse.

1

Zum fehlenden „Vor-Prozess“ im Prozess der Strategiebildung

Es gehört zum unbestrittenen Kernbestand jeder Strategiediskussion, dass Strategiebildung einen Prozess erfordert. Ebenso unbestritten ist, dass die Strategie am Ende des Prozesses steht. Strategien sind quasi Endprodukte, Epiphänomene, von Strategiebildungsprozessen. Die Feststellung ist trivial. Nicht trivial indessen ist die Frage, wo dieser Prozess beginnt. Damit nämlich ist die Frage aufgeworfen nach den Vorannahmen, den als gesetzt angenommen Ausgangsprämissen. Aufgeworfen ist damit auch die Schlüsselfrage der Strategischen Vorausschau. Im übertragenen Sinne wird hier eine Tür aufgestoßen, die hinaus führt aus dem Planungsparadigma. Strategiebildung konventioneller Art will ja den Gedankengang möglichst kontrollieren, quasi eine Art inhaltliche Prozesskontrolle für die beabsichtigte zielgerichtete Operationalisierung des beschlossenen Handlungsprogramms gewährleisten. Praxisnahe Strategiebildung verfährt, wie erwähnt, heute weitgehend nach dieser Funktionslogik. Der Gesamtprozess wird dadurch berechenbar. Aus diesem Grund nimmt man gerne Zuflucht zu Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Prozentangaben, die Risiken im Handumdrehen berechenbar machen. Die Strategieentwicklung soll schließlich nicht aus dem Ruder laufen, keine abwegigen Lösungen zu Tage fördern. Andererseits will man doch etwas Phantasie zulassen, aber bitte nicht zu viel unkonventionelles Denken – ein wenig nach dem Motto: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“. Mit anderen Worten: Die Strategiebildung in der Praxis der Planungsstäbe ist, wenn unsere Beobachtung zutreffend ist, in theoretischer Hinsicht verkürzt und regelmäßig primär ergebnisfokussiert. Das ist zwar verständlich, zählt doch letztlich, was bei dem Prozess – einem nicht selten langwierigen und aufwändigen Procedere – herauskommt. Andererseits können dadurch aber problematische Vorannahmen aus dem Blick geraten – eventuelle Alternativlösungswege bleiben vollends verborgen. Die Existenz der neu entfachten Diskussion um die Not2 Die Bezeichnung „Szenario-Planung“ ist nicht glücklich gewählt, legt sie doch nahe, dass es letztlich bei dem Gesamtprozess um Planung geht.

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wendigkeit und Sinnhaftigkeit von Strategischer Vorausschau (Foresight) in der Praxis der Entscheidungsvorbereitung ist offenbar ein Zeichen dafür, dass sich hier gerade etwas ändert – sowohl in der kritischen Selbstwahrnehmung aktueller Politikberatungsprozesse, als auch in der theoretischen Durchdringung von konkreten Strategiebildungsprozessen, wie etwa dem Weißbuch-Prozess (Reez 2018). Die Strategiediskussion sollte sich daher verstärkt dem Vorfeld der konkreten Strategiearbeit zuwenden. Dieser wenig bis gar nicht beachtete Vor-Prozess ist ausschlaggebend für bestimmte Setzungen und Annahmen, welche den gesamten weiteren Prozess maßgeblich beeinflussen können.

2

Foresight-Prozesse als kreativer Umweg

Es scheint durchaus kein böser Wille der einzelnen Akteure zu sein, dass man die Tür zu Foresight nicht öfter aufstößt. Vielmehr spricht einiges dafür, dass es hier einen untergründigen Kulturkonflikt gibt, einen Widerspruch zwischen zwei grundverschiedenen Denkansätzen (Mindsets) zwischen Planern einerseits und Foresight-Praktikern andererseits3. Foresight eilt der Ruf voraus, etwas abgehoben und abstrakt, damit per se unpraktikabel für die politische Praxis zu sein. Zum Teil haben Politiker selbst dieses pauschale Vorurteil (jedenfalls im deutschen Sprachraum) genährt, indem sie etwa behauptet haben: „Wer Visionen hat, möge zum Arzt gehen.“4. Dabei wird außer Acht gelassen, dass Visionsbildung (Visioning) sich als Methode zur Gewinnung von strategischen Flucht- und Orientierungspunkten im Rahmen der Neuausrichtung von Organisationen bewährt hat. So falsch das Vorurteil gegenüber Foresight im Grundsatz ist, so ist die Reserviertheit der Praxis gegenüber der auf den ersten Blick verwirrenden Vielfalt der Methoden der Strategischen Vorausschau doch verständlich. Foresight arbeitet mit Wörtern als heuristischen Zeichen, nicht mit Begriffen. Diese sind inhaltlich fest konturiert und bestimmten Gedankengebäuden entnommen. Das Mittel der Wahl zur Konstruktion von neuen Nicht-Standard-Welten im Verlauf von Foresight-Prozessen ist die natürliche Sprache. Die (noch) unkodierte natürliche Sprache eröffnet besondere Spielräume für das Denken. Im Verlauf von Foresight-Prozessen finden gewissermaßen konzertierte „Sprachspiele“ (L. Wittgenstein) statt, die die Teilnehmer zu ko-kreativ vorgestellten alternativen Zukünften führen, jenseits von linear gedachten Standard-Welten. So werden di3 Dazu grundlegend C. P. Snow (1998). 4 Ein Satz, den angeblich Altbundeskanzler Helmut Schmidt geprägt hat.

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alogisch Zukunftsbilder entworfen, Szenarien entwickelt und Narrative erdacht, die zusätzliche politische Gestaltungsoptionen enthalten. Für eine transformative Politik können sich daraus Anhaltspunkte für Kurskorrekturen und neue strategische Weichenstellungen ergeben. Die Sprache ist durch und durch metaphorisch – Schilderungen, Beschreibungen – kurzum: Erzählungen, sind daher der Stoff, aus dem neue Bilder möglicher Zukünfte zusammengesetzt werden. Es entsteht eine Art narrative Bricolage aus subjektiv-objektiven Eindrücken, die die Mitwirkenden am Prozess – Experten und Laien – zum Thema beitragen. Im Zuge des weiteren Diskussionsprozesses werden die Einzelstimmen ständig auf ihre Plausibilität überprüft. Foresight-Prozesse sind demzufolge eminent sprachsensible, zunächst bewusst unkontrolliert ablaufende diskursive Ereignisse, die dennoch methodisch strukturiert ablaufen. Der Mechanismus der gedanklichen Selbstzensur allerdings, die sprichwörtliche Schere im Kopf oder Besserwisserei, eine Art „Behauptungsfetischismus“ (Sennett 2012, S. 40), wird durch entsprechende Regieanweisungen der Moderatoren des Prozesses (formales Prozessdesign) außer Kraft gesetzt. In der Phase der Exploration künftiger Möglichkeitsräume gibt es kein Richtig oder Falsch. In dieser Phase ist das Denken experimentell – man weiß es einfach nicht. Niemand kennt die Zukunft oder kann sie voraussagen. Hier scheidet sich seriöse Strategische Vorausschau von „Zukunftsalchemie“ (I. Illich) oder Scharlatanerie. Prinzipielles Anliegen von Foresight-Prozessen ist es, Vorannahmen und Vorurteile offenzulegen, Denkfehler, Wahrnehmungsfilter bzw. Fehlwahrnehmungen aufzudecken. Das Aufspüren kognitiver Dissonanz ist gewissermaßen Nebenprodukt des offenen Dialogs unter den Diskussionsteilnehmern eines Foresight-Prozesses, der auf die Exploration des Zukunftsraums gerichtet ist. Foresight bedient sich auf diese Weise der Rhetorik als Findekunst. Irritierend für Planer, die in festen Kategorien und Begriffssystemen denken, mag ferner sein, dass im Verlauf des hierarchiefreien, offenen Diskurses zwar Meinungen und Einschätzungen, aber eben keine unumstößlichen Tatsachen zu Tage gefördert werden. Das Wissen ist Orientierungswissen, das sich an Grundsätzen der Plausibilität, Vertretbarkeit und Angemessenheit orientiert, nicht an harten Kriterien wie Evidenz, Validität oder Repräsentativität. Die Ergebnisse von Foresight-Prozessen sind daher konzertierte Gedankenexperimente auf vager, hypothetischer Grundlage. Für die Qualität ist unter anderem die Zusammensetzung der Gruppe, die ein Problem mithilfe der Methoden der Strategischen Vorausschau lösen will, von entscheidender Bedeutung. Als Faustregel gilt: Je diverser und heterogener, desto besser. Nur so kann group think vermieden und das verbreitete Silo-Denken eingedämmt werden. Zukunftswerkstätten kennen eine sogenannte Phantasie- bzw. Utopiephase im Verlauf des strukturierten Kommunikationsprozesses. Hier wird besonders deutlich, dass diese Phase eine Art kreativer Umweg auf dem Weg zur Lösung eines komplexen Prob-

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lems ist. Die diskursiv-mäandernde Herangehensweise ist das Markenzeichen eines jeden Foresight-Prozesses. Eine solche Praxis mit derjenigen der konventionellen Strategiebildung zu verbinden und sich dabei des angesprochenen Kultur-Konflikts bewusst zu sein, ist das Kernanliegen einer Weiterentwicklung strategischen Denkens und Handelns.

3

Foresight-basierte Strategiebildung

Will man Foresight-basierte Strategiebildung etablieren, so muss man durch die Tür gehen, hinter der sich die Möglichkeitsräume der Zukunft auftun. Der kreative Vor-Prozess ist ein vorläufiger, aber dennoch notwendiger, wenn man nicht von falschen Voraussetzungen ausgehen will. Das Planungsparadigma klassischer Art scheint überfordert zu sein angesichts der überbordenden Komplexität einer sogenannten VUCA-Welt. Der Übergang von der hergebrachten strategischen Planung zu Foresight-basierten Entscheidungsprozessen wird damit primär zur Herausforderung für Führungskräfte. Strategiebildung, die – wenn auch unbewusst – auf eine Imaginations-, Phantasie- und Kreativitätsphase verzichtet, bleibt ein, im schlimmsten Fall technokratisch-ingenieurwissenschaftlich restringierter Entscheidungsprozess. Das bedeutet auch, dass Führungskräfte einen Perspektivenwechsel vollziehen müssen, von einer ausschließlichen Evidenzorientierung („Es gibt nur die einzig richtige Lösung!“) zu einer neuen Form von „Latenzorientierung“ („Es kann mehrere mögliche Lösungswege geben!“). Verbunden ist damit ein Stück weit ein Kulturwandel in den Behörden. Pragmatisches Entscheiden, orientiert an Plausibilität und Angemessenheit, gewinnt stärker an Gewicht gegenüber der vorhandenen normativ-planvollen Entscheidungsrationalität, die sich primär an Richtigkeit, Eindeutigkeit und Wahrheit orientiert. Es ist gewiss sehr viel einfacher und bequemer, Strategiearbeit ohne kreative Kommunikationsschleifen zu organisieren. Die (begriffliche) Unkodiertheit bzw. die Unschärfe und Ambivalenz der natürlichen Sprache wird teilweise als störend, verlangsamend und unwissenschaftlich empfunden. Nichtsdestotrotz eröffnet genau dies neue Spielräume für das Denken und Handeln. Solche Spielräume für einen Dialog erscheinen indes vielen heute als unnötiges Palaver, Zeitverschwendung im Hinblick auf die dringliche Lösung des Problems. Stattdessen hastet man – ohne rückhaltloses Durchdenken der Ausgangsprämissen – von der Analyse des Ist-Zustands zum Soll-Zustand. Dieser Weg ist in aller Regel weniger unwegsam, dafür in der Regel sorgsam gepflastert mit eindeutigen Kennzahlen.

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Der Kulturwandel von der klassischen strategischen Planung zu einer Foresight-basierten Strategiebildung wird nicht leicht sein. In Anbetracht einer zunehmenden „Vereindeutigung der Welt“ (Bauer 2018) besteht sogar das ernsthafte Risiko, dass die vorherrschende Praxis sich noch vertieft. Eine solche Praxis der Entscheidungsvorbereitung ist empfänglich für Prognosen, bei denen die numerische (Eintritt-)Wahrscheinlichkeit als Kriterium zugrunde gelegt wird. Zu erwarten sind gewissermaßen „Strategieprodukte von der Stange“ (Söffner 2018, S. 20)5. Will sagen: Leistungsfähige Prädiktionstechnologien sind bereits jetzt, in Zukunft aber noch sehr viel mehr, in der Lage, durch Massendatenverarbeitung eine neue Form von Adhokratie zu schaffen. Solche Vorhersagen sind schlechte Surrogate echter Strategiearbeit. Hierin stecken neue Herausforderungen für die Führungskräfte der Zukunft, sich ein Stück weit von maschinell errechneten Entscheidungsvorschlägen kognitiver Systeme zu distanzieren und Spielräume für eigenes strategisches Denken offenzuhalten. Foresight-Prozesse dienen insofern auch dem sozialen Lernen, dem Erlernen des Aushaltens von Ambivalenz und Ambiguität.

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Storytelling – ein praktisches Beispiel

Storytelling (Narrative Foresight), im Deutschen: „Geschichten erzählen“ bzw. Erzählmethode, steht für ein qualitativ-hermeneutisches Verfahren zur Veranschaulichung komplexer Zusammenhänge sowie zur Lösung damit zusammenhängender Probleme (Milojevic und Inayatulla 2015). Erzählen ist, wie die weitverzweigte interdisziplinäre Forschung gezeigt hat (Martinez und Scheffel 2016), konstitutiv für unsere Welterschließung. Wir verstehen die Welt erst durch Erzählungen. Dadurch, dass wir eigene Erfahrungen versprachlichen, sie einordnen und anderen mitteilen, gelingt es, Komplexität zu reduzieren, alternative Welten zu entwerfen und an fremden Welten teilzuhaben. Narrationen und deren Ergebnisse (Narrative) organisieren Erfahrungen und Ideen um Zeit, Ort und Protagonisten. Durch eine solche Erzählperspektive erhalten Geschichten einen Anfang, einen Verlauf und ein Ende. Für den Zuhörer, Leser und Rezipienten „ergibt das – wenn es gut läuft – einen Sinn“ (Weick 2011: S. 462) 6. Es erhebt sich die Frage, ob die erzählte Geschichte plausibel ist. Dies wiederum lädt ein zur Diskussion und Gegenargu5

Jan Söffner (2018), der selbst in den Kultur- und Sozialwissenschaften eine „Abneigung gegen das Erzählen“ zu beobachten glaubt (S. 20). 6 Vgl. Karl E. Weick (2011), für den in der Praxis die entscheidende Frage die der Plausibilität ist, nämlich ob die Geschichte „plausiblen Sinn“ (plausible sense) macht, S. 462.

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mentation. Aufgrund der unübertroffenen Modellierungsleistung des Erzählens wird der Erzählmethode ein hohes Potenzial für Foresight-Prozesse (Szenario writing) und für die Strategiebildung beigemessen (Milojevic und Inayatulla 2015, S. 152). Geschichten in diesem Sinne sind Einschätzungen im Bezugsrahmen des Möglichen, Gedankenexperimente, die einen narrativen Simulationsraum (er) schaffen, der sich, anders als indikatorbasierte technische Simulationen, der Kraft der Sprache und Phantasie bedient, um neue fiktive Wirklichkeiten zu konstruieren. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Erzählmethode auf die Problematik Klimawandel anzuwenden.

Das Ende des Eis-Vorhangs. Eine fiktive Geschichte aus der Zukunft Die Satellitenbilder, die die Europäische Weltraumagentur ESA kurz vor Weihnachten 2038 auf ihre Website gestellt hatte, wirkten wie ein Paukenschlag. In Windeseile hatten sie sich rund um den Globus verbreitet – ein Weckruf für die Weltgesellschaft in Sachen Klimawandel. Die sensationellen Bilder belegten zweifelsfrei, was zuvor nur einige Klimaforscher behauptet hatten: Das Nordpolarmeer war erstmals – auch im Winter – eisfrei. Viel schneller, als allgemein angenommen, war das Abschmelzen der Arktischen Eiskappe Realität geworden. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass der Weltklimarat IPCC bei seinen Simulationen den Einfluss der sogenannten Eis-Albedo-Rückkopplung7 deutlich unterschätzt hatte. Die Bilder der ESA und die unerwartete ganzjährige Schiffbarkeit der Arktis erwiesen sich in der Folge als Game Changer allersten Ranges: War das Nordpolarmeer aufgrund seiner Unzugänglichkeit in der Vergangenheit wirtschaftlich kaum nutzbar gewesen, so war das nun völlig anders. Der Arktische Ozean, sechsmal so groß wie das Mittelmeer, entwickelte sich binnen kürzester Zeit zum boomenden Wirtschaftsraum. Die Schiffe wählten die neue transarktische Route, statt wie bisher den Suez- oder Panama-Kanal, wo nicht geringe Transitgebühren anfielen. Die Handelswege zwischen Europa und Ostasien, die Linie Rotterdam – Tokio etwa, verkürzten sich auf die Hälfte; risikoreiche, von Piraterie betroffene Gewässer, rund um Indonesien oder am Horn von Afrika, konnten buchstäblich umschifft werden. Das Nordpolarmeer wurde dadurch zur Haupt-Handelsroute und gleichzeitig zum Hot Spot des internationalen Seeverkehrs. Kreuzfahrtschiffe erschlossen die bis dahin fast menschenleere Gegend. Insbesondere Warming Island (Uunartoq Qeqertoq), 7

Anders als Schnee- und Eisflächen, die den größten Teil der eingestrahlten Sonnenenergie ins Weltall reflektieren, absorbieren Land- und Wasserflächen mit ihrer dunkleren Farbe einen großen Teil der Sonnenenergie, was zu zusätzlicher Erderwärmung führt. Quelle: Wikipedia.

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eine Insel, die erst im Jahr 2005 an der Ostküste von Grönland entdeckt worden war, nachdem dort eine große Menge Festlandeis geschmolzen war, wurde zum beliebten Ausflugsziel. Die noch größere Attraktion, die zigtausende von Besuchern anzog, waren allerdings die alten Arktis-Routen entlang des kanadisch-arktischen Archipels (Nordwest-Passage) und durch die Randmeere der russisch-sibirischen Küste (Nordost-Passage). Massentourismus, Zuzug und Infrastrukturaufbau veränderten das Gesicht der Arktis im Handumdrehen. Die Vision, die der isländische Präsident Ólafur Ragnar Grímsson bereits im Jahre 2010 entwickelt hatte, nämlich die Arktis zum transarktischen Panamakanal zu machen, war innerhalb weniger Jahre wahr geworden. Der allgemeinen Euphorie folgt indessen bald Ernüchterung. Wie sich rasch herausstellt, waren die acht arktischen Polarstaaten, Norwegen (mit Spitzbergen), Russische Föderation (mit Sibirien), Vereinigte Staaten von Amerika (mit Alaska), Kanada, Dänemark (mit Grönland) Finnland, Schweden und Island, völlig uneinig über den politischen Status der Region. Rechtlich bindende Regelungen gab es nicht – mit Ausnahme eines Abkommens über Such- und Rettungseinsätze in der Arktis. Zwar bestand mit dem Arktischen Rat mit Sitz in Tromsø in Norwegen seit 1996 ein Forum für fachlichen Austausch. Hauptaufgabe dieser Einrichtung war es aber, Forschungsprojekte und Entwicklungsvorhaben in der Arktis zu koordinieren – ohne jede Entscheidungskompetenz für alle. Die allermeisten Anrainerstaaten bekräftigen daher ihre schon früher geäußerten territorialen Ansprüche im Arktischen Ozean. Mit Nachdruck verfolgen sie ihre Anträge nach dem Seerechtsübereinkommen auf Ausweitung des eigenen Hoheitsgebiets in Richtung Kontinentalschelf. Um ihre Verhandlungsposition im Verfahren zu stärken, führen sie eilends nationale Erkundungsreisen zur Erforschung der Reichweite des Festlandsockels (sogenannte mapping missions) durch. Kanada stellt überdies innerhalb kürzester Zeit einen arktischen Tiefseehafen in der Resolute Bay, in der Nähe der zentral gelegenen Inuit-Siedlung Qausuittuq, fertig und schafft dadurch eine Service- und Sicherheits-Infrastruktur für die Rohstoffausbeutung im Polarmeer. Ein Wettrennen um die wertvollen Ressourcen unter dem Meeresgrund des Arktischen Ozeans hatte begonnen. Der Streit um die Vorherrschaft in der Arktis wird mit harten Bandagen geführt: Nicht nur vor UN-Gremien, etwa der UN-Kommission zur Begrenzung des Festlandsockels (CLCS), auch im Arktischen Rat, zunehmend auch medial und in aller Öffentlichkeit. Als Reaktion auf die seinerzeitige Aktion des russischen Duma-Abgeordneten Arthur Tschilingarov, der im Jahre 2007 von Bord eines U-Boots aus eine russische Flagge aus Titan in der Nähe des geographischen Nordpols in den Meeresboden gesetzt hatte, platziert der US-amerikanische Senator Dan Sullivan im Frühjahr 2041 dort ebenfalls medienwirksam eine Flagge – diesmal eine der Vereinten Nationen. Sein Ziel sei es, so Sullivan, auf die notwendige Internationa-

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lisierung der Seewege in der Arktis hinzuweisen. Die Aktion wird von Russland als Provokation betrachtet – der russische Präsident persönlich verurteilt die Kampagne in einer Pressekonferenz aufs Schärfste und brandmarkt sie als Kanonenboot-Politik. Der beanspruchte Festlandsockel sei unbestreitbar eine unterseeische Fortsetzung der eurasischen Landmasse. Dem wiederum widerspricht daraufhin die dänische Ministerpräsidentin auf Twitter energisch, unterstellt dem russischen Präsidenten „unredliche Propaganda“, da der reklamierte Festlandsockel nach „maßgeblichen geologischen Erkenntnissen“ zu Grönland gehöre. Damit nicht genug – der amerikanische Präsident stellt sich hierauf demonstrativ hinter die Sullivan-Aktion. Der russischen Seite wirft er per Twitter-Botschaft vor, seinerseits Kanonenboot-Politik zu betreiben. Mehrfach seien russische Atom-U-Boote vom Typ Mir in der jüngeren Vergangenheit in die ausschließliche Wirtschaftszone Alaskas eingedrungen. Für die Zukunft kündigt er eine „angemessene Reaktion“ an. Der Streit eskaliert. Kanada springt Russland bei und verurteilt „Militärmanöver“ der USA in kanadischen Gewässern, die die USA entgegen internationalem Recht als „international“ ansähen. Eine nie da gewesene öffentliche Auseinandersetzung zwischen den Polarstaaten nimmt ihren Lauf. Medien berichten täglich über neue Vorwürfe und wechselseitige Provokationen. Selbst Dänemark und Kanada tragen ihren Streit über die Zugehörigkeit der Hans-Insel in der Nähe Grönlands nun ungeschützt öffentlich aus. Die tiefgreifenden Interessengegensätze zwischen den arktischen Staaten aufgrund ungeklärter Gebietsansprüche drohen zur Dauerkrise und zum Risiko für den Weltfrieden zu werden. Weltöffentlichkeit und Weltwirtschaft verfolgen verstört und ungläubig die Entwicklung. So rasch und vielversprechend der ökomische Aufstieg der Arktis verlaufen war, so deprimierend präsentierte sich nun der politische Prozess. Manche politischen Beobachter halten einen bewaffneten Konflikt in der Region für nicht mehr ausgeschlossen. Die „Zukunft der Arktis läuft Gefahr durch Akteure, die vollkommen unstrategisch denken und handeln, verspielt zu werden – und die Zukunft des Welthandels und des Weltklimas gleich mit“, kommentiert die Washington Post. Alle Hoffnungen ruhen daher auf dem noch im Herbst angesetzten regulären Ministertreffen des Arktischen Rates. Gespannt blickt die Welt nach Nuuk in Grönland, wo die Sitzung Anfang November des Jahres unter turnusmäßigem Vorsitz Dänemarks anberaumt ist. Der diplomatischen Runde droht ein Debakel: Vorläufiger Höhepunkt des Niedergangs der Eintracht in der Arktis ist die Drohung Russlands im Vorfeld, dem Treffen aufgrund der jüngsten Vorfälle – wegen der „offenbaren Falschbehauptungen und systematischen Desinformation verschiedener böswilliger Nachbarn über Russlands Aktivitäten in der arktischen Region“ – fernbleiben zu wollen. Erst der gemeinsam verfasste Offene Brief der sechs Dachorganisationen der Ureinwohner der Arktis, die als Permanent Participants an den Sitzungen des

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Arktischen Rates teilnehmen, kann Russland zum Einlenken bewegen. Anders als von vielen erwartet, sagt der russische Präsident nun aber persönlich seine Teilnahme zu. Dies führt dazu, dass auch die anderen Mitgliedstaaten des Arktis-Rates die amtierenden Regierungschefs als Teilnehmer benennen. In aller Eile versucht Dänemark den „Arktis-Gipfel“, wie das Treffen inzwischen weltweit genannt wird, inhaltlich und protokollarisch den neuen Gegebenheiten anzupassen. Unter allen Umständen soll ein Scheitern der Konferenz verhindert werden. Die dänische Ministerpräsidentin ist sich bewusst, dass die Stimmung unter den Mitgliedern des Arktischen Rates auf dem Tiefpunkt angelangt ist. Gleichzeitig weiß sie, dass die Weltöffentlichkeit und die eigene Bevölkerung konkrete Schritte zur Überwindung der Vertrauenskrise erwarten. Damit der „Gipfel in Grönland“ ein Erfolg wird, wird alles bis kurz vor Beginn der Konferenz minutiös geplant. Den ausländischen Delegationen und den zu erwartenden Medienvertretern soll der Aufenthalt in Nuuk so angenehm wie möglich gemacht werden. Das kulturelle Rahmenprogramm sieht den Besuch des Nuuk Art Museum und ein Gespräch mit lokalen Künstlern vor, ferner eine Bootsfahrt in den östlichen Teil des Nuuk Fjord Systems, um Wale, Robben und Seeadler zu beobachten. Die Sitzungs-Agenda wird zeitlich gestrafft, bleibt aber im Übrigen, wie sie von den verschiedenen Projektgruppen und Expertenrunden vorbereitet worden ist. Die Tagesordnung liest sich so: • Aufgetaute Permafrostböden und freigesetzte Treibhausgase (Methan, Kohlendioxid) sowie Quecksilber-Emission • Küstenerosion und Umsiedlung indigener Bevölkerung • Naturkatastrophen durch ungehindert aufschlagende arktische Herbst- und Winterstürme und Überflutungen (sog. Regen-auf-Schnee-Ereignisse) • Aussterbende Eisbär-Populationen und veränderte Wanderrouten von Tieren (Rentieren, Robben und Walrossen) • Verschmutzung der arktischen Flüsse • Schiffsverkehrsmanagement, Schiffsunfälle und Havarien • Auswirkungen von Rohstoffabbau im Meeresboden auf arktische Strömungen (Beaufort-Strom und den Transpolarer Strom) • Verschiedenes Am ersten Sitzungstag herrscht auch in den Räumen des behelfsmäßig erweiterten Konferenzzentrums im Stadtzentrum von Nuuk, trotz der gedrängten Enge, eine frostige Atmosphäre unter den prominenten Gästen. Die dänische Ministerpräsidentin begrüßt alle Repräsentanten der Mitgliedstaaten sowie alle anderen Teilnehmer und Beobachter und verleiht der Hoffnung Ausdruck, dass von dem „Grönland-Gipfel“ ein Signal der Versöhnung zwischen den Polarnationen ausgehe.

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Hohe Erwartungen überall auf der Welt seien mit der Konferenz verknüpft. Sie verweist auf die übervolle Agenda und die drängenden Probleme in der Region, die im Verlauf der Konferenz diskutiert werden müssten. Dann erteilt sie dem hochbetagten grönländischen Politiker und Schriftsteller Aqqualuk Lynge, der dem Inuit Circumpolar Council (ICC) angehört, das Wort. Dieser schildert die aktuelle Situation Grönlands und erzählt in eindrucksvollen Bildern aus eigener Anschauung. Nachdem nun das Meereis schon zu seinen Lebzeiten verschwunden sei, so Lynge, schmelze auch das Festlandeis auf Grönland bereits in nennenswertem Umfang. Man wisse – man könne es berechnen –, dass Grönlands Eismasse groß genug sei, um den Meeresspiegel weltweit über 7 m ansteigen zu lassen. Eine der größten – heute absehbaren – katastrophalen Folgen der Erderwärmung für die Menschheit bestünde demnach in einem kollabierenden Eisschild. Es müsse daher etwas „Grundsätzliches“ geschehen, um dieses zu verhindern. Die anwesenden Entscheidungsträger hätten es in ihrer Hand. Die Rede verfehlt ihre Wirkung nicht. Es entwickelt sich in der Folge eine sehr lebhafte Diskussion über das den einzelnen Tagesordnungspunkten vorausliegende „Grundsätzliche“. Mehrere Delegationen machen deutlich, dass man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen könne. Plötzlich weicht die Sprachlosigkeit, die allseits vorgeherrscht hatte, einem grundsätzlichen Diskussionsbedürfnis, dem Wunsch nach einem konzeptionellen Neuanfang. Die Frage der Vorsitzenden, ob man die vorgeschlagene Tagesordnung in dieser Form annähme, wird reihum verneint. Anstelle der Erörterung von Sachthemen fordert man, teils aus unterschiedlichen Gründen, eine grundsätzliche Aussprache – so etwas wie einen „strategischen Ansatz“ über die Zukunft der Zusammenarbeit in der arktischen Region. Es wird daran erinnert, dass der Arktische Rat selbst aus einem ähnlichen Strategiebildungsprozess hervorgegangen sei, nämlich der Arctic Environmental Protection Strategy (AEPS). Auf deren Grundlage sei 1996 mit der „Erklärung von Ottawa“ der Arktische Rat gegründet worden. Schnell ist man sich im Grundsatz einig, sich bei der Konferenz mit Grundsätzen der Zusammenarbeit und einer neuen Arktis-Strategie befassen zu wollen. Indessen zeigt sich im Verlauf der weiteren Diskussion, dass durchaus verschiedene Vorstellungen und Erwartungen in Bezug auf einen solchen Strategiebildungsprozess bestehen. Während manche für eine Art Vision plädieren, um die nötige Orientierung zu haben für die konkrete Problemlösung, sprechen sich andere für die Definition strategischer Ziele aus, die notwendig seien, um auch eine Umsetzung gewährleisten zu können. Der Streit ging auch darüber, was eine Strategie sei und wie konkret oder wie abstrakt sie sein müsse, um effektiv zu sein. Die dänische Ministerpräsidentin macht schließlich den Vorschlag, unter der Schirmherrschaft des Arktischen Rates eine Projektgruppe zur Ausarbeitung einer Neuen Arktis-Strategie einzusetzen und die Universität der Arktis (UArctic) mit der Durchführung zu beauftragen. Dagegen regt

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sich Widerstand von verschiedener Seite. In einem leidenschaftlichen Plädoyer für einen „wirklichen Neuanfang“ machen Finnland, Norwegen und Kanada gemeinsam den Vorschlag, die Strategieentwicklung nicht nur zur Sache der Experten, sondern weiterhin zur Chefsache zu machen. Das Vorhaben müsse angesichts der Lage ein „Leuchtturm-Projekt“ sein; dies sei man den betroffenen Menschen in der Region und auch der Weltöffentlichkeit schuldig. Der Vertreter des Dachverbands der Eskimos entwickelt in diesem Zusammenhang die Idee, das Projektbüro an exponierter Stelle unmittelbar in der Region und nicht bei dem Sekretariat von UArctic in Finnland anzusiedeln. Es biete sich auch an, das Projektbüro für das „Leuchtturm-Projekt“ an einem tatsächlichen Leuchtturm-Standort einzurichten. Davon gebe es an den Küsten des Arktischen Ozeans reichlich. Dadurch könne der Charakter des „Leuchtturm-Projekts“ auch symbolhaft verstärkt werden, da es schließlich auch hier, nicht anders als bei jedem Leuchtturm, um Frühwarnung und Krisenbewältigung gehe. Der russische Präsident unterstützt diese Sichtweise ausdrücklich. Er bietet das Kap Deschnew auf der Tschuktschen-Halbinsel am nördlichsten Punkt Sibiriens, unmittelbar an der Beringstraße gelegen, als Standort an. Der Ort Naukan sei eine aufstrebende Kleinstadt, die sehr von der wirtschaftlichen Entwicklung im Nordpolarmeer profitiert habe und daher als Standort für das in Aussicht genommene Leuchtturm-Projekt bestens geeignet sei. Dem pflichtet auch der amerikanische Präsident bei. Es komme darauf an, positive Signale der Versöhnung und der konstruktiven Zusammenarbeit in die Welt zu senden. Er offeriert Kap Point Spencer auf der Seward-Halbinsel am nördlichsten Punkt Alaskas als zusätzlichen Standort. Er liege nur knapp 100 Kilometer entfernt von dem ehemaligen East Cape, nur getrennt durch die Beringstraße. Dass man gerade an dieser Stelle, der Nahtstelle des Arktischen Ozeans, so eng zusammenarbeiten wolle, sei eine Botschaft des guten Willens. Man habe im Übrigen, soweit er sich entsinne, in Analogie zum Eisernen Vorhang (Iron curtain), der Mitteleuropa in dieser Zeit getrennt habe, damals in Alaska vom „Eis-Vorhang“ („Ice curtain“) gesprochen. Zwei Projekt-Standorte für das Zukunftsprojekt einer „Neuen Arktis-Strategie“ an diesem Ort zu haben, sei damit historische Verpflichtung und Zeichen für einen Neuanfang zugleich. Alle Anwesenden signalisieren Zustimmung. Man kommt schließlich überein, die unentschiedene Frage, ob es bei der Strategiebildung mehr um eine „Vision“ oder um „strategische Ziele“ geht, an den beiden Standorten jeweils getrennt näher zu beleuchten. Im Zweifel könne man beim nächsten „Arktis-Gipfel“ alternative Vorschläge diskutieren, führt die Vorsitzende aus und schließt – sichtlich erleichtert – die Sitzung.

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Literatur Bauer, Thomas. 2018. Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Stuttgart: Reclam. Godet, Michel. 2000. The Art of Scenarios and Strategic Planning: Tools and Pitfalls. Technological Forcasting and Social Change 65: 3–22. Godet, Michel. 2006. Creating Futures. Scenario Planning as a Strategic Management. Paris: Economica. Martinez, Matías und M. Scheffel. 2016. Einführung in die Erzähltheorie. Nördlingen: C.H. Beck. Milojevic, Ivana und S. Inayatulla. 2015. Narrative foresight. Futures 73: 151–162. Reez, Norbert. 2018. Prospektive Politikberatung. SIRIUS Heft 3: S. 286–288. Sennett, Richard. 2012. Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. Berlin: Hanser Berlin. Söffner, Jan. 2018. Vergesst das Erzählen nicht! Die Geisteswissenschaften fixieren sich auf Analysen und Methoden – und verlieren an Relevanz fürs Leben. Neue Zürcher Zeitung vom 28. August 2018, S. 20. Snow, Charles Percy. 1998. The Two Cultures. Cambridge: Cambridge University Press. Weick, Karl E. 2001. Making Sense of the Organization. Malden; Oxford: Blackwell Publishing. Weidenfeld, Werner. 2018. Legitimationsprobleme der Politik: Bitte die Logenplätze verlassen und Orientierung bieten! Der Tagespiegel vom 2. März 2018, S. 22.

Teil III Strategische Kultur und Öffentlichkeit

„Was haben die Römer je für uns getan?“ Hans-Peter Bartels

Persönliche Anmerkungen zur Kultur der strategischen Expertendebatte in Deutschland Ehrlich gesagt habe ich mich immer ein bisschen gewundert, wenn ich auf das Klischee gestoßen bin, in Deutschland gebe es keine strategische Community, keine sicherheitspolitischen Think Tanks, keine ordentliche Debatte. Armes Deutschland! Viele einschlägige Wissenschaftler, Großjournalisten und Ex-Militärs redeten und reden gerne so. Sie können das auch auf Englisch sagen. Der angelsächsische Diskussionsraum gilt für größere Teile unserer Expertenschaft sowieso als Ideal schlechthin. Und wir haben übrigens tatsächlich ziemlich viele Experten. Ich will versuchen, beide Fragen, die sich mit diesem Stereotyp vom Mangel-Deutschland und vom Ideal-Amerika verbinden, aus meiner Sicht zu beantworten: Stimmt das Klischee überhaupt? Und warum ist es so beliebt? Um mit dem Offensichtlichen zu beginnen: Die gewaltigste, berühmteste und traditionsreichste politisch-strategische Großveranstaltung der Welt findet jedes Jahr in Deutschland statt. Das ist die Münchner Sicherheitskonferenz, früher Wehrkundetagung. Nun kann man deutsche Bundeskanzler, amerikanische Vizepräsidenten, russische Präsidenten, chinesische Außenminister oder israelische Verteidigungsminister, die Generalsekretäre von UNO und Nato, EU-Kommissare und friedliebende Weltreisende wie Bill Gates allesamt für strategische Scharlatane halten, aber man kann auch finden, dass München der grandioseste Jahrmarkt der unterschiedlichsten strategischen Denkansätze weltweit ist. Ich glaube, „München“, immer vorbereitet von einem deutschen Team, finanziert mit deutschem Geld, zählt. Ein Punkt für Deutschland als strategischer Debattenort. Und die Community-Angehörigen, die so routiniert die Existenz einer deutschen strategischen Community bestreiten, wissen im Übrigen aus ihren eigenen Terminkalendern, dass es noch eine Vielzahl weiterer strategischer Jahreskonferenzen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Jacobi und G. Hellmann (Hrsg.), Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Edition ZfAS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6_10

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mit Dolmetscherkabinen in Deutschland gibt, nicht nur in München und Berlin. Geredet wird reichlich. Wir haben keinen Mangel an Events. Aber unsere kümmerliche Think-Tank-Landschaft! sagen die deutschen Experten. Ja, die Amerikaner haben das Wort Think Tank erfunden, und die Liste der einschlägigen amerikanischen Institute und Organisationen liest sich beeindruckend, vom Center for Strategic and International Studies (CSIS) über Brookings und Carnegie, Rand, Woodrow Wilson und den Council on Foreign Relations (CFR) bis zur Heritage Foundation und zur Hoover Institution. Ich habe bei einer Recherche zu anderen Zwecken vor ein paar Jahren mal ein Ranking der „45 besten Denkfabriken im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik“ gefunden. Da sind 6 US-Think-Tanks unter den ersten 10, dazu zwei britische, also achtmal englischsprachig, plus 1x Schweden (SIPRI) und 1x Deutschland (SWP). Die DGAP ist hier auf Platz 16 gerankt, weiter hinten kommen dann nochmal 6 deutsche Institutionen, en bloc von Platz 35 (ISPK) bis 40. Insgesamt ist Deutschland unter diesen 45 Denkfabriken also mit acht Einrichtungen vertreten, die USA mit 18. Vom Größenverhältnis der beiden Länder aus betrachtet, wäre das für uns gar nicht mal so schlecht. Aber im Ernst, nach meiner Wahrnehmung ist z. B. die deutsche Forschungslandschaft im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik extrem vielfältig und föderal gut aufgestellt. Was fehlt, ist vielleicht eine besonders starke Finanzierung und Personalausstattung bei den Spitzeninstitutionen wie etwa der DGAP oder der SWP. Auch die BAKS könnte man hier noch stärker machen. Aktive Soldaten könnten sich im Sinne des „Staatsbürgers in Uniform“ stärker an der öffentlichen Debatte beteiligen. Und einmal alle vier Jahre sollte es vielleicht wieder ein Weißbuch zur sicherheitspolitischen Lage und zur Zukunft der Bundeswehr geben. Da wäre noch ein bisschen Luft nach oben. Was aber Deutschland von allen vergleichbaren und nicht vergleichbaren Nationen unterscheidet, ist der gewollt pluralistische Ansatz, den insbesondere unsere politischen Stiftungen verkörpern. So breit gibt es das nirgendwo auf der Welt. Und so global präsent auch nicht. Die Friedrich-Ebert-Stiftung unterhält weltweit 106 Auslandsbüros, die Konrad-Adenauer-Stiftung 80, die Heinrich-Böll-Stiftung 40. Dazu die Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung, der Hanns-Seidel-Stiftung, der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Alle beschäftigen sich auch mit sicherheitspolitischen Analysen, saugen Sichtweisen und Argumente aus diesen fremden Hauptstädten auf – für unsere sicherheitspolitische Diskussion hier in Deutschland und in Europa. Neben den Kontakten, die unsere Botschaften und Militärattachéstäbe pflegen, sind die politischen Stiftungen unsere fein kalibrierten deutschen Sensoren für die Welt da draußen. Wenn Amerika so etwas hätte, hätte ich es in den letzten zwei Jahrzehnten im Bundestag irgendwann einmal mitbekommen müssen.

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Unsere christdemokratischen, sozialdemokratischen, liberalen, christlich-sozialen, grünen und sozialistischen Stiftungen bringen auch operativ die Unter-Communities immer wieder zusammen: SPD-Abgeordnete mit französischen Sozialisten oder Macron-Leuten, mit Think Tankern, Journalisten, Diplomaten. Und mit polnischen und britischen und israelischen Gleichgesinnten. Cercle stratégique oder Deutsch-polnisches Tandem heißen dann diese Formate mit jeweils 25 bis 100 Diskutanten; Reisekosten und Unterbringung zahlt Deutschland. Dafür werden die Stiftungen aus dem Bundeshaushalt bewusst gefördert. Mein Eindruck ist, dass zum Beispiel deutsche Parlamentarier und Regierungsmitglieder (auch von unseren 16 Landesregierungen) mehr in andere Länder reisen und dort Gespräche führen als die Kollegen von irgendwo sonst. Gar kein Vergleich z. B. mit den amerikanischen Abgeordneten, die strukturell sehr häuslich sind. In den Medien werden solche Reisen bekanntlich gern kritisiert. Aber diese ganz selbstverständliche deutsche Kontaktfreude fördert einen Blick auf die Welt, der unserem Land und unseren internationalen Beziehungen ganz bestimmt sehr gut tut. So viel zum Klischee des deutschen Mangels an Praxis und Potenzial zum strategischen, internationalen Denken und Reden. Das deutsche Expertenlamento klingt manchmal ein bisschen so wie wie im Kinofilm Leben des Brian die berühmte Szene „Was haben die Römer je für uns getan?“ Warum ist dieses seltsame Klischee dann trotzdem so beliebt? Kann es sein, dass mancher Teilnehmer an der tatsächlich stattfindenden Debatte in Deutschland eigentlich sagen möchte: Es ist die falsche strategische Debatte, es sind die falschen Themen, die falschen Ergebnisse, die falsche deutsche politische Praxis? Gerade diejenigen, die immer das angelsächsische Vorbild hochalten, wünschen sich vielleicht andere deutsche Ergebnisse, eine andere strategische Orientierung. Wenn der amerikanische Politikwissenschaftler Robert Kagan die USA mit dem Kriegsgott Mars und Europa mit der Liebesgöttin Venus assoziiert, um die Unterschiede in den strategischen Kulturen maximal plakativ herauszuarbeiten, dann hat er da einen Punkt: Es geht ganz bestimmt um zwei unterschiedliche strategische Kulturen. Und auch in Kontinentaleuropa ist nicht alles „Venus“, was Mitglied in der EU ist. Frankreich zum Beispiel mit seinem Sitz im UN-Sicherheitsrat, seinen Atomwaffen und dem verblichenen frankophonen Kolonialreich im Rücken, Frankreich tickt anders als Deutschland. Ich bin bei meinen Besuchen unserer Soldatinnen und Soldaten in den Einsatzgebieten auf dem Balkan, in Afghanistan und in Afrika gelegentlich auf britische und amerikanische Gesprächspartner getroffen, die fragten: Warum seid ihr Deutsche so zurückhaltend mit eurem Militär? Der Subtext lautete: Haut mal drauf, verdammt! Wir wissen, dass ihr das könnt!

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Gewiss muss ich hier nicht die historischen Gründe für Deutschlands wahrlich gut begründete Kultur der militärischen Zurückhaltung ausbreiten. Wir (und andere mit uns) haben im 20. Jahrhundert bestimmte Erfahrungen mit Schuld und Krieg und Terror und Kriegszerstörung, mit Vernichtung, Vertreibung und Flucht gemacht. Die angelsächsischen Demokratien waren die einzigen, die – selbst niemals besetzt – ihr Militär als Expeditionsstreitkräfte konfliktbeendend einsetzen konnten, eingesetzt haben. Sie waren und blieben Demokratien, auf der richtigen Seite, am Ende siegreich. Die Welt hat ihnen und ihrem Militär unendlich viel zu verdanken! Das aber prägt das Bild vom Einsatz militärischer Mittel in der angelsächsischen strategischen Kultur noch heute. Deutschlands Staatsräson der Gegenwart ist aus gutem Grund ein möglichst effektiver Multilateralismus, ist das Streben nach einer Verrechtlichung der internationalen Beziehungen. Wertegebundene Außenpolitik ist uns lieber als reine Realpolitik, als Einflusssphärenpolitik, als Machtpolitik. Die Maxime „Germany first“ wäre keine Option, nie wieder. Bewertet man die strategischen Kulturen Deutschlands und der USA, so würden wir heute vielleicht kritisieren, dass die USA oft zu militärorientiert sind. Für jede Krise in jedem Winkel der Welt gibt es immer eines von sechs militärischen US-Regionalkommandos wie US-EUCOM, US-CENTCOM, US-PACOM, das zuständig ist für eine militärische Option. Aber der Erfolg militärischer Interventionen in den Zeiten des sogenannten war on terror scheint nicht sehr durchschlagend gewesen zu sein, bisher. Kritik an der deutschen strategischen Kultur geht dagegen eher in die Richtung, Deutschland sei zu machtvergessen, pflege geradezu eine Militärphobie, Deutschland benenne seine nationalen Interessen nicht offen. Ich glaube allerdings, unsere deutschen nationalen Interessen decken sich sehr weitgehend mit denen unserer Partner in Europa, meist eigentlich auch mit denen der USA (vor Trump), Kanadas oder Japans, mit denen wir gemeinsame Werte teilen – das normative Projekt des Westens. Es sind auch keine deutschen nationalen Sonderinteressen in Sicht, die wir unilateral militärisch gegen andere verteidigen müssten oder wollten, gar keine. Keine Sonderwege, keine Alleingänge. Ist diese deutsche strategische Kultur ein Problem für die Welt oder für Deutschland? Nein, das Gegenteil ist der Fall! Es gibt seit Jahren eine weltweite Umfrage der britischen Rundfunkanstalt BBC, welches Land einen guten Einfluss auf die Weltpolitik hat. In 25 großen Ländern wird gefragt. Und wer war und ist da jedes Jahr vorne? Deutschland. Dahinter mal Japan, mal Kanada; die USA und China in der Mitte; Pakistan, Nordkorea und der Iran am Ende. Mehr gutes Ansehen in der Welt kann man nicht wollen. Deutschlands Rolle als Exportweltmacht, als

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vertrauenswürdiger ehrbarer Makler ist keine Selbstverständlichkeit, sondern hart erarbeitetes Glück. Wir wissen, dass wir militärische Solidaritätsverpflichtungen haben, in Nato-Europa, in EU-Europa, für die UNO. Nach der Zeitenwende von 2014 müssen wir nun deutlich mehr in die Verteidigung investieren. Unsere Bundeswehr muss jetzt erstmals beides können: Out-of-area-Einsätze (mit überschaubaren Kontingenten), wie sie sich in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten entwickelt haben, und kollektive Verteidigung in Europa mit der ganzen Bundeswehr. Klar sollte sein, dass wir in den Bündnissen alle die gleichen Risiken tragen wollen. Wollen müssen! Wenn wir mitentschieden haben, dass das Bündnis, sei es die Nato, sei es die EU, sich militärisch engagiert, dann müssen wir alles dazu beitragen, was erforderlich ist, damit wir wirklich gemeinsam erfolgreich sind. Dazu gehören in jedem Fall immer auch erhebliche nicht-militärische Anstrengungen. Diese Lektion dürften wir aus Afghanistan, Irak oder Libyen gelernt haben, jedenfalls wir Europäer. Immer mehr muss jetzt die EU ein internationaler Akteur werden, auch als militärisches Bündnis, als europäischer Pfeiler unserer transatlantischen Allianz. Die europäische Global Strategy vom Juni 2016 – noch vor Trump – spricht von dem Ziel „strategischer Autonomie“ für Europa. Daraus ergibt sich im Bereich des Militärischen eine große Integrationsaufgabe. Der Zug rollt. Die Stichworte lauten „Framework Nation Concept“ (Nato-Europa), „PESCO“ (EU-Europa) und „Europäische Armee“ oder „Armee der Europäer“. Es geht um die Selbstbehauptung Europas in besonders turbulenten Zeiten. In allen EU-Mitgliedsländern befürworten Bevölkerungsmehrheiten bei jeder Umfrage diesen Kurs: mehr Europa in der Verteidigung. Reden wir zu wenig darüber? Oder ist das die falsche Strategie? Ich glaube nicht.

Mehr Mut wagen Wie Selbstreflektion und Debatte zur Strategiefähigkeit beitragen Roderich Kiesewetter1

Zusammenfassung

Die strategischen Fähigkeiten Deutschlands befinden sich noch im Aufbau. Angesichts eines unsicheren internationalen Umfelds und weniger Vorhersehbarkeit muss Deutschland vorausschauend im Zuge von Szenario-Analysen Gefahren und Risiken abwägen. Hierfür ist eine ständige und breite Debattenkultur zentral, um der Regierung für Verhaltensänderung Legitimation zu verleihen. Gleichzeitig sind institutionelle Lernprozesse sowie umfassendes Denken innerhalb der Regierung eine Kernaufgabe im Rahmen eines methodischen Ansatzes für strategische Handlungsfähigkeit. Schlüsselbegriffe

Vorausschauende Regierungsführung, parlamentarische Legitimation, Szenario-Analyse, umfassender Ansatz

Das Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr 2016 war eine wichtige Wegmarke im Zuge größerer deutscher Verantwortungsübernahme. Dem ging die Einsicht voraus, dass eine sich rasch verändernde Weltordnung die Interessen Deutschlands und der Europäischen Union unmittelbar berührt. Die Ordnung nach dem Ende des Kalten Kriegs galt nicht mehr als sicher und das 1 Der Autor ist Mitglied des deutschen Bundestages und Obmann für Auswärtiges der CDU/CSU-Fraktion. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Jacobi und G. Hellmann (Hrsg.), Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Edition ZfAS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6_11

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Weißbuch formulierte in dieser Momentaufnahme zentrale Herausforderungen, Interessen und Ziele deutscher Sicherheitspolitik. Jedoch wächst die Unsicherheit im internationalen System weiter, seitdem Trumps Verhältnis zur NATO bei den Verbündeten zu großen Irritationen führt und die Einheit des Westens scheinbar nicht im Interesse des neuen Präsidenten ist. Daraus erwachsen weitere Risiken und Bedrohungen, die Europas Sicherheit unmittelbar berühren. Der Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran unterminiert die von Europa beschworene regelbasierte Ordnung, wenn die Einhaltung geschlossener Verträge in Frage gestellt wird (pacta sunt servanda!). Die Absichten Trumps gegenüber Russland sind weiterhin unklar und es ist (noch) keine gemeinsame Linie von EU und NATO erkennbar, wie laufende Rüstungskontrollverträge am Leben gehalten und welche vertrauensbildenden Maßnahmen zur Risikovermeidung von militärischen Unfällen mit Russland ergriffen werden können. Deutschland ist also gefordert, durch unsichere Fahrwasser zu navigieren und sich nicht auf scheinbare Gewissheiten zu verlassen.

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Die Weiterentwicklung einer strategischen Kultur

Dem spürbar schwindenden Zusammenhalt der westlichen Allianz steht das Ziel deutscher und europäischer Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber, strategisch autonom agieren zu können. Deutschlands strategisches Interesse ließe sich hierbei verkürzt in dem Satz zusammenfassen: Verteidigung ist all das, was den Interessen Deutschlands und Europas dient. Die Sicherheit der Bürger steht im Zentrum der Globalen Strategie der EU von 2016, welche die Europäische Sicherheitsstrategie von 2003 ablöste. Ein „Ring stabiler, gut regierter Staaten“ um Europa als Interesse ist klar verfehlt worden und die Bedrohungsanalyse muss immer komplexere Wirkungszusammenhänge in den Blick nehmen, um politische Antworten zu formulieren. Die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit afrikanischen Herkunftsstaaten von Migrantion, um Lebensperspektiven vor Ort zu ermöglichen, sowie durch grenzpolizeiliche und militärische Ertüchtigung Terror und Menschenschmuggel zu verhindern, sind gemeinsame europäische Interessen. Ethnische Konflikte, Ernährungsunsicherheit, Klimaveränderungen, Korruption und Misswirtschaft erweitern das politische Handlungsfeld. Es ist dem Interesse Europas nicht gedient, wenn durch die Zementierung des Machteinflusses korrupter Eliten der Unmut in der Bevölkerung steigt, das europäische Engagement abgelehnt wird und dadurch Terror sowie Migration weiter befördert werden. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass

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Zusammenhänge zu komplex sind, als mit dem Behandeln einzelner Phänomene nach dem Ressortprinzip zu nachhaltigen Lösungen zu gelangen. Diese Unsicherheit fordert Deutschland, auf unvorhergesehene Entwicklungen schnell reagieren zu können, Fähigkeiten im europäischen Verbund aufeinander abzustimmen und zu definieren, welchen Herausforderungen es Priorität einräumt. Die strategische Kultur muss dafür weiterentwickelt werden, da Deutschland nicht über die notwendige Risikokohärenz verfügt, um Fähigkeiten optimal in einen effektiveren, rasch einsetzbaren zivil-militärischen Instrumentenkasten der EU einzubringen. Dazu muss deutlich herausgestellt werden, welche finanziellen und materiellen Beiträge Deutschland für bestimmte EU-Einsatzszenarien leisten will. Die Krisen- und Katastrophenvorsorge durch eine schnelle Eingreiftruppe, abgestimmtes Management von Sicherheitssektorreformen oder Entwaffnungs-/ Demobilisierungsengagement sind hierfür Beispiele, bei denen sich Deutschland für bestimmte strategische Ziele bereit erklären könnte, Fähigkeiten zu integrieren. Diese Absichten müssen sich in der Strategie wiederspiegeln, damit die europäisch-strategische Kultur als Grundlage für gemeinsame Zielsetzungen integrierter Fähigkeiten erwachsen kann. Der Zusammenhalt in Europa ist unmittelbare Voraussetzung für eine gemeinsame strategische Kultur. Ein starker Kern, v. a. Deutschland und Frankreich, muss deshalb Initiativen entwickeln und weitere EU-Partner hierfür gewinnen, damit der Überbau für die gemeinsam aufzubauenden zivilen und militärischen PESCO-Fähigkeiten entstehen kann. Die nationale Strategiebildung ist deshalb notwendig, um gemeinsam mit Frankreich Motor einer handlungsfähigen EU nach außen zu sein. Die nationalen militärischen, diplomatischen und entwicklungspolitischen Instrumente sind hierfür in Einklang zu bringen, um auf europäischer Ebene gemeinsame Ziele koordinieren und verfolgen zu können. Eine entscheidende Rolle spielt in unserem liberal-demokratischen System der Diskurs und die Legitimität außenpolitischen Handelns. Mit dem Weißbuch wurde diese Debatte wieder angestoßen und unbequeme Wahrheiten zur Sicherheit des Friedens und unseres Wohlstands in Europa offengelegt. Ein verstetigter, offener gesellschaftlicher Diskurs muss integraler Teil der strategischen Kultur sein und nicht nur fallweise bei Erarbeitung neuer Strategiedokumente initiiert werden. Hierbei geht es auch darum, insbesondere die Exekutive an diesen iterativen und interaktiven Prozess heranzuführen und zu gewöhnen. Zugleich ist der proaktive Austausch mit Wissenschaft, Think Tanks und Zivilgesellschaft, wie auch mit geeigneten Fachpolitikern aus dem Europaparlament, dem Bundestag und Bundesrat, zu suchen. Im Folgenden sollen vier Facetten der Strategiefähigkeit näher beleuchtet werden: Erstens, welches Selbstverständnis Strategiebildung in Deutschland zugrunde

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liegen sollte. Zweitens, welche Strukturen und Prozesse dafür notwendig sind. Drittens, wie strategisches Denken und Handeln in der Organisationslogik von Ministerien zu stärken ist. Viertens, welche Rolle das Parlament zur Kontrolle und Evaluierung spielen sollte.

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Strategiefähigkeit durch Lernprozesse und Improvisation

Die operative Vernetzung der Ressorts ist auf ministerieller Ebene weiter durch starke Kompetenzstreitigkeiten gekennzeichnet. Es mangelt an einem gemeinsamen Verständnis einer sich wandelnden Weltordnung, ihren Konsequenzen für die Sicherheit Deutschlands, des Handlungspotentials- und Schwächen sowie den notwendigen Fähigkeiten, die zur Lösung betreffender Bedrohungen für Europa und Deutschland notwendig sind. Insofern hat das Weißbuch von 2016 bereits die richtige Richtung mit der erstmaligen Formulierung von Interessen vorgegeben, die operativen Schlussfolgerungen fokussieren jedoch wiederum zu sehr das Militärische. Gleiches gilt umgekehrt in anderen Strategiedokumenten wie den „Leitlinien zivile Krisenprävention“ unter Federführung des Auswärtigen Amtes fürs zivile Engagement. Der nächste Schritt muss daher sein, Strategiebildung als permanente, gemeinsame Aufgabe zu begreifen und die Grundlage für diese Zusammenarbeit zu legen. Letztlich sollte dies, wie in vielen anderen verantwortungsbewussten Ländern der Welt, zu einer nationalen Sicherheitsstrategie als Prozess führen. Es bestünde deshalb ein Mehrwert darin, ein gemeinsames Referenzdokument in Form einer Nationalen Sicherheitsstrategie zu entwerfen. Deutschland sollte diskutieren und abwägen, welchen Paradigmen diese folgt und wie diese als Bindeglied für ressortgemeinsames Handeln dienen kann, da parteipolitische Konkurrenz zwischen den Ministerien eine ständig verzahnte Abstimmung derzeit und, vielleicht auch historisch bedingt durch Koalitionsarithmetiken, blockiert. Welches Selbstverständnis eines umfassenden Strategiedokuments lässt sich angesichts der aktuellen Erosion des internationalen Regelsystems davon ableiten? Nach Veröffentlichung des Weißbuchs haben sich zwei weitere einschneidende Ereignisse für die künftige Ausrichtung deutscher sowie europäischer Außenund Sicherheitspolitik ergeben. Donald Trump wurde zum Präsidenten der USA gewählt und Großbritannien verlässt absehbar die EU – beides setzt Europa und damit zuvorderst Deutschland und Frankreich unter besonderen Druck, Fähigkeiten aufzubauen, um eigene Interessen durchsetzen zu können und als attraktiver, verlässlicher Partner im NATO-Bündnis sowie im Umfeld Europas zu gelten.

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Das führt zu zwei Einsichten: Erstens sind Strategien nicht als endgültig zu betrachten, weil die Weltordnung viel zu volatil ist und unvorhergesehene Ereignisse eine Korrektur des Handelns erzwingen, als sicher langfristig planen zu können. Zweitens spricht gegen solch einen Masterplan bzw. eine grand strategy, die außenpolitische Ziele und Mittel zur Erreichung definiert, dass die Bundesregierung qua Grundgesetz nicht über die vollständige Steuerungsgewalt und Koordinierungskapazität der unterschiedlichen Ressorts verfügt, die trotz Strategie im Rahmen ihrer Ressortzuständigkeit weiter eigene Wege gehen können. Es darf deshalb nicht um einen außenpolitischen Masterplan gehen, der dann im Zuge der Implementierung durch die verantwortlichen Ressorts keine praktische Relevanz mehr besitzt. Vielmehr müssen Glaubwürdigkeit, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit gegenüber Partnern hergestellt werden, die unseren Absichten vertrauen. Gegnern und strategischen Mitbewerbern wird dadurch Entschlossenheit zur Erreichung außenpolitischer Ziele signalisiert. Solch eine Strategie ist als Orientierungsrahmen und Handlungsleitfaden der ressortgemeinsamen Umsetzung zu entwerfen, damit auf unterschiedliche Szenarien und unerwartete Ereignisse schnell reagiert werden kann. Die neuen Vorzeichen sich verändernder außen- und sicherheitspolitischer Koordinaten, wie die stetig energischer vorgerbachte amerikanische Kritik an den Verteidigungsausgaben Europas, die Instabilität im Nahen Osten sowie die wachsende Gefahr einer Erosion von Rüstungskontrollverträgen, bedürfen einer ressortabgestimmten Definition von Interessen und möglichen Handlungsoptionen. Damit ist keine Planbarkeit bis ins letzte Detail zu erreichen, was auch weder möglich noch zweckmäßig wäre, sondern vielmehr ist die Entscheidungsfähigkeit im vernetzten Ansatz herzustellen, falls die in einer Vorausschau gemeinsam analysierten Bedrohungen eintreten. Es geht deshalb um die ständige Reflektion und Anpassung des Verhaltens. Diese Strategie zeichnet sich durch ein intelligentes Zusammenspiel der Ressorts – Emergenz – aus, die Lernprozesse und frühe Krisenreaktionsfähigkeit fördert, falls Szenarien eintreten, die der bisherigen Planung widersprechen. Damit wird sowohl Inkrementalismus, im Sinne eines muddling through, vermieden, als auch nur fallweise, unter höchstem Druck, die Ressortaktivitäten zu koordinieren.

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Der Bundessicherheitsrat als Schnittstelle der Ressortkoordinierung

Es gilt im Planungsprozess für eine nationale Sicherheitsstrategie das Spannungsfeld zwischen der Definition und operativen Durchsetzung von langfristigen Interessen einerseits sowie geeigneten Rückkopplungsmechanismen und Evaluierung andererseits anzuerkennen. Außenpolitische Ziele müssen durch gemeinsame Bewertungs- und Entscheidungsstrukturen überarbeitet und um kurz-/mittelfristige Ziele ergänzt werden können. Zentral ist somit nicht der Plan als solcher, sondern die Bereitschaft zur Überarbeitung und dem gemeinsamen vernetzten Denken, Analysieren, Entscheiden und Evaluieren. Damit Deutschland größere Strategiefähigkeit entwickelt, müssen zentrale außenpolitische Zielsetzungen auf oberster politischer Ebene der Exekutive festgelegt werden. In einer zunehmend unsicheren Welt mit wankendem Normensystem und seinen Institutionen ist ständige Anpassung und eine klare Richtschnur im operativen Handeln der Ressorts unerlässlich. Ein starres Dokument, das nicht eingebettet ist in permanente Abstimmungsmechanismen, kann die unterschiedlichen Problemwahrnehmungsperspektiven der Ressorts in der Implementierung nicht überbrücken. Denn losgelöst von den ressorteigenen Kompetenzfeldern sind in einer nationalen Sicherheitsstrategie Bedrohungen für Europa zu definieren, Deutschlands Interessen, Absichten und Ziele festzulegen sowie über die zu lösenden Aufgaben und die dafür notwendigen Instrumente zu schließende Fähigkeitslücken zu identifizieren. Das alles ist auch über eine kluge strategische Kommunikation der eigenen Bevölkerung und den wesentlichen Partnern zu vermitteln, wie auch den Gegnern und strategischen Wettbewerbern verständlich zu machen. Angesichts der Unberechenbarkeit aktueller Entwicklungen sollte der Fokus eher auf mittelfristigen Zielen liegen. Es kommt dabei darauf an, Akzeptanz in Exekutive und Legislative zu erzeugen und keine möglicherweise verfassungswidrigen Systembrüche zu wagen, sondern auf bestehenden Instrumenten aufzubauen: Der historisch anders gedachte und mittlerweile zu einem Rüstungsexportkontrollgremium mutierte Bundessicherheitsrat wie auch die ressortgemeinsame Planung müssen endlich die geforderte Strategiefähigkeit herstellen, indem eine Vorausschau mögliche Szenarien sowie Trends behandelt. Ein kurzes Beispiel: Denkbares Szenario im Zuge dieser antizipativen Analyse ist die mögliche Abwendung weiterer Bevölkerungsteile im Irak vom politischen System und eine elementare De-Legitimation westlichen Engagements in dieser Region, ggf. verbunden mit weiteren Migrationsbewegungen durch eskalierende

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Gewalt und den Klimawandel. Auf dieser Grundlage können Fortschrittsberichte anhand gemeinsam festgelegter Evaluations- und Erfolgskriterien regelmäßig erstellt und ein Ausstieg ebenso wie eine Intensivierung des Engagements geplant bzw. das Mandat adaptiert werden. Militärisches und ziviles Engagement sind damit von Beginn an eng miteinander verkoppelt. Ein Trend mit sicherheitspolitischen Auswirkungen sind hingegen die immer längeren Hitzeperioden von rund 50 Grad Celsius im Irak. Die Landwirtschaft wird dadurch immer schwächer, was zu einer stärkeren Binnenmigration und schließlich zu religiösen und ethnischen Konflikten führt. Sicherheitspolitische Analyse muss deshalb unerwartete, disruptive Ereignisse wie den Klimawandel oder nicht in erster Linie als sicherheitspolitisch wahrgenommene Ereignisse einkalkulieren, die eine klassische militärische Strategieplanung bisher unberücksichtigt lässt. Diese Abwägungen im Sinne einer Gesamtstrategie können nicht durch ad hoc-Arbeitsgruppen für einzelne Themenfelder und Regionen gelöst werden, sondern es bedarf einer permanenten Koordinierungsstruktur, die über die Staatssekretärsrunden hinausgeht. Der Bundessicherheitsrat ist deshalb zu der Schnittstelle der interministeriellen Koordinierung aufzuwerten. Der Bundessicherheitsrat als zentrales außen- und sicherheitspolitisches Entscheidungs- und Koordinierungsgremium sollte deshalb drei Aufgaben erfüllen: 1. Definition langfristiger Interessen sowie Zielsetzungen, hierarchische Prioritätensetzung sowie Vorausschau-Analysen zu globalen Trends und zentralen außenpolitischen Themen (Handelskrieg, Irak-Engagement, Rüstungskontrollpolitik, Auswirkungen des Klimawandels, etc.). 2. Koordinierung der Ressortaktivitäten durch gemeinsam vereinbarte Maßnahmenpakete in priorisierten Regionen und Handlungsfeldern, wie der Migrationspolitik in Afrika, bis hin zu regionalen Engagements wie im Irak. 3. Regelmäßige Evaluierung und Anpassung der Zielsetzungen, Maßnahmen und Mittel sowie rasche Krisenreaktion durch ressortgemeinsame Beratung im BSR oder in einem speziellen Unterausschuss für Krisen und vernetztes Handeln sowie Fortschrittsberichten. Die weitere Ausdifferenzierung und operative Ausgestaltung muss in der nachgeordneten ressortgemeinsamen Koordinierung zwischen den Ministerien liegen. Dieses als top-down-Ansatz koordinierte Vorgehen ist dazu geeignet, im Sinne einer strategischen Vorausschau ein gemeinsames Problembewusstsein zu schaffen, in dessen Aufmerksamkeit verschiedene Szenarien stehen und die Anpassungsfähigkeit außenpolitischen Handelns durch eine institutionelle Struktur gewährleistet wird.

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Die Kernexpertise in den Ressorts soll erhalten bleiben, jedoch in einem weiteren Bezugsrahmen übergeordneter Sicherheitsinteressen und der Bereitschaft zur Verhaltensänderung. Die Reflektionsfähigkeit gelingt nicht nur durch einen Elitenkurs oder einen nach innen gerichteten Selbstfindungsprozess der Ministerien. Hierüber eine bessere Strategiefähigkeit in Deutschland zu entwickeln ist eine Chance, die Exekutive wie Legislative gemeinsam anpacken sollten. Die öffentliche Kommunikation der Außenpolitik kann im Sinne der Lernfähigkeit und Improvisation nicht vom parlamentarischen Diskurs abgekoppelt sein.

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Reflektion und interne Weiterbildung als Triebfedern für Strategiefähigkeit

Das institutionelle Gerüst für gesteigerte Handlungsfähigkeit im Rahmen einer Strategie muss im Sinne von Lernprozessen und wegen Ressourcenknappheit bzw. Ressourcenkonkurrenz bewusst induzierter Improvisation auch von einer entsprechenden Weiterbildung in den Ministerien ergänzt werden.. Denn Strategiebildung setzt auch eine andere Kultur der Ressortzusammenarbeit voraus, die auf Bildung beruht. Dieser interne Aspekt der Strategiefähigkeit muss didaktische Fähigkeiten entwickeln, wie das Zusammenspiel funktioniert. Nicht der Zwang zum Kompromiss muss die Ressorts zu einer gemeinsamen Strategie bewegen, sondern das Erlernen einer Methodik des Personals hinsichtlich der Fähigkeit, eine Strategie zu erarbeiten und umsetzen zu können. Dafür sind die neueste Forschung sowie die BAKS als Impulsgeber durch eine Beratungs- und Weiterbildungstätigkeit für die Ministerien einzubinden. Dies erhöht, auch im Rahmen ressortgemeinsamer Weiterbildung die Kohärenz exekutiven Handelns, gewissermaßen als pädagogischen Faktor, die Gleichzeitigkeit von Krisen durch verbesserte Denkfähigkeit zu bewältigen. Die langsam beginnende Diskussion in Deutschland über strategische Kultur steckt noch in den Kinderschuhen und muss sich an diesen Überlegungen und Forderungen messen lassen. Die in Think Tanks und Stiftungen, aber auch an der BAKS, weit verbreitete Idee, sogenannte Young Leader-Gruppen aufzubauen, sollte zunächst auf die Generierung von Young Experts, die ihr Handwerk beherrschen, fokussieren, aus denen sicherlich irgendwann und bei geeigneter Förderung auch Young Leaders und Leaders erwachsen können. Führung ist gerade in der Sicherheitspolitik eine Kunst, die auf schöpferischem Denken, exzellenter Ausbildung und fortschrittlichster Methodik, Didaktik und sehr viel Erfahrung beruht. Der Faktor der Erfahrung ist hervorzuheben, weil neben den Generalisten ebenfalls Spezialisten

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über einen längeren Zeitraum, tief eingearbeitet in komplexen Themenfeldern, die Anleitung und Steuerung der Prozesse leisten müssen. Strategiefähigkeit als intelligentes Zusammenspiel von Akteuren setzt auch Reflektion und Kontrolle voraus. Der permanente Prozess von Strategie ist nicht ohne das Parlament in unserem politischen System zu denken. Das Weißbuch 2016 läuft gegenwärtig jedoch Gefahr, ein starres Dokument zu werden, wenn nicht aktiv gegengesteuert wird bzw. die Versprechungen der Exekutive aus dem Weißbuchprozess 2016 umgesetzt werden. Das Parlament darf sich künftig nicht wie beim Weißbuch 2016 der Möglichkeit berauben, eine Debatte über Strategiedokumente zu führen, sondern muss proaktiv Stellung im Diskurs beziehen können. Erst durch die Verkopplung von Kontrolle, Transparenz und Implementierung kann Strategiefähigkeit gedeihen und muss vom Parlament eingefordert werden. Ein verstetigter Weißbuchprozess fördert somit auch die Legitimität außenpolitischen Handelns und kann die Regierung an ihren Versprechen messen, was zugleich unsere Glaubwürdigkeit gegenüber Partnern steigert.

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Das Parlament stellt Transparenz und Legitimität her

Der öffentliche Diskurs ist hierbei in der parlamentarischen Demokratie Deutschlands wichtiger Mechanismus für eine ganzheitliche, an langfristigen Interessen orientierte Sicherheitsstrategie. Die parteipolitischen Positionen variieren bei konkreten Einsatzentscheidungen der Bundeswehr stark, wohingegen im zivilen Engagement grundsätzlich großer überparteilicher Konsens besteht. Eine auf Kontinuität bedachte Sicherheitsstrategie muss nicht nur eine transparente Debatte gewährleisten, sondern im Grundsätzlichen die Parteien dazu zwingen, Positionen für die Ziele und Risiken außen- und sicherheitspolitischen Handelns zu beziehen und entsprechend wahrnehmbare Haltungen zu entwickeln. Es sollte deshalb im Interesse der Bundesregierung sein, eine kontinuierliche Debatte bzw. Debattenkultur zu etablieren und die strategische Kommunikation nicht als technokratisches Mittel der Überzeugung von Öffentlichkeit und dem Abfragen von Zustimmung zu außenpolitischen Handlungen zu verkürzen. Genauso wie vernetztes Handeln ständig von sich ändernden Vorzeichen ausgehen muss, so ist auch die Debatte mit und in der Öffentlichkeit ein ständiges Diskutieren und Abwägen von Vor- und Nachteilen, Risiken und Handlungsalternativen. Zum Ersten geht es um Transparenz: Eine parlamentarische Debatte und Evaluierung ist Gradmesser für die Exekutive, über welchen Handlungsspielraum sie verfügt. Bei Reflektion der Ressorttätigkeiten und einer jährlichen Aussprache kön-

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nen die Ziele und Mittel flexibel angepasst werden. Damit gelingt es, das Handeln zu adaptieren und abzuwägen, ob eher kurzfristige oder langfristige Ziele verfolgt werden sollen und können. Zum Zweiten geht es um Legitimität: Eine fehlende Transparenz der Debatte birgt die Gefahr, dass die Nachfolgeregierung weitreichende Entscheidungen wieder kassiert. Die Angst, durch eine Debatte der Opposition und regierungskritisch eingestellten Organisationen mehr Angriffsfläche zu bieten, verhindert in Deutschland seit vielen Jahren, dass Strategiebildung wirklich in größere Handlungsfähigkeit übersetzt wird. Durch das Erklären und Abwägen unserer Interessen und Ziele wird das Handeln auf eine breitere Legitimationsbasis gestellt. Dadurch können erst politische Mehrheiten für als dringend notwendig erachtete Weichenstellungen erreicht werden. Die Alternative einer ständig proklamierten gesteigerten Verantwortungsübernahme Deutschlands, um die Gesellschaft vom 2%-Ziel, mehr Entwicklungszusammenarbeit bis hin zu militärischem Engagement in Afrika zu überzeugen, wird nicht gelingen, wenn nicht die vernetzte Mittelausstattung mit einem vernetzten Diskurs einhergeht. Das stärkt unmittelbar die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit Deutschlands, ohne dass die Öffentlichkeit unvorbereitet in kommende Krisen taumelt oder die engsten Bündnispartner sich den genauen Absichten Deutschlands nicht sicher sein können. Verlässlichkeit wie Berechenbarkeit sind in der gegenwärtigen internationalen Phase gleichzeitiger Krisen ein echtes Gut, ein Wert an sich und müssen sich ständig neu erarbeitet und wertgeschätzt werden. Regierung und Fraktionen im Parlament müssen klar und zugespitzt Stellung beziehen, damit die Komplexität der Herausforderungen der Globalisierung reduziert wird. Militarisierung der Außenpolitik ist bei 18 Mandatsdebatten, die genuin nur auf das Militärische fokussieren, derzeit leicht als Vorwurf erhoben. Wechselwirkungen, blinde Flecken und widersprüchliche Zielsetzungen lassen sich erst bei einer zusätzlichen übergreifenden Debatte, die sich von der Diskussion des einzelnen Mandats löst, identifizieren und die parteipolitischen Angebote sich leichter voneinander abgrenzen. Eine zum Beispiel jährlich vereinbarte Debatte der Außen- und Sicherheitspolitik wäre somit ein erster richtiger Schritt hin zu einem kontinuierlichen Dialog über deutsche Sicherheitspolitik. Solch eine Debatte bringt die verschiedenen Aktivitäten der Ressorts auf einen Nenner und gibt durch Evaluationsmechanismen der Regierung klare Aufträge, deren Ergebnisse sich an ihren definierten Zielsetzungen transparenter messen lassen. Weitere checks sind hierfür erstrebenswert. Die Exekutive kann sich nicht darauf beschränken, lediglich im Sinne effektiver PR das eigene Handeln zu rechtfertigen, sondern muss durch eine öffentlich diskutierte Vorausschau die Öffentlichkeit bei der Lösungssuche einbeziehen und die Debatte verstetigen – und das auch über die Medien, Denkfabriken und Nichtregierungsorganisationen. Anlass zur Diskussion und Beratung

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könnte hierbei ein unabhängig angefertigter Bericht sein, der im Bundestag debattiert wird – auf diese Möglichkeit haben bereits viele Experten und Ex-Diplomaten hingewiesen und die Regierung sollte dies ernst nehmen. Dieser hier skizzierte breite außen- und sicherheitspolitische Diskurs muss letztlich aus dem Parlament heraus geführt werden. Langfristige Interessen klar zu benennen und ressortgemeinsames Handeln durchzusetzen – top down – sowie Reflektion und Improvisation als Prinzip der Strategiefähigkeit zu verankern – bottom up – müssen als zwei Seiten einer Medaille betrachtet werden. In Wahrnehmung dieser beiden Seiten der Medaille und durch konkrete Umsetzung der hier vorgestellten Maßnahmen sollten wir uns auch des darin impliziten Bildungsanspruchs bewusst sein, der auf Willen, Wissen, Erfahrung, Methodik und Didaktik beruht. Dazu ist der entsprechende politische Wille gefordert, Deutschland über den jeweiligen Tellerrand einer vierjährigen Legislaturperiode hinaus auch sicherheitspolitisch fit für die Globalisierung zu machen!

Das Land ohne Eigenschaften? Das Weißbuch 2016 und Deutschlands schwieriges Verhältnis zur eigenen sicherheitspolitischen Strategie Christian Thiels1

Zusammenfassung

Deutschland tut sich schwer mit der konkreten Definition eigener nationaler Interessen. Die sicherheitspolitische Debatte findet nur in kleinen, oftmals elitären Zirkeln von Wissenschaftlern, Militärs und wenigen Fachpolitikern statt. Eine Einbindung der Gesamtgesellschaft gibt es kaum. Auch in den Massenmedien ist Sicherheitspolitik abseits von ereignisgetriebener Berichterstattung kaum präsent. Der Beitrag untersucht die Ursachen für dieses Phänomen und zeigt mögliche Wege auf, wie der notwendige Diskurs breiter aufgestellt werden könnte. Schlüsselbegriffe

Deutsche Sicherheitspolitik, Gesellschaft, Medien, Bundestag, Weißbuch, Partizipation

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Prolog: Das Sommerloch und die deutsche Bombe

Es gibt eine Zeit, die in den Medien nicht umsonst das „Sommerloch“ heißt. In den Monaten, in denen der Bundestag keine Sitzungen abhält, die Abgeordneten und Minister im Urlaub sind und das politische Berlin etwas zur Ruhe kommt, tauchen so regelmäßig wie das Seeungeheuer von Loch Ness aus eben jenem Sommerloch

1 Der Autor ist Verteidigungsexperte der Tagesschau. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Jacobi und G. Hellmann (Hrsg.), Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Edition ZfAS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6_12

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mehr oder minder abseitige oder ungewöhnliche Ideen auf. Meist werden sie vorgetragen von irgendwelchen eher überschaubar bedeutenden Hinterbänklern aus dem Bundestag aber zuweilen auch von durchaus kenntnisreichen Wissenschaftlern. Dass es also nur um persönliche Profilierung geht, wäre wohl zu kurz gegriffen. Man darf spekulieren, dass es manchen der handelnden Personen wichtig ist, eine Thematik offensiv in die Öffentlichkeit zu bringen von deren Bedeutung sie besonders überzeugt sind – wie übrigens auch von ihrer persönlichen Interpretation der Causa. Das Ganze findet aber meist unabhängig davon statt, wie realistisch eine Umsetzung ist. Im Sommer 2018 war eine dieser Ideen die nukleare Bewaffnung Deutschlands. Schon 2016 und 2017 hatten Wissenschaftler wie Maximillian Terhalle (Tagesspiegel 2017, 23 Jan.) und Publizisten wie Berthold Kohler (FAZ 2016, 27. Nov.) versucht, dieses Thema in der Öffentlichkeit zu platzieren – ohne nachhaltigen Erfolg (vgl. Tagesspiegel 2017, 20. Juli). Nun also erlebte es eine Art Renaissance: Ein paar Artikel, einige Aufsätze und eine Handvoll Wissenschaftler und Publizisten, die sich ungefragt zu diesem Thema zu Wort meldeten (Welt am Sonntag 2018, 29. Aug.). Und das, obwohl die völkerrechtliche Situation, die gesamtgesellschaftliche Stimmung und die politischen Mehrheiten die gesamte Causa sofort in das Reich der hypothetischen intellektuellen Fingerübung verbannte. Trotzdem beharrten diejenigen, die das Thema vorgebracht hatten darauf, dass nun eine Debatte in Deutschland stattfinde. Doch niemand von Gewicht oder Einfluss debattierte mit. Dieses Beispiel ist eines von vielen, die als Beleg dienen können, dass sicherheitspolitische Fragen in der Bundesrepublik (wenn überhaupt) häufig losgelöst von der Realpolitik und der Gesellschaft diskutiert werden. Der Kreis der Diskutanten lässt sich an wenigen Händen abzählen, es tauschen sich Menschen aus, die sich in den immer gleichen Zirkeln bewegen und eine Kommunikation mit der Gesamtgesellschaft ist eher die Ausnahme. Man kann den Protagonisten also durchaus eine gewisse Abgehobenheit unterstellen. Dabei sind Fragen wie „Wie definiert Deutschland seine Rolle in der Welt?“ oder „Welche Mittel ist die Bundesrepublik bereit einzusetzen, um eigene Interessen zu verfolgen?“ von nationaler Bedeutung. Es würde sich also nicht nur lohnen, sie breit zu diskutieren, es ist zwingend erforderlich.

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Deutschlands struktureller Pazifismus. Das Ende des Preußentums

„Von deutschem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen“, hat Willy Brandt vielfach gesagt (Rau 1995). Ein Satz, in dem sich für einen Teil der politisch bewussten Nachkriegsgeneration eine generell pazifistische Grundhaltung konzentrierte und

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der seinen verfassungsrechtlichen Niederschlag in Artikel 26 des Grundgesetzes mit dem Verbot des Angriffskrieges findet. Die deutsche Zurückhaltung beim Einsatz militärischer Mittel zur Erreichung politischer Ziele ist seit 1945 Kernbestandteil der Überzeugungen großer Teile der politischen Klasse und hat nach wie vor weitreichende Strahlkraft in Kreise von Intellektuellen, Publizistik, Kultur und Wissenschaft. Ein Grund dafür mag auch in den Bemühungen der Siegermächte zu finden sein, den Deutschen mit einer gründlichen Denazifizierung den Militarismus auszutreiben. Angesichts der Gräuel der Nazi-Diktatur und des Leidens im Zweiten Weltkrieg bemühten sich die Alliierten nach 1945 jedenfalls sehr um eine effiziente Umerziehung der Deutschen. Im Westen hatten Franzosen, Briten und Amerikaner das Ziel, aus den ewigen Preußen aufrechte Demokraten zu machen (Walter 1996). Und das augenscheinlich mit einigem Erfolg. Denn seitdem begreift sich Deutschland – trotz Wiederbewaffnung, NATO-Mitgliedschaft, Kaltem Krieg und Auslandseinsätzen – vornehmlich als „Zivilmacht“ oder „Friedensmacht“ und setzt auf eine Kultur der militärischen Zurückhaltung, die die Streitkräfte (falls überhaupt) nur als Ultima Ratio betrachtet und sich mit der Definition nationaler Interessen schwertut. Die Studentenbewegung der 68er mit ihrer kritischen Haltung zu autoritären Strukturen und der Ablehnung von Hierarchien wirkte hier sicherlich noch einmal zusätzlich als politischer Katalysator dieser Haltung in die Gesellschaft hinein. Der frühere deutsche NATO-General Hans-Lothar Domröse hat die sicherheitspolitische Zögerlichkeit Deutschlands einmal als die „Nachwehen des Nazi-Regimes“ bezeichnet.2 Auch der langjährige Verteidigungsminister Franz-Josef Jung sieht das ähnlich: „Mein Gefühl war immer, dass in unserer Bevölkerung eine große Empathie für pazifistische Ideen vorhanden ist. Und zwar sind das offensichtlich noch die gesamten Nachwirkungen auch der Weltkriegssituation.“3 Dieser „strukturelle Pazifismus“, den Joseph Verbovszky den Deutschen attestiert (Verbovszky 2018), macht offene Debatten über sicherheitspolitische Fragestellung aber zuweilen deutlich schwerer. Ein Beispiel dafür ist etwa die stark ideologisch geprägte Diskussion um bewaffnungsfähige Drohnen. Sie wird kaum mit Blick auf konkrete juristische oder technisch-militärische Fragestellungen geführt, sondern vornehmlich durch die moralphilosophische Brille betrachtet (vgl. Die Zeit 2018, 14 Aug). Selbstverständlich sind auch solche Argumente in der Debatte wichtig und legitim, doch sobald sie einen moralischen Absolutheitsanspruch erheben, der die Auseinandersetzung mit anderen, vermeintlich moralisch weniger lauteren, Argumenten ausbremst, wird der notwendige Dialog zur Einbahnstraße verengt, die nur noch das durchlässt, was als politisch korrekt empfunden wird. In vielen 2 Persönliches Gespräch mit dem Autor. 3 Persönliches Gespräch mit dem Autor.

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Debatten herrscht schon jetzt ein bemerkenswerter Rigorismus vor, der sich nur selten um Fakten schert oder um sachliche Abwägung bemüht. Getragen wird diese pazifistische und zuweilen kompromisslos vorgetragene Haltung in erster Linie von Teilen des politisch-intellektuellen Establishments, das von einer gewissen Skepsis gegenüber allem Militärischen geprägt ist. Wenn die öffentlichen Wortführer und Multiplikatoren aber eben vor allem diese Haltung verbalisieren, bleibt dies nicht ohne Folgen auf das gesamtgesellschaftliche Klima. Im Vergleich zu anderen Nationen herrscht in der Mehrheitsgesellschaft mindestens eine gewisse Indifferenz gegenüber der Bundeswehr und ihren Soldatinnen und Soldaten. Man räumt zwar die Notwendigkeit von Streitkräften ein, zeigt aber nur vergleichsweise wenig Empathie für die Truppe (Welt 2013, 16. Juni). Der frühere Bundespräsident Horst Köhler brachte es mit dem Diktum vom „freundlichen Desinteresse“ auf eine pointiere Formel (Köhler 2005, S.6), Soldaten der Bundeswehr, wie Marcel Bohnert, fühlen sich gar zuweilen als „Stiefkind der Nation“ (Deutschlandfunk 2018, 03. März). Dabei steht eine Mehrheit in der Bevölkerung einer aktiveren Rolle Deutschlands in der Außenpolitik einschließlich militärischer Mittel durchaus aufgeschlossen gegenüber, wie die jährlichen Bevölkerungsbefragungen des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr nahelegen (Steinbrecher 2017, S.66). Doch die Durchsetzung von politischen Zielen mit militärischer Gewalt ist im politischen Diskurs der Bundesrepublik nach wie vor tabuisiert, wobei einzelnen Ausnahmen – wie militärische Interventionen zur Verhinderung eines drohenden Völkermordes – durchaus hingenommen werden. Eine Rolle für die Akzeptanz solcher Interventionen spielt auch die direkte Betroffenheit Deutschlands. Anders formuliert: Der Völkermord vor der Haustür ist möglicherweise eher dazu geneigt, ein militärisches Eingreifen als politisch opportun erscheinen zu lassen als vergleichbare Verbrechen am anderen Ende der Welt. Problematisch ist dabei, dass Deutschland keine klare Linie erkennen lässt, wann und wo es sich global engagieren will.

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Land ohne Eigenschaften. Deutschlands Rolle in der Welt

In der Präambel des Grundgesetzes kann man das sicherheitspolitische Glaubensbekenntnis Deutschlands nachlesen. Dort heißt es, das deutsche Volk sei von dem Willen beseelt, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen.“ Ein Satz, dem nach menschlichem Ermessen niemand ernsthaft wiedersprechen würde.

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Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Wiedervereinigung verstanden viele Verbündete darunter aber auch, dass das Land, das sie jahrzehntelang mit ihren eigenen Soldaten beschützt hatten, nun seinerseits mehr Verantwortung in der Welt übernehmen sollte. Und tatsächlich bekennt sich Deutschland seit einigen Jahren zu dieser Art Verantwortung. In ihren Reden unterstrichen Bundespräsident Joachim Gauck (Gauck 2014), Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (2014) bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 ausdrücklich Deutschlands Bereitschaft, Weltpolitik nicht mehr „nur von der Außenlinie zu kommentieren“ (Steinmeier 2014). Doch die konkrete Umsetzung blieb für viele Beobachter im Ungefähren. Deutschland engagiert sich zwar seit Jahren an vielen Stellen des Globus, aber eine auf konkreten (und für andere berechenbaren) Interessen orientierte Strategie ist kaum erkennbar. General a. D. Hans-Lothar Domröse erinnert sich an Gespräche mit französischen und amerikanischen Militärs, die stets eingefordert hätten, dass sich Deutschland eindeutig zu eigenen Interessen bekennen solle. Deutschland sei zu bescheiden in der Formulierung nationaler Interessen, so die alliierte Kritik in Domröses Erinnerung (Domröse). Und tatsächlich tut sich Deutschland erkennbar schwer, jenseits der Formel von der „wertebasierten Außenpolitik“ (Gauck 2014) klar zu benennen, welche konkreten Interessen die Bundesrepublik in der Welt verfolgt. Die Aufregung über die an sich banalen Äußerungen des damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler zu eben jener Frage (Deutschlandradio 2010, 22. Juni) illustrieren diese selbstauferlegte Zurückhaltung. Der SPD-Abgeordnete und Sicherheitspolitiker Thomas Hitschler4 formuliert das so: „Wenn man mit Franzosen spricht und fragt: Was sind denn die Interessen des Landes Frankreich, dann rollen die eine Landkarte aus und zeigen das relativ genau. Wenn die umgekehrt bei uns fragen: Was sind denn die Interessen von Deutschland? Dann sind wir nicht in der Lage darauf dezidiert zu antworten. Auch das macht ein Land außenpolitisch transparent und es ist deshalb wichtig und notwendig, dass wir in diese Debatte einsteigen.“ Doch (etwa regional) definierte Interessenssphären benennt Deutschland seit Jahren nur sehr wolkig. Mal ist von Afrika die Rede, mal vom Balkan. Aber selbst in offiziellen Dokumenten des Auswärtigen Amtes oder des Bundesministeriums der Verteidigung wird meist nur sehr allgemein von deutschen Interessen, von Weltfrieden und Stabilität und freien Handelswegen etwa, geschrieben. Doch schon letzteres – für eine Exportnation wohl keine überraschende Priorität – wird im politischen Diskurs in Frage gestellt. So formulierte Jürgen Trittin von der Fraktion Bündnis90/Die Grünen bei der Aussprache zur Regierungserklärung zur Neuausrichtung der Bundeswehr am 27.Mai 2011: „Internationale Verantwor4 Im Gespräch mit dem Autor.

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tung bedeutet nicht, wie einige glauben, dass man sich unilateral um die Sicherung von Rohstoffquellen kümmert; so habe ich das nicht verstanden. Internationale Verantwortung heißt, dass wir uns an den Gefahren für die Sicherheit, die sich auf der Welt ergeben, orientieren.“ (Deutscher Bundestag 2011, S. 12825)Und diese Gefahren können augenscheinlich überall auftauchen und müssten dann auch folgerichtig überall bekämpft werden. Trittin in der gleichen Debatte weiter: „Deutschland muss seiner internationalen Verantwortung gerecht werden. Das zielt insbesondere auf die Sicherung und die Herstellung der Herrschaft des Rechts. Wir dürfen keine rechtsfreien Räume auf diesem Globus dulden. Das heißt für uns: Ausbildung, Ausrichtung und Ausrüstung der Bundeswehr müssen sich klar an dieser Priorität orientieren.“(Ebd.)Zugespitzt könnte man also davon sprechen, dass die Bundeswehr in den Augen von Trittin zwar nicht zur Verteidigung von Rohstoff- und Absatzmärkten oder Handelswegen eingesetzt werden, wohl aber bei Menschenrechtsverletzung eine Art Welthilfspolizist sein sollte und prinzipiell überall dort zu Einsatz kommen könnte, wo eben jene Herrschaft des Rechtes bedroht ist. Das militärische Engagement der Bundesrepublik kann demnach beliebig an jeglicher Stelle des Globus stattfinden, ohne dass es dazu einer Strategie oder klar definierten, weitergehenden Interessen bedarf. Auch wenn eine solche moralbellizistische Orientierung von Außenpolitik sicherlich unrealistisch ist, das globale deutsche Engagement wirkt im Ganzen eher ereignisgetrieben. Eine konsistente außen- und sicherheitspolitische Strategie als Basis ist in der Praxis und abseits von wohlfeiler politischer Prosa in Resolutionen, Weißbüchern und Bundestagsreden kaum erkennbar. Ein Beispiel dafür ist auch die Verstärkung des deutschen Engagements in Mali. Die Bundesregierung hatte diese im November 2015 offiziell mit den Anschlägen in Frankreich begründet (Bundesregierung 2015). Dabei hatte der Verteidigungsausschuss des Bundestages die Aufstockung deutscher Truppen in dem afrikanischen Land schon Monate vorher debattiert, weil die Niederlande um Entlastung gebeten hatten. Einen zwingenden sachlichen Zusammenhang zwischen Terroranschlag und erweiterter militärischer Präsenz in Mali gab es abseits eines politischen Signals der Solidarität mit dem Verbündeten Frankreich demnach nicht (Spiegel Online 2015, 17. Nov.). Inzwischen wird der Einsatz in Mali sicherheitspolitisch mit der Bekämpfung von Terrorismus und illegaler Migration (Bundesregierung 2018)5 begründet. 5 Bundesregierung 2018: „Die Stabilisierung Malis ist ein Schwerpunkt des deutschen Engagements in der Sahel-Region und ein wichtiges Ziel der Afrikapolitik der Bundesregierung. Als Kernland der Sahelzone spielt Mali eine Schlüsselrolle für Stabilität und Entwicklung der gesamten Sahel-Region – dies nicht zuletzt aufgrund des grenzüberschreitenden Charakters von Herausforderungen wie Terrorismus, organisierte Kriminalität, irreguläre Migration und Schleusertätigkeiten“.

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Doch warum es für Deutschland ausgerechnet in Mali und nicht auch andernorts von besonderer Bedeutung ist, diese beiden Probleme anzugehen, bleibt unklar. Die Verweigerung, sich etwa beim Kampf gegen den libyschen Diktator Gaddafi zu engagieren oder sich bei der Bekämpfung der Terrormiliz des sogenannten Islamischen Staates nur mit Logistik, Aufklärung und Ausbildung, nicht aber mit Luftangriffen zu beteiligen, zeigt die mangelnde Konsistenz der deutschen sicherheitspolitischen Strategie.

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Zwischen Indifferenz und Ignoranz. Sicherheitspolitik in Medien, Politik und Wissenschaft

Wenn man nun Deutschland eine gewisse Sprachlosigkeit in Sachen sicherheitspolitischer Strategie attestiert, dann stellt sich zwangsläufig die Frage, wer dafür verantwortlich ist, dass Fragen von offensichtlich existenzieller Bedeutung für die Bundesrepublik nicht intensiver und unter Einbeziehung der Gesamtgesellschaft diskutiert werden. Das Problem ist dabei nicht nur der womöglich schwache Resonanzboden, auf den eine solche Debatte fallen könnte, sondern auch die Schmallippigkeit der Akteure. Das betrifft etwa die handelnden Politiker. „Die Kultur – was die Debatte anbelangt – ist definitiv mangelhaft und es ist auch kein elementares Thema für Politik als Ganzes“, beklagt etwa André Wüstner, Vorsitzender des Deutschen Bundeswehrverbandes (Wüstner). Sicherheitspolitik ist für Abgeordnete des Bundestages kein „Gewinnerthema“, die Zahl profilierter Sicherheitspolitiker ist entsprechend überschaubar. Auch außerhalb der Politik ist die Fachkompetenz in Fragen der Sicherheitspolitik eher Mangelware. Der frühere Verteidigungsminister Thomas de Maizière beklagte schon im August 2011, dass die sicherheitspolitische Community für ein Land von der Größe Deutschlands zu klein sei, dass es zu wenig Think-Tanks gebe und auch der Beitrag der Universitäten zur Debatte bescheiden sei. Für de Maizière blieb das nicht folgenlos: „Die sicherheitspolitische Debatte zwischen diesen zu wenigen Akteuren ist zu introvertiert.“ (De Maizière 2011) Der damalige Verteidigungsminister vermisste den Dialog der Community mit der Bevölkerung, denn der sei nicht nur eine Bringschuld der Politik: „Die Sicherheitspolitische Community ihrerseits muss so sprechen, dass es in einer Bevölkerung, die davon nichts oder wenig versteht oder verstehen will, ankommt, verstanden wird, aufrüttelt, interessiert, neugierig macht. Davon sehe ich auch zu wenig.“ (Ebd.)

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Nun könnte es auch Aufgabe von Medien in einer pluralistischen Demokratie sein, für sicherheitspolitische Zusammenhänge zu sensibilisieren – zumal die politische Entscheidung etwa über Auslandseinsätze in Krisengebieten fast zwangsläufig auch immer einer Entscheidung über Leben und Tod von deutschen Soldaten und somit gleichkommen und somit eine entsprechende Gravität aufweisen. Doch die Affinität der großen Mehrheit der Journalisten zu diesem Themenbereich ist abseits von Beschaffungsproblemen und vermeintlichen und echte Skandalen beim Verhalten einzelner Soldaten vergleichsweise gering ausgeprägt. De Maiziere bei der BAKS: „Wir haben auch im Journalismus zu wenige und von den wenigen die da sind, sind es auch ehrlich gesagt, viele ältere.“ (Ebd.) Die geringe Zahl kundiger Berichterstatter und die sehr überschaubare Menge an entsprechend seriösen deutschsprachigen Publikationen könnten auch mit der Parteienpräferenz von Medienschaffenden und ihrer damit verbundenen Werteorientierung zu tun haben. In Umfragen gibt zwar ein gutes Drittel der Journalisten in Deutschland an, keine Parteipräferenz zu haben, aber bei den verbleibenden zwei Dritteln ist ein im Vergleich zu den Wahlergebnissen in Deutschland erheblich überproportional hoher Anteil pazifistisch orientierten Parteien wie den Grünen zugeneigt (Lünenbourg et al 2010, S.13). In der Folge findet eine vertiefte und vorurteilslose Berichterstattung zur Sicherheitspolitik nur selten statt. Der Kreis wirklich intensiv und bereits über einen längeren Zeitraum in diesem Themenbereich tätigen Journalistinnen und Journalisten ist etwa in der Bundeshauptstadt an zwei Händen abzuzählen. Die Streitkräfte sind nach wie vor eine Art „Igitt“-Thema in vielen Redaktionen. Wer sich mit der Bundeswehr, ihrer Bewaffnung und ihren Einsätzen auskennt und sich dafür interessiert, gilt im Kollegenkreis mindestens als skurril, oft auch als suspekt. Obwohl es zur journalistischen Professionalität gehört, dass man sich intensiv mit einem Thema auseinandersetzen muss, um eine fundierte Analysefähigkeit und in der Folge auch belastbare Berichterstattung zu erreichen. Auch die Bundeswehr selbst gibt in ihrer Außenkommunikation ein zuweilen wenig transparentes Bild ab. „Es gibt sicherlich Presseoffiziere, die ihre Rolle als Presseabwehroffiziere wahrnehmen“ (Thiels 2016), beschreibt Blogger Thomas Wiegold das immer wieder angespannte Verhältnis von Militär und Medien. Und Matthias Gebauer, Chefreporter bei Spiegel-Online resümiert, die Streitkräfte versuchten häufig den Zugang zu Informationen und auch zu Personen und Entscheidungsträgern einzuschränken: „Ich will nicht sagen, es wird zensiert, aber es wird so stark kontrolliert, dass es schon einer Zensur nahe kommt.“ (Ebd.)

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Von Verantwortung und Desinteresse. Das Weißbuch 2016

Bei der Erarbeitung des Weißbuches zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr 2016 kam allein der Prozess selbst schon einer kleinen Revolution gleich. Statt weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit in den Hinterzimmern und Amtsstuben im Berliner Bendlerblock an der ersten Neuauflage des wichtigsten sicherheitspolitischen Dokumentes Deutschlands seit zehn Jahren zu basteln, sollte der Prozess „inklusiv“ und transparent gestaltet werden (BMVG 2015). Tatsächlich fand erstmals eine ganze Reihe von Workshops mit externen Fachleuten statt. Eine offene Debatte sollte angestoßen werden. „Wir möchten viele verschiedene Meinungen hören“, sagte Verteidigungsministerin von der Leyen beim Auftakt der fast ein Jahr andauernden Veranstaltungsreihe am 17.02.2015. Neben den Workshops konnten die Bürger ihre Sicht der Dinge im Internet beitragen. Dieser umfassende und bis dahin beispiellose Ansatz findet auch beim früheren Verteidigungsminister Franz-Josef Jung Beifall: „Mit dem Weißbuch wurde versucht, ein Stück auch dort mehr in die öffentliche Kommunikation hineinzutragen. Ich halte es beispielsweise für richtig, dass wir das auch mehr noch in den einzelnen Bereichen auch regional diskutieren, dass wir uns wirklich auch damit beschäftigen, mit der Frage: wie ist die Sicherheitsstrategie unseres Landes“ (Jung), so Jung, der 2006 ein eigenes Weißbuch zur Sicherheitspolitik vorgelegt hatte. Im Gegensatz zu ihrem Amtsvorgänger stellte Ministerin von der Leyen ihr Grundsatzdokument aber nicht im Bundestag zur Debatte. Zwar wurden einzelne Abgeordnete zu den Workshops eigeladen, aber eine offizielle Einbindung der zuständigen Ausschüsse für Verteidigung, Äußeres und Entwicklung unterblieb. Auch der direkte Dialog mit den Bürgern wurde nicht gesucht. Die Anregungen von Menschen, die sich im Internet in den Diskussionsprozess einbrachten, fanden nach Auskunft der am Weißbuch beteiligten Autoren keinen messbaren Eingang in das Papier. Die Vorstellung des fertigen Weißbuches 2016 fand am 13.Juli 2016 statt – gleich zu Beginn der parlamentarischen Sommerpause. Diese Terminwahl und der Verzicht auf eine Befassung im Plenum könnte zur vergleichsweise überschaubaren Rezeption des Dokumentes in reichweitenstarken Massenmedien beigetragen haben. Zwar wurde das Weißbuch in einigen Artikeln in renommierten Tageszeitungen (mit überschaubarer Auflage) gewürdigt, auch in Fernsehen, Radio und Netz gab es Beiträge, doch im Ganzen entstand keine vertiefte Debatte um die Inhalte. Neben der grundsätzlichen und schon beschriebenen medialen Zurückhaltung bei komplexen Sachverhalten der Sicherheitspolitik, war ein Grund dafür wohl auch die urlaubsbedingte Abwesenheit von prominenten Politikern und Experten, die das Papier gegebenenfalls hätten kritisch analysieren können. Ein Grundsatz

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journalistischer Berichterstattung ist, dass die Prominenz einer Stimme sich auch in der Breite der medialen Wahrnehmung abbildet. Hier ist eine Chance vertan worden – von Medien wie Politik. Dabei gab und gibt es wesentliche Weichenstellung im Weißbuch, die eine vertiefte Debatte verdient hätten. Etwa die quasi zum Normalfall erhobene Option, sicherheitspolitische Herausforderungen auch abseits der Vereinten Nationen in Ad-Hoc-Koalitionen zu adressieren. Oder die Akzentuierung der Rüstungsexportpolitik mit Blick auf die Ertüchtigungsstrategie der Bundeskanzlerin. Von Angela Merkel hätte man sich ohnehin nicht erst im Zusammenhang mit dem Weißbuch eine Regierungserklärung zur Sicherheitspolitik gewünscht. Unterm Strich blieb die Diskussion um das Weißbuch und seine Inhalte im de Maizière’schen Sinne introvertiert, man könnte sogar sagen elitär. Darüber kann auch nicht die vergleichsweise lebendige Debatte in der Wissenschaft und den üblichen sicherheitspolitischen Zirkeln hinwegtäuschen. Eine dynamische Diskussion zwischen Experten – sozusagen innerhalb der sicherheitspolitischen Bubble – ist eben nicht identisch mit einer öffentlichen Debatte. Die Gesamtgesellschaft erreichte das Weißbuch nicht – trotz der bemerkenswerten Bemühungen des Verteidigungsministeriums um einen inklusiven Prozess.

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Krieg und Frieden – Versuch eines Fazits. Wie die sicherheitspolitische Debatte die Gesellschaft erreichen kann

Die Wahrnehmung sicherheitspolitischer Fragestellung ist in der Bundesrepublik trotz ihrer enormen Bedeutung nach wie vor unterbelichtet. So werden etwa die Herausforderungen der Zuwanderung vornehmlich unter innenpolitischen Gesichtspunkten betrachtet. Dabei entstehen Migrationsbewegungen in vielen Fällen durch sicherheitspolitische Ursachen, wie Kriege und Konflikte. Die öffentliche Debatte um eine wirksame Bekämpfung von Fluchtursachen ist aber deutlich weniger intensiv als die politische Diskussion um Fragen der Grenzsicherung, der Integration oder der Begrenzung von Zuwanderung. Eine ganzheitliche Betrachtung der Fragestellungen findet in deutlich zu geringem Umfang statt. Auch die Diskussion um die finanzielle Ausstattung der Bundeswehr wird nur marginal mit sicherheitspolitischen Argumenten geführt. Der Pauschalvorwurf einer verwerflichen „Aufrüstungsspirale“ (Nahles 2018) erschwert eine sachliche Abwägung von politisch gewollten globalen Ambitionen, Interessen, Auftragsspektrum, notwendigen Strukturen und entsprechender finanzieller Unterfütterung. Wie erläutert liegt das

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an Desinteresse, elitärem Selbstverständnis oder Grundskepsis vieler Akteure in Politik, Medien und Wissenschaft. Erschwerend kommt die traditionell eher pazifistisch ausgeprägte Grundhaltung von maßgeblichen Teilen des politischen und gesellschaftlichen Establishments hinzu. Dabei ist natürlich nicht der Pazifismus an sich problematisch (diese Haltung ist genauso valide und gewichtig im Diskurs wie jede andere), sondern die Verengung auf eine Perspektive allein, die andere zu wägenden Argumente als illegitim, weil moralisch verwerflich ausblendet. Deutschlands Bedeutung – wenigstens in Europa, vielleicht auch in der Welt – erfordert indes eine offene und ehrliche gesamtgesellschaftliche Debatte über die sicherheitspolitische Orientierung und Positionierung der Bundesrepublik. Beides wird von den Alliierten mit Recht eingefordert. Es wäre auch ein Zeichen von sicherheitspolitischer Transparenz und Berechenbarkeit, wenn Deutschland sich in diesem Punkt ehrlich machte. Will Deutschland sich auf der Welt auch militärisch für seine Werte und Interessen, für Demokratie und Freiheit einsetzen oder sich beim Einsatz von Gewalt als Mittel der Außenpolitik im Sinne der „Friedensmacht“ enge Grenzen auferlegen? Für beides gibt es gute und wichtige Argumente, die abgewogen und debattiert werden müssen. Im Ergebnis aber ist ein gesamtgesellschaftlicher Konsens zwingend für die Positionierung der Bundesrepublik erforderlich. Es ist nicht ausreichend, wenn sich elitäre Zirkel an niveauvollen und gescheiten Elaboraten zum Thema berauschen und den akademischen und zuweilen eitlen Wettstreit um die beste These mit einer lebendigen gesamtgesellschaftlichen Debatte existenzieller Fragen verwechseln. Alle Akteure sind gefordert, den Austausch mit der Bevölkerung zu suchen und zu befördern. Die Politik sollte dabei keine Angst vor den Menschen in unserem Land haben. Im Gegenteil: Die offene Auseinandersetzung kann in der pluralistischen Demokratie zu einer breiten Unterstützung des gefundenen politischen Kompromisses führen. Der Weißbuchprozess 2016 wäre dafür eine hervorragende Gelegenheit gewesen. Die konkreten Mittel und Methoden gibt es bereits. Viele Parteien veranstalten etwa sogenannte „Townhall-Formate“, in denen sie mit der eigenen Parteibasis oder den Bürgern wesentliche Fragen diskutieren. Auch die Bundekanzlerin beteiligt sich an derartigen Veranstaltungen. So oder so ähnlich hätte man dies auch im Weißbuchprozess anlegen können. Wäre man dann noch das Wagnis eingegangen, auch die Opposition einzubinden, um im Sinne des Wettstreites der Ideen eine möglichst breite Diskussionsbasis zu erreichen, hätte das Weißbuch eine deutlich stärkere Wahrnehmbarkeit in der Gesellschaft erreicht – und damit auch die Diskussion um die sicherheitspolitische Positionierung Deutschlands zu den Menschen getragen. In diesem Zusammenhang wäre womöglich auch die mediale Wahrnehmung größer geworden. Die Kernfragen nach Krieg und Frieden, nach Intervention oder Isolationismus und letztlich nach dem Selbstverständnis einer

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Nation sind zu bedeutend, um sie nur mit Seinesgleichen unter der persönlichen Peergroup-Käseglocke zu führen, sie im wolkigen Ungefähren zu belassen oder sie gar zu ignorieren.

Literatur Bohnert, Marcel 2018. Wir sind das Stiefkind der Nation. Deutschlandfunk 03.03.2018 https://www.deutschlandfunkkultur.de/major-marcel-bohnert-ueber-das-image-derbundeswehr-wir.990.de.html?dram:article_id=411802 . Zugegriffen: 05. September 2018. BMVG 2015. Zusammenfassung zum Weißbuch-Prozess auf der Webseite des BMVG https:// www.bmvg.de/de/themen/weissbuch/perspektiven . Zugegriffen: 05. September 2018. Bundesregierung 2015. Nach den Anschlägen in Paris. Deutsche Unterstützung für Frankreich. Bundesregierung https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2015/11/2015-11-20-unterstuetzung-fuer-frankreich.html . Zugegriffen: 05. September 2018. Bundesregierung 2018. Antrag der Bundesregierung. Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Militärmission der Europäischen Union als Beitrag zur Ausbildung der malischen Streitkräfte (EUTM Mali). Drucksache 19/1597. Deutscher Bundestag 11.04.2018 http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/015/1901597.pdf De Maizière, Thomas 2011. De Maiziére und die Lücken in der Sicherheitspolitik. Augen geradeaus.net http://augengeradeaus.net/2011/08/de-maiziere-und-die-lucken-in-der-sicherheitspolitik/ . Zugegriffen: 05. September 2018. Deutscher Bundestag 2011. Stenographischer Bericht vom 27.Mai 2011. Deutscher Bundestag http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17112.pdf . Zugegriffen: 05. September 2018. Domröse, Hans-Lothar: im Gespräch mit dem Autor Exner, Ulrich 2013. Deutschlands ungeliebte Armee. Welt 16.06.2013 https://www.welt.de/ politik/ausland/article117156165/Die-Bundeswehr-Deutschlands-ungeliebte-Armee. html . Zugegriffen: 05. September 2018. Franke, Ulrike 2018. Killerroboter? Es geht auch anders. Die Zeit 14.08.2018 https://www.zeit. de/politik/ausland/2018-04/kampfdrohnen-luftwaffe-spd-union-debatte . Zugegriffen: 05. September 2018. Gauck, Joachim 2014. Eröffnung der 50. Münchener Sicherheitskonferenz. Deutschlands Rolle in der Welt: Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnissen. Bundespräsident.de http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/ Reden/2014/01/140131-Muenchner-Sicherheitskonferenz.html . Zugegriffen: 05. September 2018. Hacke, Christian 2018. Eine Nukearmacht Deutschland stärkt die Sicherheit des Westens. Welt 29.07.2018 https://www.welt.de/politik/deutschland/plus180136274/Eine-Nuklearmacht-Deutschland-staerkt-die-Sicherheit-des-Westens.html . Zugegriffen: 05. September 2018.

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Kohler, Berthold 2016. Das ganz und gar Undenkbare. FAZ 27.11.2017 https://causa.tagesspiegel.de/politik/europa-und-die-weltweiten-krisen/deutschland-braucht-atomwaffen. html . Zugegriffen: 05. September 2018. Köhler, Horst 2010. Mehr Respekt für deutsche Soldaten in Afghanistan. Bundespräsident fordert Diskurs in der Gesellschaft. Deutschlandradio Kultur https://www.deutschlandfunkkultur.de/koehler-mehr-respekt-fuer-deutsche-soldaten-in-afghanistan.1008. de.html?dram:article_id=163260 . Zugegriffen: 05. September 2018. Köhler, Horst. 2005. „Einsatz für Freiheit und Sicherheit“ Rede bei der Kommandeurtagung der Bundeswehr am 10. Oktober 2005 Bundespräsident.de. http://www.bundespraesident. de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2005/10/20051010_Rede_Anlage. pdf;jsessionid=E1A98C4A7482A042A1AE49818C257665.2_cid378?__blob=publicationFile&v=2 . Zugegriffen: 05. September 2018. Lünenborg, Magreth und Berghofer, Simon 2010. POLITIKJOURNALISTINNEN UND -JOURNALISTEN – Aktuelle Befunde zu Merkmalen und Einstellungen vor dem Hintergrund ökonomischer und technologischer Wandlungsprozesse im deutschen Journalismus. Eine Studie im Auftrag des Deutschen Fachjournalisten-Verbandes (DFJV) und der Gesellschaft für Fachjournalistik. DFJV https://www.dfjv.de/documents/10180/178294/DFJV_Studie_Politikjournalistinnen_und_Journalisten.pdf . Zugegriffen: 05. September 2018. Nahles, Andrea 2018. Auf gutem Weg, aber lange nicht am Ziel. ARD-Sommerinterview. Tagesschau 03.06.2018 https://www.tagesschau.de/inland/sommerinterview-nahles-101. html . Zugegriffen: 05. September 2018. Pauly, Walter. 1996. Die Entnazifizierung – Leitidee und Praxis. In Zwischen Kontinuität und Fremdbestimmung – Zum Einfluss der Besatzungsmächte auf die deutsche und japanische Rechtsordnung, Hrsg. B. Diestelkamp, Z. Kitagawa, J. Keiner, J. Murakami, K.W. Nörr und N. Toshitani xx-xx. Tübingen: Mohr Siebeck. Rau, Johannes 1995. Rede zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Deutscher Bundestag 28.04.1995 https://www. bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/bartoszewski/rede_bartoszewski/245134. Zugegriffen: 05. September 2018. Sauberbrey, Anna 2017. Deutschland will die Bombe…wir wissen das nur noch nicht. Warum Denkfabiken über deutsche Atomwaffen diskutieren. Tagesspiegel 20.06.2017 https://www. tagesspiegel.de/politik/atomare-aufruestung-deutschland-will-die-bombe-/20000364. html . Zugegriffen: 05. September 2018. SpiegelOnline 2015. Bundeswehr soll Frankreich in Mali entlasten. SpiegelOnline 17.11.2015 http://www.spiegel.de/politik/ausland/terror-anschlaege-bundeswehr-soll-franzosen-in-mali-entlasten-a-1063248.html . Zugegriffen: 05. September 2018. Steinbrecher, Markus, Biehl, Heiko und Rothbart, Chariklia 2017. Sicherheits- und verteidigungspolitisches Meinungsbild in der Bundesrepublik Deutschland. Erste Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung 2017. Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr http://www.mgfa-potsdam.de/html/einsatzunterstuetzung/downloads/ 171220kurzberichtbevoelkerungsumfragezmsbw2017aktualisiertneu.pdf . Zugegriffen: 05. September 2018. Steinmeier, Frank-Walter 2014. Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier anlässlich der 50. Münchner Sicherheitskonferenz. Auswärtiges Amt https://www.auswaertiges-amt. de/de/newsroom/140201-bm-muesiko/259554 . Zugegriffen: 05. September 2018.

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Terhalle, Maximillian 2017. Deutschland braucht Atomwaffen. Tagesspiegel 23.01.2017 https://causa.tagesspiegel.de/politik/europa-und-die-weltweiten-krisen/deutschland-braucht-atomwaffen.html . Zugegriffen: 05.September 2018. Thiels, Christian. 2016. Der Krieg und die Wahrheit – Die Rolle medialer Berichterstattung bei künftigen Einsatzszenarien. In Schützen, Retten, Kämpfen – Dienen für Deutschland, Hrsg. Freundeskreis Zentrum Innere Führung e. V. xx-xx. Stadt: Verlag. Verbovszky, Joseph 2018. Culture of Restraint or Structural Pacifism: German Security Policy & NATO. Atlantic Community 16.07.2018 http://atlantic-initiative.org/culture-of-restraint-or-structural-pacifism-germanys-security-policy-and-nato/ . Zugegriffen: 05. September 2018. Von der Leyen, Ursula 2014. Rede der Bundesministerin der Verteidigung Dr. Ursula von der Leyen anlässlich der 50. Münchner Sicherheitskonferenz. MSC https://www.securityconference.de/fileadmin/MSC_/2014/Reden/2014-01-31_Rede_BMin_von_der_Leyen_MSC_2014.pdf . Zugegriffen: 05. September 2018. Wüstner, André: Im Gespräch mit dem Autor.

„Einbinden“ und „Mitnehmen“ reicht nicht aus Öffentlichkeit als strategisches Problem der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik Klaus Naumann1

Zusammenfassung

In den zeitgenössischen Krisen und Konflikten erweisen sich die „hearts&minds“ der Öffentlichkeit als strategische Herausforderung der Außen- und Sicherheitspolitik. Hier sind allerdings große Defizite zu verzeichnen. Die Desiderata lassen sich auf drei Ebenen beschreiben: Legitimationsschwächen, Komplexitätszumutungen und Vulnerabilitäten. Schlüsselbegriffe

Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, Öffentlichkeit, strategische Kommunikation, Vulnerabilität

Mit dem Weißbuch 2016 der Bundesregierung wurde das Problem der „Strategiefähigkeit“ erstmals und offensiv auf die Tagesordnung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik gesetzt (Bundesregierung 2016, S. 57, 135, 138). Im Mittelpunkt standen dabei die Instrumente der Strategieentwicklung, die Stärkung der Bereiche strategische Vorausschau, Steuerung und Evaluierung sowie die regelmäßige Aktualisierung strategischer Dokumente. Ob und inwieweit die dort angezeigten Maßnahmen effektiv greifen, wird sich noch zeigen müssen. Auffällig ist hingegen ein eklatanter Widerspruch in der Vorbereitung sowohl des Weißbuchs 2016 wie 1

Militärhistoriker, 1992–2017 Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung; 14. Beirat für Fragen der Inneren Führung, BMVg.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Jacobi und G. Hellmann (Hrsg.), Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Edition ZfAS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6_13

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in den parallelen Aktivitäten des Auswärtigem Amts, die im ReviewProzess2014, dem PeaceLab2016 und den daraus resultierenden Leitlinien der Bundesregierung „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ (September 2017) zum Ausdruck kamen. Während dabei großer Wert, gesteigerte Anstrengungen und imponierende Phantasie auf Inklusivität, Transparenz und Nachvollziehbarkeit der außen- und sicherheitspolitischen Um- und Neuorientierungen gelegt wurden, findet das Bemühen um eine kommunikative Öffnung in den vorliegenden Dachdokumenten nur geringen und vor allem keinen systematischen Widerhall. Offenbar handelt es sich um einen blinden Fleck im strategiepolitischen Mindset, der sich dabei freilich weder auf den State of the art der Strategiediskussion, noch auf die Maßgaben guten Regierens berufen sollte. Strategie wird gemeinhin als ein Interaktionshandeln verstanden, das ein ganzes „strategisches Kontinuum“ (Raschke und Tils 2007) übergreift – von der Entwicklung über die Durchsetzung und Steuerung bis in die Profilierung und Kommunikation von Strategieprozessen. Strategische Kommunikation geht über die Abstimmung unter Funktionsträgern, Behörden und Hierarchien hinaus; sie dient auch als Transfer von Botschaften und Leitideen, als Verbindung von Orientierung und Erklärung sowie als Narrativ oder „interpretative Struktur“ (Simpson 2012), die Bewertungen und Bedeutungen zwischen den Akteuren wie auch ins Publikum transportiert. Die Öffnung hin zum Problem der Öffentlichkeit folgt aus der Einsicht, dass Außen- und Sicherheitspolitik heute ohne Resonanz, Akzeptanz, Billigung und Legitimität nicht dauerhaft erfolgreich zu gestalten ist. Allgemeiner gesagt, Regierungshandeln heute braucht Lesbarkeit, Verantwortung und Responsivität (Rosanvallon 2015). Die drei „Feinde des strategischen Handelns“ (Raschke und Tils 2007, S. 152) können daher mit aller Bündigkeit benannt werden – sie lauten Selbstreferenz, Binnenorientierung und Umweltvergessenheit. Fügt man noch hinzu, dass Strategiebereitschaft der Politik nach empirisch gut begründeter Einsicht ohnehin „abgerungen“ (ebd., S. 123) werden muss und dass Probleme der Steuerung und Kommunikation immer sekundär bleiben, dann erhält man einen Eindruck, welchen Hürden auf dem Weg zur Strategiefähigkeit zu bewältigen sind. Um das Spektrum der Herausforderungen und damit das strategische Problem der Öffentlichkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik zu veranschaulichen, ist es sinnvoll, einen Blick in die Leitdokumente zu werfen: Welches Konzept von Öffentlichkeit lässt sich dabei erkennen?

„Einbinden“ und „Mitnehmen“ reicht nicht aus

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Das Öffentlichkeitskonzept der Leitdokumente

Das Weißbuch 2016 nimmt sich des Strategieproblems an, doch erfahren wir wenig über die erforderlichen Öffentlichkeitseffekte. Im Abschnitt „Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft“ (Bundesregierung 2016, S. 111f) ist diese Bezugnahme natürlich unvermeidlich, bleibt aber pauschal. Annonciert wird ein „sicherheitspolitischer Diskurs“, der sich aber ausdrücklich auf die „zentralen Akteuren“ (ebd., S. 112) beschränkt. Brisanter wird die Sache unter dem reichlich ins Weissbuch ausgestreuten Stichwort „Resilienz“, mit dem auf die neuen Risiken hybrider Konfliktlagen geantwortet wird. Dabei zeichnet sich eine in der Tat strategische Perspektive ab, die geeignet ist, das Gefüge von Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Medien und Infrastrukturen auf die Probe zu stellen: Die konstatierte gesellschaftliche Vulnerabilität (ebd., S. 48f.) lässt den Ruf nach Widerstands- und Adaptionsfähigkeit, nach einer integrierten Sicherheitsvorsorge laut werden, deren Instrumentarien und Implikationen jedoch weithin unklar sind. Angemahnt wird ein „Dialog über die Grenzen von Sicherheit“ und das „akzeptable Risikoniveau“ (ebd., S. 60), der umso dringender ist, wenn die hohe Verwundbarkeit der offenen Gesellschaft konstatiert und die „öffentliche Meinung“ als ein mögliches und wahrscheinliches „Angriffsziel“ (ebd.; vgl. S. 39, 37) externer Einflussnahmen identifiziert wird. Die daraus folgende „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ einer „nachhaltigen Resilienzbildung“ (ebd., S. 60; auch Bundeskanzlerin Merkel im Vorwort zum Weißbuch 2016, S. 7) ist freilich durch nichts gedeckt – außer durch den Umstand, dass die Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) mit der „Institutionalisierung“ eines „gesamtgesellschaftlichen Dialogs zu den Erfordernissen künftiger Sicherheitsvorsorge“ (ebd., S. 59) betraut worden ist2. Risikokommunikation, die auf diesen Konflikttypus zielt, wird sich jedoch nicht auf „zentrale Akteure“ (ebd., S. 112) beschränken wollen, sondern Experten und Laien, kurzum: die Bürgergesellschaft generell einbeziehen müssen. Was es aber bedeutet, Vulnerabilität und Resilienz – Phänomene, die gleichsam ein innerstaatliches Spiegelbild zum Fragilitätsproblem (Leitlinien, S. 21) bilden – zu einem gesamtgesellschaftlichen Thema zu machen, ist bisher nicht recht erkennbar. Die Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ (Bundesregierung 2017) spannen die Perspektiven hingegen weiter. Hier zeigen sich deutliche Spuren der Neubesinnung in der deutschen Außenpolitik, die mit dem ReviewProzess2014 eingesetzt hatte. Außenpolitik, so hieß es in dem bilanzierenden Bericht über die vielfältigen Diskussionen der Bestandsaufnahme, müsse den Weg in die Öffentlichkeit finden, die Instrumente sollen „geschärft“ 2

Dazu jetzt Lipicki 2015 über die sicherheitspolitische Diskursanstrengungen der BAKS.

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werden, das ressortübergreifende Zusammenwirken „über den Staat hinaus“ ist zu verbessern. Bedarf wurde angemeldet, „mehr Raum für strategische Reflexion“ zu schaffen und dafür „strukturierte und moderierte Prozesse der Prioritätendefinition“ vorzuhalten. Angesichts der zunehmenden Notwendigkeit, „das eigene Handeln zu erklären, für Verständnis und Unterstützung zu werben“ stellen sich „enorme Vermittlungsanforderungen im Inneren wie nach außen.“ (Auswärtiges Amt 2015, passim). Die Leitlinien folgen diesen Vorgaben und warten mit einem Kranz von Vernetzungen zwischen dem Außenamt und den Fachöffentlichkeiten auf, kündigen die regelmäßige Unterrichtung des Bundestages zu „ausgewählten Schwerpunktthemen“ (Leitlinien, S. 144) an, zeigen die Fortsetzung des mit dem PeaceLab2016 begonnenen „inklusiven Dialogs“ (ebd.) an und stellen eine Ausweitung der „Kommunikationsaktivitäten der Bundesregierung“ in Aussicht, „um ihr Engagement gegenüber der Öffentlichkeit zu erklären.“ (ebd.). Soweit so gut. Von der avisierten „ressortgemeinsamen Arbeitsgruppe“ zum Zweck der gesteigerten Außenkommunikation ist hingegen noch nichts zu vernehmen. Besteht in dem vom Verteidigungsministerium federführend verantworteten Weißbuch 2016 noch weitgehend Unklarheit, welche strategische Bedeutung der Öffentlichkeit in der Sicherheitspolitik zukommt, so präsentiert die Umsetzung der Leitlinien, verantwortet vom Auswärtigen Amt, ein deutliches Vollzugsdefizit. Foren und Formate werden unzulänglich profiliert. Gelegentlich angesetzte Bundestagsdebatten werden nicht ausreichen, und die von der Rühe-Kommission des Deutschen Bundestages (2015) angeregte regelmäßige bilanzierende Bewertung und ressortübergreifende Evaluierung von Einsätzen ist zwar in beiden Leitdokumenten auf Resonanz gestoßen, doch auch hier lässt die Umsetzung noch auf sich warten. Genau genommen gehen die angesprochenen – an sich erfreulichen – Vorhaben und Maßnahmen am Kern der strategischen Problematik der Öffentlichkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik vorbei; besser gesagt, sie greifen zu kurz. Um das zu zeigen, sollen im Folgenden drei Aspekte dieser Problematik systematisch unterschieden und im Einzelnen diskutiert werden.

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Legitimation unter Bedingungen von Ungewissheit

Grundlegend für den politischen Öffentlichkeitsbezug ist das Einwerben und Erhalten von Legitimation, d. h. von Vertrauen, Rückhalt, Akzeptanz und Wertschätzung. Dabei geht es um mehr als Information. Angesichts einer Weltordnung, die nach Diagnose der verantwortlich Beteiligten dabei ist, aus den Fugen zu gehen, besteht beträchtlicher Erklärungsbedarf in der Außen- und Sicherheitspolitik, der das gesamte Spektrum des vermeintlich Selbstverständlichen umfasst – die Frage des

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Multi- oder Minilateralismus, der mehr oder auch weniger erwünschten Partner, der Handlungszwänge und Bewegungsspielräume, der Ziele und Mittel, der Fristen und Erfolgskriterien (vgl. Maihold 2016). Politik muss gleichsam politischer, d. h. grundsätzlicher in ihren Begründungen werden. Gelingt das? Aufgrund der langjährigen Erfahrung mit einer wehrskeptischen Öffentlichkeit lässt das Verteidigungsministerium seit Jahren regelmäßige Bevölkerungsbefragungen zum sicherheits- und verteidigungspolitischen Meinungsbild in der deutschen Bevölkerung durchführen, die in ihrem Aussagegehalt ausgesprochen vielschichtig sind (vgl. Biehl und Schoen 2015) und Material für eine gezielte und vertiefende Ansprache des Publikums bieten. Ein Blick in das Weißbuch 2016 belehrt hingegen, dass es der so anspruchsvoll erhobenen öffentlichen Meinung nicht gelungen ist, über eine pauschal positive Erwähnung der „Verankerung“ der Bundeswehr (Bundesregierung 2016, S. 111f) hinaus gouvernementale Resonanz zu erzeugen. Anlass dafür gäbe es. Denn so stabil das öffentliche Institutionenvertrauen in die Bundeswehr auch ist, 2016 und 2017 waren die Meinungen geteilt, wenn nach dem Kontakt Bundeswehr-Gesellschaft gefragt wurde: 41% der Befragten hielten den Kontakt für ausreichend, 40% dagegen für nicht ausreichend. Zudem hält sich eine Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung in beiden Jahren über die Auslandseinsätze für nicht sachkundig und nicht ausreichend informiert. Der allgemeine Informationsstand ist vielmehr anhaltend „rückläufig“ (ZMSBw 2016, 2017). Auf eine weitere Spur, hinsichtlich der Tiefenschichten öffentlicher Meinungsbildung, führt die Diskrepanz zwischen der weitgehenden, wenn auch skeptisch gestimmten Akzeptanz von Auslandseinsätzen und der rasch zunehmenden Ablehnung, sobald diese – siehe Afghanistan – mit offenen und dauerhaften Kampfhandlungen einhergehen. Dass sich grundlegende Einstellungen nicht automatisch in die Zustimmung zu tagespolitischen Entscheidungen und Maßnahmen übersetzen, zeigt sich auch in Fragen der Bündnisverteidigung (vgl. Biehl et al. 2017). Gewiss gelten Landes- und Bündnisverteidigung als Kernaufgaben der Bundeswehr und der Nato, aber zu den Sanktionen gegenüber Russland und der Truppenstationierung in Osteuropa sind die Meinungen mehrheitlich ablehnend bzw. gespalten. Über den strategischen Umgang mit der russischen Politik gibt es keinen gesellschaftlichen Konsens, damit fehlt dem Verteidigungsauftrag der Bundeswehr im Bündnis letztlich der öffentliche Rückhalt. Mit anderen Worten, während Nato und Bundeswehr in Wales und Warschau einen strategischen Schwenk in der Sicherheitspolitik vollzogen haben, der sich im finanziellen Aufwand, Konzeption, Aufstellung und Ausrüstung der Bundeswehr auf Jahrzehnte hinaus auswirken wird, mangelt es an der öffentlichen Zustimmung.

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1.2

Klaus Naumann

Strategische Geduld angesichts von Unübersichtlichkeit

Die Tiefenschichten und Dissonanzen der öffentlichen Meinungsbildung werden zwar demoskopisch erfasst, in der Außenkommunikation wird dem aber nicht ausreichend Rechnung getragen. Vergleichbares gilt für den ressortgemeinsamen Umgang mit dem Komplexitätsproblem, dessen Relevanz für die immer wieder eingeforderte strategische Geduld des Publikums unübersehbar ist. Am folgenden Beispiel aus der deutschen Krisenpolitik im Irak lässt sich erkennen, dass der vernetzte Ansatz staatlichen Handelns, der im Weissbuch 2006 propagiert und im vorliegenden Weißbuch 2016 bekräftigt worden ist, bisher keinen autorisierten Sprecher gefunden hat. In einem Überblick über das „Deutsche Engagement in der Praxis: Irak“ haben die Leitlinien (2017, S. 98f.) etwas zusammengetragen, das, obwohl keineswegs vertraulich, den Weg in die deutschen Medien und damit in die Öffentlichkeit kaum gefunden hat3. Dort findet sich ein knapper Überblick über die Vielfalt der deutschen politischen – diplomatischen, entwicklungspolitischen, finanziellen und militärischen – Beiträge zur Stabilisierung des krisengeschüttelten Irak. Während die Öffentlichkeit praktisch nur über die deutschen Waffenlieferungen und militärischen Ausbildungshilfen an die irakischen Kurden informiert wurde, zeigt sich hier ein imponierender Mix aus Stabilisierungshilfen in den vom IS befreiten Gebieten des Iraks oder Nordsyriens, vor allem in den Städten Sindschar, Ramadi, Tikrit, Falludscha und Mossul. Neben kurzfristigen Nothilfen stehen langfristige vertrauensbildende Maßnahmen zur Konfliktnachsorge und auf Jahre berechnete Hilfen für den staatlichen und wirtschaftlichen Wiederaufbau. Dies alles erfolgt im Verbund mit UN-Organisationen, der Arbeitsgruppe Stabilisierung der Anti-IS-Koalition und in Zusammenarbeit mit anderen internationalen Organisationen. Erkennbar (aber eben nicht kommuniziert) ist das strategische Kalkül, eine politische Dynamik zu fördern, die der Festigung von Staat und Gesellschaft des Irak zugutekommen kann, obwohl allen Beteiligten klar ist, dass mehr als eine „stabile Fragilität“ (Rotmann 2014) bis auf weiteres nicht zu haben ist. Vergleichbares trifft für die militärischen Stabilisierungshilfen („Ertüchtigung“) zu, die Ausbildungshilfen, Ausrüstungen und Waffen- und Munitionslieferungen 3 Das gilt beispielsweise auch für eine detaillierte und differenzierte Unterrichtung des Deutschen Bundestags im Juli 2016, die der Öffentlichkeit jedoch vorenthalten blieb. Die Broschüre des Auswärtigen Amts „Syrien und umliegende Region im Fokus der deutschen Außenpolitik“ (Februar 2016) bietet nur ein Standbild, sie kann eine fortlaufende Berichterstattung nicht ersetzen. Eine Ausnahme in der Presselandschaft bildeten die Berichte von Rainer Herrmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Vgl. Herrmann 2016a und 2016b.

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beinhalten. Entstanden aus akuter Nothilfe für die bedrohten irakischen Kurden sind diese Maßnahmen mit einer ähnlichen Problematik konfrontiert wie die zivil-politischen Beiträge: Kann die Stärkung des Sicherheitssektors auf Dauer dazu beitragen, die Integrität des irakischen Staatsverbandes zu stärken? Die Frage bleibt einstweilen offen (vgl. Major und Mölling 2014; Boemcken 2015). Das Weißbuch 2016 (S. 52) hält sich vorsichtig bedeckt. „Möglichst“, heißt es dort, sollen Ertüchtigungsinitiativen „in einen umfassenden Ansatz eingebettet (werden), der Maßnahmen zur Stärkung guter Regierungsführung und zur Reform des Sicherheitssektors beinhaltet.“ – Nur so viel dürfte am irakischen Beispiel klar geworden sein: Wenn komplexe Probleme mit komplexem Mitteleinsatz in offenen Fristen unter unbestimmten Erfolgsaussichten angegangen werden sollen, ist eine integrierte und ressortgemeinsame Berichterstattung unabdingbar. Nicht nur Feld-Akteure, Koordinatoren und Entscheider bedürfen der Selbstverständigung über Formen, Ziele und Etappen des Zusammenhandelns; auch die Öffentlichkeit muss vertraut gemacht werden mit den speziellen Herausforderungen eines abgestimmten Mitteleinsatzes deutscher Politik. Andernfalls droht nach der ersten, oft suggestiven Zustimmung („Man muss etwas tun!“, „Wir dürfen nicht zusehen!“) die Auszehrung der öffentlichen Akzeptanz, nachträglicher Sinnverlust oder sogar grassierende Gleichgültigkeit.

1.3

Robuste Öffentlichkeiten in hybriden Konfliktlagen

Von beiden vorgenannten Punkten – politische Legitimation und strategische Komplexität – und ihren instrumentellen Hebeln und Folgerungen zu unterscheiden, ist die strategische Bedeutung von Öffentlichkeit(en) im Rahmen von hybriden Bedrohungen bzw. Konfliktlagen4. Diese Konfliktstruktur ist in der Tat brisant, denn hier droht der „politische Körper“ selbst zum Streitobjekt zu werden, und dabei steht nicht allein die Sicherheit, sondern auch die Freiheit in Frage. Diese Sorte von Risiken können nicht mehr auf Distanz gehalten und Verwundbarkeiten nicht mehr verhindert, sondern nur gemindert werden5. Die Eigentümlichkeit dieses 4 Vgl. Schaurer und Ruff-Stahl 2016, S. 9, die ihre Begriffsbestimmung bewusst auf die Zielstellung konzentrieren, „politische Wirkung unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Angriffs zu erzielen und die handlungs- und Reaktionsfähigkeit des Gegners zu beeinträchtigen.“ (Herv. KN). Vgl. auch Van Herpen 2016 am russischen Beispiel. 5 Vgl. Münkler und Wassermann 2012; Tamminga 2015; Pospisil und Rodehan-Noack 2015. Zu den Dimensionen des „politischen Körpers“ vgl. Skinner 2012: „Wenn man vom Staat als einer eigenständigen Person mit eigenen Pflichten und Rechten spricht, heißt das nichts anderes, als dass man sich auf den Körper des Volkes bezieht, auf Menschen,

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Konflikttyps besteht zudem darin, Grauzonen (Krieg – Frieden, innen – außen, konventionell – unkonventionell) zu schaffen, die das angemessene Gegenhandeln materiell, operativ und normativ schwierig werden lässt. Beispielsweise wird im Einzelfall schwer zu entscheiden sein, wo Henne und wo Ei ist, wenn externe (z. B. mediale) Interventionen und innergesellschaftliche Konfliktfelder aufeinandertreffen. Es genügt jedenfalls nicht, darauf allein administrativ reagieren, etwa mit Blick auf die „kritischen Infrastrukturen“ (hier ist das Innenministerium federführend, die Rolle des Verteidigungsministeriums hingegen umstritten). Der strategische Punkt bei der hybriden Konfliktbewältigung liegt in der Resistenz und Resilienz der betroffenen Öffentlichkeit(en). An diesem Punkt vollendet sich die schon bei Clausewitz formulierte Einsicht, dass Erfolg oder Misslingen von Akten politischer Willenserzwingung im internationalen Staatenverkehr in letzter Instanz von der Wahrnehmung und Bewertung der Bevölkerung(en), also von den „interpretierenden Umwelten“ (Simpson 2012) abhängig ist. Mit Blick auf die hier diskutierten Konfliktlagen hat Herfried Münkler (2015, S. 247) gefolgert, dass die psychische Verwundbarkeit moderner westlicher Gesellschaften gravierender sei als die physische. Umso brisanter wird dieser Befund, wenn man in Rechnung stellt, dass die Öffentlichkeiten der sozialen Netzwerke einer anderen Dynamik unterliegen, als die herkömmliche Öffentlichkeit der Massenmedien. Die daraus entstehenden Herausforderungen sind weitreichend. Sie überspringen nicht allein die Ressortgrenzen, sie überschreiten auch den Bereich hoheitsstaatlichen Handelns. Diese Erkenntnis löst Irritationen aus; im abwechselnden Hantieren des Weißbuchs 2016 mit den Attributen „gesamtstaatlich“ bzw. „gesamtgesellschaftlich“ kommt das deutlich zum Ausdruck. Diese Verunsicherung ist erst einmal nicht verwunderlich, denn hier wird etwas praktisch, was sonst nur in den Lehrbüchern der Politik steht: Der Staat ist gefordert als Organ der Bürgergesellschaft, aber diese Bürgergesellschaft ist es, die erst den Staatsverband hervorbringt, bestätigt und trägt – eine Verschränkung, die Daniel Jacobi (2015) in seinem Konzept der Sicherheitskommunikation bereits hervorgehoben hat. Um diese Wechselbeziehung auszufüllen hat eine Politik des hybriden Risikos mit dreierlei Öffentlichkeitsproblemen zu kämpfen, von denen ein jedes den gewohnten Rahmen der Legitimationsbeschaffung und des gesamtstaatlichen Handelns sprengt (vgl. Münkler und Wassermann 2012): • Der im Weißbuch 2016 angeregte „Dialog über die Grenzen von Sicherheit“ und das „akzeptable Risikoniveau“ (ebd., S. 60) zielt auf das Kernproblem, wie die unter einer autorisierten Regierungsform als gleiche Bürger geeint sind. … Letztlich ist der Staat nicht anderes als wir selbst.“ (S. 95).

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es um die Unsicherheitstoleranzen einer verwundbaren Gesellschaft bestellt ist. Dahinter zeichnet sich das Ideal der „heroischen Gelassenheit“ einer pluralistischen Öffentlichkeit (Münkler und Wassermann 2012) ab, die sich auch von Ungewissheiten und Verunsicherungen nicht aus dem Gleichgewicht oder durch Improvisationen aus dem Lebenskonzept bringen lässt, sondern in der Lage ist, nach der englischen Devise Shut up and carry on zu verfahren. Hier zeigt sich indes, wie sehr die Kräftigung von gesellschaftlicher Resilienz auf „Vertrauenspolitik“ (Pospisil und Rodehan-Noack 2015) und Politikvertrauen angewiesen ist. • Die bereits vorliegenden Konzepte zur Risikokommunikation (z. B. BMI 2014) bieten ein methodisch und operativ nützliches Instrument für die hybride Problematik, die sich ohnehin nicht an die Ressortgrenzen hält. Die dort formulierten kommunikativen Grundregeln laufen gemäß des Prinzips „Der Bürger ist gleichberechtigter Interessenpartner“ in ein und dieselbe Richtung: Dialogoffenheit der Behörden und Amtsträger; präventive und begleitende Information über Risiken, Unsicherheiten und realistische Handlungsoptionen; intensive Verzahnung staatlicher Ebenen und gesellschaftlicher Bereiche; „Reduzierung der Distanz zwischen Betroffenen und Entscheidern“; Anleitung zur fundierten Urteilsbildung, um „Risikomündigkeit“ zu entwickeln. Dazu ist freilich notwendig, in Politik und Publikum mit dem verbreiteten Verständnis aufzuräumen, Außen- und Sicherheitspolitik seien das Revier der Experten, während für die „Laien“ die abendliche Tagesschau, Talkshows oder Twitter ausreichen. Die kommunikative Pointe der hybriden Bedrohungen und Konflikte liegt gerade darin, dass sie die Bürgergesellschaft schlechthin bzw. soziale Gruppen adressieren. • Auf die Tagesordnung rückt wieder die alte Frage, wie die parlamentarische Demokratie und die demokratische Lebensform ihre Fähigkeiten zur Selbstverteidigung kräftigen können, ohne sich selbst in Frage zu stellen. Angesichts der totalitären Bedrohungen der 30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts war das Konzept der „Militant Democracy“ (Loewenstein 1937) entwickelt worden, das der Ausformung der „wehrhaften Demokratie“ in der frühen Bundesrepublik Pate gestanden hatte (Hacke 2018; Müller 2013). Unter anderen Vorzeichen, als denen des Kalten Kriegs, wirft das hybride Konfliktkontinuum erneut das Problem auf, wie Freiheit, Sicherheit und Wohlstand miteinander in Ausgleich gebracht werden können, ohne die Balance zu verlieren. Man mag darauf mit dem Aufruf zur „Wehrhaftigkeit“, „mentaler Härtung“ oder „politischer Geschlossenheit“ antworten, wie das in einem Teil der einschlägigen Studien zu den hybriden Bedrohungen geschieht (Freudenberg 2017; Major und Mölling

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2015), der Umgang mit pluralistischen Öffentlichkeiten in individualisierten Gesellschaften wird damit freilich noch nicht einmal tangiert. Auf den ersten Blick scheint der hybride Konflikttyp einen neuerlichen Extremwert künftiger politischer, sozialer und ideologischer Auseinandersetzungen zu markieren. Beobachter haben denn auch von einer Wiederkehr des „traditional, all-consuming war“ (Cederberg und Eronen 2015) gesprochen. Indessen bringen die hybriden Konfliktlagen bei näherer Betrachtung jene Problemlagen auf den Punkt, der die zeitgenössischen westlichen Gesellschaften und die demokratische Politik generell umtreibt: Wie ist der öffentliche Umgang mit der demokratischen Legitimationsfähigkeit, mit Komplexitätszumutungen und mit dem Ambiguitätsstress, mit Fragilität, Fragmentierung und Verletzlichkeit zu thematisieren, zu gestalten und zu pflegen (vgl. Leggewie und Welzer 2009)? Allzu leicht wirkt der inflationäre Ruf nach Resilienz, der allerorten erschallt, als rhetorische und/oder technokratische Beschwörungsformel. Tatsächlich ist dieser zum Modewort avancierte Begriff eine Hohlform, eine Formel, die nach dem Sesam-öffne-dich verlangt, um Zugang zu entscheidenden Funktionsbedingungen des guten Regierens und den Überlebensfragen der modernen Demokratie in einer labilen Weltordnung zu gewinnen. Der Berg will nur geöffnet werden!

Literatur Auswärtiges Amt. 2015. Review2014 – Außenpolitik weiter denken. Krise – Ordnung – Europa. Berlin: Auswärtiges Amt. Biehl, H., Ch. Rothbart und M. Steinbrecher. 2017. Cold War Revisited? Die deutsche Bevölkerung und die Renaissance der Bündnisverteidigung. In Jahrbuch Innere Führung 2017, Hrsg. U. Hartmann und C. von Rosen, 137–154. Berlin: Miles-Verlag. Biehl, H. und H. Schoen, Hrsg. 2015. Sicherheitspolitik und Streitkräfte im Urteil der Bürger. Wiesbaden: Springer VS. Bundesministerium des Innern. 2014. Leitfaden Krisenkommunikation. https://www.bmi. bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/bevoelkerungsschutz/ leitfaden-krisenkommunikation.html. Zugegriffen: 10. Juli 2018. Bundesregierung. 2016. Weißbuch. Zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin. Bundesregierung. 2017. Leitlinien der Bundesregierung: Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern. Berlin. Cederberg, Aapo und P. Eronen. 2015. How are Societies Defended against Hybrid Threats? Geneva Centre for Security Policy: Strategic Security Analysis, Nr.9. https://www.gcsp.

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Warten auf die große sicherheitspolitische Debatte in Deutschland? Jenseits von Defizitdiagnosen, Vermeidungsdiskursen, Erziehungskampagnen Anna Geis

Zusammenfassung

Seit langem wird eine „große“ sicherheitspolitische Debatte gefordert in Deutschland. Weißbücher als Strategiedokumente der Exekutive können einen Anstoß zu einem breiteren gesellschaftlichen Diskurs bieten. Allerdings bleibt die „große“ Debatte auch nach der Veröffentlichung des Weißbuchs der Bundesregierung 2016 aus. Dieser Beitrag setzt sich mit einigen gängigen Defizitdiagnosen und Besonderheiten der Sicherheitskommunikation in Deutschland auseinander, um schließlich ein Plädoyer für mehr dezentralisierte Formate der Bürgerbeteiligung in der Außen- und Sicherheitspolitik zu begründen. Schlüsselbegriffe

Afghanistan, Bundeswehr-Einsätze, BürgerInnen, Deutsche Sicherheitspolitik, Kriegsbegriff

1

Einleitung: Weißbücher als Katalysatoren einer großen Debatte?

Warum benötigt ein Staat wie die Bundesrepublik Deutschland, fest eingebunden in die multilateralen Strukturen der NATO und die Integrationsprozesse der Europäischen Union, ein nationalstaatliches Strategiedokument zur Sicherheitspolitik? Wie autonom bestimmen Bundesregierung und Bundestag die Sicherheitspolitik © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Jacobi und G. Hellmann (Hrsg.), Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Edition ZfAS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6_14

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in einer Zeit, die bekanntlich von transnationalen und globalen Sicherheitsgefährdungen geprägt ist, die kein Staat alleine bearbeiten kann? Brigadegeneral Carsten Breuer, bis August 2016 Projektbeauftragter für das Weißbuch 2016 in der Abteilung Politik im Bundesministerium der Verteidigung (BMVg), und Christoph Schwarz, Referent in der Projektgruppe Weißbuch, heben unter anderem folgende Prämissen bzw. Funktionen hervor: „Ohne Strategie werden Gestaltungsmöglichkeiten preisgegeben, nicht Handlungsspielräume gewonnen. Gleichzeitig muss der strategische Ansatz die Charakteristika der aktuellen und künftigen Sicherheitslage – Komplexität, Dynamik, Volatilität – reflektieren. (…) Eine der zentralen Funktionen von Strategien ist es, Komplexität zu reduzieren, um begründete Entscheidungen zu ermöglichen, eine Wahl zu treffen.“ (Breuer und Schwarz 2016, S. 86)

Dieser Beitrag wird sich weniger mit den Prämissen und Funktionen des Weißbuches 2016 auseinandersetzen, sondern einen wichtigen Begleitaspekt näher betrachten: In demokratischen Gesellschaften sollten Strategiedokumente der Regierung nicht lediglich Referenzdokumente für die interne Regierungskommunikation darstellen, für die Öffentlichkeit auch nicht bloß nachlesbare Zusammenfassungen von Leitlinien und mehr oder minder vagen politischen Vorhaben für die Zukunft sein – idealerweise sollten diese eine grundlegende öffentliche Debatte anregen und auch ein Verständnis für die oben genannte „Komplexität, Dynamik und Volatilität“ von Politik ermöglichen. In Weißbüchern zur Sicherheitspolitik werden nicht nur Strategien und politische Maßnahmen in eine narrative Form gebracht, sondern es sind auch normative Selbstbeschreibungen einer politischen Gemeinschaft zu finden. In hoch komprimierter Weise werden hier Freund- und Feindbilder, Politik- und Weltbilder ausgedrückt, über die es sich – selbstverständlich, notwendigerweise – zu streiten lohnt in einer Gesellschaft. Wenig überraschend hat auch das Weißbuch 2016 scharfe Kritik hervorgerufen. Es könnte auch gar nicht anders sein. Wie würde ein Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr aussehen, das allgemein konsensfähig wäre in einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft? KritikerInnen lesen das Weißbuch etwa als „besorgniserregendes Dokument“ einer umfassenden Versicherheitlichung und Militarisierung (Schreiber 2016). „Bedrohungsszenarien, wie sie auch dieses Weißbuch hinter jedem Baum und Strauch hervorzaubert, sind nicht hilfreich, die Probleme der Welt wirklich anzugehen“ (Seifert 2016, S. 13). Ursachenanalysen für Gewaltkonflikte, wie etwa die ungerechten Strukturen der globalen Weltwirtschaftsstrukturen, fehlten weithin. Zudem seien Weißbücher in diesem Format ohnehin überholt in der heutigen Zeit (Kommission IFSH 2016).

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Im Kontext der Weißbuch-Erarbeitung wurde immer wieder auf die Notwendigkeit hingewiesen, eine breite Beteiligung an der Debatte über die Sicherheitspolitik in Deutschland anzuregen (Luther 2015). Dies hat sich auch schon in der Vergangenheit als Herausforderung erwiesen. Im Folgenden sollen zunächst einige gängige Defizitdiagnosen und Besonderheiten dieser Sicherheitskommunikation erörtert werden, um schließlich ein Plädoyer für mehr dezentralisierte Formate der Bürgerbeteiligung zu begründen. Welche Attraktivität für die Bevölkerung und welche Wirkungen für die Politik diese Formate hätten, müsste in der Praxis erprobt werden.

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Medien, Wissenschaft, Bevölkerung: auf eingefahrenen Gleisen?

Welche Aufgaben dem eigenen Militär zugeordnet werden, in welche Auslandseinsätze – oder auch Inlandseinsätze – deutsche Soldaten und Soldatinnen entsendet werden sollen, ist gerade in Deutschland aus historischen Gründen eine besonders sensible Frage. So wird es zumindest allenthalben in Wissenschaft und Praxis behauptet. Demnach sollte man auch leidenschaftliche kontroverse Debatten über Einsätze der Bundeswehr erwarten. Im Parlament, in „den Medien“ (‚traditionelle‘? ‚neue soziale‘?), auf der Straße, in den Familien und in den Bildungsinstitutionen. Die schleichende Ausdehnung der Militäreinsätze der Bundeswehr seit den 1990er Jahren war auch keineswegs unkontrovers. Allerdings ist die von vielen ExpertInnen in Politik, Medien und Wissenschaft seit langem geforderte „große sicherheitspolitische Debatte“ ausgeblieben (Geis 2007). „Die dahinter liegende Idee ist zumeist, dass diese (Debatte) wie ein reinigendes Gewitter über die Landschaft deutscher Sicherheitspolitik ziehen und im Sonnenschein eines sicherheitspolitischen Konsenses enden könnte. So bemerkenswert dieser Wunsch nach mehr öffentlichem Dialog ist, so sehr sitzt auch er einer Illusion auf.“ (Jacobi und Hellmann 2018, S. 3).

Die Eigenarten deutscher sicherheitspolitischer Debatten seit der Wiedervereinigung sind von verschiedenen BeobachterInnen aus Medien, Wissenschaft und Militär ausführlich problematisiert worden (Chauvistré 2009; Naumann 2010; Bertram 2015; Krause 2016). Sie zeichnen ein geradezu vernichtendes Bild von feigen PolitikerInnen, die ihren WählerInnen die Wahrheit über einige Militäreinsätze kaum zutrauen; von strategieunfähigen Eliten in Politik, Militär und Wissenschaft, die letztlich die zentralen Fragen gar nicht stellen, geschweige denn nützliche Antworten

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geben könnten; und von einer (freundlich) desinteressierten Bevölkerung, die sich lieber „einnischen statt einmischen“ wolle (Bertram 2015). Die Diskursoffensive der deutschen Exekutive im Zuge der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 und auch der vom Auswärtigen Amt organisierte „Review“-Prozess sollte eine als ‚zögerlich‘ wahrgenommene Mehrheit in der Bevölkerung für die Einschätzung sensibilisieren, dass Deutschland aufgrund seines weiter gestiegenen politischen ‚Gewichts‘ in der Welt und aufgrund seiner Stellung als Globalisierungsprofiteur weltweit „mehr Verantwortung“ übernehmen solle bzw. geradezu müsse, was auch den Einsatz militärischer Mittel einschließen kann.1 Interessanterweise – darauf wird später ausführlicher zurückzukommen sein – wird die deutsche Bevölkerung eher als „Erziehungsobjekt“ betrachtet denn als Gemeinschaft mündiger BürgerInnen, die vielleicht aus guten Gründen ihre politischen Einstellungen und Meinungen entwickelt haben. So diagnostiziert etwa Ulf von Krause (2016, S. 21), dass sich die deutsche Gesellschaft zu sehr mit dem „Zivilmachts“-Denken identifiziere, was auch der politischen Elite anzulasten sei: „Es rächte sich, dass die seit 1990 schrittweise erfolgte ‚Normalisierung‘ der Sicht auf den Gebrauch von Streitkräften als Mittel der Politik nur ein Elitenprojekt gewesen war. Die Gesellschaft war auf diesem Weg nur unzureichend mitgenommen worden.“ Den Politikern fehle (offenbar) der Mut, ihren WählerInnen die Einsatzrealitäten zu vermitteln: „Bei allen Kriegseinsätzen war erkennbar, dass die Politik deren Charakter schönte, um der Grundstimmung in der Gesellschaft zu entsprechen“ (Krause 2016, S. 22). In der heutigen sicherheitspolitischen Lage zähle der Einsatz von militärischer Gewalt, als ‚ultima ratio‘ und völkerrechtlich abgesichert, zu den außenpolitischen Instrumenten. Daraus folge jedoch auch: „Dann müssen die politischen Eliten aber auch auf die Gesellschaft einwirken, damit diese eine ‚Kultur der Kriegsfähigkeit‘ entwickelt. Wenn ‚Kultur der Kriegsfähigkeit‘ verstanden wird als eine mentale Grundhaltung, Entscheidungen der politisch Verantwortlichen zum notwendigen Einsatz von Streitkräften und der damit ggf. verbundenen Lasten mitzutragen (…), dann löst sich der von Kritikern behauptete Gegensatz zwischen einer ‚Kultur der Zurückhaltung‘ und einer ‚Kultur der Kriegsfähigkeit‘ auf“. (Krause 2016, S. 38)

Es sind allerdings nicht allein PolitikerInnen, denen eine Mitschuld an dem beklagenswerten Zustand deutscher sicherheitspolitischer Debattenkultur zugeschrieben wird. In seiner Analyse der Reaktionen auf die Rede von Bundespräsident Joa1 Zur Debatte über „mehr Verantwortung übernehmen“ siehe die Beiträge in Hellmann et al. (2015); zum „Review“-Prozess siehe Geis und Pfeifer (2017).

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chim Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 urteilt etwa Christian Tuschhoff, dass die Lesart vieler Medien – Gauck habe eine Militarisierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik befürwortet – einseitig gewesen sei und dass diese sich eher an die Positionen der öffentlichen Meinung angelehnt hätte, „weil sie sicher sein konnten, dass sie damit auf Beifall des Publikums stoßen würden“ (Tuschhoff 2015, S. 105). So könne aber keine Debatte entstehen. Auch Teilen der Wissenschaft werden Vorwürfe gemacht: Auch sie wüssten immer schon, was „richtig“ ist – in einer Zeit, die doch von hoher Unsicherheit geprägt ist. Daher sei es eine wichtige Aufgabe, öffentlich klarzustellen, dass Außenpolitik von Dilemmata geprägt ist (Tuschhoff 2015, S. 113). Eine anders lautende Kritik an der deutschen Wissenschaft, insbesondere der Friedens- und Konfliktforschung, identifiziert eine massive „Forschungslücke ‚Krieg‘“, die ebenfalls auf ideologisch aufgeladene Zwänge, Beschränkungen und geistige Blockaden zurückzuführen sei (Schmid 2013, S. 243): „Das Verstehen dessen, was im Krieg passiert und wie der Krieg funktioniert bleibt wissenschaftlich massiv unterforscht. In Konsequenz bedeutet dies, dass eine theoretische Grundlagenforschung zu Krieg und in diesem Kontext auch zu Strategie in Deutschland, von wenigen Ausnahmen (…) abgesehen, praktisch nicht stattfindet“ (Schmid 2013, S. 232–233).2

Eine besonders aufschlussreiche Phase in der deutschen Sicherheitspolitik war die Veränderung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr seit 2007, der zunehmend Elemente der Aufstandsbekämpfung enthielt und damit auch verlustreicher wurde. Insgesamt gilt der Afghanistan-Einsatz unter ISAF (International Stabilization and Assistance Force)-Mandat als ein prägender Einsatz für die Bundeswehr, aber auch für die deutsche Gesellschaft (Noetzel 2010; Seiffert et al. 2012). In einem

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Konkreter Anlass für diese Bilanzierung war eine Äußerung des Verteidigungsministers Thomas de Maizière in einem Zeitungsinterview am 2.2.2012 im Kontext der Münchner Sicherheitskonferenz. Auf die Frage, ob Deutschland eine nationale Sicherheitsstrategie benötige, um eine breitere Debatte anzuregen, antwortete er: „Es nützt wenig, wenn man nur Papier beschreibt. Strategien haben wir genug in Deutschland. Man kann einer Gesellschaft so eine Diskussion auch nicht verordnen. Ich bin zum Beispiel froh, wie engagiert die Kirchen diskutieren. Dagegen erkenne ich keinen großen intellektuellen Beitrag der deutschen Universitäten zur Frage von Krieg und Frieden. Obwohl ja eigentlich Hochschulen eine Art Initialzünder für gesellschaftliche Debatten sein könnten.“ Siehe https://www.welt.de/politik/deutschland/article13848243/Der-Abzug-ist-nichtaus-dem-Aermel-zu-schuetteln.html. Diese Aussage provozierte einige Fachexperten zu Reaktionen. Siehe dazu aus antimilitaristischer Perspektive den Kommentar von Marischka (2012).

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bemerkenswerten Interview erklärte Verteidigungsminister Thomas de Maizière am 23. Dezember 20113: „Der Afghanistan-Einsatz hat nicht nur die Bundeswehr, sondern die gesamte Bundesrepublik einschneidend verändert. Deutschland hat sich mit dem Einsatz, so umstritten er war und ist, erstmals als vollwertiges und belastbares Mitglied der Nato bewiesen. Vor der ISAF-Mission hat kaum einer unserer Partner geglaubt, dass deutsche Soldaten wirklich kämpfen können oder dass ihre Führung sich traut, ihnen den Befehl dafür zu geben. Wir haben bewiesen, dass wir das können und auch bereit sind, Opfer zu erbringen. Wir haben das Bild der bewaffneten Sanitäter und Wahlbeobachter abgelegt und sind eine vollwertige Armee geworden, die Respekt bei den Partnern hat. Der Kampf in Afghanistan, der breite Einsatz der Armee im Gefecht, hat die Bundeswehr und Deutschland transformiert, und das wird auch bleiben.“

Während viele BürgerInnen derzeit eher davon ausgehen, dass die Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel seit 2015 die deutsche Gesellschaft „transformiert“ habe und dies „auch bleiben“ wird, würden wohl nur wenige den Afghanistan-Einsatz als derart folgenreich benennen. Hat der damalige Verteidigungsminister seine Diagnose an der Stelle überzogen, oder sind die deutschen BürgerInnen zu wenig informiert über den Einsatz? Der ISAF-Einsatz wurde Ende 2014 abgeschlossen – dass bereits seit Anfang 2015 wiederum zahlreiche Bundeswehr-SoldatInnen im Rahmen der Resolute Support-Mission in Afghanistan stationiert sind, scheint die Deutschen eher wenig zu interessieren. Der Zweck der neuen Mission dürfte auch bis heute relativ wenigen bekannt sein, während gleichzeitig intensiv über Geflüchtete aus Afghanistan sowie Abschiebungen dorthin debattiert wird.

3

Deutschland befindet sich (nicht) im „Krieg“ in Afghanistan

Durch den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr gelangte 2008/2009 eine der interessantesten „Merkwürdigkeiten“ der deutschen sicherheitspolitischen Debatte in ein breiteres öffentliches Bewusstsein: die Vermeidung des Begriffes „Krieg“. Diese aufschlussreiche Debatte soll hier nochmals rekonstruiert werden. Die Bundeswehr ist eine sog. „Parlamentsarmee“: der Bundestag besitzt vergleichsweise weitreichende Kontrollrechte. Während des ISAF-Afghanistan-Einsatzes (2001-2014) regierten vier unterschiedliche Koalitionen (SPD-Grüne, bis 2005; Große Koalition CDU/ 3 Siehe http://www.spiegel.de/politik/ausland/de-maiziere-zum-afghanistan-einsatz-wir-haben-unsere-opferbereitschaft-bewiesen-a-805310.html.

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CSU-SPD 2005–2009; CDU/CSU-FDP 2009–2013; Große Koalition 2013–2017). Die jeweiligen Verteidigungsminister spielten eine wichtige Rolle im politischen Diskurs über den Afghanistan-Einsatz (Schroeder und Zapfe 2015, S. 178). In den ersten Jahren waren es sozialdemokratische Verteidigungsminister (Rudolf Scharping, Peter Struck), in den folgenden Jahren Mitglieder der CDU/CSU, die den Diskurs prägten (Franz Josef Jung, Karl-Theodor zu Guttenberg, Thomas de Maizière, Ursula von der Leyen). Die PDS bzw. Die Linke war in jener Zeit nie Regierungspartei und stellte sich selbst durchweg als die einzig wahre „Anti-Kriegs-“ und „anti-militaristische“ Partei im Parlament dar, die das Konzept „Krieg“ häufig nutzte, um die Entscheidungen der anderen Parteien zu kritisieren. Während in den ersten Jahren eine große Mehrheit im Bundestag eine recht optimistische Sichtweise auf den Afghanistan-Einsatz einnahm und das deutsche Engagement für Demokratie und Menschenrechte vor Ort betonte, wurde in den späteren Jahren das vage Konzept der „Stabilisierung“ prominenter und ersetzte die proklamierten idealistischen Ziele der erste Jahre (Müller und Wolff 2011, S. 215). Auch wenn der Begriff der „Stabilisierung“ in diesen Diskursen häufig aufgerufen wurde, änderte sich der Einsatzcharakter in Afghanistan in den späteren Jahren erheblich und beinhaltete Aufstandsbekämpfungsoperationen, was zu einer wachsenden Anzahl an Opfern führte, auch unter den deutschen Soldaten (Noetzel 2010, 2011; Hilpert, 2014: 137–169). Die Reichweite des deutschen Einsatzes vergrößerte sich, wie die vom Bundestag bewilligten Mandate über die Jahre zeigen. Ungeachtet der veränderten „rules of engagement“, dominierte der politische Diskurs einer „Stabilisierungsmission“, der so hinter den militärischen Realitäten der Aufstandsbekämpfung vor Ort zurückblieb (Noetzel 2011, S. 416–417). Der allmähliche Wandel im politischen Diskurs über den Afghanistan-Einsatz trat erst 2008/2009 ein, als sich die Sicherheitssituation in Afghanistan weiter verschlechterte und die sog. „Kunduz-Affäre“ einen Wendepunkt in der öffentlichen Debatte markierte. Für den deutschen politischen Diskurs bedeutsam war die zeitweise Differenzierung der Militäroperationen der Bundeswehr in unterschiedliche Mandate, über die der Bundestag abstimmen musste. Diese Mandate riefen auch ein unterschiedliches Ausmaß an Kritik hervor über die Jahre. Insbesondere die Unterscheidung der Terrorismusbekämpfungs-Mission Operation Enduring Freedom (OEF), die sich über unterschiedliche Einsatzorte erstreckte, und der International Stabilization and Assistance Force (ISAF) in Afghanistan wurde von vielen PolitikerInnen hervorgehoben – dies führte zu diversen rhetorischen „Verrenkungen“ in parlamentarischen Debatten, da SprecherInnen den Eindruck vermeiden wollten, (vielleicht) in einen „Krieg“ verwickelt zu sein (Robotham und Röder 2012, S. 205–207).

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“With the beginning of the ISAF mission, which was strongly promoted by Germany, a central political narrative began to emerge in Berlin that constructed a normative dichotomy between ISAF and OEF. While ISAF was presented as the ‘good’ defensive peacekeeping operation, OEF was portrayed as the ‘bad’ offensive counterterrorism operation (…). The obvious intention of this dissociation was to have a military presence in Afghanistan without waging war, thereby keeping the German public in its comfort zone. Until Germany formally cancelled its contribution to OEF in Afghanistan in 2008, which was small in size anyway, this differentiation was a central element of German policy-makers’ efforts to gain public support for the military presence in Afghanistan.” (Schroeder und Zapfe 2015, S. 179)

Der Verweis auf das UN-Mandat für die ISAF-Mission war für viele ParlamentarierInnen wichtig. Eine Wiederaufbau-Mission, die auf einem UN-Mandat beruht, konnte demnach wohl schlichtweg kein „Krieg“ sein oder werden. So behauptete etwa Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grünen) in einer Bundestagsdebatte vom 25. Juni 2008: „Es ist ein Grundirrtum, dass in Afghanistan Krieg geführt wird“; vielmehr solle ein Land wieder aufgebaut werden (zit. n. Chauvistré 2009, S. 47). Auch im Oktober 2009 beharrte Trittin darauf, dass die Bundeswehr im Norden Afghanistans „einen exzellenten Job“ mache: „Sie führen dort keinen Krieg, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, sondern sie sichern dort den Aufbau ab“ (zit. n. Krause 2011, S. 222). Beschönigende Begriffe wie „Stabilisierungsmission“ oder „Wiederaufbaumission“ für den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan entsprechen einem Soldatenbild, das seit langem in der politischen Kultur der „Zivilmacht“ Deutschland gepflegt wurde. Werden Bilder von den Bundeswehreinsätzen gezeigt, werden deutsche Soldatinnen und Soldaten als „bewaffnete SozialarbeiterInnen“ dargestellt, die weder töten noch getötet werden in ihren Auslandseinsätzen. Die Rollendifferenzierung „postmoderner“ SoldatInnen in „postmodernen“ Kriegen, in einer Person KriegerIn sein zu sollen, EntwicklungshilfespezialistIn, SozialarbeiterIn, DiplomatIn mit interkulturellen Fähigkeiten, die sich in zivil-militärischen Kooperationen engagiert und die „Herzen und Köpfe“ der lokalen Bevölkerung gewinnt, ist ein Phänomen, das alle westlichen Interventionsarmeen betrifft (Mannitz 2011). Bundeswehr-SoldatInnen, die in Kampfhandlungen involviert sind, bleiben allerdings auch heute weiterhin eine beunruhigende Vorstellung für große Teile der deutschen Öffentlichkeit (Dörfler-Dierken 2012, S. 228–229). Vor dem Hintergrund ist es interessant, dass die Veränderungen im politischen Diskurs 2008/2009 auch durch Vertreter des Militärs angestoßen wurden, die darauf hinwiesen, dass die Bundeswehr in Kampfhandlungen in Afghanistan verwickelt sei und dass die Erfahrungen der SoldatInnen vor Ort sich von der politischen Rhetorik im weit entfernten Berlin doch sehr unterscheide. Auch Soldaten merkten ihrerseits an, dass ihre „kriegsähnlichen“ Erfahrungen in Deutschland nicht

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verstanden würden. Einige beklagten auch einen Mangel an Anerkennung für ihren schwierigen Einsatz durch die politische Führung und die Bevölkerung in Deutschland (Dörfler-Dierken 2010, S. 145–147; 2012, S. 225, 228). Einer der ersten subtilen aber bedeutsamen Veränderungen im Diskurs erfolgte durch den Gebrauch des Begriffs „Gefallene“ für deutsche Soldaten, die in Afghanistan getötet wurden. Verteidigungsminister Jung hatte während einer Trauerzeremonie für zwei getötete Bundeswehr-Soldaten im Oktober 2008 diesen Begriff verwendet, was in den Medien und im Militär vorwiegend positiv aufgenommen wurde (Dörfler-Dierken 2010, S. 140). Zuvor wurden in der Regel im öffentlichen Diskurs die neutralen Begriffe „getötet“ oder „gestorben“ verwendet, da der Begriff „Gefallenen“ mit „Krieg“ assoziiert wird und im Lichte der deutschen Vergangenheit teils auch mit einer problematischen und obsoleten Glorifizierung von Kriegserfahrungen verknüpft wird. Verteidigungsminister zu Guttenberg gab den diskursiven Verschiebungen einen entscheidenden Impuls, indem er mehrfach von „kriegsähnlichen Zuständen“ in Afghanistan sprach und auch von „Krieg“. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel machte sich im Jahr 2010 allmählich diese Begrifflichkeit zu eigen (Schroeder und Zapfe 2015, S. 186–187). Der Verteidigungsminister und die Bundeskanzlerin nahmen in ihrer Rhetorik entweder die subjektive Perspektive der deutschen SoldatInnen ein, die Kampfhandlungen in Afghanistan erfahren hätten, die als „Krieg“ wahrgenommen werden könnten. Oder sie unterschieden zwischen einer völkerrechtlichen Terminologie und einem umgangssprachlichen Gebrauch des Begriffes „Krieg“. So sagte beispielsweise zu Guttenberg in einer Trauerrede für drei Bundeswehr-Soldaten, die bei dem sog. „Karfreitags-Gefecht“ am 2. April 2010 in Afghanistan getötet wurden: „Was wir am Karfreitag bei Kundus erleben mussten, das bezeichnen die meisten verständlicherweise als Krieg. Ich auch“. Kanzlerin Merkel positionierte sich in ihrer Rede bei derselben Trauerfeier: „Im Völkerrecht nennt man das, was in Afghanistan in weiten Teilen herrscht, einen nicht internationalen bewaffneten Konflikt. Die meisten Soldatinnen und Soldaten nennen es Bürgerkrieg oder einfach nur Krieg. Und ich verstehe das gut“ (beide zit. n. Nieke 2016, S. 91). Die Veränderungen in der Rhetorik des Ministers und der Kanzlerin spiegeln eine Veränderung im breiteren öffentlichen Diskurs wider: Akteure aus unterschiedlichsten Sphären der Gesellschaft führten 2009/2010 eine durchaus intensive Debatte über die Frage, ob sich Deutschland nun in Afghanistan in einem „Krieg“ befinde oder nicht. Ein besonderes Ereignis, der Luftangriff bei Kunduz am 4.

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September 2009 und die nachfolgende „Kunduz-Affäre“4, erzeugte eine große mediale Resonanz. Die Frage, was die Bundeswehr eigentlich in Afghanistan tue und welche politischen Ziele mit dem Einsatz verfolgt würden, wurde nun intensiver als zuvor erörtert. Der deutsche Oberst Georg Klein, damals Kommandeur des Provincial Reconstruction Teams Kunduz, forderte einen Luftangriff auf zwei steckengebliebene Tanklastwagen in der Nähe von Kunduz an, da diese – laut einer Informantenaussage – von Taliban unter ihre Kontrolle gebracht worden seien. Der Oberst befürchtete einen Angriff auf das deutsche Feldlager in Kunduz. Zwei US Kampfflugzeuge griffen die Lastwagen an. Bei dem Luftangriff wurden mutmaßlich mehr als 100 Menschen getötet, davon zahlreiche Zivilisten.5 Es bleibt ungeklärt, ob die Aufständischen das deutsche Feldlager tatsächlich mit den entführten Tanklastwagen angreifen wollten. Ob der Befehl von Oberst Klein als Akt der „Selbstverteidigung“ oder als „Kriegsverbrechen“ einzustufen ist, wurde sehr kontrovers diskutiert. JournalistInnen des Spiegels bezeichneten das „Bombardement nahe Kunduz“ als den „blutigsten“ deutschen Militäreinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg und rekonstruierten diesen in einem ausführlichen Recherchebericht als „Kriegsverbrechen“ (Der Spiegel 2010). Ein Untersuchungsausschuss des Bundestags über den „Luftschlag“ bei Kunduz dokumentierte in seinem Abschlussbericht im Oktober 2011 einerseits sehr unterschiedliche Perspektiven der politischen Parteien – mit Sondervoten der Fraktionen der SPD, der Linken und Bündnis 90/Die Grünen – und zahlreiche problematische Aspekte der politischen Reaktionen auf den Luftschlag. Andererseits bilanziert der Bericht: „Im Hinblick auf den Luftschlag hat sich eindeutig erwiesen, dass der Neubewertung des damaligen Bundesministers der Verteidigung zu Guttenberg zuzustimmen ist, der Luftschlag sei ‚militärisch nicht angemessen‘, aber zugleich feststellt, dass Oberst Klein vor dem Hintergrund der ihm damals bekannten Lage nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat.“ (Deutscher Bundestag 2011, S. 211; Herv. i. O.).

An dieser Stelle sollen die weiteren politischen Implikationen der „Kunduz-Affäre“ nicht rekonstruiert werden – bemerkenswerterweise wurde über die Entscheidung

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Für eine detaillierte Beschreibung der Umstände des Angriffs und die daraus entstehende „Affäre“ siehe Der Spiegel (2010), Noetzel (2011) und Heck (2017). 5 Der Bericht des Untersuchungsausschusses des Bundestags stellte fest, dass die genaue Zahl der Opfer auf der Sandbank nicht ermittelt werden könne; es sei „jedoch wahrscheinlich, dass nicht wesentlich mehr als 100 Personen vor Ort waren“ (Deutscher Bundestag 2011, S. 206). Eine genaue Aufklärung über die Zahl der getöteten Zivilisten sei wohl unmöglich (Deutscher Bundestag 2011, S. 207).

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von Oberst Klein, die Umstände und die Folgen, ein Dokudrama mit dem Titel „Eine mörderische Entscheidung“ gedreht, das im September 2013 zur besten Abendsendezeit auf ARTE und ARD gezeigt wurde (Heck 2017). Die Gefechtserfahrungen in Afghanistan, veränderte „rules of engagement“ und die schwachen Aussichten auf einen „Erfolg“ im Afghanistan-Einsatz führten zusammengenommen zu einer intensivierten politischen Kontroverse über den Begriff „Krieg“, an der zahlreiche sehr unterschiedliche Akteure beteiligt waren. VertreterInnen der politischen Führung zögerten, den Begriff zu übernehmen, und nutzten schließlich Kompromissformeln wie „kriegsähnliche Zustände“ oder „Erfahrungen wie im Krieg“. Andere Akteure verwendeten durchaus den Begriff „Krieg“ und beklagten gleichzeitig einen unehrlichen, ausweichenden und heuchlerischen deutschen Diskurs. Insbesondere JournalistInnen prangerten den „Vermeidungsdiskurs“ an (Chauvistré 2009, S. 16, 53; Kornelius 2009). Auch die Bild-Zeitung titelte am 24. Juni 2009, nach dem Tod von drei Bundeswehr-Soldaten, in Großbuchstaben: „Drei deutsche Soldaten fallen im Kampf – Bundeswehr im Krieg! – Verletzte, schwere Gefechte – wie blutig wird Afghanistan noch?“ (zit. n. Krause 2011, S. 232). Die Wahrnehmung einer größer werdenden Kluft zwischen beschwichtigenden politischen Aussagen in Berlin und beunruhigenden Nachrichten aus Afghanistan erhöhte den Druck auf die Politi­ kerInnen, ihre öffentliche Einschätzung der Situation in Afghanistan zu überdenken. Warum vermieden Minister, die Bundeskanzlerin und viele Mitglieder des Parlaments den Begriff des „Krieges“? Keine andere Akteursgruppe pflegte diese diskursive Zurückhaltung. Ähnelt ihre Rhetorik einem „Eiertanz“, bei dem „das staunende Publikum das begriffliche Kriegsvermeidungsgebaren der Politik als bloß lächerlich empfindet“ (Münkler 2009)? Interessanterweise forderten sowohl Kritiker als auch Befürworter des Afghanistan-Einsatzes den Gebrauch des Begriffs „Krieg“ ein und warfen der Regierung eine heuchlerische Debatte vor. Es gibt eine Reihe von Gründen für die Vermeidung des Begriffs. Diese wurzeln in (1) rechtlichen Erwägungen, in (2) überlieferten Kriegsbildern, sowie (3) in dem Versuch, das von vielen bevorzugte Selbstbild einer „Zivilmacht Deutschland“ aufrechtzuerhalten. Diese Gründe werden oft in einer Weise vorgebracht, die eine Entpolitisierung und die Schließung einer öffentlichen Debatte befördert, d. h. es soll politischer Streit und eine potenzielle Ablehnung des Militäreinsatzes verhindert werden, der jahrelang als „gut und notwendig“ dargestellt wurde. (1) Es gibt verschiedene juristische Gründe, warum deutsche PolitikerInnen in diesem Kontext üblicherweise den Begriff „Krieg“ vermeiden (Krause 2011, S. 235–238), von denen nur einer hier näher betrachtet werden soll: Die Bundeswehr war nicht an einem zwischenstaatlichen bewaffneten Krieg mit der afghanischen Regierung beteiligt. Die ISAF-Truppen waren durch ein UN-Mandat legitimiert und wurden

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in den späteren Jahren zu Konfliktparteien in einem asymmetrischen Konflikt mit bewaffneten nicht-staatlichen Akteuren. Der Begriff „Krieg“ ist im heutigen Völkerrecht durch Begriffe wie „bewaffneter Konflikt“ oder „nicht-internationaler bewaffneter Konflikt“ in Bürgerkriegssituationen ersetzt worden. Dennoch impliziert der Gebrauch des Begriffs „Krieg“ in Afghanistan nicht, dass hierdurch die Taliban als legitime Konfliktpartei anerkannt würden, wie dies etwa Verteidigungsminister Jung behauptete (Schörnig 2009, S. 3). (2) Ungeachtet der juristischen Terminologie und der Kontroversen, nutzen viele akademische Disziplinen und auch viele BürgerInnen den Begriff „Krieg“. Sie haben durch historische Erfahrungen und kulturelle Interpretationen geprägte Intuitionen, was dieser Begriff beinhaltet. Im spezifischen deutschen Kontext ist die Vorstellung von „Krieg“ noch immer stark durch den Zweiten Weltkrieg geprägt (Münkler 2009). Verteidigungsminister Jung verwies auf dieses Kriegsbild, um seine Ablehnung des Begriffs für den Afghanistan-Einsatz zu begründen: „Ich glaube, dass das eine Diskussion ist, die es eher schwieriger macht, weil noch sehr viele unserer Bürgerinnen und Bürger im Bewusstsein haben, was Krieg für sie bedeutet hat. Sie haben den 2. Weltkrieg erlebt. Sie haben die zerbombten Städte von Dresden usw. erlebt. Sie haben das Grausame erlebt dieses Krieges, und das ist eine andere Dimension als es beispielsweise jetzt ein Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan ausmacht. Deshalb halte ich von dieser Diskussion überhaupt nichts, sie erschwert eher die öffentliche Auseinandersetzung.“ (zit. n. Krause 2011, S. 235)

Während die Bilder der beiden Weltkriege immer noch sehr präsent sind in den kollektiven Vorstellungswelten des Globalen Nordens, hat sich eine differenzierte Bilderwelt über neue Formen der Kriegführung oder über die ‚hybride‘ Rolle von SoldatInnen in Friedenseinsätzen noch nicht entwickelt (Daxner 2012, S. 38–51). (3) Schließlich würde die Nutzung des Kriegsbegriffs auch mit dem Selbstbild einer „Zivilmacht Deutschland“ in Widerspruch geraten. Zwar dehnte die Bundesregierung (mit der Zustimmung des Bundestags) das militärische Engagement seit den 1990er Jahre immer weiter aus, was von KritikerInnen auch als Abkehr von der „Zivilmacht“ bzw. als „Militarisierung“ der Außenpolitik interpretiert wird (Dörfler-Dierken 2010, 2012).6 Dennoch gilt die Mehrheit der deutschen Bevölkerung als vergleichsweise zurückhaltend, wenn es um die Bereitschaft zur größeren internationalen Verantwortungsübernahme geht – die nach dem Willen eines Großteils 6 Es sei hier jedoch betont, dass das rollentheoretische Konzept der „Zivilmacht“ keine „pazifistische“ Macht bezeichnet, siehe Maull (2000, S. 69, 75).

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der politischen Elite ausdrücklich auch militärische Mittel einschließen kann. In dieser Lesart vermeidet die politische Führung quasi aus Rücksichtnahme auf mehrheitlich „zurückhaltende“ Einstellungen in der Bevölkerung allzu drastisches Vokabular – auf die Wählerstimmen ist man schließlich angewiesen. Betrachtet man allerdings die Folgen der „Kunduz-Affäre“ für die Regierung, sind Zweifel an dieser Lesart durchaus angebracht: Die intensive Debatte über den Luftangriff von Kunduz, der rund drei Wochen vor der Bundestagswahl 2009 stattfand, hatte weder spürbare Folgen für das Wahlergebnis noch wurden die Bundeswehr-SoldatInnen aus Afghanistan abgezogen. Die Bundesregierung, die als besonders sensibel hinsichtlich der Einstellungen der WählerInnen gegenüber Militäreinsätzen dargestellt wird (Naumann 2010, S. 19), setzte den Afghanistan-Einsatz – mit Zustimmung des Bundestags – fort, obwohl die Zustimmungsraten der Bevölkerung laut Umfragedaten seit 2008 gefallen waren. Seit 2010 lehnte gar eine Mehrheit den Einsatz ab (Fiebig 2012, S. 188, 197–198). Eine deutliche kritischere Lesart des „Vermeidungsdiskurses“ attestiert der politischen Führung einen eklatanten Mangel an strategischem Denken und der Bevölkerung eine problematische Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Armee und deren Einsätzen (Naumann 2010). Nicht über „Krieg“ zu sprechen erscheint in dieser Deutung eher als Manifestation von Selbstbetrug, Illusionen und der Unfähigkeit der politischen Elite (Chauvistré 2009). Eine wiederum anders gelagerte Interpretation lautet schließlich, dass es Deutschland an pluralistischen deliberativen Formen der Sicherheitskommunikation mangele, die weitere Möglichkeiten für politischen Streit und öffentliche Kontroversen über die Kontingenz und Komplexität moderner Sicherheitspolitik fördern könnten (Jacobi et al. 2011). Dieser Aspekt wird im folgenden Kapitel aufgegriffen.

4

Die BundesbürgerInnen als Erziehungsobjekt oder als DialogpartnerInnen?

4.1

„Top-down“: strategische Kommunikation zur Erziehung der Bürgerschaft?

Durch die bisherige Darstellung der sicherheitspolitischen Debattenkultur kann leicht der Eindruck entstehen, dass die deutsche Bevölkerung ein „Defizit“ habe. Interessanterweise unterbleibt hier aber ein Verweis auf eine valide Vergleichsgruppe. Verglichen mit wem? Welche Bevölkerung anderswo könnte hier Vorbild

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sein – und für was genau? Die Defizitdiagnose besagt, dass die Deutschen im Hinblick auf internationale Verpflichtungen mehrheitlich zu „zurückhaltend“ bzw. verantwortungsscheu seien, oder dass sie desinteressiert bzw. geradezu gleichgültig seien gegenüber ihrer Armee und den Militäreinsätzen. Dies alles hat aber den Bundestag offenbar nicht daran gehindert, bereits sehr häufig über Mandate für Auslandseinsätze zu entscheiden. „Übrigens hat der Deutsche Bundestag seit 1994 ungefähr 240 Mal über Mandate für Auslandseinsätze der Bundeswehr beraten, und zwar in einer Weise, die durchaus Respekt gebietet. Allerdings hat das Parlament im selben Zeitraum weniger als zehn Mal grundsätzlich über deutsche Außen- und Sicherheitspolitik debattiert. Dabei brauchen wir solche Debatten – im Bundestag wie übrigens überall: in Kirchen und Gewerkschaften, bei der Bundeswehr, in den Parteien, in den Verbänden. Denn Außenpolitik soll doch nicht eine Sache von Experten oder Eliten sein – und Sicherheitspolitik schon gar nicht. Das Nachdenken über Existenzfragen gehört in die Mitte der Gesellschaft. Was alle angeht, das soll von allen beraten werden.“ (Gauck 2014)

Bundespräsident Gauck wies in seiner viel zitierten und viel kritisierten Eröffnungsrede zur Münchner Sicherheitskonferenz 2014 auf ein Demokratiedefizit hin: erneut wird hier eine breite gesellschaftliche Debatte gefordert, die auch den Elitediskursen eine größere Legitimität verleihen könnte. In ähnlicher Weise begründete Außenminister Steinmeier 2014 die Durchführung von Öffentlichkeitsbeteiligungsformaten im Rahmen des sog. „Review“-Prozesses des Auswärtigen Amtes. Außenpolitik, traditionell Entscheidungssache von exklusiven Zirkeln in Berlin und Brüssel, sollte nun im „Herzen der Gesellschaft“ ausgehandelt werden (Geis und Pfeifer 2017, S. 227–232). Die Mahnungen der politischen Exekutive, Deutschland brauche eine auch von der breiten Bevölkerung mitgetragene Debatte über Außen- und Sicherheitspolitik, sind bei näherer Betrachtung auch mit der klaren Erwartung verbunden, die Bürgerschaft möge die von politischen Eliten vorgetragene Position, Deutschland müsse international mehr Verantwortung übernehmen, so auch für sich übernehmen. Ergebnisoffen ist diese Debatte nicht. Kritische BeobachterInnen der Beteiligungsformate des Auswärtigen Amts und des Verteidigungsministeriums im Kontext der jüngsten Weißbuch-Erarbeitung und des neuen Traditionserlasses sprechen hier von „Erziehungskampagnen“ bzw. „Partizipationsinszenierung“.7

7 Siehe z. B. Jacobi und Hellmann (2018, S. 3); verschiedene Beiträge auf http://www. weissbuch.org/ (initiiert vom „Arbeitskreis Darmstädter Signal“) und Stoltenow (2017). Breuer und Schwarz (2016, S. 85) weisen den Vorwurf einer „Erziehungskampagne“ zurück.

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Nach dem Zweiten Weltkrieg sollten die Re-education-Programme der Westalliierten die Deutschen in ihren Besatzungszonen zu friedlichen DemokratInnen erziehen – in der heutigen Zeit konsolidierter Demokratie von „Erziehung“ in außen- und sicherheitspolitischen Belangen zu sprechen, wirkt mehr als irritierend. Wozu genau sollen die Deutschen heute erzogen werden? Haben sie ihre „Lektionen“ zu gut gelernt und wirken inzwischen als pazifistisch versponnene Bremser im immer turbulenter werdenden Weltgeschehen? Meines Erachtens sind solche Kollektivurteile über „die Deutschen“ fehl geleitet. Ob man sie gar mit „Tabubrüchen“ wie der von einigen (wenigen) vorgebrachten Überlegung, Deutschland solle eigene Nuklearwaffen besitzen, tatsächlich wachrütteln und sie von „Gedankentabus“ befreien müsse8, widerspricht einer demokratietheoretischen Konzeption der BürgerInnen als mündigen Subjekten, befähigt zur Deliberation. Das Idealbild demokratischer Deliberation setzt auf die Prüfung von „guten“ Gründen, Argumenten und Rechtfertigungen, die sich ergebnisoffen vollzieht. „In a deliberative forum, each is accountable to all. Citizens and officials try to justify their decisions to all those who are bound by them and some of those who are affected by them. This is the implication of the reason-giving process of deliberative democracy“ (Gutmann und Thompson 1996, S. 128).

4.2

„Bottom-up“: Gründe für mehr Einbindung von BürgerInnen

Eine „große“ sicherheitspolitische Debatte, wie sie so oft angemahnt wird in Deutschland, wäre vielleicht wünschenswert, aber sie wird auch immer unwahrscheinlicher angesichts des anhaltenden Strukturwandels demokratischer Öffentlichkeiten in Zeiten von Digitalisierung und Vervielfältigung öffentlicher Foren und Arenen (siehe den Beitrag von Jacobi in diesem Band). Auch schon vor der rasanten Entwicklung der Digitalisierung ließ sich eine starke Ausdifferenzierung von Akteuren, Foren und Arenen beobachten, die alle zusammen ebenfalls Bestandteil „der Öffentlichkeit“ sind, jedoch ihrerseits spezifischere Fachöffentlichkeiten oder Teilöffentlichkeiten bilden. Gerade die sicherheitspolitische Debatte in Deutschland wird oft als wenig öffentlichkeitswirksam beschrieben, da sie vor allem zwischen einer begrenzten Zahl von ExpertInnen stattfinde und

8 Siehe die kritische Einordnung der Debattenbeiträge zu nuklearer Abschreckung und der „nuclear education“ der Deutschen in Zeiten unsicherer Bündnispartnerschaften und neuer Bedrohungen bei Volpe und Kühn (2017).

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die Medien ihre Aufmerksamkeit eher punktuell auf Skandale, etwa im Militär, oder auf Gewaltereignisse wie Terroranschläge richte. Eine Möglichkeit, mehr „Öffentlichkeit“ zu schaffen in der Außen- und Sicherheitspolitik, läge daher in Formaten von Bürgerbeteiligung bzw. Dialogforen. Es gibt eine Reihe von Gründen, die dafür sprechen. Im Folgenden sollen drei näher erläutert werden: (1) breitere Legitimation, (2) „Resilienz“-Visionen sowie (3) die Vergrößerung von Wissen innerhalb der Bürgerschaft. (1) Dass Außen- und Verteidigungsministerium im traditionell stark von der Exeku­tive geprägten Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik nunmehr auf mehr Beteiligung setzen wollen, kann als Zeichen einer erhöhten Legitimationsbedürftigkeit von Politik allgemein interpretiert werden. In Wissenschaft und Praxis wird seit langem diskutiert, wie man die tradierten Formen der repräsentativen Demokratie ‚modernisieren‘ kann, um soziokulturellen Wandlungsprozessen in den Gesellschaften Rechnung zu tragen. Zahlreiche BürgerInnen haben durchaus Interesse an mehr Partizipation in politischen Belangen. Experimente mit „demokratischen Innovationen“ sollen hier entsprechende (informelle) Foren bieten, werfen aber auch oft wiederum Fragen ihrer Legitimität und Effektivität auf, z. B. ob sie ihrerseits neue Formen von Exklusion schaffen, und wie sie an die Institutionen der repräsentativen Demokratie zurückgebunden werden können (Merkel 2015). In vielen innenpolitischen Feldern wird mit solchen Formaten experimentiert; in der Außen- und Sicherheitspolitik sind sie noch eher selten. (2) Für Sicherheit zu sorgen gehört seit jeher zu den Kernaufgaben von Staaten. Die immer weiter greifende Ausdehnung des Sicherheitsbegriffs über die letzten drei Jahrzehnte und das Phänomen von Versicherheitlichung immer weiterer Politikfelder können zu einer Überlastung von Staatsapparaten sowie zu einer Entliberalisierung der Gesellschaften führen. „Sicherheit ist der zentrale Wertbegriff unserer Gesellschaft. Das war nicht immer so“ (Daase 2010, S. 9). Obwohl die physischen Risiken für BürgerInnen der EU derzeit relativ niedrig sind, werden in Umfragen gleichzeitig sehr hohe Werte bei Angst- und Bedrohungsgefühlen der BürgerInnen gemessen (Kinnvall et al. 2018, S. 249). Was vielen dieser BürgerInnen sicherlich nicht bewusst ist, da sie die Sicherheitserwartungen exklusiv an den Staat richten: Sie selbst sollen nunmehr für ihre Sicherheit in die Verantwortung genommen werden. Der Schlüsselbegriff dafür ist in anderen Bereichen weit länger schon bekannt, aber erst jüngst in die internationale Sicherheitspolitik importiert worden: „Resilienz“. Die 2016 veröffentlichte Global Strategy der EU rekurrierte rund 40mal auf den Begriff der „resilience“ (Wagner und Anholt 2016, S. 414). Auch in die Weißbücher

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verschiedener westlicher Demokratien hat das neue Modewort Einzug gehalten. Das jüngste Weißbuch Deutschlands ordnet der „Resilienz“ ebenfalls eine wichtige Bedeutung zu, die öffentlich kaum diskutiert wurde: „Für die gesamtstaatliche Sicherheitsvorsorge ist die Stärkung von Resilienz und Robustheit unseres Landes gegenüber aktuellen und zukünftigen Gefährdungen von besonderer Bedeutung. Dabei gilt es, die Zusammenarbeit zwischen staatlichen Organen, Bürgerinnen und Bürgern sowie privaten Betreibern kritischer Infrastruktur, aber auch den Medien und Netzbetreibern zu intensivieren. Das Miteinander aller in der gemeinsamen Sicherheitsvorsorge muss selbstverständlich sein.“ (BMVg 2016, S. 48) „Neben einem wirkungsvollen Beitrag zur Abschreckung strebt Resilienz auch den Ausbau der Widerstands- und Adaptionsfähigkeit von Staat und Gesellschaft gegenüber Störungen, etwa durch Umweltkatastrophen, schwerwiegende Systemfehler und gezielte Angriffe, an. Ziel ist es, Schadensereignisse absorbieren zu können, ohne dass die Funktionsfähigkeit von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig beeinträchtigt wird. Der Ausbau der Gesamtresilienz ist dabei das Produkt der fortschreitenden Resilienzbildung in den genannten Bereichen.“ (BMVg 2016, S. 49)

Bislang dürfte auch nur wenigen BundesbürgerInnen bewusst sein, dass ihnen das Weißbuch eine Rolle in der gemeinsamen Sicherheitsvorsorge zuweist. Was dies genauer bedeuten soll, da der Resilienzbegriff auch auf das Alltagsleben abzielt, sollte auch mit den BürgerInnen selbst erörtert werden, deren Widerstandsfähigkeit gegenüber Risiken und künftigen Krisen verbessert werden soll. Schließlich führt der Begriff 9 zu diversen Paradoxien in der Praxis, wie Ulrich Bröckling (2017) pointiert formuliert: „ (…) vorbereitet zu sein auf etwas, auf das man sich nicht vorbereiten kann. Politisch folgt daraus eine gegenläufige Doppelstrategie, die auf der einen Seite dramatische Gefährdungsszenarien an die Wand malt und Sicherungssysteme ausbaut, auf der anderen vor Panikmache warnt und die stoische Tugend ‚heroischer Gelassenheit‘ (…) anmahnt. Auf der psychologischen Ebene entspricht dem eine nicht minder gegenläufige Haltung, die gesteigerte Aufmerksamkeit mit besonnenem Gleichmut verbindet.“

9

„Resilienz dient als übergreifende Chiffre für einen Umgang mit Risiken, Gefährdungslagen und unkalkulierbaren Ereignissen disruptiven Wandels, der weniger auf vorbeugende Verhinderung ihres Eintretens als auf die Befähigung abzielt, sich auf sie einzustellen und ihre Auswirkungen zu bewältigen“ (Bröckling 2017). Der „neoliberal“ konnotierte Begriff der „Resilienz“ ist in der Sicherheitspolitik ausgesprochen problematisch. Eine Begriffskritik würde den Rahmen des Beitrags sprengen, siehe hierzu Wagner und Anholt (2016) sowie Bröckling (2017).

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Eine kontinuierlichere Debatte mit BürgerInnen dürfte angesichts der verwirrenden Anforderungen an eine resiliente Gesellschaft wichtig sein. (3) Die Bundeswehr ist seit der Wiedervereinigung allmählich von einer Landesverteidigungsarmee zu einer „Armee im Einsatz“ umstrukturiert worden. Größere öffentliche Erregung über diesen bedeutsamen Politikwandel war nicht zu verzeichnen. So hatte auch Bundespräsident Horst Köhler 2005 in einer bemerkenswerten Rede zum 50-jährigen Bestehen der Bundeswehr das „freundliche Desinteresse“ der BundesbürgerInnen gegenüber ihren Streitkräften beklagt. Er forderte seinerzeit eine breite gesellschaftliche Debatte über die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutschlands insgesamt. „Der Deutsche Bundestag stimmt mehr als vierzig Mal dem Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland zu; aber die Deutschen wirken von all dem kaum berührt oder gar beeindruckt“ (Köhler, zit. n. Geis 2007, S. 39). Keine zehn Jahre später, 2014, zählte Bundespräsident Gauck (2014) bereits ungefähr 240 Mandatsdebatten zu Auslandseinsätzen im Bundestag. Wirkt die deutsche Gesellschaft heute von all dem „berührt oder gar beeindruckt“? Es sieht nicht so aus. Was wissen einzelne BürgerInnen über den Afghanistan-Einsatz unter ISAF-Mandat, was wissen sie über die zahlenmäßig starke Nachfolge-Mission „Resolute Support“? Was über den Mali-Einsatz und seine Ziele? Besitzt die „Anti-Daesh-Koalition“ ein völkerrechtliches Mandat? Was geschieht dort? Nach ihrem eigenen Bekunden in Umfragen wissen die befragten BürgerInnen relativ wenig über die Einsätze, äußern aber dennoch eine Meinung, ob sie einen Einsatz unterstützen oder nicht (Biehl et al. 2015, S. 80–88). Sicherheitspolitische Umfragen fördern zudem seit den 1990er Jahren regelmäßig das Ergebnis zutage, dass BürgerInnen Auslandseinsätze mehrheitlich unterstützen, sofern diese als „humanitär“ dargestellt werden (große Unterstützung erfahren z. B. Nothilfeeinsätze bei Katastrophen oder jüngst auch die Seenotrettung im Mittelmeer) – dass Zustimmungsraten aber massiv fallen, wenn eine Mission Kampfhandlungen zu beinhalten scheint (Jacobi et al. 2011, S. 177–179; Fiebig 2012). Dieses Meinungsmuster in Umfragen deckt sich mit der in der Politik zunehmend problematisierten Diagnose, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung Kampfeinsätze der Bundeswehr mit großem Unbehagen wahrnimmt bzw. eher ablehnt. Durch dieses Element der deutschen strategischen Kultur entstehen für die politische Führung umgekehrt Anreize, strategische Narrative zu etablieren, die den „militärischen“ Charakter eines Einsatzes herunterspielen oder gar verschleiern (Noetzel 2010, S. 496–498; Hilpert 2014, S. 109). Während Verteidigungsminister de Maizière Ende 2011 behauptete (s. o.), der Afghanistan-Einsatz habe die Bundeswehr und die deutsche Gesellschaft einschnei-

Warten auf die große sicherheitspolitische Debatte in Deutschland?

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dend verändert, lässt sich dies kaum erkennen. Im Gegenteil, in militärsoziologischen Studien wird es als Problem behandelt, dass sich in der deutschen Gesellschaft eine wachsende Distanz zwischen der Bevölkerung und den Soldatinnen entwickelt habe, die nicht nur auf die Aussetzung der Wehrpflicht zurückzuführen ist. Wie oben beschrieben, hat die Debatte über den (Nicht-)Kriegscharakter des Bundeswehr-Einsatzes in Afghanistan auch deutlich gemacht, dass sich viele SoldatInnen von „ihrer“ Bevölkerung unverstanden fühlen und sich insgesamt mehr Anerkennung wünschen für ihren Dienst im Ausland, der durch den Bundestag mandatiert wurde. Auch der Umgang der deutschen Politik und der Gesellschaft mit „Veteranen“10 der Bundeswehr, insbesondere mit HeimkehrerInnen aus dem Afghanistan-Einsatz, wird in Fachkreisen intensiver diskutiert, bleibt jedoch in der breiteren Bevölkerung ohne größere Resonanz (Daxner 2016; Weber 2017). Selbst das Weißbuch 2016 widmet dem Bereich ‚Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft‘ lediglich zwei knappe Seiten, obgleich dieser Aspekt für die Legitimation der Bundeswehreinsätze und der Sicherheitspolitik besonders wichtig ist. Eine umfassende transparente und kritische Bilanz der Auslandseinsätze, wie sie von einigen PolitikerInnen und VertreterInnen der Friedens- und Konfliktforschung und der Zivilgesellschaft immer wieder gefordert wurde, könnte das gesellschaftliche Wissen, das Bewusstsein und die Selbstaufklärung darüber fördern, was „wir“ eigentlich in all diesen Einsätzen tun – was mit welchen zivilen und militärischen Mitteln erreicht werden kann und was nicht. Da die Einsätze in der Regel multilateral sind, dürfte dies bei Partnerstaaten auf Vorbehalte stoßen, jedoch sollten gerade demokratische Staaten, die immer wieder in Krisen und Konflikten militärisch intervenieren, eine offene kritische Bilanz nicht scheuen.

10 Für eine ausführliche Problematisierung des „Veteranen“-Begriffs im Kontext der Bundeswehr sowie für eine Analyse des Ausbleibens einer „Veteranenpolitik“ in Deutschland siehe Weber (2017). Verteidigungsminister de Maizière kündigte 2012 ein Konzept für eine „Veteranenpolitik“ an, um ihre materielle Situation und auch ihre immaterielle Anerkennung zu fördern. Dieser Plan wurde von seiner Nachfolgerin, Ursula von der Leyen, nicht weiter verfolgt. Auch wenn (männliche) „Kriegsheimkehrer“ in einer beachtlichen Reihe von TV-Spielfilmen inzwischen eine Rolle spielen (in der Regel eine sehr problematische), blieb die „große“ Debatte auch hierzu aus. Allerdings hat der Film „Willkommen zuhause“ (2008) über einen traumatisierten „Heimkehrer“ aus Afghanistan größere Aufmerksamkeit erlangt (Engelkamp und Offermann 2012).

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Zum Schluss

Es gäbe viele Anlässe, „große“ sicherheitspolitische Debatten zu führen: Bilanz der Militäreinsätze, Resilienz, Rückwirkungen der Militäreinsätze auf die deutsche Gesellschaft, Anschaffung von sog. „Kampfdrohnen“, Privatisierung der Sicherheit, mangelnde Abwehrbereitschaft der Bundeswehr11 sind nur einige der Themen. In Fachzirkeln werden sie diskutiert, in der breiteren Öffentlichkeit nicht. Anstatt der Illusion einer großen sicherheitspolitischen Debatte anzuhängen, die womöglich auch noch konsensorientiert ablaufen sollte, ist viel mehr über kleine dezentralisierte Formate der Dialoge und der Beteiligung von Bürgerinnen nachzudenken, um solche Fragen und andere zu erörtern. Einen Konsens wird es nicht geben können.

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Der Spiegel. 2010. Ein deutsches Verbrechen. DER SPIEGEL 5 Deutscher Bundestag. 2011. Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses als 1. Untersuchungsausschuss gemäß Artikel 45a Absatz 2 des Grundgesetzes. Drucksache 17/7400. Bundestag. http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/074/1707400. pdf. Zugegriffen: 30.08.2018. Dörfler-Dierken, A. 2010. Identitätspolitik der Bundeswehr. In Identität, Selbstverständnis, Berufsbild, Hrsg. A. Dörfler-Dierken, und G. Kümmel, 137–160. Wiesbaden: VS Verlag. Dörfler-Dierken, A. 2012. Von ‚Krieg‘ und ‚Frieden‘: Zur Wahrnehmung des Afghanistaneinsatzes bei Soldatinnen und Soldaten, Politik und Kirchen. In Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, Hrsg. A. Seiffert, P. Langer, und C. Pietsch, 223–237. Wiesbaden: VS. Engelkamp, S. und Offermann, P. 2012. It’s a Family Affair. Germany as a Responsible Actor in Popular Culture Discourse. International Studies Perspectives 3:235–253. Fiebig, R. 2012. Die Deutschen und ihr Einsatz – Einstellungen der Bevölkerung zum ISAF-Einsatz. In Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, Hrsg. A. Seiffert, P. Langer, und C. Pietsch, 187–204. Wiesbaden: VS. Gauck, J. 2014. Deutschlands Rolle in der Welt. Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnissen. Eröffnung der 50. Münchner Sicherheitskonferenz. Bundespräsidialamt. http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/ Reden/2014/01/140131-Muenchner-Sicherheitskonferenz.html. Zugegriffen: 30.08.2018. Geis, A. 2007. Der Funktions- und Legitimationswandel der Bundeswehr und das „freundliche Desinteresse“ der Bundesbürger. In Friedensgutachten 2007, Hrsg. B. Schoch, A. Heinemann-Grüder, J. Hippler, M. Weingardt, und R. Mutz, 39–50. Münster: Lit Verlag. Geis, A., & Pfeifer, H. 2017. Deutsche Verantwortung in der „Mitte der Gesellschaft“ aushandeln? Über Politisierung und Entpolitisierung der deutschen Außenpolitik. In Politik und Verantwortung, Hrsg. C. Daase, J. Junk, S. Kroll, & V. Rauer, 219–244. Baden-Baden: Nomos. Gutmann, A., & Thompson, D. 1996. Democracy and Disagreement. Cambridge: Harvard University Press. Heck, A. 2017. Analyzing Docudramas in International Relations: Narratives in the Film A Murderous Decision. International Studies Perspectives 4:365–390. Hellmann, G., Jacobi, D., und Stark Urrestarazu, U. (Hrsg.). 2015. „Früher, entschiedener und substantieller“? Die neue Debatte über Deutschlands Außenpolitik. Wiesbaden: Springer VS. Hilpert, C. 2014. Strategic Cultural Change and the Challenge for Security Policy: Germany and the Bundeswehr’s Deployment to Afghanistan. London: Palgrave Macmillan. Jäger, T. 2018. Deutschland ist nicht „abwehrbereit“: Die sechs Kardinalprobleme der Bundeswehr. Focus, 26.08.2018. Jacobi, D., Hellmann, G., und Nieke, S. 2011. Deutschlands Verteidigung am Hindukusch. Ein Fall misslingender Sicherheitskommunikation. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 1:171-196. Jacobi, D., und Hellmann, G. 2018. Zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit. Herausforderungen sicherheitspolitischer Strategiebildung im 21. Jahrhundert. Berlin: BAKS-Diskussionspapier. Kinnvall, C, Manners, I., und Mitzen, J. 2018. Introduction to 2018 special issue of European Security: “Ontological (in)security in the European Union”. European Security 3:249-265.

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Warten auf die große sicherheitspolitische Debatte in Deutschland?

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Die Öffentlichkeit der Sicherheit und die Sicherheit der Öffentlichkeit Daniel Jacobi

Zusammenfassung

Der Beitrag hinterfragt, warum die inzwischen angelaufenen Bemühungen um eine bessere Sicherheitskommunikation mit den Bürgern diese nicht erreichen. Er stellt die These auf, dass das vorherrschende Verständnis von Öffentlichkeit unter einem zu großen normativen Erwartungsdruck steht. Über eine historische Herleitung des Konzepts legt er dar, wie dies geschehen konnte und zeigt im Anschluss auf, dass ein Blick auf die Sozialstruktur moderner Gesellschaften zur Umschrift eines sicherheitspolitisch- und strategisch produktiveren Öffentlichkeitsverständnisses beitragen kann. Schlüsselbegriffe

Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, Sicherheitsstrategie, Sicherheitskommunikation, Demokratie, politische Kommunikation

1

Die Evolution deutscher Sicherheitskultur

Die Veröffentlichung des Weißbuchs 2016 lässt sich in der Tat auf produktive Weise als weiterer Meilenstein einer vernehmbar in ‚Bewegung‘ geratenen deutschen Sicherheitskultur1 interpretieren. Auch die zahllosen Texte und Kommentare, die 1

Als Reflexionsbegriff bezeichnet ‚Sicherheitskultur‘ im Folgenden jene Formen, in denen darüber kommuniziert wird, was, wann und für wen, als Sicherheitsproblem beobachtet

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Jacobi und G. Hellmann (Hrsg.), Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Edition ZfAS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6_15

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Daniel Jacobi

insbesondere seit der ‚Rückkehr des Militärischen‘ in die deutsche Sicherheitspolitik gefertigt wurden, legen dies – egal ob positiv oder negativ konnotiert – in eindrücklicher Weise nahe. Folgt man einer der zentralen Grundannahmen dieser Einwürfe, so bildet eine – wiederum wahlweise als ‚Chance‘ oder ‚Endspiel‘ begriffene – „aus den Fugen geratene Welt“ (Bundesakademie für Sicherheitspolitik 2015) die Hintergrundfolie, vor der diese Veränderungsprozesse der deutschen Sicherheitskultur gedacht werden. Die Vermessung jener ‚Bewegung‘ gerät besonders klar, wenn man beobachtet, dass sich diese sicherheitskulturell vor allem in Sinne einer ‚Aufmerksamkeitsverschiebung‘ innerhalb deren Referenzdimensionen vollzieht: War vormals vor allem ein starker Fokus auf die Sachdimension der Sicherheit auszumachen („Was bedroht uns?“) – also die eindeutige Benennung der ebenso ‚clear and present dangers‘ – so rückt nun, zum einen, vor allem die zeitliche Dimension („Wann wird etwas zur Gefahr bzw. muss entschieden werden?“) in den Fokus. Eine Verschiebung, die insbesondere im Risikodiskurs ihren Niederschlag findet. Zum anderen gewinnt aber auch die soziale und damit gesellschaftliche Dimension deutlicher an Gewicht („Wer sagt das?“). Letztere findet ihren Widerhall vor allem in Debatten über die Legitimität sicherheitspolitischer Entscheidungen, zumeist gedacht im Sinne von Verfahren der aktiven Teilhabe sowie der Einforderung von Rechtfertigungsnarrativen. Während sich diese drei Dimensionen selbstredend nur in (wissenschaftlichen) Beobachtungen – wie der vorliegenden – konzeptionell auseinander deklinieren bzw. ‚auf Abstand‘ bringen lassen (müssen), soll es im Folgenden dennoch vor allem um diese letzte, die gesellschaftliche Dimension der deutschen Sicherheitskultur gehen. Denn einer sicherheitspolitischen Analyse, die sich aus der Perspektive einer Sozialwissenschaft entfaltet, fällt im Verhältnis von aktuellem Weißbuchprozess und möglicher Transformation deutscher Sicherheitskultur vor allem ein Ankerbegriff auf, der mit dieser sicherheitskulturellen Evolution zunehmend in den Vordergrund rückt: ‚die Öffentlichkeit‘.2 Um es gleich vorweg zu nehmen: Die zentrale These des vorliegenden Textes lautet, dass die Öffentlichkeit, trotz ihrer zunehmenden Strahlkraft in sicherheitsund wie an diese Beobachtungen angeschlossen, d. h. sicherheitspolitisch entschieden werden soll. 2 Im Nachfolgenden müsste – aus weiter unten dargelegten Gründen – ‚die Öffentlichkeit‘ eigentlich stets in dieser apostrophierten und kursiven Form geschrieben werden. Darauf wird im Sinne der Lesbarkeit verzichtet. Der dahinter liegende Gedanken, das Konzept nicht als fraglos gesetzt, sondern eher als in seiner Bedeutung immer erst zu hinterfragendes zu begreifen, wird aber weiterhin – sozusagen in dessen ‚Index‘ – jeweils mitgeführt.

Die Öffentlichkeit der Sicherheit und die Sicherheit der Öffentlichkeit

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politischen Kontexten, gleichzeitig einen ihrer ebenso prominentesten blinden Flecken abbildet. Dies bedeutet, dass nicht unbeträchtliche Aspekte der hiesigen Kommunikation über Sicherheitsfragen im Rahmen eines (Vor-)Verständnisses von Öffentlichkeit laufen, das in keiner Weise begrifflich gedeckt ist. Dem Austausch über sicherheitspolitische Probleme bietet sich mit der Öffentlichkeit inzwischen einerseits ein prominenter Attraktor, mithilfe dessen äußerst produktiv über diese Herausforderungen kommuniziert werden kann. Gleichzeitig erfüllt Öffentlichkeit diese Funktion aber auch nur, weil sie sich konzeptionell durch eine große Bandbreite historisch sedimentierter, jedoch nicht weiter explizierter Vorverständnisse auszeichnet. Diese zeitigen dennoch Folgen für die Beschreibung von und den weiteren Umgang mit Sicherheitsproblemen und deren möglichen Lösungen. Folgt man der Injunktion, das in der deutschen Sicherheitskommunikation3 vorherrschende Öffentlichkeitsverständnis zu hinterfragen, so lassen sich einige, für deren kulturelle Eigenheiten weitreichende, aber (gerade deshalb) äußerst relevante Fragen ableiten: „Mit welchem (politischen) Bedeutungsspektrum ist der Begriff der Öffentlichkeit hinterlegt?“, „Warum stellt dieses ggf. ein Hindernis für einen reflexiveren (politischen) Austausch dar?“ und schließlich „Wie – wenn überhaupt – lässt sich mit dieser (politischen) Form weiter verfahren?“ Dieser Text unterbreitet einige mögliche Antworten auf diese Fragen nachdem er (2) die bereits in der Einleitung dieses Bandes problematisierte Passung von ‚Theorie‘ und ‚Praxis‘ noch einmal stringenter im Bezug auf die Beschäftigung mit sicherheitsstrategischen Fragen entfaltet hat. Daraufhin beantwortet er (3) aus historischer Perspektive, wie der Begriff der Öffentlichkeit in westlichen Gesellschaften seine heutige, zumeist besagt implizite Bedeutung erlangt hat. Anschließend zeigt er (4) die über dieses Verständnis eingeführten Hindernisse für einen reflexiveren sicherheitspolitischen Austausch auf. Will man das dem Öffentlichkeitsbegriff unterstellte Problemlösungspotential für die demokratischen Herausforderungen der Sicherheitskommunikation dennoch nicht aufgeben, dann ist (5) ein umfassenderes Verständnis der erwähnten, ebenfalls eher schlagwortartigen, kognitiven Hintergrundfolie einer „aus den Fugen geratene Welt“ unumgänglich. Denn erst die Neubetrachtung dieser Zeitdiagnose erlaubt (6) eine Umschrift des Öffentlichkeitsbegriffs, der dem Wunsch nach einer stärkeren Resonanz in den Dimensionen sicherheitspolitischer Legitimation und Anschlussfähigkeit strukturierter nachkommen kann. Als Abschluss bezieht der Text dann (7) diese Umschrift noch einmal direkter auf die Herausforderungen heutiger Strategiebildung und markiert den sich für weitere Debatten aufspannenden Möglichkeitshorizont demokratischer Sicherheitskommunikation. 3 Zum Begriff der Sicherheitskommunikation siehe einführend Jacobi et al. 2011.

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Theorie und Praxis Revisited4

Wenn die in der Einleitung zu diesem Band eingeführten „Sicherheitsakteure“ und „Sicherheitsbeobachter“ (Jacobi/ Hellmann 2018, S. 5ff.) aufeinander treffen, garantiert dies einen oft nicht immer reibungsfreien Austausch. Während das grundsätzlich nicht unproduktiv sein muss, sind diese Debatten aber auch allzu oft durch wenig hilfreiche, gegenseitige Reduktionen gekennzeichnet, die den Weg zu noch produktiveren Anschlüssen verbauen. Die eingangs genannte, diese Debatten deutlich rahmende Unterscheidung von ‚Theorie und Praxis‘ ist fraglos einer der Hauptgründe für dieses Defizit. Daher soll hierauf noch einmal kurz eingegangen werden, um deutlicher herauszuarbeiten, dass der hier angebotene Dialog insbesondere zu der Forderung spricht, dass „in einer Zeit, in der sich die internationale Ordnung tiefgreifend verändert […] unverbrauchte Ideen notwendiger denn je [sind]!“ (Breuer/ Schwarz 2016, S. 85). Denn es sind gerade Fragen wie die oben aufgeworfenen, die eindeutig auf latente Dimensionen gesellschaftlich-politischer Prozesse abzielen, deren wissenschaftliche Beantwortung nicht selten mit der Attitüde des Besserwissens daher kommt. Einem Spiel von „Ich sehe was, was Du nicht siehst!“ Den nachfolgenden Bemühungen liegt nichts ferner als eine unreflektierte Lesart dieser Beobachtungsform. Zwar kann man der Politik sicherlich ein, in aller Regel an die Dauer der jeweiligen Legislaturperioden geknüpftes und damit oft begründetes, ‚Denken in kurzen Zeiträumen‘ unterstellen. Aber auch die wissenschaftlichen Akteure in deren Umwelt sind sich der Pfadabhängigkeit sowie Wirkmächtigkeit der Evolution gesellschaftlicher Selbstbeschreibungs- und damit Kommunikationsformen oft nicht bewusst. Auch könn(t)en gerade diese umfassendere Einsichten in die Grundlagen gesellschaftlich-politischer Selbstverständigung gewinnen, denn sie sind insbesondere in institutionalisierter Form dazu freigestellt, sich solcher Entwicklungen und deren Auswirkungen zu vergewissern. Die Sozialwissenschaften, als eine dieser Sphären, der hierzu die entsprechenden Mittel und Freiräume zur Verfügung gestellt werden, tun sich in den relevanten Teildisziplinen jedoch oft ebenso schwer eine komplexere Debatte über Sicherheitspolitik als ein gesellschaftliches Phänomen zu führen. Insbesondere jene Experten, die sich selbst als für die Betreuung von und entsprechende Beiträge zu der hier

4 ‚Revisited‘, denn der nachfolgende Abschnitt ist nicht nur eine grundlegende, weil als notwendig erachtete Rückbesinnung und Re-Orientierung, sondern er speist sich zudem auch aus Teilen der Einleitung zu diesem Sonderband sowie eine mit der vorliegenden Problematik verknüpften Studie zum Begriff der Gesellschaft im Rahmen außen- und sicherheitspolitischer Kommunikation (siehe Jacobi 2015 sowie Jacobi/ Hellmann 2018).

Die Öffentlichkeit der Sicherheit und die Sicherheit der Öffentlichkeit

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vorliegenden Problematik verantwortlich sehen, zeichnen sich durch ein auffallend lautes Schweigen bezüglich dieser Fragen aus. Denn viele Sozialwissenschaftler arbeiten heute unter der selbstauferlegten Beschränkung, dass ihre Forschungsarbeiten vor allem auf die Generierung ‚empirischen Wissens‘ abzielen, das im Rahmen einer zeitlich begrenzten, projektförmigen Vermessung und ggf. Beantwortung spezifischer Teilprobleme erhoben wird. Dies führt fraglos zu vielen interessanten Einzelbefunden. Eine grundsätzliche, von dem Druck eines ‚finalen Konsens‘ oder gar ‚Wahrheit‘ entlastete Debatte über die Frage, wie die soziale und damit schließlich gesellschaftliche Qualität von Sicherheitspolitik in der Gegenwart (noch) gedacht werden kann, findet jedoch nicht statt. In der Tat ist es oft eher so, dass diese eher zu kurz ausgreift und somit weiter dazu beiträgt, dass „die Charakterisierungen für das Geschehen unserer Zeit immer schriller werden“ (Breuer/ Schwarz 2016, S. 85). Dabei könnte es in der Begegnung von Sicherheitswissenschaften und Sicherheitsstrategie offensichtlich sein, dass sich gerade diese beiden Unternehmungen ein und dasselbe Bezugsproblem teilen: die Herausforderung weltgesellschaftlicher Komplexität. So konzedieren auch die Autoren des aktuellen Weißbuchs, dass es eine „der zentralen Funktionen von Strategien ist es, Komplexität zu reduzieren, um begründete Entscheidungen zu ermöglichen, eine Wahl zu treffen“ (Breuer/Schwarz 2016, S. 86). Komplexität bezeichnet sowohl in diesem Statement, aber auch in dem hier vorliegenden wissenschaftlichen Verständnis den Umstand, dass sich in Referenz auf die sicherheitspolitische Umwelt stets mehr Möglichkeiten von deren Beobachtung anbieten, als deren Beobachter jemals berücksichtigen, realisieren und abarbeiten können (Luhmann 2005a, S. 321). Komplexität muss daher reduziert werden, damit man eine Form der Selbstverortung – sozusagen als ‚Sprungbrett‘ – erhält von dem aus überhaupt erst weitere Entscheidungen getroffen werden können. Aufgrund der besagten, sowohl individuellen, aber auch organisatorischen Verarbeitungslimits folgt die Beobachtung der sicherheitspolitischen Umwelt daher in beiden Feldern stets je spezifischen Selektionsmustern, die nur einige ausgewählte Aspekte erfassen können und andere unberücksichtigt lassen müssen. Zumindest an dieser Stelle werden Politik und Wissenschaft also aus ihrer vermeintlichen Opposition herausgelöst: Beide vollziehen praktisch den Umgang mit Komplexität, indem sie theoretisch eine möglichst produktive Beobachtungsperspektive auf den von Intransparenz ‚kontaminierten‘ Phänomenbereich der Sicherheitspolitik entwerfen. Theorie und Praxis fallen also unter diesen Umständen nicht nur sozusagen ‚in eins‘: Komplexität wird über spezifische Schemata reduziert, um über diese wiederum sicherheitsstrategische oder sicherheitswissenschaftliche Komplexität aufbauen zu können.

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Wer sich in seinen Beobachtungen derart auf der sprichwörtlichen Augen- oder Flughöhe befindet, sollte somit also in der Lage sein voneinander zu lernen. Das grundlegende, gemeinsame Bezugsproblem sollte es ermöglichen, dass Politik und Wissenschaft an- und miteinander lernen können. Was man sich hierbei vor allem gegenseitig aufzeigen kann, sind strukturelle Selbstbeschränkungen. Es geht damit also nicht um eine einseitige besserwisserische Aufklärung, sondern eine gemeinsame dialogische Abklärung von Möglichkeitsräumen im Sinne der kommunikativen Steigerung von Handlungsoptionen. Denn im Sinne des besagten Verhältnisses von weltpolitischer Komplexität und deren notwendigen Reduktion zeigen sich diese strukturellen Selbstbeschränkungen in Form von unreflektiert mitgeführten Prämissen.5 Diese stehen an Schlüsselstellen von Prozessen der Sicherheitskommunikation, reduzieren dort Komplexität auf ein unergiebiges Niveau und verhindern so wiederum, dass sowohl weltpolitische Komplexität umfassender beobachtet wird als auch die ‚unverbrauchte Ideen‘ ihren Weg in die Debatte finden. Folglich blockieren diese Prämissen eine produktivere Beobachtung von Sicherheitsproblemen in deren zahlreichen Dimensionen aufgrund ihrer logischen, inhaltlichen oder anderer blinder Flecken. Dort wo sicherheitspolitische und -strategische Kommunikation auf (die) Öffentlichkeit setzt, muss es also gerade darum gehen, die Grundlagen dieser Prämisse zu verstehen und – sollten hier Verkürzungen aufzuspüren sein – diese zu ersetzen oder so umzubauen, dass sie tatsächlich neue kommunikative Möglichkeitsräume eröffnet. Es geht somit nicht nur um die Beantwortung offensichtlicher Fragen, sondern stets auch um das Hinterfragen des vermeintlich Offensichtlichen.

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Die Genese der Öffentlichkeit

In der hier vorgestellten Konstellation erscheint die sicherheitsstrategische und -kommunikative Prämisse der Öffentlichkeit als ein solches Problem. Denn wie sonst soll man die vielen Klagen deuten, dass sicherheitspolitische und -strategische Prozesse diese Öffentlichkeit noch nicht ausreichend ‚einbinden‘.6 Woher aber stammt die gleichzeitige Sicherheit immer schon bereits zu verstehen, was bezeichnet ist, wenn der Begriff der Öffentlichkeit im Rahmen von Sicherheitskommunikation 5 Man könnte auch von jenen „falschen Voraussetzungen“ sprechen, die Frank-Walter Steinmeier seinerzeit als Außenminister im Rahmen des Review 2014 Prozesses beschrieben hat (Steinmeier 2014). 6 Vergleiche hierzu die Beiträge von Geis und Naumann in diesem Band.

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fällt? Eine Möglichkeit der Beantwortung eröffnet der Blick auf die semantische Evolution des Konzepts.7 Während der Begriff ‚Öffentlichkeit‘ selbst erst im Zuge der Aufklärung auftritt, stützt er sich auf eine semantische Entwicklung, die bereits weiter und zwar bis in die Antike zurückreicht. In der griechischen Antike findet sich mit der Unterscheidung von ‚öffentlich/privat‘ der konzeptionelle Eintrittspunkt des heutigen Konzepts von Öffentlichkeit. Wie zu erwarten, erwächst diese Unterscheidung in Bezug auf die attische Polis. Von ihrer sozialen Struktur her teilte diese sich in zwei Sphären, dem privaten Leben (oikos), das als natürliche Lebensform im eigenen Haushalt verstanden und patriarchalisch organisiert wurde sowie der politischen Lebensform (polis), die in der Gesellschaft öffentlich organisiert wurde. Die Form der Herstellung dieser Öffentlichkeit auf dem Marktplatz (Agora) und damit die Anwesenheit der Gleichen stellt hier ein Urbild direkter Demokratie bereit, das bis heute in Öffentlichkeitsverständnissen mitschwingt. Gleichwohl bleibt einzuschränken, dass die besagte Gleichheit keine soziale war – jene Anwesenden waren allesamt Aristokraten –, sondern lediglich eine auf die Austausch- und Abstimmungsprozesse bezogene. Infolgedessen fielen Öffentlichkeit und Politik auch in eins. Die Öffentlichkeit stand somit vor allem für die (Organisation der) Einheit des politischen Systems und repräsentierte damit nur die wenigen, die es geschafft hatten, sich erst aufgrund ihrer privaten Umstände zur Teilhabe an dieser Form des Austauschs zu qualifizieren. Die so zentrale Unterscheidung von ‚öffentlich/privat‘ findet bis in das Mittelalter in keiner europäischen Sprache eine semantische Entsprechung zu diesem antiken Öffentlichkeitsverständnis als einer organisierten Form des politischen Austauschs. Die Unterscheidung aus der römischen Antike zwischen ‚res publica‘ und ‚res privata‘ bezeichnete vielmehr juristische Verhältnisbegriffe im engeren Sinne. Sie trennte jene Angelegenheiten, die die allgemeinen Interessen der (römischen) Gemeinschaft betrafen von jenen Sonderinteressen, die die einzelnen (römischen) Bürger hatten. Die Öffentlichkeit diente somit noch stärker der Bezeichnung der Einheit des Gemeinwesens, organisierte dieses aber vor allem in einer auf moralische Ansprüche hin geordneten rechtlichen Form. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts stellte es sich in Europa vielmehr so dar, dass der Begriff des Öffentlichen nicht dem des Privaten, sondern dem des Heimlichen oder Geheimen gegenübergestellt wurde. Während zu Beginn noch die Seite der Öffentlichkeit im Sinne des ebensolchen Ausweises der moralischen Redlichkeit einer Person sowie der Nachvollziehbarkeit der Gerichtsbarkeit vorgezogen wurde, 7 Für das nachfolgende siehe insbesondere Hofmann 2010, Hölscher 2010 sowie Kojima 2015.

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verlagerte sich die Betonung mit Beginn der Neuzeit auf die Seite der Geheimhaltung. Sowohl in rechtlichen als auch politischen Dingen galt nun diese als das oberste Prinzip, um etwa die Staatsräson effektiv umsetzen zu können. Jedoch selbst die Kritik an diesem Prinzip politischer Geheimhaltung wurde zu dieser Zeit nicht mit einem Begriff der Öffentlichkeit ausgeübt, sondern wiederum über moralische Prinzipien. Im Gegenteil, sogar die bürgerliche Öffentlichkeit fordert dieses Arkanum für sich ein, das sich dann wiederum in Form der aus Frankreich und England übernommenen Salons oder Klubs ausbildete. Das Prinzip der Offenheit galt somit zuvorderst nach Innen und nicht nach außen, wie etwa gegenüber dem Staat. Ein als umfassender zu bezeichnender Begriff von Öffentlichkeit bildet sich erst im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Erst im Zuge der Französischen Revolution wendet sich das Verständnis derart und erfolgte die Einforderung der freien und offenen Meinungsäußerung. Der Begriff reagierte dabei auch auf die Weiterentwicklung des souveränen Staats sowie der dabei erwachsenen Unterscheidung von ‚Staat und Gesellschaft‘. Über die Zusammenlegung der Begriffe von ‚publicus‘ und ‚Öffentlichkeit‘ koppeln sich nun einst römische Rechtsnormen mit sozial-normativen Verhaltensvorstellungen, die zudem von bestimmten Ständen losgelöst und mit der Idee einer Zivilgesellschaft erfasst werden. In dem Maße in dem politische Willkür im Zuge der Entstehung des Verfassungsstaates eingehegt und somit die besagte Trennung von Staat und Gesellschaft vermittelt werden soll, sichert der Begriff der Öffentlichkeit nun diese Kontrolle. Eine Entwicklung, die sich in der Entstehung neuer Begriffe wie dem ‚öffentlichen Amt‘ oder der ‚öffentlichen Gewalt‘ abzeichnet. Insbesondere entwickelt sich auch der Begriff der ‚öffentlichen Meinung‘. In Deutschland viel später als etwa in England oder Frankreich prominent geworden, weist er über seine Entwicklungsstufen der ‚öffentlichen Kritik‘ oder des ‚öffentlichen Urteils‘ den klaren Anspruch aus, dass diese in allen die Allgemeinheit interessierenden Fragen zu beachten sei. Im Zuge der Aufklärung wird diese Bindung von staatlicher Gewalt an moralische Ansprüche noch ausdrücklicher entfaltet. Über den zentralen Begriff der Vernunft verknüpft insbesondere Immanuel Kant die Unterscheidung von ‚öffentlich/privat‘ auf eine neue und nur scheinbar paradoxe Weise: So gebraucht der Privatmann seine Vernunft ‚öffentlich‘, während der öffentliche Beamte dies ‚privat‘ tut. Dahinter versteckt sich jedoch die bis heute geltende, als vernünftig verstandene Idee des rein sachlichen Vollzugs des staatlichen Gewaltmonopols aufgrund der Zustimmung, die dieses durch das Publikum erhält. Der nun entstehende Begriff des ‚öffentlichen Rechts‘ unterstreicht diese Idee in dem Sinne, dass derartige Rechtsnormen nicht willkürlich sein dürfen, sondern sich stets in Einklang mit dem ‚öffentlichen Gesamtwillen‘ befinden müssen.

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Im 19. Jahrhundert verdichtet sich diese politisch-funktionale Sichtweise in zwei Dimensionen: Im Zuge einer ‚kritisch-normativen‘ Lesart erwächst das, was in der Gegenwart in aller Regel als Rechtfertigungsanforderungen beschrieben wird. Es geht bei diesen, oft mit liberalen Pathos vorgetragenen Forderungen, um nicht weniger als die Auflösung der oben beschriebenen Arkana im Bereich des politischen sowie rechtlichen Betriebs – vor allem über die Freiheit der Rede, Presse und Literatur. Forderungen, die sich in Deutschland spätestens mit der Revolution von 1848 erfüllen sollten. Gleichzeitig entfaltete sich eine spezifisch ‚gesellschaftlich-deskriptive‘ Lesart, die Öffentlichkeit als die conditio sine qua non für die Entfaltung der Nation und damit deren unhintergehbare Voraussetzung versteht. Öffentlichkeit wird somit eher als Lebensform verstanden, die nicht mehr zwingendermaßen exklusiv auf den politischen Prozess und dessen (rechtliche) Absicherungen bezogen ist. Während diese Absicherungs- und Kritikfunktion nicht gänzlich in den Hintergrund tritt, erlebt die Öffentlichkeit über die weitere Ausdifferenzierung und vor allem Umdeutung des Begriffs der ‚öffentlichen Meinung‘ jedoch eine starke Subjektivierung. Dies geschieht in dem Sinne, dass die Öffentlichkeit zunehmend in Form eines ‚Kollektivsingulars‘ in Anspruch genommen wird. So wie es auch noch bis heute im Rahmen von Um- bzw. Abfragen der öffentlichen Meinung anzutreffen ist: Die eine öffentliche Meinung, die den Willens des Volkes repräsentiert. Erst der gesellschaftliche Wandel zu Beginn des 20. Jahrhunderts – der sich vor allem durch die Transformation einer bis dahin insbesondere durch ihre Unmittelbarkeit gekennzeichnete Bürgergesellschaft, in eine durch Mittelbarkeit und zunehmend anonymisierte Strukturen gekennzeichnete Industriegesellschaft ausdrückte – fordert gerade im Bereich der Sozialwissenschaft und -philosophie eine Kritik des Begriffs heraus. Öffentlichkeit wird in diesen Einwürfen eher als ein undurchsichtiges sowie ‚soziale Realität‘ verfremdendes Phänomen gesehen, das den ihr zugeschriebenen Funktionen nicht mehr gerecht wird. Ihren prominentesten Ausdruck findet diese Kritik nach wie vor in der Diagnose vom Strukturwandel der Öffentlichkeit (Habermas 1962). Doch diese sehr strukturiert vorgetragenen Ansätze sind bislang nicht in der breiteren sicherheitspolitischen und -wissenschaftlichen Debatte angekommen und so gilt nach wie vor das Urteil, dass Öffentlichkeit weiterhin „die Bedeutung einer diffusen, nirgends scharf begrenzten und doch durch vielfache Formen geistigen und materiellen Austauschs verbundenen sozialen Einheit“ (Hoelscher 2010, S. 23.832) in sich trägt. Eine Diagnose, die sich auch in dem in der Einleitung vorgestellten ‚Imaginär des sicherheitspolitischen Prozesses‘ widerspiegelt (Jacobi/Hellmann 2018, S. 5ff.): Öffentlichkeit bezeichnet nicht jene Sphäre in der über Sicherheitsstrategie

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gestritten wird, sondern sie repräsentiert das Publikum vor dem diese aufgeführt wird. Doch wie kommt es zu einer derartig verkürzten Sichtweise?

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Die Öffentlichkeit der Sicherheitspolitik

Die knappe Antwort lautet: Die Gründe finden sich weniger in einer, möglicherweise sogar boshaft und gezielt (re-)feudalisierten Interpretation des Öffentlichkeitsbegriffs, als vielmehr in dessen normativen Überfrachtungen sowie einer daraus resultierenden, (sicherheits-)politisch eingeübten Reaktion auf diese überbordenden Forderungen. Wie ist das gemeint? Dies soll sicherlich nicht bedeuten, dass insbesondere die kritische Funktion der Öffentlichkeit abgelehnt werden soll(te). Ganz im Gegenteil. Die Antwort muss vielmehr so gelesen werden, dass die normativen Forderungen, die im Namen des Konzepts der Öffentlichkeit erhoben werden, im Rahmen einer Weltsicht und vor allem vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Struktur entstanden sind, die mit der heutigen Situation nicht mehr in Deckung zu bringen sind. In der sicherheitspolitischen Kommunikation wird jedoch nach wie vor versucht, diesen Anforderungen im Rahmen des gleichen vergangenen Weltbildes und damit vor allem unter Nutzung der gleichen Semantik nachzukommen, die diese normativen Selbstverständnisse erst ins Werk gesetzt haben.8 Tatsächlich schließt die sicherheitspolitische Perspektive, ebenso wie die alltägliche, an eine insbesondere seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und damit ebenfalls im Zuge der Aufklärung fest etablierte Sichtweise auf die Öffentlichkeit der Gesellschaft an. Es ist eine Beobachtungsweise, die vor allem den Mensch in den Mittelpunkt stellt. So scheint es uns im Alltag der Sicherheitspolitik als völlig natürlich, dass die Welt eine voller Menschen ist. Dass deren Beziehungen des Weiteren die Basis von deren öffentlichen Austausch sind und damit die Basis einer (demokratischen) Sicherheitsordnung. Ein Bild, das seinen Widerhall in der besagten Unmittelbarkeit der bürgerlichen Gesellschaft mitsamt ihren Salons und Klubs fand. Und dass, wer deren sicherheitspolitischen Willen besser verstehen will, folglich vor allem Menschen und deren Handeln beobachten muss. Nicht nur vor dem Hintergrund der oben dargelegten historischen Evolution des Öffentlichkeitverständnisses, sondern auch im Hinblick auf die erwähnte Notwendigkeit eines jeden Beobachters stets zuerst Umweltkomplexität reduzieren zu müssen, verspricht diese Herangehensweise einer Sicherheitspolitik, die an der 8 Siehe ausführlicher Jacobi 2015, S.72-75, auf dem das Folgende zum Teil basiert.

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Meinung des Souverän interessiert ist, eine elegante Form der Welt(er)schließung:9 Im Angesicht der Herausforderung einer offenbar zunehmend heterogen werdenden Gesellschaft ermöglicht eine solche Reduktion deren fortdauernde Betrachtung als eine kohärente Einheit. In Form der öffentlichen Meinung erscheint diese so als ein Ganzes, das einer menschlichen Bevölkerung gleichgesetzt wird, welche umgekehrt aus einzelnen Menschen besteht, die so gleichzeitig Gleichheit/Verschiedenheit repräsentieren können. Dieser Zugriff eröffnet zudem die Möglichkeit zu beobachten, inwiefern die Teile zu einem integrierten Ganzen streben oder dieses integrierte Ganze sich in seine Teile entfaltet. So oder so erlaubt diese Reduktion weiterhin eine produktive Beobachtbarkeit der Gesellschaft und somit der Öffentlichkeit der Sicherheitspolitik – oder vielleicht doch nicht? Der Ansatz wird bereits auf der Ebene von dessen stringenter Umsetzbarkeit fragwürdig. Denn würde man wirklich ein umfassendes Bild gesellschaftlicher Meinungen zu sicherheitsstrategischen Entscheidungen über die Beobachtung von Menschen erlangen wollen, so müsste man konsequenterweise eine ‚oktopodeske‘ Gesellschafts- oder hier: Öffentlichkeitstheorie entwerfen.10 Die deutsche Öffentlichkeit würde sich dann als ein Krake mit wenigstens 83 Millionen Armen präsentieren, die allesamt Sicherheitsstrategie mitgestalten wollen und auf das Ganze hochgerechnet werden müssten. Genau dies wird beispielweise beständig über Meinungsumfragen zu sicherheitspolitischen Themen versucht. Warum solche Versuche eine unproduktive Reduktion gesellschaftlicher Komplexität vollziehen und die Funktion von Öffentlichkeit in der Folge verkürzen, wird deutlich, wenn man den Blick auf die beiden Beobachtungsweisen zugrundeliegende Dichotomie richtet. Diese spricht von einem Ganzen und Teilen. Betrachtet man diese Form der Reduktion gesellschaftlicher Komplexität auf eine Einheit hinsichtlich deren eingebauten Logik, bröckelt deren Stichhaltigkeit: So stellt sich etwa die Frage, wie eine einheitliche Öffentlichkeit (das Ganze) auf der Ebene der verschiedenen Menschen (der Teile) repräsentiert werden kann. Umgekehrt fragt man sich dann natürlich auch, wie sich diese verschiedenen Menschen (die Teile) zu einer identitären Öffentlichkeit (dem Ganzen) formieren können. Diese Form der Reduktion gesellschaftlicher Komplexität mündet also in einer Paradoxie. Üblicherweise erfolgt hierauf als Antwort ein Verweis auf die Hilfsprämisse –, dass diese Öffentlichkeit als Kollektivsingular über bestimmte gemeinsame Werte normativ integriert sei. Das klingt ebenfalls zuerst stichhaltig, wird aber bereits fragwürdig, wenn man bedenkt, dass es in praktisch allen Gesellschaftsformen divergierende Werte gibt und man wiederum fragen kann, wie diese individuelle 9 Mehr hierzu bei Luhmann 1997, S. 912–931, 1016–1036. 10 In Erweiterung des Zitats von Luhmann 2005b, S. 10.

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Werte vollumfänglich zu einem gemeinsamen Wertekanon zusammengefügt werden können. Nicht nur scheint jegliche Beobachtung politischen Widerstreits dies bereits in das Reich der Fantasie zu verweisen. Vielmehr weist dieses Argument auch wiederum die beanstandete Logik auf: individuelle Werte fügen sich zu einem identitären Wertekanon. So geht es auch der Demoskopie darum, die gesamtgesellschaftliche Verteilung individueller Meinungen darzustellen. Folglich aggregieren sich diese einzelnen Meinungen zu einer ganzen öffentlichen Meinung oder diese gesamte öffentliche Meinung lässt sich in individuelle Meinungen auflösen. Ein Umstand, der sich zudem mathematisch über die Prozentverteilung und deren stete Addierbarkeit auf ein hundertprozentiges Ganzes, dazu mittels (Kreis-)Diagrammen, gut darstellen lässt. Diese Form ermöglicht es natürlich auch auf ‚nachvollziehbare‘ Weise Einheit(en) zu konstruieren. Etwa wenn man einen Mehrheitswert dem Ganzen gleichgesetzt und dieser gleichsam, qua höchstem Zahlenwert, die Repräsentation des Ganzen in den Teilen darstellen soll.11 Dies alles scheint wenig produktiv. Vor allem zeigt es, dass die logische Paradoxie – dass das Ganze und die Teile keine widerspruchslose Einheit formen – immer noch vorliegt und lediglich verschoben wurde. Zudem ohne dabei eine wirklich neue Perspektive zu eröffnen. Denn das, was die auf dem Ganzem/Teil-Schema basierende Beobachtung von Öffentlichkeit und deren Gleichsetzung mit der Gesellschaft letztendlich produziert, ist lediglich deren doppelte Beschreibung: Einmal als Ganzes und einmal als die Summe ihrer Teile. Ähnlich wie, in einem ersten Schritt, die Unterscheidung von Menschen/Mensch die greifbare Evidenz der Gesellschaft als eine ‚menschliche‘ besorgt, so fungiert die Umfragetechnik, in einem weiteren Schritt, als jenes Heilpflaster, das die logisch unversöhnbaren Elemente von Ganzem/Teil als ein Gesamtpaket zusammenhalten soll. Bereits angesichts dieses Befundes sollte es klar sein, dass die ‚eine große Debatte‘, die als Forderung für eine demokratischer Sicherheitspolitik stets im Raum steht, nur eine – wenn auch fraglos gut gemeinte – Illusion bleiben wird.12 Zudem scheint es ganz so, als wenn diese Forderung in einer Zeit erhoben wird, in der die treffende Feststellung einiger Weißbuchautoren – dass „sich die Superlative für die Beschreibung der Verwerfungen im internationalen System täglich überbieten, die Charakterisierungen für das Geschehen unserer Zeit immer schriller werden,“ 11 Andere grundlegende Probleme, wie die Frage, inwiefern es eine Umfrage rechtfertigen kann, dem Oktopus die richtigen Arme gestutzt und ihm die für eine Umfrage repräsentativsten gelassen zu haben, soll hier weiter nicht unbemerkt, aber leider ebenfalls immer noch unbeantwortet bleiben. 12 Siehe hierzu wiederum den Beitrag von Geis in diesem Band.

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(Breuer/ Schwarz 2016, S. 85) – auch schon unterhalb dieser internationalen Ebene gilt. Denn auch die Gesellschaft – und damit verbunden ‚deren‘ Öffentlichkeit – wird zumeist eher schlagwortartig und nicht in deren Struktur- und Kulturform, d. h. tatsächlichen Operationsweisen verstanden. Der kurze Hinweis auf einschlägige, aber ebenso wenig begrifflich gedeckte Zeitdiagnosen, wie die der ‚Risikogesellschaft‘, mag hier genügen. Die durch die zur Verfügung stehenden, historisch überkommenen semantischen Mittel bedingten Selbstbeschreibungen und -verständnisse der Gesellschaft und deren Sicherheitspolitik, scheinen deren gegenwärtige Sozialstruktur also eher zu verdecken als zu erhellen. Der nach wie vor vorherrschende Fokus auf die Herstellung einer gesellschaftlichen und damit auch sicherheitspolitischen Einheit sowie der gleichzeitigen Erfüllung unhinterfragt mitgeführter formaler Ansprüche, befördern somit eher das Bild von Öffentlichkeit als einer normativen Fiktion und nicht, in einem ersten abklärenden Zugriff, als eines gesellschaftlichen Prozesses. Was kann man in solch einer Situation tun?

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Die Sicherheitspolitik der Gesellschaft

Lenkt man den Blick zurück auf die Herausforderung der Komplexität als kleinster gemeinsamer Nenner dessen, was einst als ‚Theorie und Praxis‘ galt, so wird man an die Operation der Reduktion von Komplexität mit dem Ziel von deren Wiederaufbau über die hierbei gewonnen Beobachtungsprämissen erinnert. Eine Möglichkeit wäre es also, eine Umschrift des Öffentlichkeitsverständnisses zu gewinnen, in dem man nicht zuerst auf deren sachliche Dimension – dem Katalog normativer Anforderungen – abstellt, sondern die oben beschriebenen sicherheitskulturellen Bewegungen derart mitvollzieht, dass man auf deren zeitliche und damit prozessuale sowie soziale und damit kommunikative Dimension blickt. Dies mag ein, im ersten Zugriff, ungewöhnlicher Schritt sein, denn die begriffliche und damit kognitive Erschließung unserer (sicherheitspolitischen) Umwelt ist fraglos immer noch stark in der oben genannten, humanistischen Semantik der Aufklärung verwurzelt. Eine Umsetzung der Vorstellungen von Öffentlichkeit als einer Ansammlung von Menschen, auf das einer kommunikativen Form, vollzieht aber nichts anderes, als das was bereits im Rahmen des Weißbuchprozesses geschehen ist: Erst mit dieser Umschrift erlangt man jene ‚abstrakte Flughöhe‘, deren Notwendigkeit für die Abfassung von heutigen Sicherheitsstrategien im Angesicht (weltpolitischer) Komplexität unlängst eingestanden wurde und die weiterhin einen nachvollziehbaren Einblick in deren gesellschaftlichen Qualität ermöglicht.

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Der Vorschlag lautet also nicht nur die Bordmittel zur Beobachtung der Sicherheitsumwelt abstrakter zu gestalten, sondern auch den Begriff und das daraus folgende Verständnis der Öffentlichkeit der Gesellschaft ebenso abstrakter zu denken, um weiterhin den Zugriff auf jene Problemlösungskapazitäten zu gewährleisten, die sich mit dieser offenbar verbinden: „[Die] Eintrittsschwelle in den sicherheitspolitischen Diskurs zu senken, um durch die Diskussion Perspektiven zu ändern, neue Impulse und Anregungen zuzulassen“ (Breuer/ Schwarz 2016, S. 85). Schon in Bezug auf die dem ‚Review 2014‘ zugrundeliegende Problembeschreibung hatte sich gezeigt, dass der dort beklagte Graben, der angeblich zwischen der Gesellschaft und der Politik verläuft, eher einem überalterten Verständnis von Gesellschaft und den daraus abgeleiteten Organisationsformen des außenpolitischen Austauschs geschuldet war, als irgendeiner anderweitigen politischen oder gesellschaftlichen ‚Fehlentwicklung‘. Dieser Befund lässt sich nahtlos auf die Herausforderung der öffentlichen Kommunikation über Sicherheitspolitik übertragen. Denn, das sollte nun deutlich geworden sein, wenn wir über Sicherheitsstrategie und Öffentlichkeit sprechen, dann sprechen wir immer über Phänomene die sich allesamt in Gesellschaft oder als prozessual und echtzeitlich gedachte Kommunikationsformen, als Gesellschaftlichkeit vollziehen. Gesellschaft sollte somit nicht mehr als eine Ansammlung von Menschen gedacht werden, sondern als ein Phänomen, das sich als ein Arrangement polykontexturaler Kommunikationsformen vollzieht. Das mag in einem ersten Zugriff merkwürdig klingen, wird aber bereits im Hinblick auf die massenmediale Signatur der Gegenwart und die damit einhergehende Digitalisierung sowie Mediatisierung des Meinungsaustauschs schlüssig. Wir leben nicht mehr in der Polis, tauschen uns weder in der Agora, noch der Unmittelbarkeit der Salons oder Clubs aus. Heutige soziale und damit vor allem auch politische Beziehungen sind in großen Teilen massenmedial vermittelt. Meinungen, Ideen und Einwürfe werden zwar immer noch von Menschen geäußert. Doch trennt die weiter anschließende Kommunikation13 die jeweiligen Absender schnell hab – wenn diese in der Netzwelt überhaupt noch ermittelbar sind – und schließt vor allem an die so oder anders verstandene Information an. Diese Idee, dass es eine Vielheit (konkurrierender) sicherheitskommunikativer Kontexte gibt, ist kaum eine neue Einsicht. Im Gegenteil: Sie führt geradewegs in die beliebte Gegenwartsdiagnose der ‚haltlosen Komplexität‘, der ‚neuen Unübersichtlichkeit‘ sowie der Welt der Filterblasen oder Echokammern des World Wide Web und damit schließlich des Verfehlens der Öffentlichkeit. Wer allerdings 13 Und damit das, was die eigentlichen als Gesellschaft verstandenen, sozialen Strukturen bezeichnet, die entstehen wenn Menschen miteinander in Kontakt kommen.

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den darin enthaltenen Kernbefund der unüberwindbaren Heterogenität dieser Kommunikationen nicht auf Augenhöhe annimmt, reproduziert jedoch lediglich das oben genannte Dilemma einer Einheitssicht auf die Gesellschaft bzw. deren Öffentlichkeit: Dann geht man selbst im Angesicht der Vielheit der Meinungen implizit davon aus, dass es weiterhin eine einheitliche öffentliche Meinung gibt, unter der all diese verschiedenen Perspektiven summiert werden können und die allesamt diese eine sicherheitspolitische Lage lediglich aus verschiedenen Blickwinkeln erscheinen lassen. Zwar führt man mit der Anerkenntnis eine Vielzahl der Kontexte Differenz ein, unterstellt aber weiterhin latent den prinzipiell stets möglichen Konsens über das So-Sein sicherheitspolitischer Verhältnisse. Aber auch eine viel- bzw. nicht-eindeutige Lage ist bereits ein stabil unterstellter Fluchtpunkt (oder: eine Prämisse) des sicherheitskommunikativen Austauschs, hinter den in der Regel nicht mehr zurückgefragt wird. Genau diesem Problem stellt sich die Idee von Gesellschaftlichkeit als eines Arrangements polykontexturaler Kommunikationsformen. Sie denkt die Idee der Vielzahl der Sichtweisen konsequent zu Ende. Denn sie unterstellt nicht mehr, dass viele Perspektiven eine Meinung konstituieren, sondern, dass jede Perspektive eine eigene genuine Sichtweise, d. h. (Re-)Kontextualisierung von Sicherheit repräsentiert. Auch diese Einsicht ist nicht unbedingt neu. Im Sinne der geforderten Überwindung des ‚Theorie/Praxis‘ Schemas ist es jedoch wichtig daran zu denken, dass all diese Äußerungen allesamt die gleiche Operation vollziehen: Sie reduzieren sicherheitspolitische Komplexität, indem sie einige Aspekte betonen und andere unbeobachtet lassen. Nur so können sie aus ihrer je individuellen Sichtweise, dieses Mal jedoch selbst konditioniert, komplexe Beobachtungen ihrer jeweiligen Umwelt aufbauen. Sicherheitspolitische Komplexität ist also insbesondere gesellschaftliche Komplexität – die unbegrenzte Vielzahl stets denkbarer Beobachtungsalternativen. Formen der Sicherheitskommunikation sind somit sich echtzeitlich und damit realweltlich bzw. gesellschaftlich als Kommunikation vollziehende Weltsichten. Sie legen fest, dass ‚so und nicht anders‘ gesehen und folglich gehandelt werden soll. Jeder kommunikative Einwurf errechnet also die Einheit der Welt(sicherheitspolitik) stets aus seinem eigenen, selbst begrenzten Blickwinkel heraus und trägt aber gleichzeitig wiederum zu einem Anwachsen der gesellschaftlichen Komplexität mit bei. Diese Einsicht untergräbt nun die oben dargelegt historische Sichtweise der ein(heitlich)en Gesellschaft oder gar ‚Welt‘. Unter dieser konnte zwar Sicherheitspolitik unterschiedlich beobachtet werden, diese konnte aber grundsätzlich eine Welt oder Gesellschaft als stabil unterstellen. Der Aufweis einer jedoch eher grundsätzlich unbegrenzten Vielzahl kommunikativer Einwürfe, als je voneinander getrennt operierende, allesamt nebeneinander existierende Beobachtungschemata, die jeweils ihre eigene Gültigkeit beanspruchen, führt hingegen Gleichzeitigkeit

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ein. Wenn ein Beobachter so Sicherheitspolitik beobachtet, dann können andere dies zur gleichen Zeit stets anders tun. Noch mehr: Sie können ihn beobachten, wie er beobachtet und folglich anmerken, dass er anders (oder gar: ‚falsch‘) beobachtet. Denn der blinde Fleck, den jede Beobachtung sich im Zuge der Reduktion von Komplexität zumuten muss, kommt selbstredend nur in den Blick, wenn Beobachter andere Beobachter beobachten. Somit erklärt sich auch, wie selbst Sicherheitspolitik historisch unter einen zunehmenden Legitimationsdruck geraten konnte: Die sich parallel zur stets anwachsenden Informationsflut über ‚die‘ Welt historisch ausdifferenzierenden Sichtweisen auf Sicherheitspolitik, die nun nicht mehr nur aus dem Funktionsbereich der Politik entstammten und der damit gesteigerte Möglichkeitsraum von sicherheitspolitischen Beobachtungsweisen, ließen jegliche politische Wahlmöglichkeit aus einer anderen Perspektive als kontingent erscheinen. Im Sinne der oben erwähnten Einhegung politischer Willkür wurde das Prinzip der Legitimation daher auch letztendlich voll auf die Sicherheitspolitik ausgedehnt und diese zur Rechtfertigung ihrer Handlungen aufgefordert. Sicherheitskommunikation über sicherheitspolitische Ordnung ist also nie nur die Beschreibung einer Ordnung, die so singulär in der Welt vorliegt und trotz verschiedener Perspektiven erkannt werden kann. Sicherheitspolitische Ordnungen sind vielmehr die sich immer gleichzeitig schon vollziehenden, ordnenden Operationen der (Sicherheits-)Kommunikation, die ihre Umwelt, das heißt andere Beobachtungen, auf eine bestimmte Weise beobachten und sich von diesen, in welchem Maß auch immer, irritieren lassen. Diese Umstellung unterstreicht damit die Behauptung, dass soziale Ordnungen nicht stets normativ integrierte quasi-natürliche Ordnungen sind, sondern dass diese eine an spezifischen Beobachtungsstrukturen hängende Pluralität von kontingenten Ordnungsmöglichkeiten sind.

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Die Öffentlichkeit der Sicherheitskommunikation

Es scheint also produktiv zu sein, das Problem der Öffentlichkeit anzugehen, indem man diese in einem ersten Schritt von ihrer primär normativen Bindung und der damit einhergehenden Koppelung an den Staat oder die Moral befreit und fragt, inwiefern diese zuallererst ein gesellschaftliches Phänomen ist, das zudem historisch erwachsen ist. Denn der Befund lautet eindeutig, dass die Öffentlichkeit als eine einheitliche Form nicht existiert. Die tradierten semantischen Formen der Sicherheitskommunikation haben, wie viele andere klassische Beobachtungsweisen sozialer Welt, lediglich stets eine solche Zentralperspektive simuliert. Sollte Öffent-

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lichkeit also jemals tatsächlich als eine abgeschlossene Einheit existiert haben, so hat sie sich nun in zahllose Perspektiven zersplittert, die qua ihrer echtzeitlichen Qualität zudem stets in Bewegung sind. Der bereits zitierte, allgegenwärtige Befund der fragmentierten Öffentlichkeiten sowie der ‚Welt der Filterblasen‘ spricht hier ebenso die gleiche Sprache. Dieser Vorschlag, wie Gesellschaftlichkeit heute noch gedacht werden kann, weist dann auch den Weg zu einem möglicherweise produktiveren Verständnis von heutiger Öffentlichkeit. Denn das so beschriebene Bild heutiger Gesellschaft als einer netzwerkhaften Formation, die sich, in beständig prozessierten polykontexturalen Kommunikationsformen selbst beobachtet und beschreibt – die somit keine Spitze, Zentrum oder gar substantielle Einheiten mehr kennt –, muss nicht notwendigerweise lediglich zu den zahlreichen, oft ‚schrill‘ vorgetragenen Befunden einer entgrenzten und „aus den Fugen geratenen“ (Welt-)Gesellschaft führen. Über deren strukturierte Beschreibung kann ebenso deutlich herausgearbeitet werden, dass die mit dieser überbordenden Komplexität einhergehende und erkannte Kontingenz – im Negativen oft: Risikohaftigkeit – gleichzeitig auch als das „Midasgold der Moderne“ (Luhmann 2006, S. 94) produktiv gegengelesen werden kann: Gegenwärtige Gesellschaften sind gerade deshalb weiterhin stabil, weil sie sich in ihren kommunikativen Operationen unlängst darauf eingestellt haben, diese Offenheit für ihre Reproduktion auszunutzen. Was bedeutet das für moderne Öffentlichkeit? Folgt man der Eingangsforderung, dass es in einer reflexiveren Sicherheitskultur und ergo Sicherheitskommunikation nicht nur immer nur um die Beantwortung offensichtlicher Fragen, sondern stets auch um das Hinterfragen des vermeintlich Offensichtlichen gehen sollte, dann kann man – im Zuge der darauf erfolgten Umschrift – nicht nur fragen, was Öffentlichkeit denn nun ist (Sachdimension der Sicherheitskultur), sondern ebenso hinterfragen, welche Funktion diese in einer sich so unweigerlich kontinuierlich (Zeitdimension) und kommunikativ (Sozialdimension) entfaltenden Sicherheitspolitik der Gesellschaft erfüllt? Wenn Gesellschaft das beharrliche Zusammenspiel verschiedener, stets anders formulierbarer kommunikativer Formen ist, Kommunikation also nur noch sich selbst als Anhaltspunkt hat, um eine Orientierung unter Bedingungen dieser selbstgeschaffenen Komplexität zu erlangen, dann braucht es entsprechende Ankerpunkte, die diese Kommunikation in eine Form bringen, an die angeschlossen werden kann oder einfacher gesagt: dass es ‚weiter geht‘ – dass Entscheidungen eruiert und gefällt werden können. Eine Sicherheitskultur, die sich diese reflexive Dimension eröffnet, kann jenen Befund der notwendigen Selbstorganisation der Kommunikation dann schließlich auch auf die Frage nach der Funktion der Öffentlichkeit beziehen. Die These kann dann lauten: Öffentlichkeit bietet dieser Kommunikation ein Medium in dem

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diese sich organisieren, also in eine bestimmte anschlussfähige, d. h. robuste Form bringen kann – in die Form öffentlicher Kommunikation.14 Was macht diese Form öffentlicher Kommunikation aus, dass mit ihrer Nutzung eine höhere Wahrscheinlichkeit der Anschlusskommunikation und damit der (sicherheitspolitischen) Organisation der Gesellschaft einhergeht? Liest man die oben dargelegte Skizze der Evolution der Semantik der Öffentlichkeit noch einmal dahingehend quer, was sich an dieser strukturell durchhält, dann stößt man auf die Funktion der Öffentlichkeit als der Möglichkeit der Thematisierung und dabei vor allem Kontingentsetzung bestimmter Forderungen, die ganz offen oder auch verdeckt gestellt werden. Und so ist die öffentliche Meinung nicht ohne Grund genau das: eine Meinung. Also ein Netz von Einwürfen, die so oder so gesehen werden (können). Eine Äußerung, die wenn sie vollzogen wird, gleichzeitig schon immer ihre eigene Kontingenzsignatur in sich trägt und sich so gleich selbst ‚diskreditiert‘. Denn wer behauptet, dass man etwas immer anders sehen kann, der muss diesen Befund selbstverständlich auch auf sich selbst anwenden (lassen). Im Sinne der Frage nach der kommunikativen Funktion von Öffentlichkeit ist es dann auch nicht primär interessant zu fragen, wer denn da was meint. Viel ertragreicher ist es weiter zu fragen, welchen Beitrag (hier:) Sicherheitskommunikation als öffentliche Kommunikation im gesellschaftlichen Austausch über Sicherheitspolitik und -strategie erbringt? Die Antwort lautet: Sie stabilisiert konstitutiv instabile Kommunikationszusammenhänge, indem sie über die fast schon ‚spielerische‘ Eröffnung von Möglichkeitshorizonten erlaubt, diese wiederum zu schließen. ‚Spielerisch‘ geschieht dies ganz im Sinne der Bedeutung der öffentlichen Meinung. Denn diese zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass sie jeweils eher wie ein Vorschlag daher kommt, den man entweder annehmen oder ablehnen kann. Die Funktion von Sicherheitskommunikation als öffentlicher Kommunikation ist somit das Aufzeigen von Grenzen. Grenzen in dem oben genannten Sinne, dass Beobachtungsschemata im Angesicht von Komplexität immer höchst selektiv gebaut sind, also Grenzen diesbezüglich ziehen, was sie beobachten und was nicht. Öffentliche Kommunikation verweist somit nicht auf das was, das gesehen/ kommuniziert wird, sondern auf die Grenze die diese(s) Sehen/ Kommunikation erst ermöglicht – den besagten konstitutiven blinden Fleck. Den man selbst im Beobachtungsvollzug nicht sieht und den nur andere Beobachter, zwar aus stets anderer (nämlich der ihnen eigenen), aber so offenbar werdenden Perspektive aufzeigen können. Im Rahmen öffentlicher Sicherheitskommunikation kann man dann auf verschiedene Weisen anschließen. Man kann die Meinung als ‚bloße Meinung‘ abtun, 14 Siehe für das Folgende ausführlicher Luhmann 2009 und insbesondere Baecker 1996.

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man kann über sie streiten, man kann aber auch beginnen die Spuren der eigenen Grenzziehung zu verwischen. Dies kann man bis zu dem Punkt führen, an dem man selbst keine Entscheidungen mehr trifft, diese vielmehr inszeniert und darauf hofft, dass einem zwar die Notwendigkeit der Existenz, aber nicht mehr die Notwendigkeit der Entscheidung zugebilligt wird (ein klassischer Vorwurf an die Politik) (Baecker 1995, S. 98). Oder man mahnt vermeintliche Entscheidbarkeiten an, von deren Durchführung man aber selbst de facto entlastet ist (ein klassisches oppositionelles Verhalten, das sich auch bis hin zu populistischen Kommunikationsformen steigern lässt). So oder so erlaubt Sicherheitskommunikation als öffentliche Kommunikation die Möglichkeit auf spielerische Weise mit verschiedenen Formen der (vor allem Selbst-)Beobachtung zu experimentieren, ohne dass man sich bindend auf diese einlassen muss. Denn sie können aus den genannten Gründen stets auf Distanz gehalten werden. Es werden keine tatsächlichen Grenzen der eigenen Beobachtungs- und Kommunikationsschemata verrückt, man arbeitet sich lediglich an einer ‚Sicherheitskopie‘ oder ‚Dublette‘ derselben ab: „Was wäre wenn?“ Somit koppelt sich dieses Verständnis von Öffentlichkeit nicht direkt an einen Vernunftbegriff, der dieser als normative Mitgift seit der Aufklärung – zumindest implizit – immer schon anhaftet. Statt um die eine Vernunft geht es vielmehr um den Umgang mit den je verschiedenen Rationalitäten. Gerade in Bezug auf das politische System lautet daher eine der modernsten Interpretationen der öffentlichen Meinung, dass diese in der Tat nicht im Sinne einer gesamt(welt)gesellschaftlichen Agora zu verstehen sei, sondern vor allem als eine interne Spiegelfunktion des politischen Systems zu lesen ist (Luhmann 2000, S. 274–318). Dieses nutzt die öffentliche Meinung infolgedessen nicht zum Austausch mit dem Souverän, sondern eher als Medium, um sich seiner selbst rückzuversichern. Ein Vorschlag, der von rezenten Befunden eher nur verstärkt wird.15 Für den an der normativen Dimension der Öffentlichkeit interessierten Beobachter ist dies fraglos ein ernüchternder Befund. Öffentlichkeit ist, so verstanden, ‚bloß‘ ein Kommunikationsmedium, das es erlaubt weiterhin Sicherheitspolitik zu machen und so Gesellschaftlichkeit weiter stattfinden zu lassen. Zudem scheint es, dass diese die gewünschte Kontroll- und Kritikfunktion nicht mehr erfüllen kann. Ist Öffentlichkeit so doch stets nur die Öffentlichkeit, die sich diejenigen selbst entwerfen, die ihr eigentlich unterworfen sein sollten. Doch es gilt ebenso festzuhalten, dass es sich hierbei, in einem ersten analytischen (!) Zugriff, ebenso ‚nur‘ um eine funktionale Betrachtungsweise handelt, die auf die Beantwortung der Frage zugeschnitten ist, welche Rolle Öffentlichkeit für die grundsätzliche 15 Siehe beispielweise die Berichterstattung über die Regierung Merkel: Becker/Elmer 2014.

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Sicherstellung von Gesellschaftlichkeit und hier: der Sicherheitspolitik der Gesellschaft spielt. Die zu einer Reorientierung und Umschrift notwendige gewordene Loslösung von Staatlichkeit und Vernunftsaffinität sowie des Kollektivsingulars untermauert jedoch bereits hier, dass Öffentlichkeit in der Gegenwart dennoch eine zentrale Bedingung sozialer Kommunikation und damit von Gesellschaftlichkeit ist. Was lässt sich also „jenseits der bloßen Meinung“ (Baecker 1996, S. 99) finden?

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Horizonte: Öffentliche Sicherheitskommunikation in Demokratien

Hierzu gilt es zuerst noch einmal festzuhalten, dass Öffentlichkeit und öffentliche Meinung nun zwar nicht mehr das identitäre Ganze differenter Menschen abbilden, sondern sich diese Phänomene nur noch insofern als Einheit verstehen lassen, als dass man diese als Einheit der Differenz verschiedener kommunikativer Rahmungen versteht, die selbst wiederum stets Identität und Differenz prozessieren: dies ist für einen Beobachter der Fall und das nicht. Reflexive Sicherheitskommunikation hat somit die Chance zu einem Horizontbegriff zu werden, der die prinzipiell unbeschränkte Anzahl möglicher Beobachtungsschemata und Handlungsoptionen im Bewusstsein hält. Es kann sicherheitspolitischer Reflexion so nicht mehr darum gehen, die eine sicherheitspolitische Meinung der Öffentlichkeit herauszufiltern, sondern sie muss sich der Vielheit der stets in ihr prozessierten, voneinander getrennt operierenden, aber dennoch aufeinander bezogenen Kommunikationen vergewissern. Denn letzten Endes entfaltet sich das besagte ‚Spiel‘ auf dem Markt der Meinungen in einer oszillierenden Form: Es wird beständig zwischen Selbst- und Fremdbeschreibungen, zwischen den eigenen Schemata und den anderen hergewechselt. Es besteht also prinzipiell die Möglichkeit nicht nur produktive Perspektivwechsel auf sich selbst zu vollziehen, nur um dann wieder bei der eigenen Meinung zu enden. Man kann in dieser Oszillation ebenso lernen sich produktiv irritieren und Neues zulassen zu können. Öffentlichkeit erfüllt somit nicht automatisch den Wunsch eine bessere Gesellschaft herbeizuführen, weil sie lediglich das Experiment mit alternativen Beobachtungsformen ermöglicht. Sie besitzt aber über den Zugriff auf die Fremdreferenz der alternativen Sichtweisen fraglos enormes Irritationspotential. Aus dem Blickwinkel einer sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnose muss man freilich festhalten, dass im Rahmen einer funktional differenzierten Gesellschaft (Luhmann 1997, S. 595–865) – also einer historisch auf eine strikt getrennte Arbeitsteilung hin gewachsene Sozialstruktur – eher systematisch abgeschlossene Funkti-

Die Öffentlichkeit der Sicherheit und die Sicherheit der Öffentlichkeit

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onsbereiche entstehen und sich auch als solche reproduzieren (etwa als politisches, rechtliches oder wissenschaftliches System etc.), dass diese Organisationsweise der Gesellschaft – im Sinne der gezielten Verarbeitung und temporären Ordnung von deren Komplexität – aber nun zunehmend auch an ihre Belastungsgrenzen zu kommen scheint. Nicht umsonst finden sich inzwischen auch zahlreiche, gerne als ‚hybrid‘ bezeichnete, Formen der Verkoppelung. Es würde also der Problemlösungskapazität dieser Funktionsbereiche zum Vorteil gereichen, wenn sie sich gezielter auf externe Irritationsmöglichkeiten einlassen würden. So könnte man auch bereits der internen Forderung gerechter werden, „im Sinne einer sicherheitspolitischen ‚Kupplung‘ […] allen Ressorts die Möglichkeit [zu geben], mit eigenen Strategien deutsche Sicherheitspolitik auszubuchstabieren“ (Breuer/ Schwarz 2016, S. 86). Will man die Öffentlichkeit der Gesellschaft also als jenen Begriff beibehalten, der die Möglichkeitssphäre der gemeinschaftlichen Verständigung über Sicherheitspolitik und -strategie bezeichnen soll, dann muss diese Sphäre somit im Sinne eines prinzipiell offenen Möglichkeitshorizonts der zahllosen kommunikativen Kontexte verstanden werden. Erst aus diesem heraus ergibt sich – neben allen auf die Entscheidung als solche ausgerichteten organisatorischen Strukturen – die Bedeutung dessen, was aktuell (d. h. stets nur zeitlich fixiert) als ‚gute Sicherheitsstrategie‘ verstanden wird. Doch auch dies ist sowohl nach ‚innen‘ (also in das politische System), aber auch nach ‚außen‘ (also in die weitere gesellschaftliche Umwelt) in einem ersten Zugriff nur eine Forderung. Wie lässt sich diese auf der Basis der bis hierhin gewonnen Einsichten also mit Leben füllen? Das Voranstehende bedeutet vor allem einen Weg einzuschlagen, der die Beobachtungsverhältnisse öffentlicher Sicherheitskommunikation umstellt. Man muss von einer unreflektierten Ebene der Beobachtung und des ‚reinen‘ Vollzugs auf eine höhere wechseln und sich zumuten zu beobachten wie man beobachtet. An dieser Stelle kommt dann auch das Potential der Öffentlichkeit dieser Kommunikation ins Spiel. Es geht darum den eingangs bereits für diesen Beitrag geforderten Prozess des Hinterfragens des vermeintlich Offensichtlichen für die Sicherheitspolitik und deren Strategiebildungsprozesse zu vergesellschaften. Das heißt, die Hinweise auf mögliche eigene blinde Flecken aufzunehmen und mit diesen die eigenen Unterscheidungen stets daraufhin zu beobachten, was sie Sicherheitsstrategie von der Welt(politik) sehen lassen und was nicht. Leiten die eigenen Unterscheidungen diese Beobachtung noch produktiv an oder sind sie inzwischen unterkomplex geworden? Es geht also nicht um die bloße Inkorporierung von wie auch immer akkumulierten Meinungen, sondern um die quasi-echtzeitliche Anpassung der eigenen Beobachtungsinstrumente und damit der eigenen Handlungsgrundlagen. Es ist ein Prozess der sich permanent selbst Komplexität zumutet und die Formen von deren Reduzierung überprüft.

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Diese Herausforderungen befördert zum einen die Frage nach den dafür notwendigen institutionellen Kapazitäten, aber vor allem auch nach den Formaten in denen diese Irritationsverhältnisse hergestellt werden können. Es sollte schnell klar sein, dass eine schriftlich fixierte Sicherheitsstrategie in diesem Zusammenhang weiterhin ein fraglos wichtiger Meilenstein bleibt, dass dieser aber mit weiteren Kommunikationsforen und -formen verkoppelt werden muss, die auf Dauer gestellt werden. Anders wird man der echtzeitlichen Qualität der Gleichzeitigkeit sicherheitsstrategischer Entwicklungen und deren Betrachtungsweisen nicht gewachsen sein. Im Sinne der Feineinstellung der genannten ‚Außenfilter‘ der im Staat institutionalisierten Abtastungsprozesse der öffentlichen Meinung, muss es vielmehr darum gehen, auch diesen jene unumgängliche, echtzeitliche Qualität wenigstens annähernd zu verleihen. In diesen Austauschprozessen kann es wiederum nicht um eine Form der Deliberation gehen, die diese lediglich als das wechselseitige Vorhalten von Werten institutionalisiert. Vielmehr muss dieser Dialog im Sinne eines Monitoring-Prozesses auf Dauer gestellt werden, der beständige gegenseitige Übersetzungsleistungen erbringt (Rorty 1989). Es geht also um die Schaffung von Foren und intermediären Institutionen, die Sicherheitskommunikation permanent anbei gestellt sind und somit auch ein gegenseitiges Lernen ermöglichen.16 Dies mag sicherlich im ersten Moment bekannt klingen. Diese Forderung wandelt sich aber gerade vor dem hier entworfenen alternativen Imaginär von Öffentlichkeit zu einem konkreten Ansatz. Insofern staatlich institutionalisierte Sicherheitspolitik hier die Funktion des Moderators und nimmermüden Impulsgebers in einem solchen Netzwerk übernimmt, eröffnet sie sich letztendlich eine Reflexionskapazität, die sie alleine nie vollumfänglich institutionalisieren könnte – nämlich Gesellschaft selbst. Insofern man das demokratische Element der Gestaltung von Sicherheitsstrategien als das Wechselspiel der permanenten Eröffnung, Erörterung und lediglich temporären Schließung, d. h. letzten Endes Zuschneidung von Möglichkeitsräumen versteht, wird die Öffentlichkeit der Sicherheitskommunikation als Horizontbegriff tatsächlich zum größten denkbaren Resonanzraum sicherheitskultureller Reflexion. Steigt man ein wenig tiefer in die so notwendig werdenden Foren des gegenseitigen Lernens und Übersetzens von Beobachtungsschemata ein, scheint eine wichtige Warnung im Sinne der weiteren Ausdifferenzierung des Öffentlichkeitsbegriffs notwendig zu werden. Es gilt davor zu warnen, die Medien leichtfertig mit diesem in

16 Für einige Vorschläge zu solchen möglichen Foren siehe den letzten Abschnitt des Beitrags von Geis.

Die Öffentlichkeit der Sicherheit und die Sicherheit der Öffentlichkeit

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eins zu gießen (Baecker 1996, S. 100–103). Die Medien sind nicht die Öffentlichkeit. Sie sind lediglich eine Form von Öffentlichkeit. Dies ist bereits daran zu erkennen, dass Massenmedien selbst von einer ‚eigenen‘ Öffentlichkeit begleitet werden. Ein Umstand, der an den gegenwärtigen Debatten um ‚Fake News‘ schnell einsichtig wird. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass den Medien in heutigen Gesellschaften die wichtige Aufgabe zukommt der öffentlichen Kommunikation Referenzpunkte zu liefern. Während öffentliche Kommunikation, im hier vorliegenden Verständnis, vor allem die Sicherheit der Beschreibungen von Bedrohungen im Zuge ihrer Polyphonie beständig dekonstruiert, bieten die Massenmedien in diesem Vakuum primär neue Beschreibungen an. Somit wohnt ihnen auch ein eigenes Potential inne, produktive Irritationen zu setzten. Es liegt aber an ihnen dies umzusetzen. Denn gleichzeitig bieten sie auch allen Teilnehmern die Möglichkeit, die daraus entstehende Kontingenzerfahrung abzufedern. Öffentlichkeitsarbeit ist ein solch probates Mittel, das Irritationserfahrung ‚produktiv‘ und proaktiv einschränken kann. Ein Grund dafür, dass eine als strategische Kommunikation verkürzte Sicherheitskommunikation nicht die hier gestellten Ansprüche an die dauerhafte Öffnung und Schließung der Horizonte sicherheitspolitischer Kommunikation erfüllen kann. Die hier vollzogene Umschrift von Sicherheitskommunikation als einer Form der öffentlichen (Selbst-)verständigung ist fraglos nicht leicht verdaubar. Durch sie wird Sicherheitskommunikation und die in ihr öffentlich gestaltete Politik sowie Strategie nicht weniger komplex. Eine hier ebenso nahegelegte Unterstellung zeigt aber auch, dass die vorgeschlagene Umschrift ihrer Rahmenbedingungen sowie die daraus gezogenen Konsequenzen, nun dennoch deren produktivere Bearbeitung erlauben.

Literatur Baecker, Dirk. 1996. „Oszillierende Öffentlichkeit“. In Medien und Öffentlichkeit, Hrsg. Rudolf Maresch, 89–107, Grafrath: Boer Verlag. Becker, Sven, Christina Elmer. 2014. In Der Spiegel Online. http://www.spiegel.de/politik/ deutschland/umfragen-von-angela-merkels-regierung-a-990296.html. Zugegriffen: 11 September 2018. Breuer, Carsten, Christoph Schwarz. Meilenstein, kein Endpunkt. Internationale Politik. September/ Oktober 2016: 83–87.

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Bundesakademie für Sicherheitspolitik. 2015. Deutsches Forum Sicherheitspolitik 2015. Wie sicher ist Deutschland – in einer Welt aus den Fugen. Berlin: Bundesamt für Infrastruktur, Umweltschutz und Dienstleistungen der Bundeswehr. Habermas, Jürgen. 1962. Strukturwandel der Öffentlichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Hofmann, H.. 2010. Öffentlich/Privat. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie . CDROM Edition, 23.808-23.819. Basel: Schwabe Verlag. Hölscher, Lucien. 2010. Öffentlichkeit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie . CDROM Edition, 23.820-23.836. Basel: Schwabe Verlag. Jacobi, D., Hellmann, G., und Nieke, S. 2011. Deutschlands Verteidigung am Hindukusch. Ein Fall misslingender Sicherheitskommunikation. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 1:171-196. Jacobi, Daniel. 2015. „Außenpolitik machen“: Über die Erreichbarkeit der Gesellschaft. In Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, SH 6. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 8 (1): 67–87. Jacobi, Daniel, Gunther Hellmann. 2018. Einleitung: „Strategiebildung zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit. In Zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit. Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Hrsg. D. Jacobi und G. Hellmann, 1–20. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaft. Kojima, Tomoko. 2015. Die Öffentlichkeiten der Erziehung. Wiesbaden: VS-Verlag. Luhmann, Niklas. 1997. Die Gesellschaft der Gesellschaft. Zwei Bände. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Luhmann, Niklas. 2005a. Die Praxis der Theorie. In Soziologische Aufklärung, 1, 317–335. 7. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Luhmann, Niklas. 2005b. Vorwort. In Soziologische Aufklärung, 6, 7–11. 2. Auflage. Wiesbaden: VS-Verlag. Luhmann, Niklas. 2006. Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft. In Beobachtungen der Moderne. 2. Auflage. 93–128. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaft. Luhmann, Niklas. 2009. Öffentliche Meinung und Komplexität. In: Soziologische Aufklärung, 5, 163–175. 4. Auflage. Wiesbaden: VS-Verlag Luhmann, Niklas. 2000. Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Rorty, Richard. 1989. The Contingency of a Liberal Community. In Contingency, Irony, and Solidarity, Hrsg. Richard Rorty, 44–69. Cambridge: Cambridge Universtiy Press. Steinmeier, F.-W. 2014. Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier anlässlich der Eröffnung der Konferenz „Review 2014 – Außenpolitik Weiter Denken“ am 20. Mai 2014 in Berlin. http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2014/140520-BM_ Review2014.html, Zugegriffen: 16. September 2018

Teil IV Zukunft und Herausforderungen der Strategiebildung

Künstliche Intelligenz als sicherheitspolitische Herausforderung Alexander Stulpe und Gary S. Schaal

Zusammenfassung

Der Essay reflektiert und diskutiert zunächst die mögliche Bandbreite sicherheitspolitischer Herausforderungen aufgrund von Künstlicher Intelligenz (KI) als disruptiver Technologie mit vielfachen Auswirkungen auf die Gesellschaft, die internationalen Beziehungen und die Zukunft der Kriegsführung. Er beschreibt dann spezifische Formen und Dimensionen von asymmetrischen und hybriden Bedrohungen, mit denen sich liberale Demokratien infolge der KI-Technologie mit großer Wahrscheinlichkeit in den kommenden Jahren konfrontiert sehen werden. Abschließend wendet er sich, unter besonderer Berücksichtigung der gegenwärtigen Lage in Deutschland, der Frage zu, wie liberale Demokratien mit diesen Gefahren umgehen, ihre Verwundbarkeiten reduzieren und ihre Resilienz stärken können. Schlüsselbegriffe

Künstliche Intelligenz (KI), digitale Revolution, Cyber, disruptive Innovation, Sicherheit, Resilienz, hybride Bedrohungen, asymmetrische Bedrohungen, deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Jacobi und G. Hellmann (Hrsg.), Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Edition ZfAS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6_16

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1 Marvin Minsky zufolge bezeichnet Künstliche Intelligenz (KI), beziehungsweise Artificial Intelligence (AI) „the science of making machines do things that would require intelligence if done by men“ (Geist und John 2018, S. 9). Heutige KI-Systeme sind in ihren Anwendungsbereichen oft schon schneller, besser und billiger bei der Lösung von Problemen, als menschliche ExpertInnen. Und bereits jetzt geht in bestimmten Fällen die Überlegenheit künstlicher, maschineller gegenüber natürlicher, menschlicher Intelligenz so weit, dass intelligente Maschinen Aufgaben bewältigen, an denen Menschen scheitern, weil das Gehirn nicht in der Lage ist, die dafür erforderlichen Datenmassen mit auch nur annähernd der gleichen Präzision und Geschwindigkeit zu verarbeiten, wie dies Künstliche Neuronale Netze (KNN) angesichts der heute verfügbaren Rechen- und Speicherkapazitäten vermögen: Aufgrund von zielvorgebenden Trainings- und Feedbackdaten können selbstlernende Maschinen, die in riesigen, vernetzten Datensätzen Muster erkennen, Wissen generieren und aufgrund dessen im Rahmen der Zielvorgaben autonome Entscheidungen fällen (Ramge 2018, S. 43–52; Vowinkel 2017; Dieckow und Jacob 2018). Der jüngst erfolgte Durchbruch bei der Entschlüsselung des Brotweizengenoms, die lange angesichts der Größe und Komplexität des Genoms für unmöglich gehalten wurde, verdankt sich dem Einsatz selbstlernender Algorithmen und weckt die Hoffnung auf eine züchterisch wie gentechnisch zu bewirkende Verbesserung der globalen Ernährungssituation, insbesondere mit Blick auf den Klimawandel (Frankfurter Allgemeine 2018; Spiegel Online 2018, 17. Aug.). In der medizinischen Anwendung haben insbesondere in der Krebsdiagnose diverse Studien in den vergangenen Jahren gezeigt, dass entsprechend trainierte KI-Systeme Metastasen und Melanome, insbesondere in frühen Phasen, präziser und zuverlässiger identifizieren als erfahrene FachärztInnen, mit entsprechend verbesserten Heilungschancen für die PatientInnen (Albat 2018; Ärzteblatt 2017). Und Roboter, verstanden als „in einen physischen Körper integrierte künstliche Intelligenz“, die ihre „Umwelt wahrnehmen und gezielt und autonom mit ihr interagieren kann“ (Franke und Leveringhaus 2015, S. 298; Dieckow 2015), verbinden jene KI-spezifische Präzision und Schnelligkeit mit dem Vorzug, für Aufgaben einsetzbar zu sein, deren Verrichtung für Menschen zu monoton, dreckig oder gefährlich (‚dull, dirty, dangerous‘) wäre (Frank und Leveringhaus 2015, S. 297) – oder auch in einem für Menschen, z. B. wegen großer Hitze oder Kälte, Sauerstoffmangel, Kontamination mit Giftstoffen oder Krankheitserregern, nicht zugänglichen Umfeld. In naher Zukunft (Ackerman 2018; Schäfer 2018; Engelking 2015) könnte es auch durchaus machbar sein, Geiseln oder Entführungsopfer in militärisch komplexem Umfeld – man denke etwa an

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die Verschleppung von Frauen und Kindern 2014 durch den IS im Irak und durch Boko Haram in Nigeria oder an die Besetzung der Großen Moschee in Mekka 1979 durch deren islamistisch-terroristische Vorläufer (SZ.de 2014; Salloum 2014; Förster 2016) – durch den Einsatz militärischer Robotik zu befreien: mithilfe von Kampfdrohnenschwärmen, die aufgrund ihrer trainierten Bilderkennungssoftware die Entführungsopfer von den Entführern unterscheiden und Letztere autonom ohne Kollateralschäden effektiv neutralisieren können. Der militärische Einsatz von Drohnentechnologie und anderen autonomen Systemen, insbesondere, wenn sie kinetische Wirkung erzielen können, also bewaffnet sind (‚Killerdrohnen‘, ‚Killer-Roboter‘), ist hochgradig umstritten (Kurz 2018; Lobe 2017; Armbruster 2017). Aber das genannte Szenario einer wirksamen Bekämpfung von schwersten Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen könnte den Blick für eine differenziertere Betrachtungsweise öffnen. Davon abgesehen scheint die Beurteilung der positiven Wirkungen von KI in zivilen Bereichen leichter: Hunger und Krankheit, zwei der drei laut Y. N. Harari (2017) großen Probleme, mit denen die Menschheit seit Anbeginn zu kämpfen hatte – auf das dritte, den Krieg, wird noch zurückzukommen sein – scheinen aufgrund wissenschaftlicher und medizinischer Fortschritte durch KI, wie beispielsweise in der Entschlüsselung des Weizengenoms oder in der Krebsdiagnostik, lösbar. Zumindest, wenn man voraussetzen kann, dass diese Fortschritte all denjenigen zugutekommen, die ihrer bedürfen, den Unterernährten und Kranken, was daran erinnert, dass die Bewertung neuer Technologien als ‚Fluch oder Segen‘ nicht unabhängig von der politischen und ökonomischen Ordnung erfolgen kann, die über die Verteilung der Früchte dieser technologischen Errungenschaften entscheidet und auf die diese Technologien selbst einwirken. Darüber hinaus könnte die technologische Entwicklung von KI – jenseits aller Fragen nach der guten und gerechten Ordnung – dramatische Folgen für das Schicksal der Menschheit haben, wenn aufgrund der Disruptivität dieser Technologie in einem Entwicklungssprung eine ‚starke KI‘ entstünde, die, im Unterschied zu den heute existierenden ‚schwachen‘ KI-Systemen, über Bewusstsein, eigene Identität und Interessen verfügt und als maschinelle ‚Superintelligenz‘ (Bostrom 2016) die Menschheit versklavt oder auslöscht (Vowinkel 2017; Ramge 2018, S. 18–19, 81–87). Aber auch, wenn man sich, noch diesseits der Erwartung solcher ‚technologischen Singularität‘ unter der Prämisse eines instrumentellen Einsatzes schwacher KI-Systeme auf die Frage nach den daraus erwachsenden sicherheitspolitischen Herausforderungen beschränkt, ist die Lage bereits hinreichend komplex und ambivalent. Denn zunächst handelt es sich bei KI um eine ‚dual-use technology‘, die, wie die AutorInnen einer jüngst veröffentlichten Studie über den „Malicious Use of AI“ betonen, defensiv wie offensiv, militärisch wie zivil, in schädlicher („harmful“) oder

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nützlicher („beneficial“) Absicht eingesetzt werden kann (Brundage et al. 2018, S. 16) – und schließlich auch, wie sich in spezifisch politischer Perspektive hinzufügen lässt, von ‚Freund und Feind‘ (Schmitt 1987). Offensichtlich sind die aufgezählten Unterscheidungen nicht alle deckungsgleich: Nicht jeder zivile Einsatz ist nützlich, nicht jeder offensive schädlich, nicht jeder militärische offensiv, nicht jeder feindliche militärisch, nicht jeder defensive freundlich – was allerdings als nützlich oder schädlich bewertet wird, ist wesentlich durch die politische Perspektive bestimmt. Die Frage, ob und inwiefern KI-Systeme eine sicherheitspolitische Herausforderung sind, lässt sich auf einer ersten, akteursbezogenen Ebene deshalb spezifizieren durch die Frage: Wer nutzt KI-Anwendungen zu welchen Zwecken mit welchen Zielen? Aufgrund ihrer sicherheitspolitischen Dualität bietet die KI-Technologie der liberalen Demokratie ebenso Mittel zur ihrer Verteidigung, zur Bekämpfung ihrer Feinde, zur Verringerung ihrer Vulnerabilität und zur Stärkung ihrer Resilienz (Hanisch 2016), wie sie auch deren Feinden Mittel zum Angriff bereitstellt. Es bedarf einer ‚politisch-strategischen Hermeneutik‘ (Münkler und Wassermann 2012), eines Sich-Hineinversetzens in die Perspektive eines potentiell feindlichen Akteurs, um zu erkennen, welches Potential an schädlichen Anwendungen die KI-Technologie bereithält und in absehbarer Zeit vermutlich noch bereitstellen wird, welche Bedrohungen davon ausgehen und welche Vulnerabilitäten dabei ausgenutzt werden können oder daraus entstehen. Die Komplexität des Befundes nimmt weiter zu, wenn man bedenkt, dass es sich bei KI um eine „Querschnittstechnologie“ handelt, die im Kontext einer umfassenden „digitalen Revolution“ die gesamte moderne Gesellschaft in ihrer Kommunikations- und Produktionsweise grundlegend erfasst (Ramge 2018, S. 20), wie sich in zeit- und gesellschaftsdiagnostischen Benennungsangeboten wie „Digitalgesellschaft“ beziehungsweise „Digitalzeitalter“ (Stengel et al. 2017) oder „Kultur der Digitalität“ (Stalder 2016) reflektiert. Die von vielen ExpertInnen erwartete Massenarbeitslosigkeit infolge der Ersetzung menschlicher Arbeitsplätze durch Roboter und andere KI-Systeme (Ramge 2018, S. 22–25) ist aus einem erweiterten Sicherheitsverständnis (Daase 2010) ebenso eine Herausforderung, wie aus einem engeren Verständnis der politisch-militärischen Sicherheit liberaldemokratischer Staaten, weil sie zum einen unmittelbar die ökonomische Sicherheit und Lebensaussichten von Individuen betrifft, wie zum anderen mittelbar die Stabilitätsbedingungen und Resilienz des liberaldemokratischen Gemeinwesens. Andere nichtintentionale Effekte und systemische Auswirkungen des Einsatzes von KI betreffen das Feld der internationalen Beziehungen. So zeigen Geist und John (2018), dass die Gefahr eines thermonuklearen Eskalationsszenarios durch den militärischen Einsatz von KI wächst. Denn das – aufgrund von gestiegener gegenseitiger Erwartungsunsicherheit zwischen einer nach dem Ende des Kalten

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Krieges gewachsenen Zahl von Nuklearmächten in einer multipolaren Welt ohnehin geschwächte – System der Abschreckung als Stabilitätsgarant droht vollends zu kollabieren, wenn unter den relevanten staatlichen Akteuren der Glaube oder die Gewissheit herrscht, es sei möglich, mithilfe von KI-gestützter Aufklärungsund Zielerfassungstechnologie mit den eigenen Atomraketen in Track-and-Target-Einsätzen das Nuklearwaffenarsenal des Gegners zu zerstören und ihm so die Chance zum Vergeltungsschlag zu nehmen. Die Stabilitätsgarantie, die auf der hierdurch infrage gestellten ‚survivability‘ des nuklearen Vergeltungsarsenals, also glaubhafter Abschreckung beruht und im Kern der MAD-Doktrin (mutual assured destruction) des Kalten Krieges entspricht, wird so unterlaufen (Geist und John 2018, S. 6–12), und für potentielle Aggressoren wird die Aussicht verlockend, einen konfliktentscheidenden nuklearen Erstschlag auszuführen, mit dem die Vergeltungsfähigkeit des Gegners zerstört wird. Für von dieser Aussicht bedrohte Akteure wiederum erscheint es als eine Frage des Überlebens, die eigenen Vergeltungswaffen, deren ‚survivability‘ nun nicht mehr gewährleistet ist, einzusetzen, bevor sie durch den Feind zerstört werden: entweder in einem Präventivschlag oder während die feindlichen Interkontinentalraketen im Anflug sind – oder im Anflug gewähnt werden –, mit Blick auf das eigene Arsenal nach dem Motto: „use it or lose it“ (Geist und John 2018, S. 18). In letzterem Fall würde also ein Fehlalarm genügen, um eine thermonukleare Eskalation auszulösen. Und generell spielt für diese Szenarien zunächst keine Rolle, ob die KI-gestützten Waffensysteme tatsächlich so leistungsfähig sind, dass sie das Arsenal des Gegners zuverlässig zerstören können, solange nur daran geglaubt wird. Tatsächlich wäre es allerdings für den Fall eines aggressiven Erstschlages oder eines Präventivschlages weniger fatal, wenn es wirklich gelänge, dem Gegner die Vergeltungsfähigkeit vollständig zu nehmen, weil dann die weitere Eskalation ausbliebe – was aber im Umkehrschluss bedeutet, dass gerade in der Selbstüberschätzung der eigenen Fähigkeiten, die einen aggressiven oder ängstlichen Akteur zu so einem Erst- oder Präventivschlag verleiten können, eine zusätzliche Gefahr liegt, die das Risiko einer thermonuklearen Selbstauslöschung der Menschheit vergrößert. Ein ‚Tracking-and-Targeting-System‘, das funktionsfähig ist, ist weniger gefährlich als eines, das nur dafür gehalten wird (Geist und John 2018, S. 1). Andere Überlegungen zur Zukunft des Krieges befassen sich mit den möglichen Auswirkungen der in den letzten Jahren sprunghaft angestiegenen Proliferation militärischer KI-Systeme insbesondere im Bereich der Robotik, vor allem von Unmanned Aerial Systems (UAS), also bewaffneten und unbewaffneten Drohnen (Franke und Leveringhaus 2015, S. 303–305). Franke und Leveringhaus (2015) referieren fünf mögliche Szenarien: Die „Olympische Perspektive“ einer „revolution in military affairs“ verspricht sich von dem militärischen Einsatz von KI und den dadurch ver-

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besserten Möglichkeiten für Aufklärung und chirurgische Eingriffe „präzisere[…], schnellere[…], erfolgreichere[…], möglicherweise gar humanere[…]“ Kriege. Das „Terminator-Szenario“ artikuliert die Befürchtung, dass „Roboter Entscheidungen über Leben und Tod treffen“ – und sich möglicherweise nicht kontrollieren lassen. Das „Terrorismus-Szenario“ warnt vor der enormen Schadenswirkung von – auch mit nuklearen, chemischen oder biologischen Kampfstoffen – bewaffneten UAS in den Händen asymmetrischer Akteure und plädiert zur Proliferationsvermeidung für schärfere Rüstungskontrollinstrumente. Das Szenario einer „Normalisierung des Krieges“ kritisiert, dass insbesondere durch die Verwendung letaler UAS als für den Angreifer risikoarme Distanzwaffen die Hemmschwelle zum militärischen Einsatz sinkt und die Differenz von Krieg und Frieden verwischt wird, sodass ein „latenter Kriegszustand, in dem jeder jeden jederzeit angreifen könnte, […] zur Normalität“ würde. Und die AnhängerInnen der „skeptischen Sichtweise“ schließlich sind im Hinblick auf die Chancen und Gefahren militärischer Robotik weder besonders optimistisch, noch pessimistisch und plädieren gegenüber den VertreterInnen der anderen vier Szenarien für „Gelassenheit“ (Franke und Leveringhaus 2015, S. 305–309). Gelassenheit ist sicher eine prinzipiell angemessene und erstrebenswerte Haltung, aus der heraus man dann allerdings auch erkennen sollte, dass die Lage unübersichtlich und bezüglich ihrer weiteren Entwicklung auch in naher Zukunft kaum zu prognostizieren ist. Und dies gilt, neben allen anderen, akteursbezogenen und systemischen, gesellschaftlichen und internationalen Faktoren, allein schon aufgrund der Tatsache, dass es sich bei KI um eine disruptive Technologie handelt, von der sich nicht sagen lässt, welche Entwicklungssprünge sie in den kommenden Jahren machen wird. Auch, wenn es sich beim nächsten Sprung nicht um die technologische Singularität handeln sollte, infolge derer sich die sicherheitspolitische Fragestellung angesichts starker KI in dramatischer Weise verändern würde, kann man doch wissen, dass die digitale Technologie ein Potential an Sprunginnovationen bereitstellt, aufgrund dessen mit einer unbestimmten Menge an unkown unknowns im Bereich sicherheitspolitischer Herausforderungen durch KI gerechnet werden muss. Das bedeutet nicht, dass sich die Frage, worauf sich die liberale Demokratie diesbezüglich einstellen muss, nicht beantworten lässt. Es bedeutet lediglich, dass jede Antwort auf diese Frage notwendig lückenhaft ist und dass man das wissen kann – und dass man dies bei der Folgefrage, wie sich die liberale Demokratie darauf einstellen kann, berücksichtigen sollte. Die folgenden beiden Abschnitte versuchen eine Annäherung an diese beiden Fragen nach dem „Worauf“ (2) und dem „Wie“ (3).

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2 Fragt man vor dem Hintergrund des skizzierten Panoramas möglicher sicherheitspolitischer Herausforderungen durch KI danach, auf welche dieser Herausforderungen sich die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik strategisch einstellen sollte, wird man vor allem den Bereich asymmetrischer und hybrider Bedrohungen durch den feindlichen Gebrauch von KI-Anwendungen und die damit verbundene Ausnutzung von ‚strategischen Vulnerabilitäten‘ (Münkler und Wassermann 2012) in den Blick nehmen, wie sie insbesondere von Brundage et al. (2018) beschrieben werden. Das aus der Disruptivität der Technologie resultierende Problem der unknown unknowns ist dabei nicht außer Acht zu lassen – und tatsächlich wird ein Teilaspekt der adäquaten strategischen Antwort auf jene asymmetrischen und hybriden Herausforderungen zugleich die bestmögliche Lösung für das Problem der unknown unknowns sein, nämlich Investition in Forschung und Entwicklung. Die anderen Herausforderungen stellen, aus unterschiedlichen Gründen, keine primär strategischen Probleme dar, auch wenn sie mittelbar politischen Handlungsbedarf erzeugen: Deutschland ist keine Nuklearmacht, sodass sich hier nicht die Frage nach der Einführung von KI-Systemen zur Verbesserung der eigenen Nuklearstrategie stellt, was nicht ausschließt, sich bei internationalen Verhandlungen und Vereinbarungen zur Kontrolle solcher Technologien zu engagieren. Letzteres betrifft auch das derzeit virulente Thema ‚autonome Waffensysteme‘, auch wenn die damit einhergehende, prominent und resonanzträchtig von Elon Musk geäußerte Befürchtung, sie stellten für die Menschheit eine ‚größere Gefahr als Atombomben‘ dar (Robinson 2018; Armbruster 2017), noch recht abstrakt erscheint und zu ihrer Plausibilisierung wohl jenes als ‚technologische Singularität‘ bezeichneten Sprunges bedürfte, der das Schicksal der Menschheit einer maschinellen Superintelligenz (Bostrom 2016) unterwürfe. In diesem Fall wäre die Gefahr eines globalen Atomkrieges in der Tat ‚trivial‘, denn eine solche superintelligente, starke KI würde die Menschheit entweder – wenn sie wohlwollend ist – ein für alle Mal von der Gefahr ihrer thermonuklearen Selbstvernichtung befreien, oder aber – übelwollend – sich eben dieses vorhandenen Waffenarsenals bedienen, um die Menschheit auszulöschen, wie Geist und John (2018, S. 13) argumentieren. Die durch die progressive Umstellung gesellschaftlicher Produktion und Kommunikation auf KI hervorgerufene Massenarbeitslosigkeit als erweiterte oder indirekte sicherheitspolitische Herausforderung schließlich stellt ein ernsthaftes und massives Problem dar, das sich allerdings nicht im engeren Sinne strategisch bearbeiten lässt, sondern einen bereits jetzt drängenden und dringenden, grundsätzlichen politischen Handlungsbedarf erzeugt, dessen weitere Reflexion aber, ebenso wie die eingangs aufgeworfene Frage nach der politischen und ökonomischen Ordnung

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einer durch digitale Technologie geprägten Gesellschaft, jenseits des hier eingenommen Fokus auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen durch KI liegt. Das in dieser Beziehung naheliegende und virulente Problem sind die ‚schädlichen‘ Anwendungsmöglichkeiten von KI-Systemen durch feindliche Akteure. Folgt man Brundage et al. (2018), werden sich liberale Demokratien darauf einstellen müssen, in den nächsten Jahren mit einem breiten Spektrum von feindlichen Angriffen konfrontiert zu werden, die ihre Sicherheit in den Bereichen des Cyberraums („Digital Security“), der Unversehrtheit von Menschen und physischen Objekten der Infrastruktur („Physical Security“) und der politischen Stabilität des liberaldemokratischen Gemeinwesens („Political Security“) gefährden (Brundage et al. 2018, S. 3–6, 30–49). Dazu zählen im Bereich der digitalen Sicherheit Cyberangriffe, die, wie ‚spear phishing‘ oder DDoS-Attacken, mithilfe von KI in bisher unbekannter Präzision und Größenordnung erfolgen können, die KI-optimierte Ausnutzung von menschlichen und Software-Vulnerabilitäten, beispielsweise das Fälschen von Identitäten durch Sprachsynthese oder automatisiertes Hacking, und schließlich die Manipulation von KI-Systemen, etwa durch die ‚Vergiftung‘ der deren Selbstlernprozess steuernden Daten („data poisoning“), also durch das Ausnutzen KI-spezifischer Vulnerabilität (Brundage et al. 2018, S. 17; Geist und John 2018, S. 19). Darüber hinaus kann jede Form des durch KI optimierten oder/ und KI-Systeme angreifenden Hacking auch darauf zielen, ‚cyber-physische‘ Systeme – Stromnetze, Atomkraftwerke und andere kritische Infrastrukturen, aber auch Roboter, autonome Fahrzeuge, Smart Homes und andere vernetzte Objekte (‚Internet of Things‘), möglicherweise auch, wie Gaycken (2017) erwähnt, Herzschrittmacher –, zu kapern beziehungsweise zur Erzeugung von Schaden in der physischen Welt, etwa durch Sabotage oder Attentate, einzusetzen. Damit ist der Bereich der physischen Sicherheit angesprochen, der neben prioritär geschützten Hochwertzielen die ganze Breite an weichen Zielen umfasst, die in besonderer Weise von Angriffen durch (semi-)autonome Waffensysteme bedroht sind, von zu Anschlagszwecken umfunktionierten Freizeitdrohnen über genuin militärische Kampfdrohnen (ob gekapert oder nicht) bis hin zum autonomen Mikrodrohnenschwarm. Brundage et al. (2018, S. 27) entwerfen exemplarisch ein Szenario, in dem TerroristInnen einen mithilfe von Gesichtserkennungssoftware und einer autonom bei Zielerkennung auslösenden Sprengladung zum Attentats-Droiden aufgerüsteten Reinigungsroboter sich in ein Ministerialgebäude einschleusen lassen, um bei erster Gelegenheit die Ministerin zu töten. Dass solche Attentate, ebenso wie Anschläge auf weiche Ziele und kritische Infrastrukturen mit ihren potentiellen Schock- und Destabilisierungswirkungen auch den dritten Bereich der politischen Sicherheit betreffen, ist evident. Zusätzlich identifizieren die AutorInnen in diesem Bereich spezifisch demokratiegefährdende Bedrohungen und Vulnerabilitäten durch

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den Einsatz von KI zum Zwecke automatisierter Überwachung, Manipulation und Täuschung der Bevölkerung mithilfe beispielsweise von Big-Data-Analysen, zielgerichteter Propaganda, manipulativem Bild- und Videomaterial und Verhaltens- und Stimmungsanalysen, die jeweils durch diese Technologie effizienter oder auch erst möglich werden (Brundage et al. 2018, S. 43–49). Gerade die letzten Beispiele für KI-Anwendungen, die die politische Sicherheit von liberalen Demokratien gefährden, beispielsweise in den Händen von AngreiferInnen, die hybride Strategien anwenden, sind zugleich exemplarisch für den Nutzen, den autoritäre Regime aus dieser Technologie zur Stärkung ihrer ‚politischen Sicherheit‘ ziehen können, im Sinne der Stabilisierung ihrer Herrschaft nach innen. Dies wirft die Frage auf, ob nicht generell durch die technologische Entwicklung von KI unter sicherheitspolitischen Aspekten die Feinde der liberalen Demokratie dieser gegenüber begünstigt werden. Die Auflistung der sicherheitsrelevanten Eigenschaften von KI bei Brundage et al. (2018, S. 16–18) legt zumindest den Schluss nahe, dass asymmetrische Akteure hiervon stärker profitieren können als liberaldemokratische Staaten, und zwar einfach deswegen, weil mit dieser Technologie auch einzelne Individuen oder kleine Gruppen vergleichsweise einfach und kostengünstig in den Besitz von unerkannt und mit geringem Selbstgefährdungsrisiko aus der Distanz einsetzbaren Angriffs- und Zerstörungsmitteln kommen können, über deren Präzision, Schadenswirkung und Destruktivität zuvor allenfalls das Waffenarsenal von Staaten und vielleicht anderen Großorganisationen verfügte – ähnlich, wie im ausgehenden 19. Jahrhundert das neu erfundene Dynamit schnell zur bevorzugten Anschlagswaffe terroristischer Attentäter wurde. Aber das bedeutet natürlich keinesfalls, dass KI-Systeme aufgrund der gleichen Eigenschaften nicht auch von besser organisierten und ressourcenstärkeren, insbesondere staatlichen Akteuren zur Verbesserung ihrer offensiven und defensiven Fähigkeiten genutzt werden können. Worauf also hat man sich einzustellen? Brundage et al. (2018, S. 5, 18–22) rechnen insgesamt, erstens, mit einer Ausweitung bereits existierender Bedrohungen im Hinblick auf die Menge und Diversität möglicher Angriffsziele, die Zunahme der Häufigkeit von Angriffen und die Erweiterung des Kreises dazu befähigter feindlicher Akteure. Zweitens sind nach Auffassung der AutorInnen neue Bedrohungen zu erwarten, die durch den offensiven Einsatz von KI überhaupt erst möglich werden oder spezifische Vulnerabilitäten defensiver KI-Systeme ausnutzen. Und diese (alten wie neuen) Bedrohungen werden sich, drittens, typischerweise dadurch auszeichnen, dass sie im Angriff und in der Ausnutzung von Vulnerabilitäten besonders effektiv und zielgenau und bezüglich ihrer Urheberschaft schwer zu verfolgen sind. Angesichts dieser neuen Bedrohungslandschaft kommen liberaldemokratische Staaten nicht umhin, ihre Fähigkeiten durch Forschung und Entwicklung zu verbessern: um wissen zu können, womit zu rechnen ist; um konkrete Angriffe

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abwehren oder gegebenenfalls deren Folgen besser bewältigen zu können; um durch präventive Maßnahmen Bedrohungen zu neutralisieren und eigene Vulnerabilitäten zu minimieren. Neben dieser KI-Resilienz (in den drei P-Dimensionen ‚preparedness‘, ‚persistence‘, ‚prevention‘) stärkenden Bedeutung kommt es auch darauf an, im globalen Wettstreit um technologische Vorherrschaft im KI-Bereich nicht den Anschluss zu verlieren, aus Gründen der nationalen militärischen wie ökonomischen Sicherheit, aber auch der internationalen politischen Einflussmöglichkeiten. In diesem Wettstreit scheinen autoritäre Systeme gegenüber liberalen Demokratien im Vorteil zu sein, weil sie die technologische Entwicklung zentralistisch und ohne Rücksicht auf rechtsstaatliche und menschenrechtliche Prinzipien vorantreiben, insbesondere bei der massenhaften Erhebung von Daten, dem „Rohstoff der Künstlichen Intelligenz“ (Ramge 2018, S. 88). Der Wettbewerbsvorteil, den insbesondere China in diesem Wettrennen gegenüber liberalen Demokratien hat, könnte sich allerdings dadurch relativieren, dass in dem Maße, wie die gesellschaftliche Gleichschaltung durch den chinesischen Social-Credit-Score voranschreitet (Ramge 2018, S. 90–92), die Daten zwar immer mehr, aber auch immer homogener werden – und sich so, bei aller Quantität, deren Qualität für die Zwecke maschinellen Lernens, ihre Diversität, verschlechtert. Werden KI-System nur mit Bildern von Hunden und Katzen trainiert, können sie keine Wölfe erkennen (Dickow und Jacob 2018, S. 2). Und wie erfolgreich auch liberale Demokratien in der Entwicklung digitaler Technologie sein können, zeigt das Beispiel der USA.

3 Vor fünfzehn Jahren gewann der fränkische Informatiker Franz Josef Och den von der Defense Advanced Research Projects Agency des Pentagon, der legendären DARPA, ausgerufenen Wettbewerb in Maschineller Übersetzung (Machine Translation, MT) mit einem Programm, mit dem er seinen Computer in nur vier Wochen darauf trainieren konnte, Übersetzungen von Hindi ins Englische anzufertigen (Evers 2003). Bald darauf ist er Leiter der MT-Abteilung bei Google geworden, wo er mit seinem Team MT-Systeme entwickelt, die auch die automatische Übersetzung kleiner, von wenigen Menschen gesprochener Sprachen wie Isländisch, Jiddisch oder die Kreolsprache Haitis erlauben – aufgrund verbesserter Algorithmen und „thanks to the internet and the availability of data there“ (Och 2010). Diese Geschichte ist im vorliegenden Kontext in mehrfacher Hinsicht relevant und symptomatisch: für Brain Drain in Deutschland, für die Leistungsfähigkeit von KI, für die Schlüsselrolle der DARPA im Bereich technologischer Innovationen,

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der die Menschheit bekanntlich auch die Existenz des Internet verdankt, und für die duale Anwendbarkeit von KI, wie in diesem Fall zu zivilen Zwecken (Google Translate) wie zu Zwecken militärischer und geheimdienstlicher Aufklärung, die das Interesse der DARPA an Maschineller Übersetzung nach 09/11 begründete. Man kann darüber hinaus die Aufgabenstellung des DARPA-Wettbewerbs und die Lösungsstrategie Ochs als Metapher für die sicherheitspolitische Lage angesichts der skizzierten Herausforderungen durch KI verstehen. Die TeilnehmerInnen an dem Wettbewerb erfuhren erst kurzfristig, für welche Sprache ihre Rechner Übersetzungen anfertigen sollten, und mussten daher die Programme so gestalten, dass sie prinzipiell auf jede beliebige Sprache anwendbar sind, für die ausreichend Trainingsdaten verfügbar sind, sodass in dem Moment, da die Wettbewerbssprache verkündet wurde – „Die Überraschungssprache ist Hindi … Viel Glück!“ (Evers 2003, S. 170) – Ochs Computer sogleich damit beginnen konnte, Hindi zu lernen und die Aufgabe zu lösen. Im Hinblick auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen durch KI kann man ebenfalls abstrakt wissen, womit zu rechnen ist, und zwar in einem Spektrum von relativ konkreten Bedrohungsszenarien, bei denen weniger die Frage ist, ob sie eintreten, sondern wann, bis hin zu den berüchtigten, durch die Disruptivität der digitalen Technologie bedingten unknown unknowns. Die strategische Herausforderung besteht darin, sich durch das, was dann eintritt, nicht zu sehr überraschen zu lassen, d. h. im Falle etwaiger Überraschungen hinreichend vorbereitet zu sein und reagieren zu können – so wie Ochs Rechner, der nach Verkündung der Überraschung sogleich mit Hindi-Trainingsdaten gefüttert werden konnte und dadurch in kurzer Zeit bereit war, die Übersetzungsaufgabe zu lösen. Emmanuel Macron begründete unlängst in einem Gespräch über Frankreichs KI-Strategie deren Notwendigkeit damit, dass angesichts der disruptiven Technologie die einzige Möglichkeit, von nicht einmal auf fünf Jahre voraussagbaren Entwicklungen im KI-Bereich nicht überrannt und marginalisiert zu werden, darin besteht, selbst Teil dieser Disruption zu sein, d. h. massiv in Forschung und Entwicklung in diesem Bereich zu investieren und so eine aktive Rolle in der ‚KI-Revolution‘ zu spielen (Macron 2018). Im Weißbuch von 2016 wird diese Einsicht sinngemäß formuliert, wenn dort unter dem Titel „Innovation als Schlüssel zur Zukunftssicherung“ festgestellt wird, dass die Bundeswehr u. a. „stärker an Innovation außerhalb eigener F&T [Forschung und Technologie] partizipieren“ und dafür auch „auf neue Innovationstreiber wie Start-ups und die gesamte digitale Wirtschaft zugehen“ und „Mittel auch für explorative, disruptive Forschung bereitstellen“ muss. Zudem ist demnach „die Entwicklung einer Agentur oder Gesellschaft [zu] prüfen, die als Schnittstelle zu Innovationsakteuren fungiert und ggf. auch Mittel zur Beteiligung an Studien oder Start-ups in Schlüsseltechnologien steuert“, denn „die heutigen Herausforderungen rund um die Bereiche Cyber- und Informationsraum und

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Digitalisierung, Autonome Systeme und Hybridisierung [verlangen] die Fortentwicklung und Erweiterung des klassischen F&T-Ansatzes mit Eigenmitteln: Viele zukunftsweisende technologische Innovationsquellen existieren zunehmend auch außerhalb des Verteidigungssektors. Innovation verläuft weniger linear, sondern zunehmend disruptiv und exponentiell. Technologien wie künstliche Intelligenz haben viele Anwendungen, die nicht nur geplant, sondern auch explorativ entwickelt werden müssen.“ (Weißbuch 2016, S. 131–132) KI findet im Weißbuch nur in diesem zitierten Zusammenhang explizite Erwähnung, allerdings lassen sich einige der oben skizzierten Herausforderungen von KI auch den an anderer Stelle (Weißbuch 2016, S. 36–37) dargelegten „Herausforderungen aus dem Cyber- und Informationsraum“ subsumieren, insbesondere die Beobachtung, dass sich nicht „nur die Quantität, vor allem die Qualität der Bedrohung […] spürbar gewandelt“ hat, etwa durch die „technische Weiterentwicklung von einfachen Viren hin zu komplexen, schwer erkennbaren Attacken“, durch den leichten und günstigen, auch für terroristische oder kriminelle Organisationen, Gruppen oder Einzeltäter möglichen „Zugang zu Software mit hohem Schadens­potenzial“ und durch „Hochwertangriffe“, die „maßgeschneidert auf das jeweilige Zielsystem“ sind. Neben Cyberangriffen auf kritische Infrastrukturen kommt zudem, als „besondere Herausforderung für offene und pluralistische Gesellschaften“, der „Nutzung der digitalen Kommunikation zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung […] als Element hybrider Kriegführung zentrale Bedeutung zu.“ Ergänzend lässt sich zur Einschätzung der offiziellen ‚KI-Bewusstheit‘ im BMVg die neue, im Juli 2018 erlassene Konzeption der Bundeswehr (KdB) hinzuziehen. Auch die KdB erwähnt „Künstliche Intelligenz“ explizit nur einmal, als Beispiel für „innovative[…] Wege[…] und Ansätze[…]“ beziehungsweise „Instrumente […] und Methoden zur Gewinnung, Bündelung, Analyse und Auswertung“ von Erkenntnissen, die für Krisenfrüherkennung, Informationsgewinnung und Informationsmanagement zu nutzen sind (KdB 2018, S. 49). Aber sie hebt an anderer Stelle auch die „herausgehobene[…] Bedeutung“ hervor, die das „Potenzial unbemannter Systeme und ihre Einsatzperspektiven […] aus Sicht der Fähigkeitsentwicklung“ haben, weshalb die „weitere militärische Erforschung, Entwicklung und Nutzung unbemannter Systeme […] intensiv zu untersuchen und wo zielführend zu realisieren“ ist (KdB 2018, S. 49). Und die Bundesministerin der Verteidigung warnt im Mai 2018 in einer Rede vor feindlichen „Einsätze[n] von Drohnenschwärmen gegen zivile Ziele“, „Cyberattacken gegen kritische Infrastruktur“ und anderen „hybriden neuen Bedrohungen“, auf die sich die Bundeswehr einstellen muss (Leyen 2018, S. 9). Zugleich avisiert sie eine entscheidende Verbesserung der Prognosetechniken im Bereich der Krisenfrüherkennung durch die „künftig[e]“ Unterlegung mit KI-Verfahren (Leyen 2018, S. 13).

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Vor dem Hintergrund dieser Lagebeurteilung wurden, auch aus Sicht der hier dargelegten Einschätzung der Frage, wie sich liberale Demokratien auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen durch KI strategisch einstellen sollten, richtige und wichtige Schritte unternommen. Dazu zählen insbesondere die Einrichtung des Organisationsbereichs Cyber- und Informationsraum (CIR) (KdB 2018, S. 43–44, 74) und die Gründung des Cyber Innovation Hub (CIH) der Bundeswehr, beides 2017. Der CIH soll, gemäß den zitierten Vorgaben im Weißbuch, proaktiv auf neue Innovationstreiber im digitalen Bereich auch außerhalb des Verteidigungssektors zugehen – und so, in den Worten der Ministerin, die Funktion von „Schatzsucher[n]“ erfüllen, „die rausgehen, um im Öko-System der Start-ups die Technologien oder die Start-ups zu suchen, die vielleicht auf die Dauer für uns interessant sein könnten. Das heißt, wir warten nicht, bis daraus ein gewichtiges Unternehmen geworden ist, das mit einem Angebot zu uns kommt, sondern wir gehen frühzeitig raus und suchen die relevanten Player, die vielleicht eines Tages für uns die Richtigen sein könnten.“ (Leyen 2018, S. 14). Ein weiterer wichtiger Schritt ist die im Weißbuch 2016 als zu prüfend projektierte, im August 2018 vom Bundeskabinett beschlossene Gründung der „Agentur für Innovation in der Cybersicherheit“ im Verantwortungsbereich von BMVg und BMI, die die Förderung und Finanzierung von hochgradig innovativen Forschungs- und Entwicklungsprojekten im Bereich der Cybersicherheit und diesbezüglicher Schlüsseltechnologien zum Gegenstand hat (Spiegel Online 2018, 29. Aug.) und damit, nach den Worten der Ministerin, im Sinne der „Philosophie“ des CIH „eigentlich das Grundprinzip von DARPA hier auch entwickeln“ soll (Leyen 2018, S. 14). Es lässt sich einwenden, dass gegenüber dem Jahresbudget von 3 Milliarden US-Dollar, über das die DARPA verfügt, ein Fünf-Jahres-Etat von 200 Millionen Euro sich bescheiden ausnimmt, um das erklärte Ziel zu erreichen, mithilfe der Agentur im Bereich der Cybersicherheit „im internationalen Vergleich die Führung oder zumindest eine Spitzenposition“ einzunehmen (Spiegel Online 2018, 29. Aug.). Aber die Richtung stimmt, um – um den Gedanken Macrons aufzunehmen – Teil der Disruption zumindest zu werden, die die Forschung und Entwicklung im Bereich KI bedeutet. Die Frage ist nur, ob dies schnell genug gehen wird. Die Bedeutung, die KI insbesondere für das quasi leitmotivisch das Weißbuch durchziehende Thema ‚Cyber- und Informationsraum‘ beziehungsweise ‚Cybersicherheit‘ zukünftig haben wird, bezeichnete der NSA-Chef Mike Rogers kürzlich als „foundational“: „It’s not the if, it’s only the when to me“ (Brundage et al. 2018, S. 32). Dass das diesbezügliche Problembewusstsein auch unter sicherheitspolitischen ExpertInnen und VerantwortungsträgerInnen in Deutschland bereits vorhanden ist, zeigen die jüngst in einem Interview geäußerten Einschätzungen der ehemaligen Staatssekretarin im BMVg Katrin Suder, die den punktuellen Er-

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wähnungen von KI in Weißbuch und KdB mehr Tiefe verleihen. Suder spricht über die infolge von Digitalisierung zunehmende Vulnerabilität sowohl militärischer wie ziviler Infrastruktur, die daraus folgende Bedeutung von Cybersicherheit und die „Frage, welche Rolle KI darin einnimmt. KI lässt sich zum Beispiel als Tool einsetzen, um Cyberangriffe zu fahren oder sich dagegen zu verteidigen. KI kann Cyberangriffsmuster erkennen, und wer es schafft, die beste KI zu entwickeln, hat wiederum einen Verteidigungs- oder gar Angriffsvorteil. Deshalb spielt KI sicherheitspolitisch eine so bedeutende Rolle – wie bei jeder Technologie geht es um Vorherrschaft. Wir befinden uns mitten in einem globalen Wettstreit, vor allem zwischen den USA und China.“ (Suder 2018, S. 17) KI habe „definitiv das Potenzial, die gesamte Dynamik im Cyberraum zu verändern. Es handelt sich um eine Fähigkeit, die Wirkungsüberlegenheit herstellen kann. Damit geht es um den Kern von Sicherheit“ und zwar, jenseits des Bereichs der digitalen Sicherheit, auch im Hinblick auf die Auswirkungen in der physischen Realität (Suder 2018, S. 18), von asymmetrischen und hybriden Bedrohungen kritischer Infrastrukturen über die Chancen der Verwendung von KI-Systemen im Bereich der Krisenfrüherkennung und der Gefechtsfeldaufklärung bis hin zu den Vorteilen des Einsatzes autonomer Waffensysteme zur Raketenabwehr – und der ethischen Problematik ihres Einsatzes gegen Menschen (Suder 2018, S. 16–19). Bezüglich des letzten Punktes, des Themas „Killerroboter“, sei die ablehnende Haltung der Bundesregierung eindeutig und zu begrüßen, ebenso wie Deutschlands Engagement für mehr internationale Regulierung auf dem Feld, aber „[w]as andere Länder machen werden, ist – leider – nicht unter unserer Kontrolle“ (Suder 2018, S. 16). Dass das Thema KI im Kreise bundesdeutscher sicherheitspolitischer ExpertInnen und VerantwortungsträgerInnen angekommen ist, zeigt exemplarisch auch eine im August 2018 an der Führungsakademie der Bundeswehr (FüAkBw) unter dem Titel „Künstliche Intelligenz – Chance und Herausforderung“ abgehaltene Tagung, bei der allerdings auch moniert wurde, dass gegenüber anderen Nationen, die „bereits Künstliche Intelligenz einsetzen und Konzepte implementiert haben, […] Deutschland mit einer fehlenden robusten KI-Strategie bislang diesem Entwicklungstrend hinterher[hängt]“ (Hoffmann und Scheffler 2018). Immerhin verkündete die Bundeskanzlerin im gleichen Monat anlässlich des ersten Treffens des Digitalrates der Bundesregierung, als dessen Vorsitzende Suder berufen wurde, die Regierung wolle nun „‘eine Strategie für die künstliche Intelligenz‘ entwickeln“ (Spiegel Online 2018, 21. Aug.). Mit Blick auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen durch KI und den Umgang damit in Deutschland ist dies symptomatisch sowohl für das bei verantwortlichen AkteurInnen und ExpertInnen vorhandene Problembewusstsein und konzeptionelle Wissen als auch für die diesbezüglichen

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Implementierungsdefizite und -rückstände, die aufzuholen man aber, wie skizziert, in letzter Zeit bemüht ist. Neben ExpertInnen-Wissen einerseits und Implementierungswillen andererseits kommt mit der Frage des öffentlichen Bewusstseins für die Chancen und Risiken von KI ein dritter Faktor ins Spiel, der selbst eine sicherheitspolitische Herausforderung ist. Denn eine liberale Demokratie kann sich auf die Gefahren für die digitale, physische und politische Sicherheit durch KI nur dann adäquat einstellen, wenn die demokratische Öffentlichkeit beziehungsweise die Bevölkerung Kenntnis davon besitzt. Und erst auf Basis eines breiten gesellschaftlichen Diskurses ist es möglich, Einsicht in die Notwendigkeit der damit verbundenen Abwehrmaßnahmen zu erwarten. Ob in Deutschland ein den dargestellten sicherheitspolitischen Herausforderungen angemessenes öffentliches KI-Bewusstsein vorhanden ist, ist schwer zu bestimmen. Einige Indizien, etwa die Verleihung des Negativpreises „Big-Brother-Award“ im Mai 2017 an die Bundesministerin der Verteidigung für die Einrichtung des Organisationsbereichs CIR mit der Begründung, die Bundeswehr ‚eröffne‘ damit ein neues Schlachtfeld und ‚erkläre‘ den Cyberraum zum ‚Kriegsgebiet‘ (Gössner 2017), sprechen jedoch dagegen. Wenn Sicherheitspolitik in einer liberalen Demokratie nicht nur aus Legitimitätsgründen, sondern auch zur Gewährleistung ihrer Umsetzbarkeit und zum Zwecke ihrer qualitativen Verbesserung der gesellschaftlichen Unterstützung und des öffentlichen Dialogs bedarf (Jacobi und Hellmann 2018), dann müssen die verantwortlichen Akteure und Institutionen aktiv dazu beitragen, auch im Bereich der Cyber- und KI-Sicherheit um öffentliche Unterstützung zu werben und das Bewusstsein für die Gefahren zu stärken, auf die sich die liberale Demokratie in diesem Bereich einzustellen hat, damit sie sich adäquat darauf einstellen kann. Allerdings greift hier das „sicherheitskommunikative Vulnerabilitätsparadox“, das besagt: „Je offener eine Gesellschaft über ihre Vulnerabilität kommuniziert, desto verwundbarer kann sie werden“, weil dies einerseits innerhalb der Bevölkerung zu – gesellschaftlicher Resilienz abträglichem, potentiell politisch destabilisierendem – Unsicherheitsempfinden führen kann, andererseits, weil feindliche Akteure aus offener „Risikokommunikation“ ihre „eigenen, strategischen Schlüsse“ ziehen können (Münkler und Wassermann 2012, S. 93). Die unvergesslichen Worte des ehemaligen Bundesinnenministers Thomas de Maizière bei einer Pressekonferenz anlässlich eines mutmaßlich vereitelten Terroranschlages, er könne der Öffentlichkeit nicht mehr über dessen Hintergründe mitteilen, weil sie das beunruhigen würde, zeigen, wie man es nicht machen sollte. Sie sind aber auch exemplarisch dafür, wie schwierig es ist, hier die richtige Balance zu finden, auch im Hinblick auf die normativen Transparenzerwartungen demokratischer Öffentlichkeit – und das unter Bedingungen einer fragmentierten Öffentlichkeit

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(Jacobi und Hellmann 2018), die in verstärktem Maße aufgrund von Filterblasenund Echokammereffekten, aber auch von diese ausnutzenden hybriden Attacken anfällig ist für ‚Fake-News‘ und andere Manipulationen, bei denen auch die hier diskutierten Missbrauchs-Möglichkeiten von KI eine erhebliche Rolle spielen – und wohl immer mehr spielen werden. Die Stärkung gesellschaftlicher Resilienz gegenüber den Gefahren und Risiken dieser Technologie durch die Förderung eines entsprechenden öffentlichen Bewusstseins ist deswegen nicht die geringste sicherheitspolitische Herausforderung durch KI.

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Künstliche Intelligenz als sicherheitspolitische Herausforderung

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Warum Europa ein Friedenscorps braucht – und warum Deutschland dafür kämpfen sollte Eine kleine Streitschrift Stefan Braun1

Warum Europa ein Friedenscorps braucht Zusammenfassung

Jahrzehntelang hat Europa einen besonderen Luxus genossen: Es konnte es sich unter dem politischen und militärischen Schutzschirm der Vereinigten Staaten außerordentlich bequem machen. Die Zeiten aber sind vorbei. Und damit stellt sich für die Europäer die Frage, was sie sein wollen und welche Rolle sie in einer Welt übernehmen möchten, die immer brüchiger, immer heterogener und ja, immer gefährlicher geworden ist. Vorschläge und Beschlüsse zur militärischen Kooperation der Europäer gibt es schon lange. Die Idee eines europäischen Friedenscorps aber, in dem Soldaten und Zivilisten, Polizisten und Mediziner und Entwicklungshelfer unter einer Flagge agieren, ist bislang kein Thema. Dieser Artikel geht der Frage nach, warum ein solches Friedenscorps sinnvoll sein könnte und also geschaffen werden müsste. Schlüsselbegriffe

Schutzschirm. Friedenscorps. Flagge. Auslandseinsätze. Europäisches Stabilisierungscorps. Angela Merkel. Heiko Maas. Bundestag.

1 Stefan Braun ist der Leiter des Online Büros der Süddeutsche Zeitung GmbH in Berlin. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Jacobi und G. Hellmann (Hrsg.), Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Edition ZfAS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6_17

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Europa sollte Donald Trump danken. Das mag absurd klingen angesichts seiner verbalen Ausfälle und giftigen Attacken. Aber der amtierende US-Präsident führt Europa und Deutschland so deutlich wie nie vor Augen, dass die äußerst komfortablen Zeiten, unter dem Schutz der Vereinigten Staaten, vorbei sind. Seine Radikalität ist dabei kaum zu übertreffen; seine Drohungen gegen europäische Partner und sein Die-Nato-ist-mir-nicht-mehr-so-wichtig sollten auch den letzten aus jenem Dämmerschlaf reißen, der für die Europäer bis zuletzt sehr bequem war. Amerika bietet den größten Schutz, Amerika stellt die meisten Waffen und Soldaten, Amerika kümmert sich um die großen Krisen – all das war jahrzehntelang bequem und wird in gar nicht mehr so ferner Zukunft vorbei sein. Nicht auf einen Schlag, nicht unbedingt so radikal, wie Donald Trump sich meistens anhört. Aber die Konsequenz bleibt die Gleiche: Europa und Deutschland müssen für sich selbst sorgen. Die neue Welt, mit ihren Rissen und ihren Konflikten, zwingt die Europäer (und also auch uns Deutsche) zur Klärung der Frage, wer wir in Zukunft sein wollen. Dabei geht es zunächst ums eigene Selbstverständnis. Es geht um die Frage, wie viel Demokratie, wie viel Solidarität, wie viel Weltoffenheit, wie viel wirtschaftliche Freiheiten die Staaten in Europa leben und verkörpern möchten. Schon das sind Fragen, die in der EU wie in Deutschland umstritten sind – und deshalb zur Beantwortung viel Kraft kosten werden. Hinzu kommt aber die für viele noch kompliziertere Frage, welche Rolle sich die EU in der Welt geben möchte. In einer Welt, die mindestens auf absehbare Zeit auch und vor allem von Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan und anderen autoritär regierenden Staatsführern geprägt sein wird. Demokratie ist nicht auf dem Vormarsch, sondern in Bedrängnis. Und die Zahl von Krisen und Konflikten, die ganze Regionen in Gefahr bringen, nimmt nicht ab, sondern steigt dramatisch. Will sich Europa in dieser neuen Welt eher verstecken? Oder will es die Welt mitprägen? Will es eher an der Seitenlinie stehen oder für Liberalität und Multilateralismus kämpfen? Vor allem aber: Will es die ganz großen Herausforderungen, wie Fluchtbewegungen, Bürgerkriege und Klimagefahren, anderen überlassen oder mit gutem Beispiel voran gehen? Diese Fragen werden seit einiger Zeit in Expertenkreisen diskutiert. Aber sie werden bis heute nur von einer kleinen Minderheit wirklich umfassend vorangetrieben. Ja, die Bundeswehr ist seit Jahren an vielen Brennpunkten der Erde im Einsatz. Und die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ist in zahlreichen Ländern der zweiten und dritten Welt aktiv und hoch angesehen. Aber das folgt nicht einem schlüssigen und umfassenden Konzept, sondern ist immer wieder und immer häufiger die Reaktion auf aktuelle Notlagen gewesen. Die Einsätze in Afghanistan, vor der Küste des Libanon, in Dschibuti oder in Mali – sie alle haben ein gemeinsames

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Merkmal: Sie sind die spontane Antwort auf Hilferufe von Partnern; und sie alle wurden ohne ein strategisches Gesamtkonzept entworfen. Mal findet es unter dem Dach der Nato statt, dann unter dem der Vereinten Nationen und vielleicht bald einmal unter dem Dach einer Koalition der Willigen, die sich auf etwas verständigt haben. In einer Welt, die sich so rasant wandelt, ist diese Entwicklung nicht per se falsch, sondern durchaus verständlich. Trotzdem drängt sich mit jedem weiteren Einsatz die Frage auf: Was machen wir hier? Wer wollen wir sein? Und was passt bei all dem zu unserem Verständnis von einem liberalen, demokratischen, weltoffenen Europa? Aus diesem Grund formuliert der Text die Idee eines europäischen Friedenscorps aus, die der Historiker Herfried Münkler im November 2017 erstmals in die Debatte einbrachte. Ein solches Friedenscorps könnte zusammengesetzt sein aus Soldaten und Entwicklungshelfern, aus Polizisten, Verwaltungsexperten und Medizinern, die alle unter einer Flagge das sicherheitspolitische Grundkonzept Europas verkörpern. Zum Verständnis für dieses Plädoyer ist es allerdings nötig, daran zu erinnern, welche Versäumnisse der Idee vorausgegangen sind. Versäumnisse in der Regierung insgesamt, die viel zu selten offen und öffentlich über die veränderte Welt und ihre Konsequenzen für Deutschland spricht; Versäumnisse in den verantwortlichen Ministerien, die sich bis heute mehr um die eigenen Interessen kümmern als tatsächlich eine gemeinsame Strategie zu entwerfen. Und Versäumnisse in den Parteien, die aus Angst vor Abstrafung durch den Wähler nie den Versuch unternommen haben, eine breite Öffentlichkeit von der Notwendigkeit und der Sinnhaftigkeit eines größeren deutschen Engagements in der Welt zu überzeugen. Die Leere im vergangenen Wahlkampf ist trauriger Beleg dafür. Nun könnten kundige Beobachter einwenden, die Kanzlerin, der Außenminister, die Verteidigungsministerin hätten sich doch mit deutlichen Worten gemeldet. Im Besonderen tat das Angela Merkel nach dem G7-Gipfel in Italien im Frühsommer 2017. Damals trat sie in einem Münchner Bierzelt auf und erklärte: „Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen.“. Der Satz war eindeutig, er hätte der Anfang für eine große Debatte und Aufklärungsarbeit werden können. Doch so stark dieser Satz als Überschrift für einen solchen Prozess gewesen wäre – die ausführliche Debatte hat bis in den Herbst 2018 nicht stattgefunden. Nicht mal eine Regierungserklärung hat Merkel für nötig gehalten. Geschweige denn eine Kabinettsklausur, bei der sich die ganze Regierung allein um die Frage kümmern würde, was die veränderte Welt faktisch und real und zwingend für Deutschland und Europa bedeuten wird. Gleichwohl lässt sich einwenden (und genau so hat die Kanzlerin die Sache bislang auch behandelt), dass der Außenminister, die Verteidigungsministerin und der Entwicklungsminister zuständig sind. Und man kann konstatieren, dass Heiko

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Maas ziemlich oft erklärt, dass es auf Trumps „America first“ keine bessere Antwort gebe als ein sehr entschiedenes „Europe united“. Man kann darauf verweisen, dass Ursula von der Leyen seit Monaten immer wieder betont, dass die Bundeswehr spätestens jetzt noch mehr Geld braucht. Und man kann an Gerd Müllers Worte erinnern, der nicht müde wird, für seinen Marschallplan für Afrika zu werben. Doch obwohl das alles stimmt und alle drei formal das tun, was ihnen ihre Ämter aufgeben – faktisch bleibt die Bundesregierung im alten Denken. Außenund Sicherheitspolitik werden weiter getrennt gedacht, statt verbunden zu werden. Die Ressortinteressen bleiben Ressortinteressen und finden nicht zusammen. Und der menschlich verständliche, aber politisch verheerende Eifersuchts- und Eitelkeitsfaktor befeuert Konkurrenz und Abgrenzung, statt sich ein umfassendes gemeinsames Konzept zu geben. Die beschriebenen Konfliktlinien sind keine Petitesse, sondern ein gravierendes Problem, wenn es darum geht, nicht nur bei den Experten das Bewusstsein für die dramatisch veränderte Weltlage zu schärfen. Solange es die Debatte über die neue, gefährlichere und zunehmend unsolidarische Welt nicht gibt, wird jede breitere Unterstützung der Gesellschaft, für mehr außenpolitisches Engagement, brüchig bleiben. Und das ausgerechnet in einer Zeit, in der die internationale Kooperation und die Verlässlichkeit multilateraler Abkommen massiv in Frage gestellt werden. Für kaum ein Industrieland ist das so gefährlich wie für Deutschland; eine Exportnation wie die deutsche verdankt ihren Reichtum gerade der Verlässlichkeit von Abkommen, Verträgen und internationalen Regeln. Aus dieser Entwicklung heraus ist die Idee eines europäischen Friedenscorps entstanden. Als Botschaft nach innen, nach dem Motto: Wir wollen Sicherheit, Stabilität und Entwicklung fördern. Und als Signal nach außen, im Sinne von: Europa bietet in Krisen und Konflikten eine umfassende Hilfe an, nicht nur Soldaten. In dieser Einbettung könnte die Idee bisherige Blockaden überwinden helfen. Und sie könnte der weit verbreiteten Sprachlosigkeit mit neuer Phantasie und Gestaltungslust begegnen. Es geht im Kern um eine gemeinsame europäische Truppe, die bewusst einen breiteren Auftrag und eine umfassendere Zusammensetzung bekommt als bisherige Militärkooperationen. Es geht darum, das Militärische, das Wirtschaftliche, das Polizeiliche und das Humanitäre des außenpolitischen Engagements nicht mehr isoliert zu betrachten. Es geht um die Idee, durch eine bewusste Verzahnung des Militärischen mit dem Zivilen, dem Humanitären und Rechtlich-wirtschaftlichen für jeden erkennbar und spürbar zu machen, dass dieses Europa keine rein militärische Interventionsmacht sein will, sondern mit seinem Engagement bewusst immer das Zivile, das Polizeiliche und das wirtschaftlich Stabilisierende mitdenken und unterstützen wird.

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Bis heute dominieren Schranken, Grenzen und Unmöglichkeiten in diesem Bereich das Denken. Das fängt damit an, dass sich Entwicklungshelfer von jeher vehement dagegen wehren, eine Uniform zu tragen, weil sie befürchten, für Soldaten und somit für Gegner gehalten zu werden. Gleichzeitig gibt es nach wie vor zu viele Soldaten, die der Überzeugung sind, dass bei schwierigen Stabilisierungsund Befriedungseinsätzen sie die wichtigsten sind – und alle anderen allenfalls hinterher dazu kommen. Und damit nicht genug – auch am Selbstverständnis vieler Diplomaten hat sich bis heute wenige geändert. Auch sie glauben, dass sie im Zweifel die wichtigsten sind – und die anderen bei weitem nicht die Klugheit und Taktik mitbringen, um in Konflikten erfolgreich zu agieren. Nirgendwo konnte und kann man das besser studieren als in Afghanistan. Auch wenn die Zusammenarbeit zwischen Militärs, Entwicklungshelfern und Diplomaten mit der Zeit besser wurde – am Misstrauen, an der Distanz und vor allem an der getrennten Strategie und Planung hat sich bis heute nicht viel geändert. Und das obwohl es den sogenannten vernetzten Ansatz in der Außen- und Sicherheitspolitik schon lange gibt. Er ist mindestens so alt wie Deutschlands Einsatz am Hindukusch, als der Zwang zur Kooperation zwischen Militärs und Zivilisten unbestreitbar wurde. Aber dass es dafür ein eigenes, ein neues, ein für alle verständliches und das eigene Selbstverständnis verkörperndes Gebilde braucht, dass bei einem Einsatz also Soldaten und Sanitäter, Entwicklungshelfer und Verwaltungsbeamte, Staatsrechtler und Polizisten nicht nur kooperieren, sondern unter einem Dach, einem Namen und einer Uniform auftreten, ist bis heute – wenn überhaupt – nur in intellektuellen Zirkeln diskutiert worden. Dabei ist es genau das, was die Debatte, zumal die in Deutschland, verändern könnte. Wenn internationale Einsätze der Europäer, die so gut wie immer der Friedensbewahrung durch Soldaten, der Stabilisierung durch Polizei und Verwaltungsexperten und der humanitären Hilfe durch Entwicklungsexperten und Mediziner dienen, unter einem europäischen Label stattfänden, würde die isolierte Betrachtung des Militärischen durch eine umfassendere Perspektive auf die Bedürfnisse eines Landes, einer Region, einer Situation ersetzt werden. Das würde, kurz gesagt, das Erscheinungsbild der Europäer dem eigenen Selbstverständnis näherbringen; es würde Europa glaubwürdiger machen beim Eintreten für Demokratie und Multilateralismus. Es würde die Chance dramatisch erhöhen, dass Einsätze der Europäer sich deutlicher als bisher von amerikanischen Militärinterventionen absetzen können. Jedenfalls solange die Europäer bei einem Mehr an internationaler Verantwortung gerade nicht ein Ersatz der Amerikaner (oder der Russen) sein wollen. Ein gemeinsames Friedenscorps, unter Beteiligung der Deutschen, der Franzosen, der Benelux-Staaten und der Skandinavier als Nukleus, würde also eine

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andere als nur eine militärische Botschaft in sich tragen. Europa als Kontinent und verantwortungsvolle Staatengemeinschaft, die hilft, die sich stark macht, die dabei bewusst mehr sein will als eine Armee aus Soldaten. Natürlich gibt es längst europäische Militärkooperationen jenseits der Nato. Es gibt seit langem die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP). Und es gibt seit kurzem eine organisatorische Konkretisierung Namens Pesco (Permanent Structured Cooperation), mit der die Zusammenarbeit beschleunigt und verbessert werden soll. Beides aber kann die Wucht, die ein europäisches Friedenscorps als Botschaft ausstrahlen würde, nicht ersetzen. Gerade weil es die zivile Komponente nicht nur mitdenken, sondern fest integrieren würde; und gerade weil es damit unterstreichen würde, dass sich Europa auf diesem so heiklen wie wichtigen Feld ein neues, ein besonderes, ein außergewöhnliches Gesicht geben möchte. Natürlich gibt es Bedenken: Zu teuer! Kulturell unmöglich! Dauert zu lange! Geht nicht, weil man nie so unterschiedliche Ideen und Menschen unter einem Dach zusammenbringen wird! All diese Bedenken sind berechtigt. Aber sie sind kein Grund, es bleiben zu lassen. Keine Frage, sollten sich Frankreich, Deutschland und einige andere EU-Staaten zu einer solchen Idee durchringen, um eine Struktur für internationale Kriseneinsätze aller Art zu erhalten, dann wird das Geld kosten. Aber nach allem, was sich abzeichnet, würde Europa auch ohne ein solches integriertes Friedenscorps viel Geld für eben diese Aufgaben aufwenden müssen. Erst recht in einem Moment, in dem die USA unberechenbar geworden sind und die Welt immer stärker bedroht ist. Geld ist deshalb kein überzeugendes Argument. Ob Europa will oder nicht – Klimakrise und Flüchtlingskatastrophen, Wasserkonflikte und ethnische Kriege werden den Kontinent von ganz alleine zwingen, sich einzusetzen. Da kann es nur von Vorteil sein, sich frühzeitig und klug auf solch komplexe Einsätze, mit allem was man braucht, vorzubereiten. Ist es kulturell ausgeschlossen, weil die Distanzen zwischen Soldaten und Entwicklungshelfern bis heute zu groß sind? Hier könnte die praktische Vernunft in besonderer Weise helfen. Vor allem den Soldaten könnte ein gemeinsamer Ansatz und Auftrag enorm helfen, zumal bei allen Debatten in Deutschland, dessen Bevölkerung aus guten Gründen hochsensibel und meistens hochkritisch ist bei militärischen Auslandseinsätzen. Schon heute erfüllen viele Soldaten der Bundeswehr bei zahlreichen Einsätzen mehr als nur militärische Aufgaben. Trotzdem werden sie in Deutschland bei vielen Diskussionen nicht verteidigt, nicht unterstützt, nicht gelobt für diese viel weitreichenderen Anstrengungen, weil kaum jemand weiß, wie viel sie zum Beispiel zur Stabilisierung eines Landes und zur Aufrechterhaltung von Ordnung beitragen. Würde die deutsche Öffentlichkeit, würden die Fraktionen im Bundes-

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tag, in einem breiteren Sinne über den Nutzen eines Einsatzes diskutieren und entscheiden, könnte das die Soldaten aus ihrer, von vielen Soldaten als dramatisch empfundenen, Isolation holen. Und die Entwicklungshelfer? Die Polizisten, die Verwaltungsexperten? Gut möglich, dass auch sie sich zunächst wehren würden, weil sie sich so etwas schlicht nicht vorstellen könnten. Bei genauerem Blick aber erscheint auch das absurd. Schaut man beispielsweise auf jene Beamten, Polizisten und Experten, die in den vergangenen Jahren über das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) in den Krisenregionen der Welt unterwegs waren, dann gibt es wahrscheinlich nur ganz wenige, die es dabei nicht auf die eine oder andere Weise mit unterstützenden Militärs zu tun hatten. So groß also die prinzipielle Distanz sein mag, so pragmatisch haben sie kooperiert, wenn es die Vernunft geboten hat. Kommt also ein solches Friedenscorps? Es wäre schön, aber es bleibt unwahrscheinlich. Allerdings hat ausgerechnet Außenminister Heiko Maas bei der jüngsten Botschafterkonferenz einen Gedanken entworfen, der dem schon einigermaßen nahekommt. Maas sprach von einem zivilen „Europäischen Stabilisierungscorps“. Dieses solle die zivile Seite der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik stärken. Damit bleibt der Außenminister bei der Trennung zwischen Militärischem und Zivilem – und macht zugleich deutlich, dass beides von den Europäern gleichwohl immer stärker zusammen gedacht werden sollte. Und um zu verhindern, dass diese Idee kommt und dann gleich wieder verschwindet, kündigte er an, zum Start ein Kompetenzzentrum für ziviles Krisenmanagement zu gründen. Das kann man als endgültige Trennung lesen – oder als Einstieg in eine immer stärkere Verzahnung werten. Wie hatte Maas sich kurz zuvor noch beklagt: Deutschland habe sich in der Debatte über seine Außenpolitik jahrzehntelang in einem „diskursiven Wachkoma“ befunden. Die Idee eines Stabilisierungscorps zeigt, dass er das Wachkoma überwinden möchte.

Reshaping World Order? Deutsche Strategiefähigkeit als Faktor der außenpolitischen Neuausrichtung Deutschlands und Europas James D. Bindenagel1 unter Mitarbeit von Simone Becker M.A. Zusammenfassung

Die „neue Verantwortung“ Deutschlands und der Europäischen Union sind im Angesicht globaler Umbrüche in aller Munde. Europa wird seine Werte und Interessen in der sich transformierenden Weltordnung nur auf Grundlage eines kooperativen Führungsmodells durchsetzen können. Dieser Kommentar zeigt auf, dass die Steigerung der Strategiefähigkeit Deutschlands als größter EU-Mitgliedsstaat für die außen- und sicherheitspolitische Umorientierung der EU von zentraler Bedeutung ist. Dem steht jedoch bislang der Mangel an strategischer Vorausschau in Deutschland und einer umfassenden öffentlichen Debatte über außen- und sicherheitspolitische Ziele, Prioritäten und Leitbilder im Weg. Der Beitrag argumentiert, dass die Bundesrepublik einen strategischen Planungsprozess an der Seite ihrer Partner aufnehmen muss und plädiert für die Einführung eines Sachverständigenrates für Strategische Vorausschau, um eine aufgeklärtere öffentliche Debatte anzustoßen und strategische Planungskultur zu fördern. Schlüsselbegriffe

Deutschland, Europa, Sicherheitspolitik, Strategiefähigkeit, Sachverständigenrat für Strategische Vorausschau, öffentliche Debatte

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James D. Bindenagel ist Direktor des Center for International Security and Governance an der Universität Bonn

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Jacobi und G. Hellmann (Hrsg.), Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Edition ZfAS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6_18

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Deutschland befindet sich global gesehen mitten in einem einschneidenden Umbruch – und zwar in zweierlei Hinsicht. Auf der einen Seite verändern sich auf grundlegende Art und Weise die außenpolitischen Umstände. Die liberale globale Ordnung in ihrer bisherigen Form, wie sie sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges unter Federführung der Vereinigten Staaten herausgebildet hat, sieht sich von vielerlei Seiten mit Auflösungstendenzen konfrontiert. Auf der anderen Seite befindet sich Deutschland selbst an einem Scheideweg: Im selben Maße, wie sich die globale Ordnung verändert, wandelt sich derzeit auch die außenpolitische Rolle der Bundesrepublik. Auf diese Wechselbeziehung soll in diesem Beitrag ein näherer Blick geworfen werden. Insbesondere soll es dabei um die mit wachsender Intensität debattierte Frage gehen, der Großteile der deutschen Politik und Öffentlichkeit derzeit noch mit einer ausnehmenden Zögerlichkeit begegnen: Welche Rolle kann und will Deutschland konkret im Kontext dieser sich verändernden Welt einnehmen? Und auf welche Prinzipien, Interessen und Ziele soll sich diese Rolle gründen? Bei der Etablierung einer neuen, möglicherweise deutlich proaktiveren außenpolitischen Rolle Deutschlands auf der globalen Bühne stellt dabei insbesondere ein Faktor eine wesentliche Herausforderung dar, die mit den volatilen geopolitischen Umständen selbst erst mal wenig zu tun hat: nämlich das derzeitige Fehlen einer Strategie inklusive einer strategischen Vorausschauenskultur. Deutschlands strategische Ausrichtung beruht auf der Präambel und Artikel 1 des Grundgesetzes – in seiner Außenpolitik ist Deutschland dem Anspruch verpflichtet, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ und betrachtet dabei den Schutz und die Achtung der Menschenwürde als Grundverpflichtung staatlicher Gewalt. Bei der Herstellung der Einheit Deutschlands in der Berliner Republik wurden diese Prinzipien mit einer friedlichen Revolution und einer freien und gleichen demokratischen Wahl in einem Akt der Selbstbestimmung unter dem Grundgesetz zusammengeführt. Insbesondere nach der Erlangung seiner vollständigen Souveränität war die Rolle Deutschlands auf dem internationalen Parkett maßgeblich von diesen Grundprinzipien als Nachwirkungen seiner jüngeren Geschichte geprägt. Nach einer von Militarismus gezeichneten deutschen Außenpolitik zwischen 1871 und der Niederlage des Nationalsozialismus hat sich Deutschland seit 1945 zu einer der führenden Demokratien entwickelt, die durch eine ausgeprägte außenpolitische und militärische Zurückhaltung gekennzeichnet ist. In einem stetigen Balanceakt zwischen einer konsequenten Vermeidung neuerlicher Machtprojektionen und der Anerkennung seines geographischen und wirtschaftlichen Gewichts hat die Bundesrepublik sich nach der Deutschen Einheit schließlich in einer Rolle eingefunden, die sich mit dem von Hanns Maull geprägten Begriff der „Zivilmacht“ beschrieben ließ (Maull 2007).

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Sich wandelnde Weltordnung, veränderte Rolle

Die Wiederherstellung staatlicher Souveränität in Deutschland geschah zu einem Zeitpunkt, als parlamentarische Demokratie und die multilaterale liberale Weltordnung den Ton angaben. Eine Zivilmacht im Sinne Maulls ist vom Bestehen einer regelbasierten Ordnung abhängig, von der sie einerseits profitiert, während sie diese andererseits mitträgt und konsolidiert. Die USA ziehen sich nun als wichtigster Hüter der Nachkriegsordnung zurück. Der Bruch mit geltendem Völkerrecht in der Annexion der Krim und die anhaltenden Kämpfe in der Ostukraine, Nordkoreas Raketen- und Nukleartests ebenso wie Flüchtlingsströme insbesondere aus Syrien und dem Irak verdeutlichen nun, dass Deutschland ebenso wie die restliche Europäische Union nicht in friedlicher Isolation leben – und zunehmend gefragt sind, sich verstärkt selbst um ihre Sicherheitsanliegen zu kümmern. Im Angesicht von Pekings Machtprojektionen, Russlands offener Herausforderung der Weltordnung und wachsender Unberechenbarkeit des außenpolitischen Kurses der USA unter Trump stehen die bisherigen Leitlinien deutscher und europäischer Außenpolitik zunehmend in Frage. In Anerkennung sich verändernder außenund sicherheitspolitischer Realitäten begann entsprechend im Februar 2014 eine ernsthafte Debatte um eine Neuausrichtung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik auf der Münchner Sicherheitskonferenz, als Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen unisono davon sprachen, mehr internationale Verantwortung übernehmen zu wollen. Seitdem wurde derselbe Tenor im neuen Weißbuch von 2016 aufgegriffen und mit Angela Merkels berühmtem Kommentar von 2017 noch deutlicher unterstrichen, als sie davon sprach, Deutschland und die Europäer müssen ihr Schicksal nun in die eigene Hand nehmen. Zumindest in der Theorie hat Deutschland zögerlich damit begonnen, mehr außenpolitische Verantwortung zu übernehmen – und wird dieser angesichts seiner Größe und geographischen Position langfristig auch kaum ausweichen können. Entsprechend der grundsätzlichen außenpolitischen Ausrichtung Deutschlands wird die Modellierung einer solchen neuen Rolle Deutschlands von zwei Maßgaben getragen: Deutsches außenpolitisches Engagement erfolgt immer eingebettet in Europa und in Kooperation mit seinen Partnern. Deutschland hat seine Souveränität bis dato ausschließlich in einer souveränen Verpflichtung gegenüber der EU ausgeübt, in der es Kompetenzen bündelt, und Bundeswehrtruppen nur in Allianz mit den Vereinten Nationen oder NATO sowie einem Parlamentsmandat entsandt. Die Bundesrepublik lehnt einen deutschen „Sonderweg“ oder jede neuerliche Form eines deutschen Unilateralismus strikt ab und hat stattdessen graduell ein Führungsmodell herausgebildet, das sich als „Führung in Partnerschaft“ beschreiben lässt und das die Grundlage Deutsch-

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lands neuer Rolle auf der internationalen Bühne bildet. Um diesem Anspruch gerecht werden zu können, braucht es jedoch vor allem etwas, woran es bis heute in der außen- und sicherheitspolitischen Kultur Deutschlands noch mangelt: eine klare außenpolitische Positionierung Deutschlands, eine erkennbare Vision und strategische Vorausschau, um darauf aufbauend eine gemeinsame Strategie mit Deutschlands Partnern formulieren zu können.

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Prognosen vs. strategische Vorausschau

Hierbei muss vorab eine klare Unterscheidung zwischen Zukunftsprognosen und strategischer Vorausschau getroffen werden. Bei ersterem handelt es sich um den Versuch, Vorhersagen zu zukünftigen Entwicklungen zu machen. Bei der strategischen Vorausschau geht es hingegen darum, auf Grundlage gegenwärtiger Trends und Entwicklungen diverse mögliche außen- und sicherheitspolitische Szenarien zu skizzieren, um unter Einbezug klar formulierter Handlungsgrundsätze, Interessen und politischer Leitlinien grundlegende Handlungsoptionen für verschiedenste außenpolitische Entwicklungen zu entwickeln. Als das wesentliche Unterscheidungsmerkmal lässt sich der Aspekt der Planung identifizieren, der proaktiv gestaltbare Handlungsspielräume an die Stelle eines rein reaktiven Krisenmanagements setzt. Der ehemalige U.S.-Präsident Dwight D. Eisenhower ging davon aus, dass ein differenziertes Verständnis von der Bedeutung von Planung die Voraussetzung jeder weitsichtigen Politik bildet: „Es muss hier eine klare Unterscheidung vorgenommen werden. Die Definition eines Notfalls ist, dass er unerwartet geschieht – daher wird er nicht auf eine Art und Weise stattfinden, die man erwartet. […] Pläne sind wertlos. Aber Planung ist alles.“ (Eisenhower 1957, eigene Übersetzung) Eine sachliche öffentliche strategische Debatte befasst sich mit Vorausschau und dem aufgeklärten Entwurf möglicher Szenarien, nicht mit Zukunftsprophezeiungen – die Zukunft vorherzusagen ist unmöglich und nicht das Ziel strategischer Planung. Strategische Vorausschau beruht auf zwei Säulen: einer strategischen Vision mit Zielen und Absichten einerseits und der Skizzierung von Schlüsselelementen zu deren Realisierung andererseits. Diese Elemente determinieren die Ressourcen, die zur Implementierung einer Strategie notwendig sind. Als einen ersten erkennbaren Schritt in diese Richtung lässt sich bereits das neue Weißbuch von 2016 begreifen, welches in weiten Teilen den neuen Umständen und Anforderungen Rechnung zu tragen beginnt. Die ersten zehn Seiten des Weißbuchs lassen sich als eine Art Grundriss einer nationalen Sicherheitsstrategie lesen, in dem wesentliche nationale Interessen außenpolitischen Ziele Deutschlands umrissen werden. Hierzu werden

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unter anderem der Schutz der Bürgerinnen und Bürger sowie der Souveränität und territorialen Integrität Deutschlands und seiner Partner, die Aufrechterhaltung der regelbasierten internationalen Ordnung auf Grundlage des Völkerrechts, die Förderung des verantwortungsvollen Umgangs mit begrenzten Ressourcen und die Vertiefung der europäischen Integration gezählt. In der Praxis weist auch das aktuelle Weißbuch jedoch eine größere Ähnlichkeit mit einer Krisenmanagementstrategie auf. Anstelle einer strategischen Vorausschau mit der Exploration möglicher sicherheitspolitischer Szenarien gründet sich das aktuelle Weißbuch auf eine Vision geopolitischer Stabilität und Berechenbarkeit, die sich gerade im Angesicht der neuen Ausrichtung Washingtons als ehemaligem Sicherheitsgaranten und engem Verbündeten mehr und mehr zu einem Wunschbild entwickelt. Der aktuelle Stand deutscher sicherheitspolitischer Auseinandersetzung, wie er mit dem Weißbuch 2016 markiert wird, kann in seiner gegenwärtigen Gestalt entsprechend zwar als ein vorläufiger Meilenstein, nicht aber als Zielpunkt auf dem Weg zur Schaffung einer kohärenten und umfassenden sicherheitspolitischen Debatte und Kultur verstanden werden. Zu den im Weißbuch bereits recht klar dargelegten Interessen und Zielen benötigt Deutschland eine kohärente Sicherheitsstrategie, in der eine langfristige Vision zusammen mit Interessen, Werten und Prioritäten dargelegt wird.

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Beschränkung einer strategischen Vorausschau durch fehlende öffentliche Debatte

Vor allem treffen die Themenkomplexe der Sicherheitspolitik, einer Nationalen Sicherheitsstrategie und der Formulierung nationaler Interessen jedoch in weiten Teilen von Politik und Öffentlichkeit weiterhin auf massive Widerstände. Deutschlands historische Erfahrung ist nichts, unter das man einen Strich ziehen und ohne einen Blick hinter sich zurück lassen kann oder sollte. Die Erinnerungskultur und die aus der deutschen Geschichte gezogenen Lehren spielen weiterhin eine zentrale Rolle für das deutsche Selbstverständnis gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik und üben einen beschränkenden Einfluss auf deutsche Führungsansprüche aus. Es stellt sich nun jedoch die Frage, ob es nach dem historischen hegelianischen Umbruch von einem Extrem zum anderen möglich sein wird, eine Balance zwischen Militarismus und Pazifismus zu finden und eine sachliche, aufgeklärte Debatte über gegenwärtige und künftige außen- und sicherheitspolitische Herausforderungen auf Grundlage des Grundgesetzes zu führen. Die Liste deutscher außenpolitischer Ziele ist lang: Die Unterstützung Frankreichs als gleichwertiger Partner, eine verstärkte Kooperation mit dem rasant aufsteigenden

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China, ein Management des Brexit, das dem Versuch widersteht, Großbritannien zu bestrafen, die Begrenzung des Schadens der Präsidentschaft Donald Trumps für den Westen, eine entschiedene Abwehr russischer Aggressionen und ein integratives Management der Migrationsproblematik angefangen bei einer effektiven Ursachenbekämpfung. Statt diese unterschiedlichen Themen jedoch im Sinne eines kurzfristigen Einzelfallmanagements zu bearbeiten, benötigt Deutschland eine übergeordnete Strategie. Dazu muss sich zuallererst deutschlandweit eine offene Debatte über außen- und sicherheitspolitische Fragestellungen etablieren, die es effektiver als bislang ermöglicht, in einen öffentlichen Austausch über Problemlagen, Ziele, mögliche Mittel und Wege deutscher Außenpolitik zu treten und darauf aufbauend politische, demokratisch legitimierte Antworten auf außenpolitische Herausforderungen zu formulieren. Der nächste zwingend notwendige Schritt ist die Festschreibung des Prinzips der „Führung in Partnerschaft“ als strategisches Leitbild deutschen außenpolitischen Engagements. In einer Rede im Juli 2018 in Tokyo hat Außenminister Heiko Maas das Konzept eines auf Kooperation und Integration beruhenden „role shapers“ als ein solches Leitbild für deutsches Engagement evoziert, das auf Kooperation und Integration beruht. Gleichzeitig unterstrich Maas erneut das Bekenntnis Deutschlands zur Einhaltung von Verträgen, Rechtsstaatlichkeit und starken multilateralen Institutionen, die im Mittelpunkt des deutschen außenpolitischen Selbstverständnisses stehen (Maas 2018). Für deutsche Außenpolitik heißt das entsprechend, dass sie immer in Kooperation und eingebettet in Europa und seine Partner steht. Die zentrale Frage lautet also: Gelingt es Deutschland und seinen Partnern, sich im Angesicht globaler Umbrüche auf eine gemeinsame Strategie zur Mitgestaltung der sich transformierenden Weltordnung zu einigen?

4

Deutsche und europäische Strategie

Deutschland wird gegenwärtig eine Führungsrolle an der Seite seiner – vor allem europäischen – Partner auferlegt. Obwohl die Bundesrepublik innerhalb Europas aber eine hervorstechende Position innehat, kann und darf es seinen politischen Willen anderen europäischen Mitgliedsstaaten nicht aufzwingen und eine unilateral dominierende Position in Europa einnehmen. Eine europäische außenpolitische Strategie unterscheidet sich insofern von einer deutschen, dass sie andere nationale Strategien ebenfalls berücksichtigen muss. Dieses Dilemma lässt sich nur auflösen, wenn Deutschland eine Strategie für eine europäische Strategie formuliert und damit den Grundstein für einen ergebnisoffenen strategischen Diskussionsprozess mit seinen Partnern legt. Die Herausbildung einer umfassenden strategischen

Reshaping World Order?

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Debatte in Deutschland ist die Voraussetzung dafür, dass sich auf europäischer Ebene ebenfalls eine herausbilden kann – gerade im Angesicht der gegenwärtigen transatlantischen Krise. Zu den Zielen Deutschlands und seiner Partner gleichermaßen gehören die Aufrechterhaltung territorialer Integrität – auch in der Migrationsproblematik –, die Förderung multilateraler Institutionen, Friedenssicherung, die Sicherung geound sicherheitspolitischer Interessen und die Förderung gemeinsamer politischer Werte, allen voran die Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit. Das europäische Sicherheits- und Verteidigungspaket von 2016–17 schafft notwendige Instrumente und demonstriert stärkere europäische Kohäsion, lässt jedoch immer noch eine gemeinsame strategische Vision vermissen, für die der entsprechende politische Wille noch gefunden werden muss. Mehr verteidigungspolitische Handlungsfähigkeit der Union untermauert von den entsprechenden militärischen Kapazitäten, einer gemeinsamen Budget- und Beschaffungspolitik sowie eine koordinierte Planung können Bausteine dessen sein. Entgegen häufigen Befürchtungen muss nichts davon zwangsläufig in eine europäische Armee münden. Auch wird die NATO auf absehbare Zeit der wichtigste Sicherheitsgarant Europas bleiben und durch die EU nicht ersetzt, jedoch effektiv ergänzt kann. Es macht derzeit den Anschein, dass Merkel und Macron in Europa auf eine breite Basis der Unterstützung für derartige Initiativen hoffen können. Die Einsicht, dass Europa auch außenpolitisch deutlich stärker kooperieren muss, scheint sich zunehmend durchzusetzen. Um dieses Potential verwirklichen zu können, werden die Europäer jedoch konkreter werden müssen. Ein vager Konsens ist nicht dasselbe wie eine Strategie. Trump mit seiner Umdeutung der EU als ein Feind Washingtons ist ein Katalysator für die EU, um das Fehlen einer kohärenten, von der europäischen Öffentlichkeit getragenen Außen- und Sicherheitspolitik zu überwinden. Ein effektives Instrument zur Überwindung der Defizite deutscher Strategiefähigkeit wäre die Einführung eines Expertenrats zunächst auf nationaler Ebene, der das Weißbuch, die zuständigen Ministerien und andere regierungsnahe Akteure wie die SWP, das DIE oder die GIZ als wissenschaftlicher Beirat ergänzt. Analog zum Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung würde ein Sachverständigenrat für strategische Vorausschau zur Förderung der öffentlichen Debatte und der anschließenden demokratischen Strategiefindung beitragen. Indem er sich mit einer wissenschaftlich fundierten Identifikation potentieller Sicherheitsrisiken und der Skizzierung möglicher Szenarien beschäftigt, könnte ein derartiger Expertenrat als Anstoß für öffentliche Debatten, die Festlegung wesentlicher politischer Leitlinien und die Formulierung politischer Prioritäten dienen. Hierbei geht es weder darum, Prognosen abzugeben, noch um die politische Bewertung potentieller aufgezeigter Szenarien. Ebenso wenig kann

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ein wissenschaftlicher Beirat die Politik nicht ihrer Aufgabe entheben, politische Antworten zu formulieren. Vielmehr geht es darum, einen strategischen Umgang mit der Vielfalt konkurrierender Perspektiven anderer Akteure unter Anerkennung der Komplexität geopolitischer Realitäten zu finden. Auf diesem Wege würde ein derartiger Expertenrat dazu beitragen, die deutsche sicherheitspolitische Kultur weg von einem reinen Krisenmanagement und näher hin zu strategischer Planung zu bewegen, die in Echtzeit auf real eintretende Entwicklungen reagieren kann (vgl. Bindenagel/Ackermann 2018). Die gegenwärtigen Umbrüche der internationalen Ordnung betreffen Deutschland mit seiner Positionierung im Herzen Europas, seiner ausgeprägten Abhängigkeit von internationalem Handel und seiner auf Balance und Zurückhaltung beruhenden Außenpolitik in besonderem Maße. Die Disruptionen der globalen Ordnung und der Rückzug der USA werfen die Frage auf, welche neue Ordnung sich nun herausbildet und wer diese neue Ordnung anführt. Der Aufstieg der Europäischen Union über die letzten siebzig Jahre hin zu einer politischen Union mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und einem starken Europäischen Parlament legen die Möglichkeit nahe, dass Deutschland und Europa bei der Mitgestaltung dieser Ordnung ebenfalls eine nicht unbedeutende Rolle spielen könnten. Hierzu ist es jedoch unabdingbar, dass die Bundesrepublik die Defizite ihrer sicherheitspolitischen Kultur überwindet und mit der Formulierung kohärenter sicherheitspolitischer Positionen dazu beiträgt, in stärkerem Maße als bisher eine starke gemeinsame Außenpolitik der EU zu begründen. Deutschland ebenso wie seine europäischen Partner sind zu klein, um im Alleingang die Weltordnung zu gestalten – gleichzeitig hängen ihre wesentlichen nationalen Interessen jedoch unmittelbar von der regelbasierten globalen Ordnung ab. Im Bemühen, seine historisch bedingten Beschränkungen in der Außen- und Sicherheitspolitik bei der Formulierung sicherheitspolitischer Strategien mit den wachsenden geopolitischen Anforderungen zu vereinen, hat Deutschland ein unilaterales Verständnis von Außen- und Sicherheitspolitik zurückgewiesen und stattdessen an der Seite der EU ein neues Modell der Führung in Partnerschaft aufgenommen. Als kollektives Führungsmodell bedeutet dies das genaue Gegenteil von Trumps Verständnis von Außenpolitik und sticht in einer Welt wachsender Machtkonkurrenzen zunehmend hervor. In seiner umfassenden Analyse europäischer Politik konstatierte Brendan Simms noch 2013, dass die USA als ein Spross des europäischen Staatensystems entstanden sind und sich seitdem zu einem zentralen Bestandteil dessen entwickelt haben. Diese Rolle und das Bekenntnis Washingtons zu Europa befinden sich nun im Wandel (Simms 2013, S. x xvii). Demokratien sind traditionell unwillig zur Formulierung außen- und sicherheitspolitischer Strategien, solange sie nicht zum Zweck ihrer Selbstverteidigung dazu gezwungen werden. Dies verdeutlicht jedoch,

Reshaping World Order?

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wie drängend die Herausbildung einer umfassenden strategischen Debatte in der EU gegenwärtig ist: Europa kann sich im Angesicht wachsender Sicherheitsbedrohungen nicht mehr vor den beiden Tatsachen verstecken, dass einerseits die USA bislang eine wesentliche Rolle als Sicherheitsgarant des Kontinents gespielt haben, von der sie sich nun zurückziehen, und dass andererseits Deutschland mit seiner Größe und geographischen Position eine zentrale Bedeutung in der europäischen Integration ebenso wie in der Außen- und Sicherheitspolitik der Gemeinschaft zukommt. In der Konsequenz hängt die Sicherheit Europas maßgeblich davon ab, dass Deutschland eine strategische Vision formuliert. Um dies leisten zu können, muss die Bundesrepublik an der Seite seiner Partner einen strategischen Planungsprozess in die Wege leiten, innerhalb dessen ein Sachverständigenrat für strategische Vorausschau einen Bestandteil der notwendigen umfassenden öffentlichen sicherheitspolitischen Debatte bildet. Nur so können Deutschland und Europa als politische Union gemeinsam eine aktive Rolle in der Neugestaltung der globalen Ordnung einnehmen und ihre gemeinsamen Sicherheitsinteressen verteidigen.

Literatur Bindenagel, J. und Ackermann, P. 2018: Deutschland strategiefähiger machen. Ein Sachverständigenrat für strategische Vorausschau ist nötig. In: SIRIUS-Zeitschrift für Strategische Analysen, Band 2, Heft 3, Juni 2018 Eisenhower, D. 1957. Speech to the National Defense Executive Reserve Conference in Washington, D.C. In Public Papers of the Presidents of the United States, Hrsg. Government Printing Office, 818. Washington D.C.: National Archives and Records Service. Maas, H. 2018. Rede von Außenminister Heiko Maas am National Graduate Institute for Policy Studies in Tokyo, Japan. Auswärtiges Amt https://www.auswaertiges-amt.de/de/ newsroom/maas-japan/2121670. Zugriff: 17.08.2018 Maull, H.W. 2007. Deutschland als Zivilmacht. In: (Hrsg.): Handbuch zur deutschen Außenpolitik, Hrsg. Siegmar Schmidt, Gunther Hellmann, Reinhard Wolf, 73–84. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Simms, B.. 2013. Europe: The Struggle for Supremacy. New York: Basic Books.

Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern Die Leitlinien der Bundesregierung in außenpolitischer Betrachtung Ekkehard Brose1

Zusammenfassung

Im Aufeinandertreffen von Krisen-Erfahrungen aus Afghanistan und politischem Handlungsdruck angesichts steigender Flüchtlingszahlen in Deutschland entstehen 2017 die ressortgemeinsamen Leitlinien. Außenpolitisch stehen drei Ziele im Vordergrund: Die Kohärenz der Krisenmaßnahmen erhöhen; das außenpolitische Instrumentarium in Krisen stärken; einen Beitrag zur Beantwortung der Frage nach Deutschlands Rolle in der Welt leisten. Die Umsetzung der Leitlinien in strategiegeleitetes, praktisches Krisenhandeln stellt eine andauernde Herausforderung dar. Jenseits ihrer Nützlichkeit für die Arbeit der Ressorts verkörpern die Leitlinien ein Bekenntnis zu multilateraler Politik, internationalem Engagement und einem vieldimensionalen Begriff von Sicherheit. Schlüsselbegriffe

Deutsche Außenpolitik, Leitlinien Krisenengagement, zivile Krisenprävention, Stabilisierung, Friedenspolitik, vernetzte Sicherheit, Außenpolitik mit Mitteln

1 Der Autor ist seit 2016 Beauftragter für zivile Krisenprävention und Stabilisierung im Auswärtigen Amt und deutscher Ko-Vorsitzender der Arbeitsgruppe Stabilisierung der Anti-IS-Koalition. Von 2014 bis 2016 war er deutscher Botschafter im Irak. Er gibt hier seine persönliche Meinung wieder. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Jacobi und G. Hellmann (Hrsg.), Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Edition ZfAS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6_19

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Ekkehard Brose

Eine Vielzahl immer neuer Krisenlagen in benachbarten Weltregionen verlangt nach wohl überlegten Handlungskonzepten – dem sicherheitspolitischen Weißbuch zur Seite gestellt. Die Bundesregierung hat sich im Juni 2017 mit den vom Kabinett verabschiedeten Leitlinien Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern auf eine solch umfassende, im Schwerpunkt zivile Strategie zum Umgang mit Krisen verständigt. Jenseits praktischer Nützlichkeit als gemeinsamer Bezugsrahmen für die Ressorts, sind die Leitlinien im Zuge der aktuellen transatlantischen Unwägbarkeiten nach ihrer Vollendung gleichsam noch ein Stück über sich selbst hinaus gewachsen: Sie verkörpern ein Bekenntnis zu multilateraler Politik; wie die Mitgliedschaft Deutschlands im Sicherheitsrat ab Januar 2019 bekräftigen sie eine gestiegene Bereitschaft zur Verantwortung für internationale Ordnung; unausgesprochen, und doch nicht ohne Absicht, stehen sie schließlich einer Verengung sicherheitspolitischen Denkens auf Prozentzahlen im Wege. In einer Zeit voller herausfordernder Krisen versammeln und strukturieren die Leitlinien selbstbewusste Herangehensweisen zum Umgang mit der Komplexität der uns umgebenden Welt.

1

Der Zeitpunkt muss stimmen

Außenpolitische Hiobsbotschaften prägten den Auftakt der zweiten Amtszeit von Außenminister Steinmeier: Russlands Aggression auf der Krim im Februar 2014; nur vier Monate später der Einfall von ISIS in den Irak; die Ebola-Epidemie in Westafrika; derweil kein Ende der Gewalt in Syrien und schließlich als Folge dieser und anderer Krisen: der Zustrom beinahe einer Million Menschen nach Deutschland im Herbst des folgenden Jahres. Außenminister Steinmeier bringt die Ereignisse und Gefühle jener Tage auf den Punkt: Die Welt ist aus den Fugen geraten. Der politische Handlungsdruck steigt. Konzepte zum Umgang mit Krisen und den Folgen fragiler Staatlichkeit gab es schon, etwa den Aktionsplan Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung (2004) oder Ressortübergreifende Leitlinien für eine Politik gegenüber fragilen Staaten aus dem Jahr 2012. Im selben Jahr hatte auch der Planungsstab des Auswärtigen Amtes damit begonnen, sich systematisch mit den Lehren des damals schon über zehn Jahre andauernden Einsatzes in Afghanistan auseinanderzusetzen. Ausgehend von dem Konzept der Stabilisierung des Umfeldes militärischer Präsenz auf dem Balkan und in Afghanistan mittels ziviler Projekte, ergab sich Schritt um Schritt die entscheidende Erkenntnis: Konkrete Projekte, an der Lage des Gastlandes orientiert, hatten gerade in Krisensituationen das Potential, die gestalterische Kraft unserer Außenpolitik zu vervielfachen. Der Grundgedanke

Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern

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einer „Außenpolitik mit Mitteln“ war geboren. Dieser bescheidene Ansatz fügte sich gut in die Zeit. Das viel umfassendere westliche Konzept von nation building hatte seine Strahlkraft in Afghanistan und in Irak bereits eingebüßt. Eine Strategie war das innovative außenpolitische Konzept allerdings nicht; es fehlte 2012/13 noch der Druck politischer Notwendigkeit. Genau den schufen die Ereignisse der beiden Folgejahre dann im Übermaß. Zu Beginn der zweiten Amtszeit von Außenminister Steinmeier, unter dem Eindruck zahlreicher Krisen in Europas Nachbarschaft und mit den beschriebenen Überlegungen zu einer effektiven Außenpolitik in Krisen im Hinterkopf, gab der Planungsstab im Auswärtigen Amt eine vergleichende Studie zum Thema Stabilisierung in Auftrag. Sie erschien im März 2014 und beschrieb in erster Linie institutionelle Strukturen für Stabilisierungspolitik am Beispiel von Großbritannien, Kanada, den USA und den Niederlanden. Genau ein Jahr später, am Ende einer „Review 2014“ betitelten, teilweise öffentlichen Selbstprüfung, wurde im Auswärtigen Amt die Abteilung „S“ – wie Stabilisierung – gegründet. Erst die Konsolidierung der diesen Schritt begleitenden konzeptionellen Überlegungen in den Leitlinien markiert jedoch den Abschluss der stabilitätspolitischen Gründungsphase im Auswärtigen Amt. Deutschland hatte institutionell und konzeptionell mit seinen wichtigsten ausländischen Stabilisierungspartnern aufgeschlossen. Die Leitlinien zum Krisenengagement entstanden in einem von der Abteilung S federführend konzipierten Prozess, in enger Abstimmung mit den zentral beteiligten Ministerien für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), Verteidigung (BMVg) sowie Inneres (BMI) und im Dialog mit der interessierten Fachöffentlichkeit, organisiert im sogenannten PeaceLab. Beruhend auf den erwähnten konzeptionellen Vorarbeiten sowie unterschiedlichen Ressortansätzen im Krisenkontext und orientiert am Grundgedanken einer „Außenpolitik mit Mitteln“ gewann so über Monate eine Gesamtsicht auf Maßstäbe, Ziele und Instrumente von Politik in Krisen Gestalt. Es gelang, das Ergebnis im Juni 2017, in einer der letzten Kabinettssitzungen der Legislatur, zu verabschieden. Im Rückblick bleibt vor allem das PeaceLab – die sechsmonatige begleitende Auseinandersetzung im öffentlichen Raum mit Argumenten einer kritischen Fachöffentlichkeit – in lebhafter Erinnerung. Hier kamen besonders die zahlreichen in Krisen erfahrenen Nichtregierungs-Organisationen zu Wort, konnten die Diskussion mit ihrem tiefen Praxiswissen anreichern und eingefahrene Argumentationsmuster der Bürokratie hinterfragen. Ein gelungenes Experiment, dass im PeaceLab-Blog fortlebt.

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2

Ekkehard Brose

Wozu Leitlinien?

Die Frage nach Sinn und Zweck einer Strategie ist mit Hinweisen auf die besonderen Umstände ihrer Entstehung noch nicht hinreichend beantwortet. Drei konkrete Ziele standen bei Konzipierung der Leitlinien aus Sicht des Auswärtigen Amtes im Vordergrund: Die Kohärenz der Maßnahmen in Krisen unter dem Primat des Politischen fördern; Mittel und spezifisches Instrumentarium der Außenpolitik in Krisen stärken; einen Beitrag zur Beantwortung der Frage nach Deutschlands Rolle in der Welt leisten.

2.1

Moderne Sicherheitspolitik im zivil-militärischen Zusammenspiel

Die Autoren des aktuellen Weißbuchs zur Sicherheitspolitik wollten eine strategische Positionierung vornehmen, sowohl innenpolitisch als auch im internationalen Sicherheitsumfeld. Sie waren inspiriert von den auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2014 gehaltenen Reden von Bundespräsident Gauck, Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen, die als roter Faden Deutschlands Bekenntnis durchzieht, nicht länger an der Außenlinie des sicherheitspolitischen Spielfeldes stehen zu wollen und zu können. Das Weißbuch folgt in seinen strategischen Teilen einem weiten Begriff von Sicherheit und lenkt die Aufmerksamkeit auch auf fragile Staaten, Klima-Risiken sowie andere nicht militärische Faktoren von (Un-)Sicherheit. Dieses Denken trägt der Realität Rechnung. Gerade in den aktuellen Krisensituationen wird deutlich, warum der Einsatz militärischer, polizeilicher und ziviler Instrumente nicht isoliert gedacht werden sollte. Ein Beispiel aus dem Irak: Die Rückkehr von Binnenvertriebenen in vom IS befreite Gebiete – die wichtigste zivile stabilisierungspolitische Maßnahme – wäre nicht denkbar ohne vorherige Sprengfallenräumung und die Herstellung eines sicheren Umfeldes, u. a. mittels lokaler Polizei. Auf militärischer Seite ist unstrittig, dass die komplexen Krisen fragiler Staatlichkeit der Gegenwart rein militärischen Lösungen kaum zugänglich sind. Diese Erkenntnis verlangt nach zivilen Instrumenten, deren Erfolg häufig erst militärisch Geleistetes politisch in Wert setzen kann. „…Die nachhaltige Stabilisierung fragiler oder zerfallender Staaten erfordert einen vernetzten Ansatz, der zeitnah und substanziell die geeigneten außen-, entwicklungs- und sicherheitspolitischen Instrumente der Prävention und der Krisenbewältigung mobilisieren kann“ (Bundesregierung 2016, S.40). – Mit den Leitlinien erhält das deutsche Krisenengagement das hier geforderte umfassende Konzept. Die beiden Grundsatzpapiere stehen also nicht unverbunden, schon gar nicht unversöhnlich, nebeneinander. Die politisch gewollte

Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern

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Zuordnung ist deutlich: Das deutsche Engagement in Krisen „folgt dem Primat der Politik…“ (Bundesregierung 2017, S.57); der Einsatz militärischer Gewalt „bleibt für deutsche Politik dabei ultima ratio…“ (Bundesregierung 2017, S.58). Militärische Schritte müssen stets in eine politische Gesamtstrategie eingebettet sein und sollten von Beginn an mit zivilen Ansätzen verbunden werden. – Zusammen gelesen ergeben die beiden Texte ein Kompendium moderner deutscher Sicherheitspolitik.

2.2

„Außenpolitik mit Mitteln“

Die Stabilisierungsabteilung des AA fasst eine breite Spanne von Instrumenten moderner Außen- und Sicherheitspolitik organisatorisch und personell zusammen. Instrumente, die vor allem in Krisen und Gewaltsituationen zum Einsatz kommen und die Flexibilität und Schlagkraft von Außenpolitik erhöhen sollen, wenn dies besonders notwendig erscheint. Beispielhaft seien genannt: Mediation, Sicherheitssektorreform, Entwaffnung/Demobilisierung/Resozialisierung von Kämpfern, Rechtsstaatsförderung, Stärkung der Rolle von Frauen bei der Konfliktbearbeitung, aber auch Maßnahmen zur Sicherstellung der Grundversorgung etwa im Falle einer politisch indizierten Rückkehr Binnenvertriebener. Die Leitlinien liefern den konzeptionellen Unterbau. Im Hinblick auf ihren ressortgemeinsamen, umfassenden Charakter berücksichtigen sie natürlich auch die besonderen Beiträge und Möglichkeiten anderer Ministerien, etwa die Strukturbildende Übergangshilfe, die Entwicklungszusammenarbeit oder die Rolle der Polizei. Für das Auswärtige Amt war es darüber hinaus wichtig, das Konzept der Stabilisierung in den Leitlinien breit zu verankern: Die Unterstützung politischer Prozesse der Konfliktbewältigung, die Einhegung von Gewalt – möglichst mit zivilen Mitteln. Der Einsatz der genannten Instrumente erfordert ausreichende Finanzen. In den drei Jahren seit Schaffung der Stabilisierungsabteilung im Auswärtigen Amt im Frühjahr 2015 verdreifachten sich die Mittel für Sicherung von Frieden und Stabilität auf nahezu 2,7 Mrd. EUR, das sind etwas mehr als 50% des Budgets des Ministeriums (2017). Auch die krisenrelevanten Teile der Budgets anderer Ministerien, besonders des BMZ, weisen in dieser Zeit erhöhtes Wachstum aus. Ein solch rasanter Aufwuchs bedarf nicht nur qualifizierter Mitarbeiter und einschlägiger Vergaberichtlinien, er ist politisch nur steuerbar im Rahmen klarer Zielvorgaben. Die Leitlinien formulierten diese konzeptionelle Orientierung zur rechten Zeit.

292

2.3

Ekkehard Brose

Deutschlands Verantwortung in der Welt

Die Leitlinien helfen darüber hinaus, Antworten zu geben auf die vielfach artikulierte Erwartung der internationalen Gemeinschaft an Deutschland, aus einer Position wirtschaftlicher Stärke und politischer Reife beim Management einer vielfältig bedrohten Staatenordnung mehr Verantwortung zu übernehmen. Diese Erwartungen sind seit dem Amtsantritt von Präsident Trump noch gestiegen. Die deutschen Leitlinien und internationale Konzepte der Strategiebildung folgen parallelen gedanklichen Mustern: Im April 2016 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen ihren Grundsatzkatalog „Sustaining Peace“; zwei Monate später beschloss die EU ihre Globale Strategie. Staaten mit entwickelten Strukturen und Engagement im Krisenmanagement, darunter USA, UK, NL oder CAN, bilden seit 2013 zusammen mit Deutschland das sog. Stabilisation Leaders Forum. Es fällt Deutschland nicht schwer, das Programm des neuen VNGS António Guterres zu unterstützen, der mit Nachdruck mehr Anstrengungen bei der Krisenprävention fordert. Die deutsche Bereitschaft zur Übernahme von mehr internationaler Ordnungs-Verantwortung hatte sich bereits während der Ukraine-Krise gezeigt. Sie wurde erneut deutlich, als der IS in Irak und Syrien im Sommer 2014 die internationale Staaten- und Rechtsordnung herausforderte. Frühzeitig übernahm die Bundesregierung den Ko-Vorsitz der von ihr konzeptionell mit begründeten AG Stabilisierung im Rahmen der Anti-IS-Koalition; seit Mai 2015 führt der deutsche Botschafter in Irak zusammen mit dem Stabschef des Premierministers auch den Ko-Vorsitz in der lokalen Task Force Stabilisation. International beachtet und begrüßt, leistete Deutschland hier wichtige Pionierarbeit und sorgte von Beginn an mit dafür, dass dem militärischen Strang des Kampfes gegen den IS zivile Maßnahmen auf dem Fuße folgten. Frühe Schritte zur Wiederherstellung der Basisinfrastruktur bilden die Grundlage für die erfolgreiche Rückkehr von zwei Dritteln der irakischen Binnenvertriebenen – vier Millionen Menschen – in vom IS befreite Gebiete. Das konzeptionelle und politische Engagement Deutschlands wird unterfüttert von humanitärer Hilfe und stabilisierenden Maßnahmen, zusammen im Wert von 1,4 Mrd. EUR seit 2014.

3

Leitlinien in der Praxis

Hat man die Entstehungsgründe der Leitlinien und die dem Konzept zugedachten Funktionen umrissen, ist doch noch wenig über ihre reale Bedeutung für die Gestaltung von Außenpolitik gesagt. Funktioniert der ressortgemeinsame Ansatz in

Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern

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der Praxis? Hält Ertüchtigung, was die Bundesregierung sich von ihr verspricht? Welchen praktischen Beitrag leistet Deutschland und leistet die EU bei ziviler Krisenprävention? Es wäre vermessen, wollte man auf all diese Fragen uneingeschränkt positiv antworten. Krisenengagement ist ein die Ressortzusammenarbeit stark forderndes Politikfeld mit vielen Unwägbarkeiten, das jedem Akteur risikoreiche Entscheidungen abverlangt.

3.1 Ressortgemeinsamkeit Die Leitlinien fordern nicht nur einen ressortgemeinsamen Ansatz im Umgang mit Krisensituationen, sie sind selbst ein Produkt desselben. Der Prozess hin zu den Leitlinien hat bei allen Beteiligten das Verbindende betont. Die Vielgestaltigkeit des in den Leitlinien betrachteten Instrumentenkastens ist ein Spiegel der erkannten Komplexität von Krisen und des Bemühens, auch deren tiefere Ursachen mit in den Blick zu nehmen. Getragen ist dieses Denken von der Überzeugung, dass in komplexen Krisen nur einem umfassenden Bündel von Maßnahmen, ausgerichtet an einer schlüssigen politischen Strategie, längerfristig Erfolg beschieden sein wird. Diesem weithin akzeptierten Gedanken stehen in der Praxis Hindernisse im Weg: Der manchmal frustrierenden Mangel an geeignetem Personal, um die personalintensiven und sensiblen Abstimmungsaufgaben national und international auch tatsächlich leisten zu können; Ressortegoismen oder eine Neigung zu nationalen Alleingängen; manchmal fließende Übergänge von humanitären Herausforderungen, Stabilisierung, Sicherheit und Entwicklung, die eine Abgrenzung erschweren. Das Auswärtige Amt beansprucht für sich, Rahmen und Richtung des Abstimmungsprozesses in der Bundesregierung, also die überwölbende (außen)politische Strategie, maßgeblich zu gestalten. Task Forces zu einzelnen Krisenländern oder -regionen unter Leitung der jeweils zuständigen Regionalbeauftragten des Auswärtigen Amts dienen der Umsetzung des ressortgemeinsamen Ansatzes ebenso wie Sitzungen der von den Leitlinien geschaffenen ressortübergreifenden Koordinierungsgruppe unter rotierendem Vorsitz. Auch den Auslandsvertretungen kommt für die Sicherung von Kohärenz in Analyse und Außenauftritt entscheidende Bedeutung zu. Und doch wird eine ehrliche Antwort auf die Ausgangsfrage eingestehen, dass der ressortgemeinsame Ansatz noch nicht im wünschenswerten Umfang gelebt wird. Wichtigste Bedingung für seine weitere Stärkung ist ein belastbares politisches Einvernehmen der Leitungen aller beteiligten Ressorts. Besonders im Verhältnis zwischen Auswärtigem Amt und dem Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung haben das gestiegene außenpolitische Engagement bei der Stabilisierungspolitik mit dem Aufbau eigener

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Handlungsmöglichkeiten jenseits der traditionell im Auswärtigen Amt beheimateten humanitären Hilfe zeitweise zu erheblichen Spannungen geführt. Der Beginn der neuen Regierungszeit ging jedoch gerade in dieser Frage mit einem Neuanfang der Zusammenarbeit der beiden Ressorts in positivem Geist einher. Eine trennscharfe Abgrenzung von Zuständigkeiten in Krisen scheitert häufig in der Realität. Tendenziell widmet sich das AA eher dem politisch eng zu steuernden Einsatz von Instrumenten zur Eindämmung der Gewalt in Krisen und zur Krisenprävention. Demgegenüber stehen bei Maßnahmen des BMZ deren Nachhaltigkeit und längerfristige strukturelle Wirkungen im Vordergrund. Ausnahmen und Überlappungen in Grenzbereichen bleiben. In der Praxis wird es daher darum gehen, schon im Vorfeld der Beauftragung von Projekten durch gemeinsame Analyse und bessere Abstimmung Einigkeit über ein gemeinsames Herangehen im Ressortkreis zu erzielen und auf dieser Grundlage dann in (den wenigen) streitigen Einzelfällen pragmatisch über Zuständigkeiten zu entscheiden.

3.2 Ertüchtigung Der Grundgedanke der systematischen Ertüchtigung wichtiger Sicherheitspartner in Nah- und Mittelost und in Afrika nahm im Kanzleramt in den Jahren 2011/12 praktische Gestalt an. Gezielte Unterstützung des Aufbaus und der Ausbildung einheimischer Sicherheitskräfte sollte deren militärische Leistungsfähigkeit und zugleich demokratische Kontrolle und rechtsstaatliche Ausrichtung stärken. Reformierte Sicherheitskräfte, so der Grundgedanke, wirken von innen stabilisierend auf die Sicherheitslage und machen damit direkte Interventionen westlicher Streitkräfte überflüssig. Diese hatten sich in der Vergangenheit immer wieder – siehe Afghanistan oder Irak 2003 – als problematisch erwiesen. Misst man praktische Erfahrungen mit der Ertüchtigung von Partnern an diesen Zielvorgaben, fällt das Urteil gemischt aus. In keinem Feld ist die Zusammenarbeit zwischen AA und BMVg enger, von der einvernehmlichen Festlegung der Schwerpunktländer bis zur gemeinsamen Bewirtschaftung des Haushaltstitels. Nicht immer genügen allerdings Beratung und Kontrolle den hohen selbst gesetzten Standards. Andererseits springt das diesjährige (2018) Friedensgutachten zu kurz, wenn seine Autoren die Ertüchtigung irakischer Sicherheitskräfte mit dem Argument kritisieren, dort gebe es Defizite bei der demokratischen Kontrolle. So ist es, aber Ertüchtigung findet definitionsgemäß in derart unvollkommenen Kontexten statt. Nicht Ablehnung kalkulierter Risiken, sondern festere Einbindung von Ertüchtigung in eine politische Gesamtstrategie lautet die Antwort.

Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern

3.3

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Krisenprävention und andere Baustellen

Die Logik frühen Handelns ist überzeugend – menschlich, politisch und wirtschaftlich. Nicht nur VN-Generalsekretär Guterres und die Weltbank, auch die Leitlinien der Bundesregierung geben das Ziel vor, Krisenanzeichen möglichst früh zu erkennen und vorbeugend aktiv zu werden, um so das Entstehen schwerer Krisen zu verhindern. Es gibt zahlreiche Quellen der Frühwarnung. In der Praxis erweist sich vor allem der Übergang von early warning zu early action als Klippe. Aktuelle, nicht potentielle Krisen beherrschen die ministerielle Wirklichkeit; es mangelt an personellen und materiellen Reserven zur systematischen Beschäftigung mit Prävention, sicher da und dort auch noch an Sensibilität für das schwierige Thema. Die bevorstehende Mitgliedschaft im VN-Sicherheitsrat wird Möglichkeiten bieten, das deutsche Engagement im multilateralen Kontext aktiv unter Beweis zu stellen. Ein Beispiel: Die VN haben im Juli 2018 beschlossen, die Friedensmission in Darfur (Sudan), UNAMID, über zwei Jahre hinweg abzubauen. Zugleich sollen zivile Maßnahmen einen Rückfall in Spannungen und Krisen verhindern helfen – auch eine Spielart von Prävention. Nachdem die internationale Gemeinschaft jährlich nahezu eine Milliarde USD für die militärische Mission aufgewendet hat, darf es jetzt nicht an zivilem Engagement fehlen, den Einsatz zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Europapolitisch wünschenswert und sachlich sinnvoll erscheint eine aktivere Rolle der EU bei vielen der angesprochenen Fragen des Krisenmanagements. Es bestehen enge Kontakte zwischen Auswärtigem Amt und der Einheit für Krisenengagement der EU, PRISM. Erste Schritte in die richtige Richtung sind gegangen, etwa mit der EU-Mission nach Mopti/Mali. Außenminister Maas hat am 13. Juni in einer Rede in Berlin die Schaffung eines Europäischen Stabilisierungskorps vorgeschlagen. Ein europäisches Kompetenzzentrum Ziviles Krisenmanagement in Berlin ist Teil der Diskussion. Fest steht, hier schlummern noch ungenutzte Potentiale. Wir werden sie schon bald benötigen.

4

Fazit: Strategisch Handeln

Allein die Verabschiedung von Leitlinien garantiert noch nicht ihre Befolgung in der Politik. Regierungen und Organisationen, auch die Vereinten Nationen selbst, kämpfen mit Problemen der Umsetzung. Ein klares Leitbild kann helfen, konstruktive Kritik in praktische Verbesserungen umzumünzen. Handeln im Krisenkontext soll strategisch geleitet sein. Der Eindruck in der Praxis ist zu oft noch ein anderer: Eine Vielzahl bestenfalls locker verbundener

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Einzelmaßnahmen verschiedener Ressorts oder internationaler Akteure, ohne klar erkennbaren roten Faden. Das führt zu teilweise berechtigter Kritik. Sowohl national als auch im internationalen Rahmen lautet die offenkundige Antwort: Verbindliche(re) Zielbeschreibung, effektive Kommunikation des politischen Narrativs, qualifiziertes Personal und konsequente Teamarbeit. Keine Verbesserung wäre die Schaffung eines zweiten Koordinierungsapparates – etwa eines Bundessicherheitsrates. Das Auswärtige Amt versteht sich als Garant von Kohärenz in der Außenpolitik und wird diese Rolle gerade auch im Hinblick auf die deutsche Politik in Krisen mit Engagement ausfüllen. Die dafür notwendigen Mechanismen der Abstimmung bestehen; es gilt, diese nun in enger Zusammenarbeit mit allen beteiligten Ressorts konstruktiv zu nutzen. Bei allfälliger Kritik ist immer auch zu bedenken, dass die Kapazitäten für die Einhegung von Krisen bereits seit Jahren auf Überlast arbeiten – national, aber auch bei unseren Partnern und auf internationaler Ebene. Dabei erscheinen die gegenwärtigen Krisen eher der Anfang denn das Ende einer bedrohlichen Instabilität des internationalen Staaten- und Ordnungssystems. Hält man sich etwa vor Augen, dass nach Berechnungen der Weltbank in wenig mehr als zehn Jahren die Hälfte der Weltbevölkerung in Staaten leben wird, die von Gewalt und Instabilität gezeichnet sind, so macht das die Dimension der uns noch erwartenden Herausforderungen deutlich. Zugleich wird klar, der politische Umgang mit Krisen ist kein Blaulicht-Einsatz mit überschaubarer Exit-Strategie. Er fordert auf allen Seiten langen Atem. Auf internationaler Bühne wurde die Verabschiedung der Krisen-Leitlinien aufmerksam registriert. Deutschland ist konzeptionell gut aufgestellt und verfügt über große Ressourcen, von der humanitären Hilfe über Prävention, Stabilisierung und Entwicklungszusammenarbeit, bis zu Polizeiausbildung und militärischer Beratung. In vielen Konflikten wird Deutschland als guter Makler wahrgenommen, mit seinem nationalen Interesse uneigennützig auf Stabilität und ein friedliches Miteinander gerichtet. Nun müssen wir noch eine Rolle spielen wollen. In der Ukraine, in Irak ist uns das gelungen.

Literatur Bundesregierung. 2016. Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin. Bundesregierung. 2017. Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern. Berlin.

Warum Deutschland künftig mehr denn je auf einen gesamtstrategischen Ansatz in der Außen- und Sicherheitspolitik angewiesen ist Ulrich Schlie Gesamtstrategischer Ansatz in der Außen- und Sicherheitspolitik

Zusammenfassung

Konsensbildung in einer parlamentarischen Demokratie ist nur in erweiterten politischen Debatten über nationale Interessen, außenpolitische Ziele und innenpolitische Folgen internationaler Verantwortung möglich. Deutschland hat nach wie vor eine erhebliche Lücke in seinem strategischen Ansatz der Außenund Sicherheitspolitik gegenüber den wichtigsten Verbündeten und Partnern. Ein verstärkter Dialog über wichtige außenpolitische Aspekte im Deutschen Bundestag wird zu einem höheren außen- und sicherheitspolitischen Bewusstsein beitragen. Der Artikel identifiziert große Stolpersteine in ​​ der deutschen Politik, die Fortschritte verhindern. Vor dem Hintergrund der außenpolitischen Debatte Deutschlands, seiner rechtlichen und politischen Entwicklungen seit der Wiedervereinigung, plädiert der Artikel für einen kohärenteren gesamtstaatlichen Ansatz. Die noch ausstehenden zentralen Entscheidungen zur Anpassung der außen- und sicherheitspolitischen Schlüsselinstrumente – Entscheidungsstrukturen in Kanzleramt, Streitkräften, Auswärtigem Dienst und Nachrichtendiensten – können nur durch eine konzertierte Aktion der Bundesregierung getroffen werden. Schlüsselbegriffe

Gesamtstrategie; außenpolitische Grundsatzentscheidungen; Strategie und Organisation; Ressortübergreifendes Handeln; Nationale Sicherheitsstrategie

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Jacobi und G. Hellmann (Hrsg.), Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Edition ZfAS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6_20

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Der Zusammenhang zwischen Außenpolitik und Strategie ist im wiedervereinigten Deutschland lange Zeit ignoriert worden. In jüngster Zeit freilich häufen sich Forderungen nach einer Verbesserung der Strategiefähigkeit Deutschlands, nach der Begründung eines Strategierates und der Stärkung des strategischen Denkens (z. B. Bindenagel und Ackermann 2018, S.253-260). Aus diesen Äußerungen indes schon auf eine vertiefte Debatte über die strategische Grundausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik schließen zu wollen, wäre vorschnell. Auch der sich seit dem Jahr 2014 herausgebildete „Münchner Konsens“ der Einsicht in die Notwendigkeit der Übernahme einer größeren außenpolitischen Verantwortung kann nicht schon mit einem Resultat verwechselt werden. Es war gewiss eine sorgfältig vorbereitete, wohl durchdachte, wegweisende Rede, darin vergleichbar mit der berühmten „Ruck-Rede“ von Roman Herzog, die Bundespräsident Joachim Gauck am 31. Januar 2014 bei der München Sicherheitskonferenz gehalten hat, eine Rede, die seitdem unablässig zitiert wird und die zweifelsohne geholfen hat, das Gesamtverständnis für die wachsenden internationalen Aufgaben in Deutschland zu verbreitern: „Die Beschwörung des Altbekannten wird künftig nicht ausreichen“, so Gauck. „Die Kernfrage lautet doch: Hat Deutschland die neuen Gefahren und die Veränderung im Gefüge der internationalen Ordnung schon angemessen wahrgenommen? Reagiert es seinem Gewicht entsprechend? Ergreift die Bundesrepublik genügend Initiative, um jenes Geflecht aus Normen, Freunden und Allianzen zukunftsfähig zu machen, das uns doch Frieden in Freiheit und Wohlstand in Demokratie gebracht hat?“ (Gauck 2014). Doch neu war die hier formulierte Erkenntnis nicht. Schon Bundespräsident Roman Herzog war in seiner Rede vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik im März 1995 zu gleichlautenden Einschätzungen gekommen: „Außenpolitik in einer unübersichtlich gewordenen Welt erfordert Lernfähigkeit und Lernbereitschaft. Wir müssen unsere Kenntnisse unablässig vertiefen. Wir brauchen eine Quantität von Analyse, die wir noch nicht haben. Die neuen Chancen und Risiken verlangen nach einem neuen Know-how, das die klassische Außenpolitik allein nicht bietet. Die alten Antworten und Instrumente stimmen zum Teil nicht mehr. Wir brauchen auch wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Produktionsquellen für ein neues Know-how. Vor allem brauchen wir neue Akzente in der auswärtigen Kulturpolitik. Größer und stärker zu werden bedeutet noch nicht automatisch, auch Sympathie und Freunde in der Welt zu gewinnen. Das Gegenteil kann der Fall sein. Je weitreichender deutsche Entscheidungen sind, je mehr mit Interesse darauf gesehen wird, wie wir uns verhalten, desto mehr müssen wir weltweit über uns und unsere Politik informieren. Wir brauchen aktive Sympathiewerbung für Deutschland im Ausland. Das ist nicht nur eine Grundvoraussetzung für unsere Außenpolitik, sondern auch für weltweite Wirtschafts- und Handelsbeziehungen. Deshalb ist das

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nicht nur eine Aufgabe der Politik und der Kulturinstitutionen, sondern auch der deutschen Wirtschaft. Auch sie sollte sich diesem globalen Anspruch stellen. Wir befinden uns am Beginn einer neuen Phase deutscher Außenpolitik, die ich die Globalisierung deutscher Außenpolitik genannt habe. Wir in Deutschland sind erst noch dabei, dazu eine außenpolitische Kultur zu entwickeln.“ (Herzog 1995). Zwischen den beiden Redeauftritten liegen fast 20 Jahre: zwei Jahrzehnte, in denen die deutsche Sicherheitspolitik einen ereignisreichen, bisweilen aber auch mühseligen Weg zurückgelegt und wohl kaum den von Roman Herzog skizzierten Anspruchsrahmen erreicht und dessen Zielvorgaben eingelöst hat. Dies trifft besonders auf die strategischen Grundlagen zu, denn die Einsicht in die Bedeutung einer Gesamtstrategie für das außen- und sicherheitspolitische Handeln in Deutschland hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten nicht signifikant verbreitert. Im Grunde lässt sich die ganze Geschichte der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik seit der Wiedervereinigung entlang der dreigeteilten Überschrift „gestiegene internationale Verantwortung – größere Rolle – höhere Erwartungen der Partner“ erzählen. Wer nach einem Symbol für die damit einhergehenden Veränderungen sucht, findet sie in den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. In den 1990er Jahren wurde leidenschaftlich über die „out of area“-Einsätze der Bundeswehr debattiert, über die Beteiligung Deutschlands an UN-mandatierten Peacekeeping-Missionen unter Kapitel VI und – gemäß der Clinton-Doktrin – einem imaginären Kapitel VI 1/2 der VN-Charta gerungen, über die Frage, ob die Bundeswehr dorthin gehen könne, wo die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg besonderes Unheil angerichtet hatte, gestritten und darüber, ob es ein Recht auf humanitäre Intervention gäbe. Selbstredend wurde die Entscheidung über die Beteiligung an einem Nato-geführten Einsatz ohne UN-Mandat zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovo im Jahr 1999 als einschneidende Zäsur wahrgenommen. Nun wurde argumentiert, die Bundeswehr müsse gerade dorthin gehen, wo die Wehrmacht Unheil im Zweiten Weltkrieg angerichtet habe. Geschichte wurde als Argument für die eine wie für die andere Begründung bemüht, auch dies zählt zu den Besonderheiten und Befindlichkeiten der außen- und sicherheitspolitischen Debatte in Deutschland. Begibt man sich auf die Suche nach Wegmarken in der öffentlichen Debatte über Außen- und Sicherheitspolitik in Deutschland, so fällt auf, dass Richtungsentscheidungen fast immer in Folge von äußerem Zwang, also von internationalen Konstellationen, infolge von Bündnisverpflichtungen oder auf Druck von Partnern erfolgten und zumeist von heftigen Debatten um die Auslegung der rechtlichen Grundlagen begleitet wurde. Die Diskussion im Vorfeld der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 12. Juli 1994 zu den Out-of-Area-Einsätzen der Bundeswehr ist dafür ein symptomatisches Beispiel (Bundesverfassungsgericht 1994). Es ging dabei um die

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Bestätigung der Rechtsauffassung einer geübten Praxis, und es dürfte wohl einzigartig in der europäischen Staatenpraxis sein, dass damals ein Teil der die Regierung bildenden Fraktionen, die FDP-Fraktion des damaligen Bundesaußenministers Klaus Kinkel, gegen die eigene Regierung klagen musste, um in einer Auslegungsfrage Klarheit zu erzielen. Die damals auch in Reden übliche Formulierung des Bundesministers des Auswärtigen lautete bezeichnend: „Das Bundesverfassungsgericht hat den Weg freigemacht“. Wenn es eine Konstante in der außenpolitischen Debatte in Deutschland gibt, dann ist es der Verweis auf und die Instrumentalisierung von juristischen Fragestellungen. Auch die ‚Kommission zur Überprüfung und Sicherung der Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr‘ unter der Leitung des ehemaligen Bundesministers der Verteidigung Volker Rühe, die im März 2014 eingesetzt worden war, im Juni 2015 ihren Abschlussbericht vorgelegt hat und deren Auftrag lautete, „zu prüfen, wie auf dem Weg fortschreitender Bündnisintegration und trotz Auffächerung von Aufgaben die Parlamentsrechte gesichert werden können“, hat jenseits einer Reihe von kleineren praktischen Anpassungen und Auslegungspräzisierungen des Parlamentsbeteiligungsgesetz keinen Durchbruch mit Blick auf eine dauerhafte Auflösung des Gegensatzes zwischen Parlamentsbeteiligung und wirksame Bereitstellung einzelner militärischer Fähigkeiten erzielen können (Deutscher Bundestag 2015). Dies lag zum einen an der selbst auferlegten Beschränkung des Mandats der Kommission, die eine „vertiefter Erörterung der aktuellen politischen und verfassungsrechtlichen Diskussion“ als außerhalb ihres Auftrags ansah und lediglich die nahliegende Empfehlung erneuerte, „dass der Bundestag in einem geeigneten Verfahren über eine mögliche Reform des verfassungsrechtlichen Rahmens für Auslandseinsätze der Bundeswehr“ beraten möge. Nun ist der Parlamentsvorbehalt in der Tat kein grundsätzliches Hindernis für multinationale Kooperation und Integration; er begründet lediglich eine absolute Grenze gegenüber einem Souveränitätsverzicht der Bundesrepublik hinsichtlich des Einsatzes bewaffneter Streitkräfte, und er hat in der politischen Mandatsdiskussion in Deutschland eine empirisch schwer fassbare, vorausgreifend restriktive Wirkung mit Blick auf Einsatzentscheidung und eine den Einsatz der Streitkräfte normierende Kleinteiligkeit der Vorgaben. Zudem entfaltet er auch bündnispolitisch eine begrenzende Wirkung, indem die Notwendigkeit der parlamentarischen Zustimmung vorauseilend die Qualität von Einsatzentscheidungen beeinflussen kann und das Erfordernis der parlamentarischen Kontrolle bei maßgeblichen Partnern als Geheimhaltungshindernis wahrgenommen wird. Insoweit ist die im Bericht enthaltene Aussage, der Parlamentsvorbehalt stelle bei der fortschreitenden Bündnisintegration und bei der Zurverfügungstellung militärischer Fähigkeiten kein Hindernis dar, nur prima vista grundsätzlich richtig, bei näherem Hinsehen jedoch bestreitbar, zumindest auslegungsbedürftig. Der

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Umstand, daß der Deutsche Bundestag in den letzten Jahren von der Möglichkeit der Zustimmung im Rahmen des „vereinfachten Verfahrens“ keinen Gebrauch mehr gemacht hat, ist auch in diesem Zusammenhang zu sehen. Auch die Beteiligung der Bundeswehr am Afghanistan­einsatz seit 2001 ist letztlich eine außenpolitische Entscheidung gewesen, die in der Bündnissolidarität – die bislang einzigartige Feststellung des Bündnisfalls nach Artikel 5 des Washingtoner Vertrages – nach dem 9/11 zu sehen ist und bei der es ganz ursprünglich einmal um ein VN-Mandat zur Terrorismusbekämpfung gegangen ist. Der Versuch des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck, der Beteiligung am Afghanistaneinsatz mit dem Satz „Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt“ eine nachträgliche strategische Grundlage zu verleihen, ist viel debattiert und häufig angegriffen worden, gerade auch weil ein einzelner, 2002 in einer Pressekonferenz in Beantwortung einer Journalistenfrage hingeworfener Satz kaum als Strategiebegründung betrachtet werden kann (Struck 2004, S.11).1 Die außenpolitische Debatte in Deutschland, wenn wir den Blick die letzten fünfundzwanzig Jahre zurück richten, ist seit der Kontroverse um den Nato-Doppelbeschluss jedenfalls nicht von entscheidenden strategischen Grundsatzdokumenten geprägt worden. Von 1994 bis 2006 gab es eine „weißbuchfreie“ Zeit, und es sollte wiederum zehn Jahre dauern, bis 2016 (BMVg 2016) erneut ein Weißbuch von der Bundesregierung verabschiedet wurde. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien des Jahres 2011 mit ihrem Dreiklang „Internationale Verantwortung übernehmen, nationale Interessen wahren, Sicherheit gemeinsam gestalten“, die sich eigentlich bereits ganz auf der Linie des Münchner Konsenses des Jahres 2014 bewegten, wurden hingegen medial kaum wahrgenommen (BMVg 2011). Der vom Weißbuch 2006 eingeführte Begriff „vernetzte Sicherheit“ hat zumindest in der Afghanistanpolitik eine bessere Abstimmung der Häuser ermöglicht und die Verständigung auf gemeinsame strategische Leitlinien innerhalb der Bundesregierung erleichtert (BMVg 2006). Grundsätzlich wird der Afghanistaneinsatz im Rückblick als sicherheitspolitischer Schrittmacher in den sogenannten Nullerjahren bezeichnet werden können. Mit dem Afghanistaneinsatz verbindet sich auch die wohl am meisten weiterführende strategische Debatte des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts, als unter Bundesminister Jung die Bezeichnung „kriegsähnliche Zustände“ in die offizielle kriegsvölkerrechtliche Position der Bundesregierung Eingang fand und später Bundesminister zu Guttenberg die Bezeichnung „Krieg“ für die Beschreibung der Einsatzwirklichkeit in Afghanistan übernahm. Es ist bezeichnend, dass weder 1 Zur Genese des Zitats ursprünglich auf einer Pressekonferenz im Jahr 2002 vgl. Siebert 2002.

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die Aussetzung der Einberufung zum Grundwehrdienst im Jahr 2012 noch der Dresdner Erlass (BMVg 2012) zur Neuausrichtung der Bundeswehr im selben Jahr zur Neufassung des sicherheitspolitischen Dachdokumentes innerhalb der Bundesregierung geführt haben. Dieser Befund lässt sich nur mit der gering ausgeprägten Neigung in der deutschen politischen community – in Exekutive, Legislative und der Fachöffentlichkeit – erklären, Grundsatzdokumente konsequent zur strategischen Steuerung und zur Verbreiterung des öffentlichen Bewusstseins für die Erfordernisse einer umfassenden Sicherheitspolitik zu nutzen. Dabei hat die von Helmut Schmidt in den 1960er Jahren in einer Reihe von programmatischen Schriften gegebene Begründung für die Notwendigkeit von strategischen Grundsatzdokumenten und der Wichtigkeit einer strategischen Debatte bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren, weil die Grundherausforderungen für ein an der Strategie ausgerichtetes Handeln gleichgeblieben sind. In seiner Vorbemerkung zu „Strategie des Gleichgewichts“ formulierte der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende in bis heute unverändert gültigen Sätzen treffend: „Dieses Buch dient der Klärung und dem Durchsichtigmachen des Spielraumes der deutschen Politik. (…) Vor zehn Jahren – in der Zeit der stark emotional gefärbten außenpolitischen und Wehrdebatten des Deutschen Bundestages erschien es mir nötig, die deutsche Politik, die Publizistik und auch die Bundeswehr zu einer rationalen Betrachtung unserer sicherheitspolitischen Problemstellung zu provozieren.“ (Schmidt 1969, S.11). Bereits an anderer Stelle hatte Helmut Schmidt nachdrücklich die Notwendigkeit, den außenpolitischen und den militärstrategischen Prozess wissenschaftlich-methodisch zu durchdringen, als eine der herausragenden Aufgaben der deutschen Politik beschrieben. „Auch heute und in Zukunft haben wir Deutschen es dringend nötig, die Lage der Welt, die Lage Europas und unsere eigene Lage methodisch zu analysieren, um unsere eigene politische und militärische Strategie zu fundieren“ (Schmidt 1968, S. I). Das ist im Nukleus die nach wie vor gültige Begründung für die Notwendigkeit einer strategisch ausgerichteten Politik, an die sich Helmut Schmidt gehalten hat, als er das von ihm verantwortete zweite Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands im Jahr 1970 als „Ergebnis einer Selbsterforschung der Bundeswehr, wie es sie in solcher Form und Intensität noch nicht gegeben hat“ vorstellte (BMVg 1970). In der deutschen Bundeswehr ist Selbsterforschung bis heute keine Paradedisziplin, und die von Henry Kissinger mit analytischer Selbstverständlichkeit schon in den 1950er Jahren postulierte Prämisse, dass eine angemessene strategische Grundlage ein Grunderfordernis für die Sicherheit Amerikas sei (Kissinger 1957, S. 380), wäre in Deutschland – abgesehen vielleicht von Helmut Schmidt und Franz Josef Strauß – so nie formuliert worden. Zumindest wäre sie für viele erklärungsbedürftig gewesen.

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Die Geringschätzung von strategischen Grundsatzdokumenten, die mangelnde Bereitschaft, sich mit den strategischen Grundlagen etwa Frankreichs oder Großbritanniens in ihren Konsequenzen für politisches Handeln in Deutschland auseinanderzusetzen, findet sich auch in der Abwesenheit von entsprechenden Debatten im Deutschen Bundestag. Weißbücher zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr können in Deutschland allenfalls in Regierungserklärungen zum Aussprachegegenstand gemacht werden. Eine andere Form der parlamentarischen Debatte, geschweige denn eine Abstimmung darüber, ist nicht vorgesehen, ebenso wenig eine Beteiligung von einzelnen Parlamentariern bei der Erstellung der Dokumente, wie dies beispielsweise in Frankreich im Rahmen des französischen Weißbuchprozesses gang und gäbe ist. Auch beim ressortgemeinsamen Denken hält Deutschland mit den Entwicklungen etwa in Kanada, der Schweiz oder Norwegen nicht Schritt, wenn man den Stand beispielsweise der Afghanistankoordinierung in Kanada nach 2006 oder das ressortgemeinsame Lagebild der Schweizerischen Eidgenossenschaft zum Vergleichsmaßstab wählt. Diese offenkundigen Defizite können nicht nur mit dem Naturgesetz von Koalitionsregierungen begründet werden, bei denen die unterschiedlichen Parteien zugeordneten Fachressorts Auswärtiges, Verteidigung oder Entwicklung sorgsam über die Einhaltung von Ressortkompetenzen wachen und auf vereinbarte Federführungen pochen. Zur Erklärung dieses Umstands sind wohl vor allem tiefer liegende Gründe in der politischen Kultur, oder auch der eher nachgeordnete Stellenwert von Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik bei den Karrierewegen in den im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen verantwortlich, zudem ein zu geringer Druck aus der Fachöffentlichkeit, und nicht zuletzt auch mangelnde Einsicht in die Erfordernisse ressortgemeinsamen Handelns bei der leitenden Beamtenschaft. Auf ähnliche Probleme trifft grosso modo der Bundesnachrichtendienst, insbesondere mit Blick auf die öffentliche Wertschätzung seiner Arbeit oder bei Fragen seiner parlamentarischen Kontrolle. Damit sind die wesentlichen Spezifika der deutschen Situation berührt, die die sicherheitspolitische Debatte in Deutschland auch künftig entscheidend prägen und bei denen anzusetzen wäre, wenn signifikante Änderungen erreicht werden wollen. Medien und wissenschaftliche Öffentlichkeit verstehen auch in Deutschland ihre Rolle als kritischer Begleiter der Außen- und Sicherheitspolitik. Aus ihren Reihen ist es wiederholt zu wichtigen Impulsen gekommen. Die außenpolitische Berichterstattung der überregionalen deutschsprachigen Tages- und Wochenpresse kann sich sehen lassen und hat in der Vergangenheit immer wieder dazu geführt, dass einzelne Themen in der öffentlichen Wahrnehmung nach vorne gebracht werden konnten. Doch würde es die Medien überfordern, ja gar ihre begleitende und kritisch hinterfragende Rolle verkennen, wenn ihnen bei der Herausbildung

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einer vertieften strategischen Kultur der zentrale Part zugewiesen werden würde. Ihre dialogische Einbeziehung, Adressierung und konsequente Nutzung im Verständnis einer modernen und um Transparenz bemühten Strategie des öffentlichen Diskurses ist indes nicht zu unterschätzen und bietet – auch im internationalen Vergleich betrachtet – unausgeschöpfte Möglichkeiten. Die Empfehlung, auch in Zukunft die Öffentlichkeit in den Prozess der Herstellung von Grundsatzdokumenten mit einzubeziehen – in der NATO steht dafür der Begriff „big tent approach“ – dürfte unstreitig sein. Kein künftiger Weißbuchprozess in Deutschland wird deshalb hinter die Entscheidung von Bundesministerin von der Leyen zur Öffentlichkeitsinklusion beim Weißbuchprozess 2016 zurückfallen. Auch das von der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in den letzten Jahren beförderte Verständnis als das eines Ortes der strategischen Debatte und des ressortgemeinsamen Verständnisses von Sicherheitspolitik hat zur Verbreiterung des öffentlichen Bewusstseins für die Bedeutung von Sicherheitspolitik beigetragen. Von der Politischen Wissenschaft und ihren Nachbarfachrichtungen, der Zeitgeschichte, der Militärgeschichte und dem Völkerrecht, dürfen wertvolle Impulse erhofft werden, wie der sicherheitspolitische Diskurs in Deutschland vorangebracht werden kann. In Brüssel sind in den letzten Jahren eine Reihe von vielversprechenden Thinktanks entstanden, die die strategischen Debatte in Europa befördert haben. Die entscheidenden Anstöße können jedoch nur von der Exekutive und der Legislative gegeben werden. Dass der Deutsche Bundestag kein Ort der strategischen Debatte zur Außen- und Sicherheitspolitik in Deutschland ist, wird in den Medien vielfach beklagt und lässt in Vergessenheit geraten, dass im Bonner Alten Plenarsaal und im Bonner Wasserwerk einst wegweisende außen- und sicherheitspolitische Debatten geführt wurden. Als Impulsgeber für strategische Grundsatzdokumente ist der Deutsche Bundestag bislang allerdings nicht in Erscheinung getreten. Grundlegende Veränderungen der strategischen Kultur mit Blick auf eine Schärfung des Blicks für die Notwendigkeit einer hinreichenden strategischen Begründung sind ohne die Einbeziehung des Deutschen Bundestages nicht zu erreichen. Gemeinsame Sitzungen des Verteidigungsausschusses und des Auswärtigen Ausschusses, die jährlich Aussprache über eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zur Lage der Nation und strategisch eingesetzte gemeinsame Tagungen etwa des Deutschen Bundestages mit der Assemblée Nationale könnten hier wichtige Anstöße vermitteln. Zum Zweiten: die Exekutive. Warum haben wir uns in Deutschland so schwergetan, den von Helmut Schmidt vorgezeichneten Weg des strategischen Gesamtansatzes zu gehen? Auch dies hängt wieder mit der strategischen Kultur in Deutschland zusammen, mit den Rekrutierungsmechanismen politischen Führungspersonals, mit den selbst auferlegten Hürden vor einschneidenden Reformen und dem

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strukturellen Zugriff in Deutschland auf Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Wer die Galerie der Kanzler, Verteidigungsminister und Außenminister der Bundesrepublik seit der Zeit von Helmut Schmidt betrachtet, der kann die Zahl derjenigen, die sich bereits vor ihrer Amtsübernahme im Schwerpunkt ihrer Karriere mit Außen- und Sicherheitspolitik befasst hatten, an den Fingern einer Hand abzählen. In Frankreich und Großbritannien würde die Antwort anders ausfallen. In der deutschen Generalität ist bisweilen ein eigentümlicher Zwiespalt zwischen erhabenem professionellen Selbstverständnis und Inferioritätsreflexen gegenüber Politik und Diplomatie anzutreffen. Beide Phänomene dürfen wohl auf eine generelle Unterbewertung des soldatischen Dienens in der deutschen Gesellschaft im Vergleich mit anderen westeuropäischen und transatlantischen Verbündeten zurückzuführen sein. Sie sind noch immer Nachwirkung des tiefen Einschnitts, den der Missbrauch des Soldatischen in der Zeit des Nationalsozialismus zu verantworten hat. Im Positiven hat dieser Bruch zu einer konsequenten Absage an militaristische Tendenzen geführt, doch zu den Konsequenzen zählt auch, dass weithin bis heute ein Soupçon gegenüber allem Militärischen in der deutschen Gesellschaft fortbesteht. Die Geringschätzung des Militärischen kann sich auf vielfältige Weise äußern: die schmucklose Uniform, die wenig ausgeprägte Sichtbarkeit des Soldatischen im öffentlichen Raum, der Umgang mit Veteranen bis hin zur gesellschaftlichen Rolle von Militärgeschichte und Militärmusik. Weder Schulen noch Hochschulen sind in ihren Curricula und Forschungsschwerpunkten darauf eingestellt, bei den nachwachsenden Generationen ein Gesamtverständnis von Diplomatie und Militärstrategie zu fördern. Der Bundessicherheitsrat nimmt in der Sicherheitspolitik jenseits der Fragen der Rüstungsexportpolitik keine koordinierende, gar strategisch steuernde Funktion wahr. Ein strategischer Gesamtansatz würde ein gemeinsames Lagezentrum, gemeinsame Planungs- und Analyseinstrumente, ressortübergreifende Projektteams und einen durchgängigen Austausch auf allen Ebenen erfordern und sich auf vielfältige Weise in der strategischen Aufstellung wirksam machen. Dies liegt in der Konsequenz eines vernetztes Ansatzes, der integrierten Strukturen innerhalb der Nordatlantischen Allianz, der zunehmenden Bedeutung eines mit den Vereinigten Staaten abgestimmten Vorgehens sowie einer gemeinsamen Sicherheitspolitik innerhalb der Europäischen Union der zunehmenden Verflechtung auf Grund der freiwilligen Abgabe von Souveränität an supranationale Einheiten und als Konsequenz der Globalisierung. Die Genügsamkeit, dass in Deutschland oftmals gar kein Anreiz, keine Einsicht in die Notwendigkeit eines strategischen Vorgehens, kein Bedürfnis nach Verbesserung des Status quo vorhanden ist, darf als Haupthürde in der Gegenwart betrachtet werden. Dieses Phänomen steht in zunehmendem Maß im Widerspruch zur Globa-

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lisierung, zu den technologischen Quantensprüngen, die davon ausgelöst werden, und zum Umstand, dass wir in unseren modernen, hoch technologisierten Gesellschaften mit zunehmenden strategischen Unsicherheiten zu kämpfen haben. Das Erfordernis eines konsistenteren strategischen Gesamtansatzes wird in Deutschland in den kommenden Jahren wachsen und in dem Maße zum Problem für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, in dem es nicht gelingt, strukturelle und mentale Anpassungen an die sich verändernde Wirklichkeit zu vollziehen. Der intensivierte Dialog mit der Öffentlichkeit über strategische Fragen ist deshalb eine conditio sine qua non auf dem Weg zu einem vertieften strategischen Grundverständnis. Schulen, Hochschulen, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, Medien und die Ausbildungseinrichtungen der Bundeswehr sowie des Bundesnachrichtendienstes und der Ressorts sind dabei zu gleichen Teilen gefordert. Ortega y Gassets gerne bemühte Einsicht, der Weg sei das Ziel, erhält auf diese Weise einen tieferen Sinn. Entscheidend ist: Änderungen in Deutschland auf dem Gebiet der Strategie und Öffentlichkeit werden nur erfolgen, wenn die Strukturen für Außen- und Sicherheitspolitik geändert werden und auf diese Weise eine wirkliche Bewusstseinsveränderung erfolgt. Dies bezieht sich auf die strukturellen Organisationsfragen innerhalb der Bundesregierung, auf das Verhältnis zwischen Streitkräften und Politik und auf den Bereich Parlament und Außenpolitik. Es bezieht sich insbesondere auch auf die Rolle, die eine langfristige strategische Ausrichtung der Politik an den gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen hat und setzt die Fähigkeit voraus, eigene Interessen zu definieren und durchzusetzen, die Bereiche miteinander zu verknüpfen und die budgetären Voraussetzungen zu schaffen, damit die künftig noch besser miteinander verbundenen Instrumente mit den Mitteln ausgestattet werden können, die sie zur Erfüllung ihrer veränderten Aufträge brauchen. Die beste politische Konzeption ist folgenlos, wenn der richtigen strategischen Analyse keine entsprechende Umsetzung folgt. Helmut Schmidt ist bereits vor langer Zeit zu der Erkenntnis gelangt, dass Außenpolitik, Wirtschaftspolitik und, im klassischen Sinne, Militärstrategie in ein und demselben Rahmen operieren müssen. Es ist zu wünschen, dass sich diese Einsicht in Deutschland einmal vollumfänglich durchsetzen wird und alle drei Bereiche von einem einheitlichen Konzept geleitet werden.

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Literatur Bindenagel, J.D. und Ackermann, Philipp. 2018. Deutschland strategiefähiger machen. Ein Sachverständigenrat für strategische Vorausschau ist nötig. SIRIUS-Zeitschrift für Strategische Studien, Bd. 2, H. 3: 253–260. Bundesministerium der Verteidigung. 2012. Grundsätze für die Spitzengliederung, Unterstellungverhältnisse und Führungsorganisation im Bundesministerium der Verteidigung und der Bundeswehr. BMVg https://www.bmvg.de/resource/blob/11918/ a0704bf10c05a278e69de63bd00c49d3/a-04-05-download-dresdner-erlass-data.pdf. Zugegriffen: 06. September 2018. Bundesministerium der Verteidigung. 2011. Verteidigungspolitische Richtlinien 2011. Nationale Interessen wahren – Internationale Verantwortung übernehmen – Sicherheit gemeinsam gestalten. Bundesregierung https://m.bundesregierung.de/Content/Infomaterial/BMVg/Verteidigungspolitische_Richtlinien.pdf;jsessionid=B6D29BAF552B1E1DBB6A8D5AECB33585.s3t1?__blob=publicationFile&v=3 Bundesministerium der Verteidigung. 2016. Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin: BMVg. Bundesministerium der Verteidigung. 2016. Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin: BMVg. Bundesministerium der Verteidigung. 1970. Zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage der Bundeswehr. Köln: BMVg. Bundesverfassungsgericht. 1994. Out-of-area-Einsätze. Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994. Servat http://www.servat.unibe.ch/dfr/ bv090286.html. Deutscher Bundestag. 2015. Unterrichtung durch die Kommission zur Überprüfung und Sicherung der Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Abschlussbericht der Kommission vom 16. Juni 2015. Drucksache 18/5000. Gauck, Joachim. 2014. Ansprache von Bundespräsident Joachim Gauck zur Eröffnung der 50. Münchner Sicherheitskonferenz am 31. Januar 2014. Bundespräsident.de http://www. bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2014/01/140131-Muenchner-Sicherheitskonferenz.html . Zugegriffen: 06. September 2018. Herzog, Roman. 1995. Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Bonn am 13. März 1995. Bundespräsident.de http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/ Reden/1995/03/19950313_Rede.html. Zugegriffen: 06. September 2018. Kissinger, Henry. 1957. Strategy and Organization. Foreign Affairs, 35: 379–394. Schmidt, Helmut. 1969. Strategie des Gleichgewichts: Deutsche Friedenspolitik und die Weltmächte, 5. Auflage. Stuttgart: Seewald Verlag. Schmidt, Helmut. 1968. Verteidigung oder Vergeltung. Ein deutscher Beitrag zum strategischen Problem der Nato, 5. Auflage. Stuttgart: Seewald Verlag. Siebert, Sven. 2002. Knappe Antwort in 179 Worten. Sächsische Zeitung https://www. sz-online.de/nachrichten/knappe-antwort-in-178-worten-266016.html. Zugegriffen: 06. September 2018. Struck, Peter. 2002. Stenographischer Bericht des Deutschen Bundestages in der Regierungserklärung am 11. März 2004 in Berlin. Bundestag http://dip21.bundestag.de/doc/ btp/15/15097.pdf.

Eine deutsche Strategie für EUropäische Einbindung Imperative und Fallstricke strategischer Schicksalsbewältigung Gunther Hellmann

Zusammenfassung

Deutschland verdankt seine Sicherheit und seinen Wohlstand der Einbindung in ein Netz multilateraler Zusammenarbeit im Kontext der NATO und EU. Dieser Multilateralismus wird derzeit allerdings in einer Art und Weise in Frage gestellt wie nie zuvor. Da angesichts der wachsenden materiellen Macht Deutschlands und der Neuausrichtung US-amerikanischer Außenpolitik unter Präsident Trump Führungsanforderungen an die Bundesrepublik herangetragen werden, die mittlerweile auch militärische Führungsleistungen einschließen, wachsen auch die Gefahren, die sich daraus für Deutschlands nachbarschaftsverträgliche europäische Einbettung ergeben. Der Beitrag diskutiert diverse Fallstricke und strategische Imperative, insbesondere die Notwendigkeit, durch Selbstbindung aktiv multilaterale Zusammenarbeit innerhalb der EU zu befördern. Schlüsselbegriffe

Deutsche Außenpolitik, Sicherheitspolitik, Europa, Europäische Union, Multilateralismus, Einbindung, Weißbuch 2016, Strategie, Rahmennationenkonzept

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Jacobi und G. Hellmann (Hrsg.), Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung, Edition ZfAS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23975-6_21

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Gunther Hellmann Europa ist unsere Zukunft. Europa ist unser Schicksal. Europa bleibt eine Frage von Krieg und Frieden mit allem, was dazugehört: neben dem Frieden auch die Freiheit, der Wohlstand und die Demokratie. Helmut Kohl1

Helmut Kohls europapolitische Grundüberzeugungen werden heute gewiss nicht mehr von so vielen Zeitgenossen geteilt wie noch vor 30 Jahren, aber dass „Europa“ wieder zu einer „Frage von Krieg und Frieden“ geworden ist, „mit allem, was dazugehört“, kann man im Jahr 2018 noch weniger negieren als vor vier Jahren als Kohl seine europapolitischen Grundüberzeugungen zum wiederholten Male zu Protokoll gab. In Kohls Interview blieb allerdings unterbestimmt, ob sich sein „Europa“ auf den geographischen Kontinent oder die politische Einheit „Europäische Union“ bezog. Beides dürfte zumindest in den ersten beiden Sätzen gemeint gewesen sein. Der dritte Satz bezog „Europa“ im engeren Sinne aber vermutlich primär auf die EU – und schloss damit u. a. Russland, die Ukraine und die Türkei aus. Es gibt Kontexte, in denen der häufig zu beobachtende pars pro toto-Gebrauch von „Europa“ oder „europäisch“ – also die Ineinssetzung der EU mit dem Kontinent – vermieden werden sollte. Dies gilt insbesondere für die Gegenstände, die in diesem Beitrag zu verhandeln sind. Aus diesem Grund wird im Folgenden dann die etwas irritierende Schreibweise „EUropäisch“ verwendet, wenn klargemacht werden soll, dass Bezugspunkt nicht der Kontinent, sondern die EU ist. Diese Art der Präzisierung ist gerade im Kontext eines Beitrags über „Strategie“ nicht ganz marginal, weil EU-Europa in einer Weise „Akteur“ sein kann (und, wie ich im Folgenden argumentieren werde, auch werden sollte) wie der Kontinent „Europa“ es wohl nie sein wird. Die „Strategie“ die man aus einer Kohl’schen Grundüberzeugung abzuleiten hätte, ist nicht neu: es muss Deutschland auch in Zukunft darum gehen, multilaterale Zusammenarbeit und die Einbindung Deutschlands in multilaterale Strukturen zu stärken. Warum dies wichtig, aber auch voraussetzungsreicher ist als üblicherweise angenommen, wird im ersten Kapitel zusammenfassend erläutert. Dabei wird insbesondere die Bedeutung des Multilateralismus als einer distinkten „institutionellen Form“ (Ruggie 1992) rekonstruiert und in seinen Implikationen für eine deutsche Einbindungsstrategie diskutiert. Kapitel 2 verdeutlicht dann allerdings, dass sich die Voraussetzungen zur Realisierung wechselseitiger und erwartungsverlässlicher multilateraler Einbindung in den vergangenen vier Jahren grundlegend verändert – 1 „Europa bleibt eine Frage von Krieg und Frieden“. Interview mit Helmut Kohl (Bild 2014). Für Kommentare und konstruktive Hinweise danke ich Jan Fuhrmann, Sebastian Nieke und Christian Tuschhoff. Für Forschungsassistenz danke ich Florian Hubert.

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und zumeist verschlechtert haben. Daraus folgt, dass Deutschland heute strategische Herausforderungen völlig neuer Qualität zu bewältigen hat und die Realisierung multilateraler Einbindung gerade an Deutschland auch andere Anforderungen stellt. Am Beispiel des sogenannten „Rahmennationenkonzepts“, dem in der im Weißbuch 2016 dargelegten sicherheitspolitischen Strategie eine große Bedeutung zukommt, werden diese Herausforderungen im 3. Kapitel illustriert. Der Beitrag schließt mit einer Zuspitzung dessen, was im Titel als „strategische Schicksalsbewältigung“ charakterisiert wird: dass eine Strategie der Einbindungsführung, die Führung und Selbstbindung systematisch verschränken muss, hohe Hürden zu überwinden hat, um die keine deutsche Regierung zu beneiden ist.

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Imperative: Europäischer Multilateralismus und deutsche Einbindung

Wenn es richtig ist, dass Europa auch in der Gegenwart „eine Frage von Krieg und Frieden“ bleibt, ergeben sich daraus zunächst prinzipiell dieselben strategischen Imperative für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik wie in den vergangenen Jahrzehnten. Deutschland muss es im Sinne eines umfassenden Planes (bzw. einer „grand strategy“2) zur Gewährleistung von Sicherheit und Wohlstand darum gehen, jene (wie es im Weißbuch heißt) „einzigartige Friedensordnung“, die in den vergangenen Jahrzehnten in Europa „auf der Vision einer unteilbaren Sicherheit für Europa“ aufgebaut wurde, zu erhalten und zu festigen. Garant dieser Friedensordnung war und ist „ein enges Geflecht aus multilateralen regionalen und gesamteuropäischen Organisationen und Institutionen, die sich durch partnerschaftliche Beziehungen untereinander und gegenüber Dritten auszeichnen, auf einer gemeinsamen Wertebasis aufbauen und von Regelwerken zu deren Umsetzung unterlegt sind“ (Bundesregierung 2016, S. 31). Sich zunächst des übergreifenden Zieles (als eines essentiellen Bestandteils jeglicher „Strategie“) zu vergewissern, ist keineswegs banal. Eine „Friedensordnung“ oder – wie der frühere Bundespräsident Gauck bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 formuliert hat – eine „offene Weltordnung“ zu „erhalten und zukunftsfähig zu machen,“ (Gauck 2014) die Sicherheit und Wohlstand für alle gewährleistet, verweist schon aufgrund der Verknüpfung der Begriffe „Frieden“ bzw. „Welt“ einerseits und „Ordnung“ andererseits darauf , dass etwas bewirkt werden soll, was in seinen Effekten weit über den Machbarkeitshorizont eines einzelnen Staates hinausreicht 2 Vgl. hierzu den Beitrag von Tobias Bunde in diesem Band.

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– und schon alleine deshalb nicht ganz so leicht mit dem Begriff des „nationalen Interesses“ verknüpft wird. (Wenn man sich auf die Suche nach Sätzen wie „Eine offene Weltordnung ist ein überragendes nationales Interesse Deutschlands“ macht, wird man kaum fündig werden). Weil die Denk- und Handlungswelten der internationalen (und der Außen-) Politik allerdings zu keinem Zeitpunkt auf sogenannte „realistische“ Prämissen reduziert werden konnten, ist eine Unterscheidung hilfreich die der US-amerikanische Politikwissenschaftler Arnold Wolfers Anfang der 1960er Jahre vorgeschlagen hat. Strategische Interessen oder Ziele, so Wolfers, kann und sollte man sinnvollerweise im Blick auf die Gestaltung eines Milieus im Kontrast zum Erwerb eines Besitzes unterscheiden (Wolfers 1962, S. 73). Wenn Staaten „Milieuziele“ verfolgen – Deutschland also etwa eine „offene Weltordnung zukunftssicher“ machen will – dann zielen sie darauf, die Rahmenbedingungen eines Handlungsumfeldes so zu gestalten, dass sie dieser Zielsetzung förderlich sind. Insofern dies tatsächlich gelingt, kommen die Vorteile einer solchen Politik allerdings aufgrund der Unteilbarkeit der produzierten Gemeingüter allen in diesem Umfeld Handelnden zugute, auch wenn die Kosten ungleich verteilt sind. Von der Stabilisierung einer offenen Weltordnung als einem „nationalen“ Interesse zu sprechen ist deshalb zumindest in dem Sinne schief als die Semantik der „nationalen Interessen“ in aller Regel ein eigeninteressiertes Handeln suggeriert. Die Rede von „nationalen Interessen“ ist im Kontrast dazu kennzeichnend für die Verfolgung von „Besitzzielen“. Nicht die Bereitstellung gewisser Gemeingüter steht im Mittelpunkt, sondern die Sicherung privater Güter, die zumeist kompetitiv verfolgt werden und nicht selten im Modus eines Nullsummenspiels nur auf Kosten anderer realisiert werden können. Prototypisch stehen für eine solche Besitzziel-Orientierung heute die Doktrin „America First“ von Präsident Trump, aber auch die strategische Orientierung Russlands unter Präsident Putin. Die Hegemonialambitionen der Deutschen vor 1945 (und die Wandlung der USA unter Präsident Trump) erinnern zudem daran, dass es keineswegs selbstverständlich ist, von der Stabilität außenpolitischer Grundorientierungen auszugehen. Die Schaffung einer „offenen“ und stabilen „Friedensordnung“ ist ganz offenkundig auf das engste mit einem Modus der Gestaltung zwischenstaatlicher bzw. transnationaler Beziehungen verknüpft, die üblicherweise unter dem Begriff des „Multilateralismus“ gefasst wird. Von Multilateralismus zu sprechen ist allerdings voraussetzungsreicher als es mancher Gebrauch des Begriffes vermuten lässt. Es geht nämlich nicht nur darum, die Zusammenarbeit zwischen mehr als zwei Staaten zu organisieren.3 Vielmehr sollte Multilateralismus als eine distinkte und „generische“ 3 Robert Keohane etwa definierte „Multilateralismus“ als eine „practice of coordinating national policies in groups of three or more states“ (vgl. Keohane 1990, S. 731).

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Form zwischenstaatlicher Zusammenarbeit auf der Grundlage verallgemeinerter Handlungsregeln begriffen werden (Ruggie 1992, S. 571–572). Zu diesen Regeln gehören insbesondere das Prinzip der Unteilbarkeit bestimmter Gemeingüter („Frieden“), das Prinzip der Nicht-Diskriminierung (wie etwa in Handelsabkommen) oder der Handlungsgrundsatz diffuser Reziprozität. Letzterer ist besonders hervorzuheben, weil er auf eine Bereitschaft der Beteiligten verweist, stabile und auf längerfristige Kooperation angelegte Beziehungen einzugehen, die nicht von unmittelbaren Kosten-Nutzenkalkülen in singulär konzipierten Interaktionen im Hier und Jetzt angetrieben werden, sondern auf längerfristige Austauschbeziehungen angelegt sind, in denen komplexere Nutzenkalküle über eine Vielzahl von Kooperationskontexte hinweg angestellt und miteinander „verrechnet“ werden. Der gerade in Reden deutscher Politiker wieder öfter vernehmbare Bezug auf die Bedeutung einer „regelbasierte“ Ordnung verweist auf die Verwandtschaft mit dem Prinzip „multilateraler“ Zusammenarbeit, verdeckt allerdings, dass „Regeln“ auch bilaterale Zusammenarbeit anleiten. Das Prinzip des Bilateralismus unterscheidet sich jedoch mit seiner Fixierung auf kurzfristig angelegten, quidpro-quo („deal-making“) Austausch fundamental von multilateraler Zusammenarbeit.4 Donald Trumps Ablehnung multilateraler Zusammenarbeit und seine oft wiederholte Präferenz bilateraler „deals“ unterstreicht nicht nur die Differenz (Aleen 2018), sondern illustriert auch, warum mächtige Staaten bzw. Hegemone zur Bilateralisierung neigen, während schwache Staaten multilaterale Kooperationsarrangements vorziehen. Für die strategische Ausrichtung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik ist diese weiter ausholende Erinnerung an das Prinzip und die Praxis genuiner multilateraler Zusammenarbeit deshalb wichtig, weil, wie im nachfolgenden Abschnitt zu zeigen sein wird, Multilateralismus als grundlegendes Prinzip der Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union gerade aus deutscher Sicht wichtiger denn je, zugleich aber auch deutlich schwieriger geworden ist. Zum einen ist die EU die weitreichendste Realisierung multilateraler zwischen- und „überstaatlicher“ Zusammenarbeit, die das Staatensystem historisch je gesehen hat. Zum anderen ist der Multilateralismus aber auch noch immer eine historisch vergleichsweise neue und fragile, in jedem Fall aber „extrem anspruchsvolle institutionelle Form“ zwischenstaatlicher Zusammenarbeit (Ruggie 1992, S. 593), weil vor allem mächtige Staaten aufgrund ihrer Machstellung immer besonderen Versuchungen ausgesetzt sind, sich souveränitätsbeschränkenden Bindungen zu entziehen, diese Möglichkeit schwächeren Verbundmitgliedern jedoch vorzuenthalten. In einem weiteren 4

Vgl. zur systematischen Unterscheidung zwischen Multilateralismus und Bilateralismus als „generischen“ Formen zwischenstaatlicher Zusammenarbeit, Ruggie 1992, S.565-573.

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internationalen System, das eine Renaissance souveränistischer Politik verdauen muss, werden diese Versuchungen zudem gewiss nicht geringer. Dass Deutschland auf multilaterale Zusammenarbeit in der EU mehr denn je angewiesen ist, ist angesichts einer zunehmenden Anzahl wichtiger strategischer Partner, die eine klare Präferenz für eine Bilateralisierung artikulieren, umso herausfordernder. Die Vorteile des EUropäischen Multilateralismus liegen allerdings vor dem Hintergrund der durch und durch positiven Erfahrungen der Deutschen mit seinen stabilisierenden, vertrauensschaffenden und letztlich friedenstiftenden Wirkungen auf der Hand: das EUropäische Projekt hat durch eine nie dagewesene überstaatliche Verflechtung und Institutionalisierung langfristig angelegter kooperativer Beziehungen ein Maß an Erwartungsverlässlichkeit, Frieden und Wohlstand geschaffen wie nie zuvor in der Geschichte des Kontinents. Aus einem spezifisch deutschen Blickwinkel hat es seit den 1950er Jahren zudem grundlegend dazu beigetragen, die bereits vor der deutschen Vereinigung sukzessive wachsende deutsche Macht nachbarschaftsverträglich einzubinden – d. h. Mitspracherechte für Deutschland und gleichzeitig Kontrollmöglichkeiten für seine EU-Partner zu sichern. Insofern unter einer außen- und sicherheitspolitischen „Strategie“ ein längerfristiger Plan verstanden wird, mit welchen Mitteln übergreifende Ziele (oder vitale Interessen) realisiert werden sollen, so folgt aus der bisherigen Diskussion nicht nur, dass Deutschland ein vitales Interesse am „Schutz der Bürgerinnen und Bürger“ sowie der eigenen „territorialen Integrität“ und der seiner Verbündeten hat, sondern auch an der Festigung multilateraler Zusammenarbeit in EUropa. Nun könnte man behaupten, dass das Weißbuch 2016 diese Zielformulierung in der Tat reflektiert – wenn auch nur an sechster Stelle der Auflistung der sieben wichtigsten „sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands“ (vgl. Abb. 1; die Formulierung „Vertiefung der europäischen Integration“ wird hier im Wesentlichen synonym zur Formulierung „Stärkung des Multilateralismus“ verstanden). Dem wäre im Lichte der vorangehenden Diskussion allerdings entgegenzuhalten, dass multilaterale Zusammenarbeit und wechselseitige Einbindung aufgrund ihrer fundamentalen Bedeutung und distinkten Form als eigentliche Möglichkeitsbedingung zumindest der Interessen drei bis fünf vorrangig platziert werden müsste. Denn die „Aufrechterhaltung einer regelbasierten internationalen Ordnung“, „ungehinderter Welthandel“ oder der „verantwortungsvolle Umgangs mit begrenzten Ressourcen und knappen Gütern“ sind nämlich in einer Welt, die sich dem Bilateralismus (bzw. dem „Minilateralismus“5) verschreibt, nicht zu verwirklichen.

5 Vgl. hierzu Naim 2009 sowie kritisch Hellmann 2013.

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Das Weißbuch 2016 nennt sieben „sicherheitspolitische Interessen Deutschlands“: • Schutz der Bürgerinnen und Bürger sowie der Souveränität und territorialen Integrität unseres Landes; • Schutz der territorialen Integrität, der Souveränität sowie der Bürgerinnen und Bürger unserer Verbündeten; • Aufrechterhaltung der regelbasierten internationalen Ordnung auf der Grundlage des Völkerrechts; • Wohlstand unserer Bürgerinnen und Bürger durch Prosperität unserer Wirtschaft und freien sowie ungehinderten Welthandel; • Förderung des verantwortungsvollen Umgangs mit begrenzten Ressourcen und knappen Gütern in der Welt; • Vertiefung der europäischen Integration und • Festigung der transatlantischen Partnerschaft.* * Bundesregierung 2016, S. 24–25. Im Rahmen des Workshops „Strategiebildung“ vom 26. bis 27. April 2018 an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, der dieser Publikation vorausging, haben wichtige Beteiligte am Prozess der Erstellung des Weißbuchs darauf hingewiesen, dass der Formulierung dieser Interessen in dieser Reihenfolge beträchtliche Bedeutung zugewiesen wurde und entsprechend zeitintensiv war (vgl. hierzu auch den Beitrag von Thomas Bagger in diesem Band). Abb. 1 Sicherheitspolitische Interessen Deutschlands im Weißbuch 2016

Es ist nicht bekannt, ob es in den einschlägigen interministeriellen Beratungen bei der Erstellung des Weißbuches strittige Diskussionen über die Bedeutung des Multilateralismus und deutscher Einbindung gab. Es soll auch nicht insinuiert werden, dass die „eigentliche“ Bedeutung multilateraler Zusammenarbeit in außenund sicherheitspolitischen Zirkeln unzureichend verstanden oder gewürdigt wird. Weißbuch-Formulierungen, die darauf verweisen, dass Deutschland „in hohem Maße auf das abgestimmte Zusammenwirken mit unseren Partnern angewiesen“ ist und „in Sicherheitsfragen bewusst gegenseitige Abhängigkeiten in Kauf“ nimmt, verweisen jedenfalls darauf, dass wesentliche Implikationen einer multilateralen Einbindung Deutschlands gewürdigt werden (Bundesregierung 2016, S. 23). Es gibt allerdings auch gewisse Anhaltspunkte dafür, dass die für eine stabile multilaterale Zusammenarbeit wichtige wechselseitige Einbindung gerade zwischen mächtigen und weniger mächtigen Partnern möglicherweise nicht hinreichend gewürdigt wird und mit der Bereitschaftserklärung „sich früh, entschieden und substanziell als Impulsgeber in die internationale Debatte einzubringen, Verantwortung zu leben und Führung zu übernehmen“ ein Anspruch formuliert wird, der sich als Bumerang erweisen könnte, wenn die Bedingungen der Möglichkeit

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deutscher Führung – ein funktionierendes multilaterales Fundament zumindest im EU-Rahmen – nicht mehr gegeben sind. Im Folgenden werde ich dies beispielhaft am sicherheitspolitischen Führungsanspruch Deutschlands illustrieren, als sogenannte „Rahmennation“ jene Abhängigkeiten zu vermeiden, die es bei anderen EU- und NATO-Partnern voraussetzt. Man kann es auch anders formulieren: „Strategisch“ zu handeln wird üblicherweise in dem Sinne verstanden, dass eine spezifische Vorgehensweise (oder bestimmte Mittel) gewählt werden, die den eigenen Vorteil maximieren. Eine Bilateralisierung würde dem entsprechen. Wenn allerdings „Vorteile“ primär in der Form einer erfolgreichen Gestaltung eines Milieus multilateraler Zusammenarbeit zum Ausdruck kommen, ist eine „nationale Interessen“-Semantik nicht nur schief, sondern kontraproduktiv – nicht weil es keine „deutschen Interessen“ gäbe oder solche nicht verfolgt werden sollten (was unsinnige Behauptungen wären), sondern weil die Besitzziel-Ideologie, die realistischem „nationale Interessen“-Denken üblicherweise unterliegt, deutschen Interessen, wie sie hier verstanden werden, diametral entgegensteht. Diese Akzentuierung ist nicht inkompatibel mit einem „strategischen Narrativ“ zweier wichtiger „Weißbuch“-Autoren, aus dem nach ihrer Ansicht „alles Weitere folgt“ – nämlich ein „Selbstverständnis als verantwortlicher Staat, der präventiv mit allen zur Verfügung stehenden Instrumenten international gestalten will, um seine Interessen zu schützen und dabei um das Maß seiner Möglichkeiten ebenso weiß wie um seine Verwundbarkeiten“ (Breuer und Schwarz 2016, S. 86). Sie stellt aber andere Aspekte „richtig“ verstandenen strategischen Handelns in den Vordergrund, die mir unterbelichtet zu sein scheinen. Als Zwischenbilanz kann also zunächst festgehalten werden, dass die strategische Ausrichtung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik – jene „großen Linien (…) und Ideen“ also, „wie die eigenen Interessen verwirklicht werden können“ (Breuer und Schwarz 2016, S. 87) – vordringlich auf die Stärkung (an manchen Stellen muss man wohl bereits schreiben: Rettung) des Multilateralismus als einer gerade für die Deutschen essentiell wichtigen institutionellen Form zwischen- und überstaatlicher Zusammenarbeit zielen und die verfügbaren Mittel entsprechend einsetzen sollte.

2

Fallstricke: Die neuen Unwägbarkeiten traditioneller Sicherheitspfeiler

Der vorangehende Abschnitt argumentierte stark auf der Ebene eines normativen „Sollens“ vor dem Hintergrund der metaphorischen Zuspitzung Helmut Kohls, dass „Europa“ einerseits „unsere Zukunft“ sei, andererseits aber auch nach wie vor

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„eine Frage von Krieg und Frieden“ bleibe. Wie die Beiträge von Frank Richter, Olaf Theiler und Norbert Reez in diesem Band unterstreichen, ist strategisches Handeln aber immer zukunftsgerichtetes Handeln und etliches „Wissen“ um diese Zukunft ist notgedrungen zwischen „Planung“ und „Ahnung“ zu lokalisieren6 – jener Dimension zukünftiger deutscher Außenpolitik also, die in Helmut Kohls Metaphorik als „Europa ist unser Schicksal“ aufscheint. Keine einigermaßen seriöse Empfehlung einer Strategie multilateraler EUropäischer Einbindung kann einer argumentativen Auseinandersetzung darüber ausweichen, die die Hürden und Fallstricke einer solchen Strategie expliziert. „Schicksal“, so klärt das Grimm’sche Wörterbuch über die Bedeutungsgeschichte des Wortes auf, ist „das was dem Menschen durch Fügung bestimmt ist“ (Grimm 2018). Dass „Europa“ den Deutschen „durch Fügung“ geradezu deterministisch „bestimmt“ ist, ist vermutlich ein Teil dessen, was Helmut Kohl in seinem Interview aus dem Jahr 2014 zum Ausdruck bringen wollte: Ihre „geopolitische Lage“ können sich Staaten nicht aussuchen – „seinem Schicksal“, so könnte man mit den Gebrüdern Grimm an eine andere typische Redewendung erinnern, kann „niemand entrinnen.“ Dass die EU wie auch der europäische Kontinent als Ganzes deutsches „Schicksal“ sind, ist in den letzten Jahren noch deutlicher geworden als es im Lichte der beiden Weltkriege und dem Projekt der europäischen Integration seit den 1950er Jahre schon vorher der Fall war. Dies gilt vor allem deswegen, weil Europa als „Zukunft“ heute weit weniger mit jenen Verheißungen assoziiert wird, die für Helmut Kohl in seiner Jugend oder seiner Kanzlerschaft noch handlungsleitend waren. Stattdessen ist Europa als „eine Frage von Krieg und Frieden“ in einer Weise wieder aktuell wie es sich die wenigsten Europäer noch vor zehn Jahren vorstellen konnten. Europa mag also der Deutschen unentrinnbares Schicksal sein – Schicksale kann man aber auch „in die eigene Hand nehmen“. Darauf hat Angela Merkel in ihrem mittlerweile berühmt gewordenen Zitat nach den „westlichen“ Gipfeltreffen im Mai 2017 hingewiesen, als sie im Lichte des ersten Auftritts Donald Trumps in Europa anmerkte, dass „die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten (…) ein Stück vorbei“ seien und daher „wir Europäer (…) unser Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen“ müssen (Merkel 2017). Im Folgenden werde ich etwas eingehender ausführen, warum „Europa“ noch mehr als bereits in der Vergangenheit zu einer Schicksalsfrage der Deutschen geworden ist. Mit etwas anderen Akzenten unterstreicht auch James Bindenagel in diesem Band diese Bedeutung. Aus meiner Sicht sind insbesondere drei Aspekte hervorzuheben. Erstens stellt Europa heute – als politische Einheit EU und als Kontinent – mannigfaltige und konkurrierende, in jedem Fall aber schicksalshafte 6 Vgl. zu diesem Wortspiel und entsprechenden Abgrenzungsbemühungen Willer 2013.

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neue Herausforderungen für die Deutschen, weil wichtige grenzüberschreitende Entwicklungstrends der letzten Jahre (wie etwa die Renaissance des Nationalismus und Autoritarismus bzw. Populismus) die grundlegenden Erfolgsbedingungen jenes befriedeten und wohlhabenden EUropa unterminiert haben,7 die seit den 1950er Jahren die nachbarschaftsverträgliche Einbindung eines sukzessive resozialisierten und wirtschaftlich wie politisch wiedererstarkenden Deutschland garantierten. Wie sich die Nachbarn und Partner der Deutschen innenpolitisch entwickeln, d. h. ob sie für oder gegen einen „Brexit“ votieren bzw. von EUropa-freundlichen oder EUropa-kritischen Parteien regiert werden sollen oder ob sie „farbene Revolutionen“ (wie in der Ukraine) riskieren oder unterlassen, sind im Sinne Arnold Wolfers zweifelsohne Dinge, die das sicherheitspolitische Milieu prägen, in dem alle Europäer interagieren. Diese Entwicklungen kann Deutschland, wenn überhaupt, aber nur begrenzt steuern. Das wäre der Aspekt schicksalhafter „Fügung“ – das Ausgeliefertsein in einer spezifischen Konstellation, der man nicht entrinnen kann. Hinzu kommt als zweites aber auch das Novum, dass den Deutschen zumindest gegenwärtig (noch) eine Führungsrolle angetragen und zunehmend von diesen auch akzeptiert wird wie dies für keine Phase des modernen deutschen Nationalstaates jemals gegolten hatte. Das wäre in Angela Merkels Schicksalsverständnis zumindest in Teilen das, was man auch „in die eigene Hand nehmen“ könnte. Ob sich allerdings alle, die die Bundeskanzlerin im „wir“ der „Europäer“ einschloss, diesem Aufruf auch anschließen wollen und was konkret daraus folgt, ist offen. Gewiss, deutsche Macht- und Führungsansprüche gab es in europäischen Angelegenheiten wiederholt in den letzten 150 Jahren. Insofern ist diese Entwicklung nicht neu. Aber frühere Gestaltungsansprüche folgten einer klassischen Besitzziel-Ideologie, die entsprechend von den anderen Mächten bestenfalls registriert bzw. balancierend eingehegt wurden. Zweimal wurden sie sogar gewaltsam zurückgewiesen. Neu ist heute (wenn der Eindruck nicht trügt), dass die meisten europäischen Nachbarn und Partner den gewachsenen deutschen „Gestaltungsanspruch“, von dem auch das Weißbuch 2016 selbstbewusst spricht, alles in allem noch immer willkommen heißen – oder zumindest (noch) nicht versuchen, ihn balancierend einzuhegen. Man könnte dies die zumindest stillschweigende Zustimmung zum „Sikorski-Appell“ 7 Im Weißbuch wird eine inhaltlich weitgehend deckungsgleiche Lagebeschreibung wie folgt formuliert (BMVg 2016, S. 33): „Die EU wird bedeutende Anstrengungen unternehmen müssen, um ökonomisch und technologisch führend zu bleiben und Gesellschaften weltweit als Vorbild und Orientierung zu dienen. Nur wenn es gelingt, interne Bruchlinien zu überwinden, zentrifugalen Kräften erfolgreich entgegenzuwirken, den Modernisierungs- und Innovationspfad beharrlich weiter zu beschreiten und damit die innere Kohäsion und Einigkeit der EU zu stärken, wird sie auch in Zukunft stabilisierende Wirkung auf unsere Nachbarschaft entfalten.“

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nennen – also der Aussage des früheren polnischen Außenministers Radek Sikorski, dass er „deutsche Passivität“ mehr fürchte als „deutsche Macht“, weil Deutschland „Europas unersetzliche (Führungs-) Nation“ geworden sei.8 Insofern die Diagnose zutrifft, dass dieser neue sicherheitspolitische Gestaltungsanspruch hinreichend nachbarschaftsverträglich ist, könnte man einen naheliegenden Grund darin vermuten, dass Deutschlands ordnungspolitische Vorstellungen mit den vitalen Interessen seiner EU-Partner deshalb hinreichend kompatibel sind, weil es Milieuziele zu verwirklichen sucht, die auch in ihrem Interesse sein sollten. In der bereits zitierten Gauck-Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 spiegelte sich dies in einem umfassenderen Sinne in der Formulierung, dass „Deutschlands wichtigstes außenpolitisches Interesse im 21. Jahrhundert“ darin bestehe, eine „offene Weltordnung (…) zu erhalten und zukunftsfähig zu machen.“ (Gauck 2014). Gauck leitete daraus die Forderung ab, dass Deutschland sich „in den Krisen ferner Weltregionen“ und „bei der Prävention von Konflikten (…) als guter Partner früher, entschiedener und substantieller einbringen“ sollte. Die konfliktive Zuspitzung in der Ukraine zwischen Anfang 2014 und Mitte 2016 dürfte angesichts einer gewissen Ernüchterung über die Möglichkeiten und Grenzen deutscher Außenpolitik wohl auch dazu beigetragen haben, dass der dreifache Komparativ („früher, entschiedener und substantieller“) im Weißbuch 2016 durch die Grund- oder Normalform ersetzt wurde, Deutschland sich also nur noch „früh, entschieden und substantiell als Impulsgeber“ einbringen wollte.9 Allerdings wird nunmehr explizit und prominent die Bereitschaft artikuliert, auch sicherheitspolitisch „Führung zu übernehmen“ und im Blick auf Deutschlands Rolle in der NATO und EU auch konkretisiert, insbesondere unter dem Stichwort des „Rahmennantionenkonzepts“ (Bundesregierung 2016, S. 23, 67–77). Diese den Deutschen angetragene und zunehmend auch von ihnen angenommene Rolle einer ordnungspolitischen europäischen Führungsmacht ist allerdings deshalb auch heikel, weil sich für jeden „Sikorski-Sympathisanten“ mindestens ein „Salvini-Sympathisant“ finden lässt – also Anhänger von Vorhaltungen gegenüber „den Deutschen“, dass sie ihre EU-Partner wie „Sklaven“ behandeln und bereits in den letzten zehn Jahren EUropa mit dem Euro und ihrer Austeritätsfixierung in einer Art und Weise dominierten wie sie es früher mit militärischer Gewalt

8 „I will probably be first Polish foreign minister in history to say so, but here it is: I fear German power less than I am beginning to fear German inactivity. You have become Europe’s indispensable nation. You may not fail to lead. Not dominate, but to lead in reform.“ (Sikorski 2011, Hervorh. im Original). 9 Vgl. hierzu ferner Hellmann, Jacobi, Stark Urrestarazu 2015.

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versucht hatten, aber nie verwirklichen konnten.10 In der Sicherheitspolitik sind diese Stimmen zwar noch nicht stark zu vernehmen,11 aber der Hinweis der Bundeskanzlerin in ihrer Rede bei der Bundeswehrtagung 2018, dass man im Kontext der NATO-Debatte über die „Annäherung“ der deutschen Verteidigungsausgaben „an zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes“ bis 2024 auch „ein bisschen aufpassen“ müsse, dass solche Steigerungen des deutschen Verteidigungshaushaltes „nicht womöglich als eine Militarisierung Deutschlands interpretiert“ werden (Merkel 2018), ist keineswegs von der Hand zu weisen. Drittens und vielleicht am wichtigsten ist die fundamental neue Positionierung bzw. Wahrnehmung der USA als bislang „unverzichtbarem“ Verbündeten. Als solcher werden die USA zumindest noch im Weißbuch 2016 (das ca. 4 Monate vor der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten veröffentlicht wurde) zweimal charakterisiert bzw. prominent hervorgehoben (Bundesregierung 2016, S. 49, 64). Diese sicherheitspolitische „Unverzichtbarkeit“ des Verbündeten USA kann nämlich nicht mehr in dem Sinne zur selbstverständlichen Grundlage deutscher Sicherheitsvorsorge gemacht werden wie vor den letzten Präsidentenwahlen in den USA erhofft und in den vorangegangenen Jahrzehnten verlässlich praktiziert. Gewiss, dass Deutschland zur Gewährleistung seiner Sicherheit weiterhin auf die NATO (und damit vor allem: die USA) angewiesen ist, liegt für die meisten auf der Hand. In diesem Sinne ist das Sicherheitsbündnis mit den USA auch weiterhin „unverzichtbar“. „Unverzichtbarkeit“ verweist aber lediglich auf empfehlenswerte Haltungen und Handlungen Deutschlands im Lichte eines Vertrauens bzw. einer Hoffnung — also, dass Deutschland nicht aktiv auf die USA verzichten sollte. „Unverzichtbarkeit“ sagt aber nichts darüber aus, ob das Unverzichtbare im Fall der Fälle auch tatsächlich verfügbar ist. Gerade weil berechtigte Zweifel bestehen, ob dem so ist und solche Zweifel durch den US-Präsidenten und „Commander-in-Chief“ regelmäßig neu genährt 10 Vgl. Lega-Chef Salvini gibt Deutschland die Schuld am Regierungschaos (Huffington Post 2018). Ähnliche Auffassungen vertreten sowohl der „linke“ frühere französische Präsidentschaftskandidat Mélenchon wie auch die „rechte“ Präsidentschaftskandidatin Le Pen (vgl. u. a. Randow 2017). Dass vergleichbare Positionen auch von angesehenen Akademikern vertreten werden, zeigt Anthony Giddens, der 2014 in einem Buch geschrieben hatte, dass „Deutschland mit friedlichen Mitteln etwas erreicht zu haben scheint, was es mit militärischen Mitteln nicht erreichen konnte – die Hegemonie über Europa“ (Giddens 2014, S. 9). 11 Vgl. im Gegenteil etwa jüngst die Einschätzung des britischen Verteidigungsexperten Julian Lindley-French, dass „viele Freunde Deutschlands keine wesentlichen Probleme“ mit der Vorstellung hätten, dass der deutsche Verteidigungshaushalt bei Erfüllung des Zwei-Prozent Ziels der NATO über den Ausgaben von Großbritannien und Frankreich läge (Lindley-French 2018).

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werden, darf sich verantwortliche Sicherheitsvorsorge nicht mehr wie in vorangehenden Jahrzehnten auf den automatischen Bündnisbeistand der USA verlassen. Wie Jan Fuhrmann in seinem Beitrag zu diesem Band überzeugend nachzeichnet, verwendet das Weißbuch den Begriff der „Sicherheitsvorsorge“ zurecht geradezu als Synonym für „Strategie“, weil so den beiden „zentralen Funktionen von Strategien“ angemessen Rechnung getragen werden kann: der Anforderung in klaren Formulierungen „Komplexität zu reduzieren, um begründete Entscheidungen zu ermöglichen“ gleichzeitig aber auch der unausweichlichen Tatsache gerecht zu werden, dass „Unsicherheit, gepaart mit mangelnder Vorhersehbarkeit“ einen wachsenden „Bedarf für Flexibilität“ erfordert (Breuer und Schwarz 2016, S. 86). Wie wichtig beides, Orientierungsklarheit und Flexibilität ist, verdeutlicht Präsident Trump seit Beginn seiner Amtszeit, denn gerade die von ihm fast schon als Markenzeichen zelebrierte „Unberechenbarkeit“12 erfordert unübersehbar strategische Anpassungen deutscher Sicherheitspolitik. Der von seiner eigenen Partei kontrollierte Senat selbst unterstreicht diese Notwendigkeit, wenn erfahrene republikanische Sicherheitspolitiker wie der jüngst verstorbene John McCain Gesetzgebungen auf den Weg bringen, die den eigenen Präsidenten daran hindern sollen, einen Austritt aus der NATO zu erklären.13 Die handfesten Rückversicherungsbemühungen seitens EUropa-freundlicher Sicherheitspolitiker innerhalb der Trump-Administration können vor diesem Hintergrund angesichts der Machtfülle des US-Präsidenten und der wiederholt unter Beweis gestellten Entschlossenheit Trumps, diese auch zu nutzen, nur begrenzt beruhigen.14 12 Vgl. hierzu bereits seine erste prominente (und weitegehend abgelesene) sicherheitspolitische Rede im Präsidentschaftswahlkampf 2016, die unter anderem die Aussage enthielt: „We must as a nation be more unpredictable.“ (New York Times 2016). 13 Demirja 2018; Vgl. ferner die Enthüllungen in einem neuen Buch des Washington Post Starreporters Bob Woodward, der u. a. die bereits bekannt gewordene Titulierung Trumps durch seinen eigenen Stabschef, General Kelly, als „Idiot“ breiter belegt („He’s an idiot. It’s pointless to try to convince him of anything. He’s gone off the rails. We’re in Crazytown. I don’t even know why any of us are here.“). Unbekannt war bislang ein geradezu verzweifelter Ausbruch von Verteidigungsminister Mattis nach einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates über Nordkorea Anfang 2018, demzufolge Trump das Verhalten und die Auffassungsgabe eines „Fünft- oder Sechstklässler“ habe („Mattis was particularly exasperated and alarmed, telling close associates that the president acted like — and had the understanding of — ‚a fifth- or sixth-grader‘.“) (Rucker und Costa 2018). 14 Offenbar gelingt es traditionell transatlantisch gestimmten Entscheidungsträgern innerhalb der Trump Administration auf den üblichen bürokratischen Entscheidungswegen nach wie vor, militärische Fakten zu schaffen, die so gar nicht zur Rhetorik ihres Präsidenten zu passen scheinen. Dies kann aber angesichts der erwiesenen EUropa- und

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Die unverfügbare Unverzichtbarkeit der USA als Herausforderung deutscher Strategiebildung spiegelt sich zudem darin, dass auch die jüngst von Außenminister Maas reklamierte „Unverzichtbarkeit“ einer Stärkung „europäischer Autonomie“ gegenüber den USA15 genauso wenig in der Macht der Deutschen liegt wie die Erfüllung der amerikanischen Sicherheitsgarantien. Man könnte hier etliche Argumente und Belege aufführen. Ein Beispiel soll genügen. Polen, das für jede auf EUropa setzende deutsche Sicherheitsstrategie in einem starken Sinne unverzichtbar ist, setzt unter der derzeitigen Regierung nur sehr eingeschränkt und widerwillig auf eine stärkere sicherheitspolitische Rolle der EU – und schon gar nicht auf jene Maas vorschwebende „balancierte Partnerschaft“ mit den USA, in der die Europäer „ein Gegengewicht bilden, wo die USA rote Linien überschreiten“. In diesem Sinne finden sich heute in Polen weit mehr Salvini- als Sikorski-Sympathisanten. Mehr noch, Polen schickt sich sogar an, sich der Trump-Administration aus einem anders verstandenen Kalkül nationaler Sicherheit heraus als eine Art „balancierender“ Kraft gegenüber Deutschland anzubieten, die zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Beitrags in Washington noch „geprüft“ wird.16 Fasst man diese Gemengelage zusammen, so stellt sich die gegenwärtige strategische Herausforderung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik als ausgesprochen komplex und in Teilen auch widersprüchlich bzw. dilemmatisch dar. Die zwei überragenden traditionellen Fixpunkte der europäischen Sicherheitsordnung, die USA und Russland, sind in ihren traditionellen bzw. erhofften Rollen für Deutschland auf absehbare Zeit nicht mehr verfügbar: die USA nicht mehr als hinreichend verlässliche und in vielerlei Hinsicht unverzichtbare außereuropäische Führungs- und Garantiemacht der NATO – und schon gar nicht als jener „Partner in der Führung“, für die nach der deutschen Vereinigung George H.W. Bush noch warb (Bush 1989). Russland ist nicht mehr verfügbar als jener erhoffte „Modernisierungspartner“ Deutschlands (Steinmeier 2008) bzw. der Europäischen Nachbarschaftspolitik oder als der Sicherheitspartner eines NATO-Russland-Rates, mit dem sich eine stabile, Deutschland-kritischen Haltungen und Entscheidungen ihres unberechenbaren Präsidenten nur begrenzt rückversichernd wirken (vgl. Carstens 2018). 15 Die „unverzichtbare europäische Autonomie“ wollte der deutsche Außenminister dadurch schaffen, dass „wir von den USA unabhängige Zahlungskanäle einrichten, einen Europäischen Währungsfonds schaffen und ein unabhängiges Swift-System aufbauen“ (Maas 2018). Die deutsche Bundeskanzlerin fand diese Forderung nach europäischer Autonomie allerdings nicht nur für verzichtbar, sondern sogar für kontraproduktiv, weil die Europäer „gerade in der Frage der Terrorfinanzierung eine enge Zusammenarbeit mit den USA brauchen“ (zit. nach Leithäuser 2018). 16 Vgl. Hudson et al 2018; vgl. ferner Żemła und Turecki 2018, dort auch der Link zum offiziellen polnischen Dokument (Ministry of National Defence 2018).

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demokratischen Werten verpflichtete europäische Sicherheitsordnung kooperativ entwickeln ließe. Und selbst innerhalb der EU ist es alles andere als ausgemacht, ob sich hinreichend viele – und vor allem: die strategisch entscheidenden – Partner finden, die gemeinsam jene glaubwürdige „autonome“ oder „souveräne“ EUropäische Sicherheitspolitik garantieren können, von der die „Global Strategy“ der EU bzw. der französische Präsident sprechen (EU 2016; Macron 2017). Dies stellt sich vor allem angesichts des Ausscheidens Großbritanniens aus der EU als zusätzliches Problem. In einer mittelfristigen Perspektive, ist zudem nicht auszuschließen (bzw. in einem „bad-case“-Szenario vielleicht sogar explizit einzukalkulieren), dass die den derzeitigen französischen Präsidenten tragende EUropa- und Deutschland-freundliche Koalition bei weiterhin ausbleibenden Reformerfolgen bei den nächsten Wahlen durch andere, eher wieder EUropa- und Deutschland-kritische Kräfte ersetzt wird, die im Sinne einer Konzentration auf traditionelle „nationale Sicherheit“ eine stärker „national-souveräne“ statt eine „europäische Souveränität“ anstrebende Strategie verfolgen – ganz zu schweigen von der Möglichkeit einer französischen Variante von Donald Trump’s „America First“-Doktrin wie sie beispielsweise von der Enkelin Jean-Marie Le Pens, Marion Maréchal-Le Pen unter den Schlachtrufen „la France d’abord“ und „vive le nationalisme“ propagiert wird (LeMonde 2018). Kurzum, gerade im Blick auf die traditionellen Fixpunkte deutscher Außen- und Sicherheitspolitik kann man schwerlich dem Resümee ausweichen, dass Deutschlands Sicherheit schwindet (Hellmann 2018).

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Gestaltungsspielräume deutscher Multilateralität: Die Tücken des Rahmennationenkonzepts

Wenn man die Chancen und Risiken multilateraler Sicherheitsvorsorge, die Deutschland maßgeblich selbst beeinflussen kann, an einem konkreten Beispiel illustrieren will, bietet sich das sogenannte „Rahmennationenkonzept“ an (Bundesregierung 2016, S.68; Glatz und Zapfe 2017). Von Deutschland ursprünglich primär unter einem NATO-Blickwinkel entwickelt, unterstreicht die neue „Konzeption der Bundeswehr“ eine Weiterung des Konzepts hin zu verstärkter EUropäischer Verteidigungskooperation in Abgrenzung zur nunmehr auf die NATO beschränkten englischsprachigen Verwendung des Begriffs „Framework Nations Concept“ (Bundeswehr 2018, S. 8). Aus teilweise nachvollziehbaren, unter dem Blickwinkel multilateraler Einbindung potenziell aber auch kontraproduktiven Erwägungen wurde die deutsche Führungsrolle im Rahmennationenkonzept von Anbeginn tendenziell in einer Weise formuliert, die den „extrem anspruchsvollen“ Anforde-

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rungen multilateraler Zusammenarbeit (Ruggie 1992, S. 593) insofern nur bedingt entsprechen, als Deutschland zwar einerseits „in Sicherheitsfragen bewusst gegenseitige Abhängigkeiten in Kauf“ nimmt, andererseits aber „im Interesse (seiner) Souveränität“ darauf insistiert, dass solche „Interdependenzen grundsätzlich auf Gegenseitigkeit angelegt“ sein müssten und für Deutschland selbst zudem der Anspruch vertreten wird, „Sicherheitspartner in der gesamten Bandbreite der sicherheitspolitischen Handlungsinstrumente“ zu sein (Bundesregierung 2016, S. 23). In der jüngst verabschiedeten „Konzeption der Bundeswehr“ ist sogar davon die Rede, dass die militärischen Fähigkeiten der Bundeswehr nicht nur „unter Berücksichtigung bereits bestehender Fähigkeiten“ sowie „der Anforderungen als verlässlicher Bündnispartner und Rahmennation“, sondern auch hinsichtlich einer „autarken nationalen Aufgabenerfüllung“ weiterzuentwickeln sind17 – eine Formulierung die weder im Weißbuch 2006, noch in der Konzeption der Bundeswehr aus dem Jahr 2013 auftauchte. Insofern fügt sich das Rahmennationenkonzept nicht ganz so leicht in eine übergreifende Strategie multilateraler Milieupflege wie man auf den ersten Blick vielleicht denken mag. Verstärkt werden solche Spannungen zudem durch die Hervorhebung einer wahrgenommenen wachsenden Notwendigkeit, „Ad-hoc-Kooperationen im Rahmen anlassbezogener Gruppierungen“ einzugehen oder solche gar zu „initiieren“ (Bundesregierung 2016, S. 81, ferner S. 108–109 sowie Bundeswehr 2018, 25). Einem „realistisch“ geschulten Strategieplaner in Warschau wäre es vor diesem Hintergrund nicht zu verübeln, wenn er einer mittel- bis langfristigen Projektion polnischer Sicherheitspolitik im Verbund mit dem Nachbar Deutschland weniger heutige Intentionen als mögliche zukünftige Fähigkeiten unterlegte, d. h. nicht nur auf der Basis eines Szenarios verlässlicher multilateraler Einbindung Deutschlands plante.18 Dies wäre vor allem deshalb nicht ganz unplausibel, weil sich bei erfolgreicher Umsetzung gegenwärtiger EUropäischer und deutscher Planungen mittel- bis langfristig Entwicklungslinien abzeichnen, die Deutschland als Rahmennation in militärischen Führungsrollen vorfänden, die „über das gesamte Fähigkeitsspekt-

17 Vgl. Bundeswehr 2018, S. 36–37 sowie BMVg 2016, S. 102; vgl. ferner die Aussage, dass die Bundeswehr ihre Aufgaben „eingebettet in einen gesamtstaatlichen, vernetzten und größtenteils multinationalen Ansatz“ erfüllt. Hier bleibt unklar, auf welche nicht-multinationalen Eventualitäten die Bundeswehr vorbereitet sein sollte. Ähnliches gilt für die einschränkende Formulierung des „Grundsatzes“, dass „die Fähigkeiten der deutschen Streitkräfte überwiegend für NATO und EU-Operationen bereitzustellen und zu nutzen“ sind (Bundeswehr 2018, S. 32, 47, jeweils eigene Hervorhebung). 18 Vgl. hierzu auch als Hintergrund die „Kurzinformation“ des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages (Bundestag 2018).

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rum“ verfügt, während seine Partner zunehmend als „Nationen mit spezialisierten Fähigkeiten“ unter deutscher Führung eingebunden wären (Bundeswehr 2018, S. 7). Gewiss, das hier nur angedeutete Szenario einer deutschen Abkehr vom Multilateralismus stellt eine gedankliche Zuspitzung dar, die angesichts des gegenwärtigen maroden Zustands der Bundeswehr weit hergeholt erscheinen mag. Sehr viel müsste sich ändern, um die Bundeswehr mit Fähigkeiten auszustatten, die eine Bedrohung für seine Nachbarn darstellen. Aber in der Kombination mit der (von den meisten Verbündeten gewollten und im Falle des US-Präsidenten sogar ultimativ eingeforderten) deutlichen Aufstockung des deutschen Verteidigungshaushaltes werden am strategischen Horizont der kommenden Jahrzehnte – die jede verantwortliche Strategieplanung zumindest im Auge behalten sollte – zumindest Fähigkeitsprofile denkbar, die eine genuine multilaterale Verflechtung EUropäischer Streitkräfte potenziell in eine asymmetrische Abhängigkeitskonstellation unter deutscher Führung19 transformieren könnte – eine Perspektive, die für sich genommen bereits Bremsklötze produzieren und die eigentlich gewünschte Intensivierung verteidigungspolitischer Multilateralisierung unterminieren könnte. Der Konjunktiv ist hier zu unterstreichen, denn politisch gibt es derzeit keinerlei Anzeichen, dass Deutschland eine asymmetrische Abhängigkeit seiner Partner bewusst herbeiführen wollte. Es wäre auch völlig kontraproduktiv, wenn es solchen Versuchungen erliegen würde, weil dies nahezu unweigerlich Gegenreaktionen, inkl. klassischer Gegenmachtbildungstendenzen provozieren würde. Allerdings ist gerade in konzeptioneller Hinsicht daran zu erinnern, dass multilaterale Zusammenarbeit nicht zuletzt deshalb eine besonders anspruchsvolle Form der Kooperation ist, weil mächtige Staaten weit mehr unilaterale oder bilaterale Optionen haben als dies bei kleineren Staaten der Fall ist und die Stabilität dieser Zusammenarbeit wesentlich darauf angewiesen ist, dass potenzielle Vormächte ihre starke Verpflichtung auf ihre eigene Einbindung glaubwürdig vermitteln (Ruggie 1992, S. 593). Dies ist im vorliegenden Kontext relevant, weil durch die multilaterale Verflechtung der Streitkräfte in einem Rahmennationenkonzept nicht nur wechselseitig faktische Abhängigkeiten erzeugt werden, sondern insbesondere für kleinere Staaten, die Fähigkeiten aufgeben, einseitige Bindungen entstehen, die durch das Rahmennationenkonzept „potentiell verstetigt werden“ (Glatz und Zapfe 2017, S. 6). Wenn in strategischen Dokumenten deutscher Sicherheitspolitik dann erstmalig auch 19 Konzeptionell war eine solche asymmetrische Abhängigkeit noch stärker in einer Vorläuferidee zum „Rahmennationenkonzept“ angelegt. Unter dem Stichwort „Anlehnungspartnerschaft“ propagierten die Bundestagsabgeordneten Schockenhoff und Kiesewetter bereits 2012 die Idee, dass sich Deutschland „als Anlehnungspartner für Staaten mit einer vergleichbaren sicherheitspolitischen Kultur abgewogenen militärischen Eingreifens anbieten“ sollte (vgl. Schockenhoff und Kiesewetter 2012, S. 94).

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noch von Fähigkeiten im nicht weiter präzisierten Sinne „autarker nationaler Aufgabenerfüllung“ die Rede ist, deuten sich vermeidbare Bruchstellen am Horizont multilateraler Verteidigungskooperation an. Ein naheliegender Ausweg aus dem strategischen Dilemma, auch in multilateralen Kooperationskontexten Führungsrollen definieren zu müssen (die tendenziell bei den größeren Staaten liegen werden), gleichzeitig aber umso mehr auf eine hinreichend ausgewogene Balance gegenseitiger Abhängigkeit zu achten, dürfte darin liegen, dass man möglichst explizit Felder identifiziert, die in einem umfassend kalkulierten diffusen Reziprozitätsarrangement den kleinere Partnern in einem Rahmennationenarrangement eine Art von rückversichernder „Ausgleichzahlung“ für ihre Bereitschaft zu einseitigen Bindungen durch Spezialisierung offeriert. Ob dies möglicherweise in der einen oder anderen Form bereits heute in den diversen multilateralen Verteidigungsprojekten angelegt ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Wenn dem so wäre, spräche alles dafür, solche Arrangements explizit zu machen und als Gradmesser wechselseitiger multilateraler Verpflichtung systematisch zu pflegen. Wenn dem nicht so wäre, wäre anzuraten, solche Überlegungen gemeinsam mit den Partnern in der EU, vermutlich vorrangig im Rahmen der PESCO, systematisch anzustellen.

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Einbindungsführung als Kern der strategischen Herausforderung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik

Sicherheitspolitik ist geradezu idealtypisch die traditionelle Sphäre zwischenstaatlicher Konkurrenz, die einer Nullsummenspiellogik folgt. Vertrauen, wechselseitige Erwartungsverlässlichkeit und die Bereitschaft, souveränitätsbeschränkende Kooperationsarrangements einzugehen sind entsprechend selten. Entgegen der Skepsis „realistischer“ Erwartungen, die sich in solchen theoretischen Prämissen spiegelt, ist es in der historisch neuen Konfiguration „transatlantischer“ Sicherheitskooperation nach 1945 sukzessive gelungen, eine anspruchsvolle Form genuin multilateraler Zusammenarbeit zu entwickeln. Alle beteiligten Staaten, vor allem aber die Westeuropäer und noch mehr die Deutschen, haben von dieser sowohl ökonomische und wie auch militärische Aspekte umfassenden Kooperation enorm profitiert. Weder die NATO noch die EU wären in ihren jeweiligen institutionellen Formen denkbar gewesen, hätten sich die beteiligten Staaten nicht auf jene souveränitätsbegrenzenden Kooperationsprinzipien eingelassen, die ein anspruchsvoller Multilateralismus verlangt.

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Aus einer Vielzahl von Gründen steht dieser Multilateralismus derzeit nicht mehr hoch im Kurs – und entsprechend gereicht dies tendenziell Deutschland am stärksten zum Nachteil. Ein nicht ganz marginaler Kollateralschaden Trump’scher „America First“-Politik liegt – jenseits der unmittelbaren Schwächung der NATO – insbesondere darin, dass die mittlerweile für selbstverständlich genommenen sogenannten „pacifier“-Effekte US-amerikanischer Präsenz in Europa (vgl. Mearsheimer 2010) in der EU einerseits zwar einen Integrationsimpuls im Feld der Verteidigungskooperation ausgelöst haben, diese Entwicklung aber anderseits auch unübersehbar begleitet ist von der Zunahme nationaler Rückfalloptionen, die eine realistischen Instinkten folgende Sicherheitspolitik geradezu reflexhaft wählt. Für Deutschland ist diese Situation besonders prekär, weil Sicherheit und Wohlstand mehr als bei jedem anderen EUropäischen Staat durch erfolgreiche multilaterale Institutionalisierung gewährleistet wurde. Wenn nun nicht nur Deutschlands ökonomische Macht, sondern zunehmend auch seine militärische Macht wächst und deutsche Führungsrollen in allen Feldern eingefordert und angenommen werden, wächst damit auch der Bedarf an Rückversicherungsmechanismen, die ein aus dem Gleichgewicht geratenes Gefüge multilateraler Zusammenarbeit im „westlichen“ Kontext stabilisiert. Damit ist die zentrale strategische Herausforderung deutscher Sicherheitspolitik umschrieben: Gegen alle Trends und Versuchungen der Renationalisierung und Bilateralisierung muss die zunehmend stärkste EUropäische Macht das Kunststück vollbringen, die Bereitschaft zur Übernahme weiterer Führungsaufgaben mit einer verstärkten (Selbst-) Einbindung zu koppeln. Führung und Selbstbindung gleichzeitig zu praktizieren ist offensichtlich spannungsgeladen. Gänzlich unerfahren sind die Deutschen in solchen Gratwanderungen vor dem Hintergrund der letzten 70 Jahre allerdings nicht. Erschwert wird die heutige Gratwanderung jedoch dadurch, dass verlässliche Sicherungen gegen Abstürze (wie die Einbeziehung der USA als ausgleichende Macht) nicht mehr verfügbar sind und die politische Klasse sich zudem gegenüber erstarkenden Kräften im EUropäischen und im innenpolitischen Umfeld zugleich behaupten muss, denen die Grautöne ausgleichender Kompromisse, die mit einer Strategie der Führung und Selbstbindung notgedrungen einhergehen muss, zutiefst zuwider sind und die darüber hinaus auch noch instinktiv zu gegensätzlichen Polen neigen: die EUropäischen Deutschlandkritiker des Salvini-Typus zu einer Eindämmung Deutschlands, die effektive Führung unmöglich macht; die innenpolitischen Kritiker (vermeintlicher) übertriebener Rücksichtnahme auf EUropäische Empfindlichkeiten zu einer Befreiung von EUropäischen Fesseln (im Sinne einer Ent-Bindung). Es ist also nicht schwer zu sehen, dass eine Strategie der Einbindungsführung geradezu dilemmatische Züge trägt. Bereits Mitte der 2020er Jahre werden wir etwas klarer sehen, ob das Geschick deutscher Führung ausreicht, dem EUropäischen Schicksal der Deutschen und der Europäer die richtige Richtung zu weisen.

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