Allgemeine Erziehungswissenschaft. Systematische und historische Abhandlungen

Das Buch editiert die wesentlichen Originaltexte Wolfgang Klafkis im Kontext der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik und der von ihm entwickelten kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft. In zwei Werkgruppen haben die Herausgeberin und die Herausgeber zum einen systematische Arbeiten, zum anderen historisch orientierte Texte Klafkis zusammengestellt, in denen jeweils Grundfragen pädagogischen Handelns und Denkens erörtert werden.Dabei geht es im ersten Teil um Begründungen pädagogischer Zielsetzungen sowie Studien zur kritisch-konstruktiven Didaktik und Hermeneutik, während im zweiten Teil Klafkis Auseinandersetzung mit zentralen Aspekten der Pädagogik Herbarts, der Nelson-Schule, Schleiermachers und Theodor Litts dokumentiert wird.


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Wolfgang Klafki

Allgemeine Erziehungswissenschaft. Systematische und historische Abhandlungen herausgegeben und eingeleitet von Karl-Heinz Braun, Frauke Stübig und Heinz Stübig

Allgemeine ­Erziehungswissenschaft. ­Systematische und historische ­Abhandlungen

Wolfgang Klafki

Allgemeine Erziehungswissenschaft. Systematische und historische Abhandlungen herausgegeben und eingeleitet von Karl-Heinz Braun, Frauke Stübig und Heinz Stübig In Zusammenarbeit mit dem Archiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung

Wolfgang Klafki Marburg, Deutschland

ISBN 978-3-658-23164-4 ISBN 978-3-658-23165-1  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-23165-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Für Hildegard Klafki in langjähriger Verbundenheit, zugleich mit herzlichem Dank für ihre hilfreiche Unterstützung bei der Realisierung dieses Editionsprojekts

Inhalt

Einleitung Dialektische Strukturen und Perspektiven der Allgemeinen Pädagogischen Handlungstheorie von Wolfgang Klafki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Karl-Heinz Braun, Frauke Stübig und Heinz Stübig Erster Teil Systematische Beiträge zu einer Theorie des pädagogischen Handelns 1 Die Stufen des pädagogischen Denkens. Ein Beitrag zum methodologischen Problem der Pädagogik . . . . . . . . . . . . . 3 2 Dialektisches Denken in der Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3 Zur Frage nach der Pädagogischen Bedeutung des Sokratischen Gesprächs und neuerer Diskurstheorien. Bemerkungen zur Problemgeschichte und zur sokratischen Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 4 Kann Erziehungswissenschaft zur Begründung pädagogischer Zielsetzungen beitragen? Über die Notwendigkeit, bei pädagogischen Entscheidungsfragen hermeneutische, empirische und ideologiekritische Untersuchungen mit diskursethischen Erörterungen zu verbinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 5 Kritisch-konstruktive Didaktik und Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 VII

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Inhalt

6 Kategorien als Leitbegriffe für ein nachhaltig ausgerichtetes Bildungskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Zweiter Teil Aus der Geschichte des pädagogischen Handelns und Denkens 7 Pädagogisch-dialektische oder anthropologischexistenzphilosophische Grundlegung der Erziehungswissenschaft? Kritische Gedanken zu H. Döpp-Vorwalds Auseinandersetzung mit R. Guardinis „Grundlegung der Bildungslehre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 8 Der zwiefache Ansatz Herbarts zur Begründung der Pädagogik als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 9 Vernunft – Erziehung – Demokratie. Zur Bedeutung der Nelson-Schule in der deutschen Pädagogik . . . . . . . . . 155 10 Gleichheit, Ungleichheit und Erziehung – ein Zentralproblem der Erziehungstheorie Schleiermachers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 11 Bleibende Bedeutung und Grenzen der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik am Beispiel Theodor Litt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

Einleitung Dialektische Strukturen und Perspektiven der Allgemeinen Pädagogischen Handlungstheorie von Wolfgang Klafki Karl-Heinz Braun, Frauke Stübig und Heinz Stübig

Der Marburger Erziehungswissenschaftler und bildungspolitische Berater Wolfgang Klafki (01.09.1927-24.08.2016) ist vorrangig durch seine Abhandlungen, Aufsätze und bildungspolitischen Aktivitäten bekannt und berühmt geworden (so auch Meyer/ Meyer 2017, S. 184ff; vgl. zu seiner Autobiografie Klafki/Braun 2007). Das zeigte sich schon früh an den erstmals 1963 erschienenen, noch ganz von der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik (GP) bestimmten „Studien zur Bildungstheorie und Didaktik“ (1971 im 37.-40. Tsd.) und dem kritisch-konstruktiven Nachfolgeband, den „Neue(n) Studien zur Bildungstheorie und Didaktik“ (zuerst 1985, in 6. Auflage 2007). Zu erwähnen ist hier auch der leider nicht so breit rezipierte Sammelband seiner schultheoretischen Beiträge (Klafki 2002). Nur einem begrenzten Kreis von Spezialst*innen ist der Forschungsbericht zum Marburger Grundschulprojekt (Klafki et. al. 1982) bekannt, ebenso seine umfassende Studie über das Verhältnis der GP zum deutschen Faschismus (vgl. Klafki/Brockmann 2002) und die kritische, biografisch-systematische Vergegenwärtigung eines seiner akademischen Lehrer, nämlich Theodor Litt (1880-1962) (Klafki 1982) – die mangelnde Beachtung dieser umfangreichen Monografie hat ihn geschmerzt. In der bis in die Gegenwart reichenden Rezeption wird Klafki vorrangig, manchmal sogar ausschließlich als Schulpädagoge, ja noch einseitiger, als Unterrichtstheoretiker wahrgenommen. Dabei gerät weitgehend aus dem Blick, dass sich der Leiter des legendären, alle thematischen Felder erörternden Funk-Kollegs Erziehungswissenschaft (vgl. Klafki et al. 1970/71) während seiner über sechs Jahrzehnte dauernden Forschungs- und Publikationstätigkeit immer wieder – neben methodologischen Problemen der Disziplin und historisch-systematischen Vergewisserungen – auch mit Fragen einer Allgemeinen Pädagogischen Handlungstheorie beschäftigt hat. Dies war der Grund für uns, seine wichtigsten theoretisch-systematischen und erziehungsgeschichtlichen Beiträge in einem eigenständigen Band zusammenzustellen. IX

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In diesen einführenden Überlegungen sollen – an unsere frühere Skizze anschließend (vgl. Braun/Stübig/Stübig 2018) – in der gebotenen Kürze und ohne Anspruch auf Vollständigkeit bzw. ohne dass die Reihenfolge eine Rangordnung impliziert, drei zentrale Argumentationsstränge vorgestellt und danach gefragt werden, wie deren Intentionen in bestimmten Aspekten auch weitergeführt werden können und sollten, nämlich die Beziehungen zwischen Dialektik und Dialog (1.), die tiefgreifenden Spannungen zwischen wissenschaftlichen Begründungsfragen und (bildungs-) politischen Machtfragen (2.) sowie die Relationen zwischen kritischer Analyse und konstruktiver Veränderung (3.).

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Dialektik und Dialog

Dialektik wird hier im Doppelsinn verstanden als Realdialektik des unmittelbaren interaktiven erzieherischen Handelns in unterschiedlichen sozialen, institutionellen und gesamtgesellschaftlichen Kontexten und als Denkbewegung, somit als wissenschaftstheoretisches Konzept, wobei diese „Dialektik“ mit der praktischen Dialektik in einer mehr oder weniger engen Wechselbeziehung steht, ohne dass beide deckungsgleich sind oder werden können bzw. sollten. In den nachfolgend abgedruckten Texten zeigt sich das u. a. in dreifacher Weise:

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Die Relationalität der pädagogischen Autonomie

Durch alle praktischen und theoretischen Arbeiten Klafkis, auch seine politischen Stellungnahmen, zieht sich die Einsicht in die Eigenständigkeit der Erziehung, und zwar sowohl als Realprozess als auch als wissenschaftssystematisches Theorem. Hier nahm er die Einsicht der GP auf, der er dann später ein sozialwissenschaftliches Fundament verlieh. Dabei hatte er stets bedauert (vgl. z. B. S. 204), dass Leonhard Froeses (1924-1994) früher Vorschlag, statt von „relativer“ von „relationaler“1 Auto1 Das relationale Wissenschaftskonzept geht in der Neuzeit auf die frühe Arbeit von Ernst Cassirer (1874-1945) zurück, der in seiner an den Naturwissenschaften und der Mathematik ausgerichteten Untersuchung im Funktionsbegriff die Alternative zum Substanzbegriff sah (vgl. Cassirer 1910, Zweiter Teil). Für die Weiterentwicklung der kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft und ihre Handlungstheorie sind hier zwei umfangreichere relationale Wissenschaftskonzepte von besonderem Interesse: a) Zunächst einmal die systemtheoretische Fundierung der Allgemeinen Soziologie durch Niklas Luhmann (1927-1998), der Relationalität speziell verstand als Verhältnisbe-

Einleitung

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nomie zu sprechen, bisher nicht aufgenommen worden ist, weil dieser doch stärker zum Ausdruck bringe, dass es hier zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsfeldern und Institutionen wie auch innerhalb der pädagogischen Felder und Organisationen vielfältige und bis zu einem gewissen Grade auch notwendige Wechselbeziehungen gibt. Das meint zweierlei: 1. Zunächst einmal gilt es die Realdialektik dieser Autonomie zu erfassen, also der Tatsache gerecht zu werden, dass es sich bei Erziehung um eine besondere und eigenständige Praxisform handelt, nämlich eine sinnhafte und sinnvolle, Perspektiven eröffnende Förderungs- und Unterstützungstätigkeit, die intentional an dem übergreifenden gegenwartszentrierten und zukunftsorientierten Ziel der kognitiven und emotional-motivationalen Selbst- und Welteinsicht ausgerichtet ist. Davon sind auch in plural-flexibler Weise die jeweiligen Inhalte, Sozialformen, Methoden, Medien und Rückmeldeverfahren bestimmt. Diese spezifischen Interaktionsmuster befinden sich in einer relationalen Distanz zur gesamtgesellschaftlich eingebundenen Alltagspraxis der lernenden Kinder, Jugendlichen, Erwachsenen, älteren und alten Menschen, realisieren sich also in einer Lernschleife. 2. Diese praktische Dialektik muss aber auch theoretisch erfasst werden. Vor welchen Herausforderungen die Erziehungswissenschaft dabei seit ihren Anfängen



stimmung zwischen den Elementen und als Beziehungsmuster zwischen den sozialen Systemen und auf diese Weise Genese und Struktur von gesellschaftlicher und sozialer Komplexität rekonstruierte (vgl. dazu grundlegend Luhmann 1998, S. 136–144). Diesen Ansatz hat dann Luhmann (2002) selbst unmittelbar für die Erziehungswissenschaften fruchtbar gemacht. Darüber hinaus ist auf die mit Karl Eberhard Schorr herausgegebene, immer noch anregende Suhrkamp-Buchreihe mit den teilweise auch heute noch unbeantworteten „Fragen an die Pädagogik“ hinzuweisen, nämlich „Zwischen Technologie und Selbstreferenz“ (1982), „Zwischen Intransparenz und Verstehen (1986)“, „Zwischen Anfang und Ende“ (1990), „Zwischen Absicht und Person“ (1992) und „Zwischen System und Umwelt“ (1996), wo schon die Buchtitel auf dialektisch aufzuhebende Polaritäten des pädagogischen Handelns verweisen (vgl. dazu auch Abschnitt 1.b dieser Einleitung). – b) Der andere Ansatz ist die Kultursoziologie und speziell die Bildungssoziologie von Pierre Bourdieu (1930-2002), insbesondere seine Theorie der sozialen Felder (vgl. die knappe Darstellung von Bourdieu in: Bourdieu/Wacquant 1996, S. 126ff. und 258–268). Bei der Erweiterung und Vertiefung der kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft sollten diese Argumentationsstränge auf deren dezidiert erziehungswissenschaftliche Relevanz hin ausgeleuchtet werden. Dabei ist auch genauer zu klären, wie diese funktionale Sichtweise vermittelt werden kann mit der hermeneutischen, die für Klafkis Selbstverständnis immer zentral war (sie sind keinesfalls identisch!). Welche Theorieprobleme dabei auftauchen, machte die frühe Kontroverse zwischen Habermas (1986, bes. S. 377ff.) und Joas (1986) bereits exemplarisch deutlich.

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im späten 18. Jahrhundert steht, macht Klafki gerade an den Schwierigkeiten deutlich, die Johann Friedrich Herbart (1776-1841) diesbezüglich hatte (8. Studie): Dieser schwankte nämlich zwischen zwei Argumentationsweisen: Zum einen der funktionalistischen, an den Naturwissenschaften ausgerichteten, welche der (Praktischen) Philosophie, die Begründungsfragen, speziell hinsichtlich der Zielsetzungen zuordnete und der Psychologie die Frage der angemessenen Umsetzung, womit die Pädagogik den Status einer nur anwendenden Wissenschaft erhielt.2 Zum anderen und im Kontrast dazu vertrat er auch ein autonomes Konzept von Erziehung, welches die Individualität der Zu-Erziehenden (klassisch formuliert: der „Zöglinge“) ins Zentrum stellte. An letzterem hat die GP angeschlossen – wie Klafki gerade an Litt deutlich gemacht hat (11. Studie) – und daraus die Forderung begründet, dass die wissenschaftliche Pädagogik auf „einheimischen“ Begriffen aufbauen müsse, sie ihr Grundverständnis also nicht aus anderen Wissenschaften (der Philosophie, der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Psychologie, der Rechtswissenschaft, den Neurowissenschaften usw.) übernehmen, also aus ihnen ableiten könne. Das würde sowohl theoretisch als auch praktisch auf professionelle und disziplinäre Verantwortungsflucht hinauslaufen.

b

Von den Polaritäten (Dichotomien) zu den dynamischen und komplexen Relationen

Die Realdialektik des pädagogischen Handelns und deren theoriegeleitete Deutung wird von zahlreichen Widersprüchen bzw. Widerspruchsverhältnissen bestimmt, z. B. in der Bildungstheorie von Romano Guardini (1885-1968) – (7. Studie) – verallgemeinert zu den Relationen zwischen „Bild und Bildung“ „Begegnung und Bewährung“, „Gegenständlichkeit und Dienst“ sowie „Ich und Du“. Sie stellen sich zunächst einmal als (undialektische) Entgegensetzungen, als Polaritäten dar. Sie bilden – im Anschluss an die Arbeiten von Herman Nohl (1879-1960) – den Ausgangspunkt der programmatischen 2. Studie, wo u. a. auf folgende Dichotomien hingewiesen wird (in teilweise für uns „altertümlicher“ Sprache): Denen zwischen objektivem und subjektivem Sinn von Bildung, geistigen Fähigkeiten und objektiven 2 Dieses Pädagogikverständnis ist dann von einem der Klassiker der Soziologie, nämlich Emile Durkheim (1858-1917) aufgenommen worden, wobei er an die Stelle der (Praktischen) Philosophie die Soziologie als Grundlagenwissenschaft setzte, aber zugleich auch die Moralerziehung und die Förderung der Individualität bzw. der personalen Autonomie ins Zentrum stellte (vgl. Durkheim 1972. Kap. I-III. 1.-8. Vorlesung). Es wäre gewiss lohnend diese produktive Rezeption Herbarts aus kritisch-konstruktiver Perspektive in ihren erweiternden Möglichkeiten und Grenzen näher auszuloten.

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Gehalten, formaler und materialer Bildung, Risiko („Wagnis“) und Schutz („Behütung“), junger, erwachsender und älterer/alter Generation, Erleben und Reflexion („Besinnung“), Bindung und „Lösung“, Bildung und (religiöse) Weltanschauung, Mädchen- und Jungenerziehung, Individualität und Gemeinschaft, Autorität und Freiheit/Selbstbestimmung, Konflikt und Konsens, Monolog und Dialog, Autonomie und gesellschaftliche Strukturen („Mächte“), hermeneutische Strukturanalyse und Eigenverantwortung der pädagogischen Praxis, Beschreibung und Theorie sowie Induktion und Deduktion. Diese und weitere Polaritäten bilden den legitimen, in gewisser Weise sogar notwendigen Ausgangspunkt der dialektischen Real- und Denkbewegungen – was im Umkehrschluss auch heißt, dass man bei ihr nicht stehen bleiben darf. Eine solche stillgestellte Dialektik wäre eine Entwicklungsblockade, eine intersubjektive Selbstentfremdung, Selbstentmündigung der pädagogisch Handelnden und Denkenden, wie sie nicht nur im Alltags-, sondern auch im wissenschaftlichen Denken bis in die Gegenwart vielfältig anzutreffen ist. Die pädagogische Dynamik entfaltet sich in dem Maße, wie diese Polaritäten als Momente eines „einheitlichen“, aufeinander bezogenen mehr- bis vieldimensionalen Entwicklungsprozesses sich in ihrer ganzen Komplexität entfalten und als solche auch gedeutet werden, wenn also (wie es in der 11. Studie geschieht) z. B. die impliziten Autonomieansprüche des „Wachsenlassens“ mit den Unterstützungs- und Absicherungsnotwendigkeiten des „Leitens und Führens“ verknüpft werden, wenn also Autonomie als Ergebnis pädagogischen Handelns verstanden und praktiziert wird, bei dem der notwendige Vorgriff auf Mündigkeit schrittweise überführt wird in die reale Mündigkeit und so die konstitutive Asymmetrie der pädagogischen Beziehung und Begegnung schrittweise aufgehoben wird und sich damit „überflüssig“ macht. Wie das geschehen kann, ist Thema des letzten Teilaspekts.

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Der Dialog als besondere Form der pädagogischen Kommunikation

Klafki weist in der 4. Studie darauf hin (S. 81), dass Klaus Mollenhauer (1928-1998) der erste war, der das pädagogische Handeln als besondere Form des kommunikativen Handelns konzipiert hatte (vgl. Mollenhauer 1972, 1.Kap.) – und zwar (das sei hinzugefügt) lange bevor Jürgen Habermas sein Opus Magnum, die „Theorie des kommunikativen Handels“ vorgelegt hat (auf sie werden wir noch in Abschnitt 3 zurückkommen). Obwohl Klafki die nonverbalen Kommunikationsweisen in ihrer Bedeutung durchaus anerkannt hat, stand für ihn gleichwohl das sokratische Verfahren im Vordergrund, und zwar sowohl systematisch (3.Studie) als auch the-

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oriegeschichtlich (9. Studie). Auch hier können zwei Problemkreise unterschieden werden: 1. Zunächst einmal ist die sokratische Gesprächsführung eine dialektische Denkbewegung, denn in ihr werden u. a. durch Frage und Antwort, Rede und Gegenrede, Behauptung und ihre Infragestellung, Beweis und seine Widerlegung, Kontroversen z. B. darüber, was ein gerechtes Bildungssystem ist, was eine gute Schule ist, was guter Unterricht ist, was es bedeutet, ein gutes Leben in Selbstbestimmung und sozialer Verantwortung zu führen, rational zu entscheiden versucht. Die innere Beziehung der dialogischen Kommunikation zur dialektischen Denkbewegung und damit auch zu einer rationalen Pädagogik wird schon daran deutlich, dass die Antworten auf solche und ähnliche Fragen nicht offensichtlich sind, sondern dadurch gefunden werden, dass man durch These, Gegenthese und Synthese spiralförmig immer tiefer in eine Sache eindringen kann und muss. Auf seinem abstraktesten Verständigungsniveau wird der Dialog dann zum Diskurs. Das gelingt allerdings nur, wenn der Dialog unvoreingenommen und zwanglos ist, und es keine fraglosen Gewissheiten gibt. Im Fortgang dieser Einzel- bzw. Gruppengespräche oder auch Gesprächsfolgen werden die erörterten Themen immer komplexer und die zu ihrer Deutung notwendigen Begrifflichkeiten immer abstrakter. Es findet eine kognitive Bewegung vom unmittelbar Konkreten zum Abstrakten statt und von dort – „auf höherem Niveau“ – die Rückkehr zum nun mehr als relationaler Entwicklungszusammenhang verstandenen Allgemein-Konkreten. Aus dem alltagssprachlich eingebundenen Dialog werden vermittelt über die Bildungssprache zunehmend die Qualitäten eines Diskurses erreicht, der speziell als Wissenschaftssprache eine besondere Form der Fachsprache ist3 (das macht die 4. Studie explizit deutlich). – Auf die damit aufgeworfene Frage, ob eine Verwissenschaftlichung der (pädagogischen) Lebenswelten eine sinnvolle Bildungs- und Professionalisierungsperspektive ist, gehen wir im 3. Abschnitt kurz ein. 2. Unter dezidiert pädagogischem Aspekt verweist Klafki in der Auseinandersetzung mit Heckmann (3. Studie) und mit Nelson (9. Studie) auf das Problem, inwieweit in solchen autonomiefördernden Gesprächen die mit (themengebunden) überlegenen Kompetenzen ausgestatteten Pädagog*innen ihren jeweiligen (meist speziellen, also begrenzten) Wissensvorsprung einbringen dürfen oder 3 Vgl. zu diesen Relationen zwischen Alltags-, Bildungs- und Wissenschaftssprache Habermas 1981; hier werden auch wichtige Bezüge zu analytischen Philosophie (die häufig fälschlicherweise dem „Kritischen Rationalismus“ bzw. Neopositivismus zugeordnet wird) und deren Verständnis der Beziehungen zwischen Dialog und Dialektik deutlich, die ebenfalls für die kritisch-konstruktive Erziehungswissenschaft anregend und „lehrreich“ sind (vgl. programmatisch Davidson/Fulda 1993).

Einleitung

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vielleicht sogar müssen. Während beide Autoren dies ablehnen, wobei gerade Nelson zugleich extreme, eigentlich sogar autoritative Anforderungen an die Gesprächsfähigkeiten und -bereitschaften der „Zöglinge“ stellt, plädiert Klafki in dialektischer Verschränkung von materialer und formaler Bildung überzeugend dafür, in entsprechende dialogische Problemerörterungen themenrelevantes Wissen in verständlicher und respektvoller Weise einzubringen, es damit zugleich auch zur Diskussion, zur Dispositionen zu stellen und durch diese Art von kommunikativem Wissenstransfer die pädagogische Asymmetrie sukzessive abzubauen. Auch deshalb hat niemand das Recht, das letzte Wort zu behalten. In diesen Passagen zum Lehrgespräch begegnet den Leser*innen Klafki als (Hochschul-) Lehrer und wer wie wir das pädagogische Glück hatte, mit ihm über viele Stunden sehr intensive und manchmal sogar heftige Gespräche führen zu können, die aber nie verletzend waren, der weiß, was Sokratik auf dem heutigen Reflexionsniveau sein kann und sollte.

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Begründungsfragen und Machtfragen

Selbstverständlich kannten auch die Vertreter*innen der GP den berühmten Vortragstitel des Arbeiterführers und Journalisten Wilhelm Liebknecht (1826-1900) „Wissen ist Macht – Macht ist Wissen“ aus dem Jahre 1872. Allerdings hatten sie diese Machtverhältnisse weder empirisch noch theoretisch hinreichend untersucht, sondern stets recht vage von „den gesellschaftlichen Mächten“ gesprochen, wodurch ihre pädagogischen Argumentationen von einer Art „Weltlosigkeit“ bestimmt wurden. Betrachtet man unter diesem Aspekt Klafkis hier wieder veröffentlichte Studien, dann wird eine kognitive Entwicklungsdynamik deutlich, nämlich diese gesamtgesellschaftlichen ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Strukturzusammenhänge immer präziser herauszuarbeiten und mit dezidiert praktisch-pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Fragestellungen zu verknüpfen – ohne aber das eine auf das andere zu reduzieren. Das geschieht ganz besonders deutlich in seinem Konzept der „epochaltypischen Schlüsselprobleme“, es zeigt sich aber auch in anderen erziehungswissenschaftlichen Diskurssträngen. Zwei seien hier exemplarisch hervorgehoben:

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Die Verteidigung der rational begründeten pädagogischen Emanzipationsansprüche

Die 4. Studie hat einen ziemlich akademisch, fast möchte man sagen „unpolitisch“ klingenden Titel; in Wirklichkeit ist sie eine theoretisch präzise argumentierende und zugleich von großem pädagogischem und bildungspolitischem Engagement getragene Auseinandersetzung mit dem konservativen politischen „Großangriff“ auf die Bildungsreformen der späten 1960er und der 1970er Jahre, wie er 1978 im Bonner Forum „Mut zur Erziehung“ vortragen wurde. Klafki macht hier deutlich, wie politische Ambitionen, ja Machtansprüche in die Erziehungskonzepte eindringen, und zwar rational unkontrolliert und mit der Selbstlegitimation, dass solcherart Grundsatzentscheidungen, solche Wertentscheidungen rational überhaupt nicht kontrolliert werden könnten. Damit zeigt sich in gewisser Weise die regressive Seite der Relationen zwischen Bildung und Politik: Politische Ansprüche lassen die Bildungskonzepte eben nicht unverändert, sie dringen in ihre Basisannahmen, ihre Tiefenstrukturen ein, deformieren in diesem Fall die weitergehenden Selbstbestimmungs-, Mitgestaltungs- und Solidarisierungsperspektiven und tragen so zu un- bis antidemokratischen Politik- und Gesellschaftsstrukturen bei. Oder klassisch und mit Heinz-Joachim Heydorn (1916-1974) gesprochen führt das Eindringen der vielschichtigen Machtansprüche in die Erziehungskonzepte zum grundlegenden Widerspruch von Bildung und Herrschaft, was Klafki in vergleichbarer Theorierekonstruktion als Verfall der klassischen, emanzipatorischen Bildungskonzepte bezeichnet hat. Das führte und führt dazu, dass diese nicht produktiv weiter entwickelt wurden bzw. werden. Hieraus resultiert das Aufgabenfeld der Ideologiekritik4, welches Klafki rückvermittelt mit empirischen Untersuchungen und zugleich verlängert zu einer übergreifenden Gesellschaftskritik5 und damit auch dem Irrtum widerspricht – z. B. in den entsprechenden Arbeiten von Theodor W. Adorno (1903-1969) –, dass die Ideologiekritik schon die Gesellschaftskritik sei und zu dieser nicht mehr vermittelt

4 Zu deren Erweiterung und Vertiefung wäre eine differenzierte Rezeption der „Diskursanalysen“ von Michel Foucault (1926-1984) gewiss sehr hilfreich (vgl. bes. Foucault 1981; 1991); Anregungen zur erziehungswissenschaftlichen Rezeption finden sich bei Balzer 2014. 5 Diesbezüglich gibt es wichtige Übereinstimmungen mit Bourdieus Bildungssoziologie, weil auch er – gerade in seiner Theorie der Kapitalsorten – die empirische Rekonstruktion der faktisch wirksamen außer- und innerpädagogischen sozialen und kulturellen Ungleichheiten ins Zentrum gestellt und von daher auch entsprechende Legitimationsmuster kritisiert hatte (vgl. die kompakte Zusammenstellung seiner diesbezüglich wichtigsten konzeptionellen Arbeiten jetzt in Bourdieu 2018).

Einleitung

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werden müsse. Die aufgezeigten herrschaftsverursachten Deformationen6, die dem Irrationalismus neuen Raum geben, können allerdings durch theoretische und praktische pädagogische Anstrengungen zumindest teilweise überwunden werden. Dies zeigt besonders die Rekonstruktion der pädagogisch-politischen Auffassungen Litts in der abschließenden 11. Studie. Diese lassen sich zu der grundsätzlichen Einsicht verallgemeinern, dass alle politischen oder sonstigen Ansprüche der rationalen Überprüfungen unterzogen werden müssen, dass also nicht nur pädagogische, sondern auch politische Entscheidungen der diskursiven Bewährung ausgesetzt werden müssen.7 Nur dann sind sie legitim; demgegenüber sind pädagogisch-politische Positionen und Strömungen wie die Initiative „Mut zur Erziehung“ von einem strukturellen Legitimationsdefizit bestimmt, sie sind also pure Ideologie und betreiben – bewusst oder nicht – Ideologieproduktion und -verbreitung.

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Der demokratische Umgang mit Ungleichheiten

Die herrschaftsverursachte Deformation der Bildungsansprüche und die Einschränkung der Erziehungsmöglichkeiten setzen gesellschaftliche Ungleichheiten ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Art voraus und haben deren Stabilisierung und Tradierung zur Folge. Wie sich die Erziehung theoretisch und praktisch zu dieser Reproduktionsfunktion verhalten soll, das ist zentrales Thema der 10. Studie. Sie lässt keinen Zweifel daran, dass Friedrich Schleiermacher (17681834) seiner Erziehungstheorie emanzipatorische politische Ansprüche zugrunde legte und erörtert das milieuverankerte Spannungsverhältnis von kritikwürdiger Ungleichheit (verursacht durch den „angestammten“ gesellschaftlichen Herkunftsstatus, der ggf. kombiniert ist mit „angeborenen“ biologischen Unterschieden – z. B. des Skeletts oder der Gehirnfunktionen) und anzustrebender Gleichheit, die sich aber nur entfalten kann, wenn die Polarität von Universalität und Individualität in Bewegung versetzt wird. Das verhindert der ständische, aristokratische Umgang mit der Ungleichheit insbesondere durch die Spaltung in „höhere“ Bildung für die Eliten und „niedere“, „volkstümliche“ Bildung für die „Massen“ (ihnen wird keine Individualität und Viel- bzw. Allseitigkeit zugesprochen). Demgegenüber will der 6

Diese Seite der Erziehungsprozesse hat Bourdieu in seiner (pädagogischen) Feldtheorie ausführlich thematisiert, und diese Analysen sind trotz ihrer Einseitigkeit (die emanzipatorischen Potentiale werden weitgehrend ignoriert bzw. in Frage gestellt) für die Weiterentwicklung von Klafkis Ansatz von erheblichem Interesse. 7 Auch diesbezüglich gibt es Übereinstimmung zwischen Klafki und Durkheim bzw. Bourdieu, die beide eine rationale Pädagogik gefordert haben (vgl. Durkheim, z. B. 1972, S. 26ff.; Bourdieu/Passeron 1972, S. 82–91).

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demokratische Umgang mit ihr diesen ethisch grundsätzlich nicht vertretbaren objektiven und intersubjektiven Ungleichheiten entgegenwirken, indem er die sozialen Besonderheiten der Bildungswege berücksichtigt, die Vorentscheidungen aufgrund der anthropologischen Voraussetzungen biografisch so lange wie möglich hinausschiebt und die spezifischen soziokulturell (mit-) bestimmten Lernmodi beachtet. Dem dient als regulative Idee der egalitäre Pluralismus der interaktiven und institutionellen Lernangebote, konkretisiert als zweistufige, horizontale Gliederung in Grund- und Spezialbildung. Eine so verstandene demokratische Pädagogik soll sowohl individuelle als auch kollektive Autonomie fördern und auf diese Weise ein überindividuelles Fundament an politischen, die soziale Demokratie fördernde und erhaltende Gemeinsamkeiten legen und damit auch der konkret-historischen Vernünftigkeit der gesellschaftlichen Praxisformen und Handlungsfelder den Weg bahnen. Damit sind sehr früh die Perspektiven einer milieugerechten Pädagogik umrissen, die auch in den aktuellen Debatten um neue Akzente einer fundamentaldemokratischen Schul- und Bildungsreform eine Rolle spielen können, ja sollten. Alles dies bringt die Einsicht zur Geltung, dass Bildungschancen immer auch Lebenschancen sind – was im Umkehrschluss bedeutet, dass eine demokratische Verfassung der pädagogischen Interaktions- und Institutionsstrukturen demokratische, politische und ökonomische Bedingungen und Verhältnisse zu ihrer Voraussetzung, aber auch zu ihrer Folge haben.

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Kritische Analysen und konstruktive Perspektiven

Bei der Bezeichnung seines sozialwissenschaftlich fundierten Pädagogikverständnisses standen für Klafki – auch hier die Tradition der GP reflexiv fortsetzend – die produktiven Relationen von Theorie und Praxis, also die dynamisch-flexible Einheit und die wechselseitigen Übergänge von Erkenntnisfortschritten und Praxisinnovationen im Vordergrund. Damit wandte er sich auch gegen die unterschiedlichsten, häufig ideologiekritisch fundierten Formen einer Negativen Dialektik bzw. Pädagogik, die in vermeintlich emanzipatorischer Absicht auf die Begründung und Verwirklichung von anspruchsvollen Praxisprojekten im Geiste eines radikalen Reformismus meinen verzichten zu können oder sogar zu müssen. Für Klafki waren diesbezüglich zwei nur scheinbar gegensätzliche, in Wahrheit gegensinnig aufeinander bezogene Denk- und Praxisbewegungen von vorrangigem Interesse (und haben Klafki im Rahmen seines großen Handlungsforschungsprojektes zur Grundschulreform auch intensiv beschäftigt):

Einleitung

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Der Erfahrungstransfer von der Erziehungspraxis hin zur wissenschaftlichen Theorie

Diese Denkbewegung steht im Zentrum der 1. Studie, bei der er sich in ihrer ursprünglichen Fassung – gewiss nicht zufällig – um die erste wissenschaftliche Veröffentlichung von Klafki überhaupt handelt (vgl. Stübig/Kinsela 2008).8 Mit den logischen (also nicht schon realbiografischen) Entwicklungsstufen9 wird mit einem gewissen Verallgemeinerungsanspruch der Weg aufgezeigt, wie Alltagserfahrungen in einer immer reflektierteren und immer stärker kritisch hinterfragten Form in wissenschaftliche Konzepte und schließlich pädagogische und (erziehungs-) philosophische Theorien eingehen. Damit wird schon Herbarts Einsicht aufbewahrt, dass pädagogische Erfahrungen – oder genauer gesagt: Erlebnisse – für sich genommen noch wenig über deren Realitätsgehalt aussagen, dass sie ihren Beitrag zur Erkenntnisgewinnung nur in dem Maße offenlegen und entfalten, wie sie reflexiv, kognitiv und emotional-motivational durchgearbeitet und so eben zu Erfahrungen werden, auf die sich dann Argumente beziehen können, ohne dass sie sie ersetzen können oder wollen. Die Verabsolutierung dieses Pols, die Behauptung einer Diskursunfähigkeit der Praxis, führt zu einer nicht nur praktischen, sondern auch vortheoretischen und konzeptionellen und schließlich auch theoretischen Entwicklungsblockade. Dagegen richtete sich Klafkis Argumentation schon damals – ohne aber einer Arroganz der Theorie gegenüber der Praxis das Wort zu reden und damit deren Selbstverantwortung zu leugnen bzw. zu unterminieren.

8 Eine davor verfasste schriftliche, aber nicht publizierte Arbeit ist erst kurz vor seinem Tode veröffentlicht worden (vgl. Klafki 2013). 9 Klafki nennt folgende Stufen: I. Unmittelbares pädagogisches Denken; II. methodisches und stoffordnendes Denken (mit Bezügen zu außerpädagogischen Sachverhalten und Erlebnissen/Erfahrungen), III. Erziehungslehre und Didaktik – auch in historischer Perspektive und ihre Bezüge zu den „Bildungsmächten“ und den Wissenschaften und schließlich IV: Erziehungsphilosophie. Er nimmt diesbezüglich die Dreiteilung aus Erich Wenigers (1894-1961) legendärem Aufsatz aus dem Jahre 1929 über das pädagogische Theorie-Praxis-Verhältnis auf, nämlich in Theorien 1. Grades: faktische pädagogische Handlungsvollzüge und deren spontane, anschauliche, erfahrungszentrierten Deutungen, 2. Grades: pädagogische Alltagstheorien und 3. Grades: Erziehungswissenschaftliche Theorien (vgl. Weniger 1990). Es wäre nun außerordentlich reizvoll – auch mit Blick auf die neueren Debatten zur Rezeption erziehungswissenschaftliches Wissens in den unterschiedlichsten Institutionalisierungszusammenhängen und Praxisfeldern – diese Stufungen zu vergleichen mit denen, die Durkheim (1972, Kap. II) im Anschluss an Herbart erarbeitet hatte, nämlich: 1. Faktische Erziehungspraxis, 2. Erziehungskunst, 3. Praktische Theorie der Erziehung (Pädagogik), 4. Ideologiekritik und 5. Erziehungswissenschaft.

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Vielmehr betonte er die zentrale Bedeutung dessen, was wir heute implizites Wissen nennen für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess der pädagogischen Praxis. Man kann mit gutem Recht die kommunikativen Beziehungen zwischen Theoretiker*innen und Praktiker*innen als eine spezifische Ausprägungsform des sokratischen Dialogs deuten. Zu dessen Vertiefung und Erweiterung wäre es ratsam, hier das von Habermas (1988, S. 15–71; 2004) entwickelte Konzept der performativen Geltungsansprüche aufzunehmen (vgl. dazu auch Masschelein 1991, S. 25–37 und 209–218). Denn ob die Kommunikationsteilnehmer*innen es wissen oder nicht, ob sie dem zugestimmt haben oder nicht, sie lassen sich faktisch immer auch auf ganz bestimmte Ansprüche ein und erkennen deren Geltung an, wenn sie miteinander ins Gespräch kommen. So geht es z. B. in einer Falldiskussion (ob z. B. ein Mädchen nach dem sexuellen Missbrauch durch ihren Vater aus der Familie herausgenommen werden soll) zunächst um Wahrheitsfragen (im Beispiel: „Was hat sich wie in dem Missbrauchsfall ereignet?“), ferner geht es um Fragen der Richtigkeit einer Handlung („War es richtig, dass das Mädchen längere Zeit gewartet hat, bis es sich Hilfe suchend an das Jugendamt gewendet hat?“). Gerade für das pädagogische Handeln ist der Anspruch der Wahrhaftigkeit von Äußerungen bedeutsam (ob also das Mädchen auch tatsächlich das sagt, was es denkt und fühlt). Nicht zuletzt geht es um die Verständlichkeit der Kommunikation („Kann die Sozialarbeiterin die verschiedenen Lösungsmöglichkeiten so schildern, dass das Mädchen die Folgen für sich und seine sozialen Beziehungen hinreichend abschätzen kann, um so eine Entscheidung zu fällen). In einem weiteren Verständnis ist mit dem Dialog auch der Anspruch verbunden, sich damit an eine (potenziell unbegrenzte) Öffentlichkeit zu wenden, weil sie über bestimmte soziale und pädagogische Sachverhalte zu informieren ist, damit entsprechende Missstände durch politische Entscheidungen überwunden werden (im Beispiel: Dass über den sexuellen Missbrauch von Mädchen, aber auch von Jungen in anonymisierter Weise breit informiert wird, dass Befunde Eingang finden in politische Sachdarstellungen und dass auf dieser Grundlage gesetzliche und administrative Maßnahmen zum Schutz der Heranwachsenden getroffen werden). Ein spezifisch pädagogischer, ebenfalls performativ verankerter Geltungsanspruch ist das Zukunftsversprechen: Dass nämlich die Subjekte allen Alters und aller Entwicklungsstufen dann, wenn sie an interaktiv und institutionell angebotenen Lernprozessen teilnehmen, in ihrer eigenen, gesellschaftlich vermittelten autonomen Zukunft ein besseres, ein selbstbestimmteres, ein glücklicheres Leben in sozialer Verantwortlichkeit führen werden als wenn sie darauf verzichten. Die Einlösung dieses Versprechens erfordert sehr viel pädagogischen Takt (wie Herbart zu sagen pflegte), weil hier – erstens – die epochaltypischen Schlüsselprobleme verknüpft werden müssen mit perspektivischen soziologischen und sozialphilosophischen

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Zeitdiagnosen (vgl. Habermas 2003), weil – zweitens – die lebenspraktische, kognitive wie emotional-motivationale Relevanz der biografischen Gegenwart nicht in Frage gestellt bzw. unterminiert werden darf, weil – drittens – die Zukunft nicht als lineare Fortsetzung der Gegenwart angesehen oder die Zukunft in der Vergangenheit gesucht werden darf (wie das die kulturkritischen Ansätze und Strömungen unternehmen) und weil schließlich – viertens – (mit Koselleck 1989 gesprochen) beachtet werden muss, dass in der Moderne der zukunftsorientierte Erwartungshorizont (der Bildung) den gegenwartszentrierten Erfahrungsraum (der Erziehung) qualitativ überschreitet. Diese und weitere Geltungsansprüche werden historisch nicht nur von Einzel­ individuen und einzelnen Gruppen zu verschiedene Zeiten auf unterschiedlichem Niveau realisiert, sondern sie bestimmen auch die wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse in verschiedener Weise und auf unterschiedlichem Niveau. Gehen wir generell davon aus, dass wissenschaftliche Erkenntnis-Fortschritte möglich und wünschenswert sind, aber diese sich keineswegs gradlinig durchsetzen, dann bedarf es immer wieder auch der Vergewisserung der historisch bereits erarbeiteten Erkenntnisverfahren und -ergebnisse. Wie eine solche wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion in theoriesystematischer Absicht zu verfahren hat und gelingen kann, machen die Studien im zweiten Teil dieses Bandes in exemplarischer Weise deutlich10 und damit auch, wie Erkenntnisse, die einerseits stets zeitbedingt sind, dennoch einen Verallgemeinerungs-, ja sogar Universalitätsanspruch haben können. Und sie erweitern das von Klafki bereits faktisch praktizierte Verständnis von „konstruktiv“, das sich also nicht nur auf die „Übersetzung“ in gelingendere, überzeugendere Praxis bezieht, sondern eben auch auf die theoretische Aufhebung früher gewonnener und wie immer auch begrenzter Einsichten in einem entwickelteren Theoriekonzept (hier dem der kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft).

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Von der kritischen Theorie zur konstruktiv umgestalteten Praxis

Gerade die beiden Studien Nr. 5 und 6 machen an didaktischen Themenkreisen deutlich, wie ein sehr anspruchsvolles Konzept – hier die bildungstheoretisch begründete Didaktik – schrittweise, also über viele Vermittlungsschritte in die Alltagspraxis eines demokratischen Unterrichts überführt werden kann, bei dem 10 Hier begegnen die Leser*innen einigen wichtigen Hauptströmungen der traditionellen und modernen deutschsprachigen Pädagogik, zu deren Verortung die Studie von Benner (2001) sehr hilfreich ist.

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Karl-Heinz Braun, Frauke Stübig und Heinz Stübig

auf jedem Schritt der Eigensinn der jeweiligen Erkenntnis- und Praxisebene beachtet wird (was eine Deduktion „von oben nach unten“ selbstverständlich ausschließt), ohne dass der Zusammenhang verloren geht. Hier bewährt sich einmal mehr die theoretische „Dreieinigkeit“ von Klafkis Ansatz: Nämlich die fundierende Rolle des hermeneutischen Verstehens nicht nur der intersubjektiven Sinnbildungsprozesse, sondern auch deren Verobjektivierungen (z. B. in Gestalt von Schularchitektur), deren Bezug auf die empirisch feststellbaren sozialen Tatsachen aller Art und die in diese hermeneutischen und empirischen Analysen integrierten ideologiekritischen Untersuchungen und darüber vermittelten gesellschaftskritischen; inwieweit also durch die jeweiligen Vorannahmen, Zielsetzungen, inhaltlichen Ausgestaltungen und praktisch-methodischen Schlussfolgerungen – gewollt oder ungewollt – gesellschaftliche Ungerechtigkeiten gerechtfertigt und nachweislich falsches Bewusstsein produziert und verbreitet wird. Aber noch etwas anderes machen diese Beiträge deutlich: Dass nämlich der Grundgedanke der kategorialen Bildung, die Deutung der individuellen und gruppenbezogenen Selbst- und Weltbezüge mit Hilfe von Schlüsselbegriffen (wie eben z. B. Gleichheit/Ungleichheit, Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit) nicht nur für die Gestaltung von Lern-Lehrprozessen relevant ist, sondern auch eine zentrale, wahrscheinlich sogar die zentrale Dimension des pädagogischen Theorie-Praxis-Verhältnisses darstellen, in dem die dialektischen Denkbewegungen mit Hilfe von Schlüsselbegriffe die realdialektischen pädagogischen Prozesse verständlicher und gestaltbarer zu machen – im Sinne einer vernunftgeleiteten Erziehung zur Demokratie. Das wirft eine weitere, offene Frage auf: Ist eine solche kategoriale professionelle Bildung identisch mit einer umfassenden Verwissenschaftlichung der Berufspraxis oder behalten die Bewusstseins- und Sprachformen der Alltagwelt und der Bildung dennoch ihren relationalen Eigensinn? Das Problem betrifft allerdings nicht nur die rationale Pädagogik, sondern generell die kommunikative Rationalität bzw. Rationalisierung der Lebenswelten.

Editorischer Hinweis Die hier abgedruckten Studien sind in den einzelnen Abschnitten chronologisch nach ihrem Erscheinen angeordnet; sie folgen der jeweiligen Erstpublikation. Eine Ausnahme bilden die beiden nachgedruckten Aufsätze „Die Stufen des pädagogischen Denkens“ und „Dialektisches Denken in der Pädagogik“. Der erste Text wurde von Wolfgang Klafki für den Nachdruck 1964 überarbeitet, der zweite für die erneute Publikation 1966 durchgesehen und in den Literaturangaben aktualisiert. Die vom Verfasser für die Anmerkungen und die Literaturangaben gewählte Zitierweise wurde beibehalten, jedoch wurden die Angaben innerhalb der einzel-

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nen Beiträge vereinheitlicht und – wo es nötig war – ergänzt. Fehlerhafte Angaben wurden stillschweigend berichtigt. Zum Schluss möchten wir Frau Heike Lang (Informationszentrum für Fremdsprachenforschung, Philipps-Universität Marburg) herzlich danken. Sie hat die vorliegenden Texte abgeschrieben bzw. eingescannt und die Herausgabe dieser Publikation von Anfang an begleitet. Daneben gilt unser aufrichtiger Dank Frau Dr. Bettina Reimers, der Leiterin des Archivs der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung, für ihre Unterstützung bei der Durchführung dieses Editionsprojekts. Magdeburg/Marburg, im Juli 2018

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Karl-Heinz Braun, Frauke Stübig und Heinz Stübig

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Erster Teil Systematische Beiträge zu einer Theorie des pädagogischen Handelns

Die Stufen des pädagogischen Denkens Ein Beitrag zum methodologischen Problem der Pädagogik

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1 Die Stufen des pädagogischen Denkens

1 Die Stufen des pädagogischen Denkens Im Ringen der pädagogischen Bewegung um die Begründung einer eigenständigen Erziehung und einer autonomen Erziehungswissenschaft bedeutete Th. Litts Aufsatz „Die Methodik des pädagogischen Denkens“1 einen Markstein der Entwicklung. Hatte man bis dahin das Hauptaugenmerk darauf gerichtet, Erziehung als einen eigengesetzlichen Bereich des geistigen Lebens, der Kultur aufzuzeigen, um von daher Recht und Notwendigkeit einer autonomen pädagogischen Theorie deutlich zu machen2 , so wandte sich Litts Aufsatz nun der Frage nach der Besonderheit jenes Erkennens und Denkens zu, das sich auf das Phänomen der Erziehung richtet. Diese methodologische Besinnung war nötig: Eine junge, um Anerkennung ringende Wissenschaft kann ihr Recht auf Autonomie nicht anders unter Beweis stellen, als durch den Aufweis eines ihr spezifisch zugehörigen „Gegenstandes“ und einer der wissenschaftlichen Bewältigung dieses „Gegenstandes“ angemessenen Methode des Erkennens und Denkens. Die in dieser These gemachte Unterscheidung von Gegenstand und Methode wird sich im Fortgang der Untersuchung – jedenfalls für die Pädagogik – als durchaus vorläufig erweisen. (Daß sie es nicht nur für die Pädagogik ist, kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht nachgewiesen werden.) Soviel ist aber sogleich zu erläutern: Der Terminus „Gegenstand einer Wissenschaft“ meint nicht einen in sich geschlossenen räumlich-zeitlichen Sachverhalt,

1 Th. Litt: Die Methodik des pädagogischen Denkens. In: Kant-Studien. Bd. 26. 1921, S. 17–51. Wieder abgedruckt – unter dem Titel „ Das Wesen des pädagogischen Denkens“ – im Anhang von Th. Litt: Führen oder Wachsenlassen. 4., durchges. und erw. Aufl. Stuttgart 1949. 2 So bestimmt Frischeisen-Köhler die Aufgabe einer autonomen Pädagogik vor allem dahin, daß sie die konstituierenden Prinzipien der Erziehungswirklichkeit, wie sie die geschichtliche Entwicklung gestaltet hat, herausstellen solle. (Philosophie und Pädagogik. Kleine Pädagogische Texte. H. 20, S. 86) © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Klafki, Allgemeine Erziehungswissenschaft. Systematische und historische Abhandlungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23165-1_1

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der gleichsam zum Eigentum einer einzigen Wissenschaft erklärt wird. Der gleiche räumlich-zeitliche Sachverhalt kann „Gegenstand“ der Physik, der Biologie, der Psychologie, der Soziologie, der Anthropologie und anderer Wissenschaften sein. Aber er wird zum „Gegenstand“ einer dieser Wissenschaften überhaupt nur unter bestimmten Gesichtspunkten und Fragestellungen. Diese erst konstituieren den „Gegenstand“ als Gegenstand der jeweiligen Wissenschaft. Mag es in der Folgezeit immer wieder Versuche gegeben haben, die Eigengesetzlichkeit des pädagogischen Denkens in Zweifel zu ziehen, mag faktisch im Bereich der Erziehung immer wieder „heteronom“ gedacht und gehandelt worden sein, grundsätzlich darf Litts Aufweis einer eigenständigen pädagogischen Denkmethode als gültig betrachtet werden. Ist damit dem pädagogischen Denken ein eigener Denk- und Wirklichkeitsraum gegenüber anderen Bereichen (Technik, Kunst, das Reich des Organischen, Ethik usw.) nach außen hin gesichert, so zeigt der Blick „in“ diesen Raum hinein sehr bald neue methodologische Probleme. Denn das tatsächliche pädagogische Denken stellt sich sogleich in einer Vielfalt von Formen dar, und dem entspricht eine Vielzahl von „Teilbereichen“ innerhalb der Welt des Erzieherischen. So eignet dem Terminus „pädagogisches Denken“ eine gewisse Abstraktheit, sobald er an den konkreten Aufgaben der erzieherischen Wirklichkeit gemessen wird. Das mindert seine Bedeutung nicht und darf vor allem nicht mit der Abstraktheit induktiv gewonnener, generalisierender Allgemeinbegriffe verwechselt werden, die in den ihnen zusammengefaßten Einzelinhalten relativ äußerlich bleiben. Das Wesen pädagogischen Denkens kann nur in einer echten „Besinnung“ erfaßt werden, im Verstehen des ihm innewohnenden und es recht eigentlich gestaltenden Sinnes. So ist in Litts Darstellung und manchen ähnlichen wohl in der Tat das innere, allgemeine Wesen allen pädagogischen Denkens erfaßt, ohne daß damit der Anspruch erhoben würde, die mannigfachen Ausgestaltungen dieses allgemeinen Wesens in der Erziehungswirklichkeit schon hinreichen verständlich gemacht zu haben. Der durch Litt erstmalig gelösten Aufgabe der „Abgrenzung nach außen“ tritt so die Aufgabe einer „Abgrenzung im Innern“, einer Strukturanalyse der verschiedenen Formen des pädagogischen Denkens, an die Seite. Dieses methodologische Anliegen ist keineswegs nur von theoretischer Bedeutung. Denn leider leben die verschiedenen Formen pädagogischen Denkens, methodisches und didaktisches, philosophisch-pädagogisches und historisches usw., nicht immer in friedlicher Zusammenarbeit neben- oder besser miteinander. Die eigenartige Spannung zwischen Theorie und Praxis in der Erziehung, zwischen Theoretikern und Praktikern hat

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am klarsten E. Weniger aufgezeigt.3 Wer selbst einmal in der Schule stand, kennt darüber hinaus die Diskussion der „Methodiker“ und der „Didaktiker“. Die Lehrerbildung zeigt in bisweilen unerfreulicher Weise den Kompetenzstreit zwischen den eingefleischten „Methodikern“ und den „Erziehungsphilosophen“. Die Beispiele ließen sich leicht vermehren und konkretisieren. Häufig ist die Tendenz, das Ganze des pädagogischen Problems mit Hilfe einer besonderen Form des pädagogischen Denkens zu bewältigen und den anderen Formen ihre Bedeutung abzusprechen. In der neueren pädagogischen Literatur liegen uns einige bedeutsame Strukturanalysen einzelner Formen des pädagogischen Denkens vor. Für das Gebiet der Methode sind hier vor allem W. Flitners „Theorie des pädagogischen Weges und der Methode“4 , H. Roths Aufsatz „Zum pädagogischen Problem der Methode“5 und G. Reichweins „Grundlinien einer Theorie der Schule. Die Schule als Methode und die Methode in der Schule“6 zu nennen. Das Problem der Didaktik als Bildungslehre ist von E. Weniger überzeugend in seiner „Theorie der Bildungsinhalte und des Lehrplans“ dargestellt worden. Diese Abhandlung erläutert zugleich das Verhältnis von Methodik und Didaktik. – Natürlich enthalten auch alle zusammenfassenden Darstellungen, die Bildungstheorien, die Werke über allgemeine Pädagogik und die Einführungen in die Pädagogik, implizit – allein schon im Aufbau – und explizit Aussagen über die einzelnen Formen pädagogischen Denkens sowie deren Zusammenhang. Und doch erscheint das Verhältnis hier oft mehr oder weniger als ein Nebeneinander verschiedener Teilbereiche, die ihre je eigenen Gegenstände und Fragestellungen haben. Allein: wäre eine so äußerliche und säuberliche Scheidung der jeweiligen Aufgabenbereiche wirklich möglich, ließe sich das Ganze der pädagogischen Denkbemühung aus einem mosaikähnlichen Nebeneinander verschiedener Teilbereiche als deren Summe verständlich machen, dann bleiben jene früher erwähnten Kompetenzstreitigkeiten und Grenzüberschreitungen entweder ein Rätsel, oder sie müßten sich sehr leicht beiseite schaffen lassen. Eine genauere Betrachtung der Formen pädagogischen Denkens und ihres Zusammenhangs, wie sie in der vorliegenden Untersuchung versucht wird, zeigt dagegen, daß sie sich in einer Weise entfalten, die am besten nach der bildlichen Analogie eines Stufenganges verstanden werden kann. Das besondere „Verhältnis“ der Stufen zueinander – und um dieses ist es uns hier vornehmlich zu tun – kann erst im Zusammenhang der Untersuchung geklärt werden. 3

Theorie und Praxis in der Erziehung. In: Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis. Probleme der akademischen Lehrerbildung. Weinheim 1957. S. 7–22. 4 Weitere Literatur dort. 5 Zeitschrift „Die Sammlung“ 5 (1949) S. 102–109. 6 Pädagogische Quellentexte. Hrsg. von H. Wetterling. H. 5. Oldenburg 1951.

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I. Stufe: Das unmittelbare pädagogische Denken Wie uns heute wieder das Verhältnis zwischen Mutter und Kind als die Urform des Phänomens Erziehung überhaupt gilt, so werden wir in diesem Verhältnis auch die ursprüngliche Form pädagogischen Denkens vorzufinden gewiß sein dürfen. Betrachten wir ein Beispiel! Ein dreijähriger Junge spielt auf dem Fußboden eines Zimmers mit Bauklötzen. Als er bemerkt, daß die Mutter Anstalten zum Fortgehen macht, läßt er die Klötze auf dem Fußboden liegen, läuft zur Mutter und ruft: „Ich darf doch mitgehen, ja?“ – „Gewiß“, lautet die Antwort, „aber erst mußt du deine Klötze in den Baukasten packen.“ Die besondere pädagogische Situation ergibt sich in unserem Beispiel unerwartet und unvorbereitet. Sie entsteht durch die Initiative des Kindes, aus seinem Wunsch heraus, mit der Mutter mitgehen zu dürfen, ohne daß es dabei an das Aufräumen der Spielsachen dächte. In den Worten „aber erst mußt du deine Klötze in den Baukasten packen“ zeigt sich eine spezifisch pädagogische „Reaktion“ der Mutter auf die durch das Kind geschaffene Situation. Fragen wir nach dem geistigen Geschehen, daß in diesem Verhalten der Mutter seinen Ausdruck findet und daß wir als „Denkakt“ bezeichnen wollen. Dieser Denkakt besteht offenbar darin, daß die Mutter in der neuen Situation unmittelbar eine pädagogische Möglichkeit, eine pädagogische Aufgabe erfaßt, den pädagogischen Gehalt der Lage „erschaut“ und die sich daraus ergebende Forderung ebenso unmittelbar in ein erzieherisches Verhalten umsetzt. Sie fixiert diesen Gehalt oder besser: die sich für sie unmittelbar ergebende pädagogische Aufgabe in der Forderung „aber erst mußt du deine Klötze in den Baukasten packen“.7 Es wäre denkbar, daß die Mutter den pädagogischen Gehalt der Situation übersehen hätte und daß das Geschehen ohne jede pädagogische Bedeutung vorübergegangen wäre. Eben diese Möglichkeit zeigt, daß das vorliegende Beispiel nicht einfach im Sinne eines kausal bestimmten Vorganges oder einer Instinktreaktion der Mutter gedeutet werden kann. Es handelt sich um ein (im weitesten Sinne des Wortes) geistiges Geschehen. Die Besonderheit des geistigen Verhaltens der Mutter ist 7 Wir dürfen im vorliegenden Zusammenhang an der erkenntnis-theoretischen Frage vorübergehen, wie denn dieser latente pädagogische Gehalt der Situation philosophisch gedacht werden könne. Ist er ein Gedanke, den die Mutter unbewußt in die Situation „hineinlegt“, um ihn dann wieder bewußt „herauszuheben“? Oder ist er unabhängig von der Mutter, sozusagen als objektives geistiges Fluidum da? Oder ist – und hier dürfte die Wahrheit liegen – diese Scheidung von Subjekt und Objekt, zu der wir zunächst neigen, nur dialektisch zu verstehen als Herausheben zweier in Wechselbeziehung stehender Momente eines Ganzen, in diesem Falle des Lebensverhältnisses von Kind und Erzieher, das der Subjekt-Objekt-Spaltung voraufliegt.

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seine Unmittelbarkeit. Eben diese mag es im ersten Augenblick fraglich erscheinen lassen, ob man die Reaktionsweise als eine Form pädagogischen Denkens bzw. als dessen Ausdruck bezeichnen darf. Hier mag die Bezeichnung als pädagogisches Denken einstweilen mit dem Hinweis gerechtfertigt werden, daß sich die besprochene „Reaktion“ auch nicht als ein Ausdruck bloßen Gefühls verständlich machen läßt, insofern sie als Forderung ja einen ganz bestimmten objektiven Inhalt meint und ausspricht (wiewohl das Gefühlsmoment aus dem erörterten Zusammenhang nicht fortzudenken ist). Wenn wir in unserem Beispiel die Unmittelbarkeit als das Charakteristikum des erzieherischen Denkens und Verhaltens der Mutter bezeichneten, so könnte leicht der Gedanke auftauchen, es handelte sich hier um ein ganz individuelles, originales Denken, dessen Inhalt, an die konkrete Situation gebunden, gleichsam ohne Vergangenheit und Zukunft wäre. Mit einer solchen Deutung des Begriffes „Unmittelbarkeit“ aber würde man weit über das Gemeinte hinausgehen. Die Unmittelbarkeit des Verhaltens widerspricht nicht der Möglichkeit, daß Gewohnheit, Sitte und Brauchtum, eigene Erziehung, übernommene Idealvorstellungen usw. schon den Auffassungsakt wesentlich bestimmen und die entscheidenden Momente des erzieherischen Denkens und Verhaltens ausmachen. „Unmittelbarkeit“ bedeutet hier nur: Der Erzieher tritt als Denkender nicht aus dem Zusammenhang der konkreten Situation heraus. Er distanziert sich nicht von dieser Situation, um sie als Ganzes zum Gegenstand der Betrachtung zu machen; er erhebt sich nicht denkend aus ihr oder über sie, er reflektiert, „über“-denkt das Ganze der Situation. Auffassen des „Gegebenen“ (das hier immer als geistgeladene Situation, nicht als neutraler dinglicher Sachverhalt verstanden werden muß), denkende Erfassung des pädagogischen Gehalts (der pädagogischen Forderung) und Umsetzen in pädagogisches Handeln stehen hier noch in einem ungebrochenen Zusammenhang. Überschauen wir die Fülle erzieherischer Situationen in Familie, Schule, Jugendbund, Beruf usw., so werden wir zugeben müssen, daß dieses Unmittelbare, völlig in die Situation hineingewobene pädagogische Denken einen breiten Raum einnimmt. Es ist ganz dem konkreten Fall hingegeben, reflektiert nicht über sich selbst. Es trägt damit immer den Anschein einer gewissen Naivität, Selbstverständlichkeit und einfachen Sicherheit an sich. Es ist gewissermaßen der Mutterboden, aus dem alle anderen Formen pädagogischen Denkens hervorgehen und in den sie zuletzt immer wieder zurückkehren. Denn die Kontinuität des pädagogischen Handelns, wie sie die praktische Erziehungsarbeit verlangt, wäre auf die Dauer unmöglich, wenn nicht auch die subtilste pädagogische Besinnung zuletzt wieder die Unmittelbarkeit und sicher Funktionalität der Fundamentalform pädagogischen Denkens gewönne.

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Übergang zur II. Stufe Schreiten wir in der theoretischen Besinnung über diese Fundamentalform weiter, so erkennen wir in ihr drei unausgesprochene Voraussetzungen: 1. daß der Inhalt der pädagogischen Forderung, dem sie Geltung verschaffen will (in unserem Beispiel etwa „Ordnung“), überhaupt sinnvoll und gültig, d. h. wertvoll für den Menschen sei; 2. daß er auch für dieses Kind in dieser besonderen Situation sinnvoll und gültig sei; 3. daß die Forderung in der von der Mutter ausgesprochenen Form das Kind „ansprechen“ und also ihren pädagogischen Zweck erreichen werde. Solange das in unserem Beispiel skizzierte pädagogische Handeln von Erfolg gekrönt ist, hat auch das ihm immanente pädagogische Denken keinen Anlaß, über die Stufe der Unmittelbarkeit hinauszugehen. Erst wo der erwünschte Erfolg ausbleibt, sieht sich das Denken genötigt, in eine neue Denkebene zu springen, eine neue Denkhaltung im Hinblick auf den pädagogischen Sachverhalt einzunehmen. Wir führen unser Beispiel fort und nehmen an, daß das Kind der freundlichen Aufforderung seiner Mutter zum Aufräumen nicht gehorcht. Der bruchlose Ablauf des Geschehens ist gestört. Vielleicht erzwingt die Mutter nun sofort ohne weitere Überlegung mit Gewalt Gehorsam, dann dürfen wir mit Recht fragen, ob dieses spontane Verhalten überhaupt noch pädagogisch genannt werden kann. Oder sie wiederholt gleichsam mechanisch die Aufforderung: Dann ist ihre Reaktion im Grunde ebenso unmittelbar wie im ersten Falle. Erst wenn die Mutter bewußt ein anderes Verhalten zeigt, erhält die Situation ein neues Gesicht. Die Fülle der sich ergebenden Möglichkeiten läßt sich, wenn ich recht sehe, auf zwei typische Formen zurückführen, die hier zunächst wieder in je einem paradigmatischen Beispiel vor Augen geführt werden sollen. a. Die Mutter ändert ihre Methode: „Ja, dann darfst du nicht mit“, oder „Komm, ich helfe dir auch“, oder „Die armen Klötze werden aber ganz traurig sein, daß sie nun nicht wieder in ihr Häuschen kommen“ o. ä. b. Die Mutter reduziert ihre Forderung: „Nun gut, dann schiebe die Klötze nur zur Seite, sonst fallen wir ja darüber.“ Möglicherweise gibt sie ihre Forderung einstweilen ganz auf oder räumt das Spielzeug selbst fort.8 8 Wir schalten die Möglichkeit aus, daß sie sich damit bewußt an das Ehrgefühlt des Kindes wenden und in dieser Weise erzieherisch auf es einwirken wolle. In diesem Falle müßte man ihr Verhalten zu dem unter a) genannten Typ zählen.

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Uns interessiert hier nicht, ob die als Beispiele aufgeführten Maßnahmen pädagogisch richtig oder falsch sind. Wir fragen nach der Denkhaltung, die sich in den veränderten Maßnahmen des Erziehers ausdrückt. Worin unterscheidet sich das jetzige Verhalten der Mutter von jenem früheren, das wir als typisch für die Stufe des unmittelbaren pädagogischen Denkens und Handelns ansprachen? Dort hob der Erzieher aus der komplexen Situation in einem spontanen Denkakt den pädagogischen Gehalt ins Bewußtsein und fixierte ihn als Forderung an das Kind. Betrachten wir im Vergleich dazu die in den Beispielen a) und b) gezeigte pädagogische Haltung: Aus der komplexen Situation taucht nicht mehr nur die pädagogische Forderung als gesondertes Moment im Bewußtsein des Erziehers auf, sondern durch den Widerspruch – es könnte in dem anderen Beispiel ebensogut ein bloßes Versagen sein – hebt das Kind sich selbst aus dem Zusammenhang heraus und wird vom Erzieher als ein zweiter bestimmender Faktor innerhalb der pädagogischen Situation erkannt. Diese Tatsache berechtigt uns, von einer neuen Stufe pädagogischen Denkens zu sprechen.

II. Stufe: Das methodische und das stoffordnende Denken Innerhalb dieser Stufe gibt es offenbar zwei Grundformen, die wir durch die Beispiele a) und b) zu skizzieren versuchten. Wir nennen sie das methodische und das stoffordnende Denken. Beide teilen gemeinsam mit der Stufe des unmittelbaren pädagogischen Denkens die erste und grundlegende der drei früher genannten Voraussetzungen: daß der Inhalt der pädagogischen Forderung überhaupt sinnvoll und fraglos gültig sei. Dagegen werden die zwei eben genannten Formen der II. Denkstufe durch die Aufhebung je einer der beiden weiteren Voraussetzungen des unmittelbaren pädagogischen Denkens charakterisiert.

A

Das methodische Denken

Erinnern wir uns noch einmal, wie es zur Entstehung einer II. Denkstufe kam: Die Störung des unmittelbaren pädagogischen Geschehens zwang den Erzieher zur Änderung seiner pädagogischen Maßnahmen. Sie zeigte sich zunächst a) in einer Änderung des Verfahrens, mit Hilfe dessen das pädagogisch „Gemeinte“, Geforderte erreicht werden sollte. „Komm, ich helfe dir ein bißchen“ o. ä. sagte die Mutter. Ohne Zweifel liegt solcher neuartigen „Reaktion“ pädagogisches Denken zugrunde. Wir, d. h. die um Verständnis bemühten Betrachter dieses Geschehens, erkennen, daß

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das Ziel, das Prinzip der Ordnung im Tun des Kindes wirksam werden zu lassen, das gleiche geblieben ist wie in der ursprünglichen Aufforderung der Mutter. Sie setzt also ohne weiteres voraus, daß Ordnung ein gültiges pädagogisches Prinzip ist und daß es auch in dieser bestimmten Situation und für ihr Kind Geltung habe. Diese Voraussetzungen, die das Ziel betreffen, erscheinen überhaupt noch nicht in ihrem Denkhorizont. Aber der Weg zu diesem festumrissenen Ziel ist problematisch geworden und macht nun den eigentlichen Inhalt des pädagogischen Denkens aus. So wird unser Beispiel a) zum Paradigma des methodischen Denkens in der Pädagogik: Denn der Weg zu einem bestimmten Ziele ist, ganz dem Sinne des griechischen Urwortes entsprechend, „Methode“. Und da wir hier nun von allen besonderen Inhalten des pädagogischen Denkens absehen und nur allgemeine Denkstufen charakterisieren, dürfen wir neben unser Ausgangsbeispiel aus dem (im engeren Sinne des Wortes) erzieherischen Bereich sofort das Denken über die Unterrichtsmethode stellen, ohne die inhaltlichen Unterschiede zwischen Erziehung und Unterricht zu berühren. Auch und gerade im Unterricht handelt es sich um die Frage nach dem Weg, auf dem der Erzieher das Kind zu einem bestimmten Ziele führt. Zwei Momente treten auch hier für den Denkenden aus dem Gesamtzusammenhang des Pädagogischen heraus: ein bestimmter Inhalt, ein Bildungsgut, ein „Unterrichtsstoff“ einerseits – das besondere Kind bzw. die besonderen Kinder andererseits. Der Pädagoge wird in der Besinnung auf die besondere Struktur des Stoffes und auf die Eigenart der Kinder, ihre Bildungssituation, ihre geistige Reife, ihr Auffassungs- und Konzentrationsvermögen usw. nach dem Weg suchen, auf dem er das Kinde zur bildenden Begegnung mit dem Stoff führt. Am treffendsten scheinen mir H. Roth und W. Flitner (s. o.) die Eigenart dieser Denkform charakterisiert zu haben. Trotzdem dürften damit auch die grundsätzlichen Erwägungen über das methodische Denken in der Pädagogik nicht zum Abschluß gekommen sein. Unser Schema des methodischen Denkens (der Denkende sieht aus dem Gesamtkomplex zwei Momente: Stoff, Wert o. ä. und Kind) scheint durch eine Tatsache als unrichtig erwiesen zu werden: Fragt methodisches Denken nicht oft bewußt nach der Angemessenheit der Methode an den betreffenden Erzieher oder Lehrer, der die Methode durchführen soll? Das läßt sich nicht bestreiten, und damit erfährt unser Schema eine gewisse Erweiterung. Und doch scheint es mir, als ob es nicht grundsätzlich durchbrochen würde. Zwei Gesichtspunkte sind hier zu beachten: 1. Das Moment „der Erzieher“ (Lehrer) bleibt – wenn es überhaupt bewußt in das methodische Denken aufgenommen wird – dem Kern des methodischen Denkens, der Inbeziehungsetzung von Kind und Bildungsinhalt, äußerlich; es ist kein bewußt konstituierendes, sondern nur ein nachträglich regulierendes Moment der

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Methode. Methode als Weg bedeutet diese Bewegung von einem Sein – dem So-Sein des Kindes – zu einem Sein-Sollenden, sei dieses nun ein Verhalten, daß sich diese Bewegung vom Sein zum Sein-Sollenden spontan, ohne fremde Hilfe vollzieht. Gewiß, wir sahen daß gerade und erst dort, wo das nicht geschieht, methodisches Denken entspringt. Aber das Ziel der Methode bleibt doch letztlich immer, sich selbst überflüssig zu machen bzw. aus einer Wegführung durch den Lehrer zu einem „Instrument“ des Kindes zu werden. Wenn dem aber so ist, so muß das primäre Problem des methodischen Denkens die Beziehung von Kind und Bildungsinhalt sein. Der Lehrer selbst ist dann als Moment des methodischen Denkens erst sekundär. (Die Begriffe primär und sekundär stellen dabei weniger eine zeitliche Aufeinanderfolge der Denkschritte als vielmehr einen logischen Unterschied dar.) Die Beziehung zwischen Kind und Inhalt hat der Idee nach auch ohne den Erzieher (Lehrer) Wert und Bedeutung, wenn sie auch ohne ihn nicht wirklich werden kann. Vielleicht ist er aus irgendwelchen Gründen zur „methodischen“ Wegführung nicht in der Lage. Dann bleibt der methodische Zusammenhang zwischen Kind und Inhalt theoretisch doch unangetastet gültig. Ein naheliegender Einwurf muß hier noch abgewehrt werden. Heißt das eben Gesagte nicht, den Erzieher in unverantwortlicher Weise in den Hintergrund zu drängen, in einen in der theoretischen Pädagogik längst überwundenen Fehler einer radikalen „indirekten“ Pädagogik zu verfallen? Keineswegs: Der Erzieher bleibt ja, auch wenn er sich nicht zum primären Maßstab der Methode macht, derjenige, der das Zusammenkommen von Kind und Inhalt vorausdenkt und -plant und später sichert, der eine solche Begegnung dank seiner Methode überhaupt erst möglich macht. – Weiterhin aber ist auf den Einwand, es läge in obiger Bestimmung des methodischen Denkens eine unberechtigte Beschränkung der Erzieherpersönlichkeit, zu sagen: Die Bedeutung des Erziehers für Erziehung und Lehre erschöpft sich natürlich nicht darin, daß die Persönlichkeit des Erziehers selbst einer der entscheidenden „Bildungsinhalte“ ist oder doch sein kann oder sein sollte. Nichts liegt diesen Ausführungen ferner, als diese Erkenntnis zu verdunkeln. Sie aber steht jenseits rein methodischer Überlegungen, deren Struktur an dieser Stelle aufgezeigt werden sollte. Auch soll keineswegs geleugnet werden, daß die Persönlichkeit des Erziehers sein methodisches Denken – meist unbewußt – beeinflußt. Aber auch diese Tatsache ist selbst nicht mehr Problem des methodischen Denkens, sondern eines „Denkens über methodisches Denken“, das an dieser Stelle noch nicht zur Erörterung steht. 2. Aber auch wenn das Moment „Erzieher“ (Lehrer) vom Denkenden auf der Stufe methodischen Denkens in die Besinnung miteinbezogen wird, – was, wie wir eben sahen, für den methodischen Zusammenhang grundsätzlich immer

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nur von sekundärem Belang sein kann – auch dann also ist es gar nicht die ganze Erzieherpersönlichkeit, die in einer bestimmten geistigen Tradition und in einer historische gewachsenen Kultur steht, die bewußt oder unbewußt eine „Weltanschauung“ besitzt und daher ihr pädagogisches Handeln mehr oder minder stark gestaltet, über die hier reflektiert wird. Im Zusammenhang methodischen Denkens tauchen vielmehr nur einzelne „Seiten“ des Erziehers auf, Fähigkeiten, Eigenschaften, vielleicht Eigenarten, die eine unmittelbare Beziehung zu der betreffenden Methode haben und bei deren Durchführung eine Rolle spielen könnten. Die Ergebnisse solcher Erwägungen haben dann etwa folgendes Aussehen: Die darstellende Methode im Geschichtsunterricht erfordert ein gewisses überdurchschnittliches Sprachgestaltungsvermögen des Lehrers oder: Die Gedichtbehandlung steht und fällt mit dem Lehrervortrag oder: Ich kann die Unterrichtsform des freien Gesamtunterrichts vorläufig nicht durchführen, da mir die erfahrungsgemäß dazu notwendige geistige Wendigkeit noch fehlt usw. Man sieht: hier liegen faktische Durchführungsschwierigkeiten vor, die grundsätzlich nicht das mindeste an der Reinheit, Objektivität und Geschlossenheit der oben skizzierten Struktur methodischen Denkens ändern.

B

Das stoffordnende Denken

Das im Beispiel b) (die Mutter reduziert ihre Forderung oder gibt sie ganz auf) zum Ausdruck kommende Denken ist mit der eben besprochenen methodischen Denkform aufs engste verknüpft. Immerhin hat es seine besondere Struktur, wenn es auch noch nicht als neue Denkstufe dem methodischen Denken gegenüber angesprochen werden kann. Das neue Moment im stoffordnenden Denken ist, daß eine weitere, noch im methodischen Denken immanent enthaltene unreflektierte Voraussetzung hier aufgehoben und zum Problem gemacht wird. Es ist nun nicht mehr selbstverständlich, daß die pädagogische Forderung, der Bildungswert oder – um über unser Beispiel hinauszuschreiten – ein bestimmtes Bildungsgut, ein Unterrichtsstoff usw. für dieses besondere Kind und in dieser besonderen Situation gültig, verständlich, verbindlich ist. Nur jene erste der drei am Anfang genannten Voraussetzungen bleibt noch unangetastet, daß nämlich der Inhalt der Forderung an sich Bildungswert habe. Und so wird es hier zum Anliegen des Denkens, die Forderung, die vielleicht eine Überforderung war, soweit zu reduzieren, wie es der Reife, der Verständnis- und Leistungsfähigkeit des Kindes in der besonderen Situation entspricht, um den vollen Gehalt vielleicht bei größerer Reife des Kindes oder in einer geeigneteren Situation zur Wirkung kommen zu lassen.

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Dieses Denken stellt also die Frage nach der Angemessenheit der Bildungsforderungen an die Reife der Zöglinge und an die bestimmte pädagogische Situation. Diesen Momenten entsprechend ordnet sie die „Bildungsforderungen“, Bildungsinhalte, Stoffe, Themen usw. an. Ihre deutlichste Ausprägung findet diese Denkform in den Stoffverteilungsplänen der Schulen. Der Schulleiter, der für seine zwei Oberklassen, die vier Jahrgänge umfassen, einen Turnus der Behandlung z. B. des Sachunterrichts ersinnt, so daß Überschneidungen und Auslassungen beim Übergang von einer zu anderen Klasse vermieden werden, denkt „stoffordnend“. Erwähnen wir noch einige Beispiele solchen Denkens, um die Bedeutung und Spannweite dieser Denkform anzudeuten: Ein Lehrer, der in seiner Stoffverteilung für einen kombinierten Naturkunde-NaturlehreUnterricht die Naturlehrstoffe in das Winterhalbjahr verlegt, um im Sommer den Vorteil der direkten Anschauung der organischen Natur für die Naturkunde voll auszunutzen; der Jenaplan, der die Woche mit besinnlichen Unterrichtsstunden beginnt, in die Mitte der Woche das Schwergewicht der Arbeitsstunden verlegt, um am Sonnabend in musisch bestimmtem Tun den Wochenrhythmus ausklingen zu lassen; der Biologielehrer, der sich in einer gemischten Klasse entschließt, gewisse Probleme der sexuellen Aufklärung jeweils nur mit den Jungen bzw. den Mädchen der Klasse zu besprechen usw. Die II. Stufe des pädagogischen Denkens, sich darstellend in den beiden Formen des methodischen und des stoffordnenden Denkens, ist für die Mehrzahl der Erzieher, insbesondere aber der Lehrer, einer der wichtigsten Bereiche ihres pädagogischen Denkens in und außerhalb der unmittelbaren pädagogischen Tätigkeit. Methode und Stoffordnung sind in gewisser Weise das Lebenselement des Praktikers. Aller Problematik und Relativierung der Methode unbeschadet bestätigt sich ihm doch immer wieder die Wahrheit jenes Schleiermacher-Wortes, daß der Ernst der Schule letztlich in dem Gesetz der Methode begründet sei.9 Es sei daher kein Zeichen einer Neigung zu blinder Methodengläubigkeit und zum „Methodismus“, sondern ein Ausdruck realistischer Beurteilung, wenn uns das pädagogische Zeitschriften- und Vortragswesen heute wieder eine breite Diskussion methodischer Probleme zeigt. Aber auch die Frage der Stoffordnung spielt eine nicht unbeträchtliche Rolle, wie die Erörterung des Schulreifeproblems, des Überganges von der Grund- zur Oberschule usw. zeigt. Daß wie die Bedeutung des methodischen und stoffordnenden

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Es wäre aber überaus kurzsichtig, daraus zu folgern, Lehrerbildung und Lehrerfortbildung sollten sich auf den Bereich dieser Denkstufe beschränken. Wo das grundsätzlich oder tatsächlich geschieht, wird eine Verflachung und Erstarrung die notwendige Folge sein. Der Fortgang unserer Erwägungen wird zeigen, daß im Grunde nur der dem Wesen methodischen Denkens gerecht werden kann, der mehr kann als „methodisch“ denken.

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Denkens trotzdem nicht überschätzen und uns seiner Gefahren durchaus bewußt sind, wird der Fortgang unserer Erwägungen zeigen. Denn wir sind noch nicht bis zu den tiefsten Problemen im Bereich von Methode und Stoffordnung vorgedrungen. Indem wir uns dieser Aufgabe zuwenden, dürfen wir unsere Betrachtung auf das methodische Denken einschränken, da das sich hier Ergebende grundsätzlich auch für das ihm so eng verwandte stoffordnende Denken gilt und unschwer sinngemäß darauf übertragen werden kann.

C

Die „Offenheit“ des methodischen und stoffordnenden Denkens im Verhältnis zu außerpädagogischen Bezirken

Wir bezeichneten es als Aufgabe des methodischen Denkens, Wege zu einer bildenden Bewegung von Kind und Inhalt zu ersinnen. Das setzt natürlich zunächst eine mehr oder minder intensive Einsicht in diese beiden Momente voraus. (Solche Einsicht ist nicht immer, aber doch oft „Wissen“ im Sinne rationaler Wissenschaft). Das bedeutet, daß der methodisch Denkende immer wieder den Bereich des Pädagogisch-Methodischen verläßt und sich der Belehrung durch Psychologie oder auch nur Menschenkenntnis, durch die natur- und geisteswissenschaftlichen Einzeldisziplinen oder die ihnen korrespondierenden Lebensbezirke öffnet. Hier liegt einer der unlösbaren echten Zusammenhänge der Pädagogik und der übrigen Wissenschaften bzw. der Lebensmächte, ohne daß daraus für eine der beiden Seiten ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis von der anderen entstünde. Wenn ich über Italien unterrichte, so kann allein die Geographie klare Antwort auf meine Frage nach dem sachlichen Inhalt meines Themas geben. Die sachlogische Gliederung dieses Komplexes jedoch sagt zunächst noch nichts über die methodische Gliederung meines Unterrichts. Darüber gibt mir auch die Psychologie keine Auskunft. Ich werde mich von ihr über kindliche Raumvorstellung, über Konzentrations- und Abstraktionsvermögen usw. belehren lassen. Welche Rolle diese Faktoren aber bei der Unterrichtsgestaltung haben, ist abhängig von verschiedenen nichtpsychologisch erforschbaren Momenten, u. a. von der zuerstgenannten Frage nach dem Wesen der Sache. Wie Sache und Kind aber in der besonderen pädagogischen Situation zueinanderfinden sollen, das ist eine eigenständige pädagogische Fragestellung, eben die des methodischen Denkens. Gehen wir über den Bereich des Unterrichts hinaus in den umfassenden Bezirk der „Erziehungsmethoden“, so erkennen wir, wie das pädagogische Denken sich hier oft Belehrung suchend an Soziologie, Volkskunde, Physiologie und andere Wissenschaften oder die ihnen entsprechenden Lebensbezirke wird wenden müssen. Aber das darf auch hier nicht zu einer Ableitung der Methode oder Stoffordnung von diesen Wissenschaften führen. Innerhalb des

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eigenständigen pädagogischen Sinnzusammenhanges sind alle noch so wichtigen Ergebnisse der Einzelwissenschaften oder Forderungen der Lebensmächte nur Momente, die sich einer Umformung und Einordnung unterwerfen müssen, die nicht mehr von der Systematik der jeweiligen Einzelwissenschaft her bestimmt ist, sondern von einheimischen Prinzipien der Erziehungswissenschaft geleitet wird. Die Eigenart des pädagogischen Denkens, das sich der Ergebnisse der Einzelwissenschaften bedient, bringt es mit sich, daß es bei der Belehrung durch eben diese Wissenschaften nicht stehenbleiben kann. H. Roth10 hat es als das Geheimnis und Prinzip der Methodik bezeichnet, daß sie „den Gegenstand, die Aufgabe, das Kulturgut in seine Ursprungssituation zurückverfolgt und daß sie den Zögling dazu führen soll, das Kulturgut in seiner Werdensnähe zu spüren.“11 Indem das methodische Denken aber dergestalt an die Wurzeln der Inhalte greift, weitet sich die Problematik über einzelwissenschaftlich lösbare Fragestellungen hinaus zu solchen der sogenannten Fachphilosophien (nach einem Terminus Rothackers; Kunstphilosophie, Rechts-, Sprach-, Geschichtsphilosophie usw.12). So kann mich die Aufgabe, in einer der höheren Klassen der Oberschule „Maß“, „Bildung“ usw. zu halten, zunächst auf die Sprachwissenschaft führen. In der methodischen Bearbeitung der hier gewonnenen Ergebnisse aber, in ihrer Reduktion auf die Ursprungssituationen sehe ich mich vielleicht zu der sprachphilosophischen Frage nach dem historischen Charakter der Sprache überhaupt geführt. Ebensogut aber kann man von den methodischen Überlegungen der Gestaltung des Erstleseunterrichts auf sprachphilosophische Fragen stoßen, ja man muß es bei gründlichem Durchdenken des Problems. So zeigt sich, daß methodisches und stoffordnendes Denken im Grunde immer in viel weitgespannteren Zusammenhängen stehen, daß sie letztlich immer etwas zweites und ihre Ergebnisse nur relativ, unter ganz bestimmten Bedingungen gültig sind. Wir erkannten im vorigen die „Offenheit“ des methodischen Denkens, seine Tendenz, über sich selbst hinauszuschreiten. Allerdings verließ das Denken in den bisher beschriebenen Fällen mit dem Hinausschreiten über den engeren Problemkreis der Methode zugleich den Bereich des spezifisch Pädagogischen überhaupt, um die „draußen“ gesammelten Belehrungen dann wieder pädagogischmethodischem Denken einzuordnen. Aber wir brauchen gar nicht aus dem Felde des Pädagogischen hinauszutreten, um das Über-sich-selbst-Hinausdrängen als ein Charakteristikum methodischen Denkens zu erkennen.

10 Roth: a. a. O. 11 a. a. O. 12 E. Rothacker: Logik und Systematik der Geisteswissenschaften. Bonn 1948. S. 35.

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D

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Übergang zur III. Stufe

Durcheilen wir in Gedanken einmal das Feld der Methoden eines bestimmten Unterrichtsbereiches, z. B. des Lesenlernens. Wir sehen uns sogleich vor eine Vielzahl von „Angeboten“ gestellt: Hier treffen wir die Ganzwortmethode Dohrmanns u. a., dort die Ganzsatzmethode Kerns, Brückls u. a.; die Sprechspurmethode gewinnt das Lesenlernen gleichsam als Nebenprodukt des Sprechens und Schreibens („Spurens“), die synthetische Schreiblesemethode baut vom Einzelbuchstaben her auf. Unter einem anderen Aspekt ergibt sich: In dieser Klasse leitet der Lehrer systematisch jeden Einzelschritt des Lesevorganges, während die Kinder „folgen“, in jener scheint der Unterricht ein fröhliches Spiel der Klassengemeinschaft zu sein, das den Einfällen der Kinder weitesten Raum bietet; in den Jena-Plan-Schulen finden wir oft, daß das Lesenlernen der Anfänger unter starker Mithilfe der älteren Gruppenkameraden vor sich geht; andere Klassen zeigen, häufig nach amerikanischem Vorbild, ein großes Maß von Individualisierung, indem sie jedem Kinde in Form von Lesespielen u. ä. Möglichkeit und Anreiz zur Einzelarbeit bieten. – Stellen wir daneben noch Methodenbeispiele aus einem (im engeren Sinne) „erzieherischen“ Bereich, der politischen Erziehung. Hier beherrscht der Lehrervortrag über die Rechte und Pflichten des Staatsbürgers, die Organe des politischen Lebens usw. das Feld – dort stellt sich der Unterricht als Klassendiskussion um aktuelle politische Fragen im Anschluß an Zeitungslektüre dar. Hier hebt der Unterricht in systematisch geleiteter Besinnung am Beispiel des Klassenlebens Grundkategorien jedes organisierten Gemeinschaftsleben ins Bewußtsein13 – dort besucht eine Klasse Stadtparlamentssitzungen, öffentliche Ämter usw. Eine Schule baut ein umfangreiches System der Schülerselbstverwaltung auf, eine andere verbindet staatsbürgerliche Belehrung gelegentlich mit dem Geschichtsunterricht, jene glaubt sich ganz auf den erzieherischen Einfluß der Schüler-Arbeitsgemeinschaften stützen zu können, eine weitere konzentriert die staatsbürgerliche Erziehung um mehrtägige oder mehrwöchige Wanderfahrten oder Landheimaufenthalte, wo Gemeinschaftserlebnis, lebendige Berührung mit Einrichtungen des öffentlichen Lebens und theoretische Besinnung Hand in Hand gehen. Welche Fülle der Methoden! Zwangsläufig ergibt sich die Frage nach den Ursachen einer solchen Vielfalt. Wir können diese Frage hier nicht an Hand der Einzelbeispiele untersuchen. Aber dieser Aufgabe sind wir ohnehin überhoben. Denn die vergleichende Betrachtung der Ergebnisse solcher Einzeluntersuchungen – deren Bedeutung keineswegs geschmälert werden soll – könnte nicht mehr als ein Beleg für Ergebnisse sein, die auch eine phänomenologische Betrachtung 13 Vgl. Th. Litt: Geschichte und Leben. 3., verb. Aufl. Leipzig/Berlin 1930.

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an Hand eines oder weniger Beispiele methodischen Denkens in „ideierender Abstraktion“ ans Licht fördern vermöchte: Eine Methode ist nicht nur abhängig von Ergebnissen der Einzelwissenschaften bzw. der Fachphilosophien, sondern sie enthält immanent immer schon spezifisch pädagogische Vorentscheidungen: Worin besteht der Bildungswert des zu vermittelnden Kulturgutes? Welchen Rang nimmt dieser Wert unter anderen Bildungswerten ein? Welche Rolle soll der Erzieher in dem betreffenden Bildungsvorgang spielen? Und nach mannigfachen solcher möglichen Fragestellungen endlich: Wozu will ich das Kind oder den Jugendlichen überhaupt erziehen, und welchen übergeordneten Prinzipien muß demgemäß jede methodische Erwägung sich anpassen? Wir sehen: plötzlich weitet sich der Horizont über den Kreis des Methodischen hinaus in einen Bereich umfassender pädagogischer Probleme. Was bisher als die einstweilen letzte Problemdimension erschien, die Methoden- und Stoffordnungsfrage, wird jetzt nur noch als ein Moment innerhalb eines viel größeren pädagogischen Zusammenhanges begriffen. Es ist in diesem Zusammenhange „aufgehoben“ im Sinne Hegels, es wird bewußt als mitgestaltend an dem Zusammenhang, aber zugleich als mitgestaltet durch die anderen Momente des Zusammenhanges erkannt. Und das geschieht, indem die letzte unreflektierte, dem pädagogischen Denken bislang von seinem Ursprung her noch anhaftende Voraussetzung problematisch wird und in das Licht kritischer Betrachtung rückt: die Voraussetzung nämlich, daß die gerade in Rede stehende pädagogische Forderung überhaupt, an sich, Bildungswert habe, sinnvoll und pädagogisch gültig sei. Es zeigt sich nämlich, daß der jeweilige Bildungswert, den alle nur über die Methode Nachdenken anerkennen und der bei solcher Übereinstimmung völlig eindeutig zu sein scheint, in Wahrheit ein höchst vieldeutiges Phänomen ist. Die unterschiedliche methodische Durchführung enthüllte der Reflexion, daß die ausgesprochene oder unausgesprochene Voraussetzung des Methodikers: natürlich hat das Lesen, hat die politische Erziehung Bildungswert, im Grunde eine unklare Abstraktion ist. Der Begriff des Bildungswertes steht einer Vielzahl konkreter Deutungen offen. Überspitzt formuliert: Jeder Methodiker erkennt den Bildungswert politischer Erziehung an, aber jeder meint unausgesprochen mit diesem „Bildungswert“ etwas anderes. Und es zeigt sich nun, daß diese konkrete Deutung des Bildungswertes eines bestimmten Kulturgutes mit anderen Wertvorstellungen zusammenhängt und im letzten untrennbar ist von jener personhaft gedachten Werteinheit, jener Vorstellung des „gebildeten Menschen“, die wir Bildungsideal nennen. In diesem Übergreifen des pädagogischen Denkens über den Bereich der Methode und der Stoffordnung haben wir der Struktur nach einen Denkvorgang vor Augen, wie wir ihn schon einmal beim Übergang von der ersten zur zweiten Stufe pädagogischen Denkens antrafen. Mit der Erhellung neuer Zusammenhänge, die

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die früher erörterten übergreifen und in sich aufheben, stehen wir auf der nächsten, der III. Stufe pädagogischen Denkens.

III. Stufe: Erziehungslehre und Didaktik, Geschichte der Pädagogik Im letzten Abschnitt des vorigen Teiles deuteten wir bereits den weiten Problembereich an, den wir mit der neuen Denkstufe betreten haben. Denn der in den anfangs mit den Formeln „Gültigkeit der pädagogischen Forderung“, „Bildungswert eines Gehaltes“ usw. angedeutete Inhalt erweist sich bei genauerer Untersuchung als ein Komplex von innerlich zusammenhängenden Problemen, deren jeweilige Besonderheit und deren Strukturzusammenhang zu untersuchen die Aufgabe der neuen Denkstufe ist.

A

Erziehungslehre und Didaktik

Das pädagogische Denken zeigt sich auf der III. Stufe zunächst in zwei Formen: a) als Erziehungslehre (auch praktische Pädagogik genannt), b) als Didaktik (Bildungslehre14). Die Erziehungslehre beschäftigt sich mit der Fülle der bewußten Maßnahmen und unbewußten Wirkungen, die einen gestaltenden und – wenigstens relativ – dauerhaften Einfluß auf die Gesinnung, die Verhaltensweisen und die Art des Handelns eines oder mehrerer Menschen, insbesondere der Kinder und Jugendlichen, haben. Ihr zentrales Problem wird dabei die sittliche Erziehung bilden. Didaktik als Lehre vom Bildungserwerb im allgemeinen und vom Unterricht im besonderen erhält ihr besonderes Gesicht dadurch, daß es in Bildungserwerb und Unterricht immer – wenn auch nicht allein – um die Vermittlung bzw. Aneignung von „Inhalten“ geht (was keineswegs als bloße Wissensvermittlung mißverstanden werden darf). So macht also die Frage der Bildungsinhalte das Kernproblem der Didaktik aus. Über das Verhältnis von Erziehung und Unterricht und damit das von Erziehungslehre und Didaktik ist hier folgendes zu sagen: Erziehungslehre umfaßt in 14 Die begriffliche Übereinstimmung der hier versuchten Einteilung in Erziehungslehre und Didaktik mit der Einteilung Willmanns (Vgl. „Didaktik“, in: Pädagogisches Lexikon. Bd. 1.) bedeutet nur zum Teil eine inhaltliche Übereinstimmung. Durch das Folgende erübrigt sich m. E. eine Auseinandersetzung mit der Auffassung Willmanns.

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gewisser Weise die Didaktik. Und doch zeigt letztere, daß sie in der Bearbeitung ihres Gegenstandes, des freien Bildungserwerbs und des Unterrichtes, Prinzipien und Kategorien entwickeln muß, die nicht einfach Anwendungsformen von Prinzipien der Erziehungslehre sind. Zwar enthält die Didaktik durchaus Kategorien, die von solchen der Erziehungslehre abgeleitet sind. So finden wir z. B. das Prinzip der Selbsttätigkeit des Kindes, das schon in einer Erziehungslehre auftauchen kann (Pestalozzi, Fröbel) in der Didaktik, u. U. als Prinzip des „Arbeitsunterrichtes“ (etwa im Sinne Gaudigs) wieder. Andererseits enthält die Didaktik eigenständige Kategorien, die sich nur auf Unterricht bzw. Bildung (im engeren Sinne) beziehen, im Bereich der sittlichen Erziehung i. e. S. aber nicht auftauchen. Ein Beispiel hierfür wäre das Prinzip der „Materialgerechtigkeit“ aus der Didaktik des handwerklichen und künstlerischen Lebens und Lernens. Auf der anderen Seite wird die Erziehungslehre möglicherweise bei der Untersuchung des Problems der sittlichen Erziehung auf die Notwendigkeit der Abstraktion stoßen und damit ein Prinzip der Didaktik in ihren Denkzusammenhang aufnehmen. Beide Bereiche, Erziehungslehre und Didaktik, stehen also in enger Verbundenheit und teilweise gegenseitiger Durchdringung zueinander, ohne deshalb ihre relative Selbständigkeit zu verlieren. Die Geschichte der Erziehung bestätigt uns, daß es immer wieder verhängnisvolle pädagogische Folgen gezeitigt hat, wenn das oben angedeutete Verhältnis von Erziehungslehre und Didaktik übersehen und in ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis umgedeutet wurde, oder wenn einheimische Prinzipien eines der beiden Bereiche unkritisch auf den anderen übertragen wurden Man denke z. B. an die Mißdeutung von Herbarts These des „erziehenden Unterrichts“ durch manche Herbartianer, wobei zunächst das Moment „Unterricht“ völlig dem Moment „Erziehung“ untergeordnet wurde unter Verlust seiner Eigenständigkeit, sodann aber die Erziehung sich eine rationalistische Mißdeutung von seiten der Didaktik gefallen lassen mußte. Ein anderes Beispiel wäre die falsche Übertragung des Zuchtprinzips aus der Erziehungslehre der Reformationszeit auf die Didaktik, die dort z. T. zu öder geistiger Reglementierung, Paukerei, sinnlosem Auswendiglernen usw. führte. Auch die neuere Pädagogik bietet uns unerwünscht zahlreiche Beispiele solcher Mißachtung der Grenzen. Wie auf früherer Stufe die methodischen Überlegungen, so erwachsen auch Erziehungslehren und Didaktiken aus den konkreten Bedingungen der pädagogischen Wirklichkeit. Allein umspannen sie von Anfang an einen viel größeren Bereich als das methodische Denken. Die für die III. Denkstufe charakteristische und zentrale Frage nach dem Bildungswert führt, wie wir bereits andeuteten, notwendigerweise in umfangreiche Problemkreise hinein. Wer z. B. die didaktische Frage nach der rechten Stellung des Sachzeichnens im Unterricht beantworten will, der sieht sich sogleich auf die Forderungen der verschiedenen Bildungsmächte (Familie, Beruf,

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Gesellschaft, Kunst usw.) hingewiesen; er selbst muß sich in der „Vorwegnahme“ eine ungefähre Vorstellung vom zukünftigen Lebensbereich seiner Zöglinge zu machen versuchen, er muß das Verhältnis zu anderen Bildungsforderungen überdenken usf. Um daneben ein Beispiel aus dem Bereich der Erziehungslehre anzuführen, sei nur auf das Problem der Strafe hingewiesen. Da methodisches Denken aus innerer Konsequenz in die übergreifenden Zusammenhänge von Didaktik und Erziehungslehre mündet und faktisch ständig von daher modifiziert wird, ist didaktisches Denken (als „didaktische Analyse“) und erziehungstheoretisches Denken (als „pädagogische Situationsanalyse“) eine ständige Aufgabe des Praktikers. In umfassender und systematischer Form begegnet uns die didaktische und erziehungstheoretische Reflexion bei denjenigen Denkern, die umfassende Erziehungs- oder Unterrichtssysteme in Vorschlag bringen, mindestens für gewisse Bezirke der Erziehungswirklichkeit oder auch nur (= Irrtum) einzelner Unterrichtsfächer. Rudolf Hildebrand und Berthold Otto, Gaudig und Hermann Lietz, Grundtvig und Kerschensteiner – um nur einige zu nennen – sind in diesem Sinne „Erziehungslehrer“ bzw. Didaktiker. Keines der „Systeme“ der genannten oder anderer Denker hat sich als allein gültig durchgesetzt, keines ist im Laufe der Zeit unkorrigiert geblieben. Allein, das ist nicht ein Fehler dieser Systeme als einzelner – braucht es wenigstens nicht zu sein. Vielmehr liegt diese „Unvollkommenheit“ im Wesen des Denkens auf dieser Stufe – wie auf allen vorhergehenden – selbst begründet. Es ist unbeschadet seiner Tendenz zur Systematik immer konkret, an bestimmte Verhältnisse gebunden, von bestimmten Bildungsidealen gesteuert, ist immer verantwortliche Entscheidung in einer geschichtlichen Situation. Mit dieser Erkenntnis eröffnet sich der Blick in die eigentliche Tiefe der III. Denkstufe. Der „Gegenstand“ des pädagogischen Denkens hat sich im Fortgang eben dieses Denkens entwickelt und ist mit dem Eintritt in die III. Stufe als die umfassende, konkrete Erziehungs- und Bildungsaufgabe begriffen worden; jetzt stehen wir im Verlaufe des Denkens innerhalb dieser Stufe an der Stelle, wo sich dieser Gegenstand als historisches Phänomen erweist. Was E. Weniger für die Didaktik sagt, können wir sinngemäß auf die ganze III. Denkstufe übertragen: „Der Bedeutungs- und Wirkungszusammenhang, den die Didaktik zu erfassen sucht, ist aber ein geschichtlicher, d. h. er ist nicht nur aus der Oberfläche seiner jeweiligen Form zu verstehen, und er wandelt sich in der Zeit, im Ganzen und in jedem seiner einzelnen Momente“.15 „Mit der These der Geschichtlichkeit des Gegenstandes ist dreierlei gemeint: erstens, daß das Ganze der geistig-geschichtlichen Welt immer auch in diese seine Bestandteile hineinwirkt und sie an seinem Wandel teilneh15 E. Weniger: Didaktik als Bildungslehre. T. 1: Theorie der Bildungsinhalte und des Lehrplans. Weinheim 1952. S. 6.

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men läßt; zweitens, daß der Zusammenhang des Bildungsgefüges als ein eigener Bedeutungs- und Wirkungszusammenhang eine nur aus seinen Voraussetzungen zu verstehende Entwicklung, einen Fortgang in seiner eigenen Struktur hat, in die dann die Betrachtung eindringen muß; drittens endlich daß von diesem geschichtlich fortschreitenden Strukturzusammenhang, wie von jedem Teilgebiet der geistiggeschichtlichen Wirklichkeit, Rückwirkungen auf den Gesamtzusammenhang ausgehen, Umwandlungen der allgemeinen Struktur des Lebens“.16

B

Geschichte der Pädagogik

Seitdem der menschliche Geist überhaupt das Bewußtsein seiner Geschichtlichkeit entwickelt hatte, konnte grundsätzlich auch dem pädagogischen Denken, wenn es bis zu der jetzt in Rede stehenden systematischen Stufe gelangte, die Einsicht in seine Geschichtlichkeit nicht mehr verborgen bleiben.17 An dieser Stelle erhält also die Geschichte der Pädagogik ihren systematischen Ort im Ganzen des pädagogischen Denkens, und zwar zugleich als Geschichte der Erziehungswirklichkeit wie der pädagogischen Theorie, insofern beide Momente ja schon vom ersten Augenblick pädagogischen Geschehens an einander zugeordnet sind und sich miteinander entwickeln, wie auch unsere eigene Untersuchung lehrt. Zugleich aber – und das ist nun von entscheidender Bedeutung – erweist sich die Geschichte der Pädagogik als ein integrierender Bestandteil der Erziehungswirklichkeit und der pädagogischen Theorie selbst. Sie ist nicht nur Historie eines Geschehens, das auch ohne sie weiterliefe und von ihr unbeeinflußt bliebe. Vielmehr verhilft die Geschichte der Pädagogik dem pädagogischen Denken in der konkreten Situation zum Selbstverständnis, klärt die jeweilige Lage und die in ihr wirksamen Motive und beeinflußt damit das aus der Besinnung resultierende Handeln entscheidend. Da das Pädagogische aber kein isolierter Bereich der Kultur, sondern ein aufs innigste mit allen anderen Bereichen verflochtenes, ja direkt auf sie bezogenes Moment ist, so „ist also eine Schau der Gesamtkultur anzustreben, in der die Erziehung und das pädagogische Denken tatsächlich wurzeln, aus der heraus sie immer neue Gestalt und Impulse gewinnen und auf die sie selbst wieder verwandelnd einwirken“.18 „Schon die geistigen Gehalte, mit denen es der Unterricht auf den verschiedenen Gebieten (nicht nur im Geschichtsunterricht) zu tun hat, sind ja 16 a. a. O. S. 9. 17 In systematischer Klarheit ist das m. W. zum ersten Mal in der Pädagogik Schleiermachers ausgesprochen worden. 18 A. Reble: Geschichte der Pädagogik. Stuttgart 1951. S. 11.

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Niederschlag der gesamten Kulturentwicklung. So sind in unserem gegenwärtigen Dasein die Grundmotive der ganzen abendländischen und speziell der deutschen Geschichte – Antike, Christentum, Renaissance, Aufklärung usw. – ineinander verschmolzen, all ihre Töne klingen mit in der Symphonie unseres jetzigen Lebens, gerade auch des pädagogischen Lebens. Der Erzieher muß also ein Bild haben von diesen allgemeinen, grundlegenden Lebenstendenzen, von ihrer Ausprägung und Auswirkung … Wenn aber eine solche Betrachtung dem Gesamtleben wirklich gerecht werden will, darf sie weder einseitig an der Ideengeschichte noch einseitig an der ökonomisch-soziologischen oder politischen Entwicklung orientiert sein; sie muß darauf verzichten, die eine Lebenssphäre grundsätzlich von der anderen ableiten zu wollen“.19 Gegen die im vorigen vollzogene Einordnung der Geschichte der Pädagogik in den Stufengang des pädagogischen Denkens scheint sich sogleich ein Einwand zu erheben. Nehmen doch zahlreiche ausgesprochen methodische Arbeiten in der Pädagogik, meist einleitend, Bezug auf die geschichtliche Entwicklung eben des Bereiches, mit dem sich die betreffende Arbeit befaßt. Der Schluß liegt nahe, daß das erziehungsgeschichtliche Denken also nicht der III. Stufe zuzuordnen ist, sondern schon im Bezirk methodischen und stoffordnenden Denkens seinen Ursprung hat oder gar völlig außerhalb des hier zu behandelnden Stufenganges liegt. Allein dem ist nicht so. Wo immer nach der geschichtlichen Entwicklung einer pädagogischen Methode gefragt wird, da hat der Denkende, bewußt oder unbewußt, bereits die Einordnung alles Methodischen in einen größeren Problemhorizont erkannt, eine Einordnung, die sich uns im Fortgang unserer Erwägungen von der II. zur III. Stufe ergab. So schafft sich der betreffende Denker in richtiger Erkenntnis der Abhängigkeit des methodischen Denkens von nicht methodisch faßbaren Zusammenhängen erst den übergeordneten Rahmen, innerhalb dessen er dann, gleichsam auf der nunmehr gesicherten „niederen“ Ebene, rein methodisch weiterdenken kann. Wenn unsere Überlegungen richtig sind, so ergibt sich für die Erziehungslehre und Didaktik eine unausweichliche Konsequenz: Sie sind nicht möglich ohne das breite Fundament der Geschichte der Pädagogik. Konkreter: Die Verfechter bestimmter Erziehungssysteme und die Lehrplangestalter müssen sich zunächst mit der Geschichte der Pädagogik befassen! Gerade wem es ein ernstes Anliegen ist, den reichen Ertrag der sogenannten Reformpädagogik der letzten Jahrzehnte zu sichten und auszuwerten, wird in der umfangreichen Literatur dieser Bewegung, soweit sie der Erziehungslehre und Didaktik zugerechnet werden muß, oft den Mangel an befriedigender Grundlegung in der Geschichte der Pädagogik bemerken müssen. An deren Stelle treten oft außerpädagogische Prinzipien, die der Philosophie, Psy19 a. a. O. S. 12.

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chologie, Biologie, Soziologie usw. entnommen werden. Diese Tatsache erschwert die rechte Würdigung oft erheblich, fordert uns aber gerade deshalb immer wieder auf, das pädagogisch Echte dieser Bewegung wissenschaftlich zu erforschen und nach dem auch in unserer Situation noch Gültigen zu fragen.

C

Die „Offenheit“ der III. Stufe in ihrem Verhältnis zu den Bildungsmächten und den Wissenschaften

Der Übergang zur III. Stufe hatte sich für uns als notwendig ergeben, sobald das Problem des Bildungswertes auftauchte, das nun aus seiner fraglosen Selbstverständlichkeit als Voraussetzung der früheren Stufen heraus ins Bewußtsein trat und „fragwürdig“ wurde. Dieser gemeinsame Problemkern erlaubte uns, Erziehungslehre, Didaktik und Geschichte der Pädagogik als drei Ausprägungen der gleichen Denkstufe zu betrachten. Alle drei standen im Dienste pädagogischer Wertentscheidungen, auch die Geschichte der Pädagogik, insofern sie sich als Bemühung um Selbstverständnis der Erziehungslehre und Didaktik erwies, wobei solches Selbstverständnis nie rein um des Verstehens willen gesucht wird, sondern im Grunde immer im Dienste zukünftigen Handelns steht. Schon die II. Stufe zeigte uns die Tendenz, über sich hinauszudrängen. Dabei führte sie einmal aus dem pädagogischen Bezirk hinaus in andere Lebens- und Wissenschaftsbereiche, um aus ihnen wieder in den pädagogisch-methodischen Denkzusammenhang zurückzukehren; zum anderen aber führte sie innerhalb des Pädagogischen zum Aufstieg zur III. Denkstufe. Auch diese nun zeigt sogleich ihre „Selbstgenügsamkeit“. Die Didaktik z. B. erwies sich, am deutlichsten bei der Lehrplangestaltung, als die jeweils konkrete pädagogische Entscheidung im Hinblick auf die Bildungsforderungen bestimmter Bildungsmächte. Wie sollte sie hier entscheiden, wenn sie diese Bildungsmächte nicht kennt? Wie sollte sie die Bildungsinhalte der Lehre ordnen, wenn sie keinen Einblick in deren Struktur hätte, wie die Einzelwissenschaften und die Fachphilosophien sie uns vermitteln? Wie sollte eine Erziehungslehre zustandekommen ohne Betrachtung der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Erziehung – selbst ein soziologisches Phänomen erster Ordnung – stattfindet? Endlich: Wer kann über die Erziehung des Menschen sprechen, ohne sich über Sinn und Wesen des Menschseins Gedanken gemacht zu haben, ohne andererseits das Faktische am Menschen, besonders am Kind und Jugendlichen, zu beobachten? Die Beispiele genügen, um zu zeigen: Der Weg des Denkens führt auch aus dieser III. Stufe notwendig in das Gebiet der Lebensmächte, der Einzelwissenschaften und Fachphilosophien. Aber auch hier darf auf keinen Fall vergessen werden: Das pädagogische Denken holt sich seine leitenden Prinzi-

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pien nicht von „außerhalb“. Die Tatsächlichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse, der Normcharakter ethischer Werte, die Wesensdeutung des Menschen, die Gesetze der kindlichen Psyche, diese und manche anderen Erkenntnisse gehen zwar in die pädagogische Entscheidung ein, aber sie vermögen weder als einzelne noch als Summe Normen pädagogischen Handelns abzugeben, sondern werden als Momente in das pädagogische Denken einbezogen und fügen sich seiner Eigengesetzlichkeit, die in einem nur dialektisch begreifbaren In-eins-Schauen von Sein und Wollen ihre Wesensmitte hat.20 Man mag diese Schwerverständlichkeit des pädagogischen Denkens bedauern, allein man wird nicht leugnen können, daß sich die Wahrheit seiner Deutung als eines „synthetischen“ Geistesaktes (Einheit von Seins- und Sollenserfassung) an jedem beliebigen pädagogischen Phänomen nachweisen läßt, wohingegen jede „einpolige“ Ableitung (nur vom Sein oder nur vom Sollen her) gegenüber der Erziehungswirklichkeit in unlösbare Schwierigkeiten gerät. Also auch hier ein Hinausschreiten des Denkens in korrelativ mit ihm verbundene Problembereiche und eine bereicherte Rückkehr zu sich selbst, indem das „draußen“ Gewonnene in der nun neu einsetzenden pädagogischen Denkbemühung als Moment aufgehoben wird.21

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Übergang zur IV. Stufe

Fast scheint es, als hätten wir damit den Kreis der Formen pädagogischen Denkens durchschritten. Aber auch auf dieser Stufe gibt es außer der im vorigen Kapitel geschilderten Bewegung des Hinausgehens in Nachbarbereiche und des Zurückkehrens in den eigenen Denkhorizont noch eine Selbstbewegung des pädagogischen Denkens, die zur Begründung einer strukturell neuartigen und selbständigen Stufe führt. Die Vielfalt methodischer Vorschläge drängt das Denken auf der II. Stufe über die Frage nach den Ursachen solcher Fülle dazu, in den erweiterten Problembereich der III. Stufe einzutreten. Die Tatsache, daß sich alle konkreten Erziehungspläne, Erziehungsideale, didaktischen Vorschläge geschichtlich wandeln, läßt das Denken auch auf dieser Stufe nicht zur Ruhe kommen. Am deutlichsten zeigt sich das in den nie aufhörenden Versuchen, allgemeingültige Erziehungsideale und -ziele, zeitlos gültige Didaktiken u. ä. zu formulieren. Die Wirklichkeit geht über solche 20 Litt: a. a. O. S. 100ff. 21 Man wird selbst ohne eine genaue Untersuchung der Parallelität an jene dialektische Bewegung des Hinausgehens der Momente in ihr Anderssein und die Aufhebung des Andersseins in der reflektierten, vermittelten Rückkehr zu sich selbst erinnern dürfen, die in Hegels Philosophie eine so große Rolle spielen.

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Versuche immer wieder rücksichtslos hinweg. Es taucht die Frage auf: Warum dieser nie zum Stillstand kommende Prozeß? Gibt es doch eine allgemeingültige Norm, einen vielleicht außerhalb des Pädagogischen liegenden unwandelbaren Kanon, vielleicht von psychologischen Gesetzen, ethischen Werten u. a.?22 Und wenn man auf die Realität verweist und einfach aus der Tatsache des geschichtlichen Wandels auf die Notwendigkeit schließt, so wird doch immer wieder die Frage nach dem Warum auftauchen. Denn Tatsachen beweisen letzten Endes nichts, sie lassen immer noch die Deutung offen, daß eben alle bisherigen Versuche, allgemeingültige Erziehungsmaximen zu setzen, unvollkommen waren und grundsätzlich durch schlechthin gültige ersetzt werden können. Und wenn der realistische Skeptiker die Möglichkeit jeder allgemeingültigen Aussage über Erziehung leugnet, so wird man ihm entgegenhalten müssen, daß eben diese Leugnung den Anspruch auf Allgemeingültigkeit immanent und unabdingbar in sich trage, womit denn der explizite Sinn der Aussage als falsch erwiesen ist und wenigstens eine allgemeingültige Aussage als möglich zugegeben werden muß. Wie sollte das Denken nun nicht weiter fragen, ob es nicht doch eine Mehrzahl solcher allgemeingültigen Aussagen über Erziehung geben könne? Und wenn nichts anderes die Berechtigung dieser Frage zu beweisen vermöchte, so könnte es die Realität tun, in der wir und viele Generationen vor uns zahllose verschiedene Phänomene als „erzieherisch“ bezeichnen und damit unreflektiert doch den Anspruch erheben, Gemeinsames in ihnen zu finden. Das Problem des Pädagogischen rückt also in eine neue Sicht. Auch sie ergibt sich gewiß letztlich aus den Bedrängnissen der Praxis, auch sie will dem pädagogischen Handeln dienen, aber sie ist nicht mehr im engeren und direkten Sinne „praktisch“. Welches ist das „Wesen“ des Pädagogischen? so fragt das Denken jetzt. Die Fragestellung selbst zwingt uns ein Absehen von konkreten Verhältnissen, von je besonderen pädagogischen Aufgaben auf. Die neue Problemstellung, die auf das Allgemeine, Prinzipielle des Phänomens Erziehung zielt, kennt keine Voraussetzungen mehr. Die III. Stufe griff mit dem Problem des Bildungswertes die letzte unreflektierte Voraussetzung der früheren Stufen auf. Sie versuchte es – als Erziehungslehre und Didaktik – im Hinblick auf bestimmte, historisch gewordene Konstellationen der Erziehungs- und Bildungs22 Man denke z. B. daran, daß noch W. Dilthey seine Bemühungen um eine wissenschaftliche Pädagogik dahingehend versteht, daß er letztere auf die Vollkommenheit von psychischen Elementarprozessen zu gründen versucht, unbeschadet der Tatsache, daß seine Abhandlung „Ueber die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft“ implizit die erste gelungene Strukturanalyse der pädagogischen Wirklichkeit enthält. W. Dilthey: Ueber die Möglichkeit … Gesammelte Schriften. Bd. IX, wieder abgedruckt in: Kleine Pädagogische Texte. H. 3.

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faktoren zu lösen, während die Schwesterdisziplin „Geschichte der Pädagogik“ ihr zum Selbstverständnis verhalf. Nun wird u. a. nach dem Wesen solcher Entscheidungen gefragt, auch nach dem Wesen ihrer offensichtlichen Geschichtlichkeit. Die Allgemeinheit und Voraussetzungslosigkeit solchen Fragens und Denkens macht es zu einem spezifisch philosophischen.

IV. Stufe: Erziehungsphilosophie A

Erziehungsontologie und Methodologie des pädagogischen Denkens

Die Selbstbesinnung der Pädagogik hat in den letzen 30 Jahren immer wieder auf die Frage nach dem Wesen gerade dieser Denkstufe geführt. Wir nennen aus der Fülle der Untersuchungen Frischeisen-Köhlers Buch „Philosophie und Pädagogik“, den Abschnitt: „Die Möglichkeit einer allgemeingültigen Theorie“ in H. Nohls „Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie“, Th. Litts früher genannte Abhandlung, W. Flitners Einleitungskapitel in seine „Allgemeine Pädagogik“ und E. Wenigers Aufsätze „Theorie und Praxis in der Erziehung“, „Die Pädagogische Bewegung und ihre Theorie“, „Neue Erziehung und philosophische Bewegung in Deutschland, „Die Autonomie der Pädagogik“ und „Die Pädagogik in ihrem Selbstverständnis heute“.23 Wir fassen die Hauptergebnisse dieser Untersuchungen hier thesenartig zusammen: 1. Die Kennzeichnung dieser Stufe pädagogischen Denkens als „philosophisch“ bedeutet nicht, daß die Pädagogik von bestimmten philosophischen Systemen abhängig, daß sie angewandte Philosophie wäre. „Philosophisch“ bezeichnet die Art der Fragestellung, die sich auf das Grundsätzliche, Allgemeine, den Sinn und die „zeitlose“ Struktur des Phänomens Erziehung unabhängig von bestimmten Bildungsidealen, Bildungseinrichtungen usw. richtet. 2. Erziehungsphilosophie (Philosophische Pädagogik) bedeutet nicht theoretischrationale Konstruktion, sondern heißt philosophische Besinnung über das geschichtlich gewordene Phänomen der Erziehungswirklichkeit, wie es einerseits im pädagogischen Erlebnis, andererseits in der historischen Entwicklung 23 Wenigers Aufsätze sind wieder abgedruckt in: Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis.

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pädagogischer Ideen, Maßnahmen, Einrichtungen zutage tritt. Die Ergebnisse des pädagogischen Denkens auf allen früher genannten Stufen sind also Material der Untersuchung. 3. Eine solche Besinnung und Strukturanalyse ist nicht als von außen her beschreibende Wissenschaft möglich, sondern setzt immer schon voraus, daß der Philosophierende den Sinn dessen, was Erziehung ist, erlebt und verstanden hat, ihre „Intentionalität“ oder „Teleologie“; daß er also selbst in der erzieherischen Bewegung und Verantwortung steht. 4. Erziehungsphilosophie ist damit nichts anderes als die konsequente Durchführung der jedem pädagogischem Handeln immanenten Rationalität. Sie will dem pädagogischen Handeln dienen, indem sie seine letzten Voraussetzungen und Bedingungen aufhellt, das Gefüge der ihm immanenten Grundbegriffe analysiert und die typischen Möglichkeiten, die sich aus der unterschiedlichen Betonung der einzelnen Momente des Gefüges ergeben können, aufzeigt. 5. Weil Philosophie der Erziehung nur möglich ist, wenn sie in der pädagogischen Verantwortung steht, deshalb treibt es sie selbst, zuletzt immer wieder in den konkreten Zusammenhang einer der früheren Stufen zurückzukehren, um sich dort im Angesicht der Wirklichkeit und vor dem „Koordinatensystem“ der allgemeinen Struktur und der typischen Möglichkeiten verantwortlich zu entscheiden. Die Erziehungsphilosophie erweist sich also als Fachphilosophie analog der Kunst-, Rechts-, Religionsphilosophie usw. Auch sie enthalten die konsequente Durchführung der den betreffenden Kulturgebieten immer schon immanenten Besinnung auf allgemeinster Stufe. Die Erziehungsphilosophie will zunächst zum Aufweis eines allgemeinen übergreifenden Strukturzusammenhanges in den erzieherischen Phänomenen gelangen, auf den sie mit Hilfe allgemeiner Begriffe, wie „pädagogischer Bezug“, „Zögling“, „Erzieher“, „Erziehungsgemeinschaft“, „Bildungsideal“, „Bildungsgut“, „Bildsamkeit“, „Bildungsmittel“, „Führung“, „Hilfe“, „Gewöhnung“, „pädagogischer Weg und Methode“ usw., hindeutet. Als Strukturanalyse der Seinswerte von Erziehung erscheint die Erziehungsphilosophie also zunächst als Ontologie der Erziehung, wobei das Sein, das hier auf seine allgemeinen Prinzipien untersucht wird, ein ausgesprochen geistiges Sein ist. Die genannten Grundbegriffe der Erziehungsphilosophie beziehen sich auf die Erziehungswirklichkeit als den Inbegriff pädagogischer Vorgänge und erzieherischen Handelns. Die Erziehungswirklichkeit erschöpft sich aber nicht im durchgängigen Handeln. Vielmehr findet die philosophische Reflexion als weiteres, entscheidendes Moment der pädagogischen Realität eben das pädagogische Denken vor, dessen Stufengang wir in unseren eigenen Überlegungen durchschritten haben

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bzw. noch durchschreiten. Damit entsteht der Erziehungsphilosophie ein neuer Aufgabenbereich, zur Ontologie der Erziehung tritt die Methodologie, die Lehre vom pädagogischen Denken. Die Untersuchung dieses Problems ergibt, daß es sich um drei korrelativ miteinander zusammenhängende „Teilaufgaben“ handelt: a. Die Strukturanalyse des allgemeinen Wesens pädagogischen Denkens, wie sie Th. Litt in der eingangs genannten Studie geleistet hat. b. Die Strukturanalyse einzelner Formen und Stufen des pädagogischen Denkens, wie sie Flitner, Roth, Reichwein, Weniger, Frischeisen-Köhler, Nohl u. a. vorgelegt haben.24 c. Die Strukturanalyse des Zusammenhanges dieser pädagogischen Denkformen bzw. Stufen. Diesem Problem waren unsere Überlegungen vor allem gewidmet.

B

Das Problem der Allgemeingültigkeit erziehungsphilosophischer Aussagen

Gegen die früher aufgestellten Behauptung, die Erziehungsphilosophie strebe nach allgemeinen und zeitlos gültigen Aussagen und sei dieser grundsätzlich auch fähig, wird sich der Vorwurf erheben, mit einer solchen Zielsetzung verfalle man in den alten Fehler einer Verabsolutierung von Erkenntnissen, die, wie alle menschlichen Leistungen, doch dem Schicksal der Geschichtlichkeit unterliegen, die das historische Denken seit Herder mehr und mehr als das Charakteristikum des Menschen erkannt habe. Erstens gehe die Erziehungsphilosophie doch nach ihrem eigenen Zeugnis immer von der geschichtlich gewordenen Erziehungswirklichkeit aus, die also eine jeweils neue ist. Zweitens sei es doch eine Tatsache, daß auch die philosophischen Aussagen über Erziehung sich im geschichtlichen Prozeß gewandelt hätten, daß es also eine Geschichte der Erziehungsphilosophie gebe. Damit werde auch die früher vollzogene Einordnung der Erziehungsgeschichte in die III. Denkstufe (als „Tiefendimension“ von Erziehungslehre und Didaktik) hinfällig. Historisches Denken umfasse vielmehr auch die letzte Stufe pädagogischen Denkens, die Erziehungsphilosophie. Die hier erhobenen Einwände können nicht ernst genug genommen werden und bedürfen genauer Erwägung.

24 Es zeigt sich also, daß die genannten Arbeiten nicht etwa Methodiken, Erziehungslehren, Didaktiken usw. waren, sondern Theorien der Methodik, Erziehungslehre, Didaktik usw., folglich der Stufe der Erziehungsphilosophie zugehörten.

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1. Zunächst müssen wir noch einmal daran erinnern, daß die Möglichkeit allgemeingültiger Aussagen nur für die letzte, die philosophische Stufe des pädagogischen Denkens behauptet wurde. Dagegen war es gerade eines der wesentlichen Anliegen unserer (erziehungsphilosophischen) Untersuchung, die Geschichtlichkeit des Denkens auf allen früheren Stufen als einen entscheidenden Wesenszug nachzuweisen, der sich aus der Struktur dieser Denkstufen, und das heißt zugleich der von ihnen untersuchten „Gegenstände“, ergab. Das Denken auf diesen früheren Stufen dient immer direkt pädagogischen Wertentscheidungen. Das erziehungsphilosophische Denken dient ihnen nur indirekt. Direkt und primär erstrebt es reine, wertfreie Strukturerkenntnis. Dieser Wesenszug, zusammen mit dem der Voraussetzungslosigkeit und Universalität, macht den entscheidenden Unterschied der IV. Denkstufe zu den drei vorangehenden aus. 2. Die kritischen Einwände, die im Namen der „Geschichtlichkeit“ gegen die „Allgemeingültigkeit“ erhoben werden, übersehen zunächst offenbar eine Tatsache: Sie wollen selbst allgemeingültig sein. Sie machen also implizit den Anspruch auf wenigstens eine allgemeine und zeitlos gültige Aussage über Erziehung und pädagogisches Denken: daß es keine zeitlose Wesensstruktur des Phänomens Erziehung gebe, die der menschliche Geist zu erkennen vermöchte. Diese negative Aussage positiv formuliert würde lauten: Das Phänomen Erziehung unterliegt auch in seinem Wesen beständigem Wechsel, damit auch die philosophische Erkenntnis dessen, was Erziehung sei. Dann aber ist auch die Aussage, Erziehung und Erziehungsphilosophie sind geschichtlich – geschichtlich, d. h. wandelbar und ohne Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Das aber hebt die Behauptung als solche auf, so daß sie die gegnerische Aussage – es gibt eine allgemeine, zeitlose Struktur der Erziehung, und sie ist erkennbar – wenigstens als eine mögliche Auffassung dulden müßte. 3. Ist mit der eben vollzogenen „Peritrope“ (Spießumdrehung) zunächst die logische Möglichkeit allgemeingültiger Aussagen einwandfrei als denkbar erwiesen, so tritt nun eine schon einmal angestellte Überlegung hinzu, die auch die faktische Möglichkeit beweist: Wie wollte der Relativist die unbestreitbare Tatsache deuten, daß Millionen von Menschen von „Erziehung“ sprechen, heute, gestern und vor tausend Jahren? Wenn die Spartaner ihren Knaben zeitweilig Diebstahl erlaubten, um sie listig und geschickt zu machen, so halten wir das heute zwar für „falsch“, besser: unsern Erziehungsidealen widersprechend; aber wir sagen doch, daß es sich auch hier um Erziehung handelt. 4. Nun könnte man immerhin noch die Auffassung vertreten, daß es zwar nach dem vorigen eine zeitlose Struktur des Phänomens Erziehung geben müsse, daß eben diese zeitlose Aussage aber doch die letzte dem menschlichen Erkenntnisvermögen erreichbare sei, während ihm alle weiteren allgemeingültigen inhalt-

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lichen Aussagen versagt bleiben müßten. Das wäre die erkenntnistheoretische Position Kants in der Anwendung auf unser Problem: Es muß aus den eben erwähnten Gründen ein „Ding-an-sich“, das heißt hier: eine zeitlose Struktur der Erziehung, geben, aber sie bleibt unserer Erkenntnis letztlich verschlossen. Aber es gibt Beweise gegen diese Auffassung. Wir wollen das an einem Beispiel deutlich machen: Die Erziehungsphilosophie (als Ontologie) beansprucht Allgemeingültigkeit für die Aussage, daß ein Wesensmoment des Phänomens Erziehung die „Bildsamkeit des Zöglings“ sei. Die Allgemeingültigkeit dieser Aussage wird dadurch unbestreitbar bewiesen, daß es unmöglich ist, auch nur ein einziges reales pädagogisches Geschehen verständlich zu machen ohne die Voraussetzung der Bildsamkeit des Zöglings. Wo man sie nicht ausgesprochen oder unausgesprochen voraussetzt oder voraussetzen kann, gibt es überhaupt keine Erziehung. Bildsamkeit des Zöglings ist eine der zeitlosen Bedingungen der Möglichkeit der Erziehung. Dieses Beispiel muß hier als Paradigma des Beweisverfahrens genügen, mit dem die Erziehungsphilosophie ihre Aussagen einsichtig macht. Sie versucht nachzuweisen, daß ihre mit dem Anspruch der Allgemeingültigkeit auftretenden Sätze und Kategorien die Bedingungen der Möglichkeit von Erziehung überhaupt sind. 5. Der Hinweis der Kritik, daß es doch eine geschichtliche Erziehungsphilosophie gegeben habe und weiterhin geben werde, ist durchaus richtig. Dabei ist zu bedenken, daß es eine sich als autonom begreifende Erziehungswissenschaft erst seit ungefähr 50 Jahren gibt, was nicht ausschließt, daß auch frühere Denker Erkenntnisse gewonnen haben, die im Rahmen einer autonomen Erziehungswissenschaft und Erziehungsphilosophie Gültigkeit behalten. Es sollte aber auch gar nicht behauptet werden, daß jede im Bereich der Erziehungsphilosophie gemachte Aussage zeitlos gültig sei, also nicht berichtigt oder als falsch erwiesen werden könnte. Es gilt hier, Geltungscharakter und Inhalt einer Aussage zu unterscheiden. Grundsätzlich steht die Erziehungsphilosophie – wie alle Philosophie – unter dem Gesetz eines „zeitlosen“ Geltungscharakters. Das heißt: Wer philosophische Aussagen macht, möchte, daß ihr Inhalt zeitlos gültig ist und als solcher anerkannt wird. Er fragt ja als Philosophierender nach dem „Wesen“, nach der zeitüberlegenen Struktur des Seins (im weitesten Sinne). Er unterstellt seine Aussagen damit einer Kritik, die sie am gleichen Maßstabe mißt. So bewiesen wir vorhin, daß die Behauptung der absoluten Geschichtlichkeit jeder erziehungsphilosophischen Erkenntnis notwendig, als philosophische Aussage, zeitlose Allgemeingültigkeit beanspruche. Unbeschadet dieses ihres Geltungscharakters, der ihr also als philosophischer Aussage a priori zukommt, zeige sich, daß der Inhalt der Aussage logisch unhaltbar war, weil er die Aussage als solche aufhob.

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Nehmen wir ein zweites Beispiel hinzu. Es ist die erziehungsphilosophische Aussage möglich und tatsächlich gemacht worden, daß Erziehung nur vom Boden einer bestimmten Konfession oder Weltanschauung aus und innerhalb ihrer möglich ist, d. h., daß Erzieher und Zögling letztlich auf dem gleichen konfessionellen oder weltanschaulichen Fundament fußen müssen. Diese Aussage ist, wie die oben kritisierte, ihrem Geltungscharakter nach allgemeingültig und zeitlos. Aber ihr Inhalt ist unrichtig oder wenigstens einseitig. Denn: hört die erzieherische Verantwortung auf, wenn diese gemeinsame Basis nicht vorhanden ist? Und gibt es nicht viele Beispiele dafür, daß diese angeblich unumgänglich notwendige gemeinsame Basis von Erzieher und Zögling in der Erziehungswirklichkeit nicht vorhanden oder noch gar nicht akut ist?25 Also: die Aussage war erziehungsphilosophisch, aber sich hat sich als unrichtig erwiesen. So wird nun deutlich, warum es, unbeschadet der Möglichkeit allgemeingültiger erziehungsphilosophischer Aussagen, eine Geschichte der Erziehungsphilosophie geben kann und immer geben wird. Den Rang einer allgemeingültigen Erkenntnis werden alle die Aussagen beanspruchen dürfen, ohne die das Phänomen Erziehung nicht verstanden werden kann. Wie groß die Zahl solcher Erkenntnisse ist, kann nicht vorausgesagt werden. So ist denn mit der Behauptung, es gebe allgemeingültige erziehungsphilosophische Aussagen, nicht zugleich die Behauptung gesetzt, daß es auch ein zeitlos gültiges System der Erziehungsphilosophie geben müsse oder schon gäbe, das keiner Verbesserung oder Erweiterung fähig oder bedürftig wäre.26 Die Bedeutung, die der zeitlose Geltungscharakter erziehungsphilosophischer Aussagen hat, wird besonders deutlich, wenn wir noch einmal einen Blick auf den Geltungscharakter der früheren Stufen des pädagogischen Denkens werfen. Der Geltungscharakter einer Erkenntnis ergibt sich aus der Besonderheit der Fragestellung und damit der Besonderheit des „Gegenstandes“. So fragen z. B. Erziehungslehre und Didaktik nach konkreten Erziehungsprinzipien, nach pädagogisch bedeutsamen Kulturwerten, Kulturgütern für bestimmte Erziehungseinrichtungen in einer bestimmten Kultur und in einer bestimmten Zeit. Ihre Frage war zunächst nicht: Wie, wozu, wodurch soll man zu allen Zeiten erziehen? sondern: Was ist heute und hier, in dieser Zeit und in diesen Verhältnissen pädagogisch notwendig? Wenn sich Erziehungslehre und Didaktik dieser ihrer Ausgangsposition bewußt sind, dann werden sie ihre Aussagen 25 Vgl. E. Weniger „Der pädagogische Streit und die Wirklichkeit der Erziehung“ und „Glaube, Unglaube und Erziehung“, in: Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis. S. 88–98, 99–122. 26 Vgl. auch W. Flitner: Allgemeine Pädagogik. 2. Aufl. Stuttgart 1950.

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im Bewußtsein ihres ausgesprochen historischen Geltungscharakters machen, werden geschichtliche Wertentscheidungen vorbereiten und treffen, ohne den Anspruch der Erziehungsphilosophie auf zeitlose, „reine“ Erkenntnisse in Verkennung der logischen Strukturunterschiede kopieren zu wollen. 6. Mit dem vorigen ist zur Genüge der Beweis erbracht, daß man die Erziehungsphilosophie dem historischen Denken nicht systematisch unterordnen kann. Die Unhaltbarkeit dieser Forderung ergäbe sich jedoch schon aus der Tatsache, daß das philosophische Denken (also auch das erziehungsphilosophische) die Geschichte und das geschichtliche Denken (also auch die Geschichte der Pädagogik) zu seinem „Gegenstande“ machen kann. Es kann nach dem Wesen der Geschichte und des historischen Denkens fragen. Die Geschichte dagegen kann nicht nach dem Wesen des erziehungsphilosophischen Denkens fragen, kann das Erziehungsphilosophische nicht zu ihrem Gegenstande machen. Die Geschichte der Pädagogik bleibt also der Erziehungsphilosophie systematisch untergeordnet.

C

Die Selbstbewegung des pädagogischen Denken und ihre Vollendung im Sich-selbst-Begreifen

Blicken wir von dem erreichten Punkte noch einmal zurück auf das Ganze unserer Untersuchung, so zeigt sich unser „Gegenstand“, das pädagogische Denken, in einer Art Selbstbewegung, die von der ursprünglichen Form des unmittelbaren Denkens aus mit innerer Notwendigkeit weiterführte bis zu der jetzt erreichten Stufe der Erziehungsphilosophie. Das Fortschreiten von Stufe zu Stufe ergab sich aus der Aufhebung immer weiterer Voraussetzungen, bis die letzte Stufe dann, echt philosophisch, voraussetzungslos nach dem „reinen Wesen“ zu fragen vermochte. Die jeweils höheren Stufen stehen zu den früheren in folgendem Verhältnis: Einerseits wird die frühere Stufe in der höheren „aufgehoben“ (im Sinne Hegels), d. h. a. sie verliert die bis dahin alleinige Gültigkeit, b. sie bleibt als Moment in dem umfassenden Zusammenhang der neuen Stufe erhalten27; andererseits ist mit der Aufhebung in der höheren Stufe doch die spezielle Fragestellung der niederen nicht schon beantwortet. Sie bleibt gleichsam Eigentum 27 G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Bd. I. S. 94 (Philosophische Bibliothek. Bd. 56. Hrsg. von Georg Lasson.).

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der niederen Stufe und kann nur von ihr beantwortet werden. Jede höhere Stufe greift u. U., ohne sich das ausdrücklich klarzumachen, die der niederen Stufe immanenten Voraussetzungen auf und sieht in eben diesen Voraussetzungen das jeweils neue, entscheidende Problem. Das Denken vollzieht diese fortschreitende Erkenntnis immer im Blick auf die Erziehungswirklichkeit, die uns zunächst als pädagogisches Handeln und Geschehen, zuletzt aber als pädagogisches Denken entgegentrat. Damit aber ergibt sich, daß der Selbstbewegung des pädagogischen Denkens eine Selbstbewegung des pädagogischen Gegenstandes entspricht, der also für das Bewußtsein der einzelnen Stufen jeweils etwas anderes ist und selbst erst im Laufe der ganzen Denkbewegung das wird, als was er zuletzt, auf der Stufe der Erziehungsphilosophie, erkannt und untersucht wird. Dieser letzten Stufe kommt dank ihres philosophischen Charakters eine Sonderstellung zu, insofern sie alle früheren Stufen in sich aufzunehmen, ihre jeweilige Struktur und ihren Zusammenhang zu ergründen vermag. In der Parallele zu Hegels Terminologie könnte man sagen, daß das pädagogische Denken auf den ersten drei Stufen zwar schon an sich die Wesenszüge des pädagogischen Seins erfaßt, aber dieses Wesentliche noch nicht für sich hat, d. h. selbst noch nicht um dieses schon faktisch getätigte Wissen und Erkennen weiß. Eben dieses Für-sich-Werden, dieses Sich-selbst-Erschließen des pädagogischen Denkens eignet sich im Verlaufe der IV. Stufe, wo sie bis zu methodologischer Besinnung gelangt ist. Wir erkennen, daß die Scheidung von pädagogischer Ontologie und Methodologie des pädagogischen Denkens nur eine vorläufige Arbeitshypothese war. Es gibt kein pädagogisches Sein ohne pädagogisches Denken, aber auch kein pädagogisches Denken, das losgelöst wäre vom pädagogischen Sein. Wir haben nun noch einen abschließenden Denkschritt zu tun. Im vorhergehenden Abschnitt blickten wir auf den gesamten von uns durchschrittenen Stufengang des pädagogischen Denkens zurück und versuchten, Wesen und Aufgabe der letzten Stufe, der Erziehungsphilosophie, zu bestimmen. Konsequentes Denken kann nicht umhin, nun die Frage zu stellen: Wo haben eben diese Erwägungen über die Erziehungsphilosophie ihren systematischen Ort in dem beschriebenen Stufenaufbau oder im Verhältnis zu ihm? Daß diese Fragestellung ihr gutes Recht hat, wird an folgendem besonders deutlich: Wir haben früher unsere eigene Erörterung selbst in den Stufengang eingeordnet; wir sagten, sie sei Erziehungsphilosophie, innerhalb ihrer speziellen Methodologie, innerhalb dieser aber widme sie sich vor allem der dritten methodologischen Grundfrage, derjenigen nach dem Strukturzusammenhang der pädagogischen Denkformen.28 Wir haben damit eine Aussage über uns selbst gemacht, haben über uns selbst als Philosophierende reflektiert und 28 Vgl. die Aussagen zur Erziehungspilosophie.

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damit unsere Selbsteinordnung schon wieder überstiegen (transzendiert). Was wir demgegenüber in diesem Augenblick tun, ist, daß wir uns der soeben festgestellten Tatsache bewußt werden. Formelhaft ausgedrückt: Wir denken jetzt bewußt über das Denken (Methodologie) des „Denkens über oder in pädagogischem Handeln und Geschehen“ (Didaktik, Erziehungslehre, Methodik und Stoffordnung, unmittelbares pädagogisches Denken) nach. Bedeutet das ein Aufsteigen zu einer neuen Denkstufe, die gleichsam „transphilosophisch“ wäre? – Wenn wir diese Frage bejahten, wäre nicht abzusehen, wo dieses Sich-selbst-Transzendieren, diese Selbstaufstufung des Geistes jemals einen Abschluß finden sollte. Denn immer wieder gibt es ein „Denken über“, der Prozeß der Selbstbesinnung kann nicht irgendwo willkürlich abgebrochen werden. Aber damit ist nicht gesagt, daß es sich hierbei tatsächlich jeweils um eine neue Stufe des Denkens in dem Sinne handelt, wie wir den Übergang von einer Stufe zur nächst höheren bisher faßten: als bewußten Verzicht auf früher gemachte Voraussetzungen und ein denkendes Bemühen um solche Voraussetzungen und scheinbare Selbstverständlichkeiten. Die Eigenart der Stufe der Erziehungsphilosophie und ihr grundsätzlicher Unterschied zu allen früheren Stufen erwies sich darin, daß sie endgültig auf jede Voraussetzung verzichtete. Das aber bedeutet, daß dieses Denken schon im Ansatz „unendlich“, universal ist, daß sie grundsätzlich keine Setzung oder Feststellung stehenlassen kann, ohne über eben diese Feststellung erneut nachzudenken. So kann philosophisches Denken auch nicht an sich selbst vorübergehen, es kann sich selbst nicht unreflektiert hinnehmen, sondern muß die Tatsache des eigenen Denkens immer erneut einem übergreifenden Denken unterwerfen. Aber dieses übergreifende Denken bleibt dem ihm unterworfenen doch insofern verwandt, als es mit ihm die Voraussetzungslosigkeit teilt und also nur die Konsequenz dessen darstellt, was philosophisches (in diesem Falle erziehungsphilosophisches) Denken an sich schon vom ersten Ansatzpunkt ist. So rollt philosophisches Denken gleichsam unaufhörlich aus eigener Schwungkraft weiter, macht sich stets selbst zum Problem und bleibt doch immer – Philosophie.29 Das pädagogische Denken ist in seinem Fortgang durch die verschiedenen Stufen und Denkformen mit den letzten Überlegungen „zu sich selbst“, ist aus dem „An-sich“ zum „Für-sich“, zum Sichselbstwissen gekommen. Es weiß nun um den Sinn und die notwendige Funktion seiner selbst auf den verschiedenen 29 Die soeben durchgeführten komplizierten Erwägungen sind in allgemein-philosophischem Zusammenhang und in bewußter Anknüpfung an Hegel in den philosophischen Werken Th. Litts mit großer Klarheit und Eindringlichkeit durchgeführt. Vgl. Einleitung in die Philosophie. 2., verb. Aufl. Stuttgart 1949, bes. S. 1–32; Mensch und Welt. Grundlinien einer Philosophie des Geistes. München 1948, bes. S. 214ff.; Denken und Sein. Stuttgart 1948, bes. S. 120–166.

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Stufen. Es hat sich dabei keinen Augenblick von den erzieherischen Phänomenen entfernt und sich in „Spekulationen“ oder Deduktionen aus außerpädagogischen Prämissen verloren, sondern ist nur dem Zwang der Sache selbst gefolgt. Daß es dabei zuletzt in eine Selbstbestimmung mündete, die offensichtlich gar nicht auf das pädagogische Denken beschränkt ist, sondern als Wissenschaftstheorie von allem wissenschaftlichem Denken schlechthin gilt, kann ihr wohl kaum zum Nachteil gereichen. Man wird darin vielmehr die echte Beziehung von Pädagogik und allgemeiner Geistesphilosophie erblicken dürfen.

Schluß Dem ganzen hier vorgelegten Gedankengang gegenüber wird sich vielleicht der Einwand erheben, daß die reinliche Scheidung der in dem beschriebenen Stufengang aufgezeigten pädagogischen Denkformen sich in der Wirklichkeit nie vorfinde. In der Tat verschlingen sich die verschiedenen Stufen und innerhalb ihrer die einzelnen Modifikationen der pädagogischen Denkens in der pädagogischen Realität auf das mannigfaltigste. Wieweit solche Verwebung durch die Natur der Sache, der jeweiligen pädagogischen Situation oder Aufgabe, gerechtfertigt und gefordert ist, wieweit sie auf Unklarheit oder „Unsachlichkeit“ des Denkens beruht, das kann nur von Fall zu Fall untersucht und entschieden werden. Gerade das aber beweist die Notwendigkeit, die einzelnen Momente einmal gesondert in den Blick zu heben und ihren „idealen“ Zusammenhang darzulegen. Nur auf dem Hintergrund des so geschaffenen „reinen Falles“, des reinen, immanenten „Schemas“, der „idealen Struktur“ kann die vielfältige Wirklichkeit des pädagogischen Denkens begriffen werden. Dieses Begreifen aber geschieht letztlich um des pädagogischen Handelns willen. So stellt sich auch die vorliegende Untersuchung, getreu dem Wesen allen pädagogischen Denkens, in den Dienst der Praxis.

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I Wer das Gedankengut der eigenständigen geisteswissenschaftlichen Pädagogik kennt, das sie seit den Jahren des Ersten Weltkrieges erarbeitet hat, der wird als Betrachter und Teilnehmer der lebhaften Diskussionen über drängende pädagogische Gegenwartsfragen sehr oft die Feststellung machen müssen, daß der reiche Ertrag jener wissenschaftlichen Bewegung nur recht verkürzt oder vergröbert in die aktuellen Gespräche und Lösungsversuche eingeht. Nun soll natürlich nicht behauptet werden, daß in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik schon alle Lösungen bereitlagen, deren die Gegenwart bedürfte, um ihrer pädagogischen Probleme Herr zu werden. Das Wesen dieser Wissenschaft schließt es aus, daß sie je zu einem Arsenal fertig bereitliegender, allgemeingültiger Rezepte und Regeln würde. Wohl aber hat sie eine Reihe von fundamentalen Erkenntnissen gewonnen, an denen niemand mehr vorbeigehen sollte, der heute zu pädagogischen Fragen Stellung nimmt. Zu ihnen gehört – und das ist die im folgenden zu erhärtende These – die Einsicht in die dialektische Struktur der Erziehungswirklichkeit und des ihr korrelativ verbundenen pädagogischen Denkens. (Zufolge der in den „pragmatischen Geisteswissenschaften“ waltenden unlösbaren Verschränkung von „Subjekt“ und „Objekt“, von Theorie und Praxis bezeichnen die Begriffe „Struktur der Erziehungswirklichkeit“ und „Struktur des pädagogischen Denkens“ im Grunde nur zwei Aspekte desselben Sachverhalts.) Die klare Einsicht in die dialektische Struktur des pädagogischen Bereiches ist es, deren Mangel ich in zahlreichen Beiträgen zu pädagogischen Problemen unserer Tage glaube beobachten zu können. Diese unzureichenden Lösungsversuche und die ihnen zugrunde liegenden Denkansätze sind alle durch eine je besondere Einseitigkeit, Einpoligkeit gekennzeichnet; sie bemühen sich, die Probleme von einem – bewußt oder unbewußt – fixierten Standpunkt aus anzugehen und zu © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Klafki, Allgemeine Erziehungswissenschaft. Systematische und historische Abhandlungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23165-1_2

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bewältigen. Einige solcher Gegenwartsprobleme aus den verschiedensten Erziehungsbereichen seien hier genannt: Die Begabungsfrage, von deren Lösung man z. T. den Aufbau eines differenzierten Schulsystems glaubt abhängig machen zu müssen. Dabei erscheint die „Begabung“ oft in Analogie zur „Anlage“, und damit ist dann die tiefe Dialektik von geistigen „Fähigkeiten“ und objektiven Gehalten völlig verzeichnet. – Die Literaturauswahl im Deutschunterricht der Höheren Schulen, bei der die verbreitete Tendenz, den Maßstab der Aktualität der im Sprachkunstwerk gestalteten Problematik anzulegen, ebensowohl das Wesen der Kunst wie die pädagogische Dialektik von Gegenwart und Vergangenheit verkennt. Das Problem „materiale Bildung – formale Bildung“, das sich immer noch ungelöst durch die ganze moderne Didaktik zieht und neben zahlreichen fruchtbaren Ansätzen zu einer Überwindung der Alternative eine Fülle einseitiger oder über ein unbefriedigendes Sowohl-als-auch nicht hinauskommender theoretischer und praktischer Versuche hervorgerufen hat.1 – Überraschenderweise taucht in der modernen Industriepädagogik die alte Frage „Elitebildung – Bildung des Durchschnitts“ in der Form „Ausbildung des jungen Facharbeiters – Ausbildung des ungelernten Arbeiters“ wieder auf. Die Praxis zeigt manche einseitigen Lösungen; aber es ist kein Spiel mit Worten wenn man das zugrunde liegende Problem ebenfalls als ein dialektisches bezeichnet. – Hinter der akuten schulrechtlichen Frage der Aufsichtspflicht der Berufserzieher taucht für den tiefer Blickenden die pädagogische Dialektik von „Wagnis und Behütung“ auf. Nur wenn man die konkrete Erziehungssituation unserer Zeit auf dem Hintergrund dieses dialektischen Verhältnisses zu durchleuchten vermag, wird man über die restlos veralteten gesetzlichen Regelungen aus früherer Zeit hinauskommen. – Die Beispiele ließen sich beliebig häufen und bis in die konkretesten Aufgaben der täglichen Erziehungsarbeit hinein verfolgen. Hier sei abschließend noch die Behauptung gewagt, daß auch der heftige Streit um die Konfessionsschule (und die in Verbindung damit stellenweise wieder aufgeworfene Frage der Koedukation) weitgehend daran krankt, daß die Einsicht in das dialektische Verhältnis von „Weltlichkeit“ und „Glauben“, Kultur und Religion, Bildung und Weltanschauung fehlt oder doch nicht zu angemessener Klarheit gediehen ist. Wenn unsere vorwegnehmende Behauptung über die dialektische Struktur der Erziehungswirklichkeit richtig und die Forderung nach dialektischem Denken in der Pädagogik berechtigt ist, so wird es im Wechselgespräch von Theorie und Praxis eine Hauptaufgabe der ersteren sein, die methodologische Selbstbesinnung über das den pädagogischen Problemen angemessene Denken voranzutreiben; enthält 1

Vgl. vom Verf.: Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung. 3./4. Aufl. Weinheim 1964; Kategoriale Bildung. In: W. Klafki: Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. 5.-7. Aufl. Weinheim 1965. S. 25–45.

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doch jede Denkweise immanent eine Deutung eben derjenigen Wirklichkeit, die zu erfassen sie sich anheischig macht.

II Wenn wir eingangs sagten, die Einsicht in die Notwendigkeit dialektischen Denkens sei eine Errungenschaft der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, so war das nicht die Wiedergabe einer opinio communis, sondern eine These. Explizit besteht dort keine Einstimmigkeit über die grundlegende pädagogische Denkform.2 Bis heute stehen sich, zum Teil in polemischer Auseinandersetzung, verschiedene Auffassungen gegenüber: Pädagogisches Denken sei ein Denken angesichts unaufhebbarer Antinomien (Erika Hoffmann), ein Denken in Polaritäten (H. Nohl), es sei „strukturwissenschaftliches“ (Fr. Kanning), phänomenologisches (M. J. Langeveld), dialektisches Denken (Th. Litt; R. Guardini, J. Derbolav), schließlich: das Erzieherische als Ganzes und damit auch das ihm innewohnende Denken sei eine Weise des „Dialogischen“ (M. Buber). Explizit nicht ganz eindeutig sind die Stellungnahmen E. Sprangers (dialektisch, typisierend, strukturtheoretisch), E. Wenigers (Antinomik, Dialektik) und W. Flitners (dialogisch, dialektisch). Unbeschadet dieser unterschiedlichen Selbstdeutungen scheint mir, daß sich in der theoretischen Bewältigung pädagogischer Probleme eine in ihrem Kern gemeinsame Denkmethodik herausgebildet hat, deren immanente Logik treffend mit dem Terminus „dialektisch“ bezeichnet werden kann. Wenn wir damit also derjenigen Deutung zustimmen, die Litt, Guardini, Derbolav u. a. ihrem eigenen pädagogischen Denken gegeben haben, so heißt das nicht, daß wir damit gegen die anderen Prinzipien Stellung nähmen. Vielmehr glauben wir nachweisen zu können, daß es Mißverständnisse waren, wenn sich einige der oben genannten Autoren gegen das dialektische Denken in der Pädagogik meinten verwahren zu müssen. Zugleich ist damit die Möglichkeit eingeräumt, daß diejenigen, die ihr Denken nicht als dialektisch bezeichnen, de facto das Gesetz recht verstandener 2 Ich spreche ausdrücklich von der grundlegenden Denkform, weil es möglich, ja so gut wie gewiß ist, daß auch innerhalb der Pädagogik mehrere Denkformen ihren rechtmäßigen Ort haben. Sie stehen aber, systematisch gesehen, nicht auf einer Ebene nebeneinander. Vielmehr entfalten sich auf der Basis einer grundlegenden Denkform mehrere andere. – Überlegungen dieser Art werden entscheidend für die Lösung der noch immer ungeklärten Fragen sein, welche Bedeutung der „Beschreibung“ (Deskription), dem Vergleich, der induktiven Abstraktion, der „Ableitung“ (Deduktion) usw. in der Pädagogik zukommen.

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Dialektik an pädagogischen Problemen ebenso rein und d. h. zugleich fruchtbar – ja, bisweilen fruchtbarer – erfüllten wie die „expliziten Dialektiker“. Es ist das Hauptanliegen dieses Aufsatzes, die Einheit des dialektischen Prinzips im Denken der eigenständigen geisteswissenschaftlichen Pädagogik an einigen prägnanten Beispielen nachzuweisen. Das soll, nach einer Auseinandersetzung mit der einschlägigen Arbeit von Erika Hoffmann über „Das dialektische Denken in der Pädagogik“3, vor allem durch eine vergleichende Betrachtung des pädagogischen Denkens von Herman Nohl und Theodor Litt versucht werden. Auf dem Hintergrunde einer tiefgreifenden Gemeinsamkeit werden sich dann gewisse Unterschiede zeigen, die es ermöglichen, die Denkweisen beider Pädagogen als zwei typische Ausprägungen des dialektischen Denkens in der Pädagogik zu begreifen.

III Vorbereitend muß wenigstens in einer ersten Annäherung geklärt werden, was dialektisches Denken denn eigentlich ist. Dabei ist zu beachten, daß unsere Frage sich auf die immanente Logik dieses Denkens richtet, nicht auf seine äußere Verlaufsform (Monolog, Erörterung, Streitgespräch, Dialog). Zunächst ist dialektisches Denken immer ein Denken in Gegensätzen (Antinomien) und durch sie hindurch, d. h. ein Denken, das sich in einer Wechselbewegung zwischen verschiedenen Momenten fortbewegt. Damit steht dialektisches Denken in direktem Gegensatz zu allen Weisen „einstrahligen“ Denkens, das von einem Ausgangspunkt gradlinig zu „Folgerungen“ schreitet: sei es deduktiv von Axiomen zu analytisch oder kombinatorisch zu gewinnenden Untersätzen, sei es induktivgeneralisierend von einander nebengeordneten Feststellungen zu subsumierenden Gattungsbegriffen oder Obersätzen von wachsender Allgemeinheit. Aber die Bestimmung des dialektischen Denkens als eines Denkens in Antinomien genügt nicht. Wo immer wir von echten Antinomien sprechen, erscheinen uns die einander widerstreitenden „Seiten“ selbst als feststehend, in sich selbst begründet. Am deutlichsten wird das im Erlebnis sittlicher Konflikte. Da steht bisweilen Wert gegen Wert: Jemand kämpft nach einer schweren Operation mit dem Tode. Er fragt, ob er voll geheilt werden könne; nur dann erscheine ihm sein Dasein noch lebenswert. Die Wahrheit ist, daß er nur als schwer Siecher wird weiterleben können. Aber diese Wahrheit aus dem Munde des befragten Arztes würde dem Kranken den Lebenswillen nehmen, der allein ihn retten kann. Die Forderung nach 3 Langensalza 1929. (Göttinger Studien zur Pädagogik. H. 11.)

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Wahrhaftigkeit und die nach Erhaltung des Lebens stehen sich hier unversöhnlich gegenüber. Wer sich hier entscheidet, verletzt notwendig eine der rivalisierenden Wertforderungen. – Als ein zweites Beispiel sei die mögliche Antinomie zwischen Liebe und Mitleid einerseits, Gerechtigkeit andererseits genannt. Immer ist es hier so, daß jedes Moment des antinomischen Verhältnisses wäre, was es ist, auch wenn das andere Moment nicht wäre. Wahrheit bleibt Wahrheit, unabhängig vom Wert der Erhaltung des Lebens. Liebe wäre Liebe, auch wenn es keine Gerechtigkeit gäbe, und Gerechtigkeit ist, was sie ist, unabhängig von Liebe oder Mitleid. – Wer in irgendeinem Bereich auf solche antinomischen Forderungen stößt, die sich nicht aufeinander reduzieren und sich nicht überwinden lassen, und wer diese Unüberwindbarkeit im Denken auf sich nimmt, der denkt in Antinomien. In der Entscheidung und im Handeln aber wird er, indem er einer Forderung Genüge tut, der anderen gegenüber notwendig schuldig. Dialektisch vermag das Denken dort zu werden, wo es auf den überraschenden Sachverhalt stößt, daß zwei oder mehrere Momente, die sich zunächst antinomisch entgegenstehen, gar nicht das sind, als was sie erscheinen, nämlich je selbständige und einander ausschließende Mächte, Prinzipien, Forderungen. – Da stoßen wir im sozialen Leben auf die unterschiedlichen Ansprüche eines Individuums und einer Gemeinschaft. Scheinbar bricht hier eine Urantinomie des Lebens auf, stehen sich zwei in sich selbständige „Potenzen“ gegenüber. Indessen die Besinnung zeigt: Eine Gemeinschaft ohne Individuum ist undenkbar. Aber gibt es das Individuum als geistiges Wesen, d. h. als Wesen mit Sprache, Ausdruck, bedeutungsträchtigen Inhalten, ohne Gemeinschaft? Wieder zeigt sich: Auch das gibt es nicht. Das geistige Individuum ist, was es ist, nur von der Gemeinschaft her, mit ihr und durch sie. Aber nicht minder ist die Gemeinschaft nur durch das Individuum und mit ihm. Weder gelingt es hier, das Individuum von der Gemeinschaft oder die Gemeinschaft vom Individuum „einstrahlig“ abzuleiten, noch lassen sich beide Seiten als antinomisch einander gegenüberstehende, in sich selbständige Mächte fassen. Aber auch eine Auflösung in ein zwischen beiden Momenten liegendes Drittes ist nicht möglich. Beide Momente bleiben geschieden, und doch eben nur als „Momente“ eines sie umgreifenden und durchwaltenden Wirkungszusammenhanges. In ihm sind beide „aufgehoben“, d. h. zugleich als unterschiedene erhalten und überwunden. Diesen Wirkungszusammenhang gilt es zu erfassen. Was dabei im Denken vor sich geht, läßt sich ungewöhnlich schwer begrifflich fassen. Soviel wird man hindeutend sagen dürfen: Dieses Denken ist erstens eine unaufhörliche Bewegung zwischen den „Momenten“. In dieser Bewegung aber bleiben letztere nicht das, als was sie je für sich anfangs erschienen; vielmehr wird jedes Moment ständig neu vom anderen her erfaßt. Zugleich und in eins mit dieser kreisenden Dynamik ist das dialektische Denken eine Reflexion seiner eigenen Bewegtheit, weil allein in

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einer solchen der Ertrag der Bewegung festgehalten und im Begriff aufbewahrt werden kann. Den so gewonnenen Begriffen kommt immer eine eigentümlich komplexe Qualität zu. Der Wirkungszusammenhang mehrerer Momente liegt, insofern er im dialektischen Denken gedacht wird, in einer anderen „Ebene“ als die getrennten Momente, wie sie zu Beginn der Denkbewegung erschienen. Jenen Momenten begegneten wir zuerst in der Ebene der Realität; der Wirkungszusammenhang aber liegt zunächst in der Ebene des Bewußtseins. Indessen: Auch das ist erst die halbe Wahrheit. Denn dieses Bewußtsein ist ja – im Beispiel Individuum-Gemeinschaft – das Bewußtsein eines Individuums, d. h. also, wenigstens der Möglichkeit nach, einem der beiden Momente der dialektischen Beziehung zugehörig. Und das bedeutet nun nicht weniger, als daß der Träger dieses Bewußtseins verändernd in die ursprüngliche reale Beziehung hineinwirken kann. Wenn dem Individuum sein Verhältnis zur Gemeinschaft ursprünglich als Antinomie erscheinen mochte, dann ist es jetzt durch die eigene Besinnung eines Besseren belehrt worden. – Im Raum des handelnden Lebens bedeutet das nicht, daß zwischen beiden Seiten nun ewige Harmonie hergestellt wäre. Aber es bedeutet, daß man sich prinzipiell nicht mehr für oder gegen eines der beiden Momente entscheiden darf, sondern vermöge des dialektisch gewonnenen Wissens aufgefordert ist, beide „Seiten“ in jeder konkreten Situation jeweils neu in der eigenen Entscheidung und im eigenen Handeln „aufzuheben“. Das Wesen der Begriffe, in denen der dialektische Zusammenhang gedacht wird, ist nun nicht von der Art, daß sich aus ihnen Regeln ergäben, die auf die konkreten „Fälle“ der Realität einfach angewendet werden könnten. Die Allgemeinheit des Gedachten ist vielmehr von einer Natur, daß sie die je einmalige und individuelle Verwirklichung im Leben nicht nur zuläßt, sondern geradezu fordert. Die „Aufhebung“ scheinbarer Antinomien im Leben ist also kein Rechenexempel: Auf Grund dialektischer Besinnung handeln heißt nicht Rezepte anwenden. Das Gelingen der „Aufhebung“ in der Wirklichkeit ist nichts, worauf man tatenlos warten, aber es ist auch nichts, was man vermöge einer Lebenstechnik herbeiführen könnte. Wir haben noch einen abschließenden Schritt zu tun. Es gibt Phänomene des Lebens, die uns der gelungenen Aufhebung im Erlebnis oder im Verstehen unmittelbar innewerden lassen: Heiterkeit, Gelassenheit, Geborgenheit, der freudig erfüllte Dienst, das Lächeln des Sich-Verstehens, Freundschaft, Liebe und – Bildung, wenn man sie nicht als Zustand, sondern als je und je neu – obzwar nur indirekt über den Dienst an einer Aufgabe – zu erringende Leistung versteht. Unsere Ausführungen konnten nicht mehr als ein erster Hinweis auf das Wesen des dialektischen Denkens und die aus ihm entspringenden Möglichkeiten des Handelns sein. Sie sagen nichts über die möglichen Geltungsbereiche dieses Denkens, wenig über seine Grenzen. Sie bestreiten keineswegs die Realität echter Antinomien

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im Leben, d. h. solcher, die nicht nur anfänglich „erscheinen“, sondern sich auch der Reflexion gegenüber hartnäckig behaupten. Sie wenden sich aber gegen einen „Tragismus“, der alle wesentlichen Phänomene des menschlich-geistigen Lebens im Sinne gedanklich und realiter unlösbarer Widersprüche deutet. Vor allem bestreiten sie – und damit wenden wir uns wieder der speziell pädagogischen Untersuchung zu –, daß das Denken in Antinomien die dem pädagogischen Sinnbezirk angemessene grundlegende Denkform sei.

IV Das Problem des dialektischen Denkens in der Pädagogik ist von Erika Hoffmann zum Gegenstand einer größeren Untersuchung gemacht worden. Es ist hier nicht der Ort, auf die dort gebotene Darstellung und Interpretation der dialektischen Systeme in Philosophie und Pädagogik seit Fichte, Hegel und Schleiermacher einzugehen. Es wäre dazu viel Kritisches zu sagen.4 Uns interessiert hier nur die eigene Stellungnahme der Verfasserin. Sie geht aus „von der Tatsache des Widerspruchs im Leben und seinem merkwürdigen ethischen und praktischen Anspruch, der sich durch keine logischen Anstrengungen umgehen läßt“ (S. 36). So aber versteht E. Hoffmann das Wesen der Dialektik: Sie versuche, die echten Antinomien des Lebens denkend „in einem System, das von der ratio reguliert ist“, durch „Vereinigung“ zu überwinden (S. 36, vgl. S. 48). „Die dialektische Methode behandelt die Antinomie nicht als im Leben auftretende Realität, sondern bringt sie auf eine logische Formel, die gewonnen ist durch ein rückwartiges Analysieren von der vorgefaßten Synthese her, indem erst von dieser Synthese aus die Auflösung der konkreten Widerspruchssituation in die Elemente des Gegensatzes geschieht“ (S. 36f.). Sie komme so nur „zu einer Auflösung, einer Zersetzung der Wirklichkeit, die kein logisches Synthetisieren in ihrem ursprünglichen vollen Gehalt wieder herzustellen vermag“ (S. 37). Dem setzt E. Hoffmann immer wieder „das echte Anerkennen der Antinomik des Lebens“, den „Verzicht auf eine gedankliche Lösung, somit die Abweisung einer dialektischen Gedankenführung“ (S. 66), die Entscheidung für eine der Möglichkeiten und das Aufsichnehmen der damit verbundenen Schuld entgegen.5 Das Denken erhält 4 Vgl. Th. Schulze: Die Dialektik in Schleiermachers Pädagogik. Diss. Göttingen 1955. (Masch.-Schr.) 5 Es wäre geistesgeschichtlich und pädagogisch interessant, einmal die bei E. Hoffmann so deutlich werdenden Auswirkungen der Zeitströmung des „Entscheidungspathos“ auf

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die Funktion zugesprochen, die antinomische Struktur in ihrer ganzen Unausweichlichkeit herauszuarbeiten, um die Entscheidung der Irrationalität des wirklichen Lebens zu überantworten. „Das Denken ist auf das Erkennen, das Aufdecken von Sein beschränkt, das es immer nur in einer betrachtenden Objektstellung begreifen kann, und über das es keine unmittelbar formende Macht hat“ (S. 77). So ergibt sich als Fazit der Kritik: „Je echter die pädagogische Haltung, desto weniger Dialektik und umgekehrt. Die dialektische Methode zerstört die wahre pädagogische Haltung, und wo diese sich behauptet, wird die Dialektik zurückgedrängt“ (S. 56). Daß die in dieser Kritik sichtbar werdende Auffassung der Dialektik irrig ist, leuchtet auf dem Hintergrund unserer Ausführungen im vorigen Abschnitt unmittelbar ein. Wertvoller noch wird uns eine immanente Kritik der Position E. Hoffmanns sein können. Wir fragen zunächst nach den Lebensantinomien, deren Anerkennung sie fordert. Es sind vor allem die Antinomien Körper – Geist, Wirklichkeit – Idee, Geist – Seele – Körper, Mannigfaltigkeit der Erscheinungen – Einheit der Form, Freiheit – Gesetz, Lösung – Bindung, Denken – Fühlen – Wollen, Verstand – Sinnlichkeit, Subjekt – Objekt, Ich – Umwelt, Aktivität – Rezeptivität, Hingabe – Selbstbewahrung, Einzel-Ich – Gemeinschaft, Mensch – Kultur, Mensch – Natur, Mensch – Gott, Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft (S. 17ff.). Diese Kategorien versteht die Verfasserin als Hindeutung auf die im Begriff nie voll ausschöpfbare konkrete Lebendigkeit der Widersprüche. Im Raum der Erziehung treten die Lebensantinomien nach E. Hoffmann vor allem in folgenden Formen auf: Kind – Erwachsener, Kind – Kultur, Gegenwart – Zukunft, Autorität – Freiheit, unterschiedliche Anforderungen der Kulturbereiche. Wir greifen ein Beispiel heraus: die alte Schleiermachersche Antinomie „Recht des Augenblicks – Aufopferung im Dienst der Zukunft“. E. Hoffmann stellt sie in folgender Weise dar: „Das Individuum, das immer naturhaft ins Leben tritt, muß eine im Fortgang der Kultur sich immer noch vergrößernde Kluft überspringen, ehe es mitarbeitend im Strome der Kultur steht.“ „Die Zumutung dieser Anstrengung an das Kind ist ein ihm ganz fremder Anspruch, immer gegen sein noch naturhaftes Eingesponnensein in die Befriedigung jeden Augenblicks feindlich gerichtet“ (S. 31). – Wenn es nun wirklich so wäre, daß man sich, wie die Verfasserin früher forderte, nur für eine Seite der Antinomie entscheiden konnte, dann hieße das also: Entweder ich entscheide mich für die Kultur und nehme die Schuld auf mich, dem Kind, seinem „naturhaften Eingesponnensein in die Befriedigung jeden Augenblicks“, feindlich zu werden; oder aber – und das fordert E. Hoffmann selbst als „Wendung zum Kind“, welche erst von einer autonomen Erziehung zu sprechen die Pädagogik zu untersuchen, die wir z. B. im anthroposophisch-ethischen Bereich von Martin Heidegger, im politischen von Carl Schmitt her kennen.

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erlaube – ich entscheide mich für das Kind. Wenn die Antinomie echt ist, dann nehme ich damit die Schuld auf mich, die Forderung der Kultur zu verletzen. Wäre das dann noch Erziehung? Die ausgeführte Alternative ist absurd; auch E. Hoffmann versucht nicht, sie im Sinne eines Entweder-Oder zu lösen. Es komme an auf „das Regulieren dieses Leistungsanspruchs, den Kräften des Kindes angemessen“ (ebd.). Wo ist hier die Anerkennung einer unaufhebbaren Antinomie, wo die Entscheidung für oder wider? Was hier anerkannt ist, das ist die Notwendigkeit beider Momente für das Zustandekommen wahrer Erziehung. Der Erzieher, der den „Leistungsanspruch“ den „Kräften des Kindes“ anpaßt, stiftet in der Planung seiner Maßnahmen zunächst gedanklich, später in der Durchführung faktisch eine Beziehung zweier korrelativ aufeinander hingeordneter Momente. Er „hebt“ das, was anfangs als Antinomie erscheinen mochte, in der Besinnung tatsächlich „auf“. Aber mehr noch: Wenn sein Beziehungstiften gelingt, dann wird zu der gedanklichen Überwindung des scheinbaren Widerspruches ein zweites treten: die Bewältigung der Aufgabe durch das Kind. Im freudigen Tun des Kindes vermag auch die reale „Aufhebung“ unmittelbar evident zu werden. Nur das eine bleibt richtig – und das haben alle ernstzunehmenden Dialektiker immer gesehen: Die reale Überwindung dessen, was zunächst als Widerspruch erscheint, ist eine ständig neu gestellte Aufgabe. Das gleiche gilt für die konkrete gedankliche Lösung. Allgemein und zeitüberlegen ist nur die Aufhebung auf der höchsten Ebene der Abstraktion. Sie bietet gleichsam eine „regulative Idee“ für die Fülle der konkreten Situationen. Was hier an einem Beispiel ausgeführt wurde, das ließe sich an den meisten anderen der von E. Hoffmann genannten entwickeln. Wenn es ihr beim Aufzählen der allgemeinen Lebenswidersprüche noch gelang, diese schroff antinomisch gegeneinanderzustellen, so wird in dem Kapitel über die pädagogischen Antinomien, das als eine Strukturanalyse der pädagogischen Grundsituation gemeint ist, die Unhaltbarkeit ihrer Deutung offenbar.6 Das soll hier an einem weiteren Beispiel gezeigt werden. Im Anschluß an die dialektische Lösung des Gegensatzes „Autorität – Freiheit“ durch Schleiermacher sagt die Verfasserin: „Daß am Ende der Erziehung die Autorität einer Selbstbestimmung gewichen ist, nimmt dem einzelnen Augenblick in der vorhergehenden Phase nichts von der Schärfe der Antinomie. Wenn das trotzende Kind zu seinem eigenen Wohl zum augenblicklichen Gehorsam gezwungen werden 6 Vermutlich würde schon eine Reflexion auf den von Wilhelm Dilthey übernommenen Begriff der „Struktur“ als eines sinnvollen Wirkungszusammenhanges bedeutungsträchtiger Momente ergeben, daß er mit der „Antinomie“ im Sinne Hofmanns unverträglich ist. Einander ausschließende Potenzen können kein Sinngefüge bilden.

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muß, so schützt den Erzieher keine Überlegung vor einem gewissen Schuldgefühl, die sich regende Willenskraft im Kinde verletzt zu haben; läßt er es andererseits an Hemmung und festem Widerstand fehlen, so untergräbt er dem Kinde den sicheren Boden einer unantastbaren Ordnung und Festigkeit, von dem es sich getragen fühlen muß. So liegt in dieser konkreten Situation eine unumgängliche Antinomie, die nicht dadurch gemildert wird, daß die Situation sich später ändert. Dem Erzieher entsteht daraus die Aufgabe, sich handelnd zu entscheiden und die Verantwortung für seine Handlung und ihre Folgen zu übernehmen“ (S. 54f.). Wir fragen: Entscheidet sich der Erzieher hier wirklich angesichts einer Antinomie? Dann müßte es doch auch denkbar sein, daß er mit gutem erzieherischem Gewissen sich dazu entschlösse, auf den Gehorsam zu verzichten. Gerade als Anwalt des Kindes – Hoffmann sagt selbst: „zu seinem eigenen Wohl“ – gibt es für den Erzieher grundsätzlich nur die Entscheidung, auf den Gehorsam hinzuwirken. Verletzt er damit die Willenskraft im Kinde? Vielleicht – aber dann ist er erzieherisch gescheitert. Handelt er pädagogisch richtig, dann stärkt er diese Willenskraft gerade, weil er sie besser und tiefer versteht, als sie sich selbst, d. h. als das Kind seinen Willen versteht.7 Der Erzieher entscheidet sich nicht für die eine oder die andere Seite der scheinbaren Antinomie (die in Wahrheit ein dialektisches Verhältnis ist), sondern für eine von mehreren Lösungsmöglichkeiten der pädagogischen Aufgabe, die sich hier als Spannungsverhältnis zeigt. Diese erzieherische Entscheidung ist wahrlich eine verantwortungsvolle und oft schwierige; so oft sie sich als Fehlgriff herausstellt, weiß der Erzieher sich schuldig vor seiner Aufgabe. Aber „Entscheidung“, „Verantwortung“, „Schuld“ haben einen ganz anderen Sinn als im Falle jener existentiellen Entscheidungssituationen angesichts ethischer Antinomien. Die Verwechslung dieser unterschiedlichen Phänomene erscheint uns als ein wesentlicher Mangel der Ausführungen E. Hoffmanns. Müssen wir also der These, pädagogisches Denken sei ein Denken in unaufhebbaren Antinomien, grundsätzlich widersprechen, so soll nun doch das relative Recht jener Auffassung anerkannt werden. Es läßt sich dahingehend bestimmen: Auf der Basis der dialektischen Grundstruktur des pädagogischen Bereiches vermögen je und je sehr wohl echte pädagogische Antinomien aufzutreten. Jeder Erzieher kennt diese Grenzsituationen. Z. B. kann ihn das noch unreife, oft starre Rechtsempfinden der Kinder im Knabenalter dazu zwingen, um der Ordnung einer Zöglingsgruppe willen ein Kind für ein Vergehen zu strafen, obgleich er sich bewußt ist, daß diesem Kinde als einzelnem gegenüber gerade die Verzeihung das pädagogisch richtigere

7 Vgl. H. Nohl: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1949. S. 195.

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Verhalten gewesen wäre.8 Unausweichlich muß er hier schuldig werden. Aber solche Grenzfälle ändern nichts daran, daß die Grundstruktur der Erziehungswirklichkeit und des pädagogischen Denkens, gerade auch im Hinblick auf das Verhältnis von Zögling und Erziehungsgemeinschaft, dialektisch, nicht antinomisch ist.

V In den frühen pädagogischen Aufsätzen Herman Nohls spielt der Begriff der „Antinomien“ bzw. der „Gegensätze“ eine wesentliche Rolle. Solche pädagogischen Gegensätze werden dort nicht konstruiert oder auf abstrakte begriffliche Formeln gebracht, sondern in der konkreten Gestalt beschrieben und verstanden, in der sie im geistig-geschichtlichen Leben auftreten. Manche von ihnen betrachtet Nohl als typisch, „insofern ihr Kern zu allen Zeiten derselbe ist und überall sich geltend machen wird, weil sie im Wesen des Menschen selber und in der Grundstruktur seines Lebens gegründet sind“.9 Als solche typischen Gegensätze erscheinen z. B. die realistische, die humanistische und die soziale Pädagogik oder der „pädagogische Urgegensatz, den man als die eigentliche pädagogische Antinomie bezeichnen kann, weil er eben ganz unabhängig von allen Bildungsidealen im pädagogischen Verhältnis selber gelegen ist: der Gegensatz der Generationen, von Vater und Sohn, von Lehrer und Zögling“.10 Das an Dilthey geschulte Verfahren Nohls (und ähnlich Sprangers), solche Gegensätze in der Gegenwart aufzugreifen und in ihrer konkreten Gestalt aus ihren historischen Wurzeln heraus verständlich zu machen, ist für die geisteswissenschaftliche Pädagogik in der Folgezeit vorbildlich geworden. Erich Weniger und Wilhelm Flitner – um nur zwei der bedeutendsten zu nennen – haben diese Methode in mehreren größeren Untersuchungen fruchtbar gemacht. Man würde dieses Verfahren allerdings falsch verstehen, wenn man es einfach als Anwendung der allen Geisteswissenschaften gemeinsamen Methode des geschichtlichen „Verstehens“ auf die besonderen Gegenstände der Pädagogik betrachten wollte. Das Eigentliche dieser Methode wird vielmehr durch den Terminus „historisch8

Eine Darstellung und theoretische Durchleuchtung solcher antinomischer Grenzsituationen der praktischen Erziehung scheint mir gerade heute eine dankenswerte Aufgabe zu sein. 9 „Die pädagogischen Gegensätze“ (1914), in: H. Nohl: Pädagogische Aufsätze. 2., verm. Aufl. Berlin/Leipzig 1929. S. 100. 10 „Das Verhältnis der Generationen in der Pädagogik“ (1914) a. a. O. S. 111.

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systematisch“ bezeichnet. Sie enthält also zwei Komponenten. Setzen wir voraus, daß das Moment des „historischen“ durch den seit Dilthey oft erörterten Begriff des „geschichtlichen Verstehens“ hinreichend beleuchtet ist, so haben wir unser Augenmerk vor allem auf die zweite, die systematische Komponente zu richten. Was sie grundsätzlich bedeutet, scheint uns an Nohls Aufsatz über „Das Verhältnis der Generationen in der Pädagogik“ (1914) deutlich sichtbar zu werden. Nohl geht von dem Auftreten der Jugendbewegung, „der merkwürdigsten pädagogischen Erscheinung der Gegenwart“, aus. Nach einem grundsätzlichen Exkurs über die Gegensätze in den Geisteswissenschaften greift er auf den Ursprung der Pädagogik zurück, der immer mit dem Verhältnis von Herrschaft und Abhängigkeit aufs engste verquickt ist (S. 111). „So ist es in der Natur der Sache gelegen, daß die ursprüngliche Pädagogik Eltern- und Lehrerpädagogik ist, d. h., daß die Ziele zunächst von den Lehrern und den Zwecken, die sie vertreten, gesetzt werden“ (S. 113). Die großen geistesgeschichtlich-erziehungsgeschichtlichen Linien werden gezeigt, die zur Konzeption einer „Zöglingspädagogik“ bei Rousseau, im Sturm und Drang und bei Fichte führten. „Die Gegenwart hat alle diese Gedanken zur Vollendung gebracht, indem sie die Jugend selber revolutionierte“ (S. 117). Nohl bleibt nicht beim Aufzeigen dieser Entwicklung stehen. Gerade die Betrachtung der historischen Wandlungen erschließt ihm tiefe Einsichten in eine in dieser Entwicklung sichtbar werdende Strukturgesetzlichkeit des pädagogischen Verhältnisses der Generationen überhaupt. Indem er das Recht der Erhebung der jungen Generation anerkennt, vermag er doch auch auf die Gefahr dieser „Überspannung einer einseitigen Stellungnahme“ hinzuweisen, die „entscheidende pädagogische Lebenswerte zu vergessen“ droht (S. 118). Diese Problematisierung der Jugend nimmt dem Kind „die fruchtbare Ruhe der Häuslichkeit und der Familie mit ihrer Verborgenheit und ihrem Reichtum an konkretem und undiskutierbarem Leben“ (S. 118). Der absolute Wert, den man dem Jungsein als solchem zumißt, droht dem Wesensbegriff der Jugend selbst nicht mehr gerecht zu werden, da er ihn verfestigt, während die Freiheit, die Schönheit und der Eigenwert der Jugend gerade darin liege, daß sie „in sich selber keinen geistigen Grund und darum auch keinen Bestand“ habe (S. 119). In der Selbstbespiegelung endlich könne ein „Mangel an Männlichkeit“ akut werden. – „Nicht, daß nun wieder einseitig von der anderen Seite aus eine neue Lehrerpädagogik aufgebaut werden soll: die Jugendkultur selbst muß erkennen, daß sie in ihrer Emanzipation von der älteren Generation auf ein tiefstes Moment ihres Lebens verzichtet, eben auf das, was in diesem Lebensverhältnis beschlossen ist.“ – „Autorität und Gehorsam, d. h. freie Aufnahme des erwachsenen Willens in den eigenen Willen und innere Unterordnung bis zum Moment der Reife und Selbständigkeit“ kennzeichnen es (S. 119). In diesem Verhältnis gründen „eine Reihe der tiefsten Gefühle“, „Ehrfurcht und Achtung,

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Pietät und Dankbarkeit“. Hier erwächst „das wichtigste Stück der Moralität der Jugend“, die „Grundvoraussetzung jeder gesunden Willensbildung“. „So gehört es zum Wesen der Jugend, daß sie sich nur im Durchgang durch einen fremden Willen entwickelt“, „denn das Verhältnis zur älteren Generation ist die tiefste Erfahrung, die die Jugend hat“ (S. 120). Alle Aussagen des letzten Abschnittes, die wir absichtlich so ausführlich zitierten, gehörten der „systematischen Komponente“ im Begriff der „historisch-systematischen“ Verfahrensweise an. Betrachten wir die Ausführungen Nohls auf ihre innere Struktur hin, so ist nach allem früher Gesagten wohl auch ohne besondere Analyse deutlich, daß sie echt dialektischer Natur sind. Was realiter oft als Antinomie erscheinen mag, das erweist sich im tiefsten als ein pädagogischer „Lebenszusammenhang“ zweier (oder mehrerer) Momente, die ihrem Wesen nur mit- und durcheinander gerecht werden können. Und das wird nicht nur als theoretische Aussage hingestellt, sondern als pädagogische Aufgabe gefordert. Diese Forderung aber könnte man ihrer inneren Struktur nach getrost als „Aufhebung“ einer scheinbaren Lebensantinomie in einem pädagogischen Wirkungszusammenhang bezeichnen. Was hier ausführlich an einem Beispiel entwickelt wurde, ließe sich ohne Schwierigkeit an den meisten der pädagogischen Aufsätze nachweisen, die uns heute wieder in dem Buche „Pädagogik aus dreißig Jahren“ zugänglich sind.11 Nur auf einen von ihnen, die wertvolle Abhandlung über „Die geistigen Energien der Jugendwohlfahrtsarbeit“ (1926), sei noch besonders hingewiesen. Nohl zeigt hier fünf Ansätze zur Jugendwohlfahrtsarbeit auf, die aus dem Sozialismus, der Inneren Mission, der Frauenbewegung, der sozialpolitischen Bewegung, der Jugendbewegung und pädagogischen Reformbewegung stammen. Indem jeder dieser Ansätze einen Bezug der sozialpädagogischen Situation ans Licht hebt, bilden sie einen Strukturzusammenhang, dessen mannigfache Spannungen doch „in einer gemeinsamen Grundhaltung … ihre letzte Gegensätzlichkeit verloren“ haben, „in einer neuen Einheit aufgehoben sind“ (S. 140). Nohl hat das innere Gesetz aller solcher Spannungen in seinem Buche „Jugendwohlfahrt“ einmal sehr klar ausgesprochen: „Die Gegensätze der Theorie“ – und wir werden ergänzen dürfen: auch und gerade die der Praxis – sind „nichts anderes als einseitige Betonungen der in der Struktur des Lebens enthaltenen Faktoren, die ihre Spannung ausmachen“.12 Mit anderen Worten: Der Ausgangspunkt des pädagogischen Denkens ist immer ein Gesamtzusammenhang, der in seinem Aufbau noch gar nicht durchschaut ist, sondern als pädagogische Aufgabe erfahren wird. In der Tat und der mit ihr verknüpften Besinnung sucht der Erzieher diese 11 Frankfurt 1949. 12 H. Nohl: Jugendwohlfahrt. Sozialpädagogische Vorträge. Leipzig 1927. S. 22.

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Aufgabe zu lösen. Jeder Versuch einer Lösung aber ist, bewußt oder unbewußt, zugleich ein Versuch der Deutung des Gesamtzusammenhangs. Und da zeigt sich nun meistens, daß die versuchte Lösung nur ein Moment des verborgenen Ganzen erfaßt. Ein zweiter Ansatz wird versucht; gewöhnlich setzt er, durch das am ersten empfundene Ungenügen getrieben, gerade auf der „entgegengesetzten Seite“ des Gesamtzusammenhangs ein. Was meinen wir hier mit der Metapher „entgegengesetzte Seite“? – Immer werden, wo ein Lebenszusammenhang mehrere Momente (Faktoren) in sich birgt, diese Momente einander unterschiedlich nahestehen. Um beim Beispiel der Jugendwohlfahrt zu bleiben: Der soziale Wille der Arbeiterschaft zur Selbsthilfe steht, pädagogisch gesehen, dem sozial-politischen Anliegen nahe; er vermag auch das Anliegen der „geistigen Mütterlichkeit“ u. U. in sich aufzunehmen und dem Gemeinschaftswillen der Jugend möglicherweise Raum zu gewähren. Am wenigsten wird er der seelischen Not und den religiösen Bedürfnissen des durch die sozialen Wandlungen betroffenen Jugendlichen gerecht werden können. Es ist also verständlich, daß die Einseitigkeit des sozialistischen Ansatzes zunächst von denjenigen Erziehern am stärksten empfunden wurde, denen im Gesamthaushalt des geistig-kulturellen Lebens die (im weitesten Sinne des Wortes verstandene) Seelsorge anvertraut ist. Kein Wunder, daß nun gerade diese am meisten vernachlässigte Seite des pädagogischen Problems von ihren Verfechtern einseitig in den Vordergrund gerückt wurde. Wir brauchen das Beispiel nicht weiter auszuführen. Ins Grundsätzliche erhoben, vermittelt es die Erklärung für die oft beobachtete Dialektik historischer Bewegungen auch im pädagogischen Raum. Es ist nun ohne metaphysische Voraussetzungen verständlich, warum es so häufig einem Problem gegenüber nicht nur zu verschiedenen historischen Ansätzen, sondern zu entschiedenen Gegensätzen gekommen ist und kommen wird. Indem man die historischen Erscheinungen auf die ihnen immanenten systematischen Prinzipien befragt, erschließt sich die geistige „Gesetzlichkeit“ historischer Bewegungen. Und mit dieser Erkenntnis, daß die Dialektik nicht von außen und im Dienst einer die Realität vergewaltigenden Spekulation an die Erscheinungen herangetragen, sondern in ihnen selbst gefunden und aus ihnen heraus ins Bewußtsein gehoben wird, sollte ein weiteres verbreitetes Vorurteil beseitigt sein, das den Verfechtern des dialektischen Denkens auch und gerade in der Pädagogik entgegengehalten zu werden pflegt. 1930 taucht in einem noch heute bedeutsamen Aufsatz Nohls der Begriff „Polarität“ zum erstenmal in beherrschender Stellung auf.13 Er ist dann einer der Zentralbegriffe seiner „Theorie der Bildung“14 geworden. 13 Die Polarität in der Didaktik, jetzt in: Pädagogik aus dreißig Jahren. S. 86–97. 14 Zuerst 1933 in: Handbuch der Pädagogik. Hrsg. von H. Nohl und L. Pallat. Bd. 1. Langensalza, jetzt wieder in: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie.

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Der Begriff der Polarität tritt in Nohls Bildungstheorie immer stärker an die Stelle des Begriffes Gegensatz (bzw. Antinomie), obgleich beide nicht definitorisch voneinander geschieden werden. Indem Nohl Verhältnisse, die zu Beginn einer Erörterung als „Antinomien“ erscheinen, im Verlaufe der Untersuchung als „Polaritäten“ bezeichnet, verhilft er einem Sachverhalt zur Anerkennung, der für alles dialektische Denken kennzeichnend ist und auf den wir bereits mehrfach hingewiesen haben: Die Momente eines Zusammenhanges bleiben im Vollzug des dialektischen Denkens nicht das, als was sie am Anfang „erscheinen“. Sie verfestigen sich nicht von vornherein zu „Standpunkten“, sondern entwickeln sich, indem sie von den anderen Momenten und vom Gesamtzusammenhang her ständig neu gesehen werden. Erst am Ende der Denkbewegung sind sie zureichend „bestimmt“, wiewohl auch dann nur im Sinne einer dynamisch-dialektischen Logik, in der alles einzelne nur innerhalb größerer Zusammenhänge begriffen werden kann. Was meint der Begriff „Polarität“ im Unterschied zur „Antinomik“? – Wir sahen bereits: Die beiden Seiten einer echten Antinomie widersprechen einander, sie sind gegen-gesetzlich, d. h., sie schließen einander aus. Das ist aber nur möglich, wenn jede Seite als solche ein Selbständiges ist, das auch ohne den Gegensatz wäre, was es ist. Die Entgegensetzung selbst ist hier etwas, was zum Bestehen der beiden Seiten erst sekundär hinzukommt.15 – Nicht so beim polaren Verhältnis. Von „Polen“ zu reden, hat überhaupt nur Sinn auf dem Grunde einer ursprünglichen Beziehung. Die Pole sind, was sie sind, nur vermöge einer ursprünglichen Relation, die sie als „Pole“ allererst konstituiert. Sie sind also keine Gegensätze, schließen einander nicht aus, sondern fordern einander. Wer von einem „Pol“ spricht, der „setzt“ damit – bewußt oder nicht – immer schon einen zweiten oder gar mehrere Pole. Wer von einem polaren Verhältnis spricht, der sagt damit implizit, daß dieses Verhältnis nie allein von einer Seite her verstanden werden kann. Unsere These nun ist: Wenn man sich von naturwissenschaftlichen Vorstellungen löst und den Begriff „polare Verhältnisse“ zur Bezeichnung geistiger Sachverhalte benutzt, so meint man damit eigentlich dialektische Verhältnisse, d. h. Verhältnisse, deren innere Struktur sich im Denken als dialektisch erweist. Es scheint uns den wesentlichen Wert der Nohlschen Bildungstheorie auszumachen, daß sie unter dem Begriff der Polarität eine Reihe fundamentaler dialektischer Verhältnisse und Strukturzusammenhänge der Erziehung aufgewiesen hat. Und das gilt, obgleich

Frankfurt a. M. 1935 u. ö. (2. Hauptteil) (Die folgenden Zitate nach dem zuletzt genannten Werk.) 15 Die Bestimmung „sekundär“ muß hier als logisches, nicht als real-zeitliches Verhältnis verstanden werden.

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Nohl sein Denken nirgends als dialektisch bezeichnet oder in der Form expliziter methodologischer Selbstbesinnung analysiert. Führen wir uns zunächst die wichtigsten polaren Verhältnisse vor Augen. Das erste ist die Spannung zwischen dem subjektiven und dem objektiven Sinn der Bildung, dem Zögling und der ihm begegnenden Inhaltlichkeit (S. 77f.).16 Diese Polarität vermag in vielfältiger Form zu erscheinen: Kontinuität der Kultur – Zentriertheit des individuellen Lebens; Gegenwart – Zukunft (S. 110), Vergangenheit – Gegenwart (S. 95f.) oder auch Vergangenheit – Zukunft (S. 100); Sein – Norm (S. 129); formale – materiale Bildung (S. 143; 172); Kraft – Anforderung; individuelle Bildung – Forderungen der Gemeinschaft (S. 149, 222); Berufsbildung – Allgemeinbildung (S. 142) u. a. – Eine zweite Grundpolarität ist die von Erleben und Besinnung (S. 97, 100). Auch sie erscheint in verschiedenen Formen: Vertiefung – Besinnung (S. 158); Anschauung – Begriff (S. 175f.) u. a. – Ein drittes polares Verhältnis läßt sich unter dem Gesichtspunkt „Bindung und Lösung“ fassen: als Autorität – Liebe (S. 138), Liebe – Gehorsam (S. 194f.), Gestaltungswille des Erziehers – Freiheit des Zöglings (S. 136), Gesetz – Freiheit (S. 186, 190f.), Gesinnung – Haltung (S. 147) tritt es in Erscheinung. – Eine vierte Spannung ergibt sich zwischen der religiösen Erziehung und der Erziehung für Kultur und Gesellschaft (S. 99), eine fünfte im Lebenszusammenhang des Individuums selbst zwischen Eindruck – Erlebnis – Ausdruck (S. 160) oder zwischen den verschiedenen Schichten des menschlichen Wesens (S. 155ff.).17 – Als letzte sei die Spannung zwischen der Autonomie der Erziehung und ihrer Einbettung in den Zusammenhang der Kulturmächte genannt (S. 101). Nohl gibt nun weit mehr als den Aufweis solcher polaren Verhältnisse im großen Wirkungszusammenhang der Erziehung. Überall zeigt er de facto die dialektische Struktur der einzelnen Polaritäten und der Gesamtstruktur auf. Entscheidend aber ist, daß es ihm gelingt, die „Aufhebung“ nicht nur als theoretische Einsicht zu vollziehen, sondern zugleich als praktisches Prinzip zu entwickeln und in seinen Konsequenzen für das Handeln sichtbar zu machen. Der Kreislauf von der Praxis über die Theorie zurück zur Praxis schließt sich mehrfach mit dem Aufweis pädagogischer Phänomene, in denen die jeweiligen Polaritäten aufgehoben sind. Auch hier müssen wir es bewenden lassen. Die Polarität von Gegenwart und Zukunft sieht Nohl im Bildungsideal aufgehoben (S. 111), jene von erzieherischem Gestaltungswillen und Ehrfurcht vor dem Eigenrecht des Kindes im „pädagogischen 16 Vgl. G. Kiel: Zum Verhältnis von Subjekt und Objekt in der Pädagogik Herman Nohls und Eduard Sprangers. In: Die Deutsche Schule 54 (1962) S. 321ff. 17 Eine eingehende Untersuchung müßte an dieser Stelle Nohls „Pädagogische Menschenkunde“ in die Betrachtung mit einbeziehen. (H. Nohl: Charakter und Schicksal. Eine pädagogische Menschenkunde. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1949.)

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Takt“ (S. 136); in der dem Gebildeten „eigentümliche(n), krampflose(n) Form der Äußerung, des Fühlens und Denkens, die jedem seinen richtigen Platz in diesem Ganzen gibt oder läßt, nichts wichtiger nimmt als es ist, nichts unterläßt, was nötig ist“, also in dem, „was man Takt, Heiterkeit, ja Humor nennt“ (S. 149), ist die Spannung von geistiger Lebendigkeit und Gesinnung einerseits, Handlung andererseits dialektisch bewahrt und überwunden, wenn auch real erlebbar wohl nur für kurze Strecken des Lebens. Die Lösung der Polarität von Gesetz und Freiheit und zugleich der Einklang der Trias Eindruck – Erlebnis – Ausdruck ist unmittelbar evident in der rhythmischen Bewegung und besonders im Spiel, jener „innigen Wechseldurchdringung von Gesetz, Freiheit und Leben zu einer in sich einigen Erscheinung“ (Zitat Fr. Fröbel in: H. Nohl: Pädagogik aus dreißig Jahren. S. 90f.). Der Gegensatz von Sich-gehen-lassen und Haltungsdrill „löst sich uns heute in einer Haltung, die wir ‚straff‘ nennen, die voll Spannung ist und zugleich doch frei“ (S. 199). Die parallele Haltung im Bereich des sittlichen Willens nennt Nohl „verantwortliche Bereitschaftsstellung“, die „dem Leben federn gegenübersteht, alle Kräfte wachhält und zugleich geschlossen zusammennimmt“ (S. 200). Endlich sei hier Nohls Lösung der Polarität von formaler und materialer Bildung zitiert: „Alle Bildung beruht auf dem Gestalten des Innern, bedarf dazu aber eines geistigen Inhalts, der nicht bloß Mittel ist, sondern Eigenwert und Eigengesetzlichkeit hat; sie will eine Form des geistigen Lebens, die den Stoff einschmilzt, aber diese Form kommt selbst nur aus der Form des Stoffes; sie ist Erzeugung von Kräften, aber diese Kräfte gewinnen ihre Richtung nur aus dem Gehalt, dem sie dienen.“ – „Die innere Form des Subjekts ist nicht zu trennen von dem Gehalt, den sie birgt, und umgekehrt hat der Gehalt seinen lebendigen Sinn erst, wo er verinnerlichte Form eines Subjekts geworden ist“.18 Über Nohl hinausgehend kann man auch hier ein Phänomen aufzeigen, in dem die gedanklich-dialektische Aufhebung real wird, ja von dem her sie ihre eigentliche Rechtfertigung erfährt: das Bildungserlebnis, d. i. jene Erfahrung, in der der einzelne unmittelbar seines Gebildet-Werdens oder Sich-Bildens innewird. Eine umfassende Darstellung hätte zu zeigen, wie die Denkweisen Nohls in Sprangers Pädagogik bedeutsame Parallelen haben und von E. Weniger und W. Flitner fortgeführt werden. Neue Polaritäten treten ins Bewußtsein, werden durchdacht und einer prinzipiellen Lösung entgegengeführt. Es sei hier an Wenigers Darstellung der Polarität von Bildung und Persönlichkeit19 erinnert oder an 18 a. a. O. S. 77 (der erste Teil des ersten Zitates stammt von O. Willmann) bzw. S. 78 – Vgl. Anm. 1. 19 E. Weniger: Bildung und Persönlichkeit. In: Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis. Probleme der akademischen Lehrerbildung. Weinheim 1953. S. 123ff.

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die Aufhebung der Spannung von kindlicher Gegenwart und Zukunftsforderung im Begriff der „Vorwegnahme“.20 Auch Begriffe wie „Teilhabe“, „Repräsentanz“, „Transposition“21, „existentielle Konzentration“22, „Begegnung“23, „stellvertretende Verantwortung des Erziehers“ und „Vertrauen des Zöglings“24 u. a., desgleichen die „pädagogischen Grundbegriffe“ in Flitners „Allgemeiner Pädagogik“25 würden sich bei eingehender Analyse wahrscheinlich als echt dialektische, d. h. eine dialektische Denkbewegung in sich aufbewahrende Begriffe erweisen. Auch auf einen anderen pädagogischen Denker kann nur noch hingewiesen werden, so wertvoll eine Analyse seiner Gedanken für unsere Fragestellung sein würde. Ich meine Martin Buber. In auffälliger Parallele zu Nohl und seinen Nachfolgern läßt sich an seinen pädagogischen Schriften ein doppeltes zeigen: 1. Obgleich Buber in den Abhandlungen seines Buches „Dialogisches Leben“ mehrfach gegen die „denkerische Dialektik“ polemisiert – offensichtlich denkt er dabei an Hegel –, ist sein eigenes Denken, auch und gerade in seinen pädagogischen Schriften, weitgehend echt dialektisch.26 – Es gelingt Buber auf diese Weise nicht nur die denkerische Durchleuchtung entscheidender pädagogischer Probleme, sondern zugleich das Sichtbarmachen eines Urphänomens des Lebens, in dem die „Aufhebung“ verschiedener Momente unmittelbar wirklich wird: es ist „die Erfahrung der Gegenseite“, der „Umfassung“.27 In ihr erfährt eine Person ihr auf eine andere hin gerichtetes Tun zugleich von der Seite des Partners her in voller Gegenwärtigkeit, „ohne irgend etwas von der gefühlten Realität ihres eigenen Tätigseins einzubüßen“. Buber nennt solche erlebbaren Verhältnisse der Umfassung „dialogisch“. In tiefsinniger Weise hat er uns den „pädagogischen Bezug“ zwischen Erziehung und Zögling als ein solches dialogisches Lebensverhältnis sehen gelehrt und das Problem „Bildung und Weltanschauung“ unter gleichem Aspekt erhellt.28

20 E. Weniger: Die Theorie der Bildungsinhalte und des Lehrplans. Weinheim o. J. S. 72; Ders.: Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis. S. 139; W. Flitner: Die Theorie des pädagogischen Weges und der Methode. Weinheim o. J. S. 37f. 21 Weniger: Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis. S. 139. 22 Weniger: Die Theorie der Bildungsinhalte und des Lehrplans. S. 96. 23 Weniger: Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis. S. 139; Vgl. O. F. Bollnow: Begegnung und Bildung. In: Zeitschrift für Pädagogik 1 (1955) S. 10ff. 24 Weniger: Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis. S. 117, 139. 25 2. Aufl. Stuttgart 1950. 26 Vgl. vor allem die beiden ersten der drei „Reden über Erziehung“, Heidelberg 1953. 27 a. a. O. S. 35, 36. 28 Vgl. vom Verf.: Dialogik und Dialektik in der gegenwärtigen Erziehungswissenschaft. In: Zeitschrift für Pädagogik 10 (1964) S. 513–537.

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VI Mußten wir den dialektischen Charakter der Pädagogik Herman Nohls in einiger Ausführlichkeit erst nachweisen, so entfällt diese Aufgabe den pädagogischen Werken Theodor Litts gegenüber. Er gilt seit langem mit Recht als bewußter Verfechter des dialektischen Denkens in Pädagogik und Philosophie. Dazu konnte Litt nur werden, weil er sein Denken nicht nur selbst als dialektisch und es als solches an den pädagogischen Problemen tatsächlich bewährt, sondern weil die Besinnung auf den dialektischen Charakter des eigenen Denkens ein konstitutives Moment seiner Theorie ist. Sein philosophisches Werk enthält eine in sich geschlossene Kulturphilosophie, darüber hinaus aber, innerhalb einer umfassenden „Philosophie des Geistes“, eine Theorie des dialektischen Denkens, die in bewußter Anknüpfung an Hegel und in kritischer Fortbildung seiner Dialektik entwickelt wurde. Jedoch kann gar keine Rede davon sein, daß Litt etwa eine „außerhalb“ des Pädagogischen gewonnene Denkmethodik auf die Erörterung pädagogischer Probleme „übertrüge“. Vielmehr wird man sagen dürfen, daß gerade das ganz der Besonderheit des pädagogischen Bereiches hingegebene Durchdenken von Erziehungsproblemen entscheidend zu der immer reiferen Herausbildung der Littschen Dialektik beigetragen hat, einer Dialektik nun allerdings, deren Grundzüge sich im letzten als gültig für viele geistige Phänomene erweisen. Die gegenüber Nohl ungleich höhere Schätzung bewußter pädagogischer Methodologie kommt am deutlichsten in dem 1921 erschienenen Aufsatz „Die Methodik des pädagogischen Denkens“ zum Ausdruck, einer Abhandlung, die für die Entwicklung der eigenständigen Pädagogik entscheidend bedeutsam gewesen ist.29 – Die Erörterung bewegt sich durch die verschiedenen Antworten hindurch, die man zu erhalten pflegt, wenn man nach dem Wesen des der Erziehung und damit auch der pädagogischen Wissenschaft zugrunde liegenden Denkens fragt. Die Verschiedenartigkeit dieser Antworten ist offensichtlich tief in der komplexen Natur des Erzieherischen begründet: Erziehung ist eine Kunst; Erziehung ist eine zur Ethik oder zur Kultur gehörige Technik, Pädagogik eine auf der Psychologie als „Grundwissenschaft“ beruhende „angewandte Wissenschaft“; Erziehung heißt Behütung des kindlichen Wachstums. Es zeigt sich, daß alle diese Antworten –

29 Th. Litt: Die Methodik des pädagogischen Denkens. In: Kant-Studien 26 (1921) S. 17–51. Wiederabdruck unter dem Titel „Das Wesen des pädagogischen Denkens“ im Anhang von Th. Litt: Führen oder Wachsenlassen. Eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems. 5. Aufl. Stuttgart 1952.

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um mit Nohl zu sprechen – „nichts anderes als einseitige Betonungen der in der Struktur des Lebens30 enthaltenen Faktoren“ sind. Den Ertrag der kritischen Erörterung in sich aufhebend, gelangt die Untersuchung zu dem Ergebnis, daß das Wesen der Erziehung und des ihr angemessenen Denkens nicht durch Parallelsetzung mit außerpädagogischen Phänomenen, sondern nur in der Besinnung auf den Bildungsvorgang selbst gewonnen werden kann. Theorie und Praxis der Erziehung können nicht nach dem Schema Grundwissenschaft – angewandte Wissenschaft voneinander geschieden werden. Und weiter: Was Erziehung ist, kann nur der feststellen, der schon eine gewisse Vorstellung davon hat, was Erziehung soll. Praxis und Theorie einerseits, Seinserfassung und Sollensbestimmung andererseits wachsen „ganz unmittelbar aus einer Wurzel hervor“ (a. a. O. S. 104). In Nohls Terminologie könnte man „Theorie und Praxis“ und „Sein und Sollen“ als zwei polare Begriffspaare bezeichnen. Und das dialektische Verhältnis der Pole läßt sich nicht anders als in verschränkten Formulierungen aussprechen wie jener, daß, „wenn dieses Sein nur im Augenblick auf das Sollen vorstellig werden konnte, so doch umgekehrt das Sollen nur im Anschluß an das Sein sich zu konkreter Bestimmtheit herausklären kann“ (S. 107). Aber auch diese dialektisch-gedankliche Lösung rechtfertigt sich erst durch den Hinweis auf ein Phänomen, in dem die „Pole“ real „aufgehoben“ sind: es ist „jene eigentümliche erzieherische Phantasie“, „die ein Ganzes erschaut, das nicht ist, sondern erst werden soll, und es dabei doch erschaut in dem, was ist“ (ebd.). Diese „Lösung“ wird nicht erst durch das Denken geschaffen, sie ist „an sich“ immer schon überall da, wo recht erzogen wird. Aber die Hemmnisse und Wandlungen der Realität treiben die Erziehung ständig aus dieser ursprünglichen Sicherheit heraus; des naiven Gefühls für das Angemessene beraubt, versucht sie dann einseitige praktische und theoretische Lösungen der Aufgaben, die ihr zum Problem geworden sind. Und hier hat die Besinnung die Funktion, die dialektische Einheit der getrennten Momente auf höherer Ebene im Bewußtsein wiederherzustellen und ihr so erneut zur Verwirklichung zu verhelfen. So heißt es im Hinblick auf das dialektische Verhältnis von Praxis und Theorie: „Im erzieherischen Denken tritt uns … ein geistiges Gesamtverhalten entgegen, das mit seinen tiefsten Wurzeln unter diesen Gegensatz von Theorie und Praxis hinabgreift und sich erst in einer höheren Schicht in diese zwei Verhaltensformen zerlegt, ohne indessen auch innerhalb ihrer diese wurzelhafte Verbundenheit ganz in Vergessenheit bringen zu können“ (S. 109). Blicken wir auf unseren letzten Abschnitt zurück, so zeigt sich die Gemeinsamkeit der inneren, dialektischen Struktur des Denkens bei Nohl und Litt.

30 d. h. hier: der Erziehungswirklichkeit (d. Verf.).

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Unbeschadet dieser Übereinstimmung im tiefsten ist nun, neben der erwähnten unterschiedlichen Wertschätzung der Methodologie, doch ein weiterer typischer Unterschied beider Denker zu betrachten. Er läßt sich an Litts Abhandlung „Führen oder Wachsenlassen“ (erstmals 1927) beispielhaft verdeutlichen. – Die Gedankenführung in dieser Schrift dokumentiert sich schon im äußeren Aufbau so eindeutig als dialektisch, daß sich jede Erläuterung erübrigt. Es gelingt der überzeugende Nachweis, daß die im Titel angedeuteten Forderungen sich im Raum der Erziehung immer nur mit- und durcheinander rechtfertigen, daß sie immer wieder zu einem Spannungsverhältnis auseinandertreten und doch ebensooft zur Einheit gebunden werden müssen, wenn Erziehung gelingen soll: realiter und konkret zur Einheit der erzieherischen Gesamtschau, der Handlung des Geschehens, begrifflich-dialektisch zur Einheit des deutenden und leitenden Gedankens. Diese zwei Forderungen nach konkreter Lösung im Tun und gedanklicher Aufhebung in Begriffen oder Sätzen sind – das ist nun nach allem früheren deutlich – nicht etwa bloß zwei nebeneinanderstehende oder gar, wie Erika Hoffman irrigerweise meinte31, widersprüchliche Aussagen, sondern sie sind als solche selbst dialektisch ineinander verschränkt: Die gedankliche „Aufhebung“ fordert als solche die je einmalige konkrete Lösung, deren Wesen aber erschließt sich nicht anders als in der Allgemeinheit des Gedankens. Auf welchem denkerischen Wege kommt Litt zu seinem Ergebnis? – Nicht anders als Nohl nimmt er den Ausgang von einem ganz konkreten Anlaß: eine Diskussion auf dem Pädagogischen Kongreß 1926 in Weimar, in der sich bald zwei Gruppen bildeten, deren ursprüngliche „Kampfparolen“ – hie „Wachsenlassen“, dort „Führen“ – im Laufe der Debatte eine eigentümliche Verkehrung erfuhren, so daß in einem bestimmten Stande der Debatte jede Seite zum Verfechter des gewöhnlich vom Partner eingenommenen Standpunktes geworden zu sein schien. Wie ist das möglich? Mit dieser Frage ist das Problem sogleich in eine systematische Sicht gerückt. Denn nun richtet sich das Interesse nicht mehr vorwiegend auf die historische Frage, warum gerade diese Gruppe diesen Standpunkt und jene jenen einnimmt, woher die Partner weltanschaulich und geschichtlich kommen, sondern auf das Problem: Welch seltsamer Sachverhalt muß vorliegen, wenn die besagte Verkehrung der Standpunkte möglich ist? Unter diesem Aspekt kann es gar nicht mehr das primäre Anliegen sein, die streitenden Gruppen in ihrem geschichtlichen Sosein zu verstehen. Und die Darlegung kann nicht mehr beim Selbstverständnis der einzelnen Gruppen stehenbleiben. Ja, sie kann sie nicht einmal in ihrer konkreten Fülle ins Auge fassen. Die Gesprächspartner machen sich mit ihren Aussagen zu Verfechtern bestimmter Standpunkte. Diese mögen ihnen nicht einmal voll bewußt sein, sie vertreten sie, ohne den Gesamtzusammenhang der systematischen Voraus31 a. a. O. S. 65ff., bes. S. 69, 70.

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setzungen und Folgerungen zu überblicken, die mit ihren Thesen verknüpft sind. Ja, mehr noch: Die Gesprächspartner meinen es vielleicht „gar nicht so, wie sie es sagen“. Aber da es in dem Gespräch um gedankliche Klärung geht, geht es zugleich darum, was man meinen muß, wenn man dieses oder jenes sinnvoll soll sagen können. Die oft verborgenen, ungeklärten Vorstellungen, die hinter diesen Aussagen sichtbar werden, müssen ans Licht geholt und auf ihre Richtigkeit hin durchdacht werden. Denn hinter jeder Aussage über ein Phänomen steht immer eine Deutung dieses Phänomens, und wie man es deutet, so wird man es be-handeln. Litt dringt immer von Anfang an auf den systematischen Gehalt der Aussagen in einer Kontroverse. Man könnte sagen, daß es ihm immer um die „Bedingungen der Möglichkeit“ eines vertretenden Standpunktes und um seine notwendigen Konsequenzen geht. Beides soll in begrifflicher Schärfe formuliert werden. Diese Reduktion oder Explikation bis zu den „reinen Positionen“ hin ist für Litt immer die erste Phase jener dialektischen Denkbewegung, die wir vorher betrachteten. So ist es erklärlich, daß die Vertreter einer Auffassung sich in der Gestalt, die ihre Thesen nach der Durchleuchtung auf die immanenten systematischen Voraussetzungen und Folgen hin angenommen haben, nicht immer wiedererkennen, denn „so hatten sie es nicht gemeint“. Vielleicht hat man es sich nicht immer ganz deutlich gemacht, daß die mit letzter begrifflicher Schärfe durchgeführten Analysen Litts gar nicht den Sinn historisch verstehender Beschreibung explizit so vertretener Standpunkte oder den direkter Polemik haben konnten. Es geht in ihnen zunächst immer um den rein systematischen Gehalt. Es kann hier nicht mehr untersucht werden, ob und wieweit diese Einsicht in die Besonderheit des Littschen Denkens jene alte und nie befriedigend beendete Kontroverse zwischen Litt und Nohl zu bereinigen vermöchte, die sich an Litts Schrift „Die Philosophie der Gegenwart und ihr Einfluß auf das Bildungsideal“ (1925) knüpfte.32 Ist die Polemik als solche heute auch überholt, so hat sie im Lager der geisteswissenschaftlichen Pädagogik doch eine bis in die Gegenwart spürbare negative Folge hinsichtlich der unterschiedlichen Bewertung gehabt, die man dem dialektischen Denken für die Pädagogik explizit zuteil werden läßt. Es überschritte den Rahmen dieser Arbeit zu zeigen, wie das dialektische Denken Litts sich in seinen späteren pädagogischen Schriften bis heute hin als überaus fruchtbar erweist. Wenn ich recht sehe, sind die Grundzüge seines pädagogischen Denkens – trotz mancher Wandlungen im einzelnen – die gleichen geblieben, die wir im vorigen zu skizzieren versuchten.33 32 Vgl. die Rezension von Nohl in: Deutsche Literaturzeitung (1927) H. 29. 33 Der Raum dieses Aufsatzes verbietet es leider auch, hier noch den Entwurf einer Bildungstheorie auf seine dialektische Struktur hin zu untersuchen, den R. Guardini in

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VII Versuchen wir abschließend, die Denkweisen Nohls und Litts einander gegenüberzustellen. Beiden geht es im Interesse der pädagogischen Praxis darum, die Grundstruktur der Erziehungswirklichkeit systematisch zu erfassen. Beide begreifen sie als einen Wirkzusammenhang dialektisch aufeinander bezogener Momente, und dieses Begreifen ist nichts anderes als die dialektische Entwicklung ihrer Gedanken selbst. Beide gehen (erstens) von den in der geschichtlichen Erziehungswirklichkeit als Antinomien erscheinenden Spannungen aus, durchschauen (zweitens) die anfänglichen Gegensätze auf die in ihnen sichtbar werdenden Polaritäten hin, erschließen (drittens) diese in dialektischer Denkbewegung als Wirkungszusammenhänge und rechtfertigen (viertens) die „Aufhebung“ im Gedanken durch den Hinweis auf konkrete Phänomene oder Aufgaben, in denen die Lösung als pädagogische Leistung sich je und je vollzieht oder doch möglich wird. Nohl sieht aber sein Denken vor allem durch den – in der zweiten Phase der geschilderten Denkbewegung beheimateten – Begriff der „Polarität“ gekennzeichnet; Litt begreift das seine auf Grund umfassender methodologischer Besinnung – vom geistigen Geschehen der dritten Phase her – ausdrücklich als „dialektisch“. Nohl bleibt mit seinem Denken bewußt den konkreten Phänomenen nahe, er gewinnt das gedankliche „Dominantensystem“ und die „typischen pädagogischen Möglichkeiten“34 in unmittelbarer Anschauung der Fülle des Geschichtlichen. Er erschaut die Systematik gleichsam in der geschichtlichen Erziehungswirklichkeit. Er versucht häufig, die verschiedenen Ansätze zur Lösung eines pädagogischen Problems als historisch notwendig zu verstehen, so daß die Systematik oft im geschichtlichen Gewande erscheint. Dadurch gewinnt seine Theorie ihre große Anschaulichkeit und Lebendigkeit. Litt hingegen bleibt nicht bei den Phänomenen stehen, sondern drängt von Anbeginn über sie hinaus. Er verfolgt die pädagogischen Spannungen mit größter logischer Prägnanz bis in ihre systematischen Voraussetzungen und Konsequen-

seiner „Grundlegung der Bildungslehre“ vorgelegt hat (jetzt in der Reihe „Weltbild und Erziehung“, Werkbund-Verlag Würzburg). E. Hoffmanns Darstellung des „Gegensatzes“ bei Guardini, in der die genannte Schrift nicht verwertet wird, bedüfte von ihr aus entschiedener Korrektur. – Vgl. zur Guardini-Interpretation vom Verf.: Pädagogisch-dialektische oder anthropologisch-existenzphilosophische Grundlegung der Erziehungswissenschaft? Kritische Gedanken zu H. Döpp-Vorwalds Auseinandersetzung mit Guardinis „Grundlegung der Bildungslehre“. In: Zeitschrift für Pädagogik 4 (1958) S. 353–361. 34 Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. S. 121.

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zen hinein, um so aus ihnen „den ganzen Sinn der Erziehung“35 zu begreifen. Die Lebendigkeit seiner Theorie ist eine durch den Begriff vermittelte. Die Analysen Nohls bleiben dem Selbstverständnis der pädagogisch Wirkenden bewußt nahe: im „Bilde“ der Theorie vermögen sich letztere unmittelbar als geschichtliche Kräfte wiederzuerkennen. Die Analysen Litts gehen bewußt hierüber hinaus; sie lassen die systematische Struktur der Erziehungswirklichkeit als solche klar zutage treten und vermitteln dem Erzieher in immer neuer methodischer Selbstbesinnung Einsicht in die ihm oft verborgenen Voraussetzungen seines Tuns. Wenn unsere These richtig ist, daß sich in Nohl und Litt, auf dem Grunde einer oft verkannten Gemeinsamkeit im dialektischen Denken, zwei Typen der pädagogischen Dialektik abzeichnen, so kann damit kein Werturteil ausgesprochen sein. Die Fruchtbarkeit beider Wege hat sich in einer Fülle konkreter pädagogischer Probleme erwiesen. Zweifellos stehen die Unterschiede der beiden Ausprägungen dialektischen Denkens in einem tiefen Zusammenhang mit dem gesamten personalen Sein der beiden Denker, an denen wir sie entwickelten. Jede Typik im geistigen Raum aber ist, indem sie erkannt wird, damit zugleich irgendwie überwunden, in Freiheit gesetzt. Ob aus typischen Verschiedenheiten pädagogischer Probleme oder besser: konkreter Problemsituationen etwas darüber ausgemacht werden kann, welcher Denkweg im einzelnen Falle die größere Fruchtbarkeit verspricht, ist eine berechtigte Frage. Der Verfasser vermag sie einstweilen ebensowenig befriedigend zu beantworten wie jene andere, ob nicht beide Formen, zufolge ihrer wesenhaften Gemeinsamkeit im dialektischen Prinzip, angesichts pädagogischer Probleme zu fruchtbarer Zusammenarbeit vereint werden können. Antwort auf diese Fragen würden wir vielleicht erhalten, wenn wir die hier entwickelten Gedanken nun bei der Untersuchung jener Gegenwartsprobleme verwerten könnten, von denen unsere Erörterung ausgegangen war.36

35 Führen oder Wachsenlassen. 5. Aufl. S. 81. 36 Aus der Literatur zum Dialektik-Problem in der Pädagogik, die seit der Konzeption dieser Abhandlung (1955) erschienen ist, nennen wir noch zwei Arbeiten: R. Spaemann: Dialektik und Pädagogik. In: Pädagogische Rundschau 15 (1961) S. 21–36; J. Derbolav: Humanismus, Dialektik und Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 7 (1961) S. 246–270.

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Zur Frage nach der Pädagogischen Bedeutung des Sokratischen Gesprächs und neuerer Diskurstheorien Bemerkungen zur Problemgeschichte und zur sokratischen Gesprächsführung

3 Pädagogische Bedeutung des Sokratischen Gesprächs 3 Pädagogische Bedeutung des Sokratischen Gesprächs

I Gustav Heckmanns Buch „Das sokratische Gespräch“1 konnte und sollte, so meine ich, ein Anstoß dazu sein, das Problem des Diskurses im pädagogischen Zusammenhang – als ein zugleich theoretisches und praktisches Zentralthema – wieder aufzunehmen und seine Erörterung systematisch voranzutreiben. Mit „Diskursen“ – oder „sokratischen Gesprächen“ im Nelson-Heckmann’schen Sinne – meine ich Erörterungen, in denen Menschen bisher als „selbstverständlich“ geltende, implizite oder explizite Ansprüche auf theoretische Geltung von Aussagen oder auf praktische (moralische i. w. S. d. W.) Geltung von Forderungen bzw. ihnen zugrunde liegenden Prinzipien (Normen) in Frage stellen oder für theoretische oder praktische Geltungsansprüche argumentativ Begründungen (Rechtfertigungen) suchen oder sie zur Diskussion stellen.2

II Zwar ist das Problem des Diskurses vor einigen Jahren, vor allem im Zusammenhang mit der Rezeption philosophischer Argumentationen von Jürgen Habermas, in der Erziehungswissenschaft mehrfach zur Sprache gebracht worden, etwa von 1

Gustav Heckmann: Das sokratische Gespräch. Erfahrungen in philosophischen Hochschulseminaren. Hannover 1980. 2 Diese Bestimmung versucht, den Diskursbegriff so weit zu fassen, daß er die unterschiedlichen Akzentuierungen, die man in den Definitionen des Diskursbegriffs in jüngeren Theorien antrifft, zu umgreifen vermag. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Klafki, Allgemeine Erziehungswissenschaft. Systematische und historische Abhandlungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23165-1_3

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Klaus Mollenhauer in seinem Buch „Theorien zum Erziehungsprozeß“ (1972, bes. S. 64–68). Aber dieser Ansatz und vergleichbare Versuche haben nicht zu einer kontinuierlichen Diskussion des Problems geführt, weder in problemgeschichtlicher noch in aktuell-systematischer Hinsicht. Wenn aber Mollenhauers diesbezügliche Kernthesen – die bisher m. W. nirgends explizit in Zweifel gezogen worden sind und die mir argumentativ strikt begründet bzw. begründbar erscheinen – richtig sind, daß nämlich für eine am Selbstbestimmungsprinzip orientierte Erziehung der Diskurs „die letzte Legitimationsbasis für Lernzielentscheidungen darstellt“ (S. 62) und daß Erziehung verstanden werden müsse „als ein Handeln, dessen Ziel darin liegt, eine Kommunikationsstruktur zu etablieren, die den Erwerb von Fähigkeiten zum Diskurs ermöglicht“ (S. 68), dann darf die Erziehungswissenschaft das Thema nicht auf dem bisher erreichten Stand gleichsam liegenlassen oder den Eindruck erwecken, es habe sich dabei – wieder einmal – um eine Mode gehandelt, die man nach einer kurzfristigen Konjunkturphase ohne Substanzverlust wieder aus dem Verkehr ziehen könne. Das Desiderat einer gründlichen Aufarbeitung des Problems der „sokratischen Methode“ (des sokratischen Gesprächs) bzw. des „Diskurses“ konnte von zwei Seiten aus in Angriff genommen werden, die vorher bereits stichwortartig benannt wurden: problemgeschichtlich oder aktuell-systematisch. Problemgeschichtliche Untersuchungen brauchen wir, weil in den heutigen Bemühungen um die Klärung des Diskursproblems historische Positionen – als bewußt rezipierte oder unreflektiert beeinflussende – nachwirken, mindestens nachwirken können, und weil es möglich ist, daß in älteren Positionen systematisch gültige, aber vergessene Erkenntnismomente enthalten sind. Mindestens vier Hauptstationen und -stränge einer solchen Problemgeschichte lassen sich sozusagen „auf Anhieb“ benennen: • Die Wiederentdeckung des Sokrates in der Aufklärungsbewegung des 17. und vor allem des 18. Jahrhunderts3 und die Entwicklung verschiedener Varianten der „sokratischen Unterrichtsmethode“, die damals allerdings von ihren Verfechtern fast ausschließlich als ein geschicktes Frageverfahren des Lehrers verstanden worden ist.4

3 Benno Bohm: Sokrates im 18. Jahrhundert. Studien zum Werdegang des modernen Persönlichkeits-Bewußtseins. Leipzig 1929. 4 Fritz Krecher: Die Entstehung der sokratischen Unterrichtsmethode. Ein Beitrag zur Geschichte der Didaktik. Kulmbach 1929. (Phil. Diss. Erlangen 1929)

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• Die Wiederentdeckung, Re-Interpretation und Neufassung der „sokratischen Methode“ des platonischen Sokrates bei Leonard Nelson5 und die Weiterentwicklung bei Gustav Heckmann. Die Sokrates-Rezeption im Zusammenhang der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, ihrer Erziehungs-, Lehr- und Lerntheorie, so bei Herman Nohl6 , Eduard Spranger7, dem Spranger-Schüler Friedrich Copei8 bis hin zu Martin Wagenscheins „genetisch-sokratisch-exemplarischem Verfahren“9. • Die Ansätze zur erziehungswissenschaftlichen Rezeption jüngerer philosophischer Diskurstheorien, wobei diese Theorien bzw. Theorieansätze, soweit ich sehe, nirgends ausführlicher auf den problemgeschichtlichen Zusammenhang mit der platonischen Sokrates-Darstellung, der „Sokratik“ des 18. Jahrhunderts oder mit Nelson eingegangen sind, in dem sie gleichwohl stehen. Innerhalb der sogenannten „emanzipatorischen“, „kritischen“ oder „kritisch-konstruktiven“ Erziehungswissenschaft sind vor allem diskurstheoretische Beiträge von Jürgen Habermas10 und Karl-Otto Apel11 aufgenommen worden, wenn auch bisher eher programmatisch als in Form einer differenzierten Übersetzung und Fortbildung im pädagogischen Problemzusammenhang. Eingehender, wenn auch, wie mir

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Leonard Nelson: Die sokratische Methode (1922). In: L. Nelson: Gesammelte Schriften. Hrsg. von P. Bernays u. a. Bd. 1. Hamburg 1970. S. 269–316. 6 Herman Nohl: Sokrates und die Ethik. Tübingen/Leipzig 1904. – Ders.: Die Pädagogische Bewegung und ihre Theorie. 3. Aufl. Frankfurt/M. 1949, s. Registerstichwort „Sokrates“, S. 240. 7 Eduard Spranger: „Sokrates“ und „Das Rätsel Sokrates“. In: E. Spranger: Vom pädagogischen Genius. Lebensbilder und Grundgedanken großer Erzieher. Heidelberg 1965. S. 7–38. 8 Friedrich Copei: Der fruchtbare Moment im Bildungsprozeß. (1930). 8. Aufl. Heidelberg 1966. 9 Martin Wagenschein: Verstehen lehren. Genetisch – Sokratisch – Exemplarisch. 6. Aufl. Weinheim 1977. – Ders.: Naturphänomene sehen und verstehen. Genetische Lehrgänge. Hrsg. von H. Chr. Berg. Stuttgart 1980. 10 Jürgen Habermas: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: J. Habermas, N. Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung. Frankfurt/M. 1971. – Jürgen Habermas: Wahrheitstheorien. In: Wirklichkeit und Reflexion. W. Schulz zum 60. Geburtstag. Hrsg. von H. Fahrenbach Pfullingen 1971, S. 211–265. – Jürgen Habermas: Legitima­ tionsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt/M. 1973, bes. S. 131–196. 11 Karl-Otto Apel: „Die Kommunikationsgemeinschaft als transzendentale Voraussetzung der Sozialwissenschaften“ und „Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik“. In: K-O. Apel: Transformation der Philosophie. Bd. 2. Frankfurt/M. 1973, S. 220–263 bzw. 358–435.

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scheint, ohne Breitenwirkung, sind diskurstheoretische Argumentationen aus dem Kreis der Erlanger Schule der „konstruktivistischen Philosophie“12 von einigen Erziehungswissenschaftlern produktiv rezipiert und pädagogisch weitergedacht worden, insbesondere von Eckard König13 und Peter Füglister14 . Die Problemgeschichte mündet mit den in der Gegenwart vertretenen Positionen in den Aufgabenkreis aktuell-systematischer Analysen ein. Zwei Aufgaben scheinen mir hier vordringlich zu sein: Erstens müßten die gegenwärtig vertretenen Theorien des Diskurses bzw. des sokratischen Gesprächs – insbesondere die Positionen von Habermas/Apel, der Erlanger-Schule und die Fortbildung der sokratischen Methode Nelsons durch Heckmann – systematisch unter erziehungswissenschaftlicher Fragestellung aufgearbeitet werden: Welche Bedeutung können oder sollen Diskurse (sokratische Gespräche) für die Begründung/Rechtfertigung von Erziehungszielen und für die Selbstvergewisserung von Erziehern haben, und welche Bedeutung kommt solchen Diskursen im Prozeß einer Erziehung zur Selbstbestimmungsfähigkeit und zu humaner und demokratischer Solidarität zu, sofern sich die damit angesprochenen Erziehungsziele intersubjektiv rechtfertigen lassen? In dieser Hinsicht hat Eckard König für die bisherigen Ansätze aus dem Kreis der Erlanger Philosophie die differenziertesten Vorarbeiten geleistet. Zweitens bedürfte es systematischer Vergleiche zwischen den drei genannten (und ggf. weiteren) Positionen. Hier ist nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden – beginnend mit der Frage nach den jeweils spezifischen Bestimmungen der Begriffe „Diskurs“ bzw. „sokratisches Gespräch“ („sokratische Methode“) –, nach Vereinbarkeiten oder Unvereinbarkeiten sei es auf der Ebene der Begründungen der jeweiligen Konzepte – nicht zuletzt der jeweils implizierten oder explizierten „Wahrheitstheorien“ – sei es auf der Ebene der Vorschläge für Verfahren und Regeln und für den Lehr- und Lernprozeß, in dem Diskursfähigkeit gewonnen werden kann. Das eben sehr vorläufig umrissene Arbeitsprogramm problemgeschichtlicher und aktuell-systematischer Studien zur Diskursproblematik bzw. zur sokratischen Methode kann in diesem Beitrag nicht umfassend in Angriff genommen werden.

12 Paul Lorenzen, Oskar Schwemmer: Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie. Mannheim 1973. – Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie. Hrsg. von Friedrich Kambartel. Frankfurt/M. 1974. 13 Eckard König. Theorie der Erziehungswissenschaft. Bd. 2. München 1975, Bd. 3. München 1978. 14 Peter Füglister: Lehrzielberatung. Zur Reflexion didaktischen Handelns mit Schülern. München 1978, bes. S. 119–206.

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Ich beschränke mich im folgenden in aktuell-systematischer Perspektive auf einen Aspekt der „sokratischen Methode“ bzw. des „sokratischen Gesprächs“, nämlich auf die Erörterung eines der Grundprinzipien der sokratischen Gesprächsleitung im Sinne Nelsons und Heckmanns. Ich nehme damit Gesichtspunkte erneut auf, die ich bereits in einer Rezension des Buches Gustav Heckmanns angeschnitten habe.15

III Wie Nelson, so vertritt auch Gustav Heckmann mit großer Konsequenz die Auffassung, daß der Gesprächsleiter selbst keine inhaltlichen Positionen in ein sokratisches Gespräch einbringen darf. Heckmann nennt diese Regel das „Gebot der Zurückhaltung“ (Heckmann, S. 66). Er führt zwei Begründungen für dieses Gebot an. Die erste Begründung lautet: Nach seiner, Heckmanns, Erfahrung wäre die Aufmerksamkeit des Gesprächsleiters durch zwei zentrale und unverzichtbare Aufgaben voll in Anspruch genommen: „Er muß die Gesprächsteilnehmer bei der gerade zur Diskussion stehenden Teilfrage festhalten bzw. sie immer wieder zu ihr zurückholen, bis sie soweit geklärt ist, wie der Stand des Gesprächs es ermöglicht und erfordert. Er muß ferner beobachten, ob volle Verständigung erreicht ist, und wenn er den Eindruck hat, daß das noch nicht der Fall ist, das Gespräch noch bei der erörterten Frage festhalten“ (S. 10). Diese auf den ersten Blick vielleicht einfach erscheinenden Aufgaben erweisen sich, wie Heckmanns Buch zeigt, im Vollzug als oftmals sehr diffizil, sie schließen eine Reihe anspruchsvoller Fähigkeiten und methodischer Teilmaßnahmen des Gesprächsleiters ein. Die zweite Begründung besagt, daß jede vom Gesprächsleiter geäußerte inhaltliche Stellungnahme die Gefahr mit sich brächte, in die Diskussion ein nicht sachlich, sondern personell bzw. institutionell begründetes, autoritatives Ungleichgewicht einzuführen. Die dem Gesprächsleiter – etwa einem Hochschullehrer oder einem Volkshochschuldozenten oder einem Lehrer in der Jugendschule – von den Teilnehmern zugesprochene „Autorität“ könnte ihre Bereitschaft und ihren Mut, jedes Argument mit gleicher Unvoreingenommenheit kritisch zu prüfen und eigene Argumente – im Bewußtsein der Gleichrangigkeit mit allen anderen Gesprächspartnern – vorzubringen, beeinträchtigen. „Als Lehrer“ muß der Leiter eines sokratischen Lehrgesprächs „den Teilnehmern an Einsicht in die erörterte Sache oder doch an Erfahrung im Bemühen um Einsicht voraus sein. Dadurch sind seine Argumente herausgehoben, und wenn er sie äußern würde, würde das den 15 Zeitschrift für Pädagogik 29 (1983) S. 316–322.

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Teilnehmern das unbefangene Prüfen der von ihnen vorgebrachten Argumente stören. Ihre Aufmerksamkeit würde auf die Argumente des Gesprächsleiters gelenkt, würde von ihrem eigenen Denken abgezogen werden“ (S. 66/67). Noch schärfer lautet Nelsons Diktum, „daß ein unbedingt auszuschaltender Einfluß derjenige ist, der von den Urteilen des Lehrers ausgeht. Gelingt die Ausschaltung dieses Einflusses nicht, dann ist alle weitere Mühe eitel. Der Lehrer hat alles getan, was an ihm ist, dem eigenen Urteil des Schülers durch Anbieten eines Vorurteils zuvorzukommen“ (Nelson: Gesammelte Schriften. Bd. 1. S. 292; bei Heckmann zitiert auf S. 67). Beide Begründungsargumente haben m. E. hohes Gewicht, weisen auf Schwierigkeiten und Gefahren hin, die jeder kennt, der häufig Problemgespräche geleitet oder daran teilgenommen hat. Gleichwohl habe ich Zweifel, ob jene Argumente hinreichend sind, um die strikte Einhaltung jenes von Nelson und Heckmann vertretenen „Gebotes der Zurückhaltung“ zu begründen. Das erste Begründungsargument für dieses Gebot läßt sich nur auf dem Wege von Versuch, Erfahrung und selbstkritischer Reflexion überprüfen, am besten unter Zuhilfenahme von Gesprächsbeobachtern bzw. -protokollanten, ggf. auch von Tonbandaufnahmen. Meine Alternativfrage lautet hier: Ist es Gesprächsleitern möglich bzw. können sie lernen, jene von Heckmann genannten, m. E. in der Tat unverzichtbaren Aufgaben des Gesprächsleiters in sokratischen Gesprächen unverkürzt wahrzunehmen, darüber hinaus aber auch inhaltliche Argumente einzubringen, wo sie geeignet oder notwendig erscheinen, um den Erkenntnisprozeß der Teilnehmer, deren „eigene Urteilsbildung“ zu fördern? Das zweite Argument Heckmanns (und Nelsons) ist reicher an impliziten Voraussetzungen und von eher prinzipieller Natur. Die darin benannte Gefahr, daß hier unsachgemäße Autoritätsmomente ins Spiel kommen können, ist unbestreitbar. Diese Gefahr ist m. E. aber nicht größer als in jedem pädagogischen Verhältnis bzw. in jedem Verhältnis zwischen Lehrenden und (in irgendeinem Sinne) Lernenden. Daß aber die hier in Rede stehende Form des Diskurses bzw. des sokratischen Gespräches Lehrgespräch ist, eben „sokratisches Lehrgespräch“, hat Heckmann nachdrücklich hervorgehoben. In solchen Gesprächen „hilft ein Lehrer, dem die erörterte Sache vertrauter sein muß, als den Schülern, diesen, sich durch Erwägen von Gründen ein eigenes Urteil zu bilden“ (S. 7; Sperrung von mir). – Nun ist jene Gefahr m. E. aber nicht nur nicht größer, sie ist im Prinzip geringer als in anderen Lehrer-Schüler-Situationen. Denn anders als in allen jenen Lehr-Lern-Situationen, in denen der Lernende sich mindestens auch, wenn nicht gar vorwiegend, neue Sachverhalte und Sachzusammenhange aneignen soll, sind sokratische Gespräche für alle Teilnehmer von vornherein dadurch gekennzeichnet, daß es in ihnen zentral um eigene, kritische, reflexiv zu gewinnende Urteilsbildung über „Erfahrungen“ geht, „die allen Gesprächsteilnehmern zur Verfügung stehen“ (S. 8). Damit ist

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jeder Gesprächsbeitrag, auch ein potentielles Argument des Gesprächsleiters, per definitionem „relativiert“, als Anlaß kritischer Prüfung ausgewiesen. Nun ist es zweifellos richtig, daß diese prinzipielle Bestimmung faktisch unterlaufen werden kann, sei es durch den Gesprächsleiter selbst, der durch die Art, seine Beiträge einzubringen, explizit oder implizit (unbewußt) einen „autoritativen“ Anspruch zur Geltung bringen kann, sei es durch die Teilnehmer, die den Argumenten des Gesprächsleiters einen solchen Geltungsvorschuß implizit zusprechen und damit ihre eigene kritische Anstrengung mindern können. Es scheint mir aber möglich zu sein, solche unerwünschten, den Prinzipien sokratischer Gespräche widersprechenden möglichen Folgen durch bestimmte Gesprächsregeln und durch Hilfen zur Selbst- und Fremdkritik an der Gesprächsführung des Gesprächsleiters weitgehend oder ganz zu vermeiden. Indessen: Wenn es solcher zusätzlicher Kautelen und einer Steigerung der ohnehin erheblichen Ansprüche an den Leiter sokratischer Gespräche bedarf, um die mit inhaltlichen Beiträgen des Gesprächsleiters verbundenen Gefahren zu bannen, ist es dann nicht sinnvoller, dem Nelson-Heckmann’schen „Gebot der Zurückhaltung“ zu folgen? Meine Vorbehalte dagegen, dieses Gebot uneingeschränkt zu akzeptieren, ergeben sich aus den Konsequenzen, die dieses Gebot nach sich zieht. Ich möchte drei Argumente bzw. Fragen vorbringen. Dabei knüpfe ich an das Selbstverständnis der Nelson-Heckmann’schen Sokratik an: Im Unterschied zu Konzepten, denen gemäß ein in Gesprächen gewonnener Konsens allein durch die Einhaltung formaler Diskursregeln gerechtfertigt werden kann, beruht Nelsons und Heckmanns Ansatz des sokratischen Gesprächs zweifellos auf der Voraussetzung, daß es das inhaltliche Gewicht von Argumenten ist, das die Qualität einer im Gespräch erzielten Übereinstimmung ausmacht, den Anspruch auf einen (wie auch immer begrenzten und relativen) Fortschritt der miteinander Diskutierenden in Richtung auf „Wahrheit“ rechtfertigt. Die Einhaltung „formaler“ Diskursregeln ist zwar eine notwendige Bedingung, um die Offenheit des Diskurses, die „Chancengleichheit“ der Diskurspartner und die Strenge der Prüfung jedes Argumentes zu gewährleisten, aber erst die inhaltliche Qualität der Argumente gibt eine hinreichende Rechtfertigung für den Anspruch her, einen Fortschritt bei der Wahrheitsfindung in der fraglichen Sache erzielt zu haben. Unter Bezugnahme auf diese Voraussetzung lautet mein erstes Argument: Die inhaltliche Qualität des „Ergebnisses“ sokratischer Gespräche/Diskurse, eines im Gespräch gewonnenen Konsenses – bestehe er ggf. auch nur in der Einsicht in die einstweilige, argumentative Unentscheidbarkeit einer Kontroverse in der Gesprächsgruppe – hängt von drei Faktoren ab:

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• der Qualität der von den Gesprächsteilnehmern eingebrachten Erfahrungen, genauer: ihres potentiellen „philosophischen“ Gehalts;16 • der Qualität der von den Teilnehmern zur Verarbeitung jener Erfahrungen in die Diskussion „mitgebrachten“ Erkenntnispotentiale (Fähigkeiten, den Problemgehalt eigener oder fremder Erfahrungen aufzufassen; Kategorien bzw. begriffliche Verarbeitungsfähigkeit; bereits erworbene Argumentationsstrukturen usw.); • der Qualität jener Erkenntnisse und Verarbeitungsweisen, die im sokratischen Gespräch von der diskutierenden Gruppe aus jenem „Ausgangsmaterial“ heraus und durch den Diskurs über dieses „Ausgangsmaterial“ hinaus entwickelt werden können. Selbst wenn man nun die potentiellen Möglichkeiten des dritten Faktors, die krea­ tive Potenz des sokratischen Gesprächs bzw. des Diskurses, hoch einschätzt, so bleibt die Qualität der gewinnbaren Erkenntnisse eben doch zurückgebunden an die „mitgebrachten“ und die dadurch mitbedingten, im Gespräch entwickelbaren Erkenntnispotentiale der jeweiligen Gesprächsgruppe, deren Zusammensetzung – von Ausnahmen abgesehen – prinzipiell zufällig ist. Dieses Erkenntnispotential ist damit abhängig von den durch familiäre und außerschulische Sozialisation, Schulbildung, Lebenserfahrung gewonnenen Möglichkeiten der Gesprächsteilnehmer. Was spricht dann aber, wenn sich jene früher angesprochene Gefahr autoritativer Verzerrung vermeiden ließe, dagegen, daß die inhaltliche Qualität der im Gespräch zu erarbeitenden Erkenntnis(se) ggf. durch inhaltliche Argumente (oder Erfahrungen) des Gesprächsleiters gesteigert werden kann, ohne daß dadurch die Intensität persönlicher Aneignung, der je individuell, im Mitvollzug des Argumentierens gewonnenen Überzeugung – als eine weitere, konstitutive Bedingung sokratischer Erkenntnisbildung – gemindert würde? Ich komme zu meinem zweiten Argument. Hier ist zunächst eine Zwischenüberlegung notwendig. Realistischerweise wird man davon ausgehen müssen, daß im Hinblick auf ein bestimmtes Thema sokratischer Gespräche jene drei vorher genannten Faktoren bei einzelnen Gesprächsteilnehmern mehr oder minder unterschiedlich ausgeprägt sind. Diese Annahme hat nichts mit der Unterstellung 16 „Philosophie“ bzw. „philosophisch“ werden hier – mit Heckmann – im weiten Sinne dieser Begriffe verstanden, „einschließlich Wissenschaftstheorie, … der Grundfragen von Politik und Erfahrung , aber auch der „Fragen zur Struktur unserer inneren Erfahrung“; denn „jeder hat innere Erfahrung, und viele Phänomene der inneren Erfahrung sind uns allen geläufig“, etwa Erfahrungen des Wollens und seiner Spannung zum Können, Erfahrungen des Gewissens, des Zweifelns usw.; „wir können sie miteinander untersuchen“, uns um „Selbsterkenntnis unserer menschlichen Situation“ bemühen (Heckmann: Das sokratische Gespräch. S. 8).

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von generellen „Intelligenzunterschieden“ zu tun, sondern ist jeweils aktuell und problembezogen gemeint. Es mag sein, daß der Gesprächsteilnehmer A zum Thema „Kann man überhaupt frei entscheiden?“ philosophisch gehaltvollere Erfahrungen und eine größere kognitive Verarbeitungsfähigkeit in ein Gespräch einzubringen vermag als Gesprächsteilnehmer B, daß sich das Verhältnis zwischen beiden Personen angesichts des Themas „Gibt es Grenzen des Toleranzprinzips?“ aber umkehrt. Unter dieser Voraussetzung, daß es bei den Teilnehmern sokratischer Gespräche meistens Unterschiede hinsichtlich der problembezogenen Erfahrungen und der Verarbeitungskompetenzen geben wird, möchte ich folgende Überlegung zur Diskussion stellen: Auch in sokratischen Gesprächen werden immer wieder Situationen folgender Art auftreten. Ein Gesprächsteilnehmer berichtet von Erfahrungen oder entwickelt – im positiven Falle kommunikativ-argumentativ, nicht dogmatisch: verständnisvermittelnd, überprüfbar – Argumente, die qualitativ, ihrer „philosophischen“ Substanz nach deutlich über die von anderen Gesprächsteilnehmern eingebrachten Erfahrungen und Argumente hinausgehen; jene Beiträge des gedachten Teilnehmers erweisen sich dann im weiteren, prüfenden Gespräch möglicherweise als die entscheidend weitertreibenden, sie werden zentral für den Erkenntnisprozeß der Gruppe und ihr „Resultat“. – Warum, so lautet nun meine Frage, sollten solche Erfahrungen oder Argumente im sokratischen Gespräch dann legitim sein, wenn sie von einem Teilnehmer stammen, nicht aber, wenn der Gesprächsleiter sie einbringt (sofern, um es noch einmal zu wiederholen, die Gesprächsleiter-Beiträge den generellen Diskursregeln genauso entsprechen bzw. ausgesetzt werden wie alle anderen Beiträge auch)? – Aus einem anderen Blickwinkel formuliert, läßt sich dieses Argument auch in die Frage fassen: Muß es nicht im Interesse jedes Teilnehmers an einem Gespräch, auch und gerade an einem sokratischen Lehrgespräch liegen, das unter den gegebenen zeitlichen und personalen Bedingungen jeweils mögliche, qualitative Höchstmaß argumentativ gewinnbarer Wahrheitserkenntnis in einer bestimmten Frage zu erlangen, das die Gesprächsgruppe unter Einschluß des Gesprächsleiters im Diskurs zu entwickeln vermag? Hier schließt mein drittes Argument an: Die Selbstdisziplin, die intellektuelle Askese, die Nelson und Heckmann bzw. diejenigen, die ihrem Gebot der Zurückhaltung strikt folgen, sich auferlegen, beeindruckt mich; und wer dieses Gebot in Frage stellt, wird sich selbstkritisch fragen oder fragen lassen müssen, ob seine Zweifel womöglich dadurch motiviert sind, daß er jene Selbstdisziplin nicht aufzubringen bereit ist. Im Bewußtsein dieses potentiellen Einwandes möchte ich gleichwohl fragen: Hat der prinzipielle Verzicht des Gesprächsleiters auf eigene, inhaltlich weiterführende Beiträge nicht die Konsequenz, daß er aus dem Kreis der um (wie auch immer relative) Wahrheitserkenntnis in einer Frage Ringenden letztlich ausgeschlossen bleibt, sich selbst ausschließt – trotz seiner unverzichtba-

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ren, anspruchsvollen Strukturierungs- und Leitungsfunktionen? Und könnte eben dieser „Selbstausschluß“ nicht gerade jene „autoritative“ Stellung oder Unterstellung fixieren oder fördern, die er verhindern soll? Die hier erörterte Zurückhaltungsregel ist m. E. unproblematisch, wo sokratische Gespräche unter sokratisch geschulten Teilnehmern stattfinden, so daß die Gesprächsleiterfunktion zwischen den Teilnehmern wechselt oder doch mindestens prinzipiell wechseln könnte. Diese Voraussetzung gilt jedoch im sokratischen Lehrgespräch nicht. Jedenfalls glaube ich mich einig mit Heckmann, wenn ich die Auffassung vertrete, daß ein „sokratischer Lehrer“ die Gesprächsleiterfunktion allenfalls nach langer, gemeinsamer Arbeit mit einer Gruppe schrittweise an Teilnehmer übergeben könnte; andernfalls verlöre jene Bestimmung ihren Sinn, daß dem Lehrer im sokratischen Lehrgespräch „die erörterte Sache vertrauter sein muß als den Schülern“. Gerade dieser Tatbestand der „Asymmetrie“ zwischen Gesprächsleiter und Teilnehmern im sokratischen Lehrgespräch – eine Asymmetrie, die allerdings im Lehr-Lern-Prozeß schrittweise aufgehoben werden soll – ist es nun, die mich zu meiner kritischen Rückfrage veranlaßt: Hält sich der Gesprächsleiter mit inhaltlichen Diskussionsbeiträgen prinzipiell zurück, so entzieht er den Teilnehmern die Möglichkeit, sich sein Potential problembezogener Erkenntnis produktiv anzueignen, damit aber auch die Möglichkeit, seine faktische „Überlegenheit“ schrittweise abzubauen. Dann entfällt aber auch eine weitere, für eine am Selbstbestimmungs- und Demokratisierungsprinzip orientierte Erziehung fundamentale Erfahrungsmöglichkeit: die Erfahrung nämlich, daß die Argumente eines „Lehrers“, eines potentiell Reiferen, Kundigeren, jemandes, dem Autorität zugesprochen, d. h. eigentlich: immer nur „vorgeschossen“ wird, genauso kritisch geprüft werden können und geprüft werden müssen wie die Argumente aller anderen Gesprächsteilnehmer. Die immer erneute Verwirklichung dieser Möglichkeit im Prozeß sokratischer Gespräche/Diskurse müßte allmählich zu einer konstanten kognitiven Grundeinstellung werden. Daher stelle ich die These zur Diskussion: Sofern es dem Leiter eines sokratischen Gespräches gelingt, seine Argumente mit „pädagogischem Takt“ als Beitrag zum produktiven Erkenntnisprozeß einer Gesprächsgruppe dort (und nur dort) einzubringen und zur Diskussion zu stellen, wo das Erfahrungs- und Argumentationspotential, das die „Lernenden“ an bestimmten Punkten des Gesprächsverlaufes von sich aus zu aktivieren vermögen, ausgeschöpft ist, kann gerade dadurch die Maxime bestätigt werden, daß in Diskursen allein die argumentative Schlüssigkeit, die zwanglose „Macht“ des besseren, in intersubjektiver Erörterung geprüften und anerkannten Argumentes gelten darf.

Kann Erziehungswissenschaft zur Begründung pädagogischer Zielsetzungen beitragen?

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Über die Notwendigkeit, bei pädagogischen Entscheidungsfragen hermeneutische, empirische und ideologiekritische Untersuchungen mit diskursethischen Erörterungen zu verbinden 4 Begründung Pädagogischer Zielsetzungen 4 Begründung Pädagogischer Zielsetzungen

Frage-Ebene und Begrifflichkeit Das Problem der pädagogischen Ziele ist eines der konstitutiven Elemente jenes Begründungs- und Forschungszusammenhanges, den Wilhelm Flitner mit dem Begriff „pädagogischer Grundgedankengang“ bezeichnet hat. Im Sinne des übergreifenden Prinzips der Geschichtlichkeit, das für die Auffassung der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik von der Praxis und der Theorie der Erziehung konstitutiv war und m. E. eine bleibende Erkenntnis darstellt, ist es notwendig, diesen Grundgedankengang und seine zentralen Bestandteile immer wieder neu zu reflektieren, zu ergänzen, zu verändern, weiterzuentwickeln. Nur so kann der Gehalt der bisherigen Entwicklungsgeschichte pädagogischer Praxis, pädagogischer Forschung und Theoriebildung produktiv bewahrt und zugleich mit neuen pädagogischen Erfahrungen, Konstellationen, Fragestellungen und den inzwischen gewonnenen Resultaten der Erziehungswissenschaft und ihrer Nachbardisziplinen vermittelt werden. Den Terminus „pädagogische Ziele“ wähle ich als Kernbegriff dieses Beitrages, weil er es ermöglicht, aufwendigen terminologischen Erörterungen über unterschiedliche Verwendungsweisen von Begriffen wie „Erziehungsziele“, „Bildungsziele“, „Bildungsideale“ u. a. aus dem Wege zu gehen. So zu verfahren ist an dieser Stelle m. E . legitim, weil die angedeuteten begrifflichen Differenzierungen, wie immer das Ergebnis einer entsprechenden Analyse ausfallen mag, den Kern der folgenden Überlegungen nicht berühren. Als „pädagogische Ziele“ werden hier alle Leitvorstellungen bezeichnet, die von Erzieherinnen und Erziehern, sozialen Gruppen, ganzen Kulturen und Gesellschaften, ggf. auch umfassenderen Kulturkreisen oder Staatengemeinschaften in ihrem Wirkfeld als Orientierungen des pädagogischen Handelns im Hinblick auf die jeweils nachwachsenden Generationen, © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Klafki, Allgemeine Erziehungswissenschaft. Systematische und historische Abhandlungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23165-1_4

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aber auch auf die Bildung Erwachsener formuliert werden. Solche Orientierungen bezeichnen zugleich jene Einstellungen und Fähigkeiten, die sich die Adressaten pädagogischen Handelns in Lernprozessen (i. e. S. d. W.) aneignen, die sie sich selbst zu eigen machen sollen. Die hier entwickelten Überlegungen sind nicht primär auf historisch-konkreter Ebene angesiedelt, nicht also dort, wo es um die Begründung und Diskussion bestimmter pädagogischer Ziele unter bestimmten historischen Bedingungen geht. Vielmehr bewegen sich meine Überlegungen vorwiegend auf einer wissenschaftstheoretischen Ebene.

Kann Wissenschaft Aussagen normativen Gehalts machen? Die Frage, ob und was Erziehungswissenschaft zur Begründung pädagogischer Zielsetzungen beitragen kann, stellt sich zwar nicht erst in der Gegenwart. Aber die Erörterung ist derzeit besonders dringlich. Denn in den Stellungnahmen zur Bestimmung bzw. Neubestimmung pädagogischer Zielsetzungen angesichts der Aufgaben und Möglichkeiten der gegenwärtigen und der vermutlich zukünftigen geschichtlichen Lage, auf die man innerhalb der Erziehungswissenschaft und der pädagogischen Praxis sowie in der öffentlichen, gesellschaftlich-politischen Diskussion um pädagogische Probleme trifft, zeichnen sich seit längerem, insbesondere seit den ausgehenden 70er Jahren, tiefgreifende Auffassungsunterschiede, harte Kontroversen ab, m. a. W.: ein teils bereits artikulierter, teils gleichsam latenter „Richtungsstreit“ oder besser: mehrfache Streitfronten. Das prägnanteste Beispiel ist der Gegensatz zwischen den Verfechtern jener Thesen, die 1978 unter dem Titel „Mut zur Erziehung“ (1978, S. 163–165) auf einem Bonner Gesprächsforum – mit eindeutiger Stoßrichtung gegen Zielvorstellungen „emanzipatorischer“ bzw. fundamental-demokratischer Erziehung – vorgelegt wurden, und ihren Kritikern (Benner 1978; Herrmann 1978; Klafki 1980; Tübinger Erklärung … 1978, S. 235–240); leider ist diese Kontroverse bisher nicht über die Formulierung von Position und Gegenposition hinaus in einen wissenschaftlichen Diskurs eingemündet. Der Sache nach aber fordern Kontroversen der angedeuteten Art die Erziehungswissenschaft dazu heraus, generell der Frage nachzugehen, welche Möglichkeiten sie hat und welche Aufgaben sie sich stellen kann oder muß, um zur Klärung unterschiedlicher pädagogischer Zielsetzungen, ggf. zur Konsensfindung beitragen zu können. Nun gibt es aber nicht nur auf der Ebene der Erörterung bestimmter pädagogischer Zielsetzungen tiefgreifenden Richtungsstreit. Vielmehr ist auch die wissenschaftstheoretische Voraussetzungsfrage, ob und inwiefern Erziehungswissenschaft

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überhaupt Beiträge zur Aufklärung, Begründung und Entscheidung pädagogischer Zielfragen und Zielkontroversen leisten könne, umstritten. Schon aus Gründen des zur Verfügung stehenden Raumes ist es hier unmöglich, die unterschiedlichen Positionen und ihre Varianten ausführlicher zu kennzeichnen. Es muß zunächst genügen, die Grundkontroverse in Erinnerung zu rufen. Sie reicht über die Erziehungswissenschaft hinaus, ist also von genereller wissenschaftstheoretischer Natur. Auf der einen Seite stehen die Autoren, die – oft unter Berufung auf die wissenschaftstheoretische Position des Kritischen Rationalismus im Sinne Karl R. Poppers und Hans Alberts oder unter Bezugnahme auf deren Standpunkt so etwa bei Wolfgang Brezinka (1978) – der Wissenschaft generell und demgemäß auch der Erziehungswissenschaft die Möglichkeit absprechen, Aussagen normativen Gehalts machen zu können, also im vorliegenden Falle Urteile über die Geltung, die normative Verbindlichkeit bestimmter pädagogischer Ziele zu fällen. Man fordert die Anerkennung des Prinzips der Werturteilsfreiheit aller mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit auftretenden Aussagen. Für die hier interessierende Frage nach dem möglichen Beitrag wissenschaftlicher Forschung und Argumentation zur Erörterung pädagogischer Ziele lautet die Konsequenz dieser Position: Erziehungswissenschaft kann pädagogische Ziele, die in der pädagogischen Praxis oder der pädagogischen Theorie angestrebt bzw. programmatisch vertreten werden, nur als historische bzw. empirische Fakten sowie hinsichtlich der Eindeutigkeit ihrer sprachlichen Formulierung und – im Falle der Einbettung in einen Zusammenhang mehrerer Zielsetzungen – auf deren logische Konsistenz hin untersuchen. Wo es jedoch um die Frage der normativen Verbindlichkeit (Geltung) bestimmter pädagogischer Ziele geht – etwa Ziele der Friedenserziehung, der Umwelterziehung, der Sexualerziehung, des Stellenwerts formaler „Tugenden“ wie Sauberkeit, Fleiß, Ordnungsliebe, Tüchtigkeit usf. –, da erscheinen unterschiedliche oder kontroverse Wertungs-Positionen generell als Ausdruck weltanschaulicher bzw. religiöser Grundüberzeugungen transnationalen Ursprungs, also als wertende Stellungnahmen, die einer rationalen und damit potentiell wissenschaftsfähigen Erörterung nicht mehr zugänglich sind. Wenn aber einerseits die wissenschaftliche Untersuchbarkeit der Faktizität historischer oder gegenwärtig vertretener pädagogischer Zielsetzungen zugestanden, andererseits der normative Geltungsanspruch als jenseits wissenschaftlicher Erörterung liegend angesehen wird, dann bedeutet das: Es wird unterstellt, daß Aussagen über Fakten und Aussagen über Geltungsansprüche prinzipiell und in toto voneinander geschiedenen Dimensionen angehörten. Der eben skizzierten Position steht eine andere Auffassung gegenüber, die den „Kritischen Rationalisten“ folgenreiche Problemverkürzungen, einige unhaltbare Voraus-Setzungen und damit vorzeitigen Abbruch konsequenter Reflexion vor-

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hält. Diese Gegenposition bzw. ihre Varianten stammen meistens aus dem Denkzusammenhang der „Kritischen Theorie“: m. a. W. der „Frankfurter Schule“ der Wissenschaftstheorie und Sozialphilosophie oder stehen mindestens in Beziehung zu dieser Richtung. Diese Position wird die beanspruchte Überlegenheit allerdings nur dann unter Beweis stellen können, wenn sie sich der kritisierten Position nicht im Ganzen als ausschließende Alternative gegenüberstellt, sondern deren begrenzten Wahrheitsgehalt in sich aufhebt, insbesondere die Einsicht in die Grundstruktur jedes wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses als eines hypothesenprüfenden Verfahrens. Die Überlegenheit kann sich nur darin zeigen, daß die „Kritische Theorie“ in der rationalen Aufhellung der Voraussetzungen wissenschaftlicher Erkenntnis konsequenter verfährt als die Gegenposition, deren letztlich „halbierte Rationalität“ sie reflexiv zu überschreiten vermag.

Wertimplikationen wissenschaftlicher Forschung und Faktizitätsannahmen in pädagogischen Zielsetzungen Ich nehme zunächst einen der zentralen Einwände der „Kritischen Theorie“ gegen den „Kritischen Rationalismus“ auf. Dieser Einwand bezieht sich nicht auf Probleme der pädagogischen Zielsetzung, sondern auf die Wertimplikationen wissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung. Er besagt: In die vermeintlich „werturteilsfreien“ Aussagen bzw. Aussagenzusammenhänge (Theorien) der Wissenschaft gehen weitaus mehr wertungsbesetzte Voraussetzungen ein als nur die (auch von der skizzierten Auffassung zugestandene) Basis-Wertentscheidung, daß das Bemühen um überprüfbare Erkenntnis ein legitimes, erstrebenswertes Ziel menschlicher Aktivität sei. – Nicht nur auf der Voraussetzungsebene, die jener Basisentscheidung unmittelbar nachgeordnet ist, nämlich auf der Ebene der leitenden Erkenntnisinteressen verschiedener Wissenschaftsgruppen oder -typen, seien Wertungen im Spiel, sondern auch auf weiteren Bedingungsebenen wissenschaftlicher Erkenntnisbemühung: so bei den für die einzelnen Wissenschaften konstitutiven, im Prozeß der Wissenschaftsgeschichte sich verändernden Entscheidungen über die Eingrenzung der je fachspezifischen Fragedimensionen (und die Ausgrenzung anderer als „nicht zum Fach gehörig“) oder den – oft auch durch die Verfügbarkeit materieller Ressourcen bedingten – Selektionsentscheidungen auf der Ebene der konkreten Hypothesenbildung wissenschaftlicher Untersuchungen. Es sei argumentativ nicht begründbar, solche normativen Vor-Entscheidungen aus dem Kreis möglicher, intersubjektiv überprüfbarer Aussagen auszublenden. Ebenso fragwürdig sei die Unterstellung, daß die auf jenen Voraussetzungsebenen gefällten

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Entscheidungen, in denen bestimmte Wertungen zur Geltung kommen, den Gehalt der Aussagen nicht berührten, die auf der dann allein als „wissenschaftlich“ anerkannten Ebene hypothesenprüfender Untersuchungen produziert werden. Der wertungsbesetzte Voraussetzungszusammenhang der Wissenschaften einerseits und der (dem Anspruch nach „werturteilsfreie“) Forschungszusammenhang werde hier ohne genauere Prüfung offenbar als nur additiv miteinander verknüpft betrachtet. Diesem allgemeinen wissenschaftstheoretischen Argumentationszusammenhang läßt sich nun für die hier in Rede stehende erziehungswissenschaftliche Frage ein komplementärer zur Seite stellen. Er zielt nicht auf die Wertimplikationen wissenschaftlicher Forschung, sondern – gleichsam mit umgekehrter Stoßrichtung – auf implizite Faktizitätsannahmen in pädagogischen Zielsetzungen. Als Frage formuliert: Gehen in den Geltungsanspruch, mit dem bestimmte pädagogische Ziele vertreten werden, möglicherweise auch historische bzw. empirische Annahmen ein, also Voraussetzungen und Vermutungen über Folgen, die im Prinzip auch von der kritisierten Position aus als wissenschaftlich aufhellbar betrachtet werden? Man denke etwa an Zielsetzungen wie • „Erziehung zur Anerkennung der Ehe als einziger moralisch legitimer Form geschlechtlicher Beziehungen“; • „Erziehung zur Bejahung nationalstaatlicher Identität“; • aber auch „Erziehung zur permanenten Prüfung des Verhältnisses von ‚Verfassungstext‘ und ‚Verfassungsrealität‘“; • „Erziehung zur aktiven Toleranz im Verhältnis zu gesellschaftlichen Minderheiten, d. h. zur theoretischen und praktischen Anerkennung der vollen Gleichberechtigung dieser Gruppen, z. B. auch homosexueller Menschen“. Das würde aber bedeuten, daß der Anspruch auf Geltung, der mit solchen Zielsetzungen von ihren Vertretern verbunden wird, keineswegs im Ganzen transrational-weltanschaulich begründet ist, sondern sich auch – explizit oder implizit (d. h. jedoch: in Diskursen explizierbar) – auf wissenschaftlich untersuchbare bzw. rational-argumentierender Erörterung zugängliche Momente stützt. Z. B. operieren die Verfechter der Bonner Thesen „Mut zur Erziehung“ bei der Begründung ihrer mit generellem Geltungsanspruch vorgetragenen pädagogischen Zielvorstellungen auf Schritt und Tritt mit Aussagen historischen und empirischen Gehalts, dieses freilich in extrem dogmatischer Form, so nämlich, daß sie ihre Faktizitäts-Annahmen nirgends als solche, also in ihrem hypothetischen Charakter kennzeichnen, sondern wie unbezweifelbare Wahrheiten „setzen“. So fußt etwa die folgende Ziel-These in ihrem normativen Geltungsanspruch auf bestimmten Annahmen über psychologisch-anthropologische und soziale bzw. politische Fakten

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und faktische Wirkungszusammenhänge (Folgen): „Wir wenden uns gegen den Irrtum, die Schule könne Kinder ‚kritikfähig‘ machen, indem sie sie dazu erzieht, keine Vorgegebenheiten unbefragt gelten zu lassen. – In Wahrheit treibt die Schule damit die Kinder in die Arme derer, die als ideologische Besserwisser absolute Ansprüche erheben. Denn zum kritischen Widerstand und zur Skepsis gegenüber solchen Verführern ist nur fähig, wer sich durch seine Erziehung mit Vorgegebenheiten in Übereinstimmung befindet.“ (Mut zur Erziehung 1978, S. 163–164). Aber auch entgegengesetzte, „emanzipatorische“ Zielvorstellungen schließen empirische Annahmen ein, etwa die Zielsetzung, Kindern bereits früh Gelegenheit zum Durchstehen von Konflikten in ihren peer-groups und zur selbständigen Lösung solcher Konflikte zu geben, in der Erwartung, daß sie dadurch allmählich überdauernde Einstellungen und Fähigkeiten zu kreativer Konfliktbewältigung auch in späteren Lebensphasen entwickeln können. Sofern sich nun, wie ich annehme, die Vermutung generalisieren läßt, daß alle oder mindestens viele pädagogische Zielvorstellungen bestimmte historische bzw. empirische Tatsachen-Annahmen nicht nur implizieren, sondern daß solche Annahmen den Geltungsanspruch ihrer Verfechter mitbegründen, dann würde damit eine Grundvoraussetzung der „kritisch-rationalistischen Position“ hinfällig: Die Annahme nämlich, der Geltungsanspruch, mit dem pädagogische Ziele vertreten werden, sei von der Frage der (wissenschaftlich untersuchbaren bzw. rational erörterbaren) historisch-empirischen Faktizität prinzipiell trennbar. Mit unserer Kritik dieser Voraussetzung ist nun keineswegs die Behauptung verbunden, es sei sicher, daß sich der normative Anspruch, mit dem pädagogische Zielsetzungen vertreten werden, im Prinzip vollständig in rational (wissenschaftlich) entscheidbare Fragen überführen lassen müsse: Es spricht manches für die Annahme, daß der Anteil historisch bzw. empirisch aufklärbarer Implikationen hinsichtlich verschiedener pädagogischer Zielvorstellungen sich als unterschiedlich umfangreich erweisen dürfte und daß selbst bei einem relativ großen Ausmaß solcher rationaler Aufklärbarkeit immer ein mehr oder minder großer Anteil an „transrationalem“, „weltanschaulichem“ Überzeugungspotential bestehen bleibt. Indessen gibt es keine Möglichkeit, vor konsequenten Analysen bzw. systematischen Diskursen festlegen zu wollen, wo die Grenze zwischen dem rational-reflexiv aufhellbaren Anteil einerseits und den transrationalen Momenten eines Geltungsanspruchs, der mit einer pädagogischen Zielvorstellung verbunden ist, andererseits liegt. Aus den vorstehenden Überlegungen ergeben sich für die Erziehungswissenschaft fünf Aufgaben kritisch-analytischer Art; dabei klammere ich rein historisch orientierte Forschung über Erziehungsziele vergangener Epochen der Erziehungspraxis oder -theorie aus.

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• Erstens: Wenn Erziehungswissenschaft Aussagen über pädagogische Ziele macht, dann bezieht sie sich meistens auf eine bereits laufende Zieldiskussion, auf vorliegende Zielkonzepte, bereits diskutierte Zielkontroversen. Sie kann und muß die geschichtlichen Voraussetzungen und Implikationen solcher Positionen aufklären und damit auch die Frage jeweils konkret herausarbeiten, ob und ggf. inwiefern die in solchen Zielsetzungen steckenden historischen Voraussetzungen mit den gegenwärtigen, selbst wiederum historisch gewordenen Lebensbedingungen des Individuums, der Gesellschaft, der Menschheit vereinbar sind, etwa eine Zielsetzung wie die der Identifikation mit der spezifischen Kultur und dem politischen Gemeinwesen, dem Staat, in den man hineingeboren und dann hineinsozialisiert wird. • Zweitens: Erziehungswissenschaft muß – in Verbindung mit Soziologie und Politologie – im pädagogischen Feld vertretene bzw. für die Erziehung formulierte Zielsetzungen daraufhin untersuchen, ob sich in ihnen unreflektierte gesellschaftliche Interessen und Machtpositionen ausdrücken, „Ideologie“ im engeren und strengeren Sinne des Wortes, nämlich als gesellschaftlich bedingtes, erweisbar falsches Bewußtsein, das bestehende Machtverhältnisse unreflektiert stützt und vermeintlich rechtfertigt. • Drittens: Da Erziehungsziele meistens nicht als je einzelne, sondern innerhalb von Zielkomplexen formuliert und verfolgt werden, hat Erziehungswissenschaft die Aufgabe zu untersuchen, in welchem Verhältnis die einzelnen Zielsetzungen zueinander stehen, vor allem, ob solche Zielkomplexe in sich stimmig sind, ob die in ihnen enthaltenen Teilziele miteinander verträglich sind oder vielleicht in ungeklärter Spannung, ggf. sogar im Widerspruch zueinander stehen, so etwa, wenn in einem Lehrplanwerk z. B. gefordert würde, die Schüler sollten zur Leistungsbereitschaft erzogen werden, ohne daß dieser Begriff genauer geklärt wird, oder wenn gezeigt werden kann, daß jene Forderung im Rahmen der Vorstellung einer Konkurrenzgesellschaft formuliert wird, während man gleichzeitig auf die programmatische Forderung der Erziehung zu solidarischem Verhalten stößt. • Viertens: Es läßt sich zeigen, daß in vielen gegenwärtig vertretenen pädagogischen Zielsetzungen Annahmen über Wirklichkeit, also empirische Voraussetzungen stecken, und zwar als Momente der mit solchen Zielsetzungen verbundenen Geltungsansprüche: Annahmen über bestimmte Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Natur, über gegenwärtige und vermutlich zukünftige gesellschaftliche und politische Verhältnisse, über sich abzeichnende Entwicklungstrends usw. Solche Realitäts- oder Trendannahmen lassen sich, als Annahmen mit empirischem Gehalt, grundsätzlich daraufhin überprüfen, ob oder wieweit sie mit dem erreichten erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnisstand der

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anthropologischen und der Sozialwissenschaften vereinbar sind oder ggf. mit plausiblen Argumenten davon abweichen. • Fünftens: Da die Formulierung von Erziehungszielen notwendigerweise einen Vorgriff auf Zukunft, auf noch nicht oder nicht hinreichend realisierte Orientierungen menschlichen Handelns darstellt, kann und muß Erziehungswissenschaft prüfen, wieweit solche Vorgriffe mit Aussagen darüber verbunden werden oder werden können, unter welchen Bedingungen die Einlösung der Zielsetzungen erwartet werden kann.

Erziehungswissenschaft und „praktischer Diskurs“ Mit den Hinweisen auf die prinzipielle Möglichkeit, die historischen und empirischen Annahmen über Tatsachen zu untersuchen, die in pädagogischen Zielsetzungen als Momente der damit verbundenen Geltungsansprüche eingehen, ist der potentielle Umfang rationaler Aufklärbarkeit pädagogischer Zielfragen keineswegs erschöpft. Zwar können wir – etwa im Zusammenhang der Auslegung des pädagogischen Ziels „Erziehung zu aktiver Toleranz angesichts gesellschaftlicher Minderheiten“ – gar nicht genug historisch und aktuell-empirisch gewonnene Erkenntnis sowie ideologiekritische Entschleierung (z. B. hinsichtlich tradierter Vorurteile) gewinnen; verbindliche Orientierungen für unser Handeln sind daraus jedoch noch nicht direkt abzuleiten. Um sie zu gewinnen, bedarf es der ständig reflexiv vermittelten vernunftgemäßen Aussprache, kommunikativen Argumentierens, m. a. W.: des „praktischen Diskurses“ über inhaltliche Maßstäbe für die im Handeln zu beglaubigende wechselseitige Anerkennung und über die „gerechte“ Gestaltung der entsprechenden Gesetzgebung eines Gemeinwesens. In solche Diskurse müssen Ergebnisse analytischer Forschung als Argumentationsmomente eingebracht werden. Damit gewinnt unsere Argumentation Anschluß an neuere Entwicklungen der philosophischen Ethik (Moralphilosophie), und zwar an die Bemühungen um die Ausarbeitung einer Diskursethik. Das am weitesten und gründlichsten ausgearbeitete, wenngleich gewiß noch nicht abgeschlossene Konzept dieser Art liegt m. E. in entsprechenden Arbeiten von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel vor. Man kann die Diskursethik als moralphilosophische Antwort auf die ethische Situation des Menschen in der modernen Welt interpretieren, eine Antwort, in die der kritisch gesichtete Ertrag der moralphilosophischen Ref1exionen der antiken und der neuzeitlichen Philosophie – hier insbesondere seit der Praktischen Philosophie Kants – eingegangen ist. – Drei Zentraleinsichten bilden, wenn ich recht sehe, die Ausgangsbasis der Diskursethik:

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• Ethische Orientierungen, d. h. Prinzipien, Grundsätze für menschliches Handeln, die Sollenscharakter haben, Verbindlichkeit beanspruchen, folglich auch pädagogische Zielsetzungen, gelten als Hervorbringungen der menschlichen Vernunft. Sie muß zwar formell als generelle Möglichkeit jedes Menschen, als ein spezifisches Merkmal menschlicher Existenz vorausgesetzt werden, ist aber inhaltlich selbst ein unabgeschlossenes und unabschließbares Produkt der menschlichen Gattungsgeschichte. Ethische Prinzipien werden im Hinblick auf bestimmte geschichtliche Erfahrungen und auf im geschichtlichen Prozeß entwickelte Einsichten und Interessen hin entworfen, sie sind also in ihrem Geltungsanspruch nicht unabhängig von faktisch erfahrener Geschichte zu begründen und können sich mit dieser von den Menschen selbst hervorgebrachten Geschichte wandeln. • Wenn die Geltung ethischer Orientierungen aber nirgends absolut und übergeschichtlich verbürgt ist, sondern im historischen Prozeß, in der Verarbeitung historischer Erfahrungen immer neu gewonnen und fortentwickelt werden muß, so sind wir auf den Diskurs vernunftfähiger und vernunftwilliger Menschen angewiesen. Ob und inwiefern ethische Prinzipien für unser Handeln – hier: Ziele für pädagogische Entscheidungen und pädagogisches Handeln – Geltung beanspruchen können, das ist demnach nicht anders zu ermitteln, als durch den ethischen Diskurs der Menschen, der an den regulativen Ideen der herrschaftsfreien Kommunikation und der Bemühung, vernunftgemäßen Konsens zu finden, orientiert sein muß. • Die These vom geschichtlichen Wandel ethischer Orientierungen zu vertreten bedeutet nicht, ethischem Relativismus das Wort zu reden. Das ergibt sich aus dem Grundsatz, daß der Anspruch auf Geltung, mit dem jemand ein ethisches Prinzip vertritt, begründet und dem prüfenden Diskurs ausgesetzt werden muß. Wenn aber ethische Prinzipien als Hervorbringungen im gattungsgeschichtlichen Prozeß verstanden werden, dann bedeutet das zugleich, daß die bisher in der Geschichte geleistete ethische Reflexion gleichsam mit zu den Partnern ethischer Diskurse gehört, daß man also nicht hinter bereits erreichte Niveaus ethischer Vernunfterkenntnis zurückfallen darf, etwa hinter das von Kant formulierte Prinzip, daß der Mensch nie nur – oder genauer: überhaupt nicht als Mittel zu Zwecken außerhalb seiner selbst, sondern stets als Zweck an sich selbst, als vernunftfähige Person zu achten sei. Auf dieser Basis hat die Diskursethik nun als eines ihrer konstitutiven Elemente einen mehrschichtigen Katalog genereller Diskursregeln herausgearbeitet. Wir übergehen hier logisch-semantische Regeln (von der Art: „Kein Sprecher darf sich selbst widersprechen“; Habermas 1983, S. 97) und moralische Minimalbedingungen (wie etwa den Glaubwürdigkeitsgrundsatz: „Jeder Sprecher darf nur das behaupten, was er selbst glaubt“, ib.

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S. 98) und führen an dieser Stelle nur jene Regeln auf, die die Möglichkeitsbedingungen dafür angeben, daß im Prozeß der Konsenssuche in praktischen Diskursen (d. h. Diskursen über moralische Geltungsansprüche) letztlich allein die besseren Argumente anerkannt werden: „• • • • •

Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen. Jeder darf jede Behauptung problematisieren. Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen. Jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern. Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine (in den vorher genannten Regeln; W. Kl.) festgelegten Rechte wahrzunehmen“ (Habermas 1983, S. 99).

Das zweite, konstitutive Element der Diskursethik ist das „Universalisierungsprinzip“. Es besagt, daß nur solche Normen Anspruch auf Gültigkeit haben, bei denen „Ergebnisse und Nebenfolgen, die sich aus einer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können“ (Habermas 1986, S. 18). An den genannten von Habermas u. a. Autoren entwickelten Bestimmungen des praktischen Diskurses muß man m. E. im Hinblick auf die Frage der argumentativen Begründbarkeit pädagogischer Ziele zwei Modifikationen vornehmen: Zum einen kann der Bereich möglicher Gegenstände pädagogischer Ziel-Diskurse nicht auf solche (zunächst hypothetischen) Normen eingeschränkt werden, „die im strikten Sinne universalisierbar sind, also nicht über soziale Räume und historische Zeiten variieren“ (Habermas 1983, S. 121). Zum anderen muß das „Universalisierungsprinzip“ m. E. im Sinne eines nach Umfang der beanspruchten Geltung abgestuften „Verallgemeinerungsprinzips“ modifiziert werden; „nur“ seine letzte Stufe entspräche dann dem im strengen Sinne gefaßten Begriff „universaler Geltung“ (als einschränkungsloser Allgemeingültigkeit).1 Beide Modifikationen sind in folgendem Sinne mit der oben zitierten, von Habermas vorgeschlagenen Formulierung des „Universalisierungskriteriums“ vereinbar: Alle diejenigen, die bei der argumentativen Gültigkeitsprüfung einer vorgeschlagenen Handlungsnorm (eines pädagogischen Ziels) sinnvollerweise als Betroffene gelten können, definieren den Umkreis der notwendigen Verallgemeinerbarkeit.

1 Wenn ich recht sehe, kann man auch aus jüngeren Überlegungen Karl-Otto Apels zur Weiterentwicklung der Diskurstheorie die hier empfohlene Modifikation des „Universalisierungsprinzips“ zum in sich gestuften „Verallgemeinerungsprinzip“ herleiten. Vgl. Apel 1986.

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Auf der Grundlage der Überlegungen des letzten Abschnitts lassen sich nun, über die früher (s. vorher, S. 153f.) umrissenen, primär analytischen (fünf) Aufgaben der Erziehungswissenschaft zur Klärung pädagogischer Zielsetzungen zwei weitere, konstruktive Aufgaben benennen: • Sechstens: Erziehungswissenschaft muß selbst Exempla „praktischer Diskurse“ zu entwickeln versuchen, also die Möglichkeiten konsensorientierter Diskurse über strittige Fragen der pädagogischen Zielbestimmung im Vollzug ausloten. Sie müßte also zu zentralen pädagogischen Zielfragen, etwa den Fragen nach Normen der Friedenserziehung oder der Sexualerziehung, überschaubare Gruppen von Pädagogen – „Theoretiker“ und „Praktiker“ (etwa Lehrer, Sozialpädagogen, Eltern, ggf. Vertreter bereits vorliegender, unterschiedlicher bzw. kontroverser Programme) – in einer Folge von Diskurs-Symposien zusammenführen, vergleichbar den „sokratischen Gesprächen“, wie sie heute im Kreise der Nelsonianer durchgeführt werden (vgl. Heckmann 1981). Solche Diskurse müßten durch Tonband-Aufzeichnungen oder Protokollationen dokumentiert und durch die bzw. mit den Teilnehmern zusammen auf Prozeßmerkmale, Schwierigkeiten, die Berücksichtigung der formalen Diskursregeln, die Stringenz der inhaltlichen Argumentationen und hinsichtlich der Schritte zu konsensualen Verallgemeinerungen analysiert werden. Eine mit Sicherheit schwer zu lösende Teilaufgabe, der in solchen Versuchen – im Wechsel von praktischen Erprobungen und kritischen Reflexionen – nachgegangen werden muß, bezieht sich darauf, wie in solche Diskurse Ergebnisse oder Fragestellungen der „analytischen“ Bemühungen der Erziehungswissenschaft (s. o.) eingebracht werden können. Die Schwierigkeit liegt hier darin zu vermeiden, daß den Erziehungswissenschaftlern unter den Teilnehmern an Diskursen ungewollt, aber faktisch, nämlich aufgrund ihrer analytischen Erkenntnisvorsprünge, eine kognitive Herrschaftsrolle zufällt. • Siebtens: Wenn es richtig ist, daß ethische Normen des Handelns unter den Bedingungen der neuzeitlichen Entwicklung nur noch als argumentativ begründete, an einsichtige, konsensuale Zustimmung gebundene Prinzipien Geltung beanspruchen können, dann erwächst daraus eine fundamentale pädagogische Zielsetzung: Erziehung muß systematisch und kontinuierlich auf die Entwicklung der Diskursfähigkeit der nachwachsenden Generation bzw. der Lernenden ausgerichtet sein.2 Das bedeutet auch: Alle normativen Vorgriffe, die Erziehende/Lehrende im pädagogisch-intentionalen Handeln vollziehen, 2 Zuerst ist diese Konsequenz m. W. von Klaus Mollenhauer innerhalb seines Buches „Theorien zum Erziehungsprozeß“ (München 1972) entwickelt worden.

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haben zunächst nur den Status vorläufiger, vermuteter Geltung. Solche Vorgriffe müssen im pädagogischen Prozeß letztlich der erneuten, argumentativen Bewährungsprobe im praktischen Diskurs mit den Lernenden ausgesetzt werden. Ohnehin haben die Erziehenden bzw. Lehrenden im Hinblick auf die Fähigkeit zu praktischen Diskursen immer nur einen graduellen Kompetenzvorsprung gegenüber den Jüngeren/Lernenden. Verantwortliches pädagogisches Handeln unter den Bedingungen der Moderne muß darauf gerichtet sein, diesen graduellen Kompetenzvorsprung gezielt abzubauen. Erziehungswissenschaft muß dementsprechend in Kooperation mit Erziehungspraktikern langfristige Modell-Versuche in verschiedenen pädagogischen Handlungsfeldern – im Bereich der Schule, der Sozialpädagogik und außerschulischen Jugendbildung sowie der Erwachsenenbildung – anregen. In solchen Versuchen geht es um die Erprobung und die Untersuchung von Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Entwicklung der Fähigkeiten zum Vollzug praktischer Diskurse. Es scheint mir eine Konsequenz des Diskurs-Konzepts zu sein, daß die methodische Anlage solcher Projekte Grundsätzen der Handlungsforschung entsprechen müßte.

Literatur Albert, H.: Traktat über Kritische Vernunft. Tübingen 1968. – Plädoyer für Kritischen Rationalismus. München 1971. – Konstruktion und Kritik. Hamburg 1972. Apel, K.-O.: Kann der postkantische Standpunkt der Moralität noch einmal in substantielle Sittlichkeit „aufgehoben“ werden? Das geschichtsbezogene Anwendungsproblem der Diskursethik zwischen Utopie und Regression. In: W. Kuhlmann: Moralität und Sittlichkeit. Frankfurt/M. 1986, S. 217–264. Brezinka, W.: Erziehungsziele, Erziehungsmittel, Erziehungserfolg. München 1976. – Metatheorie der Erziehung. München/Basel 1978. Habermas, J.: Wahrheitstheorien. In: Wirklichkeit und Reflexion. Hrsg. von H. Fahrenbach Pfullingen 1973. S. 211–265. – Zwei Bemerkungen zum praktischen Diskurs. In: Ders.: Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus. Frankfurt/M. 1976, S. 338–346. – Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm. In: Ders.: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt/M. 1983, S 53–125. – Moralität und Sittlichkeit. Treffen Hegels Einwande gegen Kant auch auf die Diskursethik zu? In: W. Kuhlmann: Moralität und Sittlichkeit. Frankfurt/M. 1986, S. 16–37. Heckmann, G.: Das sokratische Gespräch. Hannover 1981.

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Herrmann, U.: „Mut zur Erziehung“. Anmerkungen zu einer proklamierten Tendenzwende in der Erziehungs- und Bildungspolitik. Zeitschrift für Pädagogik 24 (1978) S. 221–234. Klafki, W.: „Mut zur Erziehung“ – Kritik einer konservativen Erziehungskonzeption. In: Wissenschaftsforum 1980, Nr. 43/44, S. 41–48. Mollenhauer, K.: Theorien zum Erziehungsprozeß. München 1972. Mut zur Erziehung. Beiträge zu einem Forum am 9./10. Januar 1978 im Wissenschaftszentrum Bonn-Bad Godesberg. Hrsg. von W. Hahn u. a. Stuttgart 1978. Popper, K.-R.: Logik der Forschung. 10. Aufl. Tübingen 1973. – Objektive Erkenntnis. 2. Aufl. Hamburg 1974. Tübinger Erklärung zu den Thesen des Bonner Forums „Mut zur Erziehung“. Zeitschrift für Pädagogik 24 (1978) S. 235–240.

Kritisch-konstruktive Didaktik und Hermeneutik 5 Kritisch-konstruktive Didaktik und Hermeneutik 5 Kritisch-konstruktive Didaktik und Hermeneutik

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Einleitung

In meinem Referat mochte ich einige Überlegungen zu einem zentralen Aspekt der Didaktik zur Diskussion stellen. Es wird sich also nicht um einen umfassenden Aufriß meines Verständnisses der Aufgaben der Didaktik handeln; dazu würde die Zeit dieses Vortrages nicht entfernt ausreichen. Um jedoch Mißverständnisse zu vermeiden und den größeren Rahmen wenigstens zu skizzieren, in dem mein heutiges Referat seinen Ort hat, muß ich einige Vorbemerkungen vorausschicken.

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Zum Bedeutungsumfang des Begriffs „Didaktik“

Die ersten Vorbemerkungen beziehen sich auf den Bedeutungsumfang des Begriffs „Didaktik“, wie ich ihn verwende. M. E. ist es zweckmäßig, diesen Begriff als übergreifende Bezeichnung für erziehungswissenschaftliche Forschung, Theorie- und Konzeptbildung im Hinblick auf alle Formen intentionaler (zielgerichteter), in irgendeinem Grade reflektierter Lehre (i. S. von reflektierter Lern-Hilfe) und auf das im Zusammenhang mit solcher Lehre sich vollziehende Lernen zu verwenden. In diesem Sinne schließt Didaktik also wesentliche Teile der Psychologie des Lernens in sich ein. Den Begriff Allgemeine Didaktik benutze ich im Sinne von Allgemeiner Theorie des Lehrens und Lernens. Sofern man diesen Begriff nun auf das Lehren und Lernen im Schulunterricht bezieht, meint Allgemeine Didaktik die Generelle Theorie des Lehrens und Lernens im Unterricht. Denn der Unterricht stellt ja die charakteristische, wenn auch nicht die einzige Form des Lehrens und Lernens in der Schule dar. Als Fachdidaktik bzw. Fachdidaktiken bezeichnet man in der deutschen Pädagogik die Theorie des Lehrens und Lernens in bestimmten Unterrichtsfächern, © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Klafki, Allgemeine Erziehungswissenschaft. Systematische und historische Abhandlungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23165-1_5

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also z. B. die Theorie des Mathematikunterrichts, des Sportunterrichts, des Englischunterrichts usw. Diesen Begriffsbestimmungen müssen nun zwei wichtige Ergänzungen hinzugefügt werden. Zur ersten Ergänzung: Da internationales Lehren und dadurch beeinflußtes Lernen in der Schule jeweils auch durch bestimmte vorgängige und parallel laufende außerschulische Sozialisationsprozesse der Lehrenden und der Lernenden geprägt wird und darüber hinaus durch bestimmte institutionelle Rahmenbedingungen, wie sie Schule und Unterricht setzen, ist Didaktik darauf angewiesen, Ergebnisse zweier weiterer wissenschaftlicher Disziplinen einzubeziehen: • Zum einen sind es Erkenntnisse der Sozialisationsforschung, und zwar vor allem der Erforschung der Alltagswelten der Lehrenden und der Lernenden; das Interesse der Didaktik ist hier darauf gerichtet, die in diesen Alltagswelten ablaufenden Beeinflussungen und Lernprozesse zu verstehen, vor allem deren Niederschlag in den Einstellungen, den Sichtweisen, den Urteilsformen, den Kenntnissen, Fähigkeiten, Hoffnungen, Ängsten, Interessen, Hemmungen der Individuen. • Zum anderen ist die Didaktik auch auf Erkenntnisse der Forschung über pädagogische Institutionen angewiesen, also auf die Analyse von Strukturen, von Rahmenbedingungen, die einerseits durch das jeweilige Schulsystem und seine Bestimmtheit durch gesellschaftliche Interessen und Prozesse gegeben sind, andererseits durch die Binnenorganisation der Schulen für das Lehren und Lernen im Unterricht: z. B. durch politische Entscheidungen über die Vergabe von Berechtigungen, die mit bestimmten Schulabschlüssen verbunden sind, durch Rechtsbestimmungen über Entscheidungs- und Mitbestimmungsbefugnisse von Lehrern, Schulleitern, Eltern, Schülern, durch formelle Regelungen in der jeweiligen Schule (z. B. den Stundenplan, die „Schulordnung“ usw.), aber auch durch informelle Schultraditionen, durch Rituale u. a. Solche Rahmenbedingungen, die die einzelne Schule übergreifen und/oder in der einzelnen Schule geschaffen worden sind, setzen jeweils enge oder weitmaschige Begrenzungen für die Gestaltung des Unterrichts, öffnen Spielräume und Veränderungschancen oder schränken sie ein, und insofern sind sie didaktisch relevant. Soviel zur ersten Ergänzung. Ich komme zur zweiten Ergänzung: „Lehren“ im vorher angedeuteten Sinne als intentionale, reflektierte Lern-Hilfe und Lernen, das sich im Zusammenhang mit Lehren vollzieht, erfolgt auch in anderen pädagogischen Institutionen als der Schule, z. B. in der Erwachsenenbildung, aber z. T. auch in der außerschulischen

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Kinder- und Jugendarbeit, in sozialpädagogischen Handlungsfeldern, z. B. in der Arbeit mit drogenabhängigen Jugendlichen, in der beruflichen Lehrlingsausbildung usw. Daher haben sich z. T. schon seit längerer, z. T. erst seit jüngerer Zeit auch didaktische Theorien und Konzepte für solche außerschulischen pädagogischen Arbeitsfelder entwickelt. Was bedeutet das für die schulbezogene Didaktik? Unter dem Gesichtspunkt der Beziehung zwischen schulischem und außerschulischem Lehren und Lernen, insbesondere aber, wenn man an die jüngeren Bemühungen um die Öffnung der Schule und des Unterrichts für die außerschulische Umgebung, um open schools, community schools u. ä., um die Verknüpfung des Lernorts Schule mit anderen, außerschulischen Lernorten denkt, dann wird die Didaktik des Schulunterrichts die Entstehung solcher Didaktiken für außerschulische pädagogische Arbeitsfelder intensiv zur Kenntnis nehmen müssen, und man wird versuchen müssen, die Didaktik des Schulunterrichts und jene Didaktiken außerschulischer pädagogischer Arbeitsfelder miteinander ins Gespräch zu bringen. Ich komme zu einem weiteren Abschnitt meiner Vorbemerkungen. Er trägt die Überschrift

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Zur inneren Gliederung des Problembereichs der schulbezogenen Didaktik

Welche Hauptfragen hat die schulbezogene Didaktik – als allgemeine Didaktik oder Fachdidaktik – zu untersuchen? Auf die unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrer bezogen lautet die Frage: Welche Aspekte müssen oder sollten Lehrerinnen und Lehrer berücksichtigen, wenn sie in der Institution Schule unterrichten? Aus der Sicht der Lehrerbildung lautet die gleiche Frage: Auf welche Hauptaspekte muß die Didaktik in der Lehrerbildung die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer vorbereiten? Bei der Beantwortung dieser Frage sind für die Didaktik als Forschung und Theorieentwicklung, für die Lehrerbildung und für die didaktische Praxis zwei Ebenen zu unterscheiden, die miteinander in Wechselbeziehung stehen: • Zum einen ist es die Ebene der Richtlinien oder Lehrpläne bzw. Curricula. Dabei geht es um vier Aspekte: ◦◦ die Entscheidungen, die über Richtlinien/Lehrplane/Curricula getroffen werden; ◦◦ die Begründungen, die für solche Entscheidungen gegeben werden; ◦◦ die Prozesse, durch die jene Entscheidungen und Begründungen zustande kommen; ◦◦ um die Bedingungen, unter denen solche Prozesse ablaufen.

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• Die zweite Ebene betrifft den konkreten Unterrieht: Hier sind drei Aspekte zu unterscheiden: ◦◦ die Planung, ◦◦ die Durchführung, genauer: die im Unterricht ablaufenden Prozesse in der Wechselwirkung von Lehren und Lernen, und zwar um die angestrebten, aber auch die nicht angestrebten Prozesse, ◦◦ die gewollten oder nicht gewollten Ergebnisse des Unterrichts. Auf beiden Ebenen, die ich genannt habe, also auf der Curriculumebene und der Unterrichtsebene, müssen noch einmal fünf Hauptaspekte unterschieden werden, nämlich a. die Frage nach den Zielsetzungen des Lehrens und Lernens; b. die Frage nach der an solchen Zielsetzungen orientierten Auswahl der Inhalte bzw. Themen des Unterrichts; c. die Frage nach den Organisationsformen, den Methoden bzw. Verfahren und den intendierten Prozessen des Lehrens und Lernens einschließlich der sogenannten Sozialformen des Unterrichts; in der deutschen Pädagogik wird dieser Bereich meistens mit dem Begriff Methodik bezeichnet; d. die Frage der Medien des Lehrens und Lernens, vom Schulbuch bis zum Computer-Programm, von der Landkarte bis zum Film, vom physikalischen Veranschaulichungsmodell bis zur Rechtschreibkartei usf.; e. die Frage nach den Formen, in denen Lernergebnisse und Lernformen der Schülerinnen und Schüler überprüft und beurteilt werden. Soviel zum zweiten vorbereitenden Schritt meines Referats. Ich muß noch einen dritten Vorbereitungsschritt tun, um den größeren Kontext zu skizzieren, in dem meine Überlegungen zum Hauptthema dieses Referats ihren Ort haben. Meine eigene Konzeption von Didaktik kennzeichne ich nämlich als „kritisch-konstruktive Didaktik“, und die Hermeneutik, genauer: hermeneutische Forschungsmethoden haben im Rahmen dieses Konzepts eine wesentliche Bedeutung. Damit ist das Thema des dritten Vorbereitungssehritts, dem ich mich nun zuwende, genannt:

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Was meint die Formel „kritisch-konstruktive Didaktik“?

Ich versuche, diese Frage hier sehr kurz zu beantworten. Zunächst zur ersten Bestimmung, nämlich zum Begriff „kritisch“. Kritisch ist die in meiner Position zum Ausdruck kommende Intention, m. a. W.: das Erkenntnisinteresse insofern, als sich diese Didaktik am Ziel der Befähigung aller Kinder und Jugendlichen zu wachsender Selbstbestimmungsfähigkeit, Mitbestimmungsfähigkeit und Solidaritätsfähigkeit orientiert. Damit habe ich die drei zentralen, normativen Bestimmungen der Bildungstheorie, anders ausgedrückt: jener allgemeinen pädagogischen Zieltheorie genannt, die meinem Konzept von Didaktik zugrunde liegt. Aber darauf kann ich an dieser Stelle nicht genauer eingehen. – Im Hinblick auf diese drei Leitziele „Selbstbestimmungsfähigkeit“, „Mitbestimmungsfähigkeit“ und „Solidaritätsfähigkeit“ bezieht diese Didaktik nun folgenden Tatbestand in ihre Forschung, ihre Arbeit an der Entwicklung der didaktischen Theorie und an Konzepten für die didaktische Praxis mit ein: Die Wirklichkeit der Gesellschaft und ihrer Bildungsinstitutionen entspricht jenen Leitzielen vielfach nicht. Daraus folgt die Einsieht, daß Weiterentwicklungen und Veränderungen – im Sinne permanenter Reform – nur im Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Demokratisierungsbemühungen vorangetrieben werden können. Solche Bemühungen aber müssen starken gesellschaftlich-politischen Widerständen und Gegenströmungen abgerungen werden. Didaktik muß daher – oft unter Rückgriff auf entsprechende soziologische, politologische und psychologische Forschung – einerseits die Erscheinungsweisen solcher Hemmnisse, die dem Lehren und Lernen im Sinne der Entwicklung von Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs-, und Solidaritätsfähigkeit entgegenstehen, und ihre Ursachen untersuchen bzw. zur Sprache bringen, und sie muß andererseits Lehr- und Lernprozesse erproben und erforschen, die geeignet sind, jene Fähigkeiten so weit wie möglich zu entwickeln, ggf. in direkter Auseinandersetzung mit solchen Hemmfaktoren, z. B. gegenläufigen Sozialisationseinflüssen. Diese Didaktik ist also als erziehungswissenschaftliche Disziplin immer auch gesellschaftskritisch. Damit ist schon die Verbindung zur zweiten Kennzeichnung meiner Auffassung von Didaktik angesprochen: konstruktiv. Diese Kennzeichnung als „konstruktiv“ weist auf den durchgehenden Praxisbezug hin, auf das Handlungs-, Gestaltungs- und Veränderungsinteresse, das für diese didaktische Konzeption konstitutiv ist. Dieser Theorie-Praxis-Bezug besteht nun nicht nur in der Zielsetzung, zur Aufklärung des Bewußtseins der pädagogischen Praktiker über Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen ihres pädagogischen Handelns beizutragen, sondern er schließt Vorgriffe der Theorie, also Modellentwürfe für mögliche Praxis, begründete Konzepte für eine veränderte bzw. verändernde

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Praxis ein, Konzepte für eine konsequent humane und demokratische Schule und einen entsprechenden Unterricht und zugleich für neue Formen der Kooperation von pädagogischer Praxis und pädagogischer Theorie. Damit bin ich am Ende des Einleitungsteils meines Vortrages. Ich komme nun zum Hauptteil. Er trägt die Überschrift

II

Zur Bedeutung des historisch-hermeneutischen Ansatzes in der Didaktik

Ich beginne diesen Teil mit einem Abschnitt unter dem Titel

1

Sinn-Auslegung als Ziel historisch-hermeneutischer Forschung in der Didaktik und die Notwendigkeit der Verknüpfung mit Empirie sowie Gesellschafts- und Ideologiekritik

Den Kerngedanken dieses Abschnitts kann man als These formulieren. Sie lautet: Um didaktische Probleme mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden aufklären zu können und um praktisch-didaktische Aufgaben pädagogisch verantwortlich und mit Hilfe wissenschaftlich angeleiteten Denkens und wissenschaftlich angeleiteter Phantasie lösen zu können, sind unter anderem – ich betone: unter anderem – historisch-­ hermeneutische Methoden notwendig. Historisch-hermeneutische Methoden dienen • zum einen dem Verstehen, dem Auslegen, dem Interpretieren von sinnhaltigen, bedeutungshaltigen Dokumenten (z. B. schriftlich oder mündlich formulierten Texten, von Bildern oder auch von pädagogisch relevanten architektonischen Produkten wie etwa Schulgebäuden oder der Gestaltung von Lernräumen, Klassenzimmern, Labors, Pausenhallen usw.) • zum anderen der Auslegung des Sinnes von Entscheidungen, Handlungen und Prozessen, in unserem Falle: von pädagogischen Entscheidungen, Handlungen, Prozessen. „Hermeneuein“ heißt ursprünglich im Griechischen soviel wie auslegen, interpretieren, etwas zunächst Unverständliches oder schwer Verständliches verstehbar machen, seinen Sinn erfassen. Solche historisch-hermeneutischen Methoden bilden m. E . eine von mindestens drei Methodengruppen didaktischer Forschung. Die beiden anderen Gruppen sind die empirischen Methoden und die gesellschaftsanalytischen und ideologiekritischen

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Methoden. Dabei stehen diese drei Methodengruppen, systematisch betrachtet, m. E. nicht additiv nebeneinander, obwohl das tatsächlich auch in der Erziehungswissenschaft bzw. der Didaktik noch oft der Fall ist. Demgegenüber habe ich an anderen Stellen seit langem zu zeigen versucht, daß die drei Methodenansätze in einem notwendigen Ergänzungsverhältnis zueinander stehen und daß sie nur im Verbund miteinander geeignet sind, die Gesamtaufgabe der wissenschaftlichen Didaktik auf unserem heutigen Erkenntnisstand zu bearbeiten.1 Nur auf diese Weise, so lautet meine These, können wir in hinreichendem Maße zur Aufklärung des didaktischen Bewußtseins der Lehrplan- bzw. Curriculumgestalter, der Lehrerinnen und Lehrer, der Schulberater und Supervisioren, der Personen der Schulverwaltung und darüber hinaus der an Problemen der Schule und des Unterrichts interessierten Öffentlichkeit, aber auch der pädagogischen Forscher selbst beitragen. Aber ich kann in diesem Referat die notwendige Verknüpfung von historisch-hermeneutischen Verfahren, empirischen Verfahren und gesellschaftsanalytischen sowie ideologiekritischen Verfahren nicht ausführlich erläutern. Ich werde mich auf die Frage nach der Bedeutung der historisch-hermeneutischen Verfahren für eine kritisch-konstruktive Didaktik konzentrieren. Am Ende dieses Hauptabschnitts werde ich jedoch Beispiele skizzieren, an denen die Synthese von empirischen und historisch-hermeneutischen Forschungsverfahren wenigstens angedeutet wird, und auch der gesellschaftskritisch-ideologiekritische Aspekt wird mehrfach mindestens anklingen. Ich bin der Auffassung, daß die historisch-hermeneutische Fragestellung der Ausgangspunkt jenes Methodenverbundes sein muß, den ich eben betont habe. Wie begründe ich diese These? Meine Antwort lautet: Der Begriff „Erziehung“ bezeichnet generell immer sinnhafte, bedeutungshaltige, absichtsvolle, auf bestimmte Ziele gerichtete, also intentionale Handlungen und Prozesse. Aber auch für alle jene Handlungen und Prozesse, die auf der Seite der Schüler bzw. der Lernenden auf pädagogische Handlungen der Erziehenden bezogen sind, gilt, daß sie sinnvolle Handlungen sind, gleichgültig, ob sie den Intentionen der Erziehenden entsprechen oder nicht. Diese Aussagen gelten selbstverständlich auch für jene besondere Klasse von pädagogischen Handlungen und Prozessen, die das Lehren und Lernen im Schulunterricht betreffen, also für den Gegenstandsbereich der schulbezogenen Didaktik. 1 Vergl. W. Klafki: Grundlinien kritisch-konstruktiver Didaktik. In: Ders.: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. 4. Aufl. Weinheim/Basel 1994. S. 83–138, bes. S. 98–144. – Ders.: Erziehungswissenschaft als kritisch-konstruktive Theorie: Hermeneutik – Empirie – Ideologiekritik. In: W. Klafki: Aspekte kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft. Weinheim/Basel 1976. S. 13–49. – Ders.: Ideologiekritik. In: Handbuch zur Erziehungswissenschaft. Hrsg. von L. Roth. München 1976. S. 174–178.

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1m gleichen Sinne bezeichnet Pertti Kansanen in seiner Abhandlung „An Outline for a Model of Teachers’ Pedagogical Thinking“ (Kansanen 1993, S. 52) „purposiveness as a characteristic of education“ and of „the teacher’s pedagogical thinking”. Diese These, daß Sinnhaltigkeit, Bedeutungshaltigkeit, purposiveness ein fundamentales Charakteristikum des Lehrens und Lernens in der Schule sind, will ich nun weiter konkretisieren. Ich werde dabei vier Aspekte erörtern.

2

Das inhaltliche Spektrum des hermeneutischen Ansatzes in der Didaktik

Unter dem ersten Aspekt geht es um das inhaltliche Spektrum der Didaktik. Didaktik umfaßt ein breites Feld von Dimensionen und Phänomenen, die durch ihre pädagogische, genauer: ihre didaktische Bedeutung, ihre didaktische Sinnhaltigkeit, durch didactical purposiveness gekennzeichnet sind. Ich nenne einige Beispiele, um die Breite dieses Spektrums zu verdeutlichen. Um didaktische Bedeutungszusammenhänge, synonym kann man auch sagen: um didaktische Sinnbeziehungen und Sinnfragen, um problems of didactical purposiveness geht es, a. wenn in einem Erziehungs- bzw. Unterrichtsministerium oder in einer Kommission neue Lehrpläne, Richtlinien, Curricula entwickelt werden, b. wenn von einem Autor eine didaktische Theorie mit dem Anspruch entwickelt wird, daß sie für das gesamte Gebiet der Didaktik oder ein Teilgebiet (z. B. den naturwissenschaftlichen Unterricht) gelten soll, c. wenn ein bestimmtes didaktisches Konzept, z. B. ein neuer Entwurf für die interkulturelle Erziehung, in die Schulpraxis eingeführt werden soll, d. wenn Lehrerinnen und Lehrer sowie Schülerinnen und Schüler miteinander im Unterricht in Kommunikations- und Interaktionsbeziehungen treten und wenn alle oder einige der am Unterricht Beteiligten oder ein Beobachter wissen wollen, welche Intentionen, welche purposes dabei einerseits die Lehrkraft, andererseits die Schülerinnen und Schüler verfolgen und weiterhin, ob man von diesen Intentionen aus die einzelnen Kommunikations- und Interaktionsakte der Lehrenden und der Schülerinnen und Schüler verstehen kann, ihre Art zu sprechen, ihre Gesten, ihre Mimik, den Verlauf solcher Interaktionen, die Ergebnisse des Unterrichts oder sein Scheitern usw.; e. wenn z. B. finnische Schüler danach fragen, warum sie sich im Geschichts­ unterricht oder im Politikunterricht z. B. mit der Amerikanischen Revolution

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oder der Französischen Revolution oder mit den Ursachen des Zweiten Weltkrieges beschäftigen sollen, f. wenn zwischen Lehrern und Eltern oder in der pädagogisch interessierten Öffentlichkeit über die Aufgaben der Schule angesichts der großen Probleme der Gegenwart und der Zukunft – der Umweltbedrohung, des Bevölkerungswachstums auf der Erde, der latenten und manifesten Konfliktmöglichkeiten zwischen den sogenannten entwickelten und den sogenannten unterentwickelten Ländern der Erde usf. – diskutiert wird oder g. wenn über geplante oder durchgeführte Schul- bzw. Unterrichtsreformen oder h. über die Berechtigung bzw. die Fragwürdigkeit bestimmter Prüfungs- und Ausleseverfahren oder i. über bestimmte Unterrichtsmethoden oder j. über die Qualität bestimmter Schulbücher oder anderer Unterrichtsmaterialien diskutiert wird. Ordnet man die in diesen Beispielen angesprochenen Aspekte systematisch, so kann man zwei Hauptdimensionen unterscheiden und innerhalb jeder dieser beiden Dimensionen mehrere Teilaspekte. Dann ergibt sich folgendes Schema: Didaktische Praxis und didaktische Theorie können sich primär auf A. Entscheidungen, Entscheidungsbegründungen und Entscheidungsprozesse oder B. auf die im Unterricht tatsächlich vollzogenen Handlungen und die dort ablaufenden Lehr-, Lern- und Interaktionsprozesse beziehen. In der Dimension A. zeichnen sich dann folgende Teilaspekte ab, die in Wechselbeziehungen zueinander stehen: Entscheidungen, Entscheidungsbegründungen und Entscheidungsprozesse, die entweder vor dem konkreten Unterricht – z. B. in der Curriculumplanung oder in der Unterrichtsplanung einzelner Lehrerinnen oder Lehrer – getroffen werden, beziehen sich auf • • • •

allgemeine und/oder besondere Ziele des Lehrens und Lernens, auf die an Zielen orientierte Auswahl der Inhalte bzw. Themen des Unterrichts, auf die Methoden (Verfahren) (einschließlich der sozialen Organisationsformen), auf die Medien des Unterrichts, in denen die jeweilige, zielorientierte Thematik repräsentiert sein soll und die auf die Lernvoraussetzungen und Lernmöglichkeiten der Lernenden abzustimmen sind,

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• auf die Kontroll-, Beurteilungs- und Sanktionsmaßnahmen, die direkt oder indirekt den Unterricht beeinflussen. Nun zur Binnengliederung der Dimension B., die die im Unterricht tatsächlich vollzogenen Handlungen und Prozesse betrifft. Dabei kann es • entweder um Handlungen oder Prozesse gehen, die auf die explizit gesetzten oder vereinbarten Ziele, Themen, Methoden, Medien, Beurteilungsmaßnahmen bezogen sind (einschließlich expliziter Kritik daran), • oder auf „inoffizielle“, „verborgene“ Handlungen und Prozesse, die sich sozusagen auf der „pädagogischen Hinterbühne“ abspielen. In der amerikanischen Literatur spricht man vom „hidden curriculum“, in der deutschen Literatur oft etwas unpräzise vom „verborgenen Lehrplan“. Soviel zum ersten Betrachtungsaspekt. Ich wende mich nun einem zweiten Aspekt zu. Darin geht es um

3

Die historisch-gesellschaftliche Bedingtheit der Gegenstände der Didaktik

An allen Beispielen, die ich im vorangehenden Abschnitt genannt habe, läßt sich ein gemeinsames Merkmal aller denkbaren Themen der Didaktik herausheben: Alle didaktischen Problemstellungen stehen zum einen in umfassenderen erziehungsgeschichtlichen Zusammenhangen, zum anderen in darüber hinausreichenden geschichtlich-gesamtgesellschaftlichen, oft in internationalen Zusammenhängen, und zwar unabhängig davon, ob das den Betroffenen – den Curriculumentwicklern, den Lehrerinnen und Lehrern, den Schülerinnen und Schülern und weiteren Beteiligten oder Interessenten – bewußt ist oder nicht. Zugleich aber sind die historisch-gesellschaftlich vermittelten didaktischen Sinngebungen, die z. B. in Curricula, Unterrichtskonzepten, Schulbüchern, Unterrichtsplanungen usf. gleichsam darin stecken, auf vermutete oder angestrebte zukünftige Geschichte bezogen, also auf jene Lebenssituationen, Aufgaben und Möglichkeiten, mit denen sich heutige Kinder und Jugendliche wahrscheinlich in Zukunft als Heranwachsende oder Erwachsene auseinandersetzen müssen. In den didaktischen Sinngebungen, den Intentionen, den purposes für das Lehren und Lernen stecken darüber hinaus aber immer auch bestimmte Auffassungen über den Sinn des menschlichen Lebens, über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, über die Bedeutung von

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Kindheit und Jugend im Lebensprozeß, also weltanschauliche bzw. philosophische, vor allem ethische Voraussetzungen. Der historisch-hermeneutische Ansatz zielt auf den Zusammenhang von Fragestellungen, den ich eben skizziert habe, und zwar im Sinne jenes Verständnisses der Aufgabe der Didaktik, das ich bereits zu Beginn dieses Beitrages benannt habe: Die Didaktik soll in ihrer historisch-hermeneutischen Perspektive mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden den Sinn didaktischer Entscheidungen, Entwicklungen, Diskussionen, Einrichtungen, die darin verborgenen historischen Momente, die Zukunftsvorstellungen und die philosophischen Implikationen herausarbeiten, sie intersubjektiv überprüfbar und diskutierbar machen und eben damit den didaktisch Handelnden und Entscheidenden – also etwa den Curriculumplanern und den Lehrern, aber auch den Schülern – dabei helfen, sich bewußt zu machen, was sie eigentlich tun, worüber und unter welchen historischen Bedingungen sie entscheiden und handeln, was eigentlich in ihren und hinter ihren Entscheidungen, Überlegungen, Handlungen steckt. An dieser Stelle wird nun auch deutlich, warum ich der Auffassung bin, daß der historisch-hermeneutische Ansatz auch in der Didaktik notwendigerweise mit dem gesellschafts- und ideologiekritischen Ansatz verbunden werden muß. Denn es kann bei der Aufklärung des historischen Hintergrundes didaktischer Auffassungen, Positionen, Entscheidungen nicht nur um eine wertfreie Tatbestandsaufnahme, eine rein historische Beschreibung gehen. Es kann ja durchaus sein, daß sich in einer didaktischen Theorie und einer didaktischen Tradition, die in der Gegenwart weitergeführt oder in die Diskussion gebracht wird, für die ihre Vertreter um Anerkennung werben und die sie verbreiten wollen, höchst fragwürdige, zunächst unerkannte historisch-gesellschaftliche Elemente stecken, z. B. unreflektierte politisch-nationale Traditionen, rassistische Vorurteile, undemokratische Konsequenzen, die Anerkennung oder scheinbare Rechtfertigung von Ungleichheitsverhältnissen zwischen Männern und Frauen, Jungen und Mädchen usf., weltanschaulich-religiös intolerante Positionen usw. – Der hermeneutische Ansatz muß angesichts solcher Möglichkeiten aus pädagogischer Verantwortung heraus um die gesellschafts- und ideologiekritische Perspektive erweitert werden, wenn die Didaktik ihre Aufklärungsaufgabe ernst nimmt. Soviel zum zweiten Aspekt der Erläuterung des hermeneutischen Ansatzes in der Didaktik. In den beiden folgenden Abschnitten geht es um die Frage nach Methoden hermeneutisch-didaktischer Forschung. Selbstverständlich kann ich in diesem Beitrag diese Methodenfragen nicht ausführlich erläutern. Ich möchte aber wenigstens einige Hinweise geben. Dabei werde ich zwischen zwei Typen von Methoden

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unterscheiden: Mit dem ersten Methodentypus beschäftigt sich der folgende Abschnitt unter dem Titel:

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Zur Textinterpretation als Forschungsverfahren

Der jetzt zu erörternde Typus von Methoden des Verstehens und Interpretierens ist darauf bezogen, vorliegende, also bereits schriftlich fixierte Texte zum Verständnis zu bringen, in unserem Falle: Aussagenzusammenhänge, die das Lehren und Lernen in der Institution Schule betreffen. Das können historische Texte, also Texte aus früheren Perioden des pädagogischen Denkens sein, oder aber zeitgenössische Texte. Dabei klammere ich hier jedoch all die Fälle aus, in denen jemand sich aus rein historischem Interesse bemüht, solche didaktisch relevanten Texte zu verstehen und zu interpretieren. Das ist natürlich ein legitimes Interesse, braucht uns aber an dieser Stelle nicht zu beschäftigen. Im vorliegenden Zusammenhang meine ich Texte, die von Praktikern oder Studentinnen oder Studenten oder von wissenschaftlichen Didaktikerinnen oder Didaktikern aus aktuell-systematischem Interesse gelesen bzw. untersucht werden, d. h. Texte, die sie verstehen, auslegen, interpretieren wollen, weil sie sich davon Förderung bei der theoretischen oder praktischen Auseinandersetzung mit einem didaktischen Problem, das sie beschäftigt, erhoffen. Ich nenne einige Beispiele für Textsorten, um die es sich dabei handeln kann: • Didaktische Theorien, also systematisch entfaltete und begründete Aussagenzusammenhänge über didaktische Fragenkomplexe. • Didaktische Konzepte, d. h. direkt auf praktische Verwirklichung zielende Programme, z. B. ein Konzept zur Friedenserziehung oder zur Förderung der Kreativität von Kindern und jungen Menschen im Bereich der Schule oder ein Konzept für einen kommunikationsorientierten Englischunterricht usf. • Lehrpläne, Richtlinien bzw. Curricula. • Berichte über didaktische Praxis, die von Lehrerinnen oder Lehrern oder von Forscherinnen und Forschern, die Unterricht beobachtet und beschrieben haben, stammen. • Protokolle über didaktische Diskussionen, wie sie z. B. von Lehrerinnen und Lehrern in Lehrerkonferenzen oder auf Tagungen zwischen Praktikern und Wissenschaftlern geführt werden. • Schriftlich vorliegende Unterrichtsvorbereitungen. • Schulbücher und weitere Unterrichtsmaterialien.

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Soweit die Beispiele. Nun hat sich, parallel zu der Entwicklung der Geistes- und Sozialwissenschaften einschließlich der Erziehungswissenschaft, seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine bedeutende Tradition des Nachdenkens über die Voraussetzungen und die Möglichkeiten des Verstehens, des Interpretierens von Texten und über die Frage ergeben, ob es Kriterien, Verfahren, Regeln gibt, mit deren Hilfe man überprüfen kann, ob ein Text zutreffend oder falsch verstanden bzw. interpretiert wird, m. a. W.: ob es überhaupt Wahrheitskriterien für das Verstehen und Interpretieren von Texten gibt. Die wissenschaftliche Erörterung solcher Fragen faßt man unter dem Begriff der „Hermeneutik“ zusammen. Das Substantiv „Hermeneutik“ bezeichnet also die Theorie des wissenschaftlichen Verstehens bzw. Interpretierens von Texten. „Hermeneutik“ ist folglich eine Disziplin der Wissenschaftstheorie. Solche Theorien werden heute oft auch als Metatheorien bezeichnet. Nun kann ich in meinem Referat nicht die z. T. schwierigen methodologischen Fragen darstellen, die in der Hermeneutik-Diskussion erörtert werden. Aber auch auf der konkreteren Ebene der Diskussion über hermeneutische Regeln bzw. Verfahren kann ich keine Vollständigkeit anstreben. Ich möchte nur an wenigen Beispielen zeigen oder in Erinnerung rufen, um welchen Typus von Verfahren und Regeln es sich bei den hermeneutischen Methoden handelt. In einem älteren Text, dessen entscheidende Aussagen ich immer noch für gültig halte2 , habe ich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – 11 methodologische Grunderkenntnisse bzw. Regeln für systematische pädagogische Textinterpretation herausgearbeitet. Ich führe hier 4 dieser Regeln als Beispiele an. Vorweg: Stellen Sie sich bitte vor, Sie würden in einem Seminar oder zum Zweck einer Diplom- oder Doktor-Arbeit, die Sie schreiben wollen, oder als Mitarbeiter eines Forschungsprojekts einen Text zum Problem der Friedenserziehung in der Schule lesen. Nun zur ersten Regel: Wer einen Text verstehen, auslegen, interpretieren will, muß sich klar machen, daß Textinterpretation immer unter bestimmten Fragestellungen erfolgt. M. a. W.: In der Fragestellung drückt sieh ein Vorverständnis des zu untersuchenden Textes durch den Leser aus. Der Leser bzw. Interpret liest den Text vielleicht mit dem Vorverständnis eines überzeugten Pazifisten oder aber als jemand, für den die Frage noch offen ist, ob Krieg bzw. Vorbereitung auf mögliche Kriege unter bestimmten Bedingungen moralisch gerechtfertigt werden können oder nicht, oder aus irgendeiner anderen Position heraus. Es spricht alles dafür und läßt sich an vielen Beispielen belegen, daß solche Vorverständnisse des Problems, 2 W. Klafki und Koautoren: Erziehungswissenschaft – eine Einführung. Bd. 1–3. Frankfurt/M. 1970/71, hier Bd. 3, darin W. Klafki: Hermeneutische Verfahren in der Erziehungswissenschaft. S. 126–153.

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um das es in dem betreffenden Text geht, das Verständnis bzw. die Interpretation des Textes beeinflussen. Was folgt daraus für die wissenschaftliche Textlektüre bzw. Interpretation als hermeneutische Regel? Der Interpret verfährt unreflektiert, wenn er sich das in seiner Fragestellung steckende Vorverständnis nicht bewußt macht. Dieses Vorverständnis ist jedoch nicht etwa ein bedauerlicher Störfaktor für das Auslegungsverfahren, so als wäre ein voraussetzungsloses Herangehen an einen Text die anzustrebende Idealform oder überhaupt möglich. Vielmehr sind die Fragestellung und das darin eingeschlossene Vorverständnis die Voraussetzung dafür, daß ein Text überhaupt interpretiert werden kann. Damit die Aussagen des Interpreten aber von anderen überprüft werden können, muß er seine Fragestellung und sein Vorverständnis reflektieren und formulieren. Ich nenne eine zweite hermeneutische Regel: Pädagogische bzw. didaktische Texte entstehen häufig als Stellungnahmen im Zusammenhang mit Kontroversen. Sie vertreten nicht nur eine theoretische Position gegenüber alternativen Positionen, sondern sind oft zugleich Ausdruck eines bestimmten praktisch-pädagogischen Engagements. Folglich können diese Texte nur dann verstanden werden, wenn auch die jeweiligen Gegenspieler in die Interpretation mit einbezogen werden. Dabei muß der Interpret untersuchen, ob die Gegenpositionen im betreffenden Text angemessen oder vielleicht nur polemisch verkürzt zur Sprache kommen oder sogar falsch interpretiert worden sind und ob solche Mängel auf die Argumentation des Ausgangstextes zurückgewirkt haben. Ich komme zu einer dritten Regel der Textinterpretation: Zur Interpretation eines einzelnen Textes ist es häufig notwendig, über den immanenten Zusammenhang hinauszugehen und weitere Quellen hinzuzuziehen. Da umgekehrt aber auch die textimmanenten Informationen zur Klärung textübergreifender Zusammenhänge beitragen können, kann man prinzipiell von einem Verhältnis wechselseitiger Erklärung textimmanenter und textübergreifender Zusammenhänge sprechen. Ich hebe noch eine vierte hermeneutische Regel heraus. Sie lautet: Soweit es sich bei zu interpretierenden Texten um systematische Argumentationszusammenhänge handelt, ist der Gesichtspunkt der inneren Widerspruchsfreiheit, der logischen Stringenz ein entscheidender Aspekt der Auslegung. Der Interpret muß die Begründungen, Folgerungen, Herleitungen des Autors nicht nur mitvollziehen, sondern kritisch überprüfen. Er muß prinzipiell unterstellen, daß dem Autor logische Fehler unterlaufen sein können, daß er vielleicht gedankliche Sprünge gemacht hat, daß also der Zusammenhang zwischen der Aussage A und der Aussage B nicht explizit deutlich wird usf. Das aber bedeutet: Der Interpret muß oft versuchen, die gedankliche Struktur eines Textes zu re-konstruieren. Dazu ist es notwendig, diese Struktur ggf. ausführlicher zu explizieren, als es im zu interpretierenden Text selbst geschieht. Dabei stößt man als Interpret nicht selten auf offene Fragen: Es gibt z. B.

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zwei oder drei oder mehr Möglichkeiten der Verknüpfung der Aussage A und der Aussage B, die der Autor oder die Autorin des Textes vielleicht im Kopf gehabt hat. Weder in der betreffenden Textpassage selbst noch an anderen Stellen des Textes entdeckt man nun vielleicht Aussagen, die es erlauben würden zu klären, welche der möglichen Verknüpfungen der Autor/die Autorin wahrscheinlich gemeint hat. Die Interpretation der betreffenden Textstelle muß diese Frage also offenlassen. Vielleicht können Interpretationen anderer Texte des gleichen Verfassers/der gleichen Verfasserin hier Klarheit schaffen. An dieser Stelle würde dann die vorher genannte dritte Regel zu beachten sein. Ich muß es bei diesen wenigen Beispielen bewenden lassen. Hoffentlich ist es mir trotzdem gelungen zu verdeutlichen, daß Textinterpretation in der Form eines methodisch kontrollierten, wissenschaftlichen Verfahrens durchgeführt werden kann, also keineswegs der subjektiven Beliebigkeit ausgeliefert ist. Am Ende dieses vierten Abschnitts liegt mir noch an einem wichtigen Hinweis. Ich habe in einigen Veröffentlichungen zu zeigen versucht, daß wissenschaftlich-hermeneutische Verfahren nicht nur bei der Auslegung von Texten, die den vorher genannten Textsorten zugehören, notwendig sind, sondern daß auch empirische Forschung unausweichlich mit hermeneutischen Problemen verknüpft ist. Über diesen Tatbestand sind, wenn ich recht sehe, etliche Empiriker sich allerdings nicht oder nicht hinreichend im Klaren oder sie streiten ihn ab. Demgegenüber betone ich, daß auch empirisch-didaktische Forschung in allen drei Hauptphasen von hermeneutischen Problemen soz. durchzogen und umklammert ist, nämlich bei der Hypothesenbildung, bei der Datensammlung und Datenauswertung und bei den Folgerungen, die aus der Datenauswertung gezogen werden. Das gilt auch für jenen Typus empirisch-didaktischer Forschung, der oft mit dem Begriff „quantitative Forschung“ bezeichnet wird, relativ große Populationen einbezieht, nach Möglichkeit repräsentative Stichproben erfaßt, streng formalisierte Erhebungsverfahren einsetzt (wie z. B. Tests, standardisierte Fragebögen, vorformulierte Beobachtungsraster u. a.) und mit statistischen Auswertungsverfahren arbeitet.3 In besonderem Maße gilt das nun aber für Forschungsansätze, die unter dem Methodengesichtspunkt ausdrücklich als empirisch-hermeneutisch bzw. „hermeneutisch-empirisch“ bezeichnet werden. Darauf gehe ich im letzten Abschnitt dieses Vortrages noch kurz ein.

3 Vgl. die beiden ersten der in Anm. 1 genannten Veröffentlichungen.

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Zur Bedeutung von hermeneutisch-empirischen Verfahren in der didaktischen Forschung

In der abschließenden Bemerkung zum vierten Abschnitt habe ich eben deutlich zu machen versucht, daß schon in der „klassischen“, sogenannten quantitativen empirisch-pädagogischen Forschung immer hermeneutische Elemente stecken. Daher ist m. E . die bis heute bei einigen Empirikern immer noch anzutreffende Auffassung falsch, hermeneutische und empirische Methoden schlössen einander aus oder hermeneutische Verfahren seien eigentlich vorwissenschaftlich, allein empirisch betriebene Suche nach Erkenntnis könne als wissenschaftliche Forschung anerkannt werden. Noch deutlicher wird der Irrtum solcher Meinungen nun angesichts neuerer Forschungsansätze in verschiedenen Sozialwissenschaften und auch in der Pädagogik bzw. in ihrer Teildisziplin „Didaktik“. Diese neuen Ansätze werden gewöhnlich als qualitative Sozialforschung bezeichnet, z. T. aber auch ausdrücklich als „empirisch-hermeneutische“ bzw. „hermeneutisch-empirische Forschung“. In dieser Kennzeichnung kommt unmittelbar zur Geltung, daß es sich hier um eine Kombination oder eine Synthese empirischer und hermeneutischer Verfahren handelt. Empirie und Hermeneutik werden hier offensichtlich und zutreffend als gleichberechtigte und notwendige Elemente eines Methodenverbundes betrachtet. Ich wende mich nun also den sogenannten qualitativen Verfahren zu. Zunächst darf ich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, an einige Verfahrensweisen bzw. Methoden dieser qualitativ-empirischen bzw. empirisch-hermeneutischen Verfahren erinnern, und zwar gleich in ihrer Anwendung auf didaktische Fragen: • Teilnehmende Beobachtung von Unterrichtsprozessen. • Protokollierung bzw. Video-Aufnahmen oder Tonband-Aufnahmen von Gruppendiskussionen, z. B. von Diskussionen in Lehrerinnen- und Lehrer-Gruppen. • Narrative, also eher erzählende, nicht strikt vorstandardisierte Interviews, z. B. mit Schülern über ihre Freizeitaktivitäten außerhalb der Schule. • Intensiv- oder Tiefeninterviews, z. B., um die Entstehung und die Ausprägungsformen von Schulangst und Schulversagen zu ermitteln. • Das Verfahren des sogenannten „Lauten Nachträglichen Denkens“. • Sammlung und Analyse biographischer Dokumente, um längere individuelle Entwicklungsverläufe rekonstruieren zu können, z. B. hinsichtlich der Konstanz oder der Veränderungen der Berufseinstellung von Lehrerinnen und Lehrern im Laufe ihrer Berufstätigkeit. • Die Analyse von Lehrerinnen-/Lehrer-Tagebüchern über ihre Wahrnehmung von Unterrieht und Schulalltag.

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• Die Kombination mehrerer der genannten Verfahren. Die mit solchen empirischen Erhebungsverfahren ermittelten Daten werden dann mit Hilfe hermeneutischer Methoden ausgewertet. Worin sehe ich die besondere Bedeutung solcher Ansätze für die Weiterentwicklung der didaktischen Forschung? Ich antworte unter drei Aspekten: • Erstens: Forschung dieser Art kommt weitaus näher an die Vorgänge heran, die sich im konkreten Unterricht bei Lehrerinnen und Lehrern, Schülerinnen und Schülern und zwischen ihnen abspielen, näher, als das mit Verfahren der quantitativ-empirischen Forschung möglich ist: an die Auffassungen, Motive, Emotionen, Handlungen von Lehrerinnen und Lehrern, von Schülerinnen und Schülern, an die konkreten Störfaktoren im Unterricht usw. • Zweitens: Forschung dieser Art ist viel direkter praxisbezogen als quantitative, empirisch-didaktische Forschung es sein kann. Denn empirisch-hermeneutische Forschung kann das Bewußtsein der Lehrenden und ggf. der Schüler über das, was im Unterricht tagtäglich geschieht, was Lehrer und Schüler eigentlich wollen und was sie tatsächlich tun, aufklären. Sie kann folglich von den Lehrern und den Schülern viel eher in praktische Veränderungen des Unterrichts, des Lehrerhandelns, auch des Schülerhandelns umgesetzt werden als jene Ergebnisse, die durch quantitativ empirische didaktische Forschung ermittelt werden. • Drittens: Diese weitaus größere Praxisnähe ist vor allem auch deshalb möglich, weil die Betroffenen, die Lehrer und Schüler und ggf. die Eltern, im Rahmen solcher Untersuchungen nicht nur „Objekte“ der Forschung sind, sondern – in unterschiedlichen Graden – als „Experten“, als Personen, die über die Fragestellungen und/oder über die Verfahren und/oder über die Interpretation der gewonnenen Daten und/oder die Folgerungen aus der Datenauswertung mitbestimmen können. Damit ist auch die Möglichkeit gegeben, daß vor allem die Lehrerinnen und Lehrer sich nach der Teilnahme an solchen Forschungsprojekten bestimmte Elemente des methodischen Vorgehens aneignen und zur Selbstevaluation ihres Unterrichts, z. B. im Rahmen der schulinternen Evaluation oder im Rahmen der Lehrerfortbildung, verwenden können. Ich möchte mit einer Frage schließen: Mich interessiert sehr, wieweit in der finnischen Didaktik qualitative, empirisch-hermeneutische Verfahren entwickelt sind und eingesetzt werden und wie Sie ihre Bedeutung einschätzen.

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Kategorien als Leitbegriffe für ein nachhaltig ausgerichtetes Bildungskonzept 6 Kategorien für ein nachhaltig ausgerichtetes Bildungskonzept 6 Kategorien für ein nachhaltig ausgerichtetes Bildungskonzept

Liebe Kolleginnen und Kollegen!1 Zunächst bedanke ich mich für die freundlichen Einleitungsworte von Herrn Kollegen Andreas Fischer. Allerdings hat er darin – wie schon in der Ankündigung im Programmheft dieses Kongresses – den Anspruch sehr hoch gehängt. Ich möchte meine Aufgabe hier bescheidener formulieren: Es geht mir darum, einige Überlegungen zum Problem ökologischer Bildung zunächst aus der Perspektive einer Allgemeinen Bildungstheorie und der Allgemeinen Didaktik vorzutragen, sie dann aber auf ökologische Bildung vorwiegend im beruflichen Bildungsbereich hin zu konkretisieren. Allerdings bin ich, wie Sie wissen, nicht im Detail in der Berufsund Wirtschaftspädagogik zu Hause, eher interessierter Dilettant oder Laie. Zur Vorbereitung auf mein Referat habe ich allerdings eine Reihe von Aufsätzen aus Publikationen und aus Tagungsberichten des Bundesinstituts für Berufsbildung über berufliche Umweltbildung gelesen, durchaus beeindruckt vom Niveau der prinzipiellen Erörterungen und mehrerer dort dargestellter Modellprojekte. Mein Thema werde ich in der Form von 7 Thesen und knappen Erläuterungen formulieren. Vollständigkeit werden Sie gewiss nicht erwarten. Wir Referenten können und sollen in der begrenzten Redezeit ja nur Impulse für unsere Diskussionen im Plenum der Arbeitsgruppe geben.

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Referat in der AG 15 des DGFE-Kongresses „Innovation durch Bildung“ am 25.03.2002 in München. Die Vortragsform wurde beibehalten.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Klafki, Allgemeine Erziehungswissenschaft. Systematische und historische Abhandlungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23165-1_6

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6 Kategorien für ein nachhaltig ausgerichtetes Bildungskonzept

Erste These Diese These benennt eine gesellschaftstheoretisch und zugleich bildungstheoretische Voraussetzung meiner Überlegungen. Sie lautet: Die Beziehung zwischen Bildung und gegenwärtiger sowie – soweit voraussehbar – zukünftiger Gesellschaftsentwicklung darf nicht als einseitiges Abhängigkeitsverhältnis der Pädagogik von gesellschaftlichen Fakten und Tendenzen, „wie sie nun einmal sind und sich entwickeln“, verstanden werden. Der Bildungstheorie und der Bildungspraxis wird vielmehr die Möglichkeit und die Aufgabe zugesprochen, auf gesellschaftliche Verhältnisse und Prozesse nicht zu reagieren, sondern sie unter dem Gesichtspunkt der pädagogischen Verantwortung für gegenwärtige und zukünftige Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten jedes jungen Menschen, aber auch eines jeden an seiner „Weiterbildung“ i. w. S. d. W. interessierten Erwachsenen zu beurteilen und mitzugestalten. Zukunftsorientierte Bildungsarbeit kann und muss sich dabei auf die Erkenntnis vom notwendigen Zusammenhang zwischen der Befähigung, personale Grundrechte wahrzunehmen, und der Leitvorstellung einer fundamentaldemokratisch gestalteten Gesellschaft, einer konsequent freiheitlichen und sozialen Demokratie, einer „Bürgergesellschaft“ stützen.

Zweite These Bildung muss m. E. heute als weitgehend selbsttätig erarbeiteter und personal verantworteter Zusammenhang dreier Grundfähigkeiten verstanden werden: • als Fähigkeit zur Selbstbestimmung jedes und jeder Einzelnen über seine bzw. ihre individuellen Entscheidungen, Lebensbeziehungen und Sinndeutungen zwischenmenschlicher, beruflicher, ethischer, religiöser Art; • als Mitbestimmungsfähigkeit i. w. S. d. W., insofern jede Frau und jeder Mann einerseits das Recht hat und die Möglichkeit erhalten muss, an der Gestaltung der gemeinsamen kulturellen, ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse mitzuwirken, andererseits aber auch die Pflicht zur Mitgestaltung an und in einer Bürgergesellschaft hat; • als Solidaritätsfähigkeit; damit ist hier gemeint: Wer das Recht auf Selbstbestimmung und auf Mitbestimmung über die gemeinsamen Angelegenheiten in einer Gesellschaft für sich fordert und in Anspruch nimmt, der muss nicht nur anerkennen, dass alle anderen das gleiche Recht haben; er bzw. sie muss sich auch für diejenigen einsetzen und sich nach Möglichkeit mit ihnen zusammenschließen, denen eben solche Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten aufgrund

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gesellschaftlicher Verhältnisse, Unterprivilegierung, politischer Einschränkungen und Unterdrückungen vorenthalten oder begrenzt werden.

Dritte These Eine inhaltliche Dimension – ich betone: eine, nicht die einzige Dimension einer so verstandenen Bildungskonzeption bezeichne ich als Auseinandersetzung mit epochaltypischen Schlüsselproblemen der modernen Welt, also Problemen, die nicht nur unser Land und unsere Gesellschaft betreffen, sondern tendenziell alle Regionen der Welt. Ich nenne hier, in stichwortartiger Kürze, sieben solcher Schlüsselprobleme: 1. Das Problem „Krieg und Frieden“ angesichts der nach wie vor ungeheuren Vernichtungspotenziale der so genannten ABC-Waffen, aber auch der hoch entwickelten Waffensysteme; 2. einen Problemkomplex, den man mit der Doppelformel „Sinn und Problematik des Nationalitätsprinzips“ sowie „Recht auf kulturelle Besonderheit und Öffnung für interkulturelle Begegnung, interkulturellen Austausch sowie interkulturelle Verantwortlichkeit im Sinne der Orientierung an generellen, über einzelne Kulturen hinausreichenden Wertprinzipien“ bezeichnen kann; 3. ein drittes Schlüsselproblem ist die Umweltfrage oder die ökologische Frage, das zentrale Problem unserer Arbeitsgruppe – ich komme darauf zurück; 4. ein vierter Problemkreis betrifft das rapide Wachstum der Weltbevölkerung, wobei dieses Wachstum bekanntlich fast ausschließlich durch Veränderungen gerade in den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt bedingt ist; 5. ein fünftes, nach wie vor unbewältigtes Zentralproblem stellt die gesellschaftlich produzierte Ungleichheit dar, und zwar zum einen innerhalb unserer und anderer Gesellschaften als Ungleichheit ◦◦ zwischen sozialen Klassen und Schichten, ◦◦ zwischen Männern und Frauen, ◦◦ zwischen behinderten und nicht-behinderten Menschen, ◦◦ zwischen Menschen, die einen Arbeitsplatz haben, und denen, für die das nicht gilt, ◦◦ zwischen Ausländern und der einheimischen Bevölkerung, aber auch zwischen verschiedenen Volksgruppen einer Nation, positiv formuliert: es stellt sich die Aufgabe multi- und interkultureller Erziehung; 6. Ein sechstes Schlüsselproblem bilden die Gefahren und die Möglichkeiten der neuen technischen Steuerungs-, Informations- und Kommunikationsmedien im

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Hinblick auf die Weiterentwicklung des Produktionssystems, der Arbeitsteilung oder aber ihrer schrittweisen Zurücknahme, der möglichen Vernichtung von Arbeitsplätzen durch eine ausschließlich ökonomisch-technisch verstandene „Rationalisierung“, der Folgen für veränderte Anforderungen an Basis- und Spezialqualifikationen der Menschen, aber auch für die Veränderung des Freizeitbereichs und der zwischenmenschlichen Kommunikationsbeziehungen. 7. Schließlich nenne ich einen siebten Problemkreis. Damit ziele ich auf die Frage, welchen Beitrag die Bildungsarbeit in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen dazu leisten kann, dass Kinder und Jugendliche die Bereitschaft und Fähigkeiten entwickeln, sich mit Sinnfragen, mit ethischen und religiösen Orientierungsproblemen auseinanderzusetzen; dass sie sich dessen bewusst werden, dass sie schon in ihrer kindlichen und jugendlichen Entwicklungsphase erste, personal zu verantwortende Entscheidungen treffen müssen und – vorgreifend – erkennen, dass sie später, in ihrem Leben als Erwachsene in zunehmendem Maße, vor solche Entscheidungsprobleme gestellt werden. Vor dem Hintergrund dieses nicht vollständigen, aber auch keineswegs beliebig erweiterbaren Stichwort-Aufrisses von bildungsrelevanten Schlüsselproblemen der modernen Welt komme ich nun zur vierten These. Mit ihr steuere ich direkt auf die im Titel des Referats genannte Kategorien-Frage zu.

Vierte These Das Schlüsselproblem, das in dieser Arbeitsgemeinschaft, konzentriert auf die berufsschulische und die betriebliche Berufsbildung, im Mittelpunkt steht, die in der dritten These bereits angesprochene Umweltfrage oder die ökologische Frage, verstehe ich als die heute mit Recht viel diskutierte und in globalem Maßstab zu durchdenkende Frage nach Zerstörung oder Erhaltung der natürlichen Grundlagen der menschlichen Existenz und damit nach der Verantwortbarkeit und der Kontrollierbarkeit der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung. Auch die Gesellschaften der Zukunft, zunächst die sogenannten „entwickelten Gesellschaften“, werden hochtechnisierte und hochindustrialisierte Gesellschaften sein. Und wenn die enorme Ungleichheit zwischen den sogenannten hochentwickelten Gesellschaften und den sogenannten Entwicklungsländern – eine im Lichte der Anerkennung gleicher Menschenrechte unerträgliche Form struktureller Gewalt und eine ständige Friedensgefährdung – schrittweise beseitigt werden soll, dann ist auch das nicht ohne Anschluss der wenig entwickelten Länder an bestimmte technische und industrielle Entwicklungen möglich. Aber es gibt inzwischen eine

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wissenschaftliche schlüssig belegte Einsicht: Die Weiterentwicklung der industriellen Gesellschaft, die eine Risikogesellschaft geworden ist und es in einem gewissen Sinne bleiben wird, dürfte nicht in der gleichen Weise vorangetrieben werden, wie es bisher vielfach immer noch geschieht, nämlich ohne die hinreichende Berücksichtigung ihrer schwerwiegenden Nebenfolgen. Entgegen dieser Einsicht jedoch bestimmt eine problematische Wachstumsideologie bis heute in vielen Ländern der Welt in hohem Maße die technologische Entwicklung, die Organisation der industriellen Produktion, unsere durch sie tief beeinflussten Konsumgewohnheiten und nicht zuletzt die Wirtschaftspolitik einschließlich der Landwirtschaftspolitik, die Wissenschafts- und Technologiepolitik sowie die Verkehrspolitik, und sie beeinflusst u. a. auch die Gesundheits- und die Bildungspolitik. Gegenwarts- und zukunftsorientierte Bildungsarbeit muss angesichts dieses Schlüsselproblems mindestens folgende Hauptaufgaben ins Auge fassen, im Prinzip in allen Schulstufen sowie in der betrieblichen Berufsausbildung und der Weiterbildung: Erstens: Sie sollte sich bemühen, schrittweise das Bewusstsein der Kinder und Jugendlichen und sich weiterbildender Erwachsener für die Umweltproblematik in ihrer Spannung zu den bisherigen Leitlinien der industriell-technischen Entwicklung mit ihren heute erkennbaren beiden Hauptfolgen zu wecken: zum einen für die tendenzielle Erschöpfung der natürlichen Ressourcen, zum anderen für die Umweltzerstörung durch die Nebenfolgen unkontrollierter technologisch-ökonomischer Entwicklungen. Zweitens: geht es um die Einsicht in die Notwendigkeit, ressourcen- und energiesparende Techniken und umweltverträgliche Produkte und Produktionsweisen zu entwickeln sowie unseren Konsum teils einzuschränken, teils umweltverträglich zu praktizieren. In zahlreichen Unterrichtsvorhaben ist in den sogenannten allgemeinbildenden Schulen sowie, wie ich in einer Reihe von umweltpädagogischen Modellversuchen in Berufsschulen und Berufsfachschulen und in der betriebsinternen Lehrlingsausbildung entnehmen konnte, gezeigt worden, wie die beiden vorher genannten Aspekte erfolgreich bearbeitet werden können, etwa anhand von Beispielen für bereits heute, wenngleich noch in begrenztem Umfang vorhandene Verfahren der Nutzung von Sonnen-, Wind-, Bio- und Erdenergie bzw. an Beispielen für umweltschonendes Recycling von Abfall. Drittens: gilt es, die Einsicht in die Notwendigkeit einer permanenten demokratischen Kontrolle der ökonomisch-technologischen und der entsprechenden wissenschaftlichen Entwicklung zu erarbeiten, einerseits in Form ständiger und frühzeitiger öffentlicher Information und der allgemeinpolitischen und regional-politischen Diskussion, andererseits durch die Institutionalisierung von demokratischen Kontrollinstanzen.

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Im Schulunterricht bzw. in der betrieblichen Ausbildung können und sollten die genannten Aufgaben im Rahmen fachlich akzentuierter, besser noch: fächerübergreifender Unterrichtseinheiten und Erkundungen und im Optimalfall in der Form handlungsorientierter Projekte in Angriff genommen werden, und zwar von den frühesten Bildungsstufen an, also schon im Vorschulbereich, mindestens aber in der Grundschule beginnend. Mit der Kennzeichnung der vorher skizzierten drei Perspektiven habe ich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, bereits drei Kategorien angesprochen – erkenntnisleitende und mindestens potentiell handlungsrelevante Kategorien zur Entwicklung von kritischem Umweltbewusstsein und zur Anregung und Orientierung verantwortlichen, umweltbezogenen Handelns. Kategorien sind im pädagogischen Zusammenhang übergeordnete Leitgesichtspunkte der Erkenntnis, der Beurteilung und der Gestaltung von Wirklichkeit. In unserem Zusammenhang bedeutet das: Kategorien sind vom Lernenden selbständig oder unter Anleitung durch Lehrende erarbeitete, auf Erkenntnis, auf Verstehen, Beurteilung und Gestaltung von Natur- bzw. Umweltgegebenheiten und -beziehungen gerichtete Leitbegriffe. Solche Leitbegriffe, synonym also: Kategorien liegen, bildlich gesprochen, oberhalb der bloßen Wahrnehmung und Benennung von einzelnen Phänomenen, einzelnen Vorgängen. Kategorien ermöglichen es, Zusammenhänge zwischen einzelnen Phänomenen, Veränderungen, Abläufen zu erfassen, sie ermöglichen es, Vermutungen, Hypothesen über Ursachen und mögliche Folgen solcher Abläufe zu entwerfen und solche Vermutungen zu überprüfen: z. B. Vermutungen über einfache oder komplizierte, mehrgliedrige Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, über Wechselwirkungen, Kreisläufe usf. Sie ermöglichen es, auf beobachtbare Abläufe einzuwirken, sich solche Abläufe für eigene Zwecksetzungen nutzbar zu machen und diese Zwecksetzungen zu begründen. In diesem Sinne bezeichnet der Begriff „Bildung“ zum einen den Prozess der Aneignung von Kategorien der Wirklichkeits- und Selbsterkenntnis, zum anderen bezeichnet er das jeweils erreichte, nie endgültige, nie abschließbare Ergebnis solcher Bildungsprozesse, die prinzipiell überholbar, veränderbar, ggf. revidierbar bleiben müssen. Insofern es im Prozess der Aneignung und als Ergebnis von Aneignungsprozessen um die Erarbeitung von Erkenntnis-, Beurteilungs- und Gestaltungskategorien geht, kann man von kategorialer Bildung sprechen. Bildung ist dieser Auffassung entsprechend „Kategoriale Bildung“ in der Doppelbedeutung, dass sich der Lernende durch letztlich selbsttätige Aneignung Wirklichkeit erschlossen hat und dass er in eben diesem Prozess sich selbst für Verstehen und Gestaltung von Wirklichkeit erschlossen, befähigt hat.

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Fünfte These Kategorien im eben umschriebenen Sinne, als Wirklichkeit erschließende Grundbegriffe, die konkrete Erkenntnismöglichkeiten eröffnen und die Schülerinnen und Schüler bzw. Lehrlinge sich aneignen sollen – Kategorien also können unterschiedliche Reichweite haben: Sie erschließen mehr oder minder weite oder begrenzte Teilbereiche der Wirklichkeit. Sie müssen daher auf ihre jeweiligen Möglichkeiten und auf die Grenzen ihrer jeweiligen Reichweite hin durchdacht werden. Am Beispiel verdeutlicht: „Nachhaltigkeit“ ist eine Kategorie mit weitreichendem Anspruch. Ich erinnere an die – m. E. im Kern weitgehend übereinstimmenden – Formulierungsversionen, auf die man in der entsprechenden Literatur immer wieder stößt. Etliche Autoren betrachten den Begriff „Nachhaltigkeit“ im Anschluss an die oft zitierten Resolutionen der Rio-Konferenz des Jahres 1992 offensichtlich – und ich meine mit guten Gründen – als die generelle Basiskategorie für alle Teilbereiche verantwortbarer Umweltpolitik und für eine entsprechende Umweltbildung. Ich zitiere als Beispiel eine Definition von Klaus-Dieter Mertineit: „Eine Entwicklung ist dann nachhaltig, wenn die gegenwärtige Generation ihre Bedürfnisse in der Weise erfüllt, dass die Möglichkeiten zukünftiger Generationen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen, nicht beeinträchtigt werden…“ (zitiert bei Klaus Schmidt: „Der Begriff der Nachhaltigkeit und seine Bedeutung für den Modellversuch MODUM“, 74, S. 81ff., Zitat S. 81). M. E. ist hier allerdings eine Ergänzung der Definition dringend notwendig: Nicht nur „die Möglichkeiten zukünftiger Generationen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen“ müssen berücksichtigt werden, sondern auch die Lebensmöglichkeiten der jeweils gegenwärtigen Menschen in anderen, nachbarlichen oder ferneren Teilen der Welt. Der Begriff „Nachhaltigkeit“ bringt also – wie eben betont – ein umfassendes, generelles umweltpolitisches und umweltpädagogisches Prinzip zur Sprache; demgegenüber hat etwa eine Kategorie wie die des „Recycling“ einen begrenzten Bedeutungsumfang. Recycling zielt ja auf einen Teilaspekt des Nachhaltigkeitsprinzips. Er meint die Nutzung von Rückständen, die bei Produktions- oder Reparatur- oder Versorgungsprozessen als sogenannter „Abfall“ übrig bleiben und die durch Recycling wieder für neue Produktionsprozesse aufbereitet werden sollen. Entsprechendes gilt für andere, unverzichtbare Kategorien vom Typ des Begriffs „Recycling“. Man kann bei Begriffen wie Recycling vielleicht von einem Begriffstyp zweiter Ordnung sprechen. Es handelt sich also um Begriffe, um Kategorien, deren jeweilige Reichweiten unterhalb der Ebene des Begriffs „Nachhaltigkeit“ liegen. Zu dieser zweiten Ebene gehören – wenn ich recht sehe – zum einen Begriffe, die bestimmte umweltgefährdende oder -zerstörende Prozesse bezeichnen, also z. B. typische Ausbeutungsformen der Natur mit negativen Langzeitwirkungen – etwa

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hochgradige Luftverschmutzung durch filterloses Ablassen von Giftgasen oder Überfischung von Gewässern oder Waldabholzung, die über die natürliche Regeneration von Wäldern hinausgeht, usw. usw. Zum anderen liegen auf dieser Ebene Begriffe, die umweltfreundliche Formen des Umgangs mit Natur bezeichnen, also umweltschützende Einrichtungen und Verfahren wie Abgasfilter oder Rückhaltebecken oder Recycling-Systeme usw. Unter didaktischem Gesichtspunkt muss m. E. gelten: Je weniger solche Begriffe notwendig sind, umso besser für die Gründlichkeit der Erarbeitung und der Anwendung! Erst in späteren Phasen können und müssen dann die Verflechtungen geklärt werden, und es können dann komplexere Orientierungsmodelle nachhaltigen Umgangs mit der Umwelt erarbeitet werden. Mit Hilfe solcher Modelle sind dann im schulischen Unterricht in allgemeinbildenden oder berufsbildenden Schulen und in der betrieblichen Ausbildung Erkundungen möglich, wieweit z. B. in einem landwirtschaftlichen, handwerklichen oder industriellen Betrieb, einer Schule, einem Stadtteil, einem Dorf nachhaltiger Umgang mit der jeweiligen Umwelt verwirklicht oder nicht verwirklich ist. In den letzten Aussagen klingt bereits das Prinzip exemplarischen Lehrens und Lernens an, das Frau Ingrid Lisop, wenn ich den Titel ihres Beitrags richtig verstanden habe, im folgenden Referat erörtern wird.

Sechste These Bisher habe ich den Begriff der Nachhaltigkeit unter einigen Aspekten auf die Objekt-Seite bezogen, auf den Gegenstandsbereich ökologischer Bildung, auf anzustrebende Einsichten in bestimmte Strukturmerkmale der Natur, die mögliche Erschöpfbarkeit von Naturressourcen, ihre Zerstörbarkeit und, im Gegenzug, ihre Erhaltbarkeit und verantwortliche Nutzbarkeit, sofern Kriterien wie die strenge Beachtung der oft langen Zeitspannen des „Nachwachsens“ entnommener Naturprodukte strikt eingehalten werden, Verstöße dagegen unnachsichtig bestraft und nicht zuletzt ihre Ursachen, die meistens in ökonomischen Interessen und neokolonialistischen Tendenzen begründet ist, schonungslos aufgeklärt und publik gemacht werden. Diese Blickrichtung auf die „objektive“ Perspektive des Nachhaltigkeitsbegriffs dominiert, soweit ich sehe, bisher auch in der einschlägigen Literatur. M. E. ist es nun sinnvoll, das Nachhaltigkeitsprinzip auch auf die Subjekt-Seite der Mensch-Natur-Beziehung hin auszulegen, also zu fragen: Wie müssten denn Lernprozesse gestaltet werden, wenn sie nachhaltig wirksam werden sollen: an welchen Themen im Verständnishorizont der jeweiligen Lerngruppen im schulischen Unterricht und in der betrieblichen Ausbildung in der Konkretisierung an diesem Ort,

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in diesem sozio-ökonomischen Umfeld, durch exemplarisches Lehren und Lernen, erfahrungsbezogene und handlungsbezogene Lernformen, deren Ergebnisse über die Schule oder den Betrieb hinaus wirksam werden können, die also sozusagen die Augen öffnen für ökologische Probleme, Vorgänge, Diskussionen, Aktionen im außerschulischen Erfahrungs- und Informationsraum der jeweiligen Jugendlichen oder der sich weiterbildenden Erwachsenen, nicht zuletzt anhand der heute vorhandenen, oft eindrucksvollen und oft ebenso erschreckenden Informationen durch Funk, Fernsehen, Internet über das Ausmaß ökologischer Gefährdungen in weltweiter Perspektive?

Siebente These Ich halte es für wichtig, den bisherigen Bemerkungen zur Erläuterung des Nachhaltigkeitsprinzips eine weitere, m. E. wesentliche Überlegung hinzuzufügen: Es ist sowohl in den prinzipiellen Diskussionen über das Nachhaltigkeitsprinzip als auch bei der Verwendung dieses Begriffs in konkreten pädagogischen Situationen – sowohl im Unterricht allgemeinbildender wie berufsbildender Schulen und in der betrieblichen Ausbildung – wichtig, sich bewusst zu machen, dass alle Konkretisierungen des Nachhaltigkeitsprinzips letztlich immer hypothetischen Charakter behalten. Sie bleiben auf Zukunft bezogene Annahmen, mögen sie auch durch empirische Forschung gut belegt sein: Handele es sich nun um Annahmen über die Effekte der Nutzung regenerativer Energien oder über die potentiellen Chancen der Nutzung kosmischer Energie wie der Sonnenenergie, seien es Annahmen über die Verhinderung der tendenziellen Erschöpfung des natürlichen Regenerationspotentials der Regenwälder durch unkontrollierte Abholzung, sei es durch noch so strenge Maßnahmen der Reduktion von Fahrzeugabgasen usw. usw. Es ist immer möglich, dass wir durch solche, durchaus notwendigen und sinnvollen Maßnahmen nicht nur die von uns angestrebten, sondern auch weitere, von uns nicht beabsichtigte Langzeiteffekte auslösen, die in der jeweiligen Gegenwart noch nicht erkennbar sind oder deren Wirkungen wir bisher noch nicht erkennen konnten, weil uns entsprechende Methoden und Apparaturen fehlen. Solche Überlegungen anzustellen heißt nun absolut nicht, Resignation nahezulegen. Es bedeutet nur, dass man sich auch beim entschiedenen Einsatz für umweltschonende, am Nachhaltigkeitsprinzip orientierte Maßnahmen und Verhaltensweisen der Möglichkeit noch nicht absehbarer, zukünftiger, vielleicht ganz ungewollter Folgen bewusst bleiben muss.

Zweiter Teil Aus der Geschichte des pädagogischen Handelns und Denkens

Pädagogisch-dialektische oder anthropologisch-existenzphilosophische Grundlegung der Erziehungswissenschaft?

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Kritische Gedanken zu H. Döpp-Vorwalds Auseinandersetzung mit R. Guardinis „Grundlegung der Bildungslehre“ 7 Grundlegung der Erziehungswissenschaft 7 Grundlegung der Erziehungswissenschaft

In seinem Aufsatz „Romano Guardinis ‚Grundlegung der Bildungslehre‘“1 macht Heinrich Döpp-Vorwald den Versuch, Guardinis dialektische Bestimmung des Pädagogisch-Eigentlichen – als die im „Perspektivpunkt“ dreier begrifflich faßbarer Momente („Bild und Bildung“, „Begegnung und Bewährung“, „das Gegenständliche und der Dienst“) nur noch „lebendig zu erschauende“ „pädagogische Kategorie“ – zu widerlegen.2 Döpp-Vorwald vollzieht im dritten, kritischen Teil seiner Abhandlung eine „Reduktion“ jener dialektischen Bestimmung Guardinis; sein Ergebnis lautet: „Von der Guardinischen Dreiheit bleibt … nur ‚Begegnung und Bewährung‘ als die eigentliche pädagogische Kategorie übrig. Sie allein bezeichnet das konstitutive Sinnziel des Erziehungsbereichs vollgültig“ (S. 235; vgl. S. 227, 230). Die drei von Guardini genannten Momente besäßen in Wahrheit keine „Gleichrangigkeit für die Konstitution des Pädagogisch-Eigentlichen“ (S. 226). Während die Bestimmung „Begegnung und Bewährung“ als conditio per quam auszusprechen sei, käme den Bestimmungen „Bild und Bildung“ und „Gegenstand und Dienst“ nur der Rang je einer conditio sine qua non zu (S. 227). Uns scheint Döpp-Vorwalds Beweisführung gegen Guardini nicht schlüssig zu sein. Die nachstehenden Bemerkungen folgen zunächst den zwei großen Schritten der von Döpp-Vorwald vollzogenen „Reduktion“.

1 Zeitschrift für Pädagogik 4 (1957) S. 213–237. 2 Romano Guardini: Grundlegung der Bildungslehre. Versuch einer Bestimmung des Pädagogisch-Eigentlichen. Würzburg 1953. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Klafki, Allgemeine Erziehungswissenschaft. Systematische und historische Abhandlungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23165-1_7

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I 1. Der erste Einwand gegen Döpp-Vorwald richtet sich gegen das methodische Verfahren an seiner Kritik an Guardinis Ausführungen. – Im darstellenden und interpretierenden Teil seiner Abhandlung (I. u. II.) folgt Döpp-Vorwald getreu der dialektischen Gedankenführung Guardinis. Dementsprechend kommen die drei nacheinander behandelten Prinzipien in seiner Interpretation wie in Guardinis Darstellung erst am Schluß der gesamten Darlegung zu ihrer Wahrheit; sie erweisen sich als dialektisch vermittelte Momente und können nur als solche recht verstanden werden. Im kritischen Teil seiner Abhandlung (III.) aber gehen Döpp-Vorwalds Einwände gegen Guardini hinter die erarbeitete Position wieder zurück in das Anfangsstadium der Gedankenbewegung. Nur deshalb kann Döpp-Vorwald wie folgt argumentieren: Wenn Guardini dem Moment der Gegenständlichkeit und des Dienstes eine eigene Bedeutung zumesse, die über die Feststellung hinausgehe, daß dieses Moment in den beiden anderen – als „Material der Bildung“ und als Medium der „Begegnung und Bewährung“ – bereits enthalten sei, dann mache er sich der von ihm selbst eingangs gerügten „Unterordnung des Pädagogischen unter vorgegebene andersartige Wertprinzipien“, d. h. der „heterogenen Begründung des Pädagogischen statt der gesuchten autonomen“ schuldig (S. 229). – Indem Döpp-Vorwald aber die Unterordnung des Pädagogischen unter das Politische als Beispiel solcher Heteronomie anführt, konkretisiert er doch nur, was Guardini (auf Seite 44 der von Döpp-Vorwald benutzten Ausgabe) selbst als Grenze der „Gegenständlichkeitspädagogik“ aufzeigt, als die innere Gefahr, der dieser Ansatz verfällt, sobald er aus der dialektischen Verschränkung mit den anderen Momenten gelöst wird. Gerade das aber tut Döpp-Vorwald implizit in seiner Polemik gegen Guardini. 2. Stößt der skizzierte Einwand Döpp-Vorwalds also an dem von Guardini Gemeinten vorbei, so ist nun rein sachlich zu fragen: Ist die pädagogische Bedeutung des „Gegenständlichen“, das ja nach Guardini von den Dingen und Vorgängen über das Lebendige, die objektive Kultur und die Geschichte, das Du, das Wir, die religiösen Wirklichkeiten bis zu dem „in der Offenbarung mit entgegentretenden Gott“ (Guardini, S. 40f.) reicht, wirklich richtig gesehen, wenn Döpp-Vorwald sagt: „Nur als Material, als inhaltliche Erfüllung jener immanenten Teleologie der Menschwerdung (man darf ergänzen: und der personhaften ‚Begegnung und Bewährung‘) hat das Gegenständliche pädagogische Valenz …“? (S. 230, 235) Es erheben sich mehrere Einwände:

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a. Mit dieser Herabsetzung aller objektiven Inhaltlichkeit zum bloßen Mittel der Erziehung verlieren diese Inhalte gerade das, was sie pädagogisch bedeutsam macht: ihre bildende, erziehende Funktion. Die selbstvergessene Hingabe an die Dinge, die großen Kulturinhalte, die Menschen – nicht zuletzt den Erzieher! – endlich an Gott ist ein unabdingbares Moment aller Erziehung. Mit dieser These soll natürlich nicht die „Auswahl“ als eine zentrale pädagogische Aufgabe geleugnet sein. Aber die pädagogische Auswahl der Inhalte hat ihr Kriterium nicht einseitig in einem isoliert gedachten Subjekt der Erziehung. b. Die Degradierung der Gegenständlichen zum Mittel, zum bloßen Material der Erfüllung ist Ausdruck einer in Döpp-Vorwalds Ausführungen immer wieder auftauchenden Trennung von Kind und Inhalt, Subjekt und Sache, die – ganz abgesehen von ihrer philosophischen Problematik – gegenüber jeder konkreten pädagogischen Aufgabe versagt. Weder die Erziehung zur Reinlichkeit noch die zur Bewältigung der Sprache oder der alltäglichen Lebens- und Berufswelt noch die Erziehung zur Wahrhaftigkeit usf. lassen sich zureichend deuten, wenn man jene Momente aus ihrem dialektischen Bezug löst. Der Mensch, das Kind hat sich als bildendes Wesen in den objektiven Inhalten der natürlichen und geschichtlichen Welt – in der Sprache Hegels gesprochen – nicht ein Anderes sich gegenüber, sondern es gewinnt seine geistige Existenz nur in diesem Medium des Objektiven als seinem Anderen. Dem Satze etwa, daß echte politische Erziehung nur da gegeben ist, wo „das Politische in den Dienst der Menschwerdung des Menschen, die ihren Sinn vorweg in sich selber hat, genommen wird“ (S. 229; Sperrung vom Verf.) – diesem Satze kann man, ohne das Prinzip der pädagogischen Autonomie damit zur verletzen, sehr wohl den Satz entgegenhalten: Menschwerdung des Menschen heute ist nicht denkbar bzw. erzieherisch vertretbar, wenn sie das Politische in seinem eigenen Wertstein nicht angemessen in sich zur Geltung bringt. Menschwerdung hat nicht vorweg, d. h. vor der Begegnung mit den objektiven Inhalten ihren Sinn in sich selber, sondern sie gewinnt ihn nur in dieser Begegnung, wobei den Inhalten nicht weniger konstitutive Bedeutung für das Werden der Person zukommt als dem Subjekt. Pädagogisch gewendet bedeutet das: Das entscheidende konstitutive Kriterium des Pädagogischen kann nicht in einem – in Wahrheit hypothetisch vorausgesetzten – „inneren Sinngesetz des menschlichen Selbstwerdens“ (S. 229) gefunden werden, sondern es muß offenbar in einem Spannungsfeld gesucht werden, dessen eines Moment – im Sinne einer conditio per quam – von Guardini zutreffend als das dialektisch vermittelte „Moment des Gegenständlichen und des Dienstes“ bestimmt worden ist.

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II 1. Die Kritik von Döpp-Vorwalds zweitem Reduktionsschritt, der auch das Moment „Bild und Bildung“ in die Nebenrolle einer bloßen conditio sine qua non verweisen soll, muß bis in den darstellenden und interpretierenden Teil des Aufsatzes zurückgehen. Döpp-Vorwald legt anfangs im Anschluß an Guardini selbst dar, daß das Moment „Bild und Bildung“ uns zwar bereits in der Sphäre des Leblosen als „Gestalt“ und in der Sphäre des Lebendigen (Bio-Psychischen) als „Initiative des Lebendigen“ (Guardini, S. 26) begegnet, daß es aber in der Sphäre des Menschlichen eine auf den anderen Seinsstufen nicht vorhandene, gänzlich neue Qualität gewinnt: seine „Gegründetheit im Geist“ (S. 218). Genauer gefaßt, konkretisiert sich diese Gegründetheit des menschlichen Bildes und der menschlichen Bildung im Geist in Bestimmungen wie Personalität, Verantwortung, Freiheit, Entscheidungsfähigkeit, Transzendenzbezogenheit (S. 218). Döpp-Vorwald interpretiert das Moment „Bild und Bildung“ bei Guardini dann aber doch dahin, daß ihm „letztlich die alte aristotelische Entelechie-Konzeption – angewandt auf die menschliche Seinssphäre – zugrunde liegt“, so daß aus diesem Aspekt heraus der „Sinn des Menschlichseins und der Menschwerdung in der kontinuierlich-wachstümlichen Entfaltung der im Individuum angelegten Wesensmöglichkeiten zu ihrer immanenten Vollkommenheit“ erscheine (S. 219; Sperrung vom Verf.). Auf dieser Auslegung beruht dann auch die gesamte kritische Argumentation Döpp-Vorwalds, die dem Moment „Bild und Bildung“ eine konstitutive Bedeutung für die Bestimmung des Pädagogisch-Eigentlichen abspricht. Döpp-Vorwald unterlegt also den Begriffen „Bild und Bildung“ einen ausschließlich organologischen Sinn, während Guardini – offensichtlich im Bewußtsein naheliegender Fehldeutungen – nicht müde wird, dieses Moment „Bild und Bildung“ in der menschlichen Sphäre über jede bloß naturalistisch-organologische Interpretation hinauszuheben. Es ist nicht wahr, daß die Begriffe „Bild“ und „Bildung“ bei Guardini auch im menschlichen Bereich an der „funktionalen Struktur des organischen Wachstums“ (S. 231) orientiert seien. Diese Begriffe Guardinis als Moment des pädagogischen Sinnzieles werden falsch verstanden, wenn es bei Döpp-Vorwald heißt: Indem die Menschwerdung und das Wesen der Erziehung im Sinne von „Bild und Bildung“ interpretiert würden, sei bereits eine entscheidende anthropologische Vorentscheidung gefallen: der Mensch werde „insoweit gesehen als grundsätzlich dem Bereich des organischen Seins zugehörig und nach dessen Gesetzen lebend“ (S. 231). Während Döpp-Vorwald immer wieder vom Entelechie-Prinzip als dem Urmodell des Bild- und Bildungs-Moments spricht, ordnet Guardini das Entelechie-Prinzip ausdrücklich allein der organischen Welt zu (Guardini, S. 28 oben) und hebt die spezifisch menschliche Weise der Verwirk-

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lichung von Bild und Bildung nachdrücklich davon ab. „Das menschliche Bild … ist entscheidend getragen von der Initiative des Geistes, der Erkenntnis, Freiheit und Tat“ (Guardini, S. 27). „Schöpferische Entscheidung“ und „schöpferischer Ausdruck“ charakterisieren menschliche Bildwerdung (Guardini, S. 27). Nirgends spricht Guardini – im Gegensatz zu Döpp-Vorwalds Auslegung – von einem im Menschen „angelegten Wesensgesetz“, seinem „immanenten Werdeziel“ (S. 219), von „Wachstum“ oder bloßer Entfaltung oder „Darbietung der rechten Nahrung“ (S. 219). Guardini bezeichnet das menschliche „Bild“ als den Inbegriff der Wesensbestimmungen und Wertaufgaben des Menschen (Guardini, S. 29; Sperrung vom Verf.). Namentlichkeit und Einmaligkeit, Angerufensein als Geschöpf eines Schöpfers kennzeichnen bei Guardini schon das Bild-Prinzip. Hinsichtlich dieses innersten Kerns der Bildwerdung des Menschen kann Guardini sogar sagen: „Das Bild entspringt nicht mehr autonom im Geist (– geschweige denn im Menschen als bloß organisatorischem Wesen; der Verf. –), sondern im Verhältnis zum schöpferischen und gesetzgebenden Willen Gottes“ (Guardini, S. 28). Wenn in diesem Zusammenhang endlich noch das Moment der Gnade genannt wird, so bedürfte es eigentlich nicht mehr des zusammenfassenden Satzes, hier sei „das Bild jedem Naturalismus entrückt“ (Guardini, S. 29), um ein wesentlich organologisches Verständnis des Guardinischen Begriffes „Bild und Bildung“ als unangemessen zu erweisen. 2. Nun kommt Döpp-Vorwald an einer Stelle selbst auf den eben von uns erhobenen Einwand gegen seine Deutung des Bild-Moments bei Guardini zu sprechen. Aber er glaubt seine Auslegung dadurch rechtfertigen zu können, daß er alles, was Guardini als das spezifisch Menschliche des Bild- und Bildungs-Moments anführt, als einen „Vorgriff auf die Interpretation des Menschseins von ‚Begegnung und Bewährung‘ her“ (S. 232) bezeichnet; und es ist unüberhörbar, daß Döpp-Vorwald diesen „Vorgriff“ von Guardinis Voraussetzungen aus für illegitim hält. Aber hier liegt das prinzipiell gleiche Mißverständnis vor, dem wir bereits bei unserer Entgegnung auf Döpp-Vorwalds ersten Reduktionsschritt begegneten. Wieder wird ein Moment eines dialektischen Zusammenhanges (hier „Bild und Bildung“) entgegen dem Sinn der Guardinischen Dialektik zum isolierten „Faktor“ umgedeutet. Was das spezifische Merkmal eines echt dialektischen Verhältnisses und zugleich der „Motor“ jeder dialektischen Denkbewegung ist: daß nämlich in jedem seiner Momente die anderen irgendwie mitenthalten sind, (wiewohl kein Moment als solches Gehalt und Bedeutung der anderen voll ausschöpft, weshalb die dialektische Wahrheit immer erst im Durchlaufen aller Momente gewonnen werden kann) – dieses Mitanklingen eines Momentes in einem anderen (hier

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„Begegnung und Bewährung“ in „Bild und Bildung“) benutzt Döpp-Vorwald als Argument gegen die Schlüssigkeit der Gedankenführung Guardinis. 3. Nun würde jenes methodische Mißverständnis kein Beweis gegen Döpp-Vorwald sein, wenn seine Gegenthese wirklich haltbar wäre. Diese Gegenthese, die zugleich die Grundthese Döpp-Vorwalds zum Problem der Grundlegung der Erziehungswissenschaft überhaupt ist, lautet: In „Begegnung und Bewährung“ und nur in ihr „erscheinen alle die Züge der menschlichen Existenz, in denen sich ihr eigentlich-menschlicher Charakter bekundet …“ (S. 234). „Hier, und nur hier, ist der Mensch wirklich als Person, in seiner personalen Seinsweise im Blick. Und hier, nur hier ist daher auch das immanente Sinnziel der Menschwerdung des Menschen und damit der Erziehung und damit der Pädagogie – jenes Sinnziel, das den autonomen Eigensinn des erzieherischen Bereichs im Unterschied zu allen anderen Geschehens- und Handelnsformen als begründete conditio per quam konstituiert – in einer angemessenen Weise ausgesagt“ (S. 234). Und zuvor sagt Döpp-Vorwald: „Was ‚Verantwortung‘, ‚Freiheit‘, der religiöse ‚Transzendenzbezug‘ des Menschen, seine ‚Geistigkeit‘, seine ‚Personalität‘ inhaltlich bedeuten, das ist primär nur subjektiv erfahrbar im Vollzuge der unbedingten Entscheidung in der Situation“ (S. 233). Kein Zweifel: Alle diese Thesen legen Zeugnis ab von einer anthropologischen Vorentscheidung, die Döpp-Vorwald getroffen hat. Es ist die existenzphilosophische Deutung des Menschen, die hier zur Grundlage der Pädagogik erklärt und als allgemein verbindlich hingestellt wird. Aber stimmt es denn, daß eigentlich geistig und allein spezifisch-menschlich nur die Erfahrungen des Menschen sind, die ihm in der existenzphilosophisch interpretierten „Begegnung und Bewährung“ zugänglich werden? Ist der Mensch nur in den Grenzsituationen des Daseins wahrhaft Mensch? – Schiller konnte noch sagen, der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er spiele. Es ist phänomenologisch aufweisbar, daß im Spiel eine spezifisch menschliche Erfahrung der Freiheit gegeben ist. Religiöser Transzendenzbezug kann nicht nur im Augenblick der „Bewährung“ erfahren werden, sondern auch in der beseligenden Erfahrung des Geborgenseins in Gott. „Geistigkeit“ ist auch erfahrbar als Bereicherung und Steigerung des Selbst durch eine bedeutsame und im glücklichen Moment aufgehende Erkenntnis. „Personalität“ ist uns durchaus auch gegeben in den Erlebnissen von geistiger Gemeinschaft, Freundschaft, Verstehen, Liebe – Erlebnissen, denen als ein Wesenszug immer ein Geschenkcharakter eigen ist; (womit natürlich nicht gesagt sein soll, das diese menschlich-geistigen Phänomene nicht auch die Gestalt der Aufforderung zur „Bewährung“ annehmen können). Alle die von uns genannten geistigen Erfahrungen gehören nun, wenn wir recht sehen, in das Feld, das Guardini mit seinem Moment „Bild und Bildung“ bezeichnet. Sie sind durchaus und zutiefst geistiger Art und stehen jenseits alles bloß organischen

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Lebens. Alle haben sie jenen Zug, der das Wesentliche der Bild-Komponente im Sinne Guardinis ausmacht. Der Mensch erfährt sie als Bestätigung seiner selbst, als glückhaft-gelungen, als mit der Gesamtheit seines Wesens zu Einheit der (geistigen) Gestalt zusammenklingend. Solcher Zusammenklang zur Einheit des „Bildes“, solche „Bildung“ ist nicht gleichbedeutend mit organischem Wachstum nach einem inneren Werdegesetz. Sie kann durchaus Verwandlung, Steigerung, Erweiterung sein, aber eben Verwandlung, die die Kontinuität des personalen Werdens nicht negiert, Wandlung, die nicht „unbedingt“ und radikal aus der „Entscheidung“ folgt, sondern die durchaus bedingt ist durch die bisher gewonnene geistige Gestalt, die das Maß des mit ihr zu Vereinbarenden ist. Insofern der Mensch die genannten Erfahrungen nicht als bloße Phänomene einer Entwicklung von innen heraus erlebt, sondern nur im „partnerschaftlichen“ Zusammenspiel mit der Welt, klingt in ihnen das Moment der „Begegnung“ an; indem die „Bildwerdung“ nicht einfach als Faktum am Menschen geschieht, sondern als Leit- und Wertbild von ihm selbst in „schöpferischer Entscheidung“ (Guardini, S. 27) stets neu bejaht und verwirklicht sein will, kündet sich das Moment der „Bewährung“ an. Aber Guardini verfällt – im Gegensatz zu der gegenläufigen Gedankenführung Döpp-Vorwalds – nicht der Gefahr, in diesem „Anklingen“ bereits das volle Recht des Momentes „Begegnung und Bewährung“ garantiert zu glauben. Erst indem es aus seiner eigenen Mitte heraus voll entfaltet wird, gewinnt es bei Guardini seine wahre Bedeutung im dialektischen Zusammenhang. 4. Betrachtet man von den Überlegungen des letzten Abschnittes aus Döpp-Vorwalds im Prinzip von „Begegnung und Bewährung“ zentrierte Grundlegung der Erziehungswissenschaft, so wird deutlich, daß diese Grundlegung das pädagogische Phänomen einseitig im Licht einer existenzphilosophisch verstandenen Entscheidungsethik sieht. Döpp-Vorwalds Darlegung bestätigt Guardinis These: „Die betonte Vorherrschaft des Moralischen (– wir dürfen ergänzen: auch in seiner existenzphilosophischen Deutung –) macht menschliche wie kulturelle Fülle verkümmern“ (Guardini, S. 23). Indem Döpp-Vorwald „Bildung“ im Sinne Guardinis nur als „Vorhof des eigentlich-erzieherischen Geschehens“ (S. 236) gelten lassen will, als bloßes „Feld für Begegnung und Bewährung“ (S. 236), degradiert er z. B. die Bereiche der Erkenntnisbildung (also auch allen echten „Bildungswissens“) und der musischen Bildung zu bloßen Vorfeldern des Pädagogisch-Eigentlichen; sie drohen damit ihres spezifischen Eigenwertes verlustig zu gehen. 5. Unsere Gegenkritik muß noch einen Schritt weitergehen. Das Moment von „Begegnung und Bewährung“ als der Bereich der Ernstsituationen blieb bei Guardini dank der dialektischen Beziehung zu den anderen Sinnmomenten immer gleich-

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sam pädagogisch gemildert, d. h. vor der in diesem Moment als solche liegenden Tendenz zur „existentiellen“ Radikalisierung bewahrt durch die Rückbindung an das im Schnittpunkt der drei Momente liegende Pädagogisch-Eigentliche. Indem Döpp-Vorwald den dialektischen Zusammenhang auflöst, setzt er das Moment „Begegnung und Bewährung“ in Freiheit; es entwickelt sich nun sogleich zu dem in ihm liegenden Extremismus. Der Ernstcharakter der „Begegnung und Bewährung“ ist radikal wie der der Grenzsituationen der reifen Erwachsenenexistenz. „Erziehung geschehe überall dort, wo der Mensch in echte Begegnung mit der endlichen Situation gerät, sie in freier Verantwortung unbedingt übernimmt, sich in ihr bewährt und sich so als personales Selbst konstituiert und durchhält …“ (S. 234; Sperrung vom Verf.). Echte Erziehung geschehe nur dort, „wo der Mensch sich durch das vordergründig Begegnende und ihn Begrenzende hindurch auf das Unbedingte bezogen weiß und nun angesichts der ihm damit erschlossenen metaphysischen Tiefe des Seins sich in echter Verantwortung entscheidet und wahrhaft ‚frei‘ sein Dasein mit seinen konkreten Aufgaben übernimmt“ (S. 236; Sperrung vom Verf.). Uns scheint mit solchen Bestimmungen der Raum des eigentlich Erzieherischen nicht nur nicht treffender erfaßt als in Guardinis dialektischer Lösung, sondern geradezu verlassen. Zum Maß des Pädagogischen werden hier sittliche Forderungen und Situationen erklärt, die in dieser Unbedingtheit nur vom reifen Menschen, vom „Erzogenen“ erfahren und bewältigt werden können. Man kann das Reifwerden für solche Ernstsituationen mit vollem Recht als das höchste Erziehungsziel bezeichnen. Aber diese Zielbestimmung der Erziehung ist nicht gleichbedeutend mit der Bestimmung des Pädagogisch-Eigentlichen. Es liegt wiederum in der unseres Erachtens zutiefst dialektischen Struktur des Pädagogischen begründet, daß Erziehung eben dort ihre Grenze hat, d. h. in das nicht mehr spezifisch Erzieherische umschlägt, wo sie ihr Ziel erreicht. Im Reifwerden bzw. im Zur-Reife-Helfen liegt der Sinn der Erziehung, im Reifsein bzw. im Zur-Reife-gebracht-Haben hebt Erziehung sich selbst auf. Das spezifisch Erzieherische kann also nicht durch Qualitäten des Reifseins bestimmt werden, sondern nur durch die des Reifwerdens. Man kann es geradezu als Bedingung des Reifwerdens bezeichnen, daß in ihm die Situationen und Entscheidungen noch nicht den letzten, existentiellen Ernst haben. Eben deshalb kann der junge Mensch reifen, erzogen werden, weil ihm die Erziehung der Erzieher einen Teil der Verantwortung abnehmen oder besser: weil sie stellvertretend für ihn und mit ihm Verantwortung tragen. Es gehört zum Wesen der Erziehung, daß sie – wie Erich Weniger sagt – im „Vorhof des Lebens“ bleibt, daß sie die Entscheidungen des Lebens nur vorbereitet („Bildung und Persönlichkeit“ in: E. Weniger: Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis. Probleme der akademischen Lehrerbildung. Weinheim 1957. S. 138). Die „Ernstsituationen“, in die die Erziehung den zu Erziehenden in der Tat stellen sollte (wie Döpp-Vorwald fordert, S. 236), haben

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ihren eigenen, kindlichen Ernst, der jedoch noch nicht der unbedingte Ernst der „existentiellen“ Situation ist. Und entsprechend handelt es sich in aller Erziehung durchaus „um ein ‚Eigentliches‘, aber um das Eigentliche des Kindes und der Jugend, das seinem Wesen nach etwas Vorläufiges ist.“ (Weniger: a. a. O. S. 138)

III 1. Döpp-Vorwalds Versuch, die dialektische Bestimmung des Pädagogisch-Eigentlichen durch Guardini auf eine undialektisch-monoprinzipielle Begründung zu reduzieren, scheint uns nicht gelungen zu sein. Ohne daß Guardinis Lösung hier dogmatisiert werden soll, muß sie als zutreffender und realistischer bezeichnet werden. Der tiefste Grund für die Unterschiedlichkeit der beiden Versuche zur Grundlegung der Erziehungswissenschaft bzw. der Bildungslehre scheint uns schon in der Andersartigkeit des jeweiligen Begründungsansatzes zu liegen. Döpp-Vorwald versucht in der Kritik an Guardinis Bestimmungen immer wieder hinter die pädagogischen Phänomene zurückzugehen auf das „Kategorial-Spezifische des Menschseins“ (S. 227; vgl. S. 233). Er sucht das Prinzip des Pädagogischen nicht im Erziehungsphänomen selbst, sondern in einer anthropologischen Wesensbestimmung des Menschen. Entgegen seiner Zielsetzung das Pädagogische „autonom“ zu begründen (S. 229) – und das kann doch nur heißen: aus den in ihm selbst gelegenen Prinzipien einsichtig zu machen – versucht er es in Wahrheit „heteronom“ von einer vorgängigen anthropologischen Bestimmung aus, der existenzphilosophischen Deutung des Menschen, die als solche ja durchaus philosophisch umstritten ist. Das hier zutage tretende Begründungsverfahren einer Ableitung des Pädagogischen aus dem Anthropologischen kommt in paradigmatischer Deutlichkeit in zwei Formulierungen zum Ausdruck, deren eine hier noch einmal zitiert werden soll: Nur in „Begegnung und Bewährung“ sei der Mensch wirklich Mensch, Person, nur hier sei „daher auch das immanente Sinnziel der Menschwerdung und damit der Erziehung und damit der Pädagogie …“ (S. 234, Sperrung vom Verf.; vgl. S. 227, auch S. 236, 233). Den Grund dafür, daß Guardinis dialektischer Begründungsversuch des Päd­ agogisch-Eigentlichen unserer Auffassung nach gelungener als der Döpp-Vorwalds ist, sehen wir darin, daß Guardini seine dialektisch verschränkten Begründungsmomente aus der Analyse der Erziehungswirklichkeit gewinnt. Er verläßt diesen Raum im Grund nirgends, alle ethischen, anthropologischen, ja selbst religiösen Gedanken werden im Aspekt ihrer pädagogischen Bedeutung entwickelt. So kommt es, daß Guardini, der eingangs vom Religiösen her schwere Einwände gegen eine falsche „absolute Autonomie“ der Pädagogik vorträgt (Guardini, S. 10, S. 19ff.), in

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der Durchführung seines Gedankenganges (im rechten Sinne) autonom-pädagogisch vorgeht. So wenig das ausdrücklich gesagt wird und so selten es unmittelbar hervortritt: Guardinis dialektische Gedankenführung entspringt einer erziehungsphilosophischen Analyse der geschichtlichen Erziehungswirklichkeit. Das Prinzip „Bild und Bildung“ ist das Wahrheitsmoment des humanistischen Bildungsideals und der humanistischen Erziehungspraxis, das Moment „Begegnung und Bewährung“ ist der Kern des christlich-existentiellen und des philosophisch-existentiellen Erziehungsdenkens, das Moment „Gegenstand und Dienst“ ist die treibende Kraft und die Wahrheit aller realistisch-sozialen Erziehung. Guardini stellt uns diese Momente nicht im Gewande geschichtlicher Erziehungsbewegungen vor Augen, sondern als prinzipielle pädagogische Ansatzmöglichkeiten. Zwar betont er nachdrücklich, daß solche unterschiedlichen Ansätze „durch grundlegende menschliche Strukturen des Seins und der Weltansicht getragen“ werden (Guardini, S. 36), aber er leitet das pädagogisch Wahrheitsmoment dieser verschiedenen Ansätze nicht aus diesen tragenden anthropologischen, ethischen, religiösen Weltund Menschendeutungen ab. Im Gegensatz zu Döpp-Vorwald werden Wahrheit und Grenze jedes Momentes innerhalb des pädagogischen Sinnzusammenhangs danach bemessen, was das betreffende Moment zur Deutung und Gestaltung der Erziehungswirklichkeit hergibt. Nur deshalb leuchtet das komplexe Ganze dieser eigenständigen Wirklichkeit der Erziehung in Guardinis Bestimmungen immer in jener Sinnfülle auf, die ihm in den Ausführungen Döpp-Vorwalds verlorengeht. 2. Wenn in Guardinis Abhandlung, Döpp-Vorwalds Interpretation und Kritik und den vorliegenden Bemerkungen immer wieder vom Zutreffen oder Nichtzutreffen von Bestimmungen des Pädagogisch-Eigentlichen gesprochen wurde, so stellt sich abschließend die Frage nach dem „geistigen Organ“, das dieses Abwägen der Aussagen auf ihre pädagogische Relevanz vornimmt. Guardini gibt eine von Döpp-Vorwald leider nicht erwähnte Antwort: Die prüfende Instanz ist das „Kategorial-Gewissen“ (Guardini, S. 24). Das damit aufgeworfene Problem ist eine methodische Kernfrage der Begründungsproblematik der Pädagogik. Sie kann hier nicht weiter verfolgt werden. Faßt man Guardinis Begriff des Kategorial-Gewissens nicht im Sinne einer dem menschlichen Geiste vorgegebenen Funktion, sondern als ein sich in der erzieherischen Erfahrung erst bildendes und fortan bildbares Gewissen, so scheint uns damit ein Ansatz gemacht zu sein, der es wert ist, weiter durchdacht zu werden.3 3 Der Verf. darf im Zusammenhang mit den vorliegenden Ausführungen auf seinen Aufsatz „Dialektisches Denken in der Pädagogik“ hinweisen, erschienen in: Geist und Erziehung. Aus dem Gespräch zwischen Philosophie und Pädagogik. Kleine Bonner Festgabe für Theodor Litt. Bonn 1955. S. 55–84.

Der zwiefache Ansatz Herbarts zur Begründung der Pädagogik als Wissenschaft1

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8 Der zwiefache Ansatz Herbarts 8 Der zwiefache Ansatz Herbarts

I In der neueren Herbart-Forschung ist die Frage nach Herbarts Auffassung von der Möglichkeit und der Struktur einer wissenschaftlichen Pädagogik vor allem bei Gerhard Klostermann2 , Heinrich Döpp-Vorwald 3, Klaus-Dietrich Wagner4 ,

1 Im folgenden zitieren wir, soweit möglich, nach der neuen dreibändigen Ausgabe der pädagogischen Schriften Herbarts von Walter Asmus in den „Pädagogischen Texten“. Hrsg. von Wilhelm Flitner. Düsseldorf/München 1964/1965. Bd. 1: Kleinere Pädagogische Schriften (im folgenden Asmus I, S …). – Bd. 2: Pädagogische Grundschriften (Asmus II, S …). – Bd. 3: Pädagogisch-Didaktische Schriften (Asmus III, S …). Bei Zitaten aus der „Allgemeinen Pädagogik“ wird parallel zur Edition von Asmus jeweils auf die verbreitete Ausgabe von Herman Nohl in den Kleinen Pädagogischen Texten. H. 25 (Weinheim o. J.) verwiesen, bei solchen aus der Abhandlung „Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung“ und aus dem Aufsatz „Über die dunkle Seite der Pädagogik“ die Ausgabe von Heinrich Döpp-Vorwald in den Kleinen Pädagogischen Texten. H. 22. – Texte Herbarts, die in den genannten neueren Herbart-Ausgaben nicht greifbar sind, werden nach der dreibändigen Edition „Joh. Fr. Herbarts Päd. Schriften“. Hrsg. von Otto Willmann und Theodor Fritzsch. Osterwieck/Leipzig 1913 bzw. nach der Gesamtausgabe „Herbarts Sämtliche Werke“. Hrsg. von Karl Kehrbach und Otto Flügel. 19 Bände, Langensalza 1887–1912, angeführt. (Rechtschreibung und Zeichensetzung werden modernisiert.) 2 Gerhard Klostermann: Die Grundlagen der formalen Erziehungstheorie. Münster 1925. S. 10–150, 193ff. 3 Heinrich Döpp-Vorwald: Einleitung zu seiner Ausgabe „Aus Herbarts Jugendschriften“. Kleine Pädagogische Texte. H. 22, S. 3–58. 4 Klaus-Dietrich Wagner: Das Wesen des Realismus in J. F. Herbarts Philosophie und Pädagogik. Jena 1952. Ders.: Zur Frage des Doppelcharakters der Pädagogik Herbarts. In: Schule und Nation III (1957) H. 3. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Klafki, Allgemeine Erziehungswissenschaft. Systematische und historische Abhandlungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23165-1_8

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Bernhard Schwenk 5, Fritz Pfeffer6 und Rudolf Lochner7 aufgeworfen worden. Der folgende Beitrag geht von der Kenntnnis dieser Werke aus. Prinzipiell wäre es möglich, unsere Fragestellung aus einer referierenden und zum Teil kritischen Auseinandersetzung mit den genannten Autoren bzw. mit den einschlägigen Passsagen ihrer Werke herauszuarbeiten. Weil jene Herbart-Interpretationen unser Thema jedoch teils innerhalb größerer Zusammenhänge, teils in der Beschränkung auf einzelne Herbart-Texte behandeln, wäre es nicht nur notwendig, vorweg die jeweils unterschiedlichen Ausgangspunkte und Zugänge zum Problem zu kennzeichnen, sondern auch zu entfalten, inwiefern die Aussagen der genannten Autoren direkt oder indirekt aufeinander bezogen werden können; das aber müßte den gebotenen Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Wir wenden uns daher unmittelbar Herbart zu.

II Welche Motive sind es, die Herbart in seinen pädagogischen Reflexionen auf das Problem der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Pädagogik führen? Diese Frage kann hier geistesgeschichtlich und biographisch nicht in extenso hehandelt werden; sie wird nur so weit beantwortet, als es für unsere wissenschaftstheoretische Interpretation unerläßlich erscheint. Der entscheidende Impuls für Herbarts lebenslange Beschäftigung mit päd­ agogischen Problemen überhaupt und in diesem Rahmen auch mit der Frage einer wissenschaftlichen Pädagogik entstammt offensichtlich der intensiven praktisch-pädagogischen Erfahrung Herbarts in den drei Berner Hauslehrerjahren in der Familie des Altlandvogts Steiger.8 Zwar gibt es schon vor dieser Zeit Belege für Herbarts pädagogisches Interesse. Aber erst die Berichte, die er während seiner Hauslehrerzeit für den oft vom Wohnort seiner Familie abwesenden Landvogt schrieb, zeigen Ansätze zu systematisch-pädagogischen Erörterungen; entscheidend ist dabei, daß es gerade die in dieser Praxis erfahrene Verantwortung einerseits und

5 Bernhard Schwenk: Das Herbart-Verständnis der Herbartianer. Weinheim 1963, bes. S. 57ff., 165ff., 239ff. 6 Fritz Pfeffer: Über Herbarts Grundlegung der Pädagogik als Wissenschaft. In: Pädagogischer Almanach 1963. Ratingen 1963. S. 121–151. 7 Rudolf Lochner: Deutsche Erziehungswissenschaft. Meisenheim 1963, Paragraph 10 und 11. 8 Vgl. meine Edition J. Fr. Herbart: Hauslehrerberichte und pädagogische Korrespondenz, 1797–1807. Kleine Pädagogische Texte. H. 34 (1966).

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die erzieherischen Schwierigkeiten andererseits waren, die Herbart die Frage nach der Möglichkeit und nach den Prinzipien eines langfristigen Erziehungsplanes, nach der Bestimmbarkeit des Erziehungszieles, nach dem Verhältnis verschiedener Erziehungsformen, nach der Relation zwischen erzieherischer Intention und Individualität des jungen Menschen usw. aufdrängten. Diese Fragestellungen, in denen das Problem einer wissenschaftlich-systematischen Untersuchung pädagogischer Fragen bereits exponiert war, wirkten dann in den pädagogischen Studien der Bremer Jahre (1800/1802) nach und wurden intensiviert, seitdem Herbart sich als Göttinger Privatdozent der Philosophie die Aufgabe stellte, pädagogische Vorlesungen zu halten. Dabei verdrängte die Tatsache, daß Herbart diese Vorlesungen und die daraus erwachsenden Schriften – so noch die Allgemeine Pädagogik (1806) – auf die Bedürfnisse zukünftiger Praktiker abzustellen versuchte, keineswegs die wissenschaftstheoretische Fragestellung, sondern hielt sie – vor allem in Gestalt der Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis – ständig wach. Seit 1802 wurde nun in – wiewohl meist knappen – Reflexionen über die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Pädagogik ein Denkmotiv wirksam, das Herbart aus seinem philosophischen Studium in Jena mitbrachte: Herbarts Wissenschaftsbegriff war geprägt von einigen Momenten des Wissenschaftsverständnisses Kants und Fichtes, und das gilt unbeschadet der Tatsache, daß Herbart sich bereits seit 1798 von Fichtes philosophischer Gesamtkonzeption, wie sie in den frühen Fassungen der „Wissenschaftslehre“ vorlag, gelöst hatte und daß seine Kritik an wesentlichen Gedankengängen der Philosophie Kants sich bereits abzeichnete. Wichtige formale Kriterien des kantisch-fichteschen Wissenschaftsverständnisses blieben, wie bereits Heinrich Döpp-Vorwald gezeigt hat9, für Herbtarts Wissenschaftsbegriff bestimmend. Die bei Döpp-Vorwald zitierten Aussagen Kants – „eine jede Lehre, wenn sie ein System, d. i. ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis sein soll, heißt Wissenschaft“ und: „… die systematische Einheit (ist) dasjenige, was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft, d. i. aus einem bloßen Aggregat derselben ein System macht … Ich verstehe dabei unter System die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee“ – ergänzen wir hier durch analoge Sätze aus Fichtes Schrift „Über den Begriff der Wissenschaftslehre“ vom Jahre 1794: „Eine Wissenschaft hat systematische Form; alle Sätze in ihr hängen in einem einzigen Grundsatze zusammen und vereinigen sich in ihm zu einem Ganzen.“ „Jede Wissenschaft muß einen Grundsatz haben.“ „Alle weiteren Sätze, einer Wissenschaft aber erhalten nur durch die Verbindung mit jenem ersten selbst den Rang wissenschaftlich gültiger Sätze.“ „Die Verbindung besteht darin, daß gezeigt werde: wenn der Satz A gewiß sei, müsse auch der Satz B, und wenn dieser gewiß sei, müsse auch der Satz C usf. 9 Vgl. Anm. 3, S. 6f.

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gewiß sein; und diese Verbindung heißt die systematische Form des Ganzen, das aus den einzelnen Teilen entsteht“.10 Damit ist vorläufig das Spannungsfeld umrissen, innerhalb dessen Herbarts Bemühungen um die Konzeption einer wissenschaftlichen Pädagogik sich entfalten sollten: Auf der einen Seite der von Herbart als verbindlich betrachtete, an Kant und Fichte orientierte Wissenschaftsbegriff mit seinem systematischen Anspruch, auf der anderen Seite das Motiv, den Reichtum eigener und fremder pädagogischer Erfahrungen und Beobachtungen in einer wissenschaftlichen Erziehungstheorie angemessen zur Sprache zu bringen.

III Die Beantwortung der Frage nach Hertbarts Auffassung von der Möglichkeit und der Struktur einer wissenschaftlichen Päagogik stößt mindestens·auf zwei Schwierigkeiten. Erstens hat Herbart dieses wissenschaftstheoretische Problem zwar an etlichen Stellen seiner Werke angesprochen, nie aber in einem größeren Zusammenhang behandelt; seine diesbezüglichen Aussagen haben meist programmatischen Charakter. Zweitens streuen die einschlägigen Stellen über alle Schaffensperioden Herbarts von den frühen bis zu den spätesten Werken. Indessen erfordert der zuletzt angesprochene Sachverhalt in unserem Zusammenhang keine besondere Berücksichtigung; wir stützen uns in dieser Hinsicht auf die Untersuchung von Bernhard Schwenk über „Das Herbartverständnis der Herbartianer“11, dessen Ergebnisse durch unsere eigenen Voruntersuchungen bestätigt wurden: Im Widerspruch zu der seit Dilthey beliebten Unterscheidung zwischen einem „jungen“ – sprich: wissenschaftlich noch „offenen“ – und einem „alten“ – sprich: immer starrer im Systemdenken, insbesondere seiner mechanistischen Psychologie verhafteten – Herbart weist Schwenk gerade im Hinblick auf das für unsere Frage entscheidende Problem des Verhältnisses von Psychologie und Pädagogik nach, daß es im Wesentlichen die gleichen Denkmotive und Lösungsversuche sind, die Herbarts frühe Schriften wie sein Spätwerk bestimmen. Indirekt kann man auch das Vorgehen Arthur Brückmanns in seinem Buche über „Pädagogik und philosophisches Denken bei J. Fr. Herbart“12 als Beleg für diese Auffassung werten. 10 J. G. Fichte: Werke. Hrsg. von Fritz Medicus. Auswahl in 6 Bänden. Leipzig 1911. Bd. 1. S. 166, 170f. 11 Göttingen 1963, bes. S. 165ff. 12 Zürich 1961.

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Nun bedeutet der Nachweis, daß man zwischen derPädagogik des frühen und des späten Herbart nicht in der ,angedeuteten Weise unterscheiden kann, keineswegs eo ipso, daß damit auch die bruchlose „Einheit“ des pädagogischen Werkes Herbarts behauptet würde; vielmehr weist auch Schwenk nach, daß man im päd­ agogischen und psychologischen Gesamtwerk Herbarts – meistens schon innerhalb jedes einzelnen Werkes – zwischen systematisch-wissenschaftlich entwickelten und daher streng terminologisch formulierten Texten bzw. Partien einerseits und solchen Schriften oder Passagen andererseits unterscheiden müsse, in denen theoretische Erwägungen außerhalb eines streng systematischen Bezugsrahmens, also auch ohne konsequent-prinzipielle Begründungen und ohne eine definierte Terminologie, vielmehr als „Kunstlehre“ im Blick auf Hilfe und Orientierung für die pädagogische Praxis vorgetragen werden. Diese überzeugend verifizierte These führt jedoch selbst wiederum eine Schwierigkeit mit sich: Es ist schwer, den Übergang von der einen, im engeren Sinne des Wortes systematisch-wissenschaftlichen Betrachtungsweise, zur anderen jeweils exakt zu fixieren. Und so finden sich gerade auch zu unserem Problem Aussagen Herbarts, die eindeutig mit dem Anspruch gültiger Thesen vorgetragen werden, gleichwohl aber im Kontext von Passagen stehen, die vorwiegend der Betrachtungsweise einer „Kunstlehre“ zuzuordnen sind. Es entfällt also jedes äußere Unterscheidungskriterium, und man muß alle thematisch einschlägigen Aussagen, an welcher Stelle sie sich auch finden mögen, jeweils gesondert auf ihren Bezug zu unserem Problem prüfen. Dabei ergibt sich nun, daß die verschiedenen Aussagen, denkt man sie auf ihre Konsequenzen hin weiter, miteinander oft nicht vereinbar sind. Vielmehr lassen sich, so scheint uns, die auf ihre inneren Zusammenhänge hin überprüften Einzelaussagen Herbarts zwei verschiedenen Denkmodellen zuordnen. Einzelne Elemente beider „Denkmodelle“ pflegen – kritisch oder zustimmend –, auch außerhalb der Spezialliteratur über Herbart häufig genannt zu werden, etwa das Postulat „einheimischer Begriffe“, das – wie sich zeigen wird – dem zweiten Modell zuzuordnen ist; als ganze sind die beiden hier als „Denkmodelle“ bezeichneten Ansätze bisher m. W. nicht systematisch verfolgt und einander gegenübergestellt worden. – Auffällig ist, daß Herbart die Widersprüchlichkeit beider Konzptionen offenbar nicht gesehen hat. Das ist wohl nur durch den bereits erwähnten Tatbestand zu erklären, daß die Aussagen Herbarts zur Möglichkeit einer wissenschaftlichen Pädagogik stets nur skizzenhaft erfolgen und über verschiedene Werke hin streuen, sich aber nirgends zu einem konsequenten methodologischen Gedankengang zusammenschließen.

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IV Welches sind jene beiden Denkmodelle? Sie lassen sich vorwegnehmend folgendermaßen charakterisieren: • Im ersten Modell wird Pädagogik als eine Wissenschaft verstanden, die ihre Grundlagen nicht aus eigenem Fragensatz heraus hervorzubringen vermag, die vielmehr nur durch Fundierung auf philosophische Ethik als Normwissenschaft einerseits und Psychologie als Wissenschaft von den Realisierungsbedingungen andererseits wissenschaftlichen Charakter, nämlich den einer „angewandten Wissenschaft“, gewinnen kann. • Das zweite Modell versteht Pädagogik als eine „eigenständige Wissenschaft“, die unbeschadet konstitutiver Beziehungen zu anderen Disziplinen, insbesondere zur Ethik und zur Psychologie, ihre spezifischen wissenschaftlichen Prinzipien und eine „einheimische“ Terminologie entwickeln muß. Insbesondere für die Auslegung des ersten Modells ist es bedeutsam festzuhalten, daß die diesbezüglichen Ausführungen Herbarts durchweg programmatischen Charakter haben; sie müssen vom Gesamtzusammenhang der pädagogischen Schriften zunächst unterschieden werden. Es ist dies Herbarts eigene Forderung: seine pädagogischen Werke und Aufsätze dürften nicht als konsequente Durchführung des in seinen wissenschaftstheoretischen Thesen Geforderten betrachtet werden.13 Wir haben im folgenden jeweils zu fragen: In welchem Verhältnis stehen die ausgeführten pädagogischen Arbeiten Herbarts zu seinen wissenschaftstheoretischen Thesen – sei es, daß Herbart sich selbst über die Relation geäußert hat, sei es, daß wir dieses Verhältnis zu bestimmen versuchen. Es gilt nun, die beiden Modelle wissenschaftlicher Pädagogik in kritisch-analytischer Interpretation aus den Bestandstücken, die sich bei Herbart finden, herauszuarbeiten, wobei wir häufig die methodologischen Konsequenzen weiter ausziehen müssen, als Herbart das ausdrücklich getan hat. Daß wir dabei auf eine genetische Darstellung verzichten dürfen, vielmehr jeweils das pädagogische Gesamtwerk Herbarts zu Rate ziehen, ist bereits an früherer Stelle als legitim begründet worden.

13 Vgl. etwa Herbarts „Replik auf Jachmanns Rezension der ‚Allgemeinen Pädagogik‘“(1814). Asmus II, S. 261.

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V Das erste Modell 1. Pädagogik wird hier als „angewandte Wissenschaft“ verstanden, die das Erziehungsziel bzw. die Erziehungsziele aus der Ethik („praktische Philosophie“) ableitet, die Erziehungsmittel aber der Psychologie entlehnt. Die klarste Formulierung dieses Ansatzes bieten die oft zitierten Sätze aus dem Paragraphen 2 der Einleitung des „Umrisses pädagogischer Vorlesungen“ (1835, 2. Aufl. 1841): „Pädagogik als Wissenschaft hängt ab von der praktischen Philosophie und Psychologie. Jene zeigt das Ziel der Bildung, diese den Weg, die Mittel und die Hindernisse“.14 Und der Paragraph 7 dieser Einleitung spricht noch einmal von der „zweifache(n) Begründung der Pädagogik, teils durch die praktische Philosophie, teils durch die Psychologie“.15 Der Ausgangsthese entspricht der Aufbau des ersten Teiles dieser Altersschrift Herbarts genau. Unter der Überschrift „Von der Begründung der Pädagogik“ handelt das erste Kapitel „Von der Begründung durch praktische Philosophie“, das zweite „Von der psychologischen Begründung“. Erst der zweite Teil des Buches bringt dann den „Umriß der Allgemeinen Pädagogik“, der formal als „Anwendung“ der zuvor entwickelten psychologischen Grundlagen auf die aus der Ethik deduzierten Normen erscheint. – Daß der skizzierte Denkansatz schon beim frühen Herbart auftritt, zeigen u. a. Aphorismen, die wahrscheinlich zu Herbarts erster Pädagogik-Vorlesung in Göttingen gehören. „Die Betrachtung des Zweckes der Erziehung“, so heißt es dort einmal, „führt uns ins Gebiet der Ideale; hingegen die Überlegung der Mittel und Hindernisse zieht uns wieder herab in die gemeine, ja, in die niedrigste Wirklichkeit“.16 Und an anderer Stelle lesen wir: „Eine wissenschaftliche Pädagogik muß erst den Zweck feststellen, für den sie die Mittel gebrauchen will“17: Mittel und Zweck aber entstammen auch im Sinne dieser Aussage, wie Partien aus der „Rede bei der Eröffnung der Vorlesungen über Pädagogik“ deutlich werden lassen, einer „rein philosophischen Grundlage“, nämlich „hauptsächich Psychologie und Moral“ (im Sinne von „Moralphilosophie“).18 Das Ziel bzw. die Ziele der Erziehung, die aus der Ehtik abgeleitet werden müssen, werden in diesem Ansatz also als „Zwecke“ verstanden, die von der Psychologie 14 15 16 17 18

Asmus III, S. 165. Asmus III, S. 167. Willmann-Fritzsch III, S. 593. Willmann-Fritzsch III, S. 596. Willmann-Fritzsch I, S. 127.

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zu erforschenden Verwirklichungsbedingungen als „Mittel“ zu jenen „Zwecken“.19 Wissenschaftliche Pädagogik hat demgemäß ihren Ort in einem Denk- und Handlungszusammenhang, der durch die Beziehung vom Zweck bzw. Zwecken und „Mitteln zum Zweck“ (bzw. zu einem System von Zwecken) charakterisiert ist. „Zwecksetzung“ und „Mittelbestimmung“ müssen im folgenden gekennzeichnet werden. 2. Die Zielbestimmung An keiner anderen Stelle hat Herbart innerhalb seiner pädagogischen Schriften den Gedanken einer philosophischen Deduktion der pädagogischen Zielsetzung strenger durchgeführt (und durchführen können) als in seiner schon 1802 entworfenen, obwohl erst 1804 veröffentlichten Abhandlung „Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung“; und zwar wird die Zielbestimmung hier streng im Sinne des oben skizzierten Fichteschen Wissenschaftsbegriffes vorgenommen. Es kann und braucht uns nicht darum zu gehen, die berühmte Jugendschrift Herbarts ausführlich zu interpretieren – das ist mit schwer zu überbietender Eindringlichkeit von Heinrich Döpp-Vorwald geleistet worden.20 Für unseren Zusammenhang genügt es, das hier zur Anwendung gebrachte Deduktionsprinzip in Erinnerung zu rufen: „Soll es möglich sein, das Geschäft der Pädagogik als ein einziges Ganzes durchgreifend richtig zu durchdenken“ – m. a. W.: wissenschaftlich zu bestimmen – „und planmäßig auszuführen, so muß es vorher möglich sein, die Aufgabe der Erziehung als eine einzige aufzufassen“.21 Schon der Einleitungssatz der Schrift aber nimmt die Ausführung des in jendem Satze enthaltenen Postulates vorweg: „Man kann die eine und ganze Aufgabe der Erziehung in den Begriff Moralität fassen“.22 Weitere Zielbestimmungen sind demgemäß nur als Ableitungen denkbar, nämlich soweit sie dem Hauptziel dienstbar gemacht, aus ihm „deduziert“, das heißt hier: im Hinblick darauf gerechtfertigt werden können. Der „Umriß pädagogischer Vorlesungen“ greift formell auf jenen Versuch der Deduktion des gesamten Erziehungsproblems aus einem Prinzip zurück, indem er die „Begründung durch die praktische Philosophie“ mit dem Satz beginnt: „Tugend ist der Name für das Ganze des pädagogischen Zwecks“.23 Aber Herbart kann in der 19 In den „Diktaten zur Pädagogik“, die vermutlich aus dem Jahre 1802 stammen, heißt es: „Die Erziehung wendet Mittel an, um Zwecke zu erreichen.“ Willmann-Fritzsch I, S. 132. 20 Vgl. Anm. 3. 21 Asmus I, S. 105; Döpp-Vorwald: Kleine Pädagogische Texte. H. 22, S. 59. 22 Wie Anm. 21; vgl. „Älteste Hefte“ nach Willmann-Fritzsch III, S. 515. 23 Asmus III, S. 167.

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Durchführung des Gedankens hier nicht mehr hinter seine bereits 1808 entwickelte Praktische Philosophie zurück, in der er über das von Kant übernommene ethische Formalprinzip der Moralität als des pflichtgemäßen Handelns hinaus auf inhaltliche Bestimmungen des „guten Willens“ zurückgefragt hatte und diese Bestimmungen in den fünf praktischen Ideen – als den Prinzipien ursprünglicher, „ästhetischer“ (d. h. dem als solchen willenlosen Betrachten menschlicher Willensverhältnisse entspringender) Urteile des Gefallens – gefunden hatte. Da diese fünf ursprünglichen, nicht weiter ableitbaren Ideen (innere Freiheit, Vollkommenheit, Wohlwollen, Recht, Billigkeit) nach Herbarts eigener Lehre aber gleichrangig nebeneinander gelten, also selbst nicht mehr in ein hierarchisch geordnetes System gebracht werden können, hätte jeder Versuch einer strengen monoprinzipiellen Ableitung mißlingen müssen (ganz abgesehen von der bei Herbart nicht zugänglich durchreflektierten Problematik dieses Urteilskataloges als solchem).24 Herbart hat sich in dem genannten Kapitel des „Umrisses“ denn auch mit einer knappen additiven Nennung der fünf ursprünglichen „praktischen Ideen“ und ihrer fünf ersten Ableitungen auf Willensbeziehungen in größeren menschlichen Gruppen begnügt. Nun ist dieser faktische Bruch mit dem Fichteschen Wissenschaftsideal der Ableitung aus einem einzigen Grundbegriff für unseren Zusammenhang nicht entscheidend; er verändert das wissenschaftstheoretische Denkmodell, das hier beleuchtet wird, nicht, bleibt doch der für dieses Modell konstitutive Gedanke der vorgängigen Bestimmung pädagogischer Ziele durch die „Praktische Philosophie“ durchaus gewahrt. Andere Belege für die eben skizzierte Weise der Zielbestimmung bietet z. B. der Aufsatz „Über die dunkle Seite der Pädagogik“ (1812). Dort verweist Herbart auf seine „Allgemeine praktische Philosophie“ vom Jahre 1808, in der er im achten Kapitel des zweiten Buches „den wissenschaftlichen Ort angegeben (habe), an welchem aus der allgemeinen übergeordneten Wissenschaft (gemeint ist eben die praktische Philosophie = Moralphilosophie; der Verf.) die Pädagogik insofern sie jener untergeordnet ist, hervortritt“.25 Eine Überprüfung des entsprechenden Kapitels der Herbartschen „Praktischen Philosophie“ ergibt freilich, daß von einer differenzierten philosophischen Begründung der Erziehung oder gar einer philosophischen Deduktion auf einem der kritischen Philosophie vergleichbaren Niveau nicht die Rede sein kann.26 – Prinzipiell heißt es zum Verhältnis von Moralphilosophie und Pädagogik: „… wenn die Erziehungslehre sich genau an die praktische 24 Vgl. dazu jetzt Fritz Seidenfaden: Die Pädagogik des jungen Herbart. Weinheim1967. S. 60ff. 25 Döpp-Vorwald: Kleine Pädagogische Texte. H. 22, S. 78. 26 Vgl. Herbarts Sämtliche Werke. Hrsg. von Kehrbach/Flügel. Bd. 2. S. 441ff.

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Philosophie anschließt, findet sie hier alle Bestimmungen des pädagogischen Zwecks vollständig beieinander“.27 Auch aus diesen Aussagen des Jahres 1812 spricht Herbarts Überzeugung, daß die moralphilosophischen Voraussetzungen einer wissenschaftlichen Pädagogik in seinem System der praktischen Philosophie vollständig entwickelt sind; woran es noch fehle, das sei der Ausbau der anderen Grundlagendisziplin der Pädagogik, eines Systems der Psychologie. Die beiden letzten Sätze der Abhandlung über „Die dunkle Seite der Pädagogik“ vergegenwärtigen noch einmal das ganze erste Denkmodell Herbarts: Es werde sich, so heißt es dort, „einst“ – d. h. wenn jenes fehlende psychologische System entwickelt sei –„verlohnen, den Begriff der Tugend in seiner ganzen Vollständigkeit an die Spitze zu setzen und bei jedem seiner Requisite eine, mit der Erfahrung verglichene, spekulative Psychologie um die besten Mittel zum Zweck zu befragen. Nicht eher als bis dieses geschieht und geschehen kann, werden wir uns rühmen dürfen, eine wahrhaft wissenschaftliche Pädagogik zu besitzen“.28 3. Die Mittelbestimmung Welcher Art ist die Psychologie, die Herbart im Auge hat, sofern er im Sinne des ersten Denkmodells die Entwicklung einer wissenschaftlichen Pädagogik anspricht? Immer, wenn Herbart diese von uns aufgeworfene Frage erörtert, tritt er – von der „ästhetischen Darstellung der Welt“ bis zu den Spätwerken – in eine kritische Auseinandersetzung mit einem, wenn nicht dem zentralen Theorieelement der Ehtik Kants und derjenigen Fichtes ein, der Lehre von der „transzendentalen Freiheit“. Bei Kant – um die Betrachtung hier beispielhaft auf ihn einzugrenzen – ist „transzendentale Freiheit“ ein „kritischer“ Grenzbegriff, d. h. eine denknotwendige Voraussetzung der Gültigkeit und der Realisierbarkeit des „Sittengesetzes“, des „kategorischen Imperativs“. Das will sagen: Der „gute Wille“, d. h. der sittliche Entschluß eines Menschen, den kategorischen Imperativ zur Maxime des eigenen Wollens zu machen, kann nicht gemäß den Kategorien der Naturerkenntnis, also insbesondere gemäß der Kategorie von Ursache und Wirkung, gedacht werden. 27 Vgl. Anm. 24. – Der Begriff „Erziehungslehre“ darf dem Kontext zufolge auch auf eine mögliche wissenschaftliche Pädagogik bezogen werden. 28 Vgl. Anm. 24, S. 79. – „Spekulativ“ wird hier offenbar in lockerer Anlehnung an den Sprachgebrauch der idealistischen Philosophie gebraucht und meint in diesem Zusammenhang eine philosophisch-konsequent durchreflektierte Psychologie, also eine solche, die auch die Bedingungen der Möglichkeit psychischer Erfahrung bzw. psychologischer Erkenntnis systematisch mit einbezieht. Wenn Herbart sein psychologisches Hauptwerk später „Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik“ (1824/25) nannte, so meinte er mit „Metaphysik“ genau jenes Moment, das hier als „spekulativ“ bezeichnet wird.

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Gibt man die reale Möglichkeit solcher Entschlüsse zu, so können sie – nach Kant – nur unter der Voraussetzung der menschlichen Freiheit, d. h. negativ: einer im Entschluß sich realisierenden Freiheit vom Kausalnexus (im Sinne der physikalischen Naturerkenntnis) verstanden werden. Herbart glaubt dieser philosophischen Theorie nun gerade aus pädagogischen Denkmotiven heraus entschieden widersprechen zu müssen. Die Lehre von der transzendentalen Freiheit, so hat er immer wieder betont, mache sittliche Erziehung unmöglich, weil sie die Unbeeinflußbarkeit des moralischen Willens, des moralischen Entschlusses, der moralischen Haltung zur logischen Konsequenz habe. Daß es sich bei diesem Einwand Herbarts um ein Mißverständnis der Lehre Kants und Fichtes handeln dürfte, da Herbart den Begriff „transzendentale Freiheit“ irrigerweise als positiv-metaphysische Setzung deutet, statt ihn in seiner transzendentalphilosophisch-grenzbegrifflichen Bedeutung aufzufassen, braucht uns in diesem Zusammenhang nicht weiter zu beschäftigen. Anlaß dieses Mißverständnisses dürfte jedenfalls eine Voraussetzung Herbarts sein, die er selbst offenbar nicht mehr reflektiert hat: die Meinung nämlich, daß pädagogische Einwirkungen einzig und allein nach Analogie des im Bereich der Naturerkenntnis geltenden Kausalbezuges (Ursache – Wirkung) verstanden werden könnte. Damit aber ist schon Entscheidendes über die Methode und die Theoriebildung in der von Herbart als Grundlagenwissenschaft geforderten Psychologie angedeutet: „Dem Erzieher“, so betont er schon in der „Ästhetischen Dastellung …“ gegen Kant und Fichte, „ist die Sittlichkeit ein Ereignis, eine Naturgegebenheit.“ „In der ganzen Bestimmtheit, womit es (gemeint ist: das gute Wollen; der Verf.) geschieht, geschieht es notwendig als ein unfehlbarer Erfolg gewisser geistiger Ursachen ebenso notwendig als jeder Erfolg in der Körperwelt; nur aber durchaus nicht nach materiellen Gesetzen (der Schwere, des Stoßes usf.), die mit den Gesetzen geistiger Wirkung nicht die geringste Ähnlichkeit haben. Der Erzieher mutet sich den Versuch an – eben wie der Astronom –, durch richtiges Fragen der Natur und durch genaue und lange genug fortgeführte Schlußreihen endlich dem Gange der vor ihm liegenden Erscheinungen seine Gesetzmäßigkeit abzuforschen und somit auch zu entdecken, wie sich derselbe nach Absicht und Plan modifizieren lasse. Diese realistische Ansicht leidet nun auch nicht die mindeste Einmengung der idealistischen. Kein leisester Wind von transzendentaler Freiheit darf in das Gebiet es Erziehers durch irgendein Ritzchen hineinblasen“.29 Danach verwundert es nun nicht mehr, wenn wir in dem gleichen Text die Forderung antreffen: „Machen, daß der Zögling sich selbst finde, als wählend das Gute, als verwerfend das Böse: dies, oder nichts, ist Charakterbildung! Diese Erhebung zur selbstbewußten Persönlichkeit soll ohne 29 Asmus I, S. 107; Döpp-Vorwald: Kleine Pädagogische Texte. H. 22, S. 61.

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Zweifel im Gemüt des Zöglings nicht vorgehen und durch dessen eigene Tätigkeit vollzogen werden; es wäre Unsinn, wenn der Erzieher das eigentliche Wesen der Kraft dazu erschaffen und in die Seele eines anderen hineinflößen wollte. Aber die schon vorhandene und ihrer Natur notwendig getreue Kraft in eine solche Lage zu setzen, daß sie jene Erhebung unfehlbar und zuverlässig gewiß vollziehen müsse: das ist es, was sich der Erzieher als möglich denken, was er zu erreichen, zu treffen, zu ergründen, herbeizuführen, fortzuleiten als die große Aufgabe seiner Versuche ansehen muß“.30 Kein Zweifel, daß hier bereits eine Auffassung der Psychologie als strenger Gesetzeswissenschaft in Analogie zu den exakten Naturwissenschaften angelegt war, die Herbart selbst erst später auszuführen begann. Voraussetzung dieser schon so früh sich abzeichnenden Konzeption der Psychologie war die Auffassung der menschlichen Psyche als eines gesetzmäßig sich entwickelnden und nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten agierenden bzw. reagierenden Phänomens. Herbart hat zwar mehrfach mit Nachdruck betont, daß es sich um „Gesetze geistiger Wirkung“ handle, nicht um die Gesetze der Materie. Entscheidend ist aber, daß die „Gesetzmäßigkeit geistiger Wirkungen“ von Herbart offensichtlich in Analogie zu physikalischen Gesetzmäßigkeiten verstanden wird. Die Idee einer „mathematischen Psychologie“, von der Herbart seit 1812 sprach und die er 1824/25 in dem zweibändigen Werk „Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik“ zu realisieren versuchte, war nur die logische Konsequenz dieses Ansatzes, und es ist eigentlich erstaunlich, daß er diese „Idee“ erst zu einem so relativ späten Zeitpunkt aussprach, nachdem er das Prinzip bereits 1802 in der „Ästhetischen Darstellung …“ und ähnlich in dem Bremer Vortrag „Über den Standpunkt der Beurteilung der Pestalozzischen Unterrichtsmethode“ (1804)31 skizziert hatte. Insofern erscheint es fast als eine Unterbrechung dieser gedanklichen Entwicklung, wenn Herbart in der Einleitung der „Allgemeinen Pädagogik“ (1806) von zwei „Hälften“, aus denen eine zukünftige 30 Wie Anm. 29, S. 108 bzw. S. 61f. – Die Polemik Herbarts gegen die Lehre von der „transzendentalen Freiheit“ taucht von 1802 an in zahlreichen pädagogischen und moralphilosophischen Schriften immer wieder auf. Zur Auseinandersetzung mit Fichtes Idealismus unter pädagogischer Fragestellung erweitert, wird das Problem von Herbart 1831 in einer selbständigen Abhandlung erörtert; sie ist seit Hartensteins Herbart-Edition unter dem Titel „Über das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik“ mehrfach abgedruckt worden, z. B. bei Willmann-Fritzsch. Bd. III. S. 434ff. – Vgl. auch den Paragraphen 3 des „Umrisses pädagogischer Vorlesungen“. Asmus III, S. 165. 31 Vgl. Asmus I, S. 132ff. – Zur Genesis der Idee des „psychischen Mechanismus“ als der Voraussetzung einer mathematischen Psychologie vgl. Schwenk: a. a. O. S. 74ff., 99ff., 169ff.

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wissenschaftliche Pädagogik bestehen müßte, spricht, deren eine die Frage zu behandeln hätte, „mit welcher Absicht der Erzieher sein Werk angreifen soll“, während in der anderen Hälfte „die Möglichkeit der Erziehung rhetorisch erklärt und nach der Wandelbarkeit der Umstände begrenzt dargestellt“ werden müßte. Diese „zweite Hälfte“ müßte nun – und das ist die in unserem Zusammenhang interessierende Aussage – auf einer Psychologie aufbauen, von der hier wissenschaftstheoretisch nicht mehr gesagt wird, als daß in ihr „die gesamte Möglichkeit menschlicher Regungen a priori verzeichnet“ sein müßte. Eine solche Psychologie ist jedoch wie jene auf ihr basierende „zweite Hälfte“ einer wissenschaftlichen Pädagogik „bis jetzt ein frommer Wunsch“.32 Diese Bemerkungen könnten den Eindruck erwecken, als habe Herbart über den Charakter jener Psychologie 1806 noch keine genaueren Vorstellungen gehabt. In Wahrheit zweigen z. B. die Partien über die „Kausalität“, welche die Entwicklung von Vorstellungen beherrscht 33, daß Herbart bereits recht differenziert mit dem schon 1802 skizzierten Ansatz seiner Vorstellungspsychologie arbeitet und das scheinbar noch ganz ungeklärte Problem der für die Grundlegung einer wissenschaftlichen Pädagogik notwendigen Psychologie nach wie vor im Sinne jener Sätze versteht, die vorher aus der Schrift über „Die ästhetische Darstellung …“ zitiert wurden. Die 1812 verfaßte Abhandlung „Über die dunkle Seite der Pädagogik“ (das ist die psychologische Seite) kennzeichnet demnach nicht einen neuen Ansatz, sondern nimmt nur ausdrücklich wieder auf, was im Grunde bereits 1802, wenn auch ohne die explizite Konsequenz der Mathematisierbarkeit, konzipiert war. „Die Idee einer mathematischen Psychologie“, so heißt es 1812, „erlaubt … nicht bloß anzunehmen, daß man auf den Zögling einwirken könne, sondern auch, daß bestimmten Einwirkungen bestimmte Erfolge entsprechen, und daß man dem Vorauswissen dieser Erfolge sich durch fortgesetzte Untersuchung nebst zugehöriger Beobachtung mehr und mehr annähern werde“.34 Im Sinne dieses Ansatzes ist es völlig konsequent, das Verhältnis des Erziehers zu dem zu Erziehenden als „Kausal-Verhältnis“ zwischen Erzieher und Zögling“ zu bezeichnen.35 Und die – wiewohl nach wie vor nur postulierte – wissenschaftliche Pädagogik könnte demgemäß nur die Struktur einer angewandten Wissenschaft haben. Ihre Aufgabe wäre es, die von der Psychologie ermittelten Gesetze des Seelenlebens so zu kombinieren, daß die aus der Ethik abgleiteten Erziehungsziele als notwendige Konsequenzen erreicht werden.

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Asmus II, S. 22; Nohl: Kleine Pädagogische Texte. H. 25, S. 10f. Zum Beispiel Asmus II, S. 55ff.; Nohl: Kleine Pädagogische Texte. H. 25, S. 52ff. Döpp-Vorwald: Kleine Pädagogische Texte. H. 22, S. 76. Wie Anm. 34, S. 76.

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4. Wie beurteilte Herbart aus der Perspektive des zuvor skizzierten Denkmodells seine eigenen pädagogischen Schriften? Er hat mehrfach betont, daß er sie – selbst die „Allgemeine Pädagogik“ und den „Umriß pädagogischer Vorlesungen“ – bestenfalls in einigen Teilen als erste Versuche der Annäherung an eine wissenschaftliche Pädagogik wertete, über erhebliche Strecken jedoch als noch im Vorhof strenger Wissenschaft angesiedelte Reflexionen „auf dem Standpunkt des praktischen Menschen“, als eine „Kunstlehre“ betrachtete.36 Für die Ableitung eines Systems der pädagogischen Ziele, bis hin zur Ordnung der Aufgaben der einzelnen Unterrichtsfächer in einem solchen System, durfte Herbart freilich in den Schriften „Über die ästhetische Darstellung der Welt …“ und in der „Allgmeinen Pädagogik“ Wesentliches geleistet zu haben glauben, wenn er auch wußte, daß er seinem eigenen systematischen Anspruch noch nicht genügte (und wegen der zugleich praktischen Absicht insbesondere der „Allgemeinen Pädagogik“ auch nicht genügen konnte). Wie wenig Herbart jedoch seine pädagogischen Erwägungen innerhalb der pädagogischen Schriften als im strengen Sinne wissenschaftlich begründet und systematisiert ansah, ist bereits hervorgehoben worden. – Daß bei der Unvollkommenheit der „beiden Hälften“ der Pädagogik die strenge, detailliert durchgeführte Beziehung beider Aspekte aufeinander, also die Zuordnung jeweils aller psychischen „Mittel“ zu jedem Teilziel innerhalb des Zielsystems als weitgehend unbewältigtes Problem erscheinen mußte, liegt auf der Hand.37 5. Aus der bisher entwickelten Interpretation lassen sich für das erste Denkmodell noch einige Bestimmungen herleiten, die Herbart größtenteils nicht ausgesprochen hat, die aber logische Konsequenzen der im vorigen erörterten, für dieses Modell grundlegenden wissenschaftstheoretischen Prämissen sind; zum Teil sind diese Konsequenzen bereits angedeutet worden: a. Im Sinne des ersten Denkmodells stellt sich das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Pädagogik als Anwendungsverhältnis dar: Die Theorie entwickelt Zweck-Mittel-Zusammenhänge, der Paktiker wendet diese Zusammenhänge auf die jeweils gegebene konkrete Situation an. Anders formuliert: Wissenschaftliche Pädagogik soll, durch Deduktion aus einer als gültig vorausgesetzten „Praktischen Philosophie“, der pädagogischen Praxis eindeutige Ziele setzen, und sie 36 Vgl. vor allem die „Erste Vorlesung über Pädagogik“ (1802) (Asmus I, S. 121ff.), die Einleitung zur „Allgemeinen Pädagogik“ (a. a. O.), außerdem Asmus II, S. 40 und den Abschnitt „Von der Erziehungskunst“ aus der „Kurzen Enzyklopädie der Philosophie“ 1831 (jetzt bei Asmus I, S. 165ff.). Dazu Schwenk: a. a. O. S. 231ff. 37 Vgl. Anm. 28.

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soll ihr durch „Anwendung“ der in einer exakten Psychologie zu ermittelnden psychologischen Gesetze ebenso eindeutig die Mittel zur Erreichung der Ziele nennen, also klare Handlungsanweisungen erteilen. b. Hält man sich an die Prämissen, so bleibt kein Raum für spezifisch pädagogische Erfahrungen, für aus der Erziehungspraxis erwachsende, pädagogische Initiativen, für „schöpferisches“ pädagogisches Handeln. All das kann unter der Voraussetzung des ersten Modells nur als vorläufiger Ersatz gelten, solange die geforderte exakte Psycholgie noch nicht entwickelt ist. c. Der Begriff der Erziehung ist in diesem Modell als „moralische Erziehung“ definiert, und damit würde all das, aber auch nur das zum Gegenstand der wissenschaftlichen Pädagogik gehören können, was sich zu jenem Ziel der Moralität in Beziehung setzen läßt. d. Welche Geltung könnten Sätze der postulierten wissenschaftlichen Pädagogik beanspruchen? Sie müßten grundsätzlich allgemeingültig sein, und zwar sowohl die normativen (aus der praktischen Philosophie deduzierten) als auch die empirischen bzw. „technologischen“ Aussagen, d. h. diejenigen, in welchen psychologische Gesetzeserkenntnisse in pädagogische Handlungsanweisungen umgesetzt werden. Negativ ausgedrückt bedeutet das: Das Problem der Geschichtlichkeit taucht in diesem Denkmodell gar nicht als wissenschaftstheoretisch relevant auf, weder im Sinne der möglichen Geschichtlichkeit pädagogischer Zielsetzungen noch der Psyche des Menschen noch als Geschichte der Erziehung oder als Geschichte der pädagogischen Theorien.

VI Das zweite Denkmodell 1. Elemente des zweiten Modells, zu dem sich andere methodologische Aussagen Herbarts zusammenschließen lassen, finden sich erstaunlicherweise oft unmittelbar neben solchen, die dem ersten Ansatzu zugehören; die gedanklichen Spannungen zwischen beiden Konzepten scheinen Herbart meist nicht bewußt geworden zu sein. Nur hinsichtlich eines Aspektes der Grundlegung einer wissenschaftlichen Pädagogik, nämlich in der Frage nach der Einheit oder Mehrdimensionalität der pädagogischen Zielsetzung, hat Herbart Überlegungen, die sich als dem zweiten Denkmodell zugehörig erweisen, in ausdrücklicher, kritischer Korrektur früherer, auf das erste Modell verweisender Vorstellungen entwickelt. Diese partielle Selbst-

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kritik ist von ihm aber nirgends zu einer durchgehenden kritischen Überprüfung jenes ersten Modells weitergeführt worden. Ein weiterer Tatbestand ist bemerkenswert: Aussagen, die auf das zweite Denkmodell wissenschaftlicher Pädagogik hinweisen, treffen wir meistens dann an, wenn Herbart nicht primär und ausdrücklich methodologisch danach fragt, wie Pädagogik als Wissenschaft möglich ist, sondern wenn er angesichts der Erörterung bestimmter pädagogischer Probleme gleichsam beiläufig prinzipielle Erkenntnisse ausspricht, deren wissenschaftstheoretische Tragweite ihm an solchen Stellen offenbar meist gar nicht bewußt wurde. Angelpunkt des zweiten Denkmodells ist das pädagogische Problem der Individualität. Innerhalb des ersten Modells hat es charakteristischerweise keinen eindeutigen Ort finden können. Dieser These scheint allerdings eine Stelle der Allgemeinen Pädagogik zu widersprechen, die dem ersten Denkansatz zugehört. Dort heißt es, Individualität sei „offenbar ein psychologisches Phänomen, und die Betrachtung desselben müßte also der oben erwähnten zweiten Hälfte der Pädagogik anheimfallen, die auf theoretische Begriffe aufzubauen haben würde“.38 Damit verweist Herbart auf eine Aussage der Einleitung seines pädagogischen Hauptwerkes, die wir bereits zweimal zitierten. Jene zweite Hälfte der Pädagogik, „in welcher die Möglichkeit der Erziehung theoretisch erklärt“ werden müßte, setze eine Psychologie voraus, „in welcher die gesamte Möglichkeit menschlicher Regungen a priori verzeichnet wäre“. Ausdrücklich hebt Herbart nun aber hervor: Auch eine solche Psychologie würde niemals „die Beobachtung des Zöglings vertreten können; das Individuum kann nur gefunden, nicht deduziert werden“.39 Zunächst gilt es klarzustellen, daß sich die angeführten Sätze nicht unbedingt zu widersprechen brauchen, denn man darf annehmen, daß Individualtität als prinzipielle menschliche Möglichkeit innerhalb eines Systems der „gesamten Möglichkeit menschlichere Regungen“ erörtert werden könnte, während es im zweiten Satze um die Erforschung des einzelnen Zöglings geht. Indessen: Sofern die konkrete Individualität des jungen Menschen im Zusammenhang pädagogischer Überlegungen eine entscheidende Bedeutung erlangen sollte, gesteht Herbart mit jenen Aussagen die Grenze dessen, was die im ersten Modell als Grundlagenwissenschaft gedachte Psychologie zu leisten vermöchte, ein. Und es liegt auf der Hand, daß die Weiterentwicklung dieser Idee der Psychologie zur Konzeption einer mathematischen Psychologie, die den Extremfall der Generalisierung psychologischer Aussagen darstellt, nicht geeignet sein konnte, der Individualitätsproblematik größeres Gewicht zu verleihen. 38 Asmus II, S. 46; Nohl: Kleine Pädagogische Texte. H. 25, S. 40. 39 Asmus II, S. 22; Nohl: Kleine Pädagogische Texte. H. 25, S. 10.

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Im Blick auf die uns beschäftigenden Sätze der Allgemeinen Pädagogik muß auch auf folgenden Umstand hingewiesen werden: Herbart bezeichnet an jener früher zitierten Stelle der Allgemeinen Pädagogik Individualität ohne Einschränkung als „psychologisches Phänomen“, hingegen wirft er nicht einmal die Frage auf, ob Individualität nicht auch ein Problem der pädagogischen Zieltheorie darstellen könne – und dies, obgleich er gerade in jenen Abschnitten, innerhalb derer die fragliche wissenschaftstheoretische Bemerkung steht, inhaltlich die Frage der Individualtität im Zusammenhang mit pädagogischen Zielfragen berührt. Wir werten diesen Sachverhalt als Beleg dafür, daß das Individualitätsproblem im Umkreis des ersten Denkmodells, in dem sich Herbart mit jenen Aussagen befindet, allenfalls am Rande auftaucht, wissenschaftstheoretisch jedoch unbewältigt bleibt. Dem entspricht die Feststellung, daß dieses Problem auch in Herbarts Praktischer Philosophie, die jenem Ansatze gemäß ja als im wesentlichen vollständige und hinreichende moralphilosophische Normwissenschaft fungiert, nur sehr beiläufig behandelt wird.40 Das Problem der Individualität bildet jedoch ein wesentliches Moment, wenn nicht den Kern jener Selbstkritik Herbarts an einem Element seines ersten Denkmodells, auf die wir zu Beginn dieses Abschnittes hinweisen. Gerade weil sie als von Herbart selbst ausgesprochene Korrektur eigener wissenschaftstheoretischer Argumente zur Pädagogik eine Ausnahme darstellt, kommt ihr besondere Bedeutung zu. Wir erinnern uns des Anfangssatzes der Abhandlung „Über die ästhetische Darstellung der Welt …“ (1802 bzw. 1804): „Man kann die eine und ganze Aufgabe der Erziehung in den Begriff: Moralität fassen“.41 Was hier als scheinbar evidente These „gesetzt“ wird, stellt jener Abschnitt der Allgmeinen Pädagogik ausdrücklich in Frage, dessen Überschrift lautet: „Ist der Zweck der Erziehung einfach oder vielfach?“42 Herbart antwortet: „Ich habe in einer Abhandlung, welche der zweiten Auflage meines ABC der Anschauung angehängt ist, den höchsten Zweck der Erziehung, Moralität, nach der Methode behandelt, die hier nötig schien“43 – die Fußnote Herbarts nennt die Abhandlung „Über die ästhetische Darstellung der Welt …“. Die folgenden Sätze verweisen dann auf den in jener Schrift bereits bewiesenen notwendigen Bezug „der sittlichen Bildung auf die übrigen Teile der Bildung“. Aber 40 Allgemeine praktische Philosophie. In: Herbarts Sämtliche Werke. Hrsg. von Kehrbach/ Flügel. Bd 2. S. 4 41ff. – Über diese Unzulänglichkeit darf die Kapitelüberschrift „Der einzelne Mensch, als Gegenstand der Pflicht“ nicht hinwegtäuschen. 41 Vgl. Anm. 21, 22. 42 Asmus II, S. 39ff., Nohl: Kleine Pädagogische Texte. H. 25, S. 32ff. 43 Dieses und die folgenden Zitate stehen bei Asmus II auf den Seiten 39–41, bei Nohl: Kleine Pädagogische Texte. H. 25, S. 32–34.

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genau das, was Herbart in jener Abhandlung versucht hatte, nämlich durch eine „Erweiterung“ des herkömmlichen Begriffs der Moralität eine monoprinzipielle teleologische Beziehung aller Erziehungsmaßnahmen und Teilziele auf das Zen­ tralziel der Moralität (im eigentlichen und engeren Wortsinne) herzustellen, wird jetzt als überzogene Konstruktion bezeichnet: Jene Abhandlung könne „zeigen, wie dieser Zusammenhang doch nicht genau alle Teile der Erziehung in dem Maße trifft, daß wir diese Teile nur sofern sie in diesem Zusammenhang stehen, zu pflegen Ursache hätten. Vielmehr drängen sich andere Ansichten, von dem unmittelbaren Werte einer allgemeinen Bildung, herbei, welche aufzuopfern wir nicht befugt sind. Demnach ist, meiner Überzeugung nach, die Betrachtungsart, welche das Sittliche an die Spitze stellt, allerdings die Hauptansicht der Erziehung, aber nicht die einzige und umfassende.“ Schon der Einleitungssatz des betreffenden Abschnittes hatte diese Selbstkritik ins Generelle gehoben und zugleich die Entfernung von Fichtes Wissenschaftsideal deutlich gemacht: „Das Streben nach wissenschaftlicher Einheit verführt oftmals die Denker, das künstlich ineinander drängen und auseinander deduzieren zu wollen, was seiner Natur nach als vieles nebeneinander steht.“ Ins Positive gewendet und auf die Pädagogik bezogen bedeutet das: „Aus der Natur der Sache – kann sich unmöglich Einheit des pädagogischen Zwecks ergeben; eben darum, weil alles von dem einen Gedanken ausgehen muß: Der Erzieher vertritt den künftigen Mann beim Knaben; folglich, welche Zwecke der Zögling künftig als Erwachsener sich selbst setzen wird, diese muß der Erzieher seinen Bemühungen jetzt setzen; ihnen muß er die innere Leichtigkeit im voraus bereiten. Er darf die Tätigkeit des künftigen Mannes nicht verkümmern: folglich sie nicht jetzt an einzelnen Punkten festhalten; und ebensowenig sie durch Zerstreuung schwächen …, weil menschliches Streben vielfach ist, so müssen die Sorgen der Erziehung vielfach sein“. 44 Blickt man von diesen Aussagen auf die Bemerkungen Herbarts zur Individualität als Gegenstand der Psychologie zurück, so ist deutlich: Es ist das gleiche Problem, nämlich die Erfahrung und die Betonung des Eigenrechtes des konkreten, ehemaligen Individuums – genauer: des jungen Menschen, und zwar vor allem im Blick auf seine Zukunft –, die dort die Grenze einer allgemeingültigen Psychologie als eines Arsenals pädagogischer Mittel sichtbar werden läßt, hier das frühere Postulat eines einzigen Zweckes der Erziehung, von dem alle Teilzwecke deduziert werden könnten, zunichte macht.

44 Wir verzichten darauf, einige an dieser Stelle aufspringende, von Herbart in der allgemeinen Pädagogik ausdrücklich angesprochene, wenn auch kaum befriedigend erörterte Fragen zu vefolgen: Wie verhalten sich das Prinzip der Individualität und das der Moralität zueinander? Wie sind die Berücksichtigung der Individualität und die Forderung nach „Vielseitigkeit“ miteinander vereinbar? usw.

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Das pädagogische Individualitätsprinzip, also die Forderung, das eigene Recht des jungen Menschen auf seine gegenwärtige Lebenserfüllung zu wahren und seine zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten pädagogisch offen zu halten, taucht in Herbarts pädagogischen Schriften seit der Allgemeinen Pädagogik immer wieder in prononcierten Aussagen auf. Die Erfahrungsbasis dieses Gedankens liegt zweifellos in Herbarts Hauslehrerjahren. Die Hauslehrerberichte und der pädagogische Briefwechsel zwischen 1797 und 1807 sind anschauliche Zeugnisse für das intensive Bemühen des jungen Herbart, sich in seiner pädagogischen Haltung und seinen pädagogischen Maßnahmen produktiv auf die Individualität der ihm anvertrauten Zöglinge einzustellen.45 In der pädagogischen Theorie Herbarts tritt dieses Moment offenbar um so deutlicher hervor, je mehr er sich von Fichtes Wissenschaftsideal entfernt. So heißt es in dem Aufsatz über „Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung“ vom Jahre 1810, Pädagogik müsse verstanden werden „als Wohltäterin der einzelnen, deren jeder ihre(r) Hilfe bedarf, um das zu werden, was er einmal wünschen wird, geworden zu sein“.46 1832 geht Herbart in seiner „Rezension der Erziehungslehre von Friedrich Heinrich Christian Schwarz“ noch einmal ausführlich auf dieses Thema ein. Schwarz kritisiere unter anderem Locke und Rousseau wegen ihres pädagogischen Individualismus. Herbart, der noch in seiner Allgemeinen Pädagogik der Erziehungslehre Rousseaus ihren Naturalismus und die Unzulänglichkeit der Maxime des „Leben-Lehrens“ vorgehalten und der Pädagogik John Lockes ihre einseitige Orientierung an den Konventionen der „Gesellschaft“ zum Vorwurf gemacht hatte, nimmt 1832 gegen Schwarz für beide Denker Partei. Ihnen verdanke das pädagogische Denken das „Aufmerken auf das Individual-Persönliche eines bestimmten Zöglings; dieses Überlegen dessen, was aus den einzelnen zur Erziehung dargebotenen Subjekten werden oder nicht werden könne …“.47 Die seither verbreitete Tendenz, das „Wirken auf die Masse in Schulen und auf die Nation durch Schulen“ zur Richtschnur pädagogischen Denkens und Handelns zu machen, sei „nicht das eigentlich Pädagogische“. „Hingegen Lockes und Rousseaus Zögling ist ein einzelner Knabe. So mußte der Standpunkt genommen werden, wenn das Eigentümliche der Pädagogik gegenüber der Sittenlehre sein bestimmtes Gepräge zeigen sollte“.48 Ohne diese Perspektive auf den einzelnen jungen Menschen hin „wäre das wahre Wesen der Erziehung nie zutage gekommen.“

45 Vgl. Anm. 8. 46 Asmus I, S. 146. 47 Diese und die im folgenden zitierten Stellen finden sich bei Asmus II auf den Seiten 280, 281. 48 Kursiv von mir.

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2. Welche Konsequenzen ergeben sich von diesem neuen Ausgangspunkt her für die Begründungsproblematik der Pädagogik als Wissenschaft? Wo Herbart im Sinne der eben skizzierten Grundgedanken methodologische Probleme der Pädagogik anspricht, stellt er die Forderung nach einer Grundlegung durch Philosophie zurück und fordert, daß die Pädagogik als selbständige Wissenschaft entwickelt werden müsse. In diesen Zusammenhang gehören auch die oft zitierten Sätze aus der Allgemeinen Pädagogik, die an die Bemerkung anknüpfen, der Pädagogik möge das Schicksal erspart bleiben, das der Medizin zu jener Zeit widerfahren sei: daß sie nämlich von „Philosophemen“ – Zielscheibe ist wahrscheinlich die Philosophie Schellings – überwuchert wurde. Demgegenüber erklärt Herbart: „Es dürfte wohl besser sein, wenn die Pädagogik sich so genau als möglich auf ihre einheimischen Begriffe besinnen und ein selbständiges Denken mehr kultivieren möchte; wodurch sie zum Mittelpunkte eines Forschungskreises würde und nicht mehr Gefahr liefe, als entfernte, eroberte Provinz von einem Fremden aus regiert zu werden. – Nur wenn sich jede Wissenschaft auf ihre Weise zu orientieren sucht, und zwar mit gleicher Kraft, wie ihre Nachbarinnen, kann ein wohltätiger Verkehr unter allen entstehen. Der Philosophie selbst muß es lieb sein, wenn ihr die anderen denkend entgegenkommen …“.49 Ähnlich heißt es etwas später im Text, die Erziehung habe „nicht Zeit zu feiern, bis – irgendeinmal – die philosophischen Untersuchungen im reinen sein werden“. Es sei „der Pädagogik zu wünschen, daß sie so unabhängig als möglich von philosophischen Zweifeln erhalten werde“.50 Entsprechend leitet Herbart 1810 jene bereits zitierte Aussage, man müsse die Pädagogik als die Wohltäterin der einzelnen ansehen, mit der Forderung ein, sie „auf ihre eigenen Füße zu stellen“.51 Dieser eigene Ansatz der Pädagogik aber ist nicht nur für die Praxis, sondern auch für eine wissenschaftliche Theorie der Erziehung – die Reflexion über den Anspruch des Kindes bzw. des jungen Menschen, im Sinne seiner zukünftigen Möglichkeiten erzogen zu werden. Somit kann Pädagogik nicht mehr als angewandte, abgeleitete Wissenschaft gedacht werden, die – wie es im Sinne des ersten Denkmodells gefordert wurde und zum Teil geleistet schien – in sich geschlossene Systeme der Ethik und der Psychologie voraussetzt. Das bedeutet nun keineswegs, daß Herbart innerhalb des zweiten Denkmodells Pädagogik als autarke Wissenschaft verstünde, die losgelöst von der Ethik und der Psychologie entfaltet werden könnte. Aber das Verhältnis ist nicht mehr das einer einseitigen und unumkehrbaren Abhängigkeit, als welches es zuvor erschien. Wir

49 Asmus II, S. 20; Nohl: Kleine Pädagogische Texte. H. 25, S. 9. 50 Asmus II, S. 40; Nohl: Kleine Pädagogische Texte. H. 25, S. 33. 51 Asmus I, S. 146.

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betrachten die neuen Relationen genauer und wenden uns zunächst dem Verhältnis von Pädagogik und Ethik zu. 3. Die Ethik bleibt auch im zweiten Denkansatz als philosophische Wissenschaft von den letzten Zielen, den „notwendigen Zwecken“ des menschlichen Daseins bzw. von den sittlichen Ideen und den ihnen entsprechenden Tugenden, verbindliche Normdisziplin der Pädagogik. Aber jetzt wird zunächst die Frage zum Problem: Was bedeuten die allgemeinen Sätze der Ehtik im Hinblick auf den jeweils besonderen, individuellen jungen Menschen? Und weiter: Gleichsam vor dieser Sphäre der letzten, allgemeinverbindlichen sittlichen Ideen (der „notwendigen Zwecke“) tut sich nun der weite Bereich „bloß möglicher Zwecke“, d. h. vom Individuum frei wählbarer Zielsetzungen auf, z. B. also das Feld legitimer Interessen oder Berufswünsche.52 Eben dieses aber ist offenbar der Bereich, den Herbart vor allem mit der Formulierung „zukünftige Zwecke des Zöglings“ meint. Nun können diese „zukünftigen Zwecke“ nach Herbarts Überzeugung zwar nicht vorweggenommen werden; als mögliche „Zwecke des zukünftigen Erwachsenen“ muß dem jungen Menschen die Möglichkeit freier Zwecksetzung pädagogisch offengehalten werden. Aber das Ziel, „Vielseitigkeit des Interesse(s)“ als Medium zukünftiger Zwecksetzungen zu erwecken (bzw. die Teilziele, in die sich diese übergreifende Zielsetzung differenziert), werden jetzt nicht nur als Mittel zur Moralität gewertet, sondern bilden eine der Erziehung bzw. der pädagogischen Reflexion (und damit einer möglichen pädagogischen Wissenschaft) eigene Sphäre der Zielbestimmung. Diese Ziele lassen sich nicht aus der Ethik deduzieren.

52 Asmus II, S. 41; Nohl: Kleine Pädagogische Texte. H. 25, S. 34. – Systematisch gesehen, ist hier eine teils akzentuierende, teils kritische Anmerkung notwendig: Selbst wenn man Herbarts Voraussetzung der Möglichkeit einer allgemeingültigen Ehtik aufgibt, ist die Unterscheidung von verbindlichen pädagogischen Normen einerseits und „frei wählbaren“ Zielsetzungen andererseits m. E . bis heute für die Problematik pädagogischer Zielsetzungen äußerst hilfreich. Hingegen dürfte die schematische Scheidung beider Bereiche, die Herbart vornimmt, vordergründig sein; er meinte, daß die Sphäre der „notwendigen Zwecke“ eine von den frei wählbaren Zwecken (Herbart sagt im Sprachgebrauch der Zeit auch: „willkürlichen“ Zwecken) „völlig abgetrennte Provinz“ sei (Asmus II, S. 41; Nohl: Kleine Pädagogische Texte. H. 25, S. 34). In Wahrheit dürfte die Beziehung so geartet sein, daß – andeutend formuliert – die verbindlichen sittlichen Forderungen immer nur im Medium „bloß möglicher Zwecksetzungen“ realisiert werden können, also z. B. Gerechtigkeit (als verbindliche Norm) nur in der Rolle des Richters oder des Vaters oder des Lehrers usf. Eine auf dem Stande unseres heutigen Bewußtseins ansetzende Reflexion müßte überdies das Faktum des historischen Wandels in der Auslegung dessen, was z. B. Gerechtigkeit sei, von vornherein und in zentralem Sinne mit einbeziehen.

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Herbart treibt den Gedankengang bisweilen noch weiter vor. In den frühen Aphorismen heißt es einmal: „Die Pädagogik soll philosophisch behandelt werden.“ Daß Herbart diesen Satz an jener Stelle aber nicht einfach im Sinne des ersten Denkmodells der „Ableitung“ versteht, zeigt die Fortsetzung: „Auch ist gewiß, daß aus der Pädagogik, wenn sie richtig – d. h. so, wie die eigentümliche Beschaffenheit des Erziehungsgeschäfts es erfordert – behandelt wird, selbst eine verdorbene Philosophie allmählich zur Wiederherstellung kann gebracht werden“.53 Die ganze Passage zeigt, daß mit „Philosophie“ hier vor allem Ehtik und Psychologie gemeint sind, und der Kontext beweist, daß Herbart auch an dieser Stelle das Kant-Fichtesche Theorem der „transzendentalen Freiheit“ im Auge hat. Prinzipiell ist hier jedoch mehr angesprochen: Insoweit Philosophie als systematisch Reflexion über menschliche Erfahrung verstanden wird, läge es in der Konsequenz jener Aussage Herbarts, daß Erziehung ein spezifisches Feld menschlicher Erfahrung und einer aus dieser Erfahrung aufspringenden philosophischen Reflexion darstellt und damit grundsätzlich zu einem Prüfstein philosophischer System zu werden vermag – ein Gedanke, der unter den Zeitgenossen Herbarts bei Schleiermacher und in der Pädagogik der Gegenwart bei Langeveld, Roth und anderen Autoren wiederkehrt. Da Herbart indessen auch die Umkehrung dieses Gedankens ständig als gültig festgehalten hat – die Korrekturfunktion der Philosophie gegenüber der Pädagogik –, könnte man von hier aus die These eines unabschließbaren Prozesses wechselseitiger Abhängigkeit und notwendiger gegenseitiger „Kontrolle“ zwischen Philosophie und Pädagogik bzw. zwischen allen sich in ihren Problemstellungen irgendwo berührenden wissenschaftlichen Disziplinen entwickeln. Diese Konsequenz hat Herbart freilich nicht ausdrücklich gezogen. 4. Wie stellt sich vom Ansatz des zweiten Denkmodells aus das Verhältnis der Pädagogik zur Psychologie dar? Herbart hat die Frage an zwei Stellen explizit behandelt. Die eine haben wir bereits erwähnt: Herbart betonte, daß die Individualität mit den Denkmitteln einer generellen oder einer mathematischen Psychologie allein nicht erfaßt werden könne; es bedürfe der „Beobachtung“, und damit ist offensichtlich zugleich biographische Analyse und Beobachtung des einzelnen jungen Menschen im besonderen Umfeld der auf ihn wirkenden Milieu- und Erziehungseinflüsse gemeint.54 Die für unseren Zusammenhang entscheidende Frage lautet: Wo werden jene psychologischen Erfahrungen und Beobachtungen gewonnen, auf die sich eine wissenschaftliche Pädagogik u. a. stützen muß? Nun kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Herbart das Erziehungsfeld selbst stets als einen der 53 Willmann-Fritzsch II, S. 10, Anm. 1 (Fortsetzung von S. 9). 54 Vgl. Anm. 39.

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wesentlichen Bereiche zur Gewinnung von „Erfahrungen“ und „Beobachtungen“ als Material einer wissenschaftlichen Psychologie betrachtete. Diese Feststellung könnte jedoch einfach dahingehend verstanden werden, daß Erziehung ein Bereich neben anderen sei, in dem Seelisches sich zeige. Aber Herbarts Auffassung geht bisweilen über dieses Verständnis hinaus, am deutlichsten an einer Stelle der Rezension über Schwarz’ Erziehungslehre. Bezugspunkt ist dort eine Bemerkung, die Schwarz anläßlich der Schleiermacherschen These, Pädagogik müsse durch Ethik begründet werden, macht: „Da möchte leicht der Fall auch umgekehrt gelten“.55 Herbart nimmt dieses Wort des Heidelberger Erziehungstheoretikers auf und denkt es weiter: „Nun ist offenbar, daß diese Umkehrung, wenn sie möglich wäre, noch weiter gehen würde. Soll Pädagogik ihre Hilfswissenschaften, anstatt sie vorauszusetzen, vielmehr selbst hervorbringen, so gilt dies nicht bloß von der Ethik, sondern auch von der Psychologie; ja von der letzteren sogar vorzugsweise … wenigstens von ihrer empirischen Seite betrachtet. Hier liegt der allergrößte und bedeutendste Teil des Erfahrungskreises gerade nur in der Sphäre dessen, der viele und verschiedene Kinder zu Jünglingen und Männern heranwachsen sieht. Denn um von dem allmählichen Entstehen unserer Vorstellungsarten, samt Gefühlen und Begierden, Rechenschaft zu geben, also um zu einer genetischen Darstellung zu gelangen, muß der Psychologe stets zu den Kindern zurückschauen. Deshalb vorzüglich verlangte der Unterzeichnete schon vor vielen Jahren (in seiner Allgemeinen Pädagogik), die einheimischen Begriffe der Pädagogik möge man ­selbständig kultivieren und sie zum Mittelpunkt eines Forschungskreises machen“.56 Dieser Passus besagt nicht weniger, als daß das für die pädagogische Praxis und für eine wissenschaftliche Pädagogik psychologisch Wesentliche sich in überwiegendem Maße nur im Lichte einheimischer Begriffe der Pädagogik zeigt! Damit nimmt Herbart eine der zentralen Thesen der neueren Pädagogik – von Herman Nohls pädagogischer Menschenkunde über Langevelds Anthropologie des Kindes und Jugendlichen bis zu Heinrich Roths pädagogischer Anthropologie – vorweg. Von diesem Prinzip aus wird nun auch die methodologische Bedeutung jener „unterschwelligen“, gleichsam inoffiziellen pädagogischen Psychologie verständlich, die Herbart innerhalb seiner pädagogischen Werke, weitgehend unabhängig von den Kategorien seiner „offiziellen“ Psychologie, entwickelte – einer Psychologie, die ihm selbst, sooft er sich im Rahmen des ersten Denkmodells bewegte, nur als vorläufig, im Grund als vorwissenschaftlich erschien. Versteht man hingegen Begriffe wie „Regierung“, „Zucht“, „erziehender Unterricht“, „ästhetische Darstellung der Welt“, „Umgang“ usf. als einheimische Begriffe der Pädagogik wie es offenbar 55 Asmus II, S. 285. 56 Asmus II, S. 286.

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Herbarts Selbstverständnis in der „Allgemeinen Pädagogik“ und auch später entspricht, so darf man auch die in diesem Zusammenhang entwickelte pädagogische Psychologie bzw. pädagogische Anthropologie, wie sie W. Schriever 1950 in einer Göttinger Dissertation herausarbeitete57, wissenschaftlich ernster nehmen, als Herbart selbst es tat – und man nimmt Herbart damit eben nur bei jenem Worte aus der Rezension vom Jahre 1832. 5. Parallel zur Interpretation des ersten Denkmodells lassen sich nun abschließend einige wissenschaftstheoretische Folgerungen bzw. Implikationen des zweiten Denkansatzes zeigen: a) Das Verhältnis von Theorie und Praxis erscheint im zweiten Denkmodell wesentlich anders als im ersten. Dort fungiert die Theorie als gedankliche Vermittlung zwischen Ethik als Normwissenschaft und Psychologie als Wirklichkeitswissenschaft; ihre Aufgabe war die Konstruktion von Zweck-Mittel-Zusammenhängen, während die Praxis als „Anwendungsform“ der so gewonnenen Handlungsanweisungen auf konkrete Fälle erschien. Ein Moment des Denkmodells bleibt nun auch im zweiten erhalten: Wo die Frage der „notwendigen Zwecke“ der Erziehung zur Diskussion steht, gilt auch hier Herbarts Praktische Philosophie als verbindliche Normwissenschaft bzw. als Maßstab der kritischen Überprüfung vorliegender pädagogischer Theorien. Die Sätze einer wissenschaftlichen Pädagogik, die auf diesen Problemkreis bezogen sind, müßten auch hier durch Ableitung aus dieser Ethik gewonnen werden. Aber bereits mit der Frage nach der Bedeutung der allgemeingültigen ehtischen Normen im Bildungsprozeß des einzelnen jungen Menschen wird dieser Bereich deduktiv zu gewinnender Sätze verlassen; es eröffnet sich der eigene „Forschungskreis“ der Pädagogik. Für diesen Untersuchungsbereich ist die Praxis primär nicht Anwendungsfeld, sondern Ursprungsraum der pädagogischen Theorie. So heißt es schon in einem zur ersten pädagogischen Vorlesung Herbarts (1802) gehörigen Aphorismus, „durchgehends (sei) die Theorie das Zweite, die gelingende Praxis hingegen das Frühere“58 – wiederum eine These, die sich später bei Schleiermacher und danach in der gesamten Pädagogik der Dilthey-Schule wiederfindet. Herbarts Aussage will nun keineswegs besagen, daß pädagogische Praxis als in sich selbst begründet oder als primär theoriefrei verstanden werden dürfe. Solchem Kurzschluß hat er in der Einleitung der Allgemeinen Pädagogik seine präzise Kritik der herkömmlichen, 57 Wilhelm Schriever: Die pädagogische Menschenkunde Herbarts. Diss. Göttingen 1950. 58 Willmann-Fritzsch III, S. 592.

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unreflektierten Berufung auf vorgebliche „Erfahrung“ entgegengehalten, eine Kritik, die man zugleich als ein Programm für action research in education lesen kann: „Wollten wir nur sämtlich bedenken: daß jeder nur erfährt, was er versucht! … Möchten diejenigen, welche die Erziehung so gern bloß auf Erfahrung bauen wollen, doch einmal aufmerksam hinüberblicken auf andere Erfahrungswissenschaften, möchten sie bei der Physik, bei der Chemie sich zu erkundigen würdigen, was alles dazugehört, um nur einen einzigen Lehrsatz im Felde der Empirie soweit festzustellen, wie es in diesem Felde möglich ist. Erfahren würden sie da, daß man aus einer Erfahrung nichts lernt, und aus zerstreuten Beobachtungen ebenso wenig; daß man vielmehr denselben Versuch mit zwanzig Abstufungen zwanzigmal wiederholen muß, ehe er ein Resultat ergibt, daß nun noch die entgegengesetzten Theorien jede nach ihrer Art auslegen. Erfahren würden sie da, daß man nicht eher von Erfahrung reden darf, bis der Versuch geendigt ist, bis man vor allen Dingen die Rückstände genau geprüft, genau gewogen hat. Der Rückstand der pädagogischen Experimente sind die Fehler des Zöglings im Mannesalter. Der Zeitraum für ein einziges dieser Experimente ist also aufs wenigste ein halbes Menschenleben! Wann denn wohl ist man ein erfahrener Erzieher? Und aus wie vielen Erfahrungen, mit wie vielen Abänderungen besteht die Erfahrung eines jeden?“59 Was folgt aus dieser Erkenntnis Herbarts für unsere wissenschaftstheoretische Frage? Die Antwort muß im Wesentlichen indirekt aus dem bisher Gesagten erschlossen werden. Dann ergibt sich: Wenn in aller sogenannten Praxis, auf die man sich im pädagogischen Meinungsstreit zu berufen pflegt, immer schon bestimmte Voraussetzungen, Vorerfahrungen, Vorurteile darinnen stecken, so wird pädagogische Theorie diese Implikationen zunächst durch Analyse ins Bewußtsein zu heben haben; die dergestalt zur Sprache gebrachten Meinungen könnten dann bewußt – als Hypothesen – zum Ansatz pädagogischer Versuche gemacht werden, die nun erst, auf dem Hintergrund bewußter Fragestellung, kontrollierbar und auswertbar würden, wobei wir über Formen der Kontrolle und Auswertung bei Herbart keine Auskunft erhalten. Erst aus solchen Versuchs- und Untersuchungsreihen können wissenschaftliche Erkenntnisse – im Unterschied von bloßen Erfahrungssätzen – entspringen. Solche Erkenntnisse aber müßten im Sinne des zweiten Denkmodells grundsätzlich als durch weitere pädagogische Forschung korrigierbar betrachtet werden. In welchem Verhältnis stünde eine pädagogische Theorie, die vorwiegend wissenschaftliche Sätze der gekennzeichneten Art enthielte, zur pädagogischen Praxis? Sie könnte – zufolge der zentralen Bedeutung des Individualitätsproblems im zweiten Denkmodell – nicht mehr als strikte Handlungsanweisung, als System 59 Asmus II, S. 19f.; Nohl: Kleine Pädagogische Texte. H. 25, S. 8.

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anzuwendender Regeln im Sinne des ersten Herbartschen Denkansatzes verstanden werden. „Die Theorie in ihrer Allgemeinheit erstreckt sich über seine Weite, von welcher jeder einzelne in seiner Ausübung nur einen unendlich kleinen Teil berührt; sie übergeht wieder in ihrer Unbestimmtheit, welche unmittelbar aus der Allgemeinheit folgt, alles das Detail, all die individuellen Umstände, in welchen der Praktiker sich jedesmal befinden wird und all die individuellen Maßregeln, Überlegungen, Anstrengungen, durch die er jenen Umständen entsprechen muß. In der Schule der Wissenschaft wird daher für die Praxis immer zugleich zuviel und zuwenig gelernt …“.60 Herbarts pädagogische Schriften, insbesondere seine Allgemeine Pädagogik, enthalten eine Fülle von Aussagen, die den Haupttypus wissenschaftlicher Sätze im Sinne des zweiten Denkmodells kennzeichnen können. Zwar lag diesen Aussagen nicht ein umfangreiches Material an Versuchsergebnissen im Sinne der von Herbart geforderten pädagogischen Forschung zugrunde; aber er durfte solche Aussagen doch als legitime wissenschaftliche Vorwegnahmen betrachten, insofern er sich auf 60 Vgl. die erste Vorlesung Herbarts (1802). Asmus I, S. 125: Pädagogische Praktiker pflegen sich „sehr ungern auf eigentliche, gründlich untersuchte Theorie einzulassen; sie lieben es weit mehr, das Gewicht ihrer Erfahrungen und Beobachtungen gegen jene geltend zu machen. Dagegen ist denn aber auch schon bis zur Ermüdung oft und weitläufig bewiesen, auseinandergesetzt und wiederholt, daß bloße Praxis eigentlich nur Schlendrian und eine höchst beschränkte, nichts entscheidende Erfahrung gebe, daß erst die Theorie lehren müsse, wie man durch Versuch und Beobachtung sich bei der Natur zu erkundigen habe, wenn man ihr bestimmte Antworten entlocken wolle. Dies gilt denn auch im vollsten Maße von der pädagogischen Praxis. Die Tätigkeit des Erziehers geht hier unaufhörlich fort; auch wider seinen Willen wirkt er gut oder schlecht, oder er versäumt zum wenigsten, was er hätte wirken können, und ebenso unaufhörlich kehrt die Rückwirkung, kehrt der Erfolg seines Handelns zu ihm wieder, aber ohne ihm zu zeigen, was geschehen wäre, wenn er anders gehandelt, welchen Erfolg er gehabt hätte, wenn er weiser und kräftiger verfahren wäre, wenn er pädagogische Mittel, deren Möglichkeit ihm vielleicht nur nicht träumte, in seiner Gewalt gehabt hätte. Von allem diesem weiß seine Erfahrung nichts; er erfährt nur sich, nur sein Verhältnis zu den Menschen, nur das Mißlingen seiner Pläne ohne Aufdeckung der Grundfehler, nur das Gelingen seiner Methode ohne Vergleichung mit den vielleicht weit rascheren und schöneren Fortschritten besserer Methoden. So kann es geschehen, daß ein grauer Schulmann noch am Ende seiner Tage, ja daß eine ganze Generation und Reihen von Generationen von Lehrern, die immer in gleichen oder in wenig abweichenden Geleisen neben- und hintereinander fortgehen, nichts von dem ahnten, was ein junger Anfänger in der ersten Stunde durch einen glücklichen Wurf, durch ein richtig berechnetes Experiment sogleich in voller Bestimmtheit erfährt. Ja es kann nicht nur so kommen, sondern das begibt sich zuverlässig.“ – Vgl. auch Herbarts Replik gegen Jachmanns Rezension der „Allgemeinen Pädagogik“ (1814), vollständig abgdruckt in: Herbarts Sämtliche Werke. Hrsg. von Kehrbach/Flügel. Bd. 2. S. 162ff., bes. S. 169.

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langjährige eigene – und zwar reflektierte – Erfahrung, sorgfältige Beobachtung von Kindern und Jugendlichen und auf Erfahrungen anderer Pädagogen, wie sie sich in der Fachliteratur, z. B. in Pestalozzis Schriften, niederschlug, stütze. Man denke etwa an die Ausführungen über das Problem der „Zucht“ als „kontinuierlichen Umgang“.61 – Theoretische Sätze dieser Art bieten dem Praktiker keine Regeln, wohl aber mögliche Kategorien und Aspekte zum Verständnis, zur Deutung konkreter pädagogischer Situationen, und zugleich mögliche Prinzipien, an denen er sein Handeln und Verhalten orientieren kann. Zwischen die wissenschaftlichen Sätze aber und das praktisch-pädagogische Handeln müssen nun Überlegungen und Entscheidungen treten, die die wissenschaftliche Theorie im Sinne des zweiten Denkmodells der Praxis nicht abnehmen kann. Genau in diesem Zwischenfeld hat das von Herbart entdeckte Phänomen des pädagogischen Taktes seinen Ort, dem er schon in der Einleitung seiner ersten Pädagogik-Vorlesung eine klassisch zu nennende Auslegung gegeben hat.62 Dieser Takt – eine Fähigkeit zur „schnellen Beurteilung und Entscheidung“ – trete „in die Stellen“ ein, „welche die Theorie leer ließ“ und werde so „der unmittelbare Regent der Praxis“.63 Der Unterschied zu jenem Verhältnis von Theorie und Praxis, das sich aus dem ersten Denkmodell ergab, wird besonders deutlich, wenn Herbart im Zusammenhang der Erörterung, wie sich der pädagogische Takt beim Erzieher bildet, betont: „Durch Überlegung, durch Nachdenken, Nachforschung, durch Wissenschaft soll der Erzieher vorbereiten – nicht sowohl seine künftigen Handlungen in einzelnen Fällen als vielmehr sich selbst, sein Gemüt, seinen Kopf und sein Herz zum richtigen Aufnehmen, Auffassen, Empfinden und Beurteilen der Erscheinungen, die seiner warten und der Lage, in die er geraten wird“.64

61 Asmus I, S. 124f. 62 Vgl. z. B. Asmus II, S. 121ff.; Nohl: Kleine Pädagogische Texte. H. 25, S. 139, 149ff. 63 Vgl. E. Blochmann: Der pädagogische Takt. In: Die Sammlung 5 (1950) S. 712ff; Dies.: Die Sitte und der pädagogische Takt. Ebd. 6 (1951) S. 589ff. J. Muth: Pädagogischer Takt. Heidelberg 1962. 64 Asmus I, S. 126. – Daß auch in diesen Gedankengang Herbarts gewisse Leitvorstellungen seines ersten Denkmodells hineinspielen, zeigen jene eingeflochtenen Bemerkungen, daß es des pädagogischen Taktes bedürfe, weil eine „vollkommen durchgeführte Theo­ rie“, die „bei strenger Konsequenz und in völliger Besonnenheit an die Regel zugleich die Forderung des individuellen Falles ganz und gar zu treffen“ vermöchte, noch fehle und weil, selbst wenn es eine solche Theorie gäbe, „zu vollkommener Anwendung der wissenschaftlichen Lehrsätze ein übermenschliches Wesen erfordert werden würde“ (ebd.).

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b) Im Sinne des zweiten Denkmodells spricht Herbart der Erziehung einen eigenen Wirkungs- und Erfahrungsraum und damit der postulierten Erziehungswissenschaft einen eigenen Forschungsbereich bzw. -aspekt zu. Bildlich gesprochen: Dieser eigene „Forschungskreis“ der Pädagogik erstreckt sich zwischen den vorgegebenen und für die praktische und theoretische Pädagogik verbindlichen Normen, die die Ethik ermittelt, auf der einen und den generellen Wirklichkeitsaussagen der allgemeinen Psychologie auf der anderen Seite. Die Prinzipien für das Handeln und die Erkenntnis- und Deutungskategorien für diesen Bereich können nicht, jedenfalls weitgehend nicht aus der Ethik direkt abgeleitet oder durch „Anwendung“ der allgemeinen Psychologie gewonnen werden. Vielmehr bedarf es jener „einheimischen Begriffe“; die Reihe der Beispiele, die an früherer Stelle dafür genannt wurde, sei hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit ergänzt: „pädgogischer Takt“, „Vielseitigkeit des Interesses“, „Vertiefung und Besinnung“, „bloß darstellender“, „analytischer“ und „synthetischer Unterricht“ usf. c) Mit dem neuen Ansatz weitet sich der Umfang des Problembereiches der Erziehungswissenschaft. „Erziehung“ wird nicht mehr mit „moralischer Erziehung“ gleichgesetzt. Alle Vorgänge, Handlungen und Institutionen, die im Zusammenhang mit der geistigen Entwicklung eines jungen Menschen stehen und Bezug zu seinen späteren individuellen Zwecksetzungen haben oder haben können, erscheinen jetzt als Problem einer möglichen wissenschaftlichen Pädagogik. d) Welche Geltung können Aussagen einer wissenschaftlichen Pädagogik im Sinne des zweiten Modells haben? Wir finden bei Herbart selbst bestenfalls Andeutungen einer Antwort auf diese Frage. Für die Deduktion allgemeiner Zielbestimmungen aus der Ehtik gilt auch hier der uneingeschränkte Anspruch auf Allgemeingültigkeit. – Schwieriger ist die Frage hinsichtlich aller aus dem engeren und eigenen Forschungskreis der Pädagogik hervorgehenden Erkenntnisse zu beantworten. Die meisten der diesem Bereich zuzurechnenden Aussagen Herbarts lassen darauf schließen, daß er sie zwar – wie vorher gefolgert – als korrigierbar betrachtete, ihnen aber prinzipiell eine durchaus übergreifende, auf Erziehung schlechthin zutreffende Geltung versprach – im Sinne einer Strukturtheorie, die idealtypische Deutungs- und Verstehensmöglichkeiten und Handlungsprinzipien formuliert. Bei Herbart finden sich aber auch Sätze, in deren Konsequenz es läge, daß in einer solchen pädagogischen Theorie mindestens auch Aussagen mit spezifisch geschichtlichem Charakter und dementsprechend „nur“ geschichtlichen Geltungsanspruch ihren Ort haben müßten. So heißt es schon in der „Rede zur Eröffnung der Vorlesungen über Pädagogik“ (1802) im Hinblick

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auf die pädagogische Erfahrung: „Andere Zeiten erfahren etwas anderes, weil sie etwas anderes tun“.65 Die Folgerung für eine Theorie, die solche Erfahrungen begrifflich formulieren wollte, könnte nur lauten, daß sie geschichtliche Geltung hätte. Eine ähnliche Konsequenz deutet sich an anderer Stelle an. In der Rezension der Schwarzschen Erziehungslehre tritt Herbart einmal gegenüber der Kritik des Autors an der deutschen Aufklärungspädagogik für die gerechte Würdigung der Leistungen dieser Bewegung, insbesondere der deutschen Philanthropen, ein. In diesem Zusammenhang lesen wir den für Herbart erstaunlichen Satz: „Wäre Pädagogik ein philosophisches System, alsdann würde der Unterzeichnete auf strenge Losreißung von frühern Irrtümern dringen; aber sie ist eine praktische Wissenschaft, welcher es wichtig ist, daß man die Kontinuität ihrer Fortbildung stets anerkenne, damit kein unnötiges Mißtrauen ihr entgegenwirke“.66

65 Asmus II, S. 127. 66 Asmus I, S. 125.

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Vernunft – Erziehung – Demokratie Zur Bedeutung der Nelson-Schule in der deutschen Pädagogik 9 Vernunft – Erziehung – Demokratie 9 Vernunft – Erziehung – Demokratie

Gustav Heckmann zum 85. Geburtstag gewidmet*1

I Gustav Heinemann hat während seiner Wirkungszeit als Bundespräsident die Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik, aber darüber hinaus auch die Bildungseinrichtungen und alle Gruppen, Personen und Institutionen, die direkt oder indirekt auf das öffentliche, historisch-politische Bewußtsein in unserer Gesellschaft einwirken, nachdrücklich auf eine wichtige Aufgabe aufmerksam gemacht: darauf nämlich, die freiheitlichen, demokratischen Ansätze in der deutschen Geschichte aufzuarbeiten und im öffentlichen Bewußtsein lebendig zu machen, Ansätze, die in ihrer Zeit vielfach scheiterten und nach ihrer Zeit oft verdrängt und vergessen wurden. Selbstverständlich schwebte es Heinemann bei dieser Anregung nicht vor, die deutsche Geschichte, insbesondere die neuzeitliche deutsche Geschichte, sozusagen emanzipatorisch-demokratisch umschreiben zu sollen; daß Deutschland, wie Hellmuth Plessner es ausgedrückt hat, vor allem im 19. und 20. Jh. eine „verspätete Nation“ geworden ist (Plessner 1966) und daß es – weil es im 18. und 19. Jh. weder eine bürgerliche noch im 20. Jh. eine erfolgreiche, demokratisch-proletarische Revolution erlebt hat – mindestens bis 1945, im west- und mitteleuropäischen Maßstab betrachtet, eine „verspätete Gesellschaft“ geblieben war, sollte durch jene Initiative nicht verschleiert werden. Vielmehr zielte sie darauf, jenen fundamentalen Verspätungen der historischen Entwicklung in Deutschland seit dem ausgehenden 18., z. T. schon dem 17. Jahrhundert, den Schein des Unabwendbaren, Schicksalhaften zu nehmen, sie vielmehr als einen Komplex und Prozeß von problematischen

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Überarbeitete Fassung des Festvortrages am 22.4.1983 in der Universität Hannover

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Klafki, Allgemeine Erziehungswissenschaft. Systematische und historische Abhandlungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23165-1_9

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Entscheidungen, Versäumnissen, verfehlten Chancen, Abwehrhandlungen und von Unterdrückungen politisch-gesellschaftlich-kulturell gegenläufiger, progressiver Bestrebungen verständlich zu machen. Von „progressiven“ Bestrebungen darf man sprechen, ohne damit unhistorisch zu argumentieren, wenn man sich bewußt macht, daß die Prinzipien der Menschenrechte, auf denen u. a. auch das Grundgesetz unserer Republik beruht – individuelle Freiheit, Selbstbestimmung, Sozialität, Rechtlichkeit, demokratische Mitbestimmung – nicht erst Ideen unserer Zeit sind, sondern auf die europäische Aufklärung zurückgehen und schon am Ende des 18. Jahrhunderts in ihren Grundlinien formuliert worden sind. Nun darf man erfreulicherweise feststellen, daß Heinemanns Anregungen, denen ähnliche Intentionen anderer Personen und Gruppen vorher und nachher parallel liefen, seither nicht nur in der Geschichtswissenschaft i. e. S. d. W. an etlichen Stellen produktiv aufgenommen worden sind, sondern auch im Bereich der historischen Erziehungsforschung, und zwar sowohl auf der Ebene der Ideen- bzw. der Theoriegeschichte als auch auf der Ebene der Geschichte pädagogischer Institutionen und Vereinigungen. – Trotz solcher Ansätze sind wir allerdings wohl noch weit davon entfernt, eine umfassende Theorie- und Realgeschichte demokratischer pädagogischer Bestrebungen und Ansätze in Deutschland entwerfen zu können. In einer solchen Geschichte aber müßte auch jene philosophisch-politisch-pädagogische Schule ihren Ort finden, der Gustav Heckmann sich seit Beginn der 20er Jahre unseres Jahrhunderts zugehörig weiß und zu deren maßgeblichen und produktiven Repräsentanten und Weiterentwicklern er gehört: der Schule Leonard Nelsons. Wenn im folgenden der Akzent vor allem auf die Pädagogik der Nelson-Schule und hier noch einmal speziell auf Gustav Heckmanns Lebensarbeit gelegt wird, so geschieht das im Bewußtsein, daß Philosophie, politische Theorie und Praxis und Pädagogik sich bei Nelson und den Nelsonianern nur begrenzt voneinander abheben lassen; gewisse Problemreduktionen sind folglich unvermeidlich. Ich werde unter primär pädagogischer Perspektive drei Aspekte der Theorie und Praxis der Nelson-Schule und besonders im Werk Heckmanns hervorheben, und zwar so, daß die historischen Hinweise jeweils in Thesen zur aktuell-systematischen Bedeutung ausmünden.

II Gustav Heckmann hat mehrfach bekundet, daß Nelsons 1922 in Göttingen gehaltene Rede „Die sokratische Methode“ (Nelson 1970, Bd. I) ihm zum entscheidenden Impuls für die Orientierung seines Philosophierens und seiner lebenslangen Bemü-

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hungen um das sokratische Gespräch, insbesondere das sokratische Lehrgespräch als die zentrale, wenn nicht gar die einzig angemessene Methode des philosophischen Unterrichts, d. h. der pädagogischen Hilfe zur Entwicklung philosophischen Denkens, gewesen ist. Philosophie oder besser: Philosophieren – als Medium und Ziel der sokratischen Methode – muß hier in einer umfassenden Bedeutung des Begriffs verstanden werden, mit Heckmanns Worten: als „Philosophie im weitesten Sinne, einschließlich Wissenschaftstheorie, einschließlich der Grundfragen von Politik und Erziehung, einschließlich Fragen zur Struktur unserer inneren Erfahrung“ (Heckmann 1981, S. 8). Erst mit dieser bei Nelson wohl angelegten, aber erst von einigen Nelson-Schülern und insbesondere von Heckmann konsequent vollzogenen Ausweitung des „Schulbegriffs“ der Philosophie zum „Weltbegriff“ wird dessen umfassende anthropologische und pädagogische Bedeutung begreifbar. Philosophieren ist dann – als Realität und Anspruch – nicht auf die Hochschuldisziplin gleichen Namens beschränkt. Philosophieren beginnt dann nicht nur faktisch, wie rudimentär auch immer, sondern ist im Prinzip gefordert überall dort, „wo und wann immer Menschen durch gemeinsames Erwägen von Gründen der Wahrheit in einer Frage näherzukommen suchen“ (Heckmann 1981, S. 7). Der hier gemeinsame Wahrheitsbegriff umfaßt ebensowohl Fragen der Erkenntnistheorie oder das Problem der Möglichkeit eines fundamentalen „Sittlichkeitsgesetzes“ wie die Geltungsfrage in konkreten Entscheidungssituationen: • ob ich mich in einer ethischen Kontroverse mit einsehbaren Gründen für die eine von mehreren konkurrierenden Lösungen, mindestens in dieser Situation und unter diesen Bedingungen, als die richtige, verantwortbare entscheiden und damit andere Lösungen ausschließen darf und soll, • ob ich in dieser Situation einem Mitmenschen gegenüber recht oder unrecht gehandelt habe, • wie ich es verstehen und damit wahrheitsgemäß, d. h. begründbar fertig werden kann, daß sich nach einer Handlung, die ich spontan vollzog und von deren Richtigkeit ich im Augenblick des Handelns überzeugt war, nachträglich mein Gewissen regt, ich in Zweifel gerate, ob ich zu jener Handlung berechtigt, ob sie verantwortbar, begründbar war. Solches Erwägen von Gründen ist – in diesem weiten Sinne des Begriffes „Philosophieren“ – eine menschliche Grundsituation überall dort, wo im geschichtlichen Prozeß die Fraglosigkeit geschlossener, religiöser, kultureller, gesellschaftlicher politischer Normsysteme zerbrochen ist, wo – sei es auch nur programmatisch – die Menschen zu eigener Urteilsbildung, eigenen Entscheidungen, eigener Verantwortlichkeit herausgefordert sind. Es ist die Grundsituation, unter der seit dem Anbruch

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der Neuzeit, zumal in unserer Gegenwart und auf unsere und der nachfolgenden Generation Zukunft hin, Humanität erstrebt und immer neu, wie fragmentarisch auch immer, errungen und bewahrt werden muß. Wenn das richtig ist, dann ergibt sich daraus eine zwingende Folgerung: Es muß als eine der zentralen Aufgaben der Erziehung – und das heißt zugleich immer auch: der Selbsterziehung der Erzieher – anerkannt werden, die Fähigkeit und die Bereitschaft zum wahrheitssuchenden Argumentieren wachzurufen und zu entwickeln, also Bereitschaft und Fähigkeit dazu, die eigenen Überzeugungen und Entscheidungen argumentativ auf ihre Begründbarkeit zu überprüfen, sie der Kritik der Mitmenschen auszusetzen, jeweils einen zwanglosen, nach bestem Wissen und Gewissen möglichen, argumentativ hervorgebrachten Konsens zu suchen oder, wo er nicht gefunden werden kann, doch mindestens die Gründe offenzulegen, deretwegen die miteinander argumentativ Ringenden nicht oder noch nicht zu einem Konsens kommen können und folglich unterschiedlich, ggf. gegensätzlich entscheiden und handeln müssen. Ethisch relevante Entscheidungssituationen, die zu solcher Art argumentativer Rechtfertigung herausfordern, erfahren wir alle, auch Kinder und Jugendliche, schon im Alltag der zwischenmenschlichen Beziehungen in der Familie, der Altersgruppe, der Schule, der beruflichen Arbeit usf. immer wieder. Die objektive, historische, den jeweils individuellen Horizont überschreitende Bedeutung wächst an, je mehr wir uns den großen, weltumspannenden Fragen und Problemen ethisch-gesellschaftlich-politischer Art zuwenden, den „Schlüsselproblemen“ unserer Gegenwart und der vermeintlichen Zukunft, Problemen, die eigentlich Konzentrationspunkte einer den Aufgaben angemessenen Erziehung, insbesondere auch der öffentlichen Erziehung in unseren Bildungsinstitutionen sein müßten: die Friedensproblematik und die Umweltfrage, das Verhältnis der Generationen zueinander und das Verhältnis der Geschlechter, die Gleichberechtigung der Frau und das Abtreibungsproblem, Möglichkeiten und Gefahren des sogenannten technischen und ökonomischen „Fortschritts“, tradierte und sogenannte alternative Lebensformen, Freiheitsspielraum und Mitbestimmungsanspruch des einzelnen und kleiner sozialer Gruppen einerseits und das System der großen Organisationen und Bürokratien andererseits, Mehrheitsentscheidungen und Widerstandsrecht, Arbeit und Arbeitslosigkeit und ihre Bedeutung für die individuelle und soziale Identität des Menschen, sogenannte „entwickelte Länder“ und „Entwicklungsländer“ in ihrem Verhältnis zueinander, Gesundsein und Kranksein, Behinderte und Nichtbehinderte. Es wäre ein Irrtum zu meinen, es handele sich hier ausschließlich oder vorwiegend um Erwachsenenprobleme, daher könnten sie nicht oder nur sehr begrenzt Themen des Unterrichts in allen Schulstufen und Schulformen für Kinder und Jugendliche sein. Es läßt sich vielmehr leicht zeigen, daß jene Probleme größtenteils weit und nachhaltig in die kindliche und jugendliche Erfahrungswelt hineinreichen und hineinwirken.

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Nun erfordert die unterrichtliche Behandlung solcher Probleme gewiß in erheblichem Umfang die Aneignung von Sachkenntnissen und die Einsicht in Sachzusammenhänge, d. h. unterrichtliche Vermittlungs- und Erarbeitungsformen, die eine andere Struktur haben als das sokratische Gespräch bzw. das sokratische Lehrgespräch. Aber hinter und in der Durchdringung solcher Sachzusammenhänge brechen die grundlegenden, ethisch-gesellschaftlich-politischen Voraussetzungsund Entscheidungsprobleme philosophischer Natur auf, die schwierigen Fragen argumentativer Begründung von verantwortbaren Entscheidungen, an denen wir alle – reflektiert oder unreflektiert, direkt oder mittelbar – teilhaben. Damit ist im vorliegenden Zusammenhang zugleich der Ort möglicher, nein: eigentlich notwendiger sokratischer Gespräche benannt. Nun wird man bei einem realistischen Blick auf unser Bildungswesen, seine Curricula, die in den Schulen verwendeten Schulbücher und die übrigen Lehr- und Lernmaterialien feststellen müssen, daß – trotz etlicher didaktischer Reformbemühungen, die hier keineswegs pauschal als unbedeutend oder verfehlt abgetan werden sollen – die Konzentration der Schularbeit auf solche Schlüsselprobleme und die dazu notwendige stoffliche Entlastung der Richtlinien kaum in größerem Maßstabe Platz gegriffen hat, noch weniger aber, daß in nennenswertem Umfang das Bewußtsein von der pädagogischen Aufgabe, der Erziehung und Entwicklung argumentativer Vernunft in Angriff zu nehmen, lebendig ist und praktiziert würde. Gewiß gibt es in der Geschichte der Reformpädagogik und in jüngeren allgemeindidaktischen und manchen fachdidaktischen Konzepten Ansätze, die in eine solche Richtung weisen oder mindestens auf ihre möglichen Beziehungen zur pädagogischen Sokratik befragt werden müßten. • Man denke etwa an manche Passagen aus Berthold Ottos „Freiem Gesamtunterricht“, wo er die philosophische Reflexionsstufe erreicht (Otto 1913, in: Geißler 1970, S. 67ff., bes. S. 73); indessen ließ das Prinzip des ungebundenen, assoziativen Themenwechsels, das für den Gesamtunterricht Berthold Ottos und seiner Schüler charakteristisch war, eine methodisch-systematisch aufgebaute, argumentativ-reflexive Gesprächskultur gar nicht zu. • Es ist an bildungstheoretische Ansätze Theodor Litts (Litt 1963), Josef Derbolavs (Derbolav 1971) und Franz Fischers (Fischer 1975) und innerhalb der Diskussion um das exemplarische Lehren und Lernen zu erinnern, pädagogische Denkansätze, die die Unverzichtbarkeit philosophischer Reflexion im Hinblick auf Entscheidungs- und Handlungssituationen herausarbeiten und entsprechende didaktische Konsequenzen teils nahelegen, teils ausdrücklich gezogen haben. • Man kann weiterhin auf Konzeptionen und Beispiele eines problembezogenen Politik- und Literaturunterrichts und auf entsprechende Positionen eines

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undogmatischen Religionsunterrichts hinweisen oder auf ältere und jüngere Vorschläge zur Einführung des Ethikunterrichts in Schulen oder der ethischen Erziehung als pädagogischem Prinzip und zum diskursiven Gespräch als einer zentralen methodischen Grundform solcher Erziehung. • Weiterhin gibt es aus der Weimarer Reformpädagogik und aus den letzten anderthalb Jahrzehnten Erfahrung mit wöchentlichen Gesprächsstunden als fester Einrichtung der Schülermitbestimmung in manchen Schulen (Waechter 1980), die jenem Beispiel eines sokratischen Gespräches mit Kindern unter Minna Spechts Leitung vergleichbar sind, von denen Gustav Heckmann aus der deutschen Exilschule in Dänemark berichtet hat (Heckmann 1981, S. 83–86). • Schließlich sei auf Martin Wagenscheins Methodik der unterrichtlichen Gesprächsführung verwiesen, wie er sie vor allem im Mathematik- und im Physikunterricht vielfältig praktiziert hat (Wagenschein 1976, 1980); eines der Charakteristika der von Wagenschein vertretenen Unterrichtskonzeption ist es ja, daß die Schüler nicht nur zu einem von problembezogenen Fragen geleiteten, entdeckenden, mindestens aber verstehenden Lernen befähigt werden, sondern daß sie ihre eigenen Lernvollzüge immer wieder reflektieren und auf diesem Wege zu philosophischen, genauer: wissenschafts- und erkennungstheoretischen Fragen vorstoßen. Der Struktur nach sind solche Reflexionsprozesse denen über ethisch relevante Entscheidungs- und Handlungsprobleme analog, und die sachliche Verwandtschaft zur Sokratik der Nelson-Schule klingt schon in der Formel an, durch die Wagenschein seinen pädagogischen Ansatz kennzeichnet: „genetisch-sokratisch-exemplarisches Lehren und Lernen“ (Wagenschein 1982). Es ist kein Zufall, daß Wagenschein diesen Ansatz, dessen Anfänge sich schon in seiner Arbeit an Paul Geheebs Odenwaldschule seit dem Ende der 20er Jahre nachweisen lassen, in jener Zeit wieder aufnahm und konzentriert fortführen konnte, in der Minna Specht – aus der englischen Emigration zurückgekehrt – für etwa 5 Jahre, von 1946–1951, die Leitung der Odenwaldschule übernahm. Wagenschein verdankt den Hinweis auf die Parallelität seiner pädagogischen Bemühungen mit denen Nelsons Minna Specht und Gustaf Heckmann.1 Seither finden sich in Wagenscheins Publikationen zum exemplarischen Lehren und Lernen mehrfach ausdrücklich Bezugnahmen auf Leonard Nelsons Schrift über die sokratische Methode – Gleichsam komplementär dazu hat Minna Sprecht schon 1948, in einem Vortrag vor dem damaligen Landesschulbeirat in Hessen, den didaktischen „Mut zur Lücke“ im Sinne der intensiven, selbsttätigen Vertiefung in exemplarisch aufschließende Problemstellungen unter 1 Ich stütze mich hier auf ein Zitat aus einem Brief Wagenscheins an Heckmann vom April 1983, das der Adressat mir freundlicherweise mitgeteilt hat.

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Verzicht auf stoffliche Fülle verflochten und damit von den Voraussetzungen der philosophischen Pädagogik Nelsons her das Wagenscheinsche Konzept des exemplarischen Lehrens und Lernens produktiv aufgenommen (Specht, in: Becker/Eichler/Heckmann 1960). Blickt man noch einmal auf die Beispiele, die man in eine lockere oder engere Beziehung mit der Aufgabe der Erziehung zur argumentierenden Vernunft bringen kann, so ist folgendes festzustellen: Sieht man von Wagenschein ab, so ist die Methodik der Erziehung zu argumentativer Vernunft nirgends mit vergleichbarer Präzision und Folgerichtigkeit, und zwar in einem über Jahrzehnte hinweg durchgehaltenen Wechselspiel von theoretischer Konzeption und praktischer Erfahrung ausgearbeitet worden wie bei Leonard Nelson und vor allem bei Gustav Heckmann, dessen Leistung in einer durchaus konstruktiven Modifikation und Weiterentwicklung der Nelsonschen Ideen besteht. Zwei Aspekte sind m. E. besonders wichtig: Erstens: Eine der produktiven Fortbildungen Heckmanns im Verhältnis zu Nelson liegt in der bereits erwähnten Ausdehnung der Themen sokratischer Gespräche auf den Bereich der „Struktur unsrer inneren Erfahrungen“, m. a. W.: auf ein breiteres Feld existentiell bedeutsamer, anthropologisch-ethischer Phänomene; Erfahrungen wie Schuld, Versagen, menschliche Treue oder Untreue, Fragen wie die nach dem individuellen Lebenssinn, nach Selbstbetrug und Selbstfindung usf. werden damit legitime Themen sokratischer Gespräche bzw. sokratischer Lehrgespräche. Zweitens: Nelsons Konzept des sokratischen Gesprächs ist durch Züge einer fast autoritativen Strenge der Anforderungen gekennzeichnet, so etwa an die nicht erst im Prozeß solcher Gespräche zu entwickelnde, sondern zur Voraussetzung erklärte sprachliche Zucht der Teilnehmer. Der sokratische Gesprächsleiter, so heißt es z. B. bei Nelson, läßt nicht nur alle von Teilnehmern geäußerten Fragen „ausfallen, die zu leise geäußert werden“, sondern auch alle, „die in unzusammenhängenden Sätzen gestellt werden. Wie sollen schwierige Gedanken aufgefaßt werden, die in verstümmelter Sprache geäußert werden?“ Und ergänzend heißt es etwas später im Text: „Erbarmt sich“ – angesichts eines noch unklaren Gesprächsbeitrages –„ein mitfühlendes Herz und eilt dem Bedrängten mit der Erklärung zu Hilfe: ‚Der Kommilitone hat wohl sagen wollen: …‘, so wird solche Hilfe kaltherzig abgewiesen mit der Bitte, die Kunst des Gedankenlesens beiseite zu lassen und sich statt dessen lieber einmal um die bescheidenere Kunst zu bemühen, das, was man sagen will, auch wirklich zu sagen“ (Nelson 1970, Bd. 1. S. 295ff.). Gustav Heckmanns Praxis und Theorie der Gesprächsführung ist hier sensibler, pädagogisch verständnisvoller, nicht etwa, weil er nicht auch wie Nelson ein möglichst hohes Maß an gedanklicher und sprachlicher Zucht als ein Teilziel der Entwicklung der Argumentationsfähigkeit anstrebt, sondern weil er sieht, wie sehr

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die zu Beginn eines sokratischen Gesprächs vorhandene oder aber nicht vorhandene Sprechfähigkeit der Beteiligten von vorgängigen Sozialisations- und Erziehungsbedingungen abhängig ist, daß es daher darauf ankommt, im Prozeß des Gespräches die Erfahrung zu vermitteln und die Einsicht zu wecken, daß sprachliche Präzision und die diesbezüglich notwendige Konzentration und Willensanstrengung eine Bedingung weiterführender Erkenntnisprozesse ist. So wird es zu einem wichtigen Prozeßziel sokratischer Gespräche, die Teilnehmer erfahren zu lassen, daß man seine in sprachlichen Formulierungen zum Ausdruck kommende Reflexions- und Erkenntnisfähigkeit steigern kann, also Vertrauen zur eigenen Vernunftfähigkeit gewinnt. Ich schließe den ersten Argumentationsgang mit zwei Folgerungen ab: Erstens: Wenn die Erziehung zur rationalen Argumentationsfähigkeit angesichts ethisch relevanter Entscheidungs- und Handlungsprobleme als eine wichtige Erziehungsaufgabe anerkannt wird, so werden entsprechende künftige praktische und theoretische Bemühungen bei dem bisher differenziertesten, auf reicher Erfahrung fußenden Konzept sokratischer Gesprächsführung anknüpfen müssen, das Gustav Heckmann vorgelegt hat (Heckmann 1981).2 Zweitens: Seit einiger Zeit ist das Problem der argumentativen Rechtfertigung von ethischen Normen und Entscheidungen i. e. S. d. W. – einschließlich politischer und pädagogischer Normen und Entscheidungen – bekanntlich von mehreren philosophischen Positionen aus ins Zentrum der Praktischen Philosophie gerückt worden. Hier sei auf Jürgen Habermas‘ Theorie des herrschaftsfreien Diskurses und seine Konsensustheorie der Wahrheit hingewiesen (Habermas/Luhmann 1971; Habermas in: Fahrenbach 1971; Habermas 1973), auf verwandte Gedankengänge Karl Otto Apels (Apel 1973), auf die Konzeption des rationalen Diskurses der Erlanger Philosophen-Schule der Konstruktivisten (Lorenzen/Schwemmer 1973, Kambartel 1974) oder auf Günther Patzigs Arbeiten zur Entwicklung der Ethik als Philosophie argumentativer Entscheidungsbegründungen (Patzig 1971). Seine systematisch-vergleichende Untersuchung der Gemeinsamkeiten, der Unterschiede und der Vermittelbarkeit jener jüngeren Ansätze mit den entsprechenden Positionen innerhalb der heutigen Nelsonianer, die in durchaus zentralen Punkten eine kritische Revision und Weiterentwicklung der Philosophie ihres Lehrers vorgenommen haben und weiterhin daran arbeiten, steht m. W. noch aus. Ein Beitrag zur Inangriffnahme dieser Aufgabe ist jene Auseinandersetzung mit Robert Alexys Theorie

2 Vgl. dazu und zu einigen kritischen Rückfragen meine Rezension des Buches (Klafki 1983a) und meinen Beitrag „Zur Frage nach der pädagogischen Bedeutung des Sokratischen Gesprächs und neuerer Diskurstheorien“ (Klafki 1983b).

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des rationalen Diskurses, die Heckmann in einem Kapitel seines Buches über „Das sokratische Gespräch“ vorgelegt hat (Heckmann 1981, S. 105–122).

III 1923 gründete Leonard Nelson das Landeserziehungsheim Walkemühle in der Nähe der hessischen Kleinstadt Melsungen. Die Leitung der 1924 eröffneten Schule übernahm seit 1925 und bis zur Schließung durch die nationalsozialistischen Behörden im März 1933 Minna Specht, die engste Weggefährtin Nelsons. Heckmann trat 1927 – nach dem Abschluß des Mathematik-, Physik- und Philosophiestudiums, der Promotion in Physik bei Max Born und dem 2. Staatsexamen – als Lehrer in die Schule ein und gewann hier seine ersten Erfahrungen mit der Leitung sokra­ tischer Lehrgespräche im Mathematik- und Philosophieunterricht. Die Schule hatte eine Abteilung für junge deutsche und ausländische Erwachsene und eine Abteilung für Kinder. Die Erwachsenen waren junge Sozialisten, die sich in der Regel für drei Jahre aus ihrer Berufsarbeit und ihrem Privatleben lösten, um nach dem philosophisch-politischen Kursus in der Arbeits- und Lerngemeinschaft der Walkemühle, deren Lebensstil dem einer sozialistischen Kleinkommune ähnlich gewesen zu sein scheint, wieder ihre haupt- oder nebenamtliche politische Arbeit in Gewerkschaften und sozialistischen Parteien fortzuführen, vor allem in dem 1926 von Nelson und einigen seiner Mitstreiter gegründeten Internationalen Sozialisti­ schen Kampfbund (ISK). Neben dieser kontinuierlichen pädagogischen Arbeit in der Kinder- und der Erwachsenenabteilung wurden in jedem Jahre zehntägige Kurse durchgeführt, vor allem für leitende Mitarbeiter in dem bereits 1917 von Nelson gegründeten Internationalen Jugendbund. Außerhalb der Nelsonianer muß das Landerziehungsheim Walkemühle heute als fast vergessen gelten, und selbst in der Pädagogik der Weimarer Zeit scheint diese Internatsschule aus dem Geiste eines ethisch begründeten Sozialismus auch in der Pädagogik kaum beachtet worden zu sein. Keine der bekannteren älteren oder jüngeren Darstellungen der Reformpädagogik, auch keine der spezielleren Arbeiten über die Landerziehungsheimbewegung nennt, soweit ich sehe, die Walkemühle, die meisten Gesamtdarstellungen der neueren Geschichte der Pädagogik erwähnen sie so wenig wie die Pädagogik Nelsons und der Nelsonianer überhaupt; Ausnahmen bilden hier die Bildungsgeschichte Heinz-Joachim Heydorns (Heydorn 1979, S. 264–268) und die 1982 erschienene „Geschichte der Pädagogik“ von Herwig Blankertz (Blankertz 1982).

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Nun haben wir aus dem Nelsonkreise selbst einige kleinere Darstellungen des pädagogischen Versuches „Walkemühle“, z. T. sehr lebendige, biographisch akzentuierte Erinnerungen ehemaliger Kursteilnehmer (in: Becker/Eichler/Heckmann 1960 und Horster/Krohn 1983)3, darüber hinaus eine recht ausführliche, aber fast unbekannt gebliebene Gesamtcharakteristik von Günter Sobisiak in seinem Buch „Kriterien der Schul-Wirklichkeit“ aus dem Jahre 1973 (Sobisiak 1973); diesem Beitrag war – für den Bereich der Erwachsenenbildungskurse – bereits 1964 eine Analyse innerhalb der großen Untersuchung Werner Links über die Geschichte des Internationalen Jugendbundes und des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes vorangegangen (Link 1964). – Insgesamt klären diese Darstellungen wichtige Aspekte der Zielsetzung und der inhaltlichen Akzente auf und vermitteln perspektivisch lebendige Teilvorstellungen von der Erziehungs- und Unterrichtsarbeit und der pädagogischen Atmosphäre der Walkemühle: • Beziehungen zu Lietz und dessen Landerziehungsheim-Pädagogik werden deutlich, obwohl Nelson schon in der Vorweltkriegs- und Weltkriegsphase, in der man ihn als liberalen Internationalisten bezeichnen kann, dem bürgerlichen Patriarchialismus und Nationalismus Lietz‘ fernstand, noch entscheidender aber, politisch und auch pädagogisch, seit Nelsons Entwicklung zum ethischen Sozialisten in den letzten Weltkriegsjahren; • wir erfahren von der Kargheit der äußeren Lebensbedingungen, den Prinzipien des Vegetarismus und der Abstinenz von Nikotin und Alkohol; • von den hohen Anforderungen charakterlicher Bewährung in der beziehungsintensiven Gemeinschaft der Erwachsenenabteilung, in der doch auch Spannungen und Konflikte nicht ausbleiben konnten; • von der Intensität der pädagogischen Beziehungen Minna Spechts zu den Kindern und der Qualität des Unterrichts; • von Nelsons gelegentlichen Besuchen in der Walkemühle und den von ihm dann geleiteten sokratischen Gesprächen; • von der für die Erwachsenenkursteilnehmer oft unerwarteten Beanspruchung durch praktische, handwerkliche, gärtnerische und landwirtschaftliche Arbeiten in den ersten Monaten der Kurse und

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Vgl. Hanna Bertholet: Gedanken über die Walkemühle. – René Bertholet: Die Probleme schreckten uns nicht mehr. – Allan Flanders: Constant Adventure. Alle in: Becker/Eichler/Heckmann 1960, S. 269–286, 317–322, 323–328 bzw. 405–408. – Alexander Dehms: Leonard Nelson und die „Walkemühle“. In: Specht/Eichler 1953, S. 265–269. – Mascha Oettli: Vier Jahre in der Walkemühle – ein Versuch und ein Wagnis. In: Horster/Krohn 1983, S. 83–87.

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• dem z. T. ebenso unerwarteten Umfang des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts während des ersten Kursjahres, eines Unterrichts, der als Schulung präzisen Beobachtens, logischen Denkens und exakten Sprechens verstanden wurde, bevor dann im zweiten und dritten Kursjahr Probleme der Volkswirtschaft, der Geschichte, der Politik und der Philosophie ins Zentrum rückten; • wir hören von wirtschafts- und gesellschaftskundlichen Exkursionen und Praktika und • von den im Anschluß an Lietz sogenannte „Kapellen“, jenen regelmäßigen Abendveranstaltungen, in denen sich die Hausgemeinschaft – aktiv oder in konzentrierte Rezeption – mit Musik, Literatur, Kunstbetrachtung und Laienspiel beschäftigte. Gleichwohl: Eine differenzierte pädagogische Gesamtanalyse des Landerziehungsheims Walkemühle ist m. E. immer noch eine offene, lohnende Aufgabe, nicht nur unter historischem Aspekt, sondern auch angesichts des heute neu erwachten Inter­ esses an Alternativen zur üblichen Schule, die dann, wenn ihnen die Chance zur Ausbildung einer jeweils charakteristischen pädagogischen Gestalt eröffnet würde, auch anregend auf das öffentliche, staatliche Schulwesen zurückwirken könnten. Ist es übrigens abwegig, die Frage zu stellen, warum es in der Bundesrepublik neben Waldorf-Schulen aus dem Geist der Anthroposophie Rudolf Steiners, katholischen Internatsschulen und Gesamtschulen, evangelischen Genossenschaftsschulen usf. nicht auch heute wieder eine oder einige Schulen aus dem Geist des freiheitlich-demokratischen Sozialismus geben sollte? – Die hier als Desiderat bezeichnete Gesamtdarstellung des Landerziehungsheims Walkemühle müßte m. E. den Zusammenhang zwischen der pädagogischen Konzeption und der Praxis, die Gemeinsamkeiten und die sehr deutlichen Unterschiede zwischen dem äußerst freien pädagogischen Stil, der die Arbeit in der Kinderabteilung kennzeichnete, und der ethischen und intellektuellen Strenge der Anforderungen in der Erwachsenenabteilung interpretieren, etwaige Entwicklungen des Theorie-Praxis-Zusammenhanges während der neunjährigen Arbeit aufhellen und vor allem dem Problem nachgehen, wieweit wirklich ein stringenter Zusammenhang zwischen Nelsons philosophisch begründeter theoretischer Pädagogik und seiner Politiktheorie einerseits und der praktischen Arbeit der Nelson-Schüler in der Walkemühle andererseits bestanden hat. Vor dem bisher umrissenen Hintergrund soll im folgenden eine bestimmte Problemperspektive präzisiert werden. Wir fragen zunächst nach der Wirkung des kurzen Versuchs Walkemühle. – Die Erwachsenenkurse wurden bereits 1931 geschlossen, der Absicht nach als

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vorübergehende Maßnahme, weil sowohl Minna Specht und Gustav Heckmann als auch die meisten damaligen Kursteilnehmer es als dringlicher ansahen, angesichts des anwachsenden Nationalsozialismus sei es publizistisch, sei es direkt in der Gewerkschaftsarbeit oder in sozialistischen Parteien tätig zu werden und eine Abwehrbewegung aller linken und linksliberalen politischen Gruppen und Parteien gegen den Nazismus zusammenzubringen. Wir wissen, daß diesem Versuch kein Erfolg beschieden war. Werner Link hat in dem bereits erwähnten Buch jenen Versuch detailliert dargestellt und die Gründe des Scheiterns aufgewiesen (Link 1964, S. 146–171). Nach der Machtübernahme des Nationalsozialismus mußten viele der Nelson-Schüler ins Exil gehen, z. T. zuerst nach Dänemark oder Frankreich, dann nach England; andere haben in Deutschland oder im Ausland, vor allem nach der Besetzung Frankreichs, der Benelux- und der skandinavischen Länder, im Widerstand gearbeitet. Sicherlich trifft Gerhard Weissers Feststellung voll zu, daß „kein deutscher Philosoph unseres Jahrhunderts so viele Schüler wie Leonard Nelson“ gehabt hat, „die im Kampfe gegen den Nationalsozialismus schwere und schwerste Opfer brachten.“4 Diejenigen unter den Nelson-Schülern, die zuletzt in England Asyl fanden und in besonderem Maße pädagogisch bzw. bildungspolitisch interessiert waren – so, um nur einige Namen zu nennen, Willi Eichler, Grete Henry-Hermann, Minna Specht und Gustav Heckmann – haben dann seit 1943 maßgeblich an den Bemühungen der englisch-deutschen Pädagogengruppe „German Educational Reconstruction“ (vgl. Pakschies 1979, S. 80–130) mitgewirkt und dort, wie der Name dieses locker organisierten Kreises bereits signalisiert, Pläne und Perspektiven für den Wiederaufbau des deutschen Erziehungswesens nach dem erhofften Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur entwickelt. 1945 oder 1946 sind jene Nelson-Schüler dann nach Deutschland, genauer: in die Westzonen zurückgekehrt und haben in wichtigen pädagogischen und bildungspolitischen Funktionen, parteipolitisch meistens in der SPD, ihre Erfahrungen und ihre Kraft in die Bemühungen um eine demokratische Entwicklung Deutschlands eingebracht, gewiß mit weitaus größeren Hoffnungen auf die Entfaltung und die erfolgreiche, auf einsichtige Überzeugung gegründete Verwirklichung eines konsequent demokratischen Sozialismus, als sie sich bis heute haben realisieren lassen. – Stichwortartig sei hier auf einige der wichtigsten Tätigkeitsfelder jener vier Nelson-Schüler, die vorher bereits stellvertretend genannt wurden, hingewiesen. Minna Specht übernahm ab 1946 bis 1951 die Leitung der Odenwald-Schule, in der sie zwar die Konzeption der Walkemühle nicht direkt fortzusetzen vermochte, 4 Verlagsprospekt des Felix Meiner Verlages zur Edition „Leonard Nelson: Gesammelte Schriften in neun Bänden“. Prospekt 1970, S. 2.

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die seither aber zu einer der interessantesten Reformschulen der Bundesrepublik geworden ist. – Seit 1951 war sie im Hamburger UNESCO-Institut für Pädagogik tätig und danach beratend in der Vereinigung der deutschen Landerziehungsheime. Willi Eichler, bis zum Tode Nelsons im Jahre 1927 sein Mitarbeiter und Sekretär, wurde Landtagsabgeordneter in Nordrhein-Westfalen, Bundestags- und Europaratsabgeordneter der Sozialdemokratischen Partei, vor allem aber Leiter des Kulturpolitischen Ausschusses der SPD, maßgeblicher Mitgestalter der gesamtpolitischen Programmatik der Partei und in diesem Rahmen das bildungspolitisch engagierteste Mitglied des Parteivorstandes. Grete Henry-Hermann wurde Professorin an der Pädagogischen Hochschule Bremen, Leiterin der Pädagogischen Hauptstelle der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und später Mitglied des Deutschen Ausschusses für das Erziehungsund Bildungswesen und in dieser Funktion eine der entscheidenden Vertreterinnen der Förderstufenkonzeption, und zwar in einem über die Kompromißlösung des sogenannten Rahmenplans vom Jahre 1959 hinausreichenden Sinne. Gustav Heckmann schließlich wirkte seit 1946 als Professor für Philosophie und Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Hannover. Er war 1947–1953 Vorsitzender des Niedersächsischen Lehrerverbandes, der sich 1948 innerhalb der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerinnen- und Lehrerverbände (ADLLV) dem Deutschen Gewerkschaftsbund anschloß. Heckmann gehörte dann maßgeblich zum Initiativkreis des niedersächsischen Schulversuchs „Differenzierter Mittelbau“. Dieser seit 1948 durchgeführte, zuletzt an 16 niedersächsischen Schulen laufende Schulversuch, der eine Teilintegration von Volksschuloberstufe und Gymnasium in den Klassen 5–8 in einem Kern-Kurs-System vollzog, wurde trotz nachgewiesenermaßen erfolgreichem Verlauf 1964 vom damaligen niedersächsischen Kultusministerium beendet (Schittko in: Horster/Krohn 1983, S. 183–192). Er ist, schulgeschichtlich gesehen, eines der Bindeglieder zwischen dem weitreichenden, nie verwirklichten Konzept einer „Elastischen Einheitsschule“ im Sinne der Entschiedenen Schulreformer der Weimarer Periode, den weitaus bescheideneren Integrationsansätzen einiger Reformgruppen und weniger Bundesländer in den ersten Jahren nach 1945 und der Gesamtschulentwicklung seit dem Ende der 60er Jahre, die allerdings inzwischen, im Zuge einer allgemeinen schulpolitischen Stagnation und teilweisen Restauration, bereits wieder massiven Widerständen und Restriktionen ausgesetzt ist. – 1956 übernahm Heckmann als Nachfolger Arno Kosellecks für zweieinhalb Jahre das Rektorat der damaligen Pädagogischen Hochschule Hannover.5 Bis zum erreichten Punkte meiner historischen Skizze, die bei der Gründung der Walkemühle im Jahre 1923 ihren Ausgang nahm, könnte der Eindruck ent5 Von 1956 bis 1959 war ich Assistent Gustav Heckmanns.

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standen sein, als zeichne sich – im Sinne der Forderung Gustav Heinemanns – eine eindeutige Aufgabe ab: die Aufgabe nämlich, die Leistungen der Nelson-Schule deutlicher, als es bisher gelungen ist, in eine Geschichte freiheitlich-demokratischer Ideen und Bestrebungen im Rahmen der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts und speziell der Erziehungsgeschichte einzuzeichnen. Indessen: Die Problemlage ist komplizierter. Denn innerhalb des Nelsonschen Lebenswerkes, aus dem seine Schüler so entscheidende Impulse für pädagogische und politische Lebenswege und jene Leistungen gewannen, die man als unverlierbaren Beitrag zur Entwicklung freiheitlich-demokratischer gesellschaftlich-politischer Verhältnisse und einer freiheitlich-demokratischen Erziehung betrachten muß, findet sich als ein keineswegs beiläufiges, vielmehr zentrales Moment eine kompromißlose Demokratie-Kritik, die auch eine radikale Kritik daran einschloß, daß die Sozialdemokratie vor wie nicht zuletzt nach 1918 an der Überzeugung der unauflösbaren, wechselseitigen Bedingtheit von freiheitlichem Sozialismus und demokratischer Staatsform festhielt. – Es ist an dieser Stelle ausgeschlossen, jenen Argumentationsgang auch nur in seinen Grundlinien zu rekonstruieren, den Nelson in seinem 1924 veröffentlichten Werk „System der philosophischen Rechtslehre und Politik“ (Nelson 1976, Bd. VI) entwickelt hat und der ihn u. a. zu jener Ablehnung der demokratischen Staatsform, der verfassungsmäßigen Sicherung der Konkurrenz verschiedener politischer Parteien, der Prinzipien der Gewaltenteilung und der zeitlich jeweils begrenzten Anerkennung von Mehrheitsentscheidungen, ja selbst des allgemeinen Wahlrechts und damit der gleichberechtigten politischen Mitentscheidungsmöglichkeit jedes erwachsenen Bürgers führte: Nelson hat diese Position dann bis in sein Todesjahr 1927 hinein in verschiedenen weiteren Publikationen, z. B. in radikal-polemischen Schriften im Zusammenhang aktueller politischer Auseinandersetzungen, verfochten (vgl. Nelson 1972, Bd. IX). Dem Demokratieprinzip stellte Nelson den politischen Führungsanspruch einer „Partei des Rechts“ und innerhalb ihrer einer Führungsgruppe der „Weisen“, der „hinreichend Gebildeten“, d. h. „Einsichtigen und Rechtliebenden“ entgegen, mit ausdrücklichem Bezug auf Platos Idee der Herrschaft der Philosophie in einem idealen Staate. Basis der Nelsonschen Vorstellung war die in seiner philosophischen Rechtslehre entwickelte Grundthese, es sei – in regressiv-analytischem philosophischem Denken – ein allgemeingültiges Rechtsprinzip, die Idee der Gerechtigkeit, aufweisbar, die inhaltlich als Maxime des gleichen Anspruchs aller auf Befriedigung ihrer wahren Interessen ausgelegt wird. Zwar reichen die von dieser Basisidee aus entwickelten Deduktionen Nelsons für die Wirtschafts-, Sozial- und Kulturpolitik nicht bis zur Ableitung von konkreten Entscheidungen für je besondere, historisch-politisch einmalige Situationen und Fälle. Aber Nelson unterstellte, daß die philosophisch begründete Rechtsidee und jene deduktiven

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Ableitungen eindeutige Kriterien ergäben, die im konkreten Fall – mit Hilfe, wie es bei ihm, freilich vieldeutig, heißt, „wissenschaftlichen Denkens“ – zu richtigen, d. h. eben philosophisch begründeten rechts-, wirtschafts-, sozial-, kultur-, erziehungspolitischen Entscheidungen führen würden. – So glaubte er sich vor die Wahl zwischen Demokratie und Rechtsstaat gestellt: „Erheben wir“, so heißt es noch in seiner Schrift „Demokratie und Führerschaft“ aus dem Jahre 1927, „den Willen der Mehrheit zum obersten Gesetz, so dürfen wir nicht erwarten oder gar verlangen, daß im Staat die Gerechtigkeit zur Herrschaft kommt. Wollen wir dagegen die Durchführung der Gerechtigkeit im Staat, so müssen wir uns der Regentschaft des für dieses Amt hinreichend Gebildeten und Rechtliebenden unterwerfen … Entweder, es gibt überhaupt ein Ideal des Rechts für die Gesellschaft. Dann soll der Staat ihm gemäß regiert werden, unabhängig davon, ob sich eine Mehrheit findet, deren Willen auf dieses Ideal gerichtet ist. Ober aber, es gibt kein solches Rechtsideal für die Gesellschaft. Dann kann auch die Demokratie kein solches sein.“ (Nelson 1972, Bd. IX. S. 395) In verschiedenen Beiträgen, die z. T. außerhalb des Nelson-Kreises entstanden, z. T. aber von Nelson Schülern selbst vorgelegt wurden, sind die uneingestandenen, Nelson gar nicht bewußten, jedenfalls nicht offengelegten, dabei durchaus problematischen Prämissen und die Brüche in der Logik der Argumentationen herausgearbeitet worden, die jenes frappierende Umschlagen einer Philosophie zur Folge hatten, die – mit der Anerkennung des Rechtsgedankens, des Gleichheitsprinzips im Anspruch auf Interessenbefriedigung aller und zugleich mit dem Widerspruch gegen jede Form von Ausbeutung, Privilegierung, Herrschaft von Menschen über Menschen qua Tradition, Macht, Besitz, schließlich mit ihrem Postulat der argumentativen Begründung von Entscheidungen und Handlungen – den inhaltlichen Bestimmungen des Demokratie- bzw. des Demokratisierungsprinzips so nahe zu stehen scheint, in eine vehemente Ablehnung demokratischer politischer Formen. Nicht zuletzt Gustav Heckmann hat solche Irrtümer und unausgewiesenen, höchst fragwürdigen Voraussetzungen der Demokratiekritik seines Lehrers in dem Aufsatz „Leonard Nelsons Kampf um die Rationalität“ aus dem Jahre 1973 (Heckmann 1973) aufgehellt. Übrigens war es im Kern diese Gegnerschaft Nelsons gegen demokratische politische Formen, die 1925 auf seiten der SPD dazu führte, die bisher innerhalb der Partei aktiven Mitglieder des Internationalen Jugend-Bundes auszuschließen, eine Entscheidung, die Nelson und einige seiner Anhänger im folgenden Jahre mit der Gründung des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes als selbständige politische Partei beantworteten. Mag der Internationale Kampfbund auch nach der Zahl seiner Mitglieder und Anhänger und nach dem faktischen Gewicht im Gesamtzusammenhang der politischen Entwicklung der Weimarer Republik seit

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1926 eine Randerscheinung geblieben sein, im historischen Rückblick verfolgt man mit Betroffenheit und Bedauern die polemischen Attacken zwischen der SPD und dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund, aber z. T. auch zwischen dem Bund und der Kommunistischen Partei Deutschlands – Symptome einer auch nach Nelsons Tod fortwirkenden Zersplitterung innerhalb jener Gruppierungen, die – wenn überhaupt – dem nach 1928 schnell anwachsenden Nationalsozialismus hätten wirksam entgegenwirken und seine spätere Machtübernahme vielleicht verhindern können. Wenn nun aber zutrifft, daß nicht zuletzt aus der Nelson-Schule nach 1933 engagierte Vorbereiter und nach 1945 maßgebliche Mitträger eines demokratischen Neuaufbaus in Deutschland hervorgegangen sind, dann stellt sich die Frage: Seit wann, wie und durch welche Erfahrungen, Reflexionen, Einsichten hat sich jene Abkehr der Nelson-Schüler von der anti-demokratischen Position ihres Lehrers, jene kritische Revision der entsprechenden Theoreme entwickelt? Gerade den Pädagogen muß nicht nur die Kritik einer problematischen Theorie bzw. problematischer Theoriepassagen interessieren, sondern auch jener Prozeß der Entwicklungen und Wandlungen des Bewußtseins von Personen, in denen theoretisch fundierte Überzeugungen Gestalt gewinnen und zu Motiven ihres Handelns werden.6 6







Mit Zustimmung Gustav Heckmanns zitiere ich eine Stelle aus einem an mich gerichteten Brief vom 16.7.1983, in dem er auf die Frage eingeht, „welche Gründe die Nelsonianer zu einer positiven Haltung der Demokratie gegenüber gebracht haben“: „Ich glaube, dieser Sinnesänderung liegt zugrunde eine Erfahrung, die Nelson im Deutschland von Weimar nicht hat machen können (auch wir, seine Schüler, nicht), die eine Reihe seiner Schüler gemacht haben in Ländern wie England, Dänemark, Frankreich: in einer Gesellschaft zu leben, die von Toleranz geprägt ist; in der die Menschen die andere Auffassung des anderen achten; in der man erfährt, daß solche Toleranz ein Wert ist, das Zusammenleben menschlicher macht. In einer solchen Gesellschaft wird Demokratie mehr als das formale Prinzip der Mehrheitsentscheidung. Die demokratischen Institutionen sind die einer Gesellschaft der Toleranz angemessenen Verfahren politischer Entscheidung. Eichler hat in seiner Arbeit in England – in der BBC, wo er an Sendungen für Deutschland arbeitete während des Krieges – erfahren, es wurde im bewußt, daß die Demokratie, die in England unsere Lebensluft war, etwas ganz anderes ist, als das, was Nelson kritisiert hat und was wir in der Weimarer Republik erfahren haben. Nelson hat auch nie eine von Toleranz geprägte Gesellschaft erfahren. Für ihn war Toleranz nur ein ‚Ausfluß der Überzeugungslosigkeit und Heuchelei‘. Er hatte seine ganze geistige Energie aufzubieten, um gegen den Zeitgeist ‚Alles ist relativ‘ den Glauben an eine sittliche Wahrheit zu verteidigen – wie Sokrates gegen denselben, von den Sophisten repräsentierten Zeitgeist. Und Sokrates sah in der Demokratie nur, was Nelson in ihr sah: In der ‚Apologie‘ erzählt er, daß er sich in einer Versammlung blamierte, ‚weil ich das Abstimmenlassen nicht verstand‘. Welche Werte das politische Weltbild eines Menschen bestimmen, hängt davon ab, welche ihm in seiner Erfahrung in den Blick gekommen sind, welche er konkret erfahren hat.

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IV Seit den ausgehenden 50er Jahren bilden die Friedensproblematik, die Frage nach dem Sinn oder der Verfehltheit atomarer Aufrüstung und nach Alternativen zu den bisher bekannten und international praktizierten Formen militärischer Verteidigungsvorbereitung einen weiteren Standpunkt in Heckmanns Denken und in seinen Publikationen, deren Zahl insgesamt begrenzt geblieben ist, die sich aber immer durch eine ungewöhnliche gedankliche Intensität, durch die unbeirrbare Konsequenz auszeichnen, mit der die Wahrheitsfrage verfolgt wird, meistens als Frage nach ethischer Wahrheit, nach vernunftgemäßen Entscheidungskriterien angesichts menschlicher Problemsituationen. Auch mit der Friedens- und Verteidigungsproblematik setzte Heckmann gedankliche Ansätze Leonard Nelsons fort, der schon im Ersten Weltkrieg, vor allem aber seit 1918 allen militaristischen, nationalistischen, imperialistischen Tendenzen entgegen die Idee des Völkerbundes, der Realisierung einer internationalen Rechtsund Friedensordnung mit größter Entschiedenheit verfochten hatte (Nelson 1972, Bd. IX; Knigge 1974). Die Brisanz der Kriegs- bzw. der Friedensproblematik ist freilich im Atomzeitalter ungleich größer geworden, als Nelson es in seiner Zeit ahnen konnte. Den Hintergrund jener Diskussionen, in die Gustav Heckmann sich 1959 und 1960 mit entsprechenden Beiträgen in der Zeitschrift „Die Sammlung“ (Heckmann



Mitbestimmung ist ein Wert, der Nelson nicht in den Blick gekommen ist. In einer Formulierung des amerikanischen SDS (Students for a Democratic Society) heißt es: Alle, die von einer Entscheidung betroffen werden, sollen am Zustandekommen dieser Entscheidung mitwirken. Das ist unmöglich, sowohl wegen der physischen Gegebenheiten als auch von den Anforderungen der Sache her, über die entschieden wird. Lehrerstudenten können nicht wissen, was sie können müssen, um in der Schule ihre Arbeit zu leisten. Und doch können sie sinnvoll in mancher Hinsicht ihre Interessen einbringen in die Entscheidungen, die eine PH über das Studium trifft. Wenn das geschieht, dann ist das eine Entscheidungsstruktur von höherem Niveau, mehr vernünftiger Selbstbestimmung entsprechend, als führerschaftlich von der Sachaufgabe richtig abgeleitete Entscheidungen. Ich habe diesen Wert der Mitbestimmung aller Beteiligten an unserer PH erfahren. Ich könnte ihn so formulieren: Je mehr in einer politischen Ordnung die von den Entscheidungen Betroffenen an den Entscheidungen mitwirken, da, wo dies sinnvoll möglich ist, desto mehr Demokratie enthält diese politische Ordnung. Diesen Wert der Mitbestimmung hat Nelson nicht in den Blick bekommen. Eichler hat ihn einmal zum zentralen Thema seines Wahlkampfs gemacht. Wie wichtig dieser Wert ist, zeigt sich auch daran: je mehr Demokratie, im soeben definierten Sinne, eine politische Ordnung enthält, desto bessere Voraussetzungen haben die in dieser Ordnung lebenden Menschen, ihre Ordnung ohne tötende Waffen zu verteidigen, nach dem Beispiel der Norweger.“

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1959) und in der Festschrift für Minna Specht (Becker/Eichler/Heckmann 1960) einschaltete, bildeten die politischen Auseinandersetzungen, die seit etwa 1956 um die Frage geführt wurden, ob die im Aufbau befindliche Bundeswehr nun auch mit amerikanischen Atomwaffen ausgerüstet werden sollte und ob die Bundesrepublik, die an ihrem 1954 in den Pariser Verträgen erklärten Verzicht auf die Herstellung eigener Atomwaffen festhielt, in irgendeiner Form doch mindestens an der Verfügung über das amerikanische Atomwaffenpotential innerhalb der Nato beteiligt werden sollte. – Im April 1957 erschien die berühmte Göttinger Erklärung von 18 namhaften deutschen Atomwissenschaftlern – darunter dem Physiker Max Born, neben Nelson Gustav Heckmanns wichtigstem akademischem Lehrer –, eine Erklärung, in der die Unterzeichner jede Beteiligung an der Herstellung und Erprobung von Kernwaffen oder an entsprechenden wissenschaftlichen Forschungen ablehnten, um damit zugleich ein Signal für weitere Wissenschaftlergruppen zu setzen. Kurz danach rief Albert Schweitzer zur Einstellung aller Kernwaffenversuche auf. Diese Appelle lösten bekanntlich in der Bundesrepublik eine breite öffentliche Bewegung gegen Atomwaffenproduktion und die Atomkriegsgefahr in weltweitem Maßstabe aus, und diesen bundesrepublikanischen Aktivitäten liefen schon damals internationale Anti-Atomkriegs-Bestrebungen parallel, die sowohl von einzelnen Politikern oder Politiker-Gruppen als auch von Initiativen wie etwa den internationalen Pugwash-Konferenzen getragen wurden. Insgesamt handelt es sich um Vorläufer jener jüngeren Friedensbewegung, wie sie seit einigen Jahren als Protest- und Alternativbewegung im Westen und – wenngleich erst in Anfängen – auch im Osten aufgebrochen sind. Gustav Heckmann hat das Friedens- und Verteidigungsproblem schon am Ende der 50er Jahre in einer gedanklich radikalen, d. h.: an die Wurzel gehende Weise zu reflektieren begonnen, und zwar in einer Akzentuierung, die man – einmal mehr – sokratisch nennen darf: Das Friedens- und Verteidigungsproblem ist für ihn im Kern ein ethisches Problem; seine ethische Problematik reicht über die aktuelle Gefahr der Vernichtung der Menschheit in einem eskalierenden Atomkrieg hinaus und betrifft das Phänomen des Krieges, der physischen Vernichtung von Menschen, die zu Feinden erklärt werden, überhaupt; aber erst die Atomkriegsgefahr bringt diese generelle Problematik in ihren Konsequenzen in aller Schärfe ans Licht. Heckmanns Beiträge – „Umdenken – Zur Diskussion über das Problem der Verteidigung“ vom Jahre 1959 und „Satyagraha – Gandhis Wehrhaftigkeit“ (Heckmann in: Becker/Eichler/Heckmann 1960) – zielen darauf, anläßlich der Atomkriegsgefahr die bisher dominierenden Auffassungen und Einstellungen zum Krieg, auch zum Verteidigungskrieg, in Frage zu stellen und einen Prozeß des Umdenkens in Gang zu setzen, der wirklich „an die Wurzel geht“. Hier können nur einige Grundgedanken angedeutet werden, Überlegungen, die Heckmann vor allem der Auseinanderset-

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zung mit Mahatma Gandhis Konzeption einer keinesfalls völlig gewaltfreien, aber nicht physisch-verletzenden, dabei durchaus aktiven Einsatzbereitschaft für Recht, Humanität, Freiheit, Selbstbestimmung verdankte; dieses Konzept hat Gandhi bekanntlich im Freiheitskampf der Inder gegen die englische Kolonialherrschaft entwickelt und praktiziert. Das zugrundeliegende Prinzip Heckmanns ist der in der Nelson-Nachfolge festgehaltene Gedanke eines Rechts- und Friedenszustandes, der jedem Menschen, jedem Volk, jedem Staat die Befriedigung seiner Interessen, seiner Wertvorstellungen und Lebensformen gestattet, soweit sie mit der Anerkennung des gleichen Rechtes aller anderen vereinbar sind. Heckmann unterstellt nun keineswegs, daß die Deklaration eines solchen Zieles als solche eine die Wirklichkeit verändernde Wirkung haben werde, er unterstellt auch nicht, daß – gäbe es eine konsequente Entscheidung eines Staates oder größerer Bevölkerungsgruppen gegen jede Form von herkömmlicher militärischer Verteidigung, d. h. die Entscheidung zum Verzicht auf die Anwendung von Waffen nicht nur zum Angriff, sondern auch zur Verteidigung –, eine solche Entscheidung direkt Frieden garantieren und einen potentiellen Angreifer von aggressiven Zielen und Maßnahmen abhalten könnte. Er unterstellt vielmehr durchaus die Möglichkeit, daß auch ein hypothetisch gedachter, konsequent entmilitarisierter Staat durch einen anderen okkupiert werden könnte, und er räumt ein, daß eine sich ohne Anwendung physisch verletzender Mittel für humanitäre, friedliche Ziele einsetzende Bewegung innerhalb eines Staates unter Einsatz von physischen Gewaltmitteln bekämpft werden könnte und würde. Angesichts dieser Möglichkeiten findet Heckmann in Gandhis Konzept aktiver Wehrhaftigkeit die überzeugendsten Wegweisungen für die Friedensbewegung der 60er Jahre und, so darf man extrapolieren, auch der 80er Jahre: „erstens die Entschlossenheit, … Unrecht nicht hinzunehmen; zweitens die Selbstbeherrschung, sich jeder Verletzung von Körper und Person des Gegners zu enthalten; drittens die Tapferkeit im Auf-sich-Nehmen eigenen Leidens“ (Heckmann in: Becker/ Eichler/Heckmann S. 183).

Eine solche Position war und ist, 1959/60 so sehr wie heute, gleich weit entfernt von der fanatisierenden Parole „Lieber tot als rot“, aber auch – wie Heckmann ausdrücklich dargelegt hat – von Karl Jaspers‘ 1958 vorgelegtem Versuch (Jaspers 1958) und allen ähnlichen Argumentationen früher und später, die Möglichkeit eines Atomkrieges, wenngleich als ultima ratio, zu rechtfertigen, um der befürchteten endgültigen Auslöschung von Menschlichkeit und Freiheit durch totalitäre Systeme widerstehen zu können, wie schließlich von jeder Verharmlosung von Unterdrückung, Rechts- und Freiheitsbeschränkungen auch in den sogenannten sozialistischen Systemen gestern und heute. Heckmanns an Gandhi orientierte

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Auffassung basiert auf der Überzeugung, daß allen Menschen Vernunftfähigkeit und Ansprechbarkeit des Gewissens potentiell mitgegeben sind und daß – gelänge die Erziehung großer Menschengruppen zu gewaltfreier, aber aktiver Einsatz- und Widerstandsfähigkeit für die Freiheit und Humanität – auf die Dauer auch die ausübenden Organe aggressiver staatlicher Gewalt oder einer fremden Okkupationsmacht der Überzeugungskraft, dem Widerstandswillen und dem leidensfähigen, humanen Engagement für eine menschliche, friedliche Welt eintretender Massen nicht standhalten könnten. Solche Gedanken sind ohne Zweifel utopisch, indessen nicht im Sinne illusionärer Hirngespinste, sondern im Blochschen Sinne: als Vor-Griffe, Perspektiven auf das mögliche Bessere, auf das wir hinarbeiten könnten und sollten. Solche Überlegungen kann man aber, will man ehrlich vor sich selbst und gegenüber anderen sein, nicht einmal referieren, ohne sich einzugestehen, wie beunruhigend hoch der ethische Anspruch ist, dem man sich stellen muß, wenn man mit der argumentativ mitvollzogenen Einsicht personal ernstmachen will. Und selbst bescheidene Schritte in Richtung einer Friedenserziehung der nachwachsenden Generation im angedeuteten Sinne verweisen uns darauf, daß wir sie nur in Verbindung mit einer aufrichtigen Selbsterziehung werden versuchen können.

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Gleichheit, Ungleichheit und Erziehung – ein Zentralproblem der Erziehungstheorie Schleiermachers 10 Gleichheit, Ungleichheit und Erziehung 10 Gleichheit, Ungleichheit und Erziehung

I Vorbemerkungen Hans-Jochen Gamms Pädagogik, die er als materialistische versteht, ist auch in ihrer theoriegeschichtlichen Dimension dialektisch angelegt: Obgleich – oder vielleicht treffender: gerade weil seine Pädagogik in ihren Zukunftsperspektiven auf die Überwindung „bürgerlicher“ bzw. „spätbürgerlicher Pädagogik“ gerichtet ist (Gamm 1972, 1983), insofern deren Denkhorizonte letztlich durch die Bedingungen kapitalistischer Produktions- und Reproduktionsverhältnisse und entsprechender gesellschaftlich-politischer Herrschaftsstrukturen begrenzt seien, dürfe das in der bürgerlichen Pädagogik Erarbeitete nicht abstrakt negiert, sondern müsse als historisches Erbe in der neuen Position „aufgehoben“ werden. Denn in ihren am weitesten entwickelten Varianten weise die Pädagogik der bürgerlichen Epoche über sich hinaus. In ihr selbst zeigten sich Ansätze zur Kritik jener ökonomisch-gesellschaftlich-politischen Bedingungen, denen sie gleichwohl unterworfen geblieben sei. Auffälligerweise habe nun die theoretische Pädagogik der bürgerlichen Welt schon im ausgehenden 18. und im beginnenden 19. Jahrhundert einen Höhepunkt erreicht, ein seither kaum wieder erreichtes Niveau aufklärender Erkenntnis und begründeter Entwicklungsperspektiven. „Der über mehrere Jahrhunderte erfolgte Formationsprozeß der bürgerlichen Klasse hat neben seiner unvergleichlichen ökonomischen Schubkraft, die sich schließlich gegen sich selbst kehrte, auch eine Freisetzung geistiger Potenzen bewirkt, die ihresgleichen in aller uns bekannten Geschichte nicht besitzen. Ihnen verdanken wir die Humanitätsidee, ein Bild vom Menschen und der ihn umschließenden Gattung in Hinsieht auf die Bestimmung der Geschichte. Im Zusammenhang mit dieser Idee entsteht jener eigentümliche pädagogische Freisprechungsprozeß, der dadurch charakterisiert ist, daß mit Hilfe der Bildung des Menschen zum Menschen eine menschenwürdige Zukunft als herstellbar erachtet wurde, in der jedes Individuum © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Klafki, Allgemeine Erziehungswissenschaft. Systematische und historische Abhandlungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23165-1_10

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seine Bedürfnisse sollte befriedigen können, sein Bild von der Gesamtheit der Individuen sollte zurückgespiegelt bekommen. Diesseitiges Glück wurde für möglich gehalten. Ein solcher universalistischer Anspruch in seiner Größe und Gefährdung hat in der Epoche der deutschen Klassik zwischen 1770 und 1830, die auch unter dem Namen Goethezeit begriffen wird, ihren einmaligen Ausdruck gefunden. In jener Epoche erreichte die Bildungstheorie ihren Gipfel“ (Gamm in: Winkel 1984, S. 43f.).

Insofern nimmt es nicht wunder, daß man in Hans-Jochen Gamms pädagogischen Werken auf zahlreiche Passagen stößt, in denen der Autor sich in kritisch-problemgeschichtlicher Perspektive jenes pädagogischen Erkenntniserbes vergewissert und es in seine weiterführenden Argumentationen integriert. Neben Rousseau, Herder, Kant, Pestalozzi, Goethe und Herbart ist es nicht zuletzt immer wieder Schleiermacher, der in solchen problemgeschichtlichen Rekursen als einer der bedeutenden Repräsentanten der Begründungsphase wissenschaftlicher Pädagogik und zumal der Bildungstheorie zur Sprache kommt.1 Das ist zweifellos darin begründet, daß Schleiermacher unter allen genannten Denkern derjenige ist, der den Zusammenhang von Pädagogik – als Praxis und Theorie – und Gesellschaft am intensivsten und differenziertesten, und zwar im Sinne einer im historischen Prozeß sich wandelnden Beziehung, erörtert und als eine der fundamentalen Strukturkomponenten seiner pädagogischen Theorie entfaltet hat. Man kann Schleiermacher durchaus als den Begründer oder mindestens als einen der wichtigsten Vorläufer einer historisch-sozialwissenschaftlichen pädagogischen Theorieentwicklung ansprechen (vgl. Winkel 1979, S. 8, 10f.). Hier kann diese Dimension der Pädagogik Schleiermachers in ihrem Zusammenhang mit seiner Ethik (Ethik 1981), in der er sittliche Praxis und sittliche Bewußtseinsbildung als einen universalgeschichtlichen Entwicklungsprozeß unter der regulativen Idee des „höchsten Gutes“, der vollkommenen Einung, der Synthesis von (außermenschlicher und menschlicher) Natur und Vernunft auslegte, und mit seiner fragmentarisch gebliebenen „Lehre vom Staat“ (SW III, Bd. 8; vgl. SW III, Bd. 2, S. 246ff.) nicht umfassend dargestellt werden. Ich konzentriere meine Betrachtung auf eine Komponente dieses komplexen Zusammenhanges, auf die Frage nach Schleiermachers Bestimmung der Aufgabe der Erziehung im Hinblick auf das Problem von Gleichheit und Ungleichheit der Menschen.2 Erziehungstheoretisch 1 Vgl. das Stichwort „Schleiermacher“ in den Namensregistern folgender Bücher H.-J. Gamms: 1979, S. 311; 1980, S. 214; 1983, S. 205; 1988, S. 188. 2 Das Problem ist insbesondere in der neueren Forschung zur Pädagogik Schleiermachers mehrfach in eingehenden Interpretationen behandelt worden, zum Teil extensiver, als es im hier gesetzten Rahmen möglich ist. Übereinstimmungen, veränderte Akzentsetzungen und – begrenzte – Abweichungen der von mir vertretenen Auslegung im Vergleich mit den vorliegenden Deutungen können hier nicht kommentiert werden.

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und erziehungspolitisch ist damit nicht nur für Schleiermacher, sondern nach wie vor eine zentrale, vielleicht die gravierendste Problemstellung bezeichnet, an der sich pädagogisch und politisch „die Geister scheiden“.

II

Zum historischen Stellenwert der Frage nach Gleichheit und Ungleichheit in der Erziehungstheorie Schleiermachers: Der Bezug zur Idee der Gleichheit in der Französischen Revolution

Wenn Schleiermacher der Frage nach Gleichheit oder Ungleichheit der Menschen als einem Zentralproblem der Bestimmung der pädagogischen Aufgabe in seiner Erziehungstheorie eine so bedeutende Rolle zuspricht, dann nimmt er damit offensichtlich eines der großen Themen der Französischen Revolution in seine erziehungstheoretischen Reflexionen auf. In besonderem Maße gilt für ihn, was Golo Mann im Hinblick auf die Mehrzahl der um 1770 geborenen Denker und Dichter der deutschen Klassik und Romantik betont hat: Wie immer sie, die als junge Männer die Revolution, mindestens ihre Ziele bejaht, ja z. T. emphatisch begrüßt hatten, sich später zu ihr stellen mochten, „ganz fort kamen sie nie von dem, was am Beginn ihres geschichtlichen Lehrganges gestanden hatte. Das hatten sie erlebt, das fuhren sie fort zu erleben, das gab ihnen Denkstoff ihr Leben lang“ (Mann 1958, S. 57; vgl. Stern 1928; Sünkel 1964, S. 16ff., 36ff.). Wir wissen, daß auch der junge Schleiermacher den freiheitlich-bürgerlichen Ideen der Französischen Revolution, wie sie etwa in der Erklärung der Menschenund Bürgerrechte vom August 1789 und in der Verfassung vom Jahre 1791 ausgesprochen wurden, nachdrücklich zugestimmt hat (Novak in: Selge 1985, S. 103ff.). Auch die Ablehnung der terroristischen Maßnahmen während der Jakobinerherrschaft – eine Kritik, die Schleiermacher seit 1792/93 mit fast allen deutschen Intellektuellen der Zeit teilte, sieht man von der kleinen Zahl deutscher Jakobiner ab – bedeutete für ihn keine prinzipielle Abkehr von den Ideen der Französischen Revolution. Das zeigt u. a. auch ein Brief an seinen Vater vom 14. Februar 1793, in dem er bekennt, daß er „die französische Revolution im ganzen genommen sehr liebe, freilich … ohne alles, was menschliche Leidenschaften und überspannte Begriffe dabei gethan haben, und was, wenn es sich auch in der Reihe der Dinge als unvermeidlich darstellen läßt, doch nicht als gut gebilligt werden kann, mit zu loben“ (Briefe 1, S. 107f.). Im Sinne einer vorläufigen Kennzeichnung kann man Schleiermachers politische Position als antidespotisch, antifeudalistisch bzw. anti-aristokratisch und

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gemäßigt-republikanisch bezeichnen. Diese Einstellung, die für Schleiermacher wie für etliche seiner liberal denkenden Zeitgenossen durchaus vereinbar war mit dem Votum für eine aufgeklärte Monarchie als repräsentative Spitze eines Rechts- und Kulturstaates, dessen innere Struktur auf dem Prinzip weitgehender Selbstverwaltung der Städte und Kommunen mit zunehmend aktiverer Beteiligung aller Bürger beruhen sollte. Ein weltoffener Volks- und Nationalstaat, orientiert auf friedliche, vertraglich gesicherte Zusammenarbeit mit anderen Staaten und repräsentiert durch einen liberal denkenden Monarchen, galt ihm in der damaligen historischen Epoche als optimaler politischer Rahmen, um Leitideen der Französischen Revolution – Freiheit und Gleichheit – in einem nach vorn hin offenen, prinzipiell unabschließbaren Prozeß in nicht-revolutionärer, evolutionär-reformerischer Weise zu verwirklichen (vgl. Sünkel 1964, S. 39ff.). Hier sei noch auf eine überraschende Beobachtung hingewiesen, die eingehender Überprüfung und Auslegung bedürfte: Wenn ich recht sehe, hat Schleiermacher die Frage nach Gleichheit und Ungleichheit der Menschen in keinem Teilbereich seines Gesamtwerkes, auch nicht in seiner Lehre vom Staat, ähnlich differenziert und engagiert erörtert wie in seiner Pädagogik, insbesondere in der Vorlesung des Jahres 1826.3

III

Schleiermachers Bestimmung der pädagogischen Aufgabe angesichts der Frage nach gesellschaftlicher und individueller Gleichheit oder Ungleichheit der Menschen – Rekonstruktion der Kernargumente aus der Vorlesung des Jahres 1826

Der Rang und die unverminderte Aktualität der Bemühung Schleiermachers um eine begründete theoretische und praktische Stellungnahme der Pädagogik angesichts der Frage nach Gleichheit oder Ungleichheit der Menschen erweist sich darin, daß er in seiner Erörterung der Verschränkung der individuellen Dimension des Problems mit der gesellschaftlich-politischen Dimension nachgeht. Dabei ist diese Sequenz der Erziehungstheorie Schleiermachers ein Paradebeispiel seiner

3 Ob Schleiermacher die großen Erziehungsprogramme der Französischen Revolution von Mirabeau, Condorcet oder Lepeletier gekannt hat, wissen wir nicht (vgl. Sünkel 1964, S. 16, Anm. 21). Es ist aber anzunehmen, daß ihm mindestens auf indirektem Wege einige der Kernideen, insbesondere die Forderung nach Einrichtung einer Stufe gleicher Elementarbildung für alle Kinder, bekannt waren.

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Methode dialektischer Argumentation. Ob seine „Lösung“ des Problems in jeder Hinsicht als stringent gelten kann, mag bezweifelt werden. Hingegen scheint mir der Differenzierungsgrad seiner Exposition der Struktur des Problems bis heute nicht übertroffen worden zu sein. Die hier beabsichtigte, knappe Rekonstruktion des Grundgedankens muß unter einen Vorbehalt gestellt werden: Das Problem „Erziehung angesichts der Frage nach Gleichheit und/oder Ungleichheit“ bezeichnet für Schleiermacher eine Grundfrage der Theorie der Erziehung innerhalb eines komplizierten Gefüges weiterer Fundamentalfragen. Dieses Gesamtgefüge, dessen lückenlose interpretative Nachzeichnung der pädagogischen Schleiermacherforschung überdies immer noch einige Rätsel aufgibt, kann hier nicht dargestellt werden; insofern kann ich auch den Stellenwert der Problematik von Gleichheit und Ungleichheit in diesem Gesamtgefüge nicht hinreichend verdeutlichen. Nur einige der Verflechtungen mit anderen Zentralfragen der Theorie der Erziehung können und müssen im vorliegenden Zusammenhang zur Sprache kommen. – Vorwiegend beziehe ich mich auf die entsprechenden Passagen der Vorlesung Schleiermachers vom Jahre 1826 (PS I, bes. S. 35–45).4 Schleiermacher formuliert das Problem von Gleichheit und Ungleichheit in dieser Vorlesung, die zweifellos die am weitesten entfaltete Stufe seines pädagogischen Denkens darstellt, im Rahmen seiner Überlegungen über die Zielbestimmung, über die Aufgabe der Erziehung. Diese Reflexionen aber erfolgen innerhalb der allgemeinsten historisch-gesellschaftlichen Basisbeziehung, die Schleiermacher

4 Um der angemessenen Einschätzung jedes Versuches willen, den Text der Erziehungslehre Schleiermachers zu interpretieren, muß einmal mehr an die Quellenlage erinnert werden: Bei dem Text der Vorlesung von 1826 handelt es sich um eine rekonstruierte Fassung aufgrund von vier Vorlesungsnachschriften und wenigen handschriftlichen Originalnotizen Schleiermachers, die dessen Schüler C. Platz erstmalig 1849 innerhalb einer Ausgabe mit dem Titel „Schleiermacher: Erziehungslehre“ veröffentlichte. (Diese Ausgabe enthält außerdem den Text der Vorlesung Schleiermachers „Zur Pädagogik“ aus dem Jahre 1813/14, der größtenteils dem entsprechenden Originalmanuskript Schleiermachers entspricht, sowie einige Aphorismen zu dieser Vorlesung, außerdem Auszüge aus der Pädagogik-Vorlesung vom Wintersemester 1820/21 aufgrund von Nachschriften und einigen Zetteln von Schleiermachers Hand.) Da das Originalmanuskript der Vorlesung vom Jahre 1826 bis heute nicht aufgefunden werden konnte, bildet die Rekonstruktion durch Platz die Grundlage aller späteren Ausgaben, auch der hier zugrunde gelegten Edition von Weniger/Schulze (1957). Vgl. die editorischen Vorbemerkungen in den Ausgaben von Platz (1849; 3. Aufl. 1902, S. III-XII) und von Weniger/Schulze, Bd. 1. 1957. S. VII-X.

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seiner Erziehungstheorie zugrunde legt, „des Verhältnisses der älteren zur jüngeren Generation“ (PS I, S. 9). Die Frage „Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?“ (PS I, S. 9) beantwortet Schleiermacher in der Weise, daß er – in analytischer Absicht – die Unterscheidung zwischen der ‚mehr universellen‘ und der ‚mehr individuellen‘ Seite der pädagogischen Aufgabe einführt (PS I, S. 34), in vollem Bewußtsein der Tatsache, daß er damit auf die historische Situation der Erziehung in der neuzeitlichen Welt Bezug nimmt. Die „universelle Richtung“ umfaßt alle Bemühungen der älteren Generation, die auf das Hineinführen der Nachwachsenden in den kulturellen und politischen Zusammenhang des betreffenden Volkes bzw. der jeweiligen Gesellschaft abzielen. Dabei versteht Schleiermacher „Volk“ bzw. „Gesellschaft“ – in tendenziell harmonisierender Sicht – als historisch gewordene und sich weiter entwickelnde soziale Einheiten, die durch die Gemeinsamkeit von Sprache und historisch erarbeiteter Kultur und Sitte (als Inbegriff normativ geprägter Lebensformen) bestimmt seien. Der neuzeitliche Entwicklungsprozeß habe nun dazu geführt, daß sich innerhalb des gesellschaftlichen Zusammenhanges, gleichsam auf der primären Sozialeinheit der Familie aufruhend, relativ selbständige „Gemeinschaften“ – in moderner Terminologie könnte man von „Institutionen“ i. w. S. d. W. sprechen – herausgebildet hatten: „Kirche“, „Wissenschaft“ („Erkenntnis“), „geselliges Leben“ (das alle Formen freier Kommunikation zwischen Menschen bis hin zur „Öffentlichkeit“ umfaßt) und „Staat“. Dabei kommt dem Staat jedoch über diese Qualität, eine „Gemeinschaft“ neben anderen zu sein, hinaus zugleich die Funktion zu, übergreifende Ordnungsinstitution zu sein. Für Schleiermacher ist der Staat die bewußt gewordene und in die Form kodifizierter Gesetze und Regelungen gefaßte historische Gestalt der Existenz eines Volkes bzw. einer Gesellschaft. Die Spannungen dieser Sichtweise zu der bei Schleiermacher auch zur Geltung kommenden Erkenntnis vom Macht- und Herrschaftscharakter staatlicher Ordnungen, die dieser Autor auch in seiner „Lehre vom Staat“ m. E. nicht zu lösen vermochte, können hier nicht weiter verfolgt werden. In pädagogischer Perspektive muß es in dieser Hinsicht genügen, an Schleiermachers prinzipielle Antwort zur Frage nach der Aufgabe der Erziehung im Hinblick auf die „universelle“ Seite zu erinnern: Pädagogik dürfe nicht etwa auf kritiklose Eingliederung der jungen Generation in das gegebene kulturellgesellschaftlich-politische System abzielen, sondern darauf, daß „die Jugend tüchtig werde einzutreten in das, was sie vorfindet, aber auch tüchtig in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzugehen“ (PS I, S. 31). Die „individuelle Richtung“ der pädagogischen Aufgabe meint alle jene Maßnahmen, die es jedem jungen Menschen ermöglichen sollen, seine „persönliche Vollkommenheit“ zu entwickeln. Indem Schleiermacher die Ausbildung von „Indi-

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vidualität“ zugleich als Anforderung und Anspruch der Menschen in entwickelten Stadien einer Kultur, eines Volkes betrachtet, kann er formulieren: Am Ende der Erziehung, wenn „Mündigkeit“ (PS I, S. 15) erreichbar ist, „muß jeder Einzelne in dem Ganzen durch eine eigentümliche Bestimmtheit sich von allen anderen, wenn auch nur graduell, unterscheiden, so daß der Grad, in welchem er persönlich eigentümlich ausgebildet ist, zugleich das Maß für die Vollkommenheit seiner Entwicklung überhaupt ist …“ (PS I, S. 31).

Der Zusammenhang mit dem universellen Aufgabenaspekt aber wird angesprochen, wenn es in der Fortsetzung des zitierten Satzes heißt: „sowie auch die größere oder geringere seltener oder häufiger hervortretende Eigentümlichkeit der Einzelnen in einem Volke den Maßstab für die Bildungsstufe des Volkes gibt. Wenn die persönliche Eigentümlichkeit in einem Volke noch zurücktritt, so steht dasselbe auch auf einer untergeordneten Stufe der Entwicklung“ (PS I, S. 34). Mit der doppelten Aufgabe der Erziehung ist also jenes polare Verhältnis bezeichnet, auf das Schleiermacher seine Frage nach Gleichheit oder Ungleichheit bezieht: „Sind die Menschen in Beziehung auf die universelle und individuelle Richtung der Erziehung gleich oder ungleich? Das heißt, ist in einem Volke das Verhältnis jedes Einzelnen zum geistigen Zusammenhang des Volkes oder zur Idee des Staates ein gleiches oder ungleiches? Und auf der anderen Seite, ist das Verhältnis jedes Einzelnen zur Idee der individuellen Persönlichkeit dasselbe oder verschieden?“ (PS I, S. 35) Mit dieser Frage greift Schleiermacher explizite und implizite Positionen und Kontroversen der Erziehungstheorie und der Erziehungspraxis auf, die ihm aus der Geschichte des pädagogischen Denkens und Handelns bekannt waren und die insbesondere durch die Erziehungsideen der Französischen Revolution und die Nationalerziehungspläne deutscher Autoren des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts hochgradige Aktualität gewonnen hatten. Er benennt und referiert solche Positionen jedoch nicht als solche und unter Nennung ihrer Vertreter, sondern spitzt sie in einem „idealtypisierenden“ Rekonstruktionsverfahren jeweils auf die für seine Fragestellung entscheidenden Prinzipien und deren Konsequenzen zu. Dabei ist unverkennbar, daß der springende Punkt, der Stein des Denkanstoßes für Schleiermacher das Problem der gesellschaftlich-politischen Ungleichheit ist. Dieses Faktum setzt er im Grunde als unbestreitbar, d. h. als überall aufweisbar voraus, und die von ihm skizzierten historischen Beispiele, die hier nicht im einzelnen referiert und diskutiert werden können, dienen ihm weniger als notwendige Belege für den Sachverhalt als solchen, sondern sollen Erklärungsansätze für die Entstehung von Ungleichheiten illustrieren. Entscheidendes Movens der Argu-

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mentation Schleiermachers wird folglich die Unterscheidung mehrerer prinzipiell verschiedener Erklärungsmöglichkeiten. Zunächst hebt er drei Deutungsmöglichkeiten hervor. Eine vierte, die er selbst für zutreffend hält, arbeitet er argumentativ im Zuge der kritischen Auseinandersetzung mit jenen drei anderen Ansätzen heraus; es sind die folgenden: • Ungleichheit von Menschen hinsichtlich ihrer Urteils- und Handlungsmöglichkeiten im Hinblick auf die „universelle“, die kulturell-gesellschaftlich-politische Lebensdimension eines Volkes bzw. eines Staates oder auf die Dimension der Ausbildung individueller Eigentümlichkeit kann als „angeboren“, und zwar „auf eine persönliche Weise“ (PS I, S. 38), d. h. als individuell-erblich bedingt gedeutet werden (erste Möglichkeit) oder aber als historisch-gesellschaftlich bedingt – Schleiermacher sagt: als „angestammt“ (PS I, S. 38) – , nämlich als ein dem gesellschaftlichen Herkunftsstatus eines Menschen und damit den zugrundeliegenden gesellschaftlich-politischen Verhältnissen geschuldeter Zustand. Wo diese zweite Deutungsmöglichkeit als ausschließlich zutreffend angenommen wird, wo also faktische Ungleichheit generell als Folge gesellschaftlicher Verhältnisse ausgelegt wird, schließt sie die der ersten Deutungsmöglichkeit diametral entgegengesetzte Grundannahme ein: daß nämlich alle Menschen „von Natur aus“, „ursprünglich“, ihrer Möglichkeit nach sowohl im Hinblick auf die universelle als auch auf die individuelle Dimension gleich sind. Das aber bedeutet, daß faktische Ungleichheiten als historisch-gesellschaftlich produzierte Zustände angesehen werden, die überwunden werden können und, sofern die Möglichkeit zur Gleichheit zugleich als Anspruch auf die Verwirklichung dieser Möglichkeit anerkannt wird, überwunden werden sollen. • Eine dritte Grundmöglichkeit besteht darin, Ungleichheit als zugleich „angeboren“ und „angestammt“ auszulegen. Das bedeutet: Hier wird die Annahme als zutreffend unterstellt, daß erblich bedingte Ungleichheit und gesellschaftlich bedingte Ungleichheit aneinander gekoppelt, konkret: daß „höhere“ gesellschaftliche Herkunft mit „höherer“ Begabung für die universelle und die individuelle Dimension der pädagogischen Aufgabe verbunden sind. – Implizit macht Schleiermacher in seiner Erörterung dieser Position deutlich, daß mit ihr konsequenterweise die Wertung verbunden ist, daß „Ungleichheit“ als legitim und erhaltenswert eingeschätzt wird. Schleiermacher bereitet die Begründung seiner eigenen Position vor, indem er die pädagogischen und politischen Konsequenzen entwickelt, die sich aus der Entscheidung für die zweite oder die dritte der genannten Deutungsmöglichkeiten ergeben; die erste, radikal-biologistische Ungleichheitsannahme erörtert er nicht

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eingehender, vermutlich, weil sie im Umkreis der zeitgenössischen erziehungspolitischen Diskussion keine konkrete Rolle spielte. In seiner Diskussion der zweiten und der dritten Grundmöglichkeit spitzt Schleiermacher deren Konsequenzen einerseits auf gleichsam „reine Typen“ zu, andererseits deutet er mit seinen Beispielen auf historisch vorliegende, erziehungspolitische Problemlösungen hin, in denen die Orientierung an einer der beiden typischen Möglichkeiten eindeutig dominiert. In diesem Zusammenhang führt er signalisierende Termini ein: Die Orientierung an der zweiten Möglichkeit, der historisch-gesellschaftlichen Erklärung von Ungleichheit, deren positives Pendant die Gleichheitshypothese ist, nennt er mehrfach „das demokratische Prinzip“, die Orientierung an der dritten Möglichkeit „das aristokratische Prinzip“ (PS I, S. 37, 42). Was folgt nun pädagogisch bzw. erziehungspolitisch, wenn man das „aristo­ kratische Prinzip“ zugrunde legt? Die Erziehung und zumal die Erziehungsbzw. Bildungsinstitutionen müssen dann konsequent so angelegt werden, daß die historisch vorgegebenen Ungleichheiten erhalten werden; denn zufolge der unterstellten Kongruenz von Angeborenheit und Angestammtheit erscheinen diese Ungleichheiten als legitimiert.5 Soweit institutionalisierte Erziehung für die unteren Schichten des betreffenden kulturell-gesellschaftlich-politischen Systems überhaupt notwendig ist, werden zwischen den Einrichtungen für die „Massenbildung“ und denen für den Nachwuchs der kulturell-gesellschaftlich-politischen Führungsgruppen organisatorisch und inhaltlich scharfe Grenzlinien gezogen. Im Hinblick auf die „universelle Richtung“ bedeutet das: „Es ist nicht zu leugnen, daß in sehr vielen Staaten, wo große und bestimmte Differenzen in der Gesellschaft stattfinden, eine große Neigung ist, nicht nur diese Ungleichheit als angestammt anzusehen, sondern auch darauf zu halten, daß die einmal gesteckten Grenzen nicht überschritten werden. Es ist dies in vielen einzelnen Fällen schon so weit gegangen, daß man bestimmt verboten hat, der Jugend, die zu einer anderen Klasse gehört, gewisse Kenntnisse mitzuteilen, weil sie doch davon keinen Gebrauch machen 5 An dieser Stelle ist auf eine Unklarheit im Text hinzuweisen, wobei in diesem wie in analogen Fällen nicht entscheidbar ist, ob die Komplikation auf Schleiermachers Ausführungen oder aber auf Mängel in den Nachschriften seiner Hörer zurückzuführen ist: An einigen Stellen gebraucht Schleiermacher den Begriff „aristokratisch“ als Kennzeichnung jener Position, die von der Voraussetzung der angeborenen Ungleichheit „des geistigen Vermögens und der geistigen Bildsamkeit“ (PS I, S. 35) ausgeht. An anderer Stelle wird das „aristokratische Prinzip“ im Sinne einer Zielsetzung, einer Erziehungspolitik gekennzeichnet, die auf Erhaltung von Ungleichheit ausgeht, unabhängig davon, „ob die Differenzen angeboren seien oder durch äußerliche Verhältnisse entstanden (sind). Die schon vorhandenen Ungleichheiten, gleichviel woher entstanden, würden immer von neuem in der jüngeren Generation auch sich entwickeln oder auch gesteigert werden“ (PS I, S. 37).

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könnte. Das heißt freilich den einzelnen Menschen seinem Verhältnis zum Staat aufzuopfern“ (PS I, S. 39).6 Analoge Konsequenzen ergeben sich unter dem Gesichtspunkt der „individuellen Richtung“ der Erziehungsaufgabe, sofern auch in dieser Hinsicht von der „aristokratischen“ Voraussetzung ausgegangen wird, „daß eine Ungleichheit auch hier sei, und zwar eine angestammte (– man darf sinngemäß wohl ergänzen: und zugleich als angeboren betrachtete; W. Kl. –), indem ein Teil der Menschen bestimmt sei, ohne Eigentümlichkeit, bloß Masse zu bleiben, ein anderer Teil aber dazu, daß in ihm die Eigentümlichkeit sich auf das bestimmteste ausbilde und den verschiedenen Charakter forterbe …“ (PS I, S. 45). Interpretationsschwierigkeiten wirft hier nur die abschließende Aussage des zitierten Satzes auf, die Formulierung: „… und den verschiedenen Charakter forterbe“. Die Rede vom „Forterben“ kann wohl kaum im biologischen Sinne des Wortes, sondern nur im übertragenen, historisch-sozialisatorischen gemeint sein, so also, daß die gegenüber der Masse privilegierten sozialen Gruppen Einstellungen und Fähigkeiten, die sie im Zuge historisch-gesellschaftlicher Entwicklungen ausgebildet bzw. sich angeeignet haben, im Sozialisations- bzw. Erziehungsprozeß an ihren Nachwuchs weitervermitteln. Wenn diese Interpretation akzeptiert wird, bleiben immer noch zwei Auslegungsmöglichkeiten der Formulierung, daß ‚der verschiedene Charakter‘ fortgeerbt werde. Es kann damit der gemeinsame kulturell-gesellschaftlich-politische Habitus einer relativ homogenen gesellschaftlichen Gruppe, etwa einer gesellschaftlichen Klasse oder Schicht – z. B. des landbesitzenden Adels oder der Großbourgeosie – gemeint sein, durch den sich die betreffende Gruppe von anderen sozialen Gruppen unterscheidet, nicht zuletzt von der „Masse“, der die Möglichkeit zur Ausbildung eines spezifischen Sozialcharakters im Kontext der hier zugrunde gelegten Position abgesprochen und verwehrt wird. – Es ist aber auch denkbar, daß die Rede von der „auf das bestimmteste ausgeprägten Eigentümlichkeit“ bzw. vom „verschiedenen Charakter“ auf die einzelnen jungen Menschen aus den privilegierten, den „aristokratischen“ Gruppen gemünzt ist, denen im Sozialisations- und Erziehungsprozeß Anspruch und Möglichkeit vermittelt, „fortgeerbt“ werden, im Rahmen der gruppenspezifischen Sozialcharaktere je individuelle Eigentümlichkeit auszubilden. Welche pädagogischen Konsequenzen ergaben sich demgegenüber, sofern man das „demokratische Prinzip“ strikt durchzuhalten versuchen würde, also – im Schleiermacherschen Sinn des Wortes „demokratisch“ – von der „entschiedenen Gleichheit“ (PS I, S. 37) ausginge? Im 6

Schleiermacher verwendet den Begriff der „Klasse“ (bzw. der „Klassen“) nicht im Sinne der marxistischen Gesellschaftstheorie oder vergleichbarer Konzepte, sondern in dem weiten Sinne von kulturell, gesellschaftlich und politisch unterscheidbaren Großgruppen.

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Hinblick auf die „universelle Richtung“ und hier speziell für die auf den Staat bezogenen Entwicklungsmöglichkeiten der einzelnen erläutert Schleiermacher diese Position folgendermaßen: „Alle Differenzen des Maßes der Tauglichkeit für den Staat sind von dieser Voraussetzung aus nur Resultate der Bildung und der äußeren Verhältnisse“ (PS I, S. 37), „entstanden aus äußeren Verhältnissen, welche den einen mehr begünstigt hatten als den anderen“ (PS I, S. 37). Die erziehungspolitische Folgerung müßte lauten, durch die Erziehung „den äußerlichen Verhältnissen entgegenzuwirken“ mit dem Ziel, daß – wiederum zunächst auf die „universelle“ Aufgabendimension der Erziehung bezogen – „alle nach vollendeter Erziehung gleiche Tüchtigkeit für den Staat, die Kirche (– sinngemäß wird man ergänzen dürfen: und die beiden anderen „Gemeinschaften“, nämlich „Wissenschaft“ und „Geselligkeit“; W. Kl. –) errungen hätten“ (PS I, S. 37). Hinsichtlich des Verhältnisses zum Staat spricht Schleiermacher, synonym mit dem Begriff der „Tüchtigkeit“, auch von der in den einzelnen auszubildenden „politischen Kraft“ (PS I, S. 40, 41). – An späterer Stelle der einschlägigen Textsequenz betont Schleiermacher, daß für die Dimension der Ausbildung individueller Eigentümlichkeit eine analoge hypothetische Konsequenz gezogen werden müßte (PS I, S. 45). Das würde – als regulative Leitidee – bedeuten, daß bei optimal erfolgreicher Erziehung im Sinne des „demokratischen Prinzips“ alle Erzogenen am Ende der Erziehungsperiode eine je individuelle Eigentümlichkeit ausgebildet hätten, wobei diese persönlichen Eigentümlichkeiten nicht nach unterschiedlichen Qualitätsgraden abgestuft sein dürften, sondern in der Vielfalt der Ausprägungen prinzipiell als gleichwertig gelten müßten. Vor dem Hintergrund des bisher skizzierten Spektrums denkbarer und z. T., in unterschiedlichen Graden der Annäherung an die „reinen“ Typen, historisch realisierter Möglichkeiten läßt sich nun Schleiermachers Lösungsvorschlag des Problems kennzeichnen. Dieser Vorschlag beruht auf drei Grundprinzipien: • dem Prinzip der „Unentschiedenheit der anthropologischen Voraussetzungen“ (PS I, S. 19), • dem Prinzip der ethisch gebotenen, schrittweisen Überwindung aller nur angestammten Ungleichheiten und • dem Prinzip der Anerkennung und Förderungswürdigkeit aller individuellen „Anlagen“ und „Neigungen“, sofern sie nicht der „Idee des Guten“, der asymptotischen Einung von Vernunft und Natur im Entwicklungsprozeß der einzelnen Menschen, der Völker und Staaten sowie der Menschheit als Ganzer widersprechen. Ich erläutere im folgenden die drei genannten Prinzipien.

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Die fundamentale Bedeutung des Prinzips der „Unentschiedenheit der anthro­ pologischen Voraussetzungen“ für das Verständnis der Antwort Schleiermachers auf die Frage, wie die pädagogische Aufgabe angesichts des Problems von Gleichheit und Ungleichheit zu bestimmen sei, kann leicht übersehen werden, da Schleiermacher das Prinzip explizit nur an einer Stelle der hier in Rede stehenden Textpassage anspricht, dies aber nicht unter Verwendung jener an früherer Stelle seiner Erziehungstheorie eingeführten Formel „Unentschiedenheit der anthropologischen Voraussetzungen“ (PS I, S. 19), sondern in folgender Aussage: „Die Pädagogik kann … nicht physiologisch entscheiden über die eine oder andere Voraussetzung“ (PS I, S. 38); gemeint sind die Annahmen über angeborene Gleichheit oder aber Ungleichheit im Hinblick auf die „universellen“ und die „individuellen“ Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen. Der Sache nach aber ist der an dieser Stelle so knapp ausgedrückte Gedanke ein Kernargument des gesamten Argumentationszusammenhanges. Dabei wäre es der gemeinten Sachlage sogar angemessen, den Ausdruck „Unentschiedenheit“ durch „Unentscheidbarkeit“ zu ersetzen (vgl. auch Schurr 1975, S. 349). Selbst diese Formulierung verbirgt, weil sie den gemeinten Sachverhalt negativ ausdrückt, noch die zugrundeliegende positive Erkenntnis: Jene Unentschiedenheit bzw. Unentscheidbarkeit ist, so lautet meine Interpretationsthese, nicht ein vorläufiger, prinzipiell behebbarer Mangel des erreichten anthropologischen bzw. psychologischen Erkenntnisstandes, sondern ist Ausdruck der Erkenntnis, daß Schleiermacher den Menschen als „bildsames“ (PS I, S. 35) und damit als geschichtliches Wesen auffaßt. Seine „Anlagen“ sind in der Sicht des reifen Schleiermacher nicht biologisch fixierte Keime, die sich entfalten und ihre spätere Gestalt von Anfang an in sich bergen, sondern plastische Möglichkeiten, deren inhaltliche Ausprägung oder aber Nichtrealisierung in einem geschichtlich-gesellschaftlichen Vermittlungsprozeß zwischen der Spontaneität, der Eigeninitiative des einzelnen und seiner Rezeptivität, der Aneignung dessen, was ihm an bereits erarbeiteter geschichtlicher Kultur gemäß objektiv-gesellschaftlichen Bedingungen zugänglich wird, erfolgt. Wo immer solche Vermittlungsakte vollzogen werden, die für Schleiermacher ihre Entsprechung im geschichtlichen Entwicklungsprozeß der Völker und Staaten und letztlich der Menschheit als Ganzer finden, so nämlich, daß die Entwicklung des einzelnen mitwirkendes Moment jener überindividuellen Prozesse ist, da realisiert der einzelne die ihn als Menschen charakterisierende potentielle Vernünftigkeit, vollzieht er Akte der Einung von Vernunft und Natur. Schleiermacher spricht auch davon, daß in solchen Prozessen „das Gewicht des geistigen Prinzips über die Natur“ sich zu erkennen gibt (PS I, S. 39). Weil, so kann man den Kern dieses Argumentes Schleiermachers zusammenfassen, Menschen historische Wesen sind, die auf ihre Entwicklung vermöge ihrer Vernunft Einfluß nehmen, eigene Entscheidungen treffen können, und weil analog

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Völker, Kulturen, Staaten, schließlich der universale Zusammenhang der Menschheit historische Phänomene sind, in denen die Individuen ihre Lebensprozesse vollziehen, deshalb ist es prinzipiell unmöglich, zu Beginn eines Menschenlebens oder in den frühen Lebensphasen sichere prognostische Aussagen darüber machen zu wollen, welche Möglichkeiten der einzelne oder gar ganze gesellschaftliche Gruppen hinsichtlich der Ausbildung ihrer „Anlagen“ und „Neigungen“ – sei es in der „universellen“, sei es der „individuellen“ „Dimension“ – haben und sie durch Zuweisung zu qualitativ unterschiedlichen Bildungsinstitutionen auf ihnen vorgeschriebene Möglichkeiten festzulegen. Dem anthropologischen Argument und den aus ihm folgenden pädagogischen Konsequenzen korrespondiert nun das zweite, ethische Argument, das ebenfalls pädagogische und zugleich politische Folgerungen in sich birgt. Das Argument besagt: Es ist moralisch unzulässig, „angestammte“, also historisch-gesellschaftlich bedingte Ungleichheit „absichtlich und gewaltsam“ (PS I, S. 41) festzuschreiben. Schleiermachers Begründung, mit der er auf sein System der Sittenlehre zurückgreift, lautet: Jeder Versuch der Fixierung eines historisch-gesellschaftlich produzierten Zustandes der Ungleichheit ist eine „Hemmung der menschlichen Natur“ (PS I, S. 41), wobei der Begriff „Natur“ hier und im folgenden Satz zweifellos nicht in naturwissenschaftlicher Bedeutung gemeint ist, sondern im Sinne von „Bestimmung“ oder „Wesen“: „Was … der Fortschreitung der menschliehen Natur entgegenwirkt, das streitet auch gegen die Idee des Guten“ (PS I, S. 41). Wie sehr sich umgekehrt „die menschliche Natur“ gegen politische Bestrebungen auflehnt, „angestammte Ungleichheiten“ zu zementieren und großen Menschengruppen z. B. den Zugang zum bereits erreichten Stand von Erkenntnis zu verwehren, das werde unter aristokratisch-politischen Verhältnissen daran deutlich, daß sich „dann auch überall eine starke Opposition in dem Maß (finde), als ein Fortschreitungssystem in der Masse ist; die niedere Klasse ringt dann desto stärker nach dieser verbotenen Ausbildung des Geistes“ (PS I, S. 39). An dieser Stelle erteilt Sehleiermacher dem „aristokratischen Prinzip“, insofern dessen Zentrum die Verteidigung gesellschaftlich bedingter Ungleichheit ist, in der Argumentation der Vorlesung des Jahres 1826 im Prinzip eine radikale Absage (vgl. auch Sünkel 1964, S. 49ff. und Schurr 1975, S. 354ff.). Dies zu unterstreichen ist deshalb notwendig, weil der Text der Vorlesung an einigen Stellen infolge nicht hinreichend präzisierter Formulierungen den Eindruck erwecken kann, es gehe Schleiermacher um eine „mittlere Position“ zwischen dem „aristokratischen“ und dem „demokratischen“ Prinzip (vgl. z. B. PS I, S. 42, Zeile 25–27). Wenn man Schleiermachers sehr spezifische Bestimmung des Begriffes „demokratisch“ aufgibt und dieses Wort in einer der heute üblichen Bedeutungen verwendet, so nämlich, daß damit die Intention auf Überwindung gesellschaftlich bedingter Ungleich-

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heiten bezeichnet wird, ohne daß zugleich mögliche „angeborene“ Ungleichheiten geistiger Entwicklungsmöglichkeiten geleugnet werden, dann kann man mit Recht davon sprechen, daß Schleiermacher „inmitten aristokratischer Verhältnisse für die ,demokratische‘ Lösung“ plädiere (Schurr 1975, S. 354). Es fällt auf, wie häufig und mit welcher Vehemenz Schleiermacher in der Päd­ agogikvorlesung von 1826 – ungleich stärker als in der drei Jahre später gehaltenen Vorlesung über die „Lehre vom Staat“, die allerdings auch nur aus Nachschriften rekonstruiert werden konnte – die pädagogischen bzw. erziehungspolitischen Konsequenzen, die aus dem ethischen Begründungsargument folgen, in mehreren Formulierungsvarianten unterstrichen hat. Erziehung erscheint nun sogar als das politisch wichtigste Mittel, um den Fortschritt zur Freiheit und zu politisch-gesellschaftlicher Gleichheit zu gewährleisten, dies freilich in den Grenzen möglicher „angeborener Ungleichheit“, die aber nie vorausbestimmt werden kann, sondern sich im Prozeß faktischer Erprobung anhand zunächst gleicher Bildungsmöglichkeiten erweisen muß. Politische Revolutionen sind für Schleiermacher die Folge von Versuchen, den Abbau gesellschaftlich bedingter Ungleichheit zu verhindern. Umgekehrt kann Erziehung in der jeweils nachwachsenden Generation die Potenzen für einen nicht-revolutionären, vielmehr evolutionär-reformerischen Fortschritt freisetzen. Soll solcher Fortschritt ermöglicht und der Anlaß für Revolution vermieden werden, „so kommt alles darauf an, wieviel Spielraum man der öffentlichen Erziehung gibt, und wie von Anfang an die Ungleichheit behandelt wird. Denkt man sich, daß in einem … Staate, der aus ungleichen Elementen zusammengewachsen ist, von vornherein nach dem Kanon (i. S. von: Handlungsgrundsatz; W. KI.), die Ungleichheit solle so behandelt werden, daß sie allmählich verschwinde, verfahren würde, so würden … Reibungen nicht eintreten können. Die Lösung einer großen politischen Aufgabe liegt in nichts anderem als der richtigen Organisation der Erziehung; alles Revolutionäre aber in der unrichtigen Organisation derselben. So tritt uns hier nicht allein wiederum die hohe politische Wichtigkeit der Pädagogik entgegen; sondern wir haben uns auch überzeugt, daß bei Voraussetzung der angestammten Ungleichheit doch als allgemeingültiges Resultat dieses sich ergibt, die Ungleichheit könne durch das geistige Prinzip besiegt werden, und sie solle aufhören, um nicht revolutionäre Zustände hervorzurufen“ (PS I, S. 40; vgl. S. 41). Ich wende mich dem dritten Prinzip zu, das Schleiermacher seiner Lösung des Problems zugrundelegt, die Aufgabe der Erziehung angesichts der Frage nach Gleichheit oder Ungleichheit der Menschen in der universellen und in der individuellen Dimension zu bestimmen. Darin wird die Anerkennung und Förderungswürdigkeit aller individuellen „Anlagen“ und „Neigungen“ gefordert, sofern diese nicht der „Idee des Guten“ widersprechen. Abkürzend kann man diesen dritten Grundsatz auch als „Individualitätsprinzip“ bezeichnen (vgl. Nipkow 1960, S. 89ff.).

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Schleiermacher ist eine der bedeutenden Gestalten der Auslegungsgeschichte des Individualitätsgedankens, der sein theologisches, philosophisches und päd­ agogisches Werk durchzieht. Individualität – als Möglichkeit und Anspruch verstanden – ist ein Charakteristikum neuzeitlicher Selbstauslegung des Menschen. Anders aber als in seiner berühmten Frühschrift, den „Monologen“ aus dem Jahre 1800, in der Schleiermacher eine extrem ästhetisch-individualistische Variante des Individualitäts-Gedankens vertritt, ist die Deutung der Individualität beim reifen Schleiermacher – so auch in seiner Pädagogik – dialektisch mit der faktischen und ethisch aufgegebenen Beziehung des Menschen auf die objektiven, historischen Sozialgebilde – die „Gemeinschaften“ im Sinne seiner Terminologie – vermittelt. Individualität bezeichnet in diesem Sinne – als Realität oder als Möglichkeit – eine spezifische, personale Beziehung eines Individuums zu anderen Individuen und zu den historisch kulturell-gesellschaftlich-politischen Objektivitäten. Diese im neuzeitlichen Gesellschafts- und Kulturprozeß entwickelte Möglichkeit, daß der einzelne zu eigenen Erkenntnissen, eigenen Urteilen, eigenen Entscheidungen kommen kann, sich damit – in welchem Grade auch immer – eine eigene „Gestalt“ gibt, Individualität hervorbringt, wird von Schleiermacher vor allem als ein Entwicklungsschritt zur Freiheit, als emanzipatorischer Prozeß begriffen.7 „Eigentümlichkeit“, Individualität zu ermöglichen, ist also ein ethisches Gebot und, zufolge der unauflöslichen Verflechtung von Ethik und Pädagogik, eine pädagogische Aufgabe. Es dürfen „nicht Einzelne gegen die Beschaffenheit ihrer Natur durch die Macht der Verhältnisse“ (PS I, S. 38), aber auch nicht durch gezielte pädagogische Maßnahmen im Namen der Gleichheit, „bestimmt werden“. „Die Erziehung soll nicht gegen die ursprüngliche Anlage im Menschen einwirken, nur hemmend, was der Idee des Guten widerspricht“ (PS I, S. 38). Damit ist deutlich, warum Schleiermacher sich ein Moment des „demokratischen Prinzips“ (in seinem Verständnis dieses Begriffs) nicht zu eigen machen kann, sofern dieses Prinzip nämlich als radikales Gleichheitsdogma ausgelegt wird, also nicht nur auf Abschaffung gesellschaftlich produzierter Ungleichheit und folglich auch gesellschaftlich produzierter ungleicher Möglichkeitsbedingungen für die Ausbildung von Individualität zielt, sondern auf die Ablehnung jeder Möglichkeit zur Entwicklung von Individualität, soweit sie als Form gesellschaftlicher Ungleichheit auftreten kann. Denn die Möglichkeit, daß es neben „angestammter“ Ungleichheit, „die verschwinden soll“ (PS I, S. 41), auch „angeborene“ Ungleichheit hinsichtlich 7 Daß dieser Prozeß auch Momente objektiver gesellschaftlicher Notwendigkeit in sich birgt, daß der einzelne unter den Bedingungen der Moderne in irgendeinem Maße Individualität verwirklichen muß, kommt, soweit ich es sehe, bei Schleiermacher nicht zur Sprache.

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des Ausmaßes und der Qualität der individuellen Entwicklungsmöglichkeiten geben konnte, kann nach Schleiermacher mit hinreichenden Gründen nicht ausgeschlossen werden. Und er betont. daß die Erfahrung dafür spreche, solche „angeborenen“, „natürlichen“ Unterschiede der „Anlagen“ anzunehmen. Zwar gilt auch hier der Satz von der Unentschiedenheit bzw. Unentscheidbarkeit der anthropologischen Voraussetzungen (PS I, S. 45). Wo wir aber an Menschen Ungleichheit in der Ausbildung bestimmter Fähigkeiten beobachten, die sich nicht mit plausiblen Gründen durch den Nachweis gesellschaftlich bedingter Ungleichheit erklären läßt, sind wir nach Schleiermacher berechtigt, auf „angeborene“ Ungleichheit zu schließen (PS I, S. 42). Jedoch muß die etwaige Ungleichheit angeborener Möglichkeiten sich im Entwicklungsprozeß der Individuen erst zeigen, sie muß in der Erprobung konkreter Lernprozesse hervortreten, bevor sie pädagogisch berücksichtigt werden kann. Denkt man diese Argumentation Schleiermachers prinzipiell zu Ende, so müßte solches Hervortreten eigentlich, wenn es als Anzeichen „angeborener“ Ungleichheit gewertet werden soll, unter gleichen pädagogischen Anregungsbedingungen erfolgen. Faktisch könnte und kann eine solche Ausgangssituation unter realen gesellschaftlichen Bedingungen natürlich nicht geschaffen werden: „Wenn auch die Erziehung auf eine Verringerung der Ungleichheit hinarbeiten soll, woraus die Möglichkeit entsteht, diese ganz aufzuheben, so muß sie doch die Ungleichheit – (gemeint ist offenbar: als zunächst vorgegebenes gesellschaftliches Faktum; W. Kl.) – voraussetzen und ihr eigentümliches Verfahren an die Ungleichheit anknüpfen“ (PS I, S. 41f.). Schleiermacher hat aus den Überlegungen über die drei Grundprinzipien der pädagogischen Aufgabenbestimmung angesichts des Problems von Gleichheit und Ungleichheit eine wichtige erziehungspolitische bzw. bildungsorganisatorische Folgerung gezogen: Er fordert generell eine zweistufige Organisation des öffentlichen Bildungswesens, also eine horizontale Gliederung. Basis müsse eine hinreichend lange Stufe gemeinsamer Bildung für alle schulpflichtigen Kinder eines Gemeinwesens, auf Schleiermachers konkreten politischen Wirkungsraum bezogen: in Preußen sein, also eine allgemeine Elementarschule ohne äußere Differenzierungen nach sozialer Herkunft der Kinder (PS I, S. 42f.). Erst wenn sich im Prozeß der Entwicklung von Gesinnung, Kenntnissen und Fertigkeiten, die jedes Kind innerhalb dieser Stufe der Elementarbildung vollzieht, eine deutlich erkennbare Differenzierung, die „Ungleichheit“ der individuellen „Anlagen“ und „Neigungen“ herausstellt, sei der Zeitpunkt für den Übergang in eine zweite Stufe des Bildungssystems gegeben, die Schleiermacher als „Spezialbildung“ bezeichnet (PS I, S. 42ff.). – Wo aber zieht Schleiermacher zeitlich die Grenze zwischen der Elementarbildungs- und der Spezialbildungsstufe? Bedenkt man, daß Condorcet in seinem Schulkonzept eine

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vierjährige und Lepeletier eine für Jungen sechsjährige, für Mädchen fünfjährige gemeinsame Elementarschule vorsahen und daß die pädagogischen Mitstreiter Schleiermachers in der kurzen Phase der preußischen Bildungsreform zwischen 1806 und etwa 1814/15, insbesondere Humboldt und Süvern, in dieser Frage unpräzise geblieben sind, jedenfalls nirgends eindeutig über eine vierjährige allgemeine Elementarbildungsphase hinausgingen, so tritt die Eigenständigkeit und Originalität Schleiermachers ein weiteres Mal ans Licht: Er gibt als Altersphase, in der nach seiner Einschätzung individuelle Unterschiedlichkeiten der „Anlagen“ und „Neigungen“, „Hervorragende und Zurückbleibende“ in der Mehrzahl der Fälle hinreichend sicher erkennbar würden, die Zeit „etwa zwischen dem zwölften und vierzehnten Jahre“ an (PS I, S. 44), nicht ohne relativierend hinzuzusetzen: „allein man kann nie gewiß sagen, jene (die „Hervorragenden“; W. Kl.) würden nie zurückschreiten, jene (die „Zurückbleibenden“; W. Kl.) nicht noch später einen Impuls bekommen können in Beziehung auf die geistige Bildung.“

Schleiermacher hält die pädagogische Arbeit an der Verbesserung dessen, was man heute „Fähigkeitsdiagnostik und -prognostik“ nennen würde, für eine „schöne, wenn auch noch so schwere Aufgabe“ (PS I, S. 44). Gleichwohl werde immer eine letzte „Unsicherheit der Entscheidung“ bleiben. Diese Unsicherheit ist aber nicht nur ein technisch-praktisches, durch pädagogischen Erfahrungs- und Erkenntnisfortschritt mindestens abzumilderndes Problem, und sie betrifft nicht nur jene Gruppe junger Menschen, die man heute als „Spätentwickler“ bezeichnen würde. Schleiermacher erfaßt das Problem fundamentaler, nämlich einmal mehr in seiner gesellschaftlichen und ethischen Dimension. Entscheidungen über Bildungsmöglichkeiten sind fast immer Vorentscheidungen über zukünftige Lebenschancen. Unter den Bedingungen gesellschaftlicher Ungleichheit werden sie zu Faktoren der Aufrechterhaltung von Privilegierung oder Unterprivilegierung und widerstreiten damit der „Idee des Guten“, werden zum „Unrecht“ in individueller und universeller Hinsicht: „Ist einmal das Urteil gesprochen, daß jemand sich nur für die niedere Lebenstätigkeit eigne: so ist er von allen anderen Geistestätigkeiten meist ausgeschlossen, und er hat, wenn nun nachher dennoch Höheres in ihm sich regt, unendliche Schwierigkeiten zu überwinden, ehe er sich durcharbeitet. Es gibt gewiß viele in der ganzen Masse, denen durch die Erziehung ein solches Urteil gesprochen ist, so daß sie auf einer niederen Lebensstufe sich befinden, obwohl sie als recht Tüchtige eine Stelle in der höheren Lebenstätigkeit einzunehmen befähigt waren. Ihnen fehlte die Kraft, die

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Hindernisse zu überwinden und sich emporzuarbeiten.8 Unrecht ist ihnen dennoch geschehen. Und ebenso in Rücksicht des Gegenteils ist die Gefahr auch nicht geringer. Wenn einem Einzelnen die Ansprüche auf die höheren Lebenskreise durch das Urteil der erziehenden Generation gesichert sind, so kann er durch Begünstigung der äußeren Umstände auf einen Platz gestellt werden, dem er gar nicht genügen wird, wenn das Urteil ein falsches war. Entspricht er dem nicht, wessen man zu ihm sich versah, so erwächst dem Gemeinwesen daraus großer Schaden“ (PS I, S. 44). An dieser Stelle kann Schleiermachers großer Entwurf für die „Organisation der Erziehungseinrichtungen“ in Preußen nicht einmal in den Hauptzügen dargestellt und kommentiert werden. Er umfaßt alle Stufen von der Familienerziehung in der Kindheit bis zur Universitätsbildung und schließt für die schulischen Bildungsstufen ein umfassendes Lehrplansystem ein (PS I, S. 150–369). Die Eigenständigkeit des Konzepts tritt besonders deutlich im Vergleich zu den Schulplänen Humboldts und Süverns und in der kritisch-produktiven Weise, in der Schleiermacher Ansätze Pestalozzis weiterdenkt, zutage. Jedoch darf dieses Bildungssystem-Konzept nicht als Versuch gelesen werden, die im „Allgemeinen Teil“ der Vorlesung von 1826 entwickelten Prinzipien direkt, im Sinne eines Idealmodells, zu konkretisieren. Schleiermachers Bildungssystem-Entwurf ist vielmehr ein Element seiner ungemein aspektreichen und intensiven Mitarbeit an den Bestrebungen der preußischen Bildungsreformer in der kurzen Aufbruchphase zwischen 1807 und etwa 1814/15 (vgl. Kade 1925). Der Entwurf zielte auf kurz- oder mittelfristige Verwirklichung unter den gegebenen Bedingungen, enthielt also bewußt Reduktionen im Verhältnis zu den „reinen Prinzipien“, unter anderem auch im Hinblick auf die Forderung allgemeiner Elementarbildung in einer allgemeinen Elementarschule. Schleiermacher hat mehrfach verdeutlicht, daß er seinen Vorschlag als das Optimum dessen ansah, was angesichts der politischen Kräfteverhältnisse, der finanziellen Situation und der gegebenen gesellschaftlichen Lage, nicht zuletzt des Bewußtseinsstandes der verschiedenen Bevölkerungsgruppen gefordert werden konnte, ohne daß er

8 Wahrscheinlich bezieht Schleiermacher sich in diesem Satz auf Sonderfälle, in denen Menschen trotz ihrer niedrigen sozialen Herkunft und trotz der Tatsache, daß sie in Kindheit und Jugend nur sehr begrenzte Bildungsmöglichkeiten erhielten, im Laufe ihres weiteren Lebensweges solche Defizite „aus eigener Kraft“ zu überwinden vermochten. Schleiermacher erhebt solch Sonderfälle nun aber nicht etwa zum Urteilsprinzip im Sinne der These: Tatsächlich vorhandene „Begabungen“ setzen sich letztlich immer durch; die unter ungünstigen Bedingungen aufwachsenden „Begabten“ müssen sich eben durchbeißen. Vielmehr brandmarkt er jeden Entzug von Bildungsmöglichkeiten als Unrecht und fordert, dem „begabten Armen“ nicht etwa grundsätzlich eine höhere Intensität des Sich-Empor-Arbeitens zuzumuten als denen, die unter günstigeren sozialen Bedingungen aufwachsen können.

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damit die Leitprinzipien aufgegeben hätte (vgl. PS I, S. 230f., 234, 245ff., 279f.). Die erhoffte Verwirklichung seiner Vorschläge wollte er als Ausgangsbasis für einen weiterzutreibenden Reformprozeß verstanden wissen, als Moment der von ihm erwarteten Weiterentwicklung der allgemeinen gesellschaftlich-politischen Verhältnisse in Richtung auf zunehmende Verwirklichung von Freiheit und den Abbau gesellschaftlich bedingter Ungleichheit. Daß die Phase nach 1815 in allen entscheidenden allgemein-politischen und bildungspolitischen Aspekten für lange Zeit das Ende solcher Hoffnungen bedeutete, hat Schleiermacher, bestimmt von seiner optimistischen Geschichtsphilosophie, nie wahrhaben wollen.

IV Abschließend soll der Blick noch einmal auf den Ertrag der prinzipiellen Überlegungen Schleiermachers zur Bestimmung der pädagogischen Aufgabe unter dem Gesichtspunkt von Gleichheit und Ungleichheit gelenkt werden. Es gibt in der einschlägigen Vorlesungspassage aus dem Jahre 1826 eine Formulierung, die von ihm selbst vermutlich als Zusammenfassung gemeint ist: Sein „Kanon“, der als „moralisch notwendig“ zu verstehen sei, laute für beide hypothetische Voraussetzungen „der Gleichheit und Ungleichheit, und zwar angestammter oder angeborener Ungleichheit berechnet“: „Die Erziehung soll in Beziehung auf die zu Erziehenden der inneren Kraft, die in ihnen sich entwickelt, zu Hilfe kommen; aber in Beziehung auf das, was infolge dieser Entwicklung bewirkt wird, die äußeren Verhältnisse gewähren lassen, so jedoch, daß diese, insofern sie charakterisiert sind als Zeichen der angestammten Ungleichheit, behandelt werden als das, was allmählich verschwinden soll“ (PS I, S. 41). Diese handlungsorientierende Formel enthält allerdings ein schwer zu interpretierendes Element: Erziehung solle „in Beziehung auf das, was infolge dieser Entwicklung (sc.: der inneren Kraft der zu Erziehenden) bewirkt wird, die äußeren Verhältnisse gewähren lassen.“ In der gleichen Textpassage findet sich an früherer Stelle eine ähnliche Formulierung: Es bleibe „nichts übrig, als daß die Erziehung die äußeren Verhältnisse gewähren lasse“ (PS I, S. 38), nun aber ohne die Ergänzung der späteren Stelle („was infolge dieser Entwicklung bewirkt wird“). – Daß Erziehung die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sie erfolgt und soweit sie außerhalb des Gestaltungsspielraums in pädagogischen Institutionen liegen, nicht direkt verändern, sie insofern „gewähren lassen müsse“, leuchtet unmittelbar ein. Indessen: Wenn Erziehung, insbesondere in öffentlichen Schulen, nach Schleiermacher im Sinne seiner Prinzipien u. a. um den Abbau gesellschaftlicher

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Benachteiligungen durch Schaffung gleicher Bildungsmöglichkeiten, mindestens auf der Ebene der allgemeinen Elementarbildung, bemüht sein müsse, dann zielt sie doch hinsichtlich dessen, was sie damit „bewirken“ will, notwendigerweise darauf ab, daß die so Erzogenen die „äußeren Verhältnisse“ später im Sinne des Fortschritts in Richtung auf Vergrößerung von Freiheit und Herstellung gesellschaftlicher Gleichheit verändern. Ich sehe einstweilen keine Möglichkeit, jenes Aussageelement in dem von Schleiermacher formulierten Fazit seiner Argumentation zum Thema eindeutig zu entschlüsseln.

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Bleibende Bedeutung und Grenzen der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik am Beispiel Theodor Litt

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11 Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Beispiel Theodor Litt 11 Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Beispiel Theodor Litt

1 Einleitung Mein Vortrag ist nicht direkt und durchgehend auf das Zentralthema dieser Tagung, die Frage nach Litts Stellung zum Nationalsozialismus und seiner Auseinandersetzung mit ihm bezogen. Aber er mündet mehrfach in diese Fragestellung aus oder ein. Denn Litt ist unter den Vertretern Geisteswissenschaftlicher Pädagogik derjenige gewesen, der vor 1933 und danach in beispielhafter Klarheit und Offenheit bekundet hat, daß sein philosophisches und pädagogisches Denken und sein damit zusammenhängendes Politikverständnis unvereinbar mit grundlegenden Elementen nationalsozialistischer Weltanschauung war, und er ist in dieser Hinsicht zu keinem Zeitpunkt – in deutlichem, von Litt allerdings nie betonten Unterschied zu anderen Vertretern der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik – sei es verharmlosenden Fehleinschätzungen des Nationalsozialismus aufgesessen, sei es zu taktischen Kompromissen bereit gewesen. Die Schwerpunkte meines Vortrages habe ich unter folgender Fragestellung ausgewählt: In welchen Diskussionen hat Litt – nach meiner Einschätzung, die ich hier zur Diskussion stelle, und ohne Anspruch auf Vollständigkeit – originale Beiträge zur Entwicklung der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik geleistet? Ich erinnere in aller Kürze: Mit dem Begriff „Geisteswissenschaftliche Pädagogik“ bezeichnet man jene Richtung in der deutschen Erziehungswissenschaft, die sich – in Anknüpfung an Wilhelm Diltheys Konzeption der historisch-systematischen Geisteswissenschaften und in ihrem Rahmen seiner noch sehr fragmentarischen Ansätze zu einer geisteswissenschaftlichen Pädagogik – vor allem nach dem Ende des Ersten Weltkrieges bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten und dann, z. T. mit neuen Akzenten, in den etwa anderthalb Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch des NS-Systems entwickelte. Als die Begründer und namhaftesten © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Klafki, Allgemeine Erziehungswissenschaft. Systematische und historische Abhandlungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23165-1_11

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Repräsentanten der ersten Generation der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik werden meistens Herman Nohl, Theodor Litt, Eduard Spranger, Wilhelm Flitner und Erich Weniger genannt. Im folgenden werde ich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, vier Problemdimensionen der Pädagogik Litts darstellen. Es kann sich in meinem Referat also nicht um den Versuch einer Gesamtdarstellung seiner Pädagogik handeln.1 Die ersten beiden Dimensionen, die ich ansprechen möchte, hat Litt bereits in den frühen zwanziger Jahren systematisch entfaltet und später zwar durch einige neue Aspekte ergänzt, ohne jedoch auch nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaftsperiode an diesen Theoriestücken substantielle Veränderungen vorzunehmen. Die erste Dimension bezeichne ich als Frage nach der „wissenschaftstheoretischen Bestimmung des pädagogischen Denkens“, die zweite als Frage nach der „Grundstruktur des pädagogischen Auftrages und des Erziehungs- bzw. Bildungsprozesses“. Anders verhält es sich bei den beiden weiteren Hauptdimensionen: Das Thema des dritten Hauptabschnitts lautet: „Von der staatsbürgerlichen Erziehung der Weimarer Zeit zur demokratisch-politischen Erziehung nach 1945“. Diese Titelfassung signalisiert: Erstens geht es hier um ein weiteres Grundproblem der Pädagogik Litts, das ihn von seinen Anfängen als Pädagoge bis zu seinem Lebensende beschäftigt, man darf fast sagen: umgetrieben hat, so aber, daß die Erfahrungen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems ihn in dieser Dimension zu einem substantiell bedeutsamen Wandel seiner Auffassungen bewogen haben. Schließlich zum vierten Hauptabschnitt. Er trägt den Titel: „Die Bildungsaufgabe angesichts der modernen, naturwissenschaftlich-technisch bestimmten Produktions- und Arbeitswelt“. Damit hebe ich eine Dimension der Pädagogik Litts heraus, deren pädagogische Bedeutung ihm erst nach dem Zweiten Weltkrieg bewußt geworden ist. In der Konsequenz dieser neuen Positionsbestimmung des im achten Lebensjahrzehnt stehenden Philosophen und Pädagogen zeichnet sich nun aber – über die Dimension naturwissenschaftlich-technischer Bildung hinaus – eine substantiell bedeutsame Veränderung des Littschen Bildungsbegriffs im ganzen ab.

1 Vgl. dazu: W. Klafki: Die Pädagogik Theodor Litts. Eine kritische Vergegenwärtigung. Königstein/Ts. 1982. Vgl. auch meinen Beitrag: Theodor Litt (1880 – 1962). In: Klassiker der Pädagogik. Hrsg. von H. Scheuerl. Bd. 2. München 1979. S. 241–257, 337–338.

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Zur wissenchaftstheoretischen Bestimmung pädagogischen Denkens

Schon in den ersten Jahren seiner Wirksamkeit als theoretischer Pädagoge – nach 14-jähriger Tätigkeit als Gymnasiallehrer – entwickelte Litt einen wissenschaftstheoretischen Argumentationszusammenhang über die Eigenart pädagogischen Denkens – von ihren unmittelbar in die Erziehungspraxis verwobenen Ausgangsformen bis zur Stufe wissenschaftlich reflektierender Pädagogik –, der für die Geisteswissenschaftliche Pädagogik grundlegende Bedeutung gewinnen sollte: Ich meine die 1921 in den Kant-Studien veröffentlichte Abhandlung „Die Methodik des pädagogischen Denkens“. Sie ist seit 1931, geringfügig überarbeitet, im Anhang von Litts Buch „Führen oder Wachsenlassen“ wieder publiziert worden, einem bis 1967 mehrfach wieder aufgelegten Buch. Der Titel der Abhandlung lautete seither: „Das Wesen des pädagogischen Denkens“.2 Dieser Text Litts ist zugleich ein prägnantes Beispiel für die zentrale Grundform seines philosophischen und pädagogischen Denkens und Argumentierens, genauer: für eine von mehreren Ausprägungsformen seines dialektischen Denk- und Argumentationsstils, der fast alle seiner zahlreichen Veröffentlichungen und Vorträge kennzeichnet: Die eigenen, systematischen Aussagen zum jeweiligen Thema werden nicht direkt entwickelt, sondern so, daß Litt schrittweise vorliegende, einander widersprechende Lösungsversuche des jeweils behandelten Problems – hier: die Bestimmung der Eigenart pädagogischen Denkens – prüft, ihre jeweiligen Grenzen und ihre Wahrheitsmomente herausarbeitet und so schrittweise die eigene Argumentation aufbaut. Der systematische Gehalt kann jeweils nur angemessen erfaßt werden, wenn man ihn als „Aufhebung“ des ganzen Gedankenganges begreift. Das bedeutet: als das Außer-Kraft-Setzen einseitiger Positionen und zugleich die „Aufbewahrung“, die „Aufhebung“ der begrenzten Wahrheitsmomente jener einseitigen Positionen in einem übergreifenden Gesamtzusammenhang.3 Die Abhandlung „Das Wesen des pädagogischen Denkens“ durchläuft im wesentlichen vier Argumentationsschritte, die ich hier allerdings nur sehr knapp kennzeichnen kann. Diese Argumentationsschritte beziehen sich auf unterschied­ 2

Th. Litt: Die Methodik des pädagogischen Denkens. In: Kant-Studien 26 (1921) S. 17–51. Wiederabdruck in: Pädagogik als Wissenschaft. Hrsg. von Fr. Nicolin. Darmstadt 1969. S. 268–304. – Um die letzten Absätze gekürzter Wiederabdruck unter dem Titel „Das Wesen des pädagogischen Denkens“ im Anhang von Th. Litt: Führen oder Wachsenlassen. Eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems. Leipzig/Berlin 1927; Wiederabdruck in der 13. (seit der 4. Aufl. 1949) nochmals erw. Aufl. Stuttgart 1967. S. 83–109. 3 Zur differenzierten Aufschlüsselung der Grundformen dialektischen Denkens in Litts Pädagogik vgl. Klafki: Die Pädagogik Theodor Litts. S. 409–417.

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liche Positionen, die in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts in der pädagogischen Diskussion von eher theoretisch arbeitenden Pädagogen oder aber von Praktikern – unter anderem auch reformpädagogisch orientierten Praktikern – mehr oder minder klar formuliert vertreten worden sind. Zunächst erörtert Litt die Auffassung, erzieherisches Denken und Handeln seien im Kern irrationale, aus der Intuition entspringende Akte. Sie ließen sich durch Wissenschaft nicht oder kaum beeinflussen oder gar normieren. Erziehung sei eine „Kunst“, Erziehungswissenschaft, wenn überhaupt, so nur nach Analogie von beschreibenden und interpretierenden Kunstwissenschaften möglich. Litt zeigt nun, daß der Erzieher bzw. die Erzieherin – im folgenden werde ich meistens nur die männliche Form verwenden, meine dabei aber immer beide Geschlechter –, daß also der Erzieher in seinem Verhältnis zum Zu-Erziehenden ungleich weniger Gestaltungsfreiheit besitzt als der Künstler seinem „Material“ gegenüber. Gerade deshalb aber benötigt der Erzieher weitaus mehr Theorie als der Künstler, und er benötigt einen anderen Typus von Theorie als der Künstler. In diametralem Gegensatz zur Kunstanalogie steht nun der Versuch – und damit komme ich zum zweiten Argumentationsschritt Litts –, das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Erziehung nach Art von Technologien im Hinblick auf den Bereich der anorganischen Wirklichkeit zu deuten. Erziehung müsse als eine Art Technik verstanden werden und Erziehungswissenschaft in Analogie zu Technologien als sogenannte „angewandte“, besser wäre: anwendende Wissenschaft. – Aber auch dieser Deutungsversuch scheitert nach Litt oder führt, wo er tatsächlich durchgeführt wird, zu höchst problematischen Folgen. Weshalb? Jeder Technik im strengen Sinne des Wortes liegt folgender Strukturzusammenhang zugrunde: Technik stützt sich als ausführende Tätigkeit auf eine theoretische Technologie, z. B. die Technologie des Maschinenbaus. Solche Technologien übersetzen, durchaus in kreativer Weise, Erkenntnisse bestimmter naturwissenschaftlicher Grundlagendisziplinen, z. B. physikalische Gesetzmäßigkeiten, im Hinblick auf vorgegebene Zielsetzungen, z. B. in der Absicht, quantitative Steigerungen oder qualitative Verbesserungen bei der Produktion technischer Produkte zu erreichen. M. a. W.: Naturwissenschaftlich ermittelte Gesetzmäßigkeiten werden in Zweck-Mittel-Relationen übersetzt. Litts Gegenargument lautet: Das Handeln des Erziehers kann nicht bzw. darf nicht als technisches Umgehen mit einem beliebig zerlegbaren und einsetzbaren „Material“ interpretiert werden, einem „Material“, das sich selbst keine eigenen „Zwecke“ bzw. Ziele zu setzen vermag und das bloßes Mittel zu fremdgesetzten Zwecken ist. Dementsprechend kann wissenschaftliche Pädagogik nicht als „Technologie“ im vorher skizzierten Sinne interpretiert werden. Ein dritter Versuch, die Struktur erzieherischen Handelns und eine darauf bezogene pädagogische Theorie zu bestimmen, bedient sich explizit oder implizit

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gewisser Analogien aus dem Bereich der organischen Welt und auf sie bezogener menschlicher Tätigkeiten: Die menschliche Entwicklung erscheint demgemäß als Entfaltung innerer Anlagen und die Tätigkeit des Erziehers als „Wachstumspflege“, Angebot „geistiger Nahrung“, Bereitstellung einer wachstumsfördernden Umwelt o. ä. – Litt weist nach, daß mit solchen Interpretationen der Prozeß der menschlichen Bildung verzeichnet wird. Bildung ist ein Vorgang der Aneignung und der Auseinandersetzung des Aufwachsenden oder des bildungswilligen Erwachsenen mit der historisch-kulturellen Welt unter Vermittlung und in der Begegnung mit reiferen oder kundigeren Menschen. Dem höchst plastischen Potential menschlicher „Anlagen“ werde in organologischen Denkmodellen eine viel zu große Vorherbestimmtheit zugesprochen. Die Bedeutung des Einflusses der historisch-gesellschaftlich-kulturellen Wirklichkeit und der Einwirkung der pädagogisch handelnden Personen werde verkannt. Die in der zweiten Position (Erziehung als Technik) und der dritten Position (Erziehung als „Wachstumshilfe“) bereits angesprochene Grundfrage, ob Erziehungswissenschaft in irgendeinem Sinne als angewandte Wissenschaft – treffender wäre es von „anwendender Wissenschaft“ zu sprechen – und von Erziehungspraxis als Anwendungstätigkeit verstanden werden kann, ist Thema des systematisch abschließenden, vierten Argumentationsschrittes in Litts Text. Sein Gegenargument lautet: Das Verhältnis „angewandter Wissenschaften“ zu den jeweiligen „Grundwissenschaften“ ist zentral dadurch gekennzeichnet, daß der Forschungsgegenstand einer Grundwissenschaft nicht eine menschliche Praxis (etwa die des Brückenbauers oder des Arztes o. ä.) ist, sondern ein Komplex von Sachzusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten, die jedem praktischen Eingriff gegenüber als vorgegeben verstanden werden; etwa so, wie die Brückenbautechnologie als angewandte Wissenschaft bestimmte Bereiche der Physik, u. a. die physikalische Statik, voraussetzt, oder die Chirurgie als angewandte medizinische Teildiszi­ plin die Anatomie usw. Wenn aber der Grundsachverhalt, den wissenschaftliche Pädagogik zu erforschen hat, nämlich der Aneignungs-, Auseinandersetzungs-, Begegnungs- und Interaktionsprozeß zwischen aufwachsenden Menschen und einer bestimmten historischen Gesellschaft und Kultur, ein Prozeß ist, der nicht ohne die Vermittlung durch die jeweilige Erwachsenengeneration zustande kommt, dann steckt in diesem Grundsachverhalt eben schon jene Praxis darinnen, die nach der Modellvorstellung von „Grundwissenschaft“ und „angewandter Wissenschaft“ durch irgendeine praxisunabhängige Grundwissenschaft bzw. mehrere solcher Grunddisziplinen erst fundiert werden soll. Zugleich erweist sich durch diesen kritischen Gedankengang Litts, daß auch „Seinsfeststellung“, also die Feststellung von „Sachverhalten“ und „Sollensbestimmungen“, in der Pädagogik nicht schematisch getrennt werden können, sondern in ihrem dialektischen Bedingungsverhältnis

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durchschaut werden müssen: „Seinsaussagen“ im pädagogischen Zusammenhang – z. B. Aussagen über die Bildbarkeit eines jungen Menschen oder über pädagogische Fähigkeiten eines Lehrers/einer Lehrerin usf. können gar nicht unabhängig von historisch entwickelten „Sollensvorstellungen“ – z. B. bestimmten Zielsetzungen kommunikativer, ästhetischer oder politischer Bildung in einer bestimmten geschichtlichen Situation getroffen werden. Ebensowenig aber sind pädagogische Zielsetzungen unabhängig von bisher gewonnenem Wissen über pädagogische Tatsachen begründbar, „Tatsachen“, die allerdings nie als unabänderbare Fakten mißverstanden werden dürfen. Wie lautet folglich Litts Resümee in jener Abhandlung über die Struktur pädagogischen Denkens? Diese Antwort kann man folgendermaßen formulieren: Erziehungswissenschaftliches Denken erweist sich für Litt als eine Reflexion im Zusammenhang mit der pädagogischen Praxis und für sie, als ein Denken, das den jeweiligen geschichtlichen Zusammenhang und damit zugleich die Wechselbeziehung zwischen pädagogischen Zielsetzungen und pädagogischen Tatbestands-Feststellungen immer neu aufzuklären hat, um ein reflektiertes, verantwortliches päd­ agogisches Handeln zu ermöglichen, das um seine Voraussetzungen weiß. Dieser komplexe Zusammenhang und die Orientierung an der Aufgabe, dem aufwachsenden Menschen – aber, so darf man ergänzen, auch um ihre Weiterbildung bemühten Erwachsenen – unter den jeweiligen historischen Bedingungen Mündigkeit zu ermöglichen, sie erfordert eine relative Autonomie der Pädagogik als Praxis und als Theorie; relative Autonomie insofern, als das historische Kulturphänomen „Erziehung“ in den Gesamtzusammenhang der geschichtlichen Wirklichkeit verflochten ist. Daher muß eine so verstandene Erziehungswissenschaft immer auch auf die anderen Wissenschaften, die sich dieser Wirklichkeit zuwenden, bezogen bleiben. – Ich füge hier noch eine terminologische Bemerkung an: Es wäre m. E. zweckmäßig, statt von „relativer Autonomie“ von „relationaler Autonomie“ zu sprechen, d. h. von einer Eigenständigkeit der Pädagogik in Theorie und Praxis in der Beziehung. Leider hat sich der von meinem verstorbenen Kollegen Leonhard Froese vorgeschlagene Begriff der ,,relationalen Autonomie“ in unserer Disziplin nicht durchgesetzt.4 Litt hat seine wissenschaftstheoretische Position und zugleich die Forderung nach ,,relativer Autonomie der Erziehung“ nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in dem Berliner Vortrag „Die Bedeutung der pädagogischen Theorie für die

4 Vgl. L. Froese: Die bleibende Bedeutung des pädagogischen Autonomieprinzips. In: Bildung und Erziehung 5 (1952) S. 561–567.

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Ausbildung des Lehrers“ aus dem Jahre 1946 noch einmal unterstrichen5, jetzt bezogen auf die Aufgabe, daß Praktiker und Theoretiker der Erziehung nach der Erfahrung des Nationalsozialismus selbstkritisch ein neues „historisches Standortbewußtsein“ erarbeiten müßten. Darüber hinaus modifizierte und vertiefte Litt seine bisherige Auffassung von der pädagogischen Beziehung zwischen Erziehern und jungen Menschen nun, indem er einen Kerngedanken der Anthropologie und der pädagogischen Reflexionen des jüdischen Philosophen Martin Buber in seine Überlegungen integrierte: Bubers Erkenntnis von der fundamentalen Bedeutung der Ich-Du-Beziehung für die Entwicklung des Menschen zu einer humanen, selbstverantwortlichen und mitmenschlichen Existenzweise.6 Litt unterstrich im Sinne Bubers die Bedeutung, die der Erfahrung einer solchen Ich-Du-Beziehung im Entwicklungsprozeß von Kindern und Jugendlichen zukommt. Ich ergänze an dieser Stelle folgenden Hinweis: Auch die anderen Vertreter der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, vor allem Herman Nohl, Erich Weniger und Wilhelm Flitner, überdies etliche Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftler der Schülergeneration jener Begründer der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, haben dann jene Bereicherung und Vertiefung eines der Kernbegriffe dieser pädagogischen Richtung, der Kategorie des „Pädagogischen Bezuges“ bzw. des „Pädagogischen Verhältnisses“, im Anschluß an Buber mitvollzogen. M. E. ist es dabei nicht wesentlich, ob Litts vorher erwähnter Vortrag aus dem Jahre 1946 dabei direkt Pate gestanden hat oder nicht. Wichtig ist es hingegen zu betonen, daß der pädagogische Bezug als eine Form zwischenmenschlicher Beziehung im Sinne der Ich-Du-Relation nicht als unhistorisch verstanden wurde, sondern als jeweils mitgeprägt durch die geschichtliche Lage und das Beziehungsgeflecht der „überpersönlichen Mächte“: Wirtschaft, Sozialstruktur, Kultur, politisches System.

5 Th. Litt: Die Bedeutung der pädagogischen Theorie für die Ausbildung des Lehrers. In: Pädagogik 1 (1946) H. 4, S. 22–32. Wiederabdruck in: Litt: Führen oder Wachsenlassen (ab 4. Aufl.), S. 110–126. 6 Vgl. M. Buber: Dialogisches Leben. Gesammelte philosophische und pädagogische Schriften. Zürich 1947. – Ders.: Reden über Erziehung. Heidelberg 1953. – Litt: Die Bedeutung der pädagogischen Theorie für die Ausbildung des Lehrers, bes. S. 111ff.

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Zur Grundstruktur des pädagogischen Auftrages und des Erziehungs- bzw. Bildungsprozesses

Neben der Abhandlung über „Das Wesen des pädagogischen Denkens“ hat eine weitere Schrift Litts aus den zwanziger Jahren bald nach ihrem Erscheinen und noch einmal nach 1945 für etwa eineinhalb Jahrzehnte den Rang eines pädagogischen Standardtextes gewonnen: „Führen oder Wachsenlassen“ (zuerst 1972).7 Litt führt darin Überlegungen fort, die er 1925 in der Thesenreihe „Das Recht und die Grenzen der Schule“8 zuerst exponiert und dann in einem Vortrag aus dem Jahre 1926 und in seiner bereits erwähnten erweiterten Druckfassung differenzierter entwickelt hatte. Ich ergänze hier, daß es sich um einen Vortrag auf einem der größten pädagogischen Kongresse der zwanziger Jahre gehandelt hat, der mit etwa 700 Teilnehmern in Weimar stattfand. Der Untertitel des Buches – „Eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems“ – bringt den prinzipiellen Anspruch unmißverständlich zum Ausdruck. Thema des Buches ist die Frage nach dem Auftrag und den Grenzen der Erziehung und zugleich nach der Struktur jenes Prozesses, der durch Erziehung angeregt, unterstützt und beeinflußt wird oder werden soll. Die Argumentation zeigt wiederum die für Litt charakteristische dialektische Form: „Führen“ und „Wachsenlassen“ werden idealtypisch als in Sprachbildern formulierte, einander zunächst widersprechende Antworten auf jene vorher genannten pädagogischen Grundfragen vorgeführt und dann auf das in diesen Sprachbildern Gemeinte und auf die jeweiligen Voraussetzungen jener Antwortversuche hin analysiert. Das Überraschende der Littschen Problemstellung, die sich in den Diskussionen des Weimarer Kongresses herauskristallisiert hatte, ist nun ein eigentümlicher dialektischer Umschlag, der sich in der Argumentation der Vertreter der beiden konträren Programmformeln ergab: Die Forderung, Erziehung müsse primär günstige Bedingungen für das freie „Wachsen“ der jungen Generation aus ihren eigenen Kräften und Strebungen heraus schaffen, wurde von ihren Vertretern gegen diejenigen ins Feld geführt, die Erziehung vor allem als „Hin-Führung“ und „Ein-Führung“ in Traditionen oder in die gegenwärtige Kultur und Gesellschaft interpretierten. Nun zeigte sich jedoch in den Schriften und Stellungnahmen jener Verfechter der These vom „Wachsenlassen“, daß sie in Wahrheit immer schon bestimmte Vorstellungen von einer zukünftigen, erstrebenswerten Kultur und Gesellschaft und vom Ergebnis jenes pädagogisch zu 7 Vgl. die Literaturangaben in Anm. 2. 8 Das Recht und die Grenzen der Schule. Leitsätze (zu einem Vortrag). In: Pädagogische Antithesen. Karlsruhe 1926. (Mainzer Abhandlungen zur Philosophie und Pädagogik. Hrsg. von E. Feldmann. H. 2.) S. 71–72.

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ermöglichenden Wachstumsprozesses hatten. In Wahrheit ließen sie also das Ziel des vermeintlichen Wachstumsprozesses keineswegs offen. Indem sie die Jugend vermeintlich frei aus sich selbst heraus wachsen lassen wollten, führten sie zu dem, was sie als Ziel jenes Wachstumsvorganges voraussetzten. Litts Kritik an den entgegengesetzten Positionen „Erziehung als Wachsenlassen“ und „Erziehung als Führung“ gipfelt in der These, daß jeder fixierende Vorgriff auf die Zukunft – geschehe er nun unter dem Motto des Wachsenlassens in die Zukunft hinein oder aber in der Überzeugung von der Notwendigkeit der historischen Entwicklung auf einen inhaltlich bestimmten Endzustand hin oder in ausdrücklicher Orientierung an einem als verbindlich gesetzten Bildungsideal, zu dem die junge Generation „geführt“ werden müsse –, daß also jede Art von fixierendem Vorgriff eine Beschränkung der eigenen zukünftigen Entscheidungsmöglichkeiten der jungen Generation bedeutet und damit dem Sinn einer Erziehung zur Mündigkeit und freien Entscheidungsfähigkeit widerspricht. Diese Kritik trifft nun aber auch auf jene Variante der Position „Erziehung als Führung“ zu, die ihren Führungsanspruch dadurch meint rechtfertigen zu können, daß sie nicht eine Zukunft utopisch vorwegnimmt, sondern die Jugend „nur“ zu den großen Gehalten der Tradition hinleiten will, etwa im Sinne der klassischen deutschen Humanitätsidee oder auch zu einem „Deutschen Humanismus“ im Sinne der „Deutschkundebewegung“ der zwanziger Jahre, einer Richtung, die „deutschen Humanismus“ als Ausdruck „deutschen Wesens“ deutete. „Führen“ schlägt hier nach Litt um in distanzlose Anerkennung der erzieherischen Wirkung des historisch Gewachsenen, dem der junge Mensch als Glied eines nationalen Kulturzusammenhanges oder eines (in Wahrheit hypothetischen) „Volkscharakters“ angehöre oder wie vergleichbare Formeln immer lauten mögen. Immer gerät hier die zukünftige Entscheidungsfreiheit der nachwachsenden Generation in Gefahr. Litt spricht nun den beiden, von ihm idealtypisch rekonstruierten Denkansätzen – hier „Führen“, dort „Wachsenlassen“ – jeweils begrenzte Wahrheitsmomente zu. Sie müßten dialektisch aufeinander bezogen, miteinander „vermittelt“ und dadurch in einer Erkenntnis von höherem Wahrheitsgehalt „aufgehoben“ werden, wie es in der Sprache der Dialektik Hegels heißt. In diesem Sinne findet Litt „den guten Sinn des ‚Wachsenlassens‘“ im weiteren Argumentationsgang zum einen in der Anerkennung der Bedeutung nicht-institutio­ nalisierter und nicht-methodisierter Bildungsvorgänge, wie sie etwa im kindlichen Sprachlernprozeß exemplarisch zum Ausdruck kommen. Im Grunde spricht er hier jenes Insgesamt von Einwirkungs- und Aneignungsprozessen an, die seit etwa dreißig Jahren in der zeitgenössischen Pädagogik mit dem Begriff „Sozialisation“ bezeichnet werden. Allerdings übergeht Litt völlig die Problematik gruppen-, schichten- bzw. klassenspezifisch ungleicher Sozialisations- und Enkulturationsvorgänge

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und die etwaige politische, ethische und kulturelle Fragwürdigkeit dessen, was in solchen Prozessen an Prägungen auch vermittelt wird. – Zum anderen weist die Formel des „Wachsenlassens“ nach Litts Interpretation auch auf die pädagogische Bedeutung einer nicht durch Bildungsideale gelenkten, sondern „offenen“, jedoch inhaltlich und methodisch gezielt angestrebten Begegnung und Auseinandersetzung des jungen Menschen mit den historisch vorliegenden Objektivationen des menschlichen Geistes in Wissenschaft, Kunst, Religion und Sittlichkeit hin, so nämlich, daß das „Ergebnis“ solcher Aneignung von den Erziehenden nicht durch inhaltlich festgelegte Zielsetzungen vorausbestimmt wird. „Der gute Sinn des ‚Führens‘“ aber ergibt sich daraus, daß junge Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts angesichts einer hochkomplexen, spannungsreichen, historisch vielschichtigen gesellschaftlich-politisch-kulturellen Wirklichkeit, in die sie hineingestellt sind, Erkenntnis-, Kritik- und Handlungsfähigkeit nicht im bloßen „Hineinwachsen“ und „Mitleben“ gewinnen können. Dazu bedarf es vielmehr in wachsendem Maße helfender Aktivität der Erziehenden, der bewußten, pädagogisch reflektierten und methodisch organisierten Vermittlung zwischen der objektiven geschichtlichen Wirklichkeit in ihrer spannungsreichen Vielfalt und dem aufwachsenden Subjekt mit seinen je individuellen Möglichkeiten, die sich allerdings erst im Prozeß dieser Auseinandersetzung herausbilden. An dieser Stelle des Gedankenganges Litts schlägt nun allerdings eine konservative Grundtendenz durch, auf die man sowohl vor 1933 als auch nach 1945 in seinen pädagogischen Vorträgen, Schriften, Stellungnahmen immer wieder stößt. Diese Tendenz unterscheidet sein pädagogisches Denken deutlich von dem anderer Vertreter der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, besonders von der Sichtweise Herman Nohls und Erich Wenigers. In dem Buch „Führen oder Wachsenlassen“ zeigt sich die Tendenz deutlich in folgender Weise: Litt spricht dem objektiven Pol in der Beziehung zwischen der vorgegebenen geschichtlichen Kultur und der jeweils nachwachsenden Generation nun doch das größere Gewicht zu, wenn er betont, daß Erziehung „im Element der Tradition atme“. Die Möglichkeit oder gar die Aufgabe der Erziehung, die junge Generation bewußt zur aktiven, kritischen Auseinandersetzung mit Traditionen anzuregen, sie zum Selber-Gestalten und ggf. zum Umgestalten des Überlieferten, zum Entwurf hypothetischer Vorstellungen einer veränderten Zukunft zu ermutigen, kommt bei Litt nicht zur Sprache, anders als bei Nohl und Weniger, die solche gedanklichen Vorentwürfe unter dem Begriff der „Vorwegnahme“, die nicht mit fixierten Vorgriffen verwechselt werden darf, als eine legitime, ja notwendige Form der Erziehung zur Mündigkeit betonten. Ich unterstreiche mit Nachdruck: Jene konservative Akzentsetzung Litts ist in der von ihm aufgewiesenen Vermittlungsstruktur als solcher keineswegs mit Notwendigkeit angelegt!

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Von der „staatsbürgerlichen Erziehung“ der Weimarer Zeit zur „demokratisch-politischen Erziehung“ nach 1945

Als weiteres Zentralproblem der Pädagogik Litts, das ich hier zur Sprache bringen möchte, ist jener Fragenkreis zu nennen, den Litt bis 1933 unter dem Titel „Staatsbürgerliche Erziehung“ und nach 1945 unter den Begriffen „Politische Erziehung“ oder – synonym damit – „Politische Bildung“ behandelte. Bevor ich in wenigen Grundzügen die Entwicklung seiner theoretischen Konzepte zu diesem Problemkreis verfolge, gehe ich auf Litts eigene Position im Spektrum politischer Einstellungen deutscher Hochschullehrer in der Zeit der Weimarer Republik ein. Zahlreiche Untersuchungen der letzten Jahrzehnte haben immer wieder einen Befund erbracht, der für das Gros der Hochschullehrer jener Zeit gilt. Wolfgang Abendroth hat diesen Befund in der Formel „das Unpolitische als Wesensmerkmal der deutschen Universität“ ausgedrückt.9 Während die konzeptionellen Begründer der deutschen Universitätsidee zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, vor allem Humboldt, Fichte und Schleiermacher, das politische Moment in ihrer Weise durchaus in ihre Universitätskonzeption miteinbezogen, wenngleich sich das Maß und die Art ihrer diesbezüglichen Reflexionen im Rückblick auch als zeitbedingt begrenzt erweisen, geriet die gesellschaftliche und politische Bedeutung der Universitäten und der an ihnen betriebenen wissenschaftlichen Forschung und Lehre im Laufe des neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts in zunehmendem Maße in Vergessenheit, parallel zur Geschichte des politisch-gesellschaftliehen Bewußtseins der breiten Schichten des deutschen Bürgertums und der Intelligenz. „Unpolitisch“ zu sein wurde in dem in Wahrheit ideologischen, d. h. hier: gesellschaftlich bedingt falschen Bewußtsein der meisten Universitätslehrer geradezu ein positiv gewertetes Statusmerkmal. Die Chance, nach 1918 unter den neuen politischen Bedingungen der ersten deutschen Republik auch ein neues, realistisches politisches Bewußtsein und Formen politischer Mitverantwortung zu entwickeln, ist von den meisten Hochschullehrern in der Zeit der Weimarer Republik nicht genutzt worden, und auch die Ausnahmen bestätigen letztlich doch nur die Regel.

9 W. Abendroth: Das Unpolitische als Wesensmerkmal der deutschen Universität. In: Nationalsozialismus und die deutsche Universität. Universitätstage 1966. Berlin 1966. S. 189–208. – Zum folgenden vgl. W. Klafki: Theodor Litt zwischen Weimar und Bonn. In: Demokratie-Lernen als politische und pädagogische Aufgabe. Für Kurt Gerhard Fischer zum 60. Geburtstag. Hrsg. von S. George und W. Sander. Stuttgart 1988. S. 13–40.

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Nun war die Mehrzahl dieser vermeintlich „unpolitischen“ Hochschullehrer – entgegen ihrem Selbstverständnis – in Wahrheit keineswegs politisch neutral, und sie konnte es gar nicht sein, weder im gesamtpolitischen Zusammenhang noch innerhalb der Universitäten und Hochschulen und innerhalb der Wissenschaftsentwicklung: Wissenschaft, Universität und wissenschaftliche Berufstätigkeit haben immer politisch-gesellschaftliehe Voraussetzungen, Implikationen und – sei es auch subjektiv unbeabsichtigte – Folgen, die man zwar ignorieren oder leugnen kann, die man damit aber keineswegs aus der Welt schafft. Nun gab es allerdings auch innerhalb der Universitäten und Hochschulen der Weimarer Zeit bereits begrenzte Gruppen politisch bewußter Hochschullehrer. Vereinfacht kann man sie in zwei Hauptgruppen gliedern: Zum einen war es die kleine Gruppe, die sich ausdrücklich und positiv auf den Boden der demokratischen Verfassung stellte. Hier sind noch einmal zwei Varianten zu unterscheiden. Die eine Teilgruppe kann man als entschiedene Demokraten bezeichnen, zu ihnen sind z. B. die Staatsrechtler Hermann Heller, Hugo Preuß und Gustav Radbruch oder der Soziologe Karl Mannheim zu zählen. – Die zweite Teilgruppe hat man später zutreffend als „Vernunftrepublikaner“ bezeichnet. Sie erkannten die Weimarer Verfassung und die parlamentarische Demokratie angesichts der tatsächlichen sozialen und politischen Entwicklungen und angesichts des politischen Versagens der preußisch-deutschen Monarchie in der Vorweltkriegszeit und im Ersten Weltkrieg als legale und legitime Basis der Nachkriegszeit an und verhielten sich aus dieser Auffassung heraus explizit loyal zur Weimarer Demokratie, so etwa die Historiker Friedrich Meinecke, Adolf von Harnack, Hans Delbrück und Wilhelm Kahl. Den beiden genannten, republikanisch engagierten oder mindestens republiktreuen Hochschullehrergruppen stand eine andere, zahlenmäßig stärkere Hauptgruppe politisch explizit engagierter Hochschullehrer gegenüber. Sie brachten ihre Ablehnung der Weimarer Republik gezielt und mit offensichtlichem Erfolg, z. B. bei zahlreichen Studenten, außerhalb und innerhalb ihrer akademischen Lehrtätigkeit zum Ausdruck, in der Pädagogik etwa Ernst Krieck und Alfred Baeumler, später die anerkannten Wortführer der nationalsozialistischen Pädagogik, in der Philosophie, jedenfalls gegen Ende der Weimarer Zeit, z. B. der in Leipzig lehrende Kultur- und Sozialphilosoph Hans Freyer. Zwischen den beiden genannten Hauptgruppen stand die große, weit überwiegende Zahl der vermeintlich Unpolitischen. Sie unterlag jedoch auch inneruniversitär einer folgenreichen Selbsttäuschung: Denn angesichts des tatsächlichen Kräfteverhältnisses, vor allem angesichts der Entwicklungen in der Endphase der Republik bedeutete vermeintliche Neutralität de facto eine Stärkung der wachsenden antidemokratischen Kräfte.

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Theodor Litt gehörte seit Beginn seiner akademischen Lehrtätigkeit im Jahre 1919 nicht zum Gros der vermeintlich „unpolitischen“ Professoren. Vielmehr hing schon sein Eintritt in die Universität damit zusammen, daß er, nach seinem m. E. glaubwürdigen Selbstzeugnis, den Ersten Weltkrieg als eine Krise erfuhr, die eine politische und kulturelle Selbstbesinnung und ein neuartiges, wissenschaftliches und politisches Engagement herausforderte.10 B1ickt man nun auf jene vorher skizzierte kleine Typologie der politischen Positionen deutscher Hochschullehrer vor 1933 zurück, so wird man Litt in den Umkreis der sogenannten „Vernunftrepublikaner“ einordnen können, wenn auch mit gewissen Einschränkungen. Obwohl Litt sich kritisch gegen alle extremen politischen Gruppen und damit auch gegen die Gegner der Weimarer Republik wendete, hat er sich vor 1933 doch nur selten für diese Republik mit jener unmißverständlichen Klarheit eingesetzt, die der Unbedingtheit seines demokratischen Engagements nach 1945 vergleichbar wäre. Die positivste Stellungnahme enthält ein Vortrag, den Litt 1920 über „Die Aufgaben des Akademikers im neuen Deutschland“ gehalten hat.11 Litts Kritik an der politischen Abstinenz des größeren Teils der Akademiker führt hier zu folgender Konsequenz: „ … wenn in früheren Zeiten der ‚beschränkte Untertanenverstand‘ sich in dem Gefühl beruhigen konnte, daß ja schließlich die Weisheit der Regierenden alles zum Besten lenken werde, so hat die Umwälzung zur Demokratie dieser an sich schon verwerflichen Denkweise ganz und gar den Boden entzogen. Was eine Demokratie ist und leistet, das hängt einzig und allein von der Tüchtigkeit, der Einsicht, dem Verantwortungsbewußtsein ihrer Bürger, eines jeden ihrer Bürger ab. Wo der einzelne sich gleichgültig beiseitestellt, da wird die in ihm verkörperte geistige Kraft dem Ganzen unweigerlich entzogen.“12 Die zitierten Sätze könnten auf ein uneingeschränktes, auch praktisch getätigtes demokratisches Engagement, fundiert durch eine reflektierte politische Theorie, schließen lassen, gäbe es an Litts gleichzeitigen und an späteren Abhandlungen zum Problem des Politischen in der staatsbürgerlichen Erziehung nicht etliche Aussagen, die diesen Eindruck zwar nicht in sein Gegenteil verkehren, aber doch erheblich abschwächen; und zwar ist diese Tendenz in Litts einschlägigen Schriften bis 1931 zunehmend deutlicher hervorgetreten. Das hängt vor allem mit einem Denkmotiv zusammen, das er immer entschiedener betonte: dem Bemühen um eine allgemeine Strukturanalyse des Politischen. Problematisch ist unter diesem 10 Vgl. die Belege und Interpretationen bei Klafki: Die Pädagogik Theodor Litts, bes. S. 13, 202–203. 11 Th. Litt: Die Aufgaben des Akademikers im neuen Deutschland. Vortrag, gehalten im Akademikerbund Bonn. In: Deutsche akademische Zeitschrift 1 (1920) S. 538–547. 12 Ebd. S. 541, Anm. 11. – Vgl. Klafki: Die Pädagogik Theodor Litts. S. 17.

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Aspekt m. E. nicht etwa die Tatsache, daß Litt im Zuge dieses Denkprozesses den Staat und den Staatsbegriff immer entschiedener in den Mittelpunkt seiner Reflexion rückte, sondern die Art und Weise, wie er es tat. Ich verdeutliche das anhand eines Aufsatzes aus dem Jahre 1924, der damals starke Beachtung fand; der Aufsatz trägt den Titel: „Die philosophischen Grundlagen der staatsbürgerlichen Erziehung“.13 Als das zentrale Problem einer solchen Grundlegung staatsbürgerlicher Erziehung bezeichnet Litt die Antwort auf die Frage, in welchem Verhältnis die drei Momente „Staat und Politik“, „geschichtliche Kulturmächte“ (er meint damit Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Weltanschauungen, Religionen) und „das Individuum in seiner sittlichen Verantwortung“ zueinander stehen. Litt bestimmt diese dreipolige Beziehung zwischen Staat und Politik, Kulturmächten und dem sittlich verantwortlichen Individuum dahingehend, daß alle drei Momente wechselseitig aufeinander bezogen sind, ohne daß die zwischen ihnen bestehende, jeweils neu zu bewältigende Spannung jemals in einer harmonischen Synthese oder durch Überordnung eines der drei Momente über die anderen aufgelöst werden könnte. Die historisch unverlierbare Leistung der Schaffung des Staates sei es, daß die potentielle Ausübung von physischer Gewalt zur Sicherung innen- und außenpolitischer Rechts- und Friedensordnungen ausschließlich bei dieser Institution monopolisiert worden ist. Damit entlastet der Staat alle anderen gesellschaftlich-kulturellen „Mächte“ und die Individuen davon, ihre Existenz selbst durch potentielle oder aktuelle Gewaltausübung sichern zu müssen, und er gibt ihnen die Möglichkeit zur Auseinandersetzung und Entwicklung innerhalb bestimmter Regelungen. Gleichzeitig setzt der Staat damit die Entwicklung von kulturellen Aktivitäten und der ethischen Reflexion der Individuen frei, die nun auf den Staat zurückgewendet werden können, z. B. als Forderung nach der Sicherung von Freiheitsrechten der Individuen, nach prinzipieller Ausschaltung des Krieges, nach Abrüstung, nach Humanisierung des Strafvollzugs usw. Der Staat zieht sich gleichsam – und das ist nicht negativ-kritisch gemeint – seine eigenen Kritiker heran, ohne jedoch, wenn er seine Funktion erfüllen soll, je ganz auf die Ausübung, mindestens aber den potentiellen Einsatz bei ihm monopolisierter Gewaltmittel verzichten zu können. Die Aufgabe staatsbürgerlicher Erziehung bestimmt Litt nun dahingehend, daß sie die Unausweichlichkeit der angedeuteten Spannungen und die Notwendigkeit jeweils neuer Entscheidungen in Anerkennung der aufgewiese-

13 Th. Litt: Die philosophischen Grundlagen der staatsbürgerlichen Erziehung. In: Staatsbürgerliche Erziehung. Hrsg. von F. Lampe und G. H. Franke. Breslau 1924. S. 19–38. Erw. Fassung in: Th. Litt: Möglichkeiten und Grenzen der Pädagogik. Abhandlungen zur gegenwärtigen Lage von Erziehung und Erziehungstheorie. Leipzig/Berlin 1926. S. 61–88. – Vgl. dazu Klafki: Die Pädagogik Theodor Litts. S. 231–248.

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nen Grundbeziehungen einsichtig machen und zur Entwicklung entsprechender Haltungen und Tugenden junger Menschen beitragen müsse. Der Mangel dieses Konzepts liegt zweifellos in seinem abstrakten Formalismus. Litt dringt nämlich nicht bis zur Ebene einer konkreten, historisch-politischen Analyse der Interessen, der Macht- und Einflußfaktoren, der Prozesse und Einrichtungen, die das Beziehungsfeld zwischen Staat, Gesellschaft und Individuen bestimmen, vor. „Der Staat“ bzw. „die Staatsidee“ bleiben daher in dieser Theorie den gesellschaftlich-kulturellen Gruppen letztlich doch abstrakt übergeordnete Instanzen. Der Staat wird nicht als das jeweils politisch kodifizierte Resultat gesellschaftlicher Macht- und Interessenkonstellationen begriffen. Daraus folgt dann Litts Forderung, den Staat in der staatsbürgerlichen Erziehung auf einer Betrachtungsebene „oberhalb“ konkreter politischer Auseinandersetzungen zu erörtern und auch die damals gegebene republikanische Verfassung nur als eine unter mehreren denkbaren Verwirklichungsformen staatlicher Ordnung zu betrachten, allerdings als eine nur für die damalige Situation gültige und zur Mitwirkung verpflichtende Ordnung. Nun hat Litt allerdings in den letzten Jahren der Weimarer Republik, 1931 und 1932, jene Grenzen, die er sich als Wissenschaftler hinsichtlich politischer Stellungnahmen selbst glaubte setzen zu müssen, einige Male überschritten. Aber er ist dabei sozusagen „auf halbem Wege stehengeblieben“. Ich verdeutliche das an jener Rektoratsrede aus dem Spätherbst 1931, die Litt nach der Übernahme des Rektorats der Leipziger Universität hielt. Sein Thema lautete „Hochschule und Politik“; er hat sie, offensichtlich an möglichst weitreichender Wirkung interessiert, sowohl in einer Broschüre als auch in der von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift „Die Erziehung“ veröffentlicht.14 In dieser Rede kommt zum einen die klare Erkenntnis der Krisensituation, in der sich die erste deutsche Republik innen- und außenpolitisch in jenen Jahren befand, zum Ausdruck: „Die Existenz ganzer Völker und Kulturen“ stehe „auf des Messers Schneide“. „Da gibt es keinen Bezirk sinnvollen Schaffens, der sich gegenüber der politischen Sphäre in säuberlicher Abtrennung behaupten konnte … Das Problem ‚Hochschule und Politik‘ ist so umstritten, so brennend wie noch nie.“ Anlaß der Littschen Argumentation waren die immer lauter erhobenen Forderungen verschiedener politischer Strömungen, die Hochschule solle sich entschieden in den Dienst der Zielsetzungen jener Strömungen, kontroverser Strömungen von links bis rechts, stellen. Litt weist solche Ansprüche als unvereinbar mit dem Grundprinzip 14 Th. Litt: Hochschule und Politik. (Rektoratsrede). In: Rektoratswechsel an der Universität Leipzig am 31. Oktober 1931. Leipzig 1931, S. 35–50. – Auch in: Die Erziehung 7 (1932), S. 134–148. – Vgl. Klafki: Die Pädagogik Theodor Litts. S. 231–248, bes. 245–247.

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der Wissenschaft, der unvoreingenommenen Suche nach Erkenntnis, zurück. Er fordert, die Politik müsse die Freiheit der Wissenschaft und damit der Universität als Ort wissenschaftlicher Forschung und Lehre gewährleisten. Gleichzeitig aber betont er, die Hochschule werde „den Dienst am Volk, den man mit gutem Grund von ihr fordert, gerade dann am vollkommensten leisten, wenn sie unbeirrt an der Leitidee festhält, die ihr das Herniedersteigen in die Arena des Kampfes verbietet“. Mit dieser Forderung nach praktisch-politischer Enthaltsamkeit übersah er jedoch, daß seine eigene Situationsanalyse ihrer Substanz nach die offene politisch-praktische Entscheidung für jene politischen Positionen als notwendig erwies, die die demokratische Grundordnung der Republik und damit auch die Freiheit wissenschaftlicher Forschung und Lehre nicht nur formell, sondern inhaltlich bejahten, und damit die offene Entscheidung gegen alle diejenigen, die sie bekämpften. Einzig und allein eine demokratische Verfassung hätte dauerhaft jene Freiheit der Hochschulen und der Wissenschaften sichern können, um die es Litt zu tun war! Trotz der kritischen Vorbehalte, die man m. E. gegenüber den politisch relevanten Stellungnahmen Litts vor 1933 und hinsichtlich seiner Konzeption staatsbürgerlicher Erziehung vor 1933 anmelden kann und muß, stand seine Opposition wie gegen jede Art des Totalitarismus so auch gegen eine nationalsozialistische außer Zweifel. Das hat Hans Freyer, dessen Affinität zum autoritären politischen Nationalismus sich schon vor 1933 abzuzeichnen begann und die ihn nach 1933 schnell auf den Kurs der neuen Machthaber einschwenken ließ, Litt bereits 1932 in einem Aufsatz über „Die Universität als hohe Schule des Staates“ bestätigt. Freyer schließt dort ein Referat über Litts Auffassung vom Verhältnis von Wissenschaft und Politik, von der er sich distanziert, mit dem Satz ab: „Der Anspruch, daß die Wissenschaft, die selbstverständliche Lenkerin des politischen Willens sei, wird von Litt ebenso verworfen wie der Anspruch des politischen Willens, auf die wissenschaftliche Erkenntnis überzugreifen. Platon wird ebenso heftig bekämpft wie die Nationalsozialisten und Kommunisten.“15 Nach der sogenannten Machtübernahme beließen die Nationalsozialisten Litt ähnlich wie andere Hochschullehrer, die sich vor 1933 nicht als aktive Mitglieder oder Befürworter linker politischer Parteien exponiert hatten, in ihren wissenschaftlichen Ämtern, sofern es sich dabei nicht um wissenschaftspolitisch wichtige Funktionen handelte. Die politische Polemik gegen diejenigen, die sich nicht klar zum neuen System bekannten, wurde nun aber verschärft. Das kann hier im Hinblick auf Litt nicht im Detail kommentiert werden. Zunächst erhielt er zwar kein formelles Vortragsverbot (es wurde erst 1941 für Sachsen ausgesprochen), aber seine Vortragstätigkeit wurde faktisch zunehmend mehr eingeschränkt, und 15 H. Freyer: Die Universität als hohe Schule des Staates. In: Die Erziehung 7 (1932), S. 536.

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die Zusammenstöße mit nationalsozialistischen Funktionsträgern und Gruppen innerhalb und außerhalb der Universität nahmen zu, so daß Litt sich auf eigenen Wunsch 1937 vorzeitig emeritieren ließ. Wenige Monate vorher war Herman Nohl in Göttingen zwangsemeritiert worden, eine Ausschaltung, die Erich Weniger bereits 1933 erfahren hatte. Litt hat nach 1933 keineswegs den Weg in die „innere Emigration“ angetreten. Er übte in fünf Aufsätzen und Abhandlungen jener Zeit offene Kritik: In den Aufsätzen bzw. Schriften „Die Stellung der Geisteswissenschaften im nationalsozialistischen Staat“ (1933 und in 2. Auflage 1934)16, „Philosophie und Zeitgeist“ (1935)17, „Der deutsche Geist und das Christentum“ (1938)18, „Die gedanklichen Grundlagen der rassentheoretischen Geschichtsauffassung“19 und „Protestantisches Geschichtsbewußtsein“20, beide Publikationen 1939. Ich muß es hinsichtlich dieser Arbeiten bei sehr knappen Hinweisen belassen: Litt konzentrierte sich darin vor allem auf den Aufweis der wissenschaftlichen Unhaltbarkeit und inneren Widersprüchlichkeit der propagierten Indienstnahme der Wissenschaft für die Scheinrechtfertigung nationalsozialistischer Weltanschauung und auf die Unhaltbarkeit der biologisch-rassistischen Geschichtsinterpretation des Nationalsozialismus. Daß die nationalsozialistischen Zensurbehörden die Veröffentlichung dieser Schriften nicht verboten, ist wohl nur dadurch zu erklären, daß Litt sie nicht als politische Kritik am System kennzeichnete, sondern konsequent den Anschein rein wissenschaftlicher, theoretischer Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Kontrahenten durchhielt, wie immer er für sich selbst über die wissenschaftliche Qualität der von ihm kritisierten Autoren und ihrer Publikationen geurteilt haben dürfte. Die genannten Arbeiten gehören zu den überzeugenden Dokumenten mutiger wissenschaftlicher Opposition gegen den Nationalsozialismus nach 1933 innerhalb

16 Th. Litt: Die Stellung der Geisteswissenschaften im nationalsozialistischen Staat. Leipzig 1933; 2. Aufl. 1934. Auch in: Die Erziehung 9 (1934), S. 12–32. 17 Th. Litt: Philosophie und Zeitgeist. Leipzig 1935; 2. Aufl. 1935. 18 Th. Litt: Der deutsche Geist und das Christentum. Vom Wesen geschichtlicher Begegnung. Leipzig 1938 (14.-16. Tsd. 1939). Nachdruck Leipzig 1997. 19 Th. Litt: Die gedanklichen Grundlagen der rassentheoretischen Geschichtsauffassung. (Vortrag am 14.5.1938, Zusammenfassung). In: Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Phil.-hist. Klasse. Bd. 90. H. 3. Leipzig 1938. S. 3–5. 20 Th. Litt: Protestantisches Geschichtsbewußtsein. Eine geschichtsphilosophische Besinnung. Leipzig 1939. Wiederabdruck unter dem Titel „Pestalozzis Anthropologie als Ausdruck protestantischen Geschichtsbewußtseins“. In: Th. Litt: Der lebendige Pestalozzi. Drei sozialpädagogische Bestimmungen. Heidelberg 1952; 2. Aufl. 1961. S. 23–61.

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seines Herrschaftsbereichs.21 – Ich erwähne noch, daß Litt während des Zweiten Weltkrieges in Kontakt zu dem sich allmählich formierenden konservativen Widerstandskreis um den ehemaligen Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler trat; überdies gehörte er der ebenfalls, wenngleich nicht offen oppositionellen Leipziger „Mittwochsgesellschaft“ an, wiewohl er nicht den Schritt zum aktiven politischen Widerstand tat.22 Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm Litt 1945 erneut ein Ordinariat für Philosophie und Pädagogik in Leipzig. Als sich jedoch der Übergang der Kulturpolitik der damaligen Sowjetischen Besatzungszone von der relativ pluralistischen „antifaschistisch-demokratischen“ Periode zur „sozialistischen“ Formierung im Sinne der SED abzeichnete, wurde die Unvereinbarkeit dieser Intention mit Litts wissenschaftlichen Überzeugungen deutlich. Litt nahm daher 1947 einen Ruf auf das Ordinariat für Philosophie und Pädagogik an der Universität Bonn an. Nach diesen biographischen Zwischeninformationen wende ich mich der Frage zu, ob es hinsichtlich des Problems der staatsbürgerlichen bzw., wie Litt nun generell formuliert, der politischen Erziehung nach 1945 nennenswerte Neuentwicklungen im Vergleich mit seinen in der Weimarer Republik vertretenen Auffassungen gegeben hat. Dazu ist zunächst festzustellen: Die Erfahrung des Nationalsozialismus führte bei Litt zu einer entscheidenden Positionsänderung. Seine seit 1949/50 erschienenen Beiträge zum Problem der politischen Erziehung bzw. Bildung in Hochschule, Schule, außerschulischer Bildungsarbeit und Erwachsenenbildung beruhen auf folgender Kernthese: Das Zentrum der „politischen Selbsterziehung des deutschen Volkes“ – so lautete der Titel einer seit 1954 immer wieder in hohen Neuauflagen

21 Ausführlicher habe ich die NS-Kriterien Litts im Kapitel IX meines Buches „Die Pädagogik Theodor Litts“ unter dem Titel „Litts Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus“ (S. 271–282) und im biographischen Zusammenhang im Abschnitt über „Offene Opposition und innere Emigration 1933–1945“ (S. 30–38) erörtert. – Vgl. auch: Fr. Nicolin: Theodor Litt und der Nationalsozialismus. In: Theodor Litt und die Politische Bildung der Gegenwart. Hrsg. von P. Gutjahr-Löser, H.-H. Knütter, F. W. Rothenspieler. München 1981, S. 113–139. Nicolins Beitrag enthält über die systematische Interpretation hinaus auch biographisch wichtige Informationen. – Biographisch aufschlußreich ist auch die Schrift von Wolfgang M. Schwierdzik: Lieber will ich Steine klopfen. Der Philosoph und Pädagoge Theodor Litt in Leipzig. Hrsg. vom Rektor der Universität Leipzig, Leipzig 1996. Für die Zeit nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs ist hinsichtlich der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus noch auf folgenden, nur in Englisch veröffentlichten Aufsatz Litts hinzuweisen: The National-Socialist use of moral tendencies in Germany. In: The Third Reich. London 1955. S. 438–455. 22 Vgl. den in Anm. 21 genannten Beitrag von Nicolin sowie Klafki: Die Pädagogik Theodor Litts. S. 36–37.

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erschienenen Schrift 23 – müsse die Vermittlung der Einsicht sein, daß eine humane Rechts- und Friedensordnung unter den Bedingungen der modernen Welt nur durch ein demokratisches politisches System entwickelt und gesichert werden kann. Das Prinzip demokratischer Systeme aber ist die Garantie freier Auseinandersetzung zwischen verschiedenen politischen Ordnungsvorstellungen, die Absage an die Kanonisierung einer einzigen politischen Konzeption, die Ermöglichung ständiger politischer Diskussion ohne physische Gewaltanwendung. Hinsichtlich der Aneignung dieser Erkenntnis sei die erwachsene Generation in Deutschland im Prinzip in der gleichen Lage wie die Nachwachsenden. Man müsse politischen Einheitsprogrammen eine Absage erteilen und auf harmonistische Leitvorstellungen verzichten, wie sie zu jener Zeit u. a. von Theodor Wilhelm – der damals noch unter dem Pseudonym Friedrich Oetinger veröffentlichte – in seiner vieldiskutierten „Partnerschaftstheorie“ vertreten wurde.24 Vielmehr gehe es um die Anerkennung des Konflikts und der gewaltfreien Konfliktaustragung als Grundbedingung eines demokratischen Systems und zugleich als des positiven Ausdrucks menschlicher Entscheidungsfreiheit und politischer Kreativität. Mit dieser Auffassung ist Litt in gewisser Weise zum Vorläufer des späteren Konfliktansatzes in der Theorie und Praxis politischer Bildung geworden. Aber auch dieser neue Ansatz Litts weist eine deutliche Grenze auf, und hier ist Litt im wesentlichen noch einer Problemverkürzung verhaftet geblieben, die schon sein Konzept staatsbürgerlicher Erziehung in der Weimarer Periode kennzeichnete. Litt begriff innenpolitische Auseinandersetzungen in der Demokratie immer nur als Konflikte zwischen politischen Ordnungsvorstellungen. Er befragte kontroverse politische Ordnungsvorstellungen aber nicht auf ihre Grundlagen in realen gesellschaftlichen Interessen und verfolgte daher auch die jeweils überholbaren Konfliktlösungen und etwaigen Kompromisse nicht auf ihren Zusammenhang und gesellschaftlichen, nicht zuletzt ökonomisch bedingten Herrschaftsverhältnissen und Einflußmöglichkeiten. Dies dürfte auch der Hauptgrund dafür sein, daß in Litts letzten politischen bzw. politisch-pädagogischen Schriften25 zwar die unde23 Die politische Selbsterziehung des deutschen Volkes. Bonn 1954. Auch in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ 1954, S. 25–34. Seit 1957 (3. Aufl.) als Broschüre, mehrfach um thematisch anschließende Beiträge erweitert. 8. Aufl. 1967. – Vgl. auch: Freiheit und Lebensordnung. Zur Philosophie und Pädagogik der Demokratie. Heidelberg 1962. 24 Fr .Oetinger (Pseudonym von Th. Wilhelm): Wendepunkt der politischen Erziehung. Stuttgart 1951, ab der 3., erw. Aufl. unter dem Titel: Partnerschaft. Die Aufgabe der politischen Erziehung. Stuttgart 1956. 25 Vgl. vor allem die fünf Abhandlungen, die Litt 1958 in seinem Buch „Wissenschaft und Menschenbildung im Lichte des West-Ost-Gegensatzes“ (Heidelberg 1958) zusammenfaßte

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mokratisch-diktatorischen Tendenzen der damaligen, sich selbst als „sozialistisch“ bezeichnenden Staaten Osteuropas und ihre Erziehungssysteme mit Recht scharfer Kritik unterzogen wurden, daß er aber eine differenzierte Auseinandersetzung mit jenen Staats- und Erziehungstheorien durch die schematische Gegenüberstellung „freier“ und „unfreier“ Staaten ersetzte, jedoch nicht in eine kritische Analyse der realen ökonomisch-gesellschaftlich-politischen Verhältnisse in sogenannten „sozialistischen“ und in „nicht-sozialistischen“ Systemen eintrat.

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Die Bildungsaufgabe angesichts der modernen, naturwissenschaftlich-technisch bestimmten Produktions- und Arbeitswelt

Neben der Frage der politischen Bildung hat vor allem ein zweiter Problemkreis Litts pädagogisches Denken nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich bestimmt: Es war die Frage nach den Aufgaben, die sich der Erziehung angesichts der zentralen Bedeutung der exakten Naturwissenschaften, der auf ihnen basierenden modernen Technik und der durch sie bestimmten modernen Produktions- und Arbeitswelt stellen. Mit dieser Fragestellung korrigierte Litt die Realitätsferne seiner einstigen „Kulturpädagogik“; er bezog nun die Bildungsproblematik konsequent auf die Alltagsrealität des individuellen und gesellschaftlichen Lebens in der modernen Welt. Litt erkannte, daß diese veränderte Sichtweise zugleich eine substantielle Erweiterung und Veränderung des in der Zeit der deutschen Klassik – von Herder bis Hegel – geprägten Bildungsbegriffs erforderte. Philosophisch war diese Wende in Litts Bildungstheorie durch seine philosophische Anthropologie, wie er sie in dem 1948 zuerst publizierten Buch „Mensch und Welt“ (2. Aufl. 1961)26 entfaltete, und durch die Neufassung seiner Wissenschaftstheorie in dem Werk „Denken und Sein“, ebenfalls 1948 erschienen27, vorbereitet worden. Unter bildungstheoretischem Aspekt entfaltete Litt seine Position vor allem in drei Büchern: „Naturwissenschaft und Menschenbildung“ (1952)28, „Das Bildungs­ und in der 2. Auflage um den Beitrag „Die Rationalisierung und das Selbst“ erweiterte (Heidelberg 1959). 26 Th. Litt: Mensch und Welt. Grundlinien einer Philosophie des Geistes. München 1948; 2., durchges. Aufl. Heidelberg 1961. 27 Th. Litt: Denken und Sein. Stuttgart/Zürich 1948. 28 Th. Litt: Naturwissenschaft und Menschenbildung. Heidelberg 1952; 2., erw. und verb. Aufl. 1954, 3., nochmals erw. Aufl. 1959.

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ideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt“ (1955)29 und „Technisches Denken und menschliche Bildung (1957).30 Nach Litts Interpretation ist das Bildungs- bzw. das Humanitätsideal der deutschen Klassik im Gegenzug gegen die seit Ende des 18. Jahrhunderts sich abzeichnende Entwicklung der Industrialisierung und eines zunehmend arbeitsteiligen Gesellschaftssystems entworfen worden. Indem „Bildung“ und „Humanität“ dadurch ermöglicht werden sollten, daß die natürliche und die historische Welt als „Material“ der harmonischen Selbstformung des Menschen interpretiert wurden, so etwa nach Litts Deutung bei Humboldt, oder die Vermittlung von Subjekt und Welt in vorindustriellen Tätigkeiten, so etwa bei Goethe, gesucht wurde, blieben drei entscheidende Grundtendenzen der Entwicklung des 19. und des 20. Jahrhunderts letztlich unbegriffen und folglich außerhalb dieser Bildungsauffassung: • Erstens durchschauten die Vertreter der „klassischen“ Bildungsidee nicht die methodologische Struktur der modernen exakten Naturwissenschaften, die auf der radikalen Subjekt-Objekt-Scheidung beruht, als Ergebnis eines menschlichen Selbstdisziplinierungsaktes, der einerseits exakte, mathematisch formulierbare Erkenntnis von gesetzmäßigen Beziehungen in der gegenständlich erfahrbaren Wirklichkeit überhaupt erst ermöglicht, andererseits aber, sofern diese Erkenntnisweise verabsolutiert wird, die Mehrdimensionalität menschlicher Erkenntnismöglichkeiten auf eine einzige reduziert. • Die zweite, im klassischen Bildungsdenken letztlich unbegriffene Entwicklung war das technische Denken und die in ihm wirksame exakt-konstruktive Phantasie bei der Übersetzung naturwissenschaftlich ermittelter Wenn-Dann-Beziehungen in Zweck-Mittel-Relationen. • Drittens erlaubten es die Denkansätze der „,klassischen“ Bildungstheorien nicht, konstruktive Antworten auf den die Menschen unseres Zeitalters zutiefst prägenden Funktionszusammenhang einer hochgradig arbeitsteiligen, industrialisierten Produktions- und Arbeitswelt und eines ihr entsprechenden, rationalisierten Verwaltungssystems zu entwickeln.

29 Th. Litt: Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt. Bonn 1955. Auch in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitschrift „Das Parlament“ 1955, S. 169–204. – 6., verb. und erw. Aufl. 1959. – Ab 1959 als Lizenzausgabe Bochum 1959, 3. Aufl. 1964. 30 Th. Litt: Technisches Denken und menschliche Bildung. Heidelberg 1957; 2., verb. Aufl. 1960. – Vgl. zur 1. Aufl. meine Rezension in: Zeitschrift für Pädagogik 4 (1958) S. 50–58.

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Das Bildungsdenken der deutschen Klassik, innerhalb dessen Pestalozzi nach Litts Deutung eine letztlich nicht entscheidend wirksam gewordene Ausnahmegestalt blieb31, klammerte die gekennzeichneten Zusammenhänge infolge der Scheidung der menschlichen Existenz in eine Dimension des „Inneren“, dessen Gestaltung als eigentliche Aufgabe der Bildung erschien, und ein „Äußeres“, das der bloßen Lebenserhaltung diene, aus. Diese Auffassung habe damit eine verhängnisvolle Zweiteilung der menschlichen Existenz und eine Trennung zwischen verschiedenen sozialen Gruppen heraufbeschworen, da es sich nicht die Aufgabe stellte oder sie sich noch nicht stellen konnte, allen jungen Menschen durch Bildung zur Erkenntnis und zur Bewältigung jener Grundlagen ihrer tagtäglichen Lebensbedingungen zu verhelfen. Demgegenüber stellt sich für Litt die moderne Bildungsfrage und die entsprechende Aufgabe einer neuen Bildungstheorie folgendermaßen dar; er hat sie in den an früherer Stelle genannten Büchern „Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt“, „Naturwissenschaft und Menschenbildung“ und „Technisches Denken und menschliche Bildung“ und zugleich in einer Vielzahl von Vorträgen und Aufsätzen vorgetragen und gegen Kritik verteidigt. Die Kernthesen sind folgende: Eines der zentralen Ziele humaner Bildung angesichts der Lebensbedingungen der Moderne müsse es sein, jungen Menschen stufenweise Einblick in den Strukturzusammenhang zwischen neuzeitlichen Naturwissenschaften und ihrer methodischen Struktur, technischem Denken und industrialisierter Produktionsund Arbeitswelt zu geben. Und zwar sei es notwendig, daß dieser Zusammenhang als eine vom Menschen im historischen Prozeß selbst hervorgebrachte Leistung verstanden und in ihren Rückwirkungen auf jeden, der in diesen Prozeß und seine Resultate eintritt, durchschaut wird. Zugleich betonte Litt jedoch nicht weniger nachdrücklich: Ein solcher Erkenntnis- und Reflexionsgang müßte nicht nur auf die sachliche Meisterung der damit umrissenen Aufgaben vorbereiten, sondern zugleich die Voraussetzungen und die Grenzen deutlich machen: Naturwissenschaft, Technik und Arbeitsorganisation beantworten nämlich die Zielfragen des individuellen und des gesellschaftlich-politischen Lebens nicht, sondern setzen Reflexion und Entscheidung darüber in Wahrheit immer schon voraus. Damit wird die Ergänzungsbedürftigkeit dessen bezeichnet, was Bildung innerhalb naturwissenschaftlich-technischer Problemstellungen und innerhalb der Zusammenhänge der Arbeitswelt zu leisten vermag. Das bedeutet: Die Disziplinierung durch naturwissenschaftliches und technisches Denken und durch die sachliche 31 Vgl. dazu meine Darstellung der Pestalozzi-Rezeption Litts in: Klafki: Die Pädagogik Theodor Litts. S. 295–306.

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Erfüllung der Notwendigkeiten industrialisierter Arbeit zwingen den Menschen zwar zur zeitweiligen Ausschaltung unmittelbarer, spontaner Formen des erlebenden und tätigen Verhältnisses zur Wirklichkeit. Aber damit wird das Bedürfnis nach diesen „ganzheitlichen“ Formen der Beziehung des Menschen zur Welt in Spiel, Kunst, sprachlicher Kommunikation, zwischenmenschlicher Begegnung, Geselligkeit nicht ausgetilgt, und es dürfe nicht ausgetilgt werden. Litt faßt die eben genannten Beziehungs- und Gestaltungsformen des Menschen im Begriff des „Umgangs“ zusammen: „Umgang“ als die der Subjekt-Objekt-Trennung vorausliegende Form der Beziehung des Menschen zur gegenständlichen und zur menschlichen Wirklichkeit bedarf – als produktiver Gegenpol zur „Versachlichung“ der Welt – innerhalb einer umfassenden Bildungskonzeption auch und nicht weniger dringlich der pädagogischen Forderung und Pflege, gerade weil Formen des „Umgangs“ im eben umschriebenen Sinne angesichts der Expansion des objektivierenden, naturwissenschaftlich-technischen Denkens verdrängt und in ihrer unverzichtbaren Bedeutung für eine humane Existenz verkannt zu werden drohen. Es liegt auf der Hand, daß eine solche komplexe Bildungsauffassung, wie sie Litt hier skizzierte, nicht mehr am Kriterium der Harmonie, sondern an dem der ständig neuen Bewältigung der Spannung unterschiedlicher Denk-, Wertungs- und Handlungsanforderungen orientiert sein muß. Als „gebildet“ – so heißt es in der Schrift „Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt“ – „als ‚gebildet‘ darf … nur gelten, wer diese Spannung sieht, anerkennt und als unaufhebbares Grundmotiv in seinen Lebensplan einbaut.32 Litt hat mit seinen vielbeachteten Publikationen zu diesem Problemkreis seit Beginn der sechziger Jahre eine Wende in der bildungstheoretischen Diskussion herbeigeführt. Es war zu erwarten und bestätigte sich, daß konservative Pädagogen, insbesondere die Verfechter des altsprachlichen Gymnasiums bzw. der Wiederbelebung eines am neuhumanistischen Bildungsideal orientierten höheren Schulwesens und einer analogen Konzeption universitärer Bildung, diese Position als Bruch mit der Tradition angriffen, einer Tradition, der sich Litt noch in den zwanziger Jahren im wesentlichen selbst zugeordnet hatte. Fragt man nach Litts Leistung im Rahmen der Geisteswissenschaftlichen Päd­ agogik angesichts des Problemfeldes „Bildungsaufgaben im Hinblick auf Naturwissenschaft, Technik und moderne Arbeitswelt“, so ist festzustellen: Kein anderer Vertreter dieser Richtung – weder Herman Nohl noch Erich Weniger, Wilhelm Flitner oder Eduard Spranger und keiner aus deren erster Schülergeneration, soweit sie bis zum Beginn der fünfziger Jahre bereits erziehungswissenschaftlich forschend und 32 Vgl. Litt: Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt. 3. Aufl. S. 121.

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lehrend tätig waren – hat auch nur in Ansätzen Beiträge zur bildungstheoretischen Analyse von Grundphänomenen der modernen, durch Naturwissenschaft und Technik tiefgreifend geprägten neuzeitlichen Welt und nicht zuletzt der industriellen Produktions- und Arbeitswelt auf vergleichbarem Niveau vorgelegt, wie es Litt geleistet hat, und keiner hat dementsprechend notwendige bildungspraktische Folgerungen ziehen können. Der in den zwanziger Jahren noch vergleichsweise konservative Kritiker überschwänglicher Reformpädagogen wurde in den letzten eineinhalb Jahrzehnten seines philosophischen und pädagogischen Wirkens in mehrfacher Hinsicht zum progressivsten Denker der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Die Grenze des Littschen Ansatzes, der auch zur Bemühung um die Überwindung der Trennung von „Berufsbildung“ und „Allgemeinbildung“ führen mußte – Litt hat sie u. a. in der Broschüre „Berufsbildung, Fachbildung, Menschenbildung“ (zuerst 1958) begründet33 – liegt auch hier in einer Problemreduktion, die derjenigen seiner Theorie der demokratisch-politischen Bildung analog ist: Litt hat die Entwicklung von exakter Naturwissenschaft, Technik und industrieller Produktions- und Arbeitswelt zwar nicht als „Schicksal“, sondern als historische Hervorbringung des Menschen gedeutet. Aber er hat nirgends eingehender die gesellschaftlichen, vor allem die ökonomischen und politischen Motive, Interessen, Zusammenhänge, Widersprüche analysiert, die die treibenden Kräfte dieser Entwicklung waren und nach wie vor sind. Daher erscheint jene moderne Entwicklung bei Litt als ein primär aus der „Logik“ der naturwissenschaftlichen Forschung und der durch sie eröffneten technischen Anwendungsmöglichkeiten hervorgehender Prozeß, seine ökonomisch-gesellschaftlich-politischen Voraussetzungen und Folgen aber werden fast ganz ausgeblendet. Bildungstheorie und Didaktik mußten bzw. müssen hier über Litt hinausgehen. Erst innerhalb des damit angedeuteten Rahmens behalten und erhalten seine Argumentationen ihren angemessenen Stellenwert.

6 Schluß Ich habe versucht, an vier zentralen Dimensionen Leistung und Grenzen der päd­ agogischen Konzeption Litts zu verdeutlichen und sie, wenigstens andeutungsweise, in Vergleich zum Erkenntnisstand anderer Vertreter der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik während Litts Wirkungszeit zu setzen. Allerdings reichte die Zeit nicht, um nun noch Entwicklungslinien bis in die Gegenwart zu skizzieren. Ohnehin 33 Berufsbildung, Fachbildung, Menschenbildung. Bonn 1958; 2., durchges. Aufl. 1960.

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konnte es bei einem solchen Versuch nicht darum gehen, Litts Lösungsversuche für die hier angesprochenen oder für weitere pädagogische Problemdimensionen etwa linear auf unsere gegenwärtigen pädagogischen und, soweit voraussehbar, auf zukünftige Probleme und Aufgaben übertragen zu wollen. Das hieße, gegen eine wissenschaftstheoretische Grundeinsicht Litts wie der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik insgesamt zu verstoßen, nämlich gegen die Einsicht in die Geschichtlichkeit allen konkreten pädagogischen bzw. erziehungswissenschaftlichen Denkens, konkreter pädagogischer Konzeptentwürfe und konkreten pädagogischen Handelns. Auf einer prinzipielleren Ebene der Reflexion aber können wir, so meine ich, an Litts erziehungswissenschaftlichem Werk als einer Variante Geisteswissenschaftlicher Pädagogik durchaus Maßstäbe gewinnen, anhand derer heutige Erziehungswissenschaft und heutiges konkret-pädagogisches Denken sich messen lassen müßte, um nicht hinter ein schon einmal gewonnenes Niveau des Problembewußtseins zurückzufallen; kehren doch in den letzten vier Jahrzehnten in der pädagogischen Diskussion immer wieder auch – gleichsam in neuen Gewändern – Positionen auf, deren Unhaltbarkeit, deren Unzulänglichkeiten oder Einseitigkeiten in Litts dialektisch strukturierter Pädagogik längst aufgewiesen worden sind.

Nachweise Nachweise

Nachweise

1. Die Stufen des pädagogischen Denkens. Ein Beitrag zum methodologischen Problem der Pädagogik. In: Erziehungswissenschaft und Erziehungswirklichkeit. Hrsg. von H. Röhrs. Frankfurt a. M. 1964. S. 145–176, 425–427. (ursprünglich in: Bildung und Erziehung 7 (1954) S. 193–205, 286–300.) 2. Dialektisches Denken in der Pädagogik. In: Denkformen und Forschungsmethoden der Erziehungswissenschaft. Hrsg. von S. Oppolzer. Bd. 1: Hermeneutik – Phänomenologie – Dialektik – Methodenkritik. München 1966. S. 159–182. (ursprünglich in: Geist und Erziehung. Aus dem Gespräch zwischen Philosophie und Pädagogik. Kleine Bonner Festgabe für Theodor Litt. Bonn 1955. S. 55–84.) 3. Zur Frage nach der Pädagogischen Bedeutung des Sokratischen Gesprächs und neuerer Diskurstheorien. Bemerkungen zur Problemgeschichte und zur sokratischen Gesprächsführung. In: Vernunft, Ethik, Politik. Gustav Heckmann zum 85. Geburtstag. Hrsg. von D. Horster und D. Kohn. Hannover 1983. S. 277–287. 4. Kann Erziehungswissenschaft zur Begründung pädagogischer Zielsetzungen beitragen? – Über die Notwendigkeit, bei pädagogischen Entscheidungen hermeneutische, empirische und ideologiekritische Untersuchungen mit diskursethischen Erörterungen zu verbinden. In: Richtungsstreit in der Erziehungswissenschaft und pädagogische Verständigung. Wilhelm Flitner zur Vollendung seines 100. Lebensjahres am 20. August 1989 gewidmet. Hrsg. von H. Röhrs und H. Scheuerl. Frankfurt a. M. 1989. S. 147–159. 5. Kritisch-konstruktive Didaktik und Hermeneutik. In: Diskussionen über einige pädagogische Fragen. Hrsg. von P. Kansanen. Helsinki 1995. (Research Report Nr. 140.) S. 63–80. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Klafki, Allgemeine Erziehungswissenschaft. Systematische und historische Abhandlungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23165-1

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Nachweise

6. Kategorien als Leitbegriffe für ein nachhaltig ausgerichtetes Bildungskonzept. Hrsg. von der Universität Lüneburg, Fachbereich Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Lüneburg 2002. (Wirtschaftsdidaktische und -pädagogische Fragmente für eine nachhaltig berufliche Bildung. 02/109.) 11 S. 7. Pädagogisch-dialektische oder anthropologisch-existenzphilosophische Grundlegung der Erziehungswissenschaft? Kritische Gedanken zu H. Döpp-Vorwalds Auseinandersetzung mit R. Guardinis „Grundlegung der Bildungslehre“. In: Zeitschrift für Pädagogik 4 (1958) S. 353–361. 8. Der zwiefache Ansatz Herbarts zur Begründung der Pädagogik als Wissenschaft. In: Pädagogische Blätter. Heinrich Döpp-Vorwald zum 65. Geburtstag. Hrsg. von F.-J. Holtkemper. Ratingen 1967. S. 76–101. 9. Vernunft – Erziehung – Demokratie. Zur Bedeutung der Nelson-Schule in der deutschen Pädagogik. Gustav Heckmann zum 85. Geburtstag gewidmet. In: Neue Sammlung 23 (1983) S. 544–561. 10. Gleichheit, Ungleichheit und Erziehung – ein Zentralproblem der Erziehungstheorie Schleiermachers. In: Politische Pädagogik. Beiträge zur Humanisierung der Gesellschaft. Hans-Jochen Gamm anläßlich der Vollendung seines 65. Lebensjahres am 22. Januar 1990. Hrsg. von F. Zubke. Weinheim 1990. S. 17–38. 11. Bleibende Bedeutung und Grenzen der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik am Beispiel Theodor Litt. In: Theodor-Litt-Jahrbuch 1999/1. Hrsg. von P. Gutjahr-Löser u. a. Leipzig 1999. S. 42–67.

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