Digitale Bewertungspraktiken

Dieser Sammelband plädiert dafür, Bewertungssoziologie und digitale Soziologie zusammenzudenken. Im Feld der Bewertungssoziologie wird gefragt, wie Dinge oder Handlungen (un)wertvoll werden oder wie es zur (De-)Stabilisierung von Wertordnungen kommt. Diese Perspektive ermöglicht es, digitale Infrastrukturen und ihre Grenzen neu zu betrachten – so sind Bewertungen nicht nur ein konstitutiver Bestandteil von Plattformen wie Airbnb, im Digitalen werden zudem Werte wie Privatheit erschüttert und die politische Debattenkultur verändert. Digitale Technik bringt Bewertungspraktiken mit hervor. Sie leitet und transformiert Bewertungen aber auch, mitunter in radikaler oder intransparenter Form (Stichwort: Fake News). Vor diesem Hintergrund beleuchtet das Buch methodologische Probleme einer digitalen Bewertungssoziologie und erkundet zugleich unterschiedliche Fallbeispiele – von Big Data und öffentlicher Soziologie über den Kampf gegen Filterblasen bis zum Onlinedating.

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Soziologie des Wertens und Bewertens

Jonathan Kropf Stefan Laser Hrsg.

Digitale Bewertungspraktiken Für eine Bewertungssoziologie des Digitalen

Soziologie des Wertens und Bewertens Reihe herausgegeben von O. Berli, Köln, Deutschland D. Bischur, Trier, Deutschland M. Endreß, Trier, Deutschland S. Nicolae, Trier, Deutschland

In den Sozial- und Kulturwissenschaften findet zunehmend eine Auseinandersetzung mit Prozessen des Wertens und Bewertens von Personen, Objekten, Institutionen, Situationen oder Handlungen statt. Diese Prozesse treten in unterschiedlichen Formen des Klassifizierens und Sortierens, des Einschließens und Ausschließens, des Ausmessens und Vermessens auf. Sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen der sozialen Konstruktion von Wertigkeit geben Aufschluss über die Kriterien des Aufwertens, Abwertens und Entwertens, die in sozialen Aushandlungsprozessen zur Anwendung kommen. Entsprechende Analysen decken die impliziten und expliziten Legitimations- und Rechtfertigungsmuster dieser sozialen Prozesse auf und verweisen damit auf unterschiedliche kognitive, normative und affektive Relevanzen. Die vorliegende Reihe versteht sich als Forum und Beitrag zu dieser international und interdisziplinär geführten Debatte um Prozesse des Wertens und Bewertens in alltäglichen, professionellen und wissenschaftlichen Kontexten. Die deutsch- wie englischsprachigen Publikationen der Reihe dienen als theoretisch-konzeptionelle und empirische Beiträge einer Intensivierung dieser Diskussion.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15106

Jonathan Kropf · Stefan Laser (Hrsg.)

Digitale Bewertungs­ praktiken Für eine Bewertungssoziologie des Digitalen

Hrsg. Jonathan Kropf Universität Kassel Kassel, Deutschland

Stefan Laser Universität Kassel Kassel, Deutschland

Soziologie des Wertens und Bewertens ISBN 978-3-658-21165-3  (eBook) ISBN 978-3-658-21164-6 https://doi.org/10.1007/978-3-658-21165-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Verantwortlich im Verlag: Cori A. Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhalt

Autor_innenverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



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Eine Bewertungssoziologie des Digitalen  . . . . . . . . . . . . . . . . . Jonathan Kropf und Stefan Laser



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Teil I: Grundlegende methodologische Probleme. Oder: Infrastrukturen und ihre Grenzen Für eine reflexive Vergleichspraxis in der Bewertungssoziologie. Pinterest und WhatsApp als Beispiel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jonathan Kropf und Stefan Laser

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Digitale Bewertungskultur im Tourismus 2.0. Grenzüberschreitung und Normalisierungsdruck  . . . . . . . . . . . . . Thomas Frisch

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Valuation an den Grenzen von Datenwelten. Konventionentheoretische Perspektiven auf Quantifizierung und Big Data  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Diaz-Bone

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VI Inhalt

Kontroversen bewertbar machen. Über die Methode des „Mapping of Controversies“  Stefan Laser, Carsten Ochs

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Recommender Systems in der populären Musik. Kritik und Gestaltungsoptionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jonathan Kropf

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„Ich denke, es ist wichtig zu verstehen, warum die Netzwerkanalyse jetzt populär und besonders interessant für die Forschung geworden ist.“ Im Gespräch mit einem Mathematiker und einem Informatiker  . . . . . . Tom Hanika, Mark Kibanov, Jonathan Kropf und Stefan Laser

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Teil II: Leben im Digitalen. Oder: Grenzen des Privaten neu bewerten Perverse Privatheiten. Die Postprivacy-Kontroverse als Labor der Transformation von Privatheit und Subjektivität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fabian Pittroff Un/erbetene Beobachtung. Bewertung richtigen Medienhandelns in Zeiten seiner Hyper-Beobachtbarkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Englert, David Waldecker und Oliver Schmidtke Making Radio More Elastic. SAVVY Funk – A Documenta 14 Radio Program  Tina Klatte

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Ausweitung der Paarungszone ? Grenzverschiebungen digitalisierter Paarbildung  . . . . . . . . . . . . . Thorsten Peetz

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Autor_innenverzeichnis

Diaz-Bone, Rainer, Prof. Dr., ist Professor für Soziologie mit Schwerpunkt qualitative und quantitative Methoden an der Universität Luzern. Kontakt: Soziologisches Seminar der Universität Luzern; Frohburgstraße 3; Raum 3.B09; Postfach 4466; CH-6002 Luzern. E-Mail: [email protected] Englert, Kathrin, M. A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich 1187 der Universität Siegen, Teilprojekt B06: „Un-/Erbetene Beobachtung: Die Überwachungsgesellschaft und das soziale Feld der Medien“. Kontakt: Universität Siegen; SFB 1187; Herrengarten 3; 57072 Siegen. E-Mail: [email protected] Frisch, Thomas, Mag. Soz., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Tourismus 2.0 – Zwischen medialer Vermittlung und digitaler Entnetzung“ an der Universität Hamburg. Kontakt: Universität Hamburg; Institut für Soziologie; Sedanstraße 19; Raum 307; 20146 Hamburg. E-Mail: [email protected] Hanika, Tom, Dipl.-Math., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Wissensverarbeitung der Universität Kassel. Kontakt: Universität Kassel; Fachgebiet Wissensverarbeitung; Wilhelmshöher Allee 73; 34121 Kassel. E-Mail: [email protected] Kibanov, Mark, Dipl.-Inform., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Wissensverarbeitung. Kontakt: Universität Kassel; Fachgebiet Wissensverarbeitung; Wilhelmshöher Allee 73; 34121 Kassel. E-Mail: [email protected] VII

VIII Autor_innenverzeichnis

Klatte, Tina, M. A., hat das Projekt „SAVVY Funk“ der documenta 14 ko-koordiniert und arbeitet als freie Mitarbeiterin für das Deutschlandradio. E-Mail: [email protected] Kropf, Jonathan, Dr. des., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Soziologische Theorie an der Universität Kassel. Kontakt: Universität Kassel; Fachbereich 05; Soziologische Theorie; Nora-Platiel-Str. 5; 34109 Kassel. E-Mail: [email protected] Laser, Stefan, M. A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Soziolo­ gische Theorie an der Universität Kassel. Kontakt: Universität Kassel; Fachbereich 05; Soziologische Theorie; Nora-Platiel-Str. 5; 34109 Kassel. E-Mail: [email protected] Ochs, Carsten, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im BMBF-Projekt „Datenökonomien: Verbraucherverhältnisse und Geschäftsmodelle“ an der Universität Kassel. Kontakt: Universität Kassel; Fachbereich 05; Soziologische Theorie; Untere Königsstraße 71; 34117 Kassel. E-Mail: [email protected] Peetz, Thorsten, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Soziologie und im Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik (SOCIUM). Kontakt: Universität Bremen; Institut für Soziologie; AG Soziologische Theorie; SOCIUM – Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik; Postfach 33 04 40; 28334 Bremen. E-Mail: [email protected] Pittroff, Fabian, Dipl.-Pol./M. A., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im BMJVProjekt „Smart Environment, Smart Information ?“ (SEnSI) und assoziierter Doktorand des DFG-Graduiertenkollegs „Privatheit und Vertrauen für mobile Nutzer“. Kontakt: Universität Kassel; Fachbereich 05; Soziologische Theorie; Untere Königsstraße 71; 34117 Kassel. E-Mail: [email protected] Schmidtke, Oliver, Dr. habil, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderfor­ schungsbereich 1187 der Universität Siegen, Teilprojekt B06: „Un-/Erbetene Beob­ achtung: Die Überwachungsgesellschaft und das soziale Feld der Medien“. Kontakt: Universität Siegen; SFB 1187; Herrengarten 3; 57072 Siegen. E-Mail: [email protected]

Autor_innenverzeichnis IX

Waldecker, David, M. A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich 1187 der Universität Siegen, Teilprojekt B06: „Un-/Erbetene Beobachtung: Die Überwachungsgesellschaft und das soziale Feld der Medien“. Kontakt: Fakultät I/Seminar für Sozialwissenschaften; Adolf-Reichwein-Str. 2; 57068 Siegen. E-Mail: [email protected]

Vorwort

Der vorliegende Sammelband geht zurück auf eine Ad-hoc-Gruppe (zum Thema: „Grenzen der Bewertung. Angleichungs-, Konflikt- und Absonderungsdynamiken in Zeiten der Digitalisierung“) auf dem 2016er Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS). Wir – die Herausgeber des Sammelbandes – greifen in unseren Dissertationsarbeiten auf die Werkzeuge der Bewertungssoziologie zurück. Dort beschäftigen wir uns auch mit der Digitalisierung (wenngleich aus völlig unterschiedlichen Perspektiven, mit Blick auf Musik einerseits und Müll andererseits). Mit diesem Band lösen wir uns aber etwas von diesen Dissertationsarbeiten, um experimentell und im Kollektiv die Möglichkeiten einer digitalen Bewertungssoziologie zu erkunden. In diesem Sinne haben wir auch die ursprüngliche Liste an Beiträgen (auf dem DGS-Kongress) erweitert und gezielt weitere Personen angesprochen, an unserem Sammelband teilzunehmen. Das Werk profitiert dabei auch allgemein von der offenen Diskussionskultur im Umfeld der Bewertungssoziologie. Dieser Sammelband erscheint auch in einer neuen Reihe, die der Bewertungssoziologie gewidmet ist: in der Reihe „Sociology of Valuation and Evaluation“. Im ersten Beitrag dieser Reihe zeigen die Reihenherausgeber bereits eindrucksvoll auf, dass das Feld durch eine konzeptionelle und empirische Vielfalt geprägt ist. Zugleich deuten die Kollegen an, dass es nun entscheidend ist, wie man mit der Vielfalt verfährt beziehungsweise, dass unterschiedliche Richtungen eingeschlagen werden können. In der Einleitung unseres Sammelbandes machen wir deutlich, dass wir vor diesem Hintergrund eine besondere Lesart der Bewertungssoziologie haben: Wir bauen stark auf die Einsichten der Wissenschafts- und Technikstudien auf und erproben zudem inter- und transdisziplinäre Perspektiven (was unser Ansicht nach vor allem im kompliziert verschachtelten Feld der digitalen Bewertungspraktiken Sinn ergibt). Wir schätzen die methodologische und empirische Flexibilität und Offenheit, sind uns aber auch bewusst, dass mit Blick XI

XII Vorwort

auf bestimmte Problemstellungen eine theoretische Ausdifferenzierung und eventuell eine Engführung der Perspektive sinnvoll sein kann. Wir bedanken uns für die Aufnahme in diese Reihe und wertvolle Hinweise, die uns die Reihenherausgeber zu einer früheren Version der vorliegenden Texte zugesendet haben. Wir möchten uns an dieser Stelle auch für die gute Zusammenarbeit mit den Autor_innen bedanken. So wurde es möglich, in knapp einem Jahr ein Buch fertigzustellen. Eine wichtige Grundlage dieses Bands ist die Soziologie in Kassel. Unser Dank gilt hier vor allem unseren Kolleg_innen am Fachgebiet Soziologische Theorie. Jörn Lamla hat in den letzten Jahren eine offene und herzliche Arbeitsgemeinschaft aufgebaut, die uns auch den Raum dazu gegeben hat, dieses Buchprojekt zu realisieren. Unterstützung und hilfreiche Hinweise haben wir zudem von Tanja Bogusz, Leiterin des Fachgebiets Soziale Disparitäten der Universität Kassel, und ihren Mitarbeiter_innen Jonas Müller und Catharina Lüder erhalten. Die Arbeit am Sammelband wurde des Weiteren erheblich erleichtert durch das Korrektorat von Jasmin Dierkes und Jane Parsons-Sauer. In diesem Sinne danken wir auch Frau Mackrodt und Frau Mülhausen vom Springer-Verlag sowie Steffen Schröter von text plus form, die den Band exzellent betreut haben. Unzählige Ideen und nicht zuletzt mentale Unterstützung haben wir zudem von Franziska Schmidtke und Sophia Rohrbeck erhalten. Das gilt mit Blick auf konkrete inhaltliche Probleme, aber vor allem auch hinsichtlich der Geduld, die so ein Projekt zweifelsohne verlangt. Kassel, Mai 2018 Jonathan Kropf, Stefan Laser

Eine Bewertungssoziologie des Digitalen Jonathan Kropf und Stefan Laser

Zusammenfassung  

Dieser Sammelband argumentiert für eine Kombination von Bewertungssoziologie und digitaler Soziologie. In der Einleitung arbeiten wir wesentliche Literatur aus beiden Feldern auf und plädieren für einen experimentalistischen Zugang zum Thema (im Anschluss an Noortje Marres). Hier gehen wir zudem auf die Struktur des Buchs und den Mehrwert der einzelnen Beiträge ein. Das Buch gliedert sich in zwei Teile: Der erste Teil behandelt grundlegende methodologische Probleme. Dazu werden unterschiedliche Fallbeispiele (von Airbnb bis Spotify) diskutiert, in denen es jeweils um Infrastrukturen und ihre Grenzen geht. Im zweiten Teil steht noch stärker das Leben im Digitalen im Zentrum. Die Beiträge widmen sich dabei insbesondere der Neubewertung von Privatheit. Schlagwörter  

Soziologie der Bewertung, Valuation Studies, Wert, digitale Soziologie, Methodologie, Digitalisierung

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Kropf und S. Laser (Hrsg.), Digitale Bewertungspraktiken, Soziologie des Wertens und Bewertens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21165-3_1

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Jonathan Kropf und Stefan Laser

Einleitung

Digitale Bewertungspraktiken haben in den letzten Jahren eine enorme Relevanz gewonnen, sie ermöglichen und vermitteln eine Vielzahl an Handlungen und (de)stabilisieren soziale Ordnungen. Sie nehmen nunmehr auch kuriose Formen an. 2017 hat etwa die „Ransomware“ Spora mit einem „Customer Service“ für Aufsehen erregt, der die Schadsoftware sozusagen von der Konkurrenz der Branche abheben soll. Ransomwares – allgemein gesprochen – sind Trojaner, die nach Eindringen in ein Computersystem Dateien verschlüsseln und damit unbrauchbar machen. Ein Horror etwa für Sammelbandherausgeber. Kriminelle haben diese Verschlüsselung zur Grundlage einer ökonomischen Wertschöpfung gemacht, indem Opfer aufgefordert werden, einen Betrag (in Kryptowährung) zu überweisen, um wieder einen Zugang zu ihren Daten zu bekommen. Wenig überraschend ist das Vertrauen in diese Kriminellen auf der ‚Nachfrageseite‘ eher gering; nur wenige verfügen außerdem über die Grundkenntnisse dafür, um (unter Zeitdruck) Bitcoins zu verschicken. Spora hat daher eine eigene Plattform aufgebaut, die den Prozess begleitet. Ein wichtiger Teil des Portals ist eine Bewertungsfunktion, mit der ehemalige Betroffene über ihre Erfahrungen mit dem Trojanerteam berichten können. Diese Reviews stellen Vertrauen her und wie Leaks zeigen, hat Spora auch Angebote unterbreitet, Dateien kostenlos wiederherzustellen – wenn Kund_innen eine positive Bewertung hinterlegen.1 Das ist ein kurioses Beispiel für die Kraft und Reichweite von digitalen Bewertungen, die dieser Sammelband diskutiert. Wir schlagen gleichwohl einen erweiterten Blick auf Bewertungspraktiken vor, der über vereinzelte Tools hinausgeht und zusammenhängende beziehungsweise konkurrierende Infrastrukturen, Ökonomien und Politiken der Bewertungen beleuchtet. Ziel ist es, die digitale Flanke der Soziologie der Bewertung zu erkunden. Dafür lohnt zunächst ein Blick auf den Begriff der Bewertung selbst, denn das Thema wird aktuell intensiv diskutiert. Zwei aktuelle Zeitdiagnosen stellen das Thema der Bewertung ins Zentrum ihrer Argumentation: In Die Gesellschaft der Singularitäten hebt Andreas Reckwitz (2017) hervor, dass die Praxis der Singularisierung wesentlich mit Phänomen der Bewertung, Entwertung und Neubewertung zusammenhängt. Daher könne man sagen, dass „die Spätmoderne […] regelrecht zur Valorisierungsgesellschaft geworden ist.“ (Reckwitz 2017, S. 14; H. i. O.) Auch Steffen Mau (2017, S. 16; H. i. O.) hält in Das metrische Wir mit Blick auf das Phänomen einer zunehmenden Vermessung aller Gesellschaftsbereiche fest: „Hier wird die Tür in Richtung einer Bewertungsgesellschaft aufgestoßen, die alles und jeden einer Bewertung mittels quanti1 https://www.bleepingcomputer.com/news/security/spora-ransomware-sets-itself-apartwith-top-notch-pr-customer-support/ Zugegriffen: 16. Januar 2018.

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tativer Daten unterzieht und damit zugleich neue Wertigkeitsordnungen etabliert.“ Die beiden Zeitdiagnosen stimmen jedoch nicht bloß im Hinblick auf die Bedeutung überein, die sie dem Thema der Bewertung für die Gegenwartsgesellschaft beimessen – auch bei der Beschreibung der Ursachen für den jüngsten Gesellschaftswandel überschneiden sich die Erklärungen. Neben der Ökonomie ist es demnach vor allem die Digitalisierung, die zur Ausbreitung von Bewertungen beiträgt. So knüpft Reckwitz (2017, S. 76; H. i. O.) seinen Kulturbegriff eng an das Thema der Bewertung: „Kultur im spezifischen Sinne umfasst […] jene Einheiten des Sozialen […], die eine besondere Eigenschaft haben: ihnen wird gesellschaftlich nicht oder nicht nur Nutzen oder Funktion, sondern Wert zugeschrieben.“ Vor diesem Hintergrund kann er die digitale Technologie als „Kulturmaschine“ beschreiben (Reckwitz 2017, S. 225 ff.): „Es handelt sich um Technologien, in deren Zentrum die Produktion, Zirkulation und Rezeption von – narrativen, ästhetischen, gestalterischen, ludischen – Formaten der Kultur steht.“ (Reckwitz 2017, S. 234) Während Mau (2017, S. 40 ff.) vor allem die Datafizierung des Sozialen herausstellt, um seine These einer zunehmenden quantitativen Vermessung zu plausibilisieren, zielt Reckwitz (2017, S. 234 ff.) primär auf die allgegenwärtige Zirkulation affektiver Kulturformate im Internet: „Es gibt mehr Kulturelemente, (nahezu) alle Kulturelemente sind betroffen, sie sind ständig und überall präsent und zeichnen sich durch soziale Grenzüberschreitungen aus.“ (Reckwitz 2017, S. 237; H. i. O.) Trotz der Gemeinsamkeiten finden sich somit auch Unterschiede im Hinblick auf die anvisierten gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung: Während die Digitalisierung in beiden Zeitdiagnosen zu einer Ausbreitung von Bewertungen führt, interessiert sich Mau vor allem für die ungleichheitsrelevanten Auswirkungen einer zunehmenden quantitativen Vermessung. Gemeint sind hier also die Übersetzungsleistungen von qualitativen Phänomenen in die Sprache der Mathematik, die im Verbund mit einer Rationalisierung und Objektivierung sozialer Zusammenhänge stehen (Mau 2017, S. 27 ff.). Dadurch verändern sich nach Mau erstens „unsere alltagsweltlichen Vorstellungen von Wert und gesellschaftlichem Status“ (Mau 2017, S. 17), es komme zweitens zu einer „Universalisierung“ und „Inszenierung“ (Mau 2017, S. 17) von Wettbewerb und drittens würde so eine Überführung von „qualitative[n] Unterschiede[n] in quantitative Ungleichheiten“ (Mau 2017, S. 17; H. i. O.) befördert. Reckwitz dagegen ist weniger an der Quantifizierung und Datafizierung des Sozialen interessiert als an Praktiken der Singularisierung, die Einzigartigkeiten erzeugen und prämieren – Praktiken also, die sich einer Unterordnung unter ein Allgemeines entziehen und eine Valorisierung von Eigenwerten verlangen. Der Frankfurter Soziologe beleuchtet damit feldübergreifende, gesellschaftliche Strukturprinzipien. Aus diesem Grund greift er zur Untersuchung von Singularisierungspraktiken etwa auch wesentlich auf die Theorie des Abfalls von Michael Thompson (1989) zurück, in der die kultursoziologische Be-

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deutung von Be-, Ent- und Neubewertungspraktiken bereits durchdacht war. Das Digitale ist dann bei Reckwitz (2017, S. 238) eine besondere „Kulturmaschine“, die auf Grund ihrer Überproduktion von Kulturformaten bei gleichzeitiger Knappheit an Aufmerksamkeit zu besonders vielen Be-, Ent- und Neubewertungen auffordert. Die beiden Zeitdiagnosen sind für den vorliegenden Sammelband von doppelter Bedeutung: Erstens teilen sie die Intuition, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Bewertung und Digitalisierung. Zwar liegt mittlerweile eine breite Diskussion sowohl zum Thema der Bewertung als auch zur digitalen Soziologie vor. Abgesehen von wenigen Ausnahmen und eher allgemeinen Beteuerungen bleiben die beiden Diskussionszusammenhänge allerdings relativ getrennt voneinander. Zweitens zeigen die Autoren, dass der postulierte Zusammenhang zwischen Digitalisierung und Bewertung durchaus unterschiedlich eingeschätzt werden kann: Omnipräsenz der quantitativen Vermessung im einen, Singularisierung im anderen Fall. Diese Feststellungen verweisen auf die Notwendigkeit, sich explizit mit digitalen Bewertungspraktiken zu beschäftigen, wie es die hier versammelten Beiträge anstreben. Wir geben im Folgenden einen kurzen Überblick über die in jüngster Zeit florierenden Bereiche der Bewertungssoziologie und der digitalen Soziologie (Kap. 2) – einerseits, um in die Forschungsbereiche einzuführen, die für die Beiträge des vorliegenden Sammelbands von besonderer Bedeutung sind, andererseits, um die Forschungslücke aufzuzeigen, die wir zu füllen versuchen. Der letzte Abschnitt der Einleitung soll dann einen Überblick über die Struktur und Themenbereiche des Sammelbands geben (Kap. 3).

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Soziologie der Bewertung und digitale Soziologie

Wert und Bewertung sind zunächst grundlegende Kategorien der Soziologie, die sich schon bei ‚den Klassikern‘ als spannende Untersuchungsgegenstände oder fruchtbare heuristische Werkzeuge erwiesen haben (Bourdieu 1987; Dewey 1939; Durkheim und Mauss 1993; Marx 1983; Simmel 1989; Weber 1988).2 In den letzten Jahren ist das Interesse an Praktiken und Konsequenzen der Bewertung hingegen (etwas überraschend) erneut rapide angestiegen, und es hat auch neue Formen angenommen – veranschaulicht durch Michèle Lamonts Review-Article Toward a Comparative Sociology of Valuation and Evaluation (2012), die Gründung der transdiziplinären Zeitschrift Valuation Studies (Helgesson und Muniesa 2013; 2 Klassische Beiträge zum Thema der Bewertung diskutieren Krüger und Reinhart (2016, 2017).

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Kjellberg und Mallard 2013) und eine Vielzahl an innovativen Forschungen, die neben dem anglo-amerikanischen und französischen vor allem auch im deutschsprachigen Raum veröffentlicht wurden (Antal et al. 2015; Cefaï et al. 2015; Haywood und Nilsson 2015; Krüger und Reinhart 2016, 2017; Kornberger et al. 2015; Latour und Lépinay 2010; Meier et al. 2016; Stark 2009). Bewertungssoziologische Studien nehmen dabei verschiedene Felder in den Blick (prominent sind: Bildung, Kunst, Ökonomie) und mobilisieren unterschiedliche theoretische und methodische Werkzeuge. Die Forschenden hantieren auch mit abweichenden Verständnissen von Bewertung. Das verstehen wir als Besonderheit und Errungenschaft: Das Forschungsfeld profitiert davon, dass nicht eine kollektive Theoriesprache erarbeitet wird; im Dialog, aufeinander aufbauend und in Spannung zueinander stehend entwickeln die Forschenden vielmehr eine Sensibilität dafür, wie Bewertungen in unterschiedlichen Fällen hervorgebracht werden, wofür eine gewisse Flexibilität der Methodologie benötigt wird (Mol und Heuts 2013, S. 139). Offenheit schätzen wir als Wert. Deshalb schließen wir in diesem Band auch Forschungen oder außerwissenschaftliche Debatten mit ein, die nicht explizit unter dem Label der Soziologie erschienen sind, sich aber mit sozialen Ordnungen und Dynamiken von Bewertungen auseinandersetzen. Die Offenheit der Bewertungsstudien hat eine Vergangenheit, und es zeichnet sich auch ein Konsens dahingehend ab, welche Art der Offenheit aktuell gemeint ist. Dies wird vor allem an der Zeitschrift Valuation Studies und in ihrem in einer Broschüre festgehaltenen „Journal Aim“ deutlich: „Valuation Studies refrain from having a strong programmatic claim. However, the journal encourages contributors to focus on the pragmatic aspects of valuation activities wherever they take place and to foster dialogue between different approaches working on this broad topic.“ (H. v. JK/SL) Wesentliche theoretische Anregungen hat die Soziologie der Bewertung aus der pragmatistischen Wende innerhalb der französischen Soziologie erhalten, die sich in einer kritischen Absetzbewegung gegenüber Pierre Bourdieu konstituierte (Diaz-Bone 2011, S. 14 ff.; Beljean et al. 2015; Kropf 2016). Als blinder Fleck Bourdieus wurde erstens Technik beziehungsweise Materialität identifiziert. Diese Beobachtung ist durch Erkenntnisse der Science and Technology Studies (STS) geprägt. Viele der aktuellen Bewertungsstudien sind von den STS beeinflusst und fragen etwa danach, wie man die Bewertungsordnungen einer scheinbar neutralen Infrastruktur transparent machen (Bowker und Star 2000; Meier et al. 2016, S. 319 – ​321) oder wie man ökonomische Wertschöpfungen und ihre involvierten Kollektive neu versammeln kann (Lamla und Laser 2016). Zweitens wurde bemängelt, dass Bourdieus Forschungsprogramm ein reduktionistisches, auf Distinktion und symbolische Gewalt verengtes Verständnis von Bewertungslogiken verfolgt. Dieser Fokus, so die Kritik, werde der Pluralität von „Rechtfertigungsordnungen“ (Boltanski und Thévenot 2007) oder „Konven-

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tionen“ (Diaz-Bone 2011) nicht gerecht. Die Debatte um eine Bewertungssoziologie ist so gesehen auch nur auf den ersten Blick neu; im Umfeld der „Economies des Conventions“ (EC) wird das Thema seit Jahrzehnten diskutiert (siehe dazu Diaz-Bone in diesem Band). Im Anschluss vor allem an John Deweys (1939) Pragmatismus pflegen viele bewertungssoziologische Arbeiten eine empirische und kritische Analyse von Werten. Vor diesem Hintergrund kann das Forschungsinteresse dieser Forschung auf den Punkt gebracht werden. Man geht davon aus, dass Werte ausgehandelt und hervorgebracht werden – sie gehen den Handlungen nicht voraus (Joas 1996). Aus der bewertungssoziologischen Perspektive heraus gesehen (Dussauge et al. 2015) macht es deshalb etwa keinen Sinn, danach zu fragen, was wirklich ein Wert ist. Von Interesse ist vielmehr, wie Dinge oder Handlungen (un)wertvoll werden oder wie bestimmte Wertordnungen (de)stabilisiert werden – was jeweils Konsequenzen nach sich zieht. Wir sprechen deshalb in diesem Buch auch von Bewertungspraktiken, um den prozesshaften Charakter des Bewertens hervorzuheben. Die STS haben außerdem gezeigt, dass Handlungen stets technisch beziehungsweise materiell vermittelt sind. Wir gehen daher davon aus, dass Bewertungspraktiken in Form von soziotechnischen Assemblagen realisiert werden.3 So ist es auch nahe­liegend, sich digitale Technologien im Kontext von Bewertungen anzuschauen – umso bemerkenswerter ist es, dass dies bisher noch in relativ geringem Ausmaß geschieht. Ein Blick auf das weite Feld der digitalen Soziologie erscheint uns deshalb lohnenswert. Es ist zunächst ein Gemeinplatz, zu bemerken, dass digitale Technologie Gesellschaften verändert. Auch in der Öffentlichkeit werden unter dem Schlagwort der Digitalisierung vielfältige Themen heiß diskutiert, etwa die Macht von OnlinePlattformen und Konzernen aus dem Sillicon Valley, eine eventuelle industrielle Revolution 4.0, die Sharing-Economy, aber auch potenziell dystopische Entwicklungen wie Fake News, beziehungsweise das postfaktische Zeitalter mit seinen Echokammern. Aus soziologischer Perspektive können diese öffentlichen Debatten als identitätsstiftende und ordnungsbildende Suchprozesse verstanden werden. Mit anderen Worten: Diese Debatten sind eigene Bewertungspraktiken, die jeweils bestimmte Entwicklungen als gut oder schlecht markieren und damit auch Hierarchisierungen durchsetzen – mal mehr, mal weniger bewusst forciert. Ein erster Strang soziologischer Forschung arbeitet sich an diesen Digitalisierungs3

Diese Perspektive teilen auch eher gesellschaftstheoretisch angelegte Arbeiten. Neben Reckwitz (2017) haben sich in den letzten Jahren mehrere Theoretiker_innen mit dem Thema der Bewertung auseinandergesetzt; die Erkundung von Experimentalismus (Bogusz 2018; Lamla 2013), einer Anthropologie der Modernen (Latour 2014) oder Resonanzbeziehungen (Rosa 2016) können jeweils als kreative Zugänge zum Thema verstanden werden.

Eine Bewertungssoziologie des Digitalen 7

Debatten ab und versucht die Diskurse einzuordnen oder an ihnen teilzuhaben. Hier sticht zunächst die Arbeits-, Wirtschafts- und Industriesoziologie hervor. Mit den Arbeitsbegriffen des digitalen Kapitalismus (Staab 2016; Nachtwey und Staab 2015) und dem Plattformkapitalismus (Kirchner und Beyer 2016; Dolata 2015; Dolata und Schrape 2018) werden etwa neue digitale Arbeits- und Industriebeziehungen kritisiert, weil sie die Form von Oligopolen oder sogar Monopolen annehmen. Zeitschriften wie die PROKLA (Butollo und Engel 2017; Lang und Meyer 2017) widmen mehrere Ausgaben dieser Kritik, wobei andere Forscher_innen in Kollaboration mit Gewerkschaften Standards sichern und fördern wollen (Jürgens et al. 2017). Weitere Debatten aus ähnlichen Feldern diskutiert der Sammelband Die Gesellschaft der Daten: Über die digitale Transformation der sozialen Ordnung von Florian Süssenguth (2015). Soziologische Forschung knüpft aber nicht nur an öffentliche Debatten um ökonomische Wertschöpfungen an, auch die demokratietheoretischen Diskurse um Wahrheit, Fakes und Meinungsbildung werden aufgegriffen. Aktuelle globale Verschiebungen – und Erschütterun­gen – der politischen Kultur spielen hierbei natürlich eine entscheidende Rolle. So wird zum Beispiel schon seit längerem die These diskutiert, dass wir (auch dank digitaler Informationsflut) im postdemokratischen Zeitalter lebten (Crouch 2008), das von Filterblasen dominiert wird (Pariser 2012). Für den vorliegenden Sammelband ist dieser erste Diskussionsstrang durchaus von Bedeutung; in den unterschiedlichen Beiträgen wird hier und da auf diese Debatten eingegangen. Das Buch ist mit Blick auf die Digitalisierung im Kern aber von einem zweiten Diskussionsstrang geprägt, der Auseinandersetzung mit dem Forschungsprogramm einer dezidiert digitalen Soziologie. In der letzten Dekade hat sich international eine eigene Forschungsrichtung institutionalisiert, die unter diesem Titel (oder verwandten Namen) theoretisch-methodologische Anforderungen digitaler Phänomene bearbeitet. Zunächst sind hier erneut unterschiedliche Disziplinen involviert und die Grenzen fließend. An renommierten Universitäten haben sich etwa eigene Forschungslabore gegründet, wie in Amsterdam die Digital Methods Initiative oder das Média Lab der Science Po in Paris. Von Bedeutung in Deutschland sind analog der Sonderforschungsbereich 1187 der Universität Siegen, an dem Medien der Kooperation erforscht werden (das heißt vor allem auch: digitale Öffentlichkeiten und Infrastrukturen), das Munich Center for Technology in Society (MCTS), was ein eigenes Lab für digitale Medien eingerichtet hat, sowie das vom BMBF geförderte und in Berlin ansässige Deutsche InternetInstitut. Neue Zeitschriften, zum Beispiel das Journal Digital Culture and Society des transcript-Verlags, und Buchreihen begleiten diesen institutionellen Wandel. Was ist nun aber digitale Soziologie ? Den theoretisch-methodologischen Grundlagen dieses Themas sind bereits mehrere Autor_innen nachgegangen. Pionierarbeit geleistet haben hier Christine Hine (Leitbegriffe: Virtual/Digital Ethno-

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graphy; Hine 2000; 2015), Richard Rogers (Leitbegriff: Digital Methods; Rogers 2013) sowie Deborah Lupton (2014) und Noortje Marres (2017) (jeweils mit dem expliziten Leitbegriff: Digital Sociology). Hine hat deutlich gemacht, welche qualitative Sensibilitäten virtuelle beziehungsweise digitale soziale Welten verlangen; Rogers wiederum hat die Trennung von virtuell und reell in Frage gestellt, sodass er dazu auffordert, mit dem Digitalen das Soziale zu erforschen; und Lupton hat eine erste umfassende Auseinandersetzung mit theoretisch-methodologischen Grundlagen vorgelegt, die Marres kürzlich aus einer eigenen Perspektive erweitert und aktualisiert hat. Diese Publikationen greifen die Vielzahl an forschungstheoretischen Debatten auf, die rund um die Möglichkeiten und Versprechen von Big Data (Mämecke et al. 2016; Mützel 2015; Passoth und Wehner 2013; Reichert 2014) oder der „Computational Social Science“ geführt werden, wobei je nach Interesse auf eigene Themen gesondert eingegangen wird. In diesen Kontext gehören zum Beispiel auch die „Platform Studies“ (Bogust und Montfort 2009; Plantin et al. 2018), die Auseinandersetzung mit Gamification (Compagna und Derpmann 2013) oder Algorithmuskulturen (Seyfert und Roberge 2017). Besonders hilfreich für digitale Bewertungspraktiken erscheint uns die Arbeit von Marres (2017), da sie erstens durch ihre Nähe zum Pragmatismus eine hohe theoretische Anschlussfähigkeit an die Soziologie der Bewertung aufweist. So hat die Autorin mit ihren Arbeiten zu Lippmann und Deweys Öffentlichkeitsbegriffen (Marres 2007) den Pragmatismus mit neu belebt. In ihrem neuen Buch plädiert die Autorin auch für eine digitale Soziologie, die „device aware“ ist, was sich auf einen kurzen aber hilfreichen Ratschlag reduzieren lässt: Marres (2017, S. 40; 114) fordert (in Erweiterung von Rogers (2013)) dazu auf, mit und gegen das Digitale soziologische Forschung zu betreiben. Damit antizipiert sie den teils intransparenten Aufbau von Onlineplattformen wie Amazon, Facebook oder Tinder, auf die man sich als Forschende nur kreativ einlassen kann (auch aus forschungsethischen Gründen). In der Sprache des Pragmatismus gesprochen (Dewey 1996) kann ihre Forschungshaltung auch als Experimentalismus bezeichnet werden: Marres regt an, sich mit experimentellen Setups und Tests dem Sozialen anzunähern. Damit kann ihr Ansatz als Antithese zu weit verbreiteten Herangehensweisen verstanden werden, in denen das Digitale instrumentell gedacht wird: „[The] difference between instrumental and experimental approaches to sociality is somewhat elusive, but a key difference is that the former treats the ends – to which sociality is treated as means – as more or less given, while in an experimental approach certainty about purposes […] – what is sociality for – may be suspended“ (Marres 2017, S. 62). Zweitens interessiert sich Marres (anders als etwa Lupton) weniger dafür, Kolleg_innen für die Untersuchung der neuen digitalen Welten zu motivieren. Sie fragt zunächst vor allem danach, ob die digitale Soziologie überhaupt neu ist. Da-

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für muss geklärt werden, was anvisiert wird, wenn von einer digitalen Soziologie die Rede ist. Dabei könne das Digitale auf verschiedene Art in den Blick geraten: Als Gegenstand ist das Digitale vor allem deshalb von Interesse, weil es zur Veränderung von Praktiken in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen beiträgt – in Anlehnung an Marcel Mauss spricht sie davon, dass wir es mit einem „new kind of total social fact“ zu tun haben: „As a consequence, important new questions arise: the rise of social media platforms, mobile applications, new forms of data, and smart infrastructures, inflect modes of practice or ways of living in distinctive ways. As an emerging architecture of social life, the digital has the capacity to transform ways of being, including processes and practices of transacting, knowing, sharing, electing, caring, travelling, campaigning, decision-making and so on.“ (Marres 2017, S. 25) Als Methode eröffnet das Digitale vielfältige neue Wege zur Erforschung der Gesellschaft, wobei die Neuheit der entsprechenden Methoden nicht überschätzt werden sollte. Die Spezifik gegenwärtiger digitaler Technologien sieht Marres (2017, S. 8) aber nicht bloß in deren Allgegenwart und methodischen Potenzialen, sondern auch und vor allem in ihrer besonderen Interaktivität: „[W]hat distinguishes the digital technologies of today […] is their extensive capabilities for monitoring, analysing and informing social life.“ Unter dem Stichwort der platform interessiert sich Marres (Marres 2017, S. 21) für das Digitale auch als neue Form der ‚Sozialtechnologie‘, die für die Soziologie (erneut) spezifische methodologische Grundsatzfragen aufwirft: „who is capable of social enquiry ? who owns the means of its production and distribution ? what are useable data ? what techniques of intervention can sociology use ? what relations between researchers and research subjects should we strive for ?“ Man sollte das Digitale dabei nicht instrumentell als rein technisches Interventionsmittel sehen, vielmehr eröffnen sich im Sinne des Experimentalismus neue Möglichkeiten, partizipativ zu forschen. Ob nun das Digitale als Gegenstand, Methode oder Plattform in den Blick gerät, stets stellt sich die Frage, wie hier Neues und Altes zusammenkommen. Drittens ist Marres für uns von besonderer Relevanz, da sie sich bereits explizit mit Bewertungen beschäftigt hat. In einem ersten Schritt konstatiert die Autorin in einem Rückgriff auf Gerlitz und Helmonds Aufsatz über die „Like Economy“ (2013), dass digitale Plattformen systematisch Daten über User_innen aufzeichnen, messen und analysieren. Die Medienunternehmen verarbeiten diese Daten für ihre eigenen Werbezwecke, speisen sie in Form von Feedbackschleifen aber auch an die User_innen zurück, die wiederum ihre Praktiken anpassen. „The traceability and analysability of the actions of large populations is not an accidental by-product of digital architectures, but one of the strategic objectives associated with digital platforms“ (Marres 2017, S. 156). Diese Diagnose überträgt Marres dann in einem zweiten Schritt auf Praktiken der Bewertung: „social media make available a new numerical infrastructure with the capacity to transform ecnomic,

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cultural and political relations across society. Digital platforms open up ‚spaces of multi-valence‘ […]: in these spaces, action is measured, structured – and valued  – according to multiple logics at once: everyday life, commerce, politics, knowledge, and so on.“ (Marres 2017, S. 156 f.) Marres setzt sich in ihrer digitalen Soziologie vielleicht (noch) weniger ausführlich mit digitalen Bewertungspraktiken auseinander, als es bei Reckwitz (2017) und Mau (2017) der Fall ist. Zugleich hebt sich ihre Forschungsperspektive aber von diesen Autoren ab, weil sie eine offene Herangehensweise an das Digitale propagiert. Mit anderen Worten, sie vermeidet die Empirie mit starken Theorien oder gar Zeitdiagnosen zu überfrachten. Sie fragt vielmehr danach, wie Wertordnungen (de)stabilisiert werden. Ihre Perspektive auf „spaces of multi-valence“ erinnert zudem daran, wie die Wissensanthropologin Susan Leigh Star und ihre Kolleg_innen den Begriff der Grenze operationalisiert haben (siehe unseren Beitrag im vorliegenden Sammelband). Die vielfältigen Grenzverschiebungen oder -konflikte im Digitalen bildeten auch für uns den Ausgangspunkt bei der Konzeption des vorliegenden Sammelbands. Die Grenze dient als wiederkehrende Metapher, auf die sich die unterschiedlichen Beiträge beziehen. Für die verschiedenen Interpretationen oder Verwendungsweisen des Grenzbegriffs möchten wir an dieser Stelle auf den Beitrag von Thomas Frisch verweisen, der sich unter anderem einer theoriegeschichtlichen Verortung des Grenzbegriffs widmet. Marres’ Experimentalismus begreifen wir zusammenfassend als eine übergeordnete Forschungshaltung, der wir uns mit unserem Sammelband anschließen möchten. Daraus ergibt sich eine Herangehensweise, die sich vorsichtig gegenüber der Neuheit und Euphorie hinsichtlich des Digitalen verhält sowie das Thema der Bewertung kreativ aufgreift.

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Zum Aufbau des Buchs

Unser eigener Beitrag sowie der Text von Thomas Frisch dienen als Aufschlag für den ersten Teil des Sammelbands, der sich grund­legenden methodologischen Problemen der Bewertungssoziologie im Digitalen widmet. In unserem programmatischen Essay formulieren wir die These, dass sich die Soziologie der Bewertung zwar bereits ausgiebig mit Vergleichen beschäftigt hat, die eigenen Praktiken (des Vergleichs) dabei aber zumeist ausgespart bleiben. Wir plädieren daher für eine reflexive Vergleichspraxis, die genau dies leistet. Thomas Frisch differenziert in seinem Artikel nicht bloß – wie oben bereits erwähnt – verschiedene Bedeutungen des Grenzbegriffs, er macht sich darüber hinaus auch für eine Perspektive stark, die Bewertungsplattformen als komplexe Infrastrukturen analysiert. Auch der Beitrag von Rainer Diaz-Bone beschäftigt sich mit theoretischen und metho-

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dologischen Grundfragen, indem er die Soziologie der Bewertung im Verhältnis zu den „Megaparadigmen“ des Strukturalismus und des Pragmatismus verortet sowie die Konventionentheorie als spezifischen Zugriff auf Bewertungsfragen einführt. Stefan Laser und Carsten Ochs nehmen sich im Anschluss daran der Methode des „Mapping of Controversies“ an, die darauf abzielt „Kontroversen bewertbar [zu] machen“ und die im Umfeld der Akteur-Netzwerk Theorie beziehungsweise der Science and Technology Studies entstanden ist. Die Autoren führen dabei in Form einer kritischen Würdigung in Hintergründe, mögliche Fallstricke und Potenziale des Ansatzes ein. Jonathan Kropf schließt insofern direkt daran an, dass er eine konkrete Kontroverse in den Blick nimmt: den kritischen Diskurs über die (vermeintlich) negativen Konsequenzen algorithmischer Empfehlungssysteme für die Musikrezeption beziehungsweise die Musiklandschaft im Allgemeinen. Diese Kontroverse wird aber gleichzeitig mit, teilweise aus der Theorietradition gewonnenen, Gestaltungsoptionen konfrontiert. Das letzte Kapitel des ersten Teils ist ein Interview, das die beiden Herausgeber mit Tom Hanika und Mark Kibanov geführt haben. Darin geht es um den spezifischen Zugang von Mathematik und Informatik zum Thema sozialer Netzwerke – in diesen Arbeitsfeldern sind die beiden interviewten Forscher zu Hause. Hier kommen nicht zuletzt auch einige epistemologische Themen zur Sprache – zum Beispiel die Rolle von Graphen für die Wissensproduktion oder der Status wissenschaftlicher Aussagen in Informatik und Mathematik. Wir gehen in diesem Sammelband davon aus, dass eine Bewertungssoziologie des Digitalen von der interdisziplinären Kooperation viel lernen kann – Bewertungen werden von unterschiedlichen Diszi­ plinen ausgehend gemacht, ja buchstäblich angefertigt; unterschiedliche nichtsoziologische Kolleg_innen denken dabei auch im soziologischen Sinne darüber nach, welche Folgen die Bewertungen gesellschaftlich haben und wie sie die Phänomene einordnen können, was die Zusammenarbeit umso wertvoller macht. In diesem Interview diskutieren wir vor diesem Hintergrund etwa über interdiszi­ plinäre Kooperation in den Computational Social Sciences (und neben den Vorzügen der Kooperation deuten sich auch Konflikte an). Die Beiträge des ersten Teils weisen jedoch über die reine Erörterung theoretischer beziehungsweise methodologischer Fragen hinaus. Auf je spezifische Weise und mit Blick auf empirische Gegenstände erkunden sie zudem Infrastrukturen und ihre Grenzen. Unser einleitendes Essay führt die Vorteile einer reflexiven Vergleichspraxis anhand einer explorativen Analyse der Plattformen Pinterest und WhatsApp vor. Dabei wird eine Heuristik in Anschlag gebracht, die an Susan Leigh Stars Begriff der „Grenzobjekte“ anschließt. Thomas Frisch beschäftigt sich mit Airbnb, um verschiedene „Imperative der Bewertungskultur im Tourismus 2.0“ herauszuarbeiten. Diese lassen sich mithilfe der „Heuristik der Grenze“ identifizieren, so seine These. Bei Rainer Diaz-Bone, der sich mit „Valuation an den Gren-

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zen von Datenwelten“ auseinandersetzt, steht vor allem ein Vergleich der amtlichen Statistik mit der privatisierten Datenproduktion (Stichwort: Big Data) im Mittelpunkt. Letztere führe dazu, dass die „statistische Kette“ zunehmend inkonsistent werde und die Konventionen, die der Quantifizierung zugrunde liegen, für die Öffentlichkeit beziehungsweise die betroffenen Akteure nicht mehr nachvollziehbar sind. Stefan Laser und Carsten Ochs demonstrieren die Grundlagen, Potenziale und Fallstricke des „Mapping of Controversies“ an zwei konkreten Projekten, die sich mit Kontroversen um die Themen des Schwangerschaftsabbruchs im ersten und des Klimawandels im zweiten Fall beschäftigten. Die Fälle zeigen, dass im Digitalen mehr denn je eine sorgfältige Reflexion auf und ein kreativer Umgang mit den Grenzen unterschiedlicher Forschungsmethoden vonnöten ist. Die kritische Kontroverse, die Jonathan Kropf aufgreift, dreht sich um algorithmische Empfehlungssysteme, wie sie bei Musikstreamingdiensten wie Spotify gängig sind. Anstatt die Grenzen von Infrastrukturen zu beklagen, werden hier Gestaltungsoptionen für potenzielle Grenzverschiebungen aufgezeigt. Zuletzt wird im abschließenden Beitrag des ersten Teils auch die Arbeitsweise von Mathematik und Informatik beim Umgang mit sozialen Netzwerken exemplarisch demonstriert. Wir erhalten einen Einblick in aktuelle Forschungsprojekte, in denen etwa Waldbrände über Twitter-Nachrichten evaluiert werden oder auch der Begriff der Individualität aus einer mathematischen Perspektive eingehegt wird. Wenn für die Aufsätze im ersten Teil des vorliegenden Sammelbandes gilt, dass sie grundlegende methodologische Probleme behandeln und diese an konkreten empirischen Phänomenen demonstrieren, so rücken die Beiträge des zweiten Teils die Analyse von Einzelfällen stärker in den Vordergrund, ohne auf eine theoretische Verortung zu verzichten. Eine aus unserer Sicht zu starre Einteilung in einen methodologischen und einen anwendungsbezogenen Teil wäre den Beiträgen daher nicht gerecht geworden. Im Fokus stehen im zweiten Teil insbesondere die Grenzen des Privaten als einem paradigmatischen Gegenstand der Neuverhandlung, der das Leben im Digitalen charakterisiert. So widmet sich Fabian Pittroff der Neubewertung von Privatheit im Kontext der „Post­privacy-Kontroverse“. Die genannte Kontroverse wird dabei nicht bloß als Labor für die Transformation von Privatheit verstanden, sondern auch als eine ästhetische Bewegung gedeutet, die neue Subjektivitäten hervorbringt. Kathrin Englert, David Waldecker und Oliver Schmidtke greifen ebenfalls das Thema der Privatheit im Zeitalter der Digitalisierung auf. Der Schwerpunkt liegt hier allerdings auf dem Spannungsverhältnis zwischen „erbetener Beachtung“ und „unerbetener Beobachtung“ im Internet und der Frage, wie Jugendliche mit diesem Spannungsverhältnis umgehen. Tina Klatte stellt in ihrem Beitrag ein Radioprojekt vor, das im Rahmen der documenta 14 durchgeführt wurde. Zur Debatte steht hier also ein scheinbar antiquiertes Medium, dessen bleibende Potenziale – gerade für ein Leben im Digitalen ! – auf künst-

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lerisch-kreative Weise erkundet und in diversen Reflexionsschleifen durchdacht werden. Dabei ging es in den verschiedenen Programmbeiträgen auch um die Möglichkeit, den Filterblasen der digitalen Welt etwas entgegenzusetzen. Ähnlich wie beim Interview (und dem Thema der Interdisziplinarität) setzen wir uns mit der Aufnahme dieses Beitrags dafür ein, die bewertungssoziologische Debatte im Fall des Digitalen auch transdisziplinär sowie außerwissenschaftlich zu öffnen. Experimentell gilt es zu erkunden, wie sich digitale Bewertungspraktiken ausbilden und mit welchen Konsequenzen. Der Beitrag von Klatte sticht hier außerdem hervor, weil er auf Englisch geschrieben ist. Das hat einerseits damit zu tun, dass die Originalbeiträge auf Englisch eingesprochen sind (also: Interviews und Radiogespräche); andererseits will der Beitrag anschlussfähig sein an internationale Debatten des künstlerischen Feldes. Nebenbei verweist der Text damit auf die Internationalität digitaler Bewertungspraktiken – weshalb wir diese Öffnung auch als wichtiges Signal verstanden wissen wollen. Zu guter Letzt geht Thorsten Peetz unter dem Titel „Ausweitung der Paarungszone ? Grenzverschiebungen digitalisierter Paarbildung“ auf mögliche Transformationen des „Intimsystems“ im Zuge des Online-Datings ein. Diskutiert wird, ob und inwiefern Online-Dating-Plattformen (Tinder, Grindr usw.) zu einer sozialen, sachlichen oder räumlichen Entgrenzung von Intimbeziehungen führen. Der kurze Beitrag versteht sich dabei als erster Aufschlag und Literatursichtung zum Thema. Er bereitet damit den Boden für eine eingehendere Analyse des anvisierten Gegenstands. Auch im zweiten Teil des vorliegenden Sammelbands werden unterschiedliche theoretische Zugänge in Anschlag gebracht. Fabian Pittroff greift nicht bloß auf die „Repressionshypothese“ und die Überlegungen zur Subjektivierung von Michel Foucault zurück, sondern verwendet zudem einen methodischen Zugang, der die untersuchte Kontroverse als „soziale Arena“ im Sinne Anselm Strauss’ deutet. Kathrin Englert, David Waldecker und Oliver Schmidtke dient als theoretischer Hintergrund insbesondere die Unterscheidung verschiedener „Welten“ oder „Rechtfertigungsordnungen“ im Sinne von Bol­tanski und Thévenot sowie die Erweiterung dieser Perspektive durch Emmanuel Kessous und seinen Begriff der Ökonomie der Aufmerksamkeit. Bei Tina Klatte wird das Radio unter anderem mit dem von Brecht stammenden Begriff des „Kommunikationsapparats“ diskutiert. Thorsten Peetz schließlich widmet sich den möglichen Grenzverschiebungen digitalisierter Paarbildung aus einer dezidiert systemtheoretischen Perspektive. Dieser kurze Überblick über die Struktur und die einzelnen Beiträge des Buches zeigt die Breite der theoretischen Grundsatzfragen und empirischen Gegenstände einer Bewertungssoziologie des Digitalen auf. Ganz im Sinne von Marres gerät das Digitale dabei als Gegenstand, Methode und in ihrer Interaktivität als Plattform in den Blick. Auf der Gegenstandsebene offenbaren sich digitale Bewer-

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tungen als ubiquitäres Phänomen. Auf methodischer und methodologischer Ebene zeigen die Beiträge eine große Bandbreite möglicher Zugriffsweisen auf, um zuletzt auch neue Möglichkeiten der Kuration und Gestaltung digitaler Zusammenhänge zu adressieren. Wir sind überzeugt davon, dass die digitale Soziologie und die Bewertungssoziologie voneinander profitieren können. Dies gilt insbesondere dann, wenn theoretische und methodische Offenheit als Wert geschätzt wird, wie wir eingangs geschrieben haben. Von den Potenzialen dieser Kooperation – so unsere Hoffnung – legt auch der vorliegende Sammelband Zeugnis ab: Für eine Bewertungssoziologie des Digitalen !

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Teil I: Grundlegende methodologische Probleme. Oder: Infrastrukturen und ihre Grenzen

Für eine reflexive Vergleichspraxis in der Bewertungssoziologie Pinterest und WhatsApp als Beispiel Jonathan Kropf und Stefan Laser

Zusammenfassung  

Das Essay argumentiert, dass die zeitgenössischen soziologischen Bewertungsstudien zwar in einem hohen Maße auf Vergleiche angewiesen sind und Vergleiche vornehmen, dabei wird die eigene Praxis des Vergleichens aber selten diskutiert. In einem ersten Schritt werden daher Typen des Vergleichs differenziert, wobei die Hauptaussage dieses Essays darin besteht, dass sich die Bewertungssoziologie stärker mit reflexiven Vergleichen auseinandersetzen sollte. Wir illustrieren die Möglichkeiten und Herausforderungen einer solchen Reflexion an einem beispielhaften Vergleich der Onlineplattformen Pinterest und WhatsApp, die sich als zwei paradigmatische Plattformen mit interessanten Bewertungspraktiken erweisen. Wir gehen auf die Ge­schichte unseres „comparators“ ein, der diesen Vergleich hervorgebracht hat, was auch eine alternative Geschichte dieses Sammelbands ist. Den Kern der Untersuchung bildet eine eigene Heuristik, die auf den Begriff der Grenze im Sinne von Susan Leigh Star aufbaut. Schlagwörter  

Soziologie der Bewertung, Valuation Studies, Vergleich, Reflexion, Methodologie, Digitale Soziologie, Plattformen, Pinterest, WhatsApp, comparator

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Kropf und S. Laser (Hrsg.), Digitale Bewertungspraktiken, Soziologie des Wertens und Bewertens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21165-3_2

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Jonathan Kropf und Stefan Laser

Einleitung

Michèle Lamonts (2012) Aufsatz Toward a Comparative Sociology of Valuation and Evaluation kann als wegweisend für die gegenwärtige Soziologie der Bewertung angesehen werden. Dies gilt erstens insofern, weil er als wesentlicher Referenzund Ausgangspunkt vieler bewertungssoziologischer Studien dient – wer über Bewertungen aus soziologischer Perspektive spricht, kommt kaum daran vorbei, auf Lamonts Artikel im Annual Review of Sociology zu verweisen. Zweitens ist der Beitrag auch deshalb paradigmatisch, weil er bereits im Titel Bewertungssoziologie und Vergleiche kurzschließt. Vor allen an diesen zweiten Aspekt wollen wir anschließen. Wir stellen in diesem Essay die These auf, dass (insbesondere in der deutschsprachigen) Soziologie der Bewertung der Vergleich auf methodischer und inhaltlicher Ebene dominiert, ohne als Praxis mit je eigener Geschichte und spezifischen Konsequenzen diskutiert zu werden. Um diesen Punkt zu verdeutlichen, werden wir in einem ersten Schritt mit einem Vergleich von Vergleichsformen beginnen, die uns zu dem Argument hinführt, dass es einer stärkeren Reflexivität von Vergleichspraktiken bedarf – gerade in der Bewertungssoziologie ! Eine ähnliche Beobachtung wurde an anderer Stelle auch von Herausgeber_innen der Zeitschrift Valuation Studies gemacht (Helgesson et al. 2017). Diese These, aus unseren eigenen Erfahrungen mit der Bewertungssoziologie hervorgegangen, wird dann in einem zweiten Schritt für eine explorative Analyse der „social curation site“ (Forte et al. 2013) Pinterest und der digitalen Kommunikationsplattform WhatsApp in Anschlag gebracht. Die folgenden Ausführungen verstehen sich dabei insgesamt nicht als fertige Analysen, sondern als erster Aufschlag, der eine Debatte über zukünftige Wege und bisherige Engführungen der Bewertungssoziologie anstoßen soll.

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Der Vergleich von Vergleichsformen: Für eine reflexive Praxis des Vergleichs

Auf methodischer Ebene ist die Dominanz des Vergleichs bereits durch den erwähnten Text von Michèle Lamont (2012) vorgezeichnet, sie findet sich aber auch in den vielfachen Versuchen, der Bewertung über den Vergleich verschiedener Bereichslogiken auf die Spur zu kommen: Wenn wir uns vergleichend mit Bewertungen in der Wirtschaft, der Kunst, der Bildung oder der Politik auseinandersetzen – so die Hoffnung – gelangen wir irgendwann zu einer allgemeinen Theorie der Bewertung, im Sinne einer „kumulativen Theoriebildung“ (Meier et al. 2015, S. 321). Als Praxis kann der Vergleich aber auch selbst wieder zum inhaltlichen Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Beobachtung gemacht werden. Man

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kann hier an die Vielzahl von Studien denken, die sich mit Ratings und Rankings in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen – vor allem im Bildungswesen – beschäftigen. Selten werden allerdings die eigenen sozialwissenschaftlichen Vergleichspraktiken beleuchtet. Uns erscheint es daher sinnvoll, im Anschluss an den Sammelband Practising Comparison von Joe Deville, Michael Guggenheim und Zuzana Hrdličková (2016a) eine Diskussion über eine solche reflexive Vergleichspraxis anzustoßen. Dafür ist es hilfreich, sich die Operation des Vergleichens noch einmal genauer anzuschauen. Bettina Heintz (2010, S. 164; H. i. O.) beschreibt Vergleiche als „Beobachtungsinstrumente, die zwischen Einheiten oder Ereignissen eine Beziehung herstellen. Sie beruhen einerseits auf der Annahme, dass die verglichenen Einheiten in mindestens einer grundlegenden Hinsicht gleich sind, und setzen andererseits ein Vergleichskriterium voraus, das die Verschiedenartigkeit des (partiell) Gleichen beobachtbar macht. Es ist diese Kombination von Gleichheitsunterstellung und Differenzbeobachtung, die die Besonderheit von Vergleichen ausmacht.“ So verstandene Vergleiche zielen darauf ab, in einem ersten Schritt gleichartige Einheiten – in unserem Fall zum Beispiel Bewertungspraktik A und Bewertungspraktik B – zu ermitteln und diese dann unter einem „tertium comparationis“ miteinander in Beziehung zu setzen (auch Schmidt 2012, S. 128). Einen solchen Modus des Vergleichs bezeichnet Robert Schmidt (2012, S. 99 ff.) in seiner „Soziologie der Praktiken“ als „präkonstruiertes Vergleichen“. Deville et al. (2016a, S. 18) sprechen davon, dass man bei dieser Vergleichsform (in ihrer extremsten Ausprägung) einen aus den Naturwissenschaften entlehnten metho­ dologischen Positivismus am Werk sehen könnte. Und Monika Krause (2016) wiederum betont die Bedeutung dieser Vergleichsform in „linear-causal explana­tions“. In diesem Verständnis wäre zum Beispiel ein Vergleich sozialer Bewegungen in Finnland und Norwegen deshalb sinnvoll, weil davon ausgegangen wird, das in den Spezifika der beiden Länder erklärende Faktoren für bestehende Differenzen gefunden werden können (Krause 2016, S. 52). Die Kritik an diesem Verständnis des Vergleichs entspinnt sich an dessen inhärenter Tendenz, die Einzigartigkeit der Vergleichsobjekte zu missachten, indem die Gleichheitsunterstellung oder Kategorisierung den Primat erhält. Nach Deville et al. (2016, S. 21 ff.) hat diese Form der Kritik sowohl aus der qualitativen Forschungstradition als auch dem Postkolonialismus, Feminismus und Poststrukturalismus und anderen theoretischen Strömungen Rückenwind erhalten, die sich gegen die normalisierenden Macht- und Herrschaftseffekte ‚positivistischer‘ Vergleiche wenden: „It is a critique that looks at comparisons as problematic effects of writing, which are seen to do violence to the uniqueness of the circumstances of the research subject.“ (Deville 2016, S. 22) Schmidt (2012) schlägt in direkter Umkehrung des „präkonstruierten“ Vorge­ hens eine Methode vor, die er als „explorativen Vergleich“ bezeichnet und die er

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unter anderem aus der Grounded Theory gewinnt. Explorative Vergleiche sollen keine Gleichmacher sein, die mit präkonstruierten Vergleichskategorien arbeiten, sondern gerade über Kontraste und Differenzen Verfremdungseffekte erzielen (Schmidt 2012, S. 128). Es gehe darum, wie Schmidt in einer gelungenen Formuliereng schreibt, Praktiken „zur Kenntlichkeit zu verfremden“ (Schmidt 2012, S. 129). In seiner eigenen empirischen Arbeit verdeutlicht er dies durch den Vergleich von Boxpraktiken und Praktiken des Programmierens – gerade dadurch, dass scheinbar zwei gänzlich verschiedene Praktiken (die sprichwörtlichen „Äpfel und Birnen“) miteinander verglichen werden, sollen die spezifischen Eigenarten der jeweiligen Praktik aufscheinen.1 Die Formulierung Bettina Heintz’ umkehrend könnte man sagen, es gehe Schmidt nicht um „Gleichheitsunterstellung und Differenzbeobachtung“, sondern um Differenzunterstellung und Gleichheitsbeobachtung. Eine dritte Art sich dem Thema des Vergleichs zu nähern, kann als reflexive Vergleichspraxis bezeichnet werden. Diese haben vor allem Deville et al. (2016a und  b) ausgearbeitet. Die Autor_innen argumentieren, dass es nicht darum gehen kann, Vergleiche generell als gut oder schlecht auszuweisen, sondern darum, fallspezifisch die eigene Eingebundenheit in die Praxis des Vergleichens zu re­­ flektieren: „If we think of the ways in which comparison is used, together with the various elements involved in practically doing comparison – beginning with the role of research funders, the internal set-up of the comparator and finally the role of the field itself – we can immediately see that the question of what is at stake when practising comparison cannot, and could never have been, whether comparison is good or bad, or whether it should be avoided. The question is rather which comparisons and which comparative infrastructures we want to implicate ourselves in, what we seek to understand with them, how we set up our comparator, and how we want it to relate to the field. There is 1

Mit Monika Krause (2016, S. 45 ff.) werden hier „like with like comparisons“ durch „like with unlike comparisons“ ersetzt. Krause (2016, S. 52) argumentiert, dass gerade Vergleiche von unterschiedlichen Entitäten bei der Entwicklung wissenschaftlicher Konzepte helfen können. Darüber hinaus nennt sie noch weitere Arten des Vergleichs, die sich aber von den vorherigen nicht der Form, sondern der Methode nach unterscheiden: Asymmetrische Vergleiche analysieren etwa einen Fall in der Tiefe, wie es in qualitativen Studien üblich ist, ziehen jedoch zusätzlich weitere Fälle zu Rate, die weniger eingehend analysiert wurden oder lediglich der Literatur entnommen sind (Krause 2016, S. 58 f.). Hypothetische Vergleiche funktionieren als reine Gedankenexperimente und können etwa kontrafaktisch aufgebaut sein, nach dem Prinzip „was wäre wenn…“ (Krause 2016, S. 59 f.). „Unverdaute Vergleiche“ („undigested comparisons“) sind schließlich solche, die etwa konkurrierende Interpretationen nennen, ohne sie in die eigene Argumentation zu integrieren, wie es in Fußnoten häufig geschieht (Krause 2016, S. 61 f.) – wir sind uns der Ironie dieser Fußnote in der Fußnote bewusst.

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no single, correct procedure for doing comparison, no correct answer to the question of what a good comparison is or should be.“ (Deville et al. 2016a, S. 32)

In diesem längeren Zitat versteckt sich ein Stichwort, mit dem die Autor_innen die reflexive Vergleichspraxis stärken wollen: die Figur des „comparators“ (die Nähe im Englischen zum „computer“ ist beabsichtigt). In einem separaten Sammelbandbeitrag führen Deville et al. (2016b) diesen Begriff aus. Unter einem „comparator“ verstehen sie eine Assemblage (also eine Zusammenstellung an Akteuren), die die Arbeit des Vergleichens unternimmt. Gemeint sind damit sozialwissenschaftlich forschende Personen, die gleichwohl mehr sind als bloß die Personen – sie sind zusammengestellt aus Forschungsanträgen, Dissertationsprojekten, Software, persönlichen und institutionellen Vergangenheiten, aber auch Erfahrungen während eines Forschungsaufenthalts oder im Schreibprozess. Die Autor_innen argumentieren also, dass der Vergleich ein komplexes Resultat ist. Ein „comparator“ muss hervorgebracht werden – und wandelt sich im Laufe der Forschung. „A working comparator is always a complex assemblage, and never simply a tool, an operation, or a method“ (Deville et al. 2016b, S. 104). In ihrem Artikel demonstrieren sie an ihrem eigenen Forschungsprojekt, was es heißt, eine solche Assemblage in Stellung zu bringen. Es wird vom Forschungsantrag berichtet, der die involvierten Autor_innen zusammengebracht hat (wobei etwa nur eine der Personen den ursprünglichen Antrag erarbeitet hat). Dann werden autoethnographisch die Fälle vorgestellt, aber auch die genutzten Literaturmanagementprogramme und einige überraschende Entwicklungen in ihrem Projektverlauf. Um der Assemblage ein Gesicht zu geben, haben sie schließlich auch eine Collage ihrer selbst in den Text eingebaut – der „Kopf “ des „comparators“ besteht bei ihnen aus jeweils einem Drittel Projektmitarbeiter_in, wobei im Hintergrund Screenshots der benutzten Software und einige Gadgets abgebildet sind. Eine bunte Mischung. Mit Hilfe des „comparators“ kann die idealtypische Gegenüberstellung von (stabilisierten) Vergleichspraktiken erweitert diskutiert werden. So schreiben Deville et al. (Deville 2016b, S. 106): „Once the comparator is assembled, its life can assume different forms and the comparison it produces hinges on the comparator having a certain cohesion. This is an often overlooked feature of comparison. Comparing is a practice of bringing material together and putting it in conversation, and not simply an assembly of empirical data with different characteristics.“ Die Stabilisierung eines Vergleichs wird zu einer aufwendigen und niemals abgeschlossenen Praktik. Ein Vergleich muss kalibriert werden, und man sollte sich Gedanken darüber machen, wie ein Vergleich (im Feld ?) auftritt und welche Konsequenzen er mit sich bringt. Die Autor_innen machen den überzeugenden Vorschlag, zu beschreiben, welche Prozeduren und Situationen entscheidend zu einem Vergleich beigetragen ha-

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ben. Das ist eine reflexive Vergleichspraxis, die mit dem Versprechen einhergeht, besser zu vergleichen. Besser heißt dabei vor allem auch, sich durch mehr Details zum eigenen Forschungsprozess angreifbarer zu machen. Man zeigt auf, welche Arbeit notwendig war, um einen Vergleich zu stabilisieren. Es ist eben nicht so, dass Vergleiche sich selbsterklärend aufzwingen. Indem die Momente aufgezeigt werden, in denen mehr oder weniger bewusste Vergleiche praktiziert werden, eröffnet sich auch die Möglichkeit, kreativ und gezielt mit der Praxis des Vergleichens umzugehen. Wir möchten uns daher Helgesson et al. (2017, S. 4) anschließen, dass es notwendig ist, in den (soziologischen) Bewertungsstudien verstärkt über die eigenen Vergleichspraktiken nachzudenken. Im Folgenden wollen wir aufzeigen, wie eine solche Reflexion aussehen kann und was für einen Unterschied sie macht.

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Über die Geschichte eines „comparators“ und die Plattformen Pinterest und WhatsApp

In unseren Dissertationsarbeiten setzen wir uns mit digitalen Bewertungspraktiken auseinander. Hier zielen wir aber nicht auf einen Vergleich unserer Promo­ tionsthemen ab (das wären Musik und Müll). Wir wollen andere Beispiele disku­ tieren, die digitalen Plattformen WhatsApp und Pinterest. Das Interesse für diese Plattformen geht auf eine Verschiebung zurück: Wir haben zusammen einen neuen „comparator“ hervorgebracht. Analog zu Deville et al. (2016b) stellen wir nun die Geschichte dieses „comparators“ vor – wir wie auf die Idee gekommen sind, welche Erfahrungen wir gemacht haben (Kap. 3.1) und zu welchen Erkenntnissen dieser Prozess geführt hat (3.2).

3.1 Die Konstitution eines „comparators“ und unsere Untersuchungsheuristik Eine wichtige Grundlage dieser Forschung, ja dieses gesamten Sammelbands, ist zunächst eine basale Tatsache. An der Universität Kassel teilen wir uns ein Büro und sind seit dem Jahr 2013 in Forschungsarbeiten des Fachgebiets Soziologische Theorie in Kassel eingebunden. Das ist sozusagen die Infrastruktur, die uns zusammengebracht hat (Star und Ruhleder 1996); sie ist die Grundlage unserer Praxisgemeinschaft, wenn man so will. Zum 2016er Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) in Bamberg haben wir dann eine Ad-hoc-Gruppe (also ein Panel) eingereicht zum Thema „Grenzen der Bewertung. Angleichungs-, Konflikt- und Absonderungsdynamiken in Zeiten der Digitalisierung“. Dieser An-

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trag wurde bewilligt, und die Diskussionen der Ad-hoc-Gruppe wurden (wie im Vorwort ausgeführt) zur Grundlage des vorliegenden Sammelbandes. In unserem originalen Ausschreibungstext heißt es: „Die Beiträge der Ad-hoc-Gruppe sollen […] im Anschluss an das Kongressthema die verschiedenen Schließungs- und Öffnungsdynamiken von Bewertungen in der digitalen Welt zum Gegenstand machen.“ Das Thema des 2016er Kongresses wirkt also bis in diesen Sammelband und den vorliegenden Artikel hinein.2 Auf Grund des Oberthemas („Geschlossene Gesellschaften“) haben wir uns näher mit dem Begriff der Grenze auseinandergesetzt. Diese Idee war in gewisser Weise von außen angestoßen, etwas vom Zufall geprägt – hat sich aber letztendlich als produktiv herausgestellt. Mit dem Grenzbegriff haben wir neu über Vergleiche nachgedacht. Digitale Bewertungsplattformen sind in hohem Maße durch eine Hybridität von Praktiken, durch interpretative Flexibilität und Fluidität gekennzeichnet. Der Begriff der Grenze, wie Susan Leigh Star (2017, S. 214) ihn definiert, kann möglicherweise helfen – so unsere Idee – eine angemessenere Forschungshaltung zu fördern: „Oft impliziert Grenze so etwas wie Rand oder Peripherie, wie im Falle der Grenze eines Staates oder eines Tumors. Hier jedoch soll Grenze einen gemeinsamen Raum bedeuten, in dem genau diese Wahrnehmung von Hier und Dort durcheinandergerät.“ Solche Grenzräume sind – mit anderen Worten – Orte, die unsere Vorstellungen bestimmter Praktiken destabilisieren, die gerade funktionieren, indem sie zum Beispiel politische, wirtschaftliche oder private Interessen in ein Mischungsverhältnis bringen. Indem sie „die Wahrnehmung von Hier und Dort“ durcheinanderbringen, wie Star schreibt, sind die auf diese Art und Weise fokussierten Praktiken weder gleich noch einzigartig, sondern hybrid. Der Blick richtet sich hier insbesondere auf sogenannte Grenzobjekte: „Objekte, die sowohl in mehreren sich überschneidenden sozialen Welten zu Hause sind […], wie auch die Informationsbedürfnisse in jeder dieser Welten befriedigen. Grenzobjekte sind Objekte, die plastisch genug sind, um sich den lokalen Bedürfnissen und Beschränkungen mehrerer sie nutzender Parteien anzupassen. Sie bleiben dabei robust genug zur Bewahrung einer gemeinsamen Identität an allen Orten. Grenzobjekte sind schwach strukturiert in der gemeinsamen Verwendung und werden stark strukturiert in der individuellen Verwendung.“ (Star und Griesemer 2017, S. 87)

Grenzobjekte ermöglichen Kooperation, ohne Konsens. Sie zeichnen sich aus durch interpretative Flexibilität sowie eine spezifische „materielle oder organisatorische Struktur“ und eine bestimmte „Größenordnung und Granularität“ (Star 2

So haben wir die Autor_innen des Sammelbands auch dazu angehalten, an ihrem je eigenen Fall über das Thema der Grenze nachzudenken.

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2017, S. 214). Auf einer höheren Maßstabsebene kann dabei auch von Grenzinfrastrukturen gesprochen werden, die mehrere Grenzobjekte verweben (Bowker und Star 2000, S. 285 f.) definieren Grenzinfrastrukturen auch als Regime oder Netzwerke von Grenzobjekten). In der Summe beeinflussen sie, wie Akteure aufeinander treffen, sie machen bestimmte Handlungen möglich, stellen aber eventuell auch Herausforderungen dar und erfordern zumindest ein besonderes Wissen. Diese Grenzobjekte und -infrastrukturen scheinen im Digitalen nun höchst instabil zu sein (auch Edwards et al. 2009), so unsere Beobachtung im Zuge der Vorbereitung für den Soziologiekongress. Neben konsensualen Zusammenschlüssen, so unsere These, kommt es zu Konflikten und Kämpfen, aber auch Inkohärenzen und diffuse noises bestimmen die Interaktion der komplizierten sozio-technischen Systeme. Noises wären dann nicht zuzuordnende aber durchaus in großer Zahl auftretende Abweichungen – hier haben wir an verschiedene Phänomene gedacht wie Filterblasen, Hate Speech, Bots, Trolls oder Spam. Wir sind zum DGS-Kongress gefahren mit der vagen Hoffnung, daraus weitere Projekte entwickeln zu können. Daraus ist schließlich der vorliegende Sammelband entstanden. Mit diesem Buch (das machen wir in der Einleitung deutlich) wollen wir einen Beitrag zur aktuellen Debatte der Bewertungssoziologie leisten. In der deutschen Soziologie gab es bereits mehrere Veranstaltungen zum Thema, und während wir am Sammelband gearbeitet haben, wurde eine neue Tagung angekündigt; in Köln wollten sich die DGS-Sektionen Kultur- und Wissenssoziologie, unter der Organisation von Oliver Berli, Stefan Nicolae und Hilmar Schäfer, im November 2017 zum Thema „Kulturen der Bewertung“ treffen. Wir hatten die Idee, zu dieser Tagung die bisherigen Erfahrungen aus der Arbeit am Sammelband aufzubereiten. Das resultierte in einem Vortrag mit dem Titel „Grenze statt Vergleich: Erkenntnisse aus der Untersuchung digitaler Bewertungspraktiken“. So begann der neue „comparator“ eine konkrete Form anzunehmen. Für die genannte Veranstaltung wollten wir eine zugespitzte These formulieren, daher der knappe Haupttitel „Grenze statt Vergleich“. Wir referierten darüber, dass in der Bewertungssoziologie (besondere) Vergleiche zu dominieren schienen. Neben den oben ausgeführten konzeptionellen Überlegungen beruhte diese These auch auf der Beobachtung, dass in der empirischen Auseinandersetzung mit Bewertungen ebenfalls der Vergleich zu dominieren scheint. Gemeint war damit das, was Bettina Heintz „Vergleichskommunikation“ nennt, also die Betrachtung von spezifischen Ratings und Rankings, die ihrerseits Vergleiche vornehmen und gleichsam performativ bestimmte Wirkungen nach sich ziehen – etwa indem die verglichenen Akteure oder Organisationen sich an die entsprechenden Vergleichsmaßstäbe anpassen, um besser abzuschneiden. Diese Beobachtung, sollte aber nicht die einzige Überlegung dieses Vortrags sein. Wir wollten eine Alternative bieten, und zwar über die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Grenze.

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Wir wollten damit nicht nur demonstrieren, dass der Sammelband, an dem wir arbeiteten (und den Sie nun in der Hand halten bzw. auf dem Bildschirm betrachten), etwas mit dem Begriff anstellt (vgl. die Einleitung des Sammelbands). Wir wollten an einem eigenen Beispiel demonstrieren, dass ähnlich wie bei Vergleichen auch mit der Grenze ein Untersuchungsprogramm einhergehen kann. Nun macht es Sinn, die Vergangenheit wieder mit der Gegenwart zu verweben. Das Digitale ist gegenwärtig infrastrukturell so gestaltet – so haben wir es im Vortrag formuliert und wollen es auch hier wiederholen –, dass flexible Grenzräume bereitgestellt werden, in denen spezifische Verschiebungen und Aushandlungen stattfinden. Diese Räume sind daraufhin zu untersuchen, a) welche Grenzobjekte beziehungsweise Grenzinfrastrukturen (Bowker und Star 2000) benutzt werden, b) welche Praktiken und Wissensformen in den Grenzräumen zu beobachten sind (und wie dadurch Grenzen auch hergestellt, gepflegt oder infragestellt werden) und c) wie der Grenzraum als Erfahrungsraum gestaltet ist (flüchtig, distanziert, gemeinschaftlich, …). Diese Untersuchungsheuristik macht den Kern unseres Vergleichs aus, wir verwenden sie, um die Nutzung von Plattformen aus einer innovativen Per­spektive zu beleuchten. Mit dem Blick auf Grenzobjekte (a) bekommt man zunächst einige wesentliche Tools und Infrastrukturen in den Blick, wobei der Fokus auf Grenzpraktiken (b) besondere Verhaltensweisen und Wissensformen hervortreten lässt, was in der Summe (c) den Charakter des Erfahrungsraums verstehen hilft. Die drei Elemente verweisen aufeinander, wobei ihre heuristische Trennung einen präzisen Vergleich möglich machen soll, was es im Folgenden zu zeigen gilt.

3.2 Ein Vergleich von Pinterest und WhatsApp Wir vergleichen nun die Grenzräume auf den Plattformen von WhatsApp und Pinterest. WhatsApp ist eine der beliebtesten Plattformen weltweit, laut der letzten Onlinestudie von ARD und ZDF nutzen rund 55 Prozent der Deutschen das Tool für interpersonelle Kommunikation (im Vergleich: Facebook nur 21 %).3 Überraschenderweise ist die Plattform ein in der Bewertungssoziologie wenig diskutiertes Beispiel (in der Digitalisierungsforschung schon eher). Als Vergleich haben wir Pinterest gewählt, weil es anders aufgebaut ist und in Deutschland erst 3 http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/

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seit kurzem an Popularität gewinnt. Das Handelsblatt schreibt etwa über die Plattform, dass sie „kräftig“ zulegt und zu den Branchengrößen „aufholt“ (Steger 2017). Wir haben diese beiden Plattformen demnach ausgewählt, weil sie im Feld relativ wenig beachtet werden und weil sie dezidiert nicht unsere eigenen beiden Kernthemen darstellen. Im Geiste Noortje Marres’ digitaler Soziologie (2017) wollten wir uns experimentell unserer Problemstellung nähern – dem Vergleich digitaler Bewertungspraktiken. Wir haben uns dabei auch für diese beiden Beispiele entschieden, weil wir Lust auf diese Untersuchungsobjekte hatten. (Vergleiche haben also auch etwas mit Affekten zu tun.) Wir kennen die Plattformen aus dem Alltag, entweder als ein Standardkommunikationsmittel (WhatsApp) oder als seltsam allgegenwärtige Plattform, auf die man zufällig im Internet stolpert oder von denen Bekannte auf Partys erzählen, die wir aber selber noch nie genauer betrachtet haben (Pinterest). Die Analyse beruht dabei gleichwohl nicht auf eigenen Forschungsprojekten; wir greifen auf Literatur zurück, die sich bereits in unserem Sinne mit den Themen auseinandergesetzt hat, verweben diese Erkenntnisse mit eigenen Erhebungen und diskutieren die Ergebnisse mit der genannten Untersuchungsheuristik. Zunächst allgemein, was ist Pinterest für eine Seite ? Viele Internetnutzer_innen sind bereits öfter mit Pinterest in Berührung gekommen, etwa durch prominente Google-Platzierungen wie die obigen (Abb. 1). Die Plattform ist ideal dazu geeignet, Ideen zu generieren – sie versammelt Bilder, Tipps und Informationen aus unterschiedlichsten Quellen auf der eigenen Seite (oder in der eigenen App). Zum Ideen entwickeln werden Suchmaschinen ja durchaus oft genutzt, hier versucht sich die Plattform geschickt als attraktives Ziel in Stellung zu bringen. Der Weg ist nicht weit. Ein Mal auf der Website angekommen, will man die Nut­zer_innen mit einem intuitiven Design an Bord halten (wie auf Google lässt sich zunächst scrollen). Bei Hochzeitseinladungen sieht das Suchergebnis auf Pinterest dann etwa so aus (Abb. 2). Die Website ist im Hintergrund durch ein „Grid“ strukturiert, sodass heterogene Inhalte zu einem Thema nebeneinander angezeigt werden können. Das erklärt auch den Namen der Plattform: Man kann Interessantes „anpinnen“, wie an einer Pinnwand direkt nebeneinander. Auf Pinterest kann man sowohl bereits existierende Schlagworte, Kategorien oder Themen durchstöbern als auch ei­gene Sammlungen anlegen. Die Seite spannt ein dichtes Netz an Klassifikationen, wobei den Nutzer_innen an einigen Stellen die Möglichkeit gegeben wird, an der Konstruktion von Klassifikationen mitzuwirken (man kann gar als „Developer“ eigene Buttons oder kleine Programme schreiben, Pinterest öffnet dazu auch seine Schnittstellen) – wenngleich der Großteil der Konstruktionen unsichtbar im Hintergrund gebaut und angepasst wird. Vor diesem Hintergrund schlägt die Plattform auf der eigenen Start­seite Inhalte vor. Als wir uns angemeldet haben, muss-

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Abbildung 1  Pinterest bei Google. Eigener Screenshot von Google.de

Abbildung 2  Suchergebnisse auf Pinterest zum Thema Hochzeitseinladungen. Eigener Screenshot von pinterest.com

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Abbildung 3  Anmeldeseite bei Pinterest. Eigener Screenshot von pinterest.com

ten etwa Themen ausgewählt werden, die uns interessieren, und dann wurden dazu mehr oder weniger passende Inhalte angezeigt. Zum Stichwort des Anmeldens: Pinterest ist vor allem auch deshalb bekannt, weil es eine Anmeldung anfordert. Wenn man unangemeldet die Seite öffnet, egal worum es geht, sieht man noch Inhalte klar und deutlich. Beginnt man aber zu scrollen, schiebt sich langsam eine graue Wand nach vorne – „Schon Mitglied bei Pinterest ?“ (Abb. 3). Hier sind die wesentlichen Elemente von Pinterest zusammengefasst: Man kann die Plattform als „social curation site“ definieren, wie es etwa die Forschungsteams Forte et al. (2013) und Hall und Zarro (2012) getan haben. Pinterest arbeitet mit üblichen Features sozialer Medien – vom Kommentar bis zum Like (Gerlitz und Helmond 2013) –, ermöglicht es User_innen aber vor allem, Inhalte zu sammeln und zu kuratieren. Es ist ein ideales Bewertungstool. Beliebt ist Pinterest etwa, um Wunschlisten für die genannten Hochzeiten oder andere Ereignisse anzulegen, gerne auch gemeinsam mit anderen. Interessant ist die Plattform zudem, weil ihre Nutzer_innenzahlen im letzten Jahr stark gestiegen sind; sie macht einigen anderen, ehemals populären Plattformen wie Flickr Konkurrenz. Mit Blick auf das erste Stichwort unserer Untersuchungsheuristik, die Grenzinfrastrukturen (a), kann man Folgendes festhalten. Das Log-In-Feld grenzt zunächst aus, im recht banalen Sinne einer Grenzziehung – in vs. out. Nur über spezialisierte Tools oder „Workarounds“ (Schabacher 2017) ist es möglich, Inhalte der Seite zu nutzen. Als zentrales Grenzobjekt, an dem sich Nutzer_innen orientieren, fungiert die „grid based architecture“, die ordnende Tabelle im Hintergrund. Sie ist fixiert und flexibel zugleich (oder, im Sinne des Grenzobjekte-Begriffs for-

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muliert: schwach strukturiert in der gemeinsamen, stark strukturiert in der individuellen Verwendung), sodass Nutzer_innen die Inhalte für sich zurechtlegen können. Darüber hinaus gibt es noch eine Vielzahl an mehr oder weniger komplizierten Features, die die Plattform anbietet: ein Browser-Add-on, das es einfach macht, alles Mögliche aus dem Web zu sammeln, ein Newsletter oder die neue Möglichkeit, direkt auf der Website Produkte zu erwerben. Relevant sind dabei die unterschiedlichen Funktionen des Kuratierens, die als „soziale Praxis“ gerahmt sind, weil man daran teilhaben kann („Social Sharing“ wird etwa das Anlegen eigener Listen genannt). Neben diesen eher grundlegenden Elementen ist noch von Bedeutung, dass mit einem modernen Vorschlagsystem gearbeitet wird, dass seit Kurzem von Artificial Intelligence (AI) unterstützt wird. So sollen sich im Laufe der Zeit die Inhalte auf der eigenen Startseite an die Suchhistorie anpassen; die AI ist aber etwa auch darauf angelegt, zu einem T-Shirt, dass man sich gerade „angepinnt“ hat, passende andere Kleidungsstücke herauszusuchen (und nicht 100 ähnliche T-Shirts). Wir blicken nun auf Grenzpraktiken (b). Forte et al. (2013) – die für ihre Argumentation auch auf Susan Leigh Star zurückgreifen – machen auf eine Besonderheit dieser Plattform aufmerksam. Pinterest ist nicht nur ein Repositorium mit vielen Bildern und Links. Es bietet vielmehr eine Infrastruktur, um sich selbst ein passgenaues Repositorium anzulegen: „not […] a repository of […]; rather […] an infrastructure for repository building“ (Forte et al. 2013, S. 656, H. i. O.), wie die Forscher_innen schreiben. Wichtig ist, dass man ein besonderes Wissen, ja einen besonderen Blick entwickeln muss, um auf der Plattform handlungsfähig zu sein – einen kuratorischen Blick. Abbildung 4 zeigt als Beispiel eine Userin, die unterschiedliche Themen geordnet hat, Informationen, die man sich als Dritte_r auch öffentlich anschauen kann. Zum letzten Punkt der Heuristik: der Gestaltung des Grenzraums (c). Pinter­est ist wohl eine erfolgreiche Plattform, weil sie kleinen Gruppen die Gestaltung flexibler Kontakträume ermöglicht. In eigens angelegten Kategorien können Gruppen unterschiedliche Inhalte sammeln, und es ist kein großes Problem, wenn dabei unterschiedliche, vielleicht auch widersprüchliche Inhalte zu verschiedenen Zeiten hochgeladen werden. Besonders interessant aus einer konsum- beziehungsweise wirtschaftssoziologischen Sicht ist hier, dass sich unterschiedliche professionelle Akteure auf der Seite bewegen. Dazu zählen etwa Einzelpersonen, die als Berater_innen bei der Auswahl von Inhalten behilflich sein können (tatsächlich sind hier Wedding Planner aktiv, die Hilfestellung leisten; Forte et al. 2013). Professionell meint aber auch: Plattformen wie das E-Commerce-Portal Dawanda nutzen Pinterest, um bekannter zu werden. Sie machen daher auch Werbung für diese Plattform; man profitiert voneinander. Es ist dann auch nicht verwunderlich, dass der Verkauf von attraktiven Werbeplätzen ein zentrales Ziel der Plattform ist

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Abbildung 4  Kategorisierung einer Pinterest-Nutzerin. Eigener Screenshot von pinterest.com

(man könnte das Unternehmen Pinterest vor diesem Hintergrund auch als Werbeunternehmen bezeichnen). Externe Unternehmen können etwa auch in Form von „Promoted Pins“ ihre Inhalte recht unscheinbar unter die Leute bringen. Pinterest bietet den Werbepartner_innen dann obendrein exklusive Daten über die Nutzer_innen und Gruppen, die diese Pins aufgreifen – die Plattform verfügt über einen Schatz an Daten, weiß aber auch, dass der Wert dieser Daten darin liegt, Informationen nur gezielt herauszugeben (was ähnlich ist wie bei Facebook, wie man beim 2018er Datenskandal rund um „Cambridge Analytica“ gelernt hat). Ein letzter Punkt sei genannt, vielleicht ist es der bewertungssoziologisch Interessanteste an dieser Website: Die Vermischung von Inhalten scheint der Normalzustand auf Pinterest zu sein. Aus Interesse haben wir etwa nach dem Schlagwort „Politik“ gesucht. Wohlgemerkt: als Newbie ohne Suchhistorie. Es wurden mehrere Inhalte angeboten, vor allem Memes, einige davon mit eindeutig rassistischem Inhalt (Abb. 5). Direkt daneben wurden aber auch Zitate von Einstein oder motivierende Sprüche angezeigt, die antirassistisch argumentieren. Vielleicht wird hier ein spezifisches Milieu abgebildet – und geprägt. Eventuell ist diese Übersicht ein gutes Beispiel für die viel diskutierte „Querfront“. Das sind aber nur Spekulationen, weil eine ähnliche Vermischung auch bei anderen Themen beobachtbar ist. Nutzer_innen müssen eher damit umzugehen lernen, dass In­halte individuell auszuwählen sind. Auf Pinterest lernen User_innen, wie sie erfolgreich besondere Dinge auswählen. Sie werden darin unterrichtet, ein singuläres Subjekt zu formen, wie man mit Andreas Reckwitz (2017, S. 59) argumentieren kann:

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Abbildung 5  Die Suche nach „Politik“ auf Pinterest. Eigener Screenshot von pinterest.com

sie können sich auf die Ausbildung von Eigenkomplexität konzentrieren, die anerkannt wird (wodurch sich Subjekte gegen die Reduktion auf Funktionsrollen oder Herkunftsgruppen sperren, so Reckwitz’ These). Das schließt dann auch ein, bestimmte Inhalte auszublenden (oder auch: mit dem Wissen über diese Inhalte hantieren zu können). Das erfordert trotz allem Arbeit, und für die Analyse (etwa des Rassismus) ist dabei problematisch, dass diese Arbeit und ihr Kontext zu einem großen Teil unsichtbar bleibt. Im Gegensatz zu Pinterest dürfte WhatsApp den meisten Leser_innen geläufig sein. WhatsApp ist eine Kommunikationsapp, die ähnlich wie ein Chat auf einem Web 1.0-Forum funktioniert, die aber hauptsächlich auf Smartphones genutzt wird und es ermöglicht, auch multimediale Inhalte einzubinden (wie Bilder, Videos, Emoticons etc.). Wir verstehen diese Kommunikationsplattform als einen wichtigen Interaktionsraum, der durch eine Vielzahl an Bewertungspraktiken gefüllt wird. Genau basierend auf dieser Aussage hat sich unser „comparator“ zwischenzeitlich aber destabilisiert. Inwiefern sind Bewertungen auf WhatsApp von Belang ?… wurden wir auf der bewertungssoziologischen Konferenz in Köln gefragt. Wir waren kurz davor, den Vergleich gänzlich neu auszurichten, vielleicht es sogar bei einer Analyse von Pinterest zu belassen (denn dort sind die vereinzelten Bewertungstools und der bewertungssoziologisch bedeutsame kuratorische Blick sozusagen offensichtlich). Wir haben uns dann an den drei heuristischen Begriffen (a – c) orientiert und akzeptiert, dass sich hier Bewertungen mit unterschiedlichen Reichweiten und Konsequenzen gegenüber stehen können. Da-

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bei hat WhatsApp (aktuell und in Europa) im Wesentlichen drei Funktionen, die die Grenzinfrastruktur (a) ausmachen: Chats zwischen Einzelpersonen, Gruppenchats, an denen mehrere Personen teilnehmen können, und eine „BroadcastFunktion“, bei der ein Account Nachrichten an eine Liste versendet, ohne dass die Personen auf der Liste untereinander kommunizieren können (diese Funktion wird aktuell ausgebaut, sodass sie noch attraktiver für Unternehmen und die Kommunikation mit ihren Kund_innen wird; dazu wird auch eine eigene App angeboten: „WhatsApp Business“). WhatsApp kombiniert damit auf einzigartige Weise interpersonelle und Massenkommunikation (wobei nicht nur Texte, sondern auch Video- und Sprachnachrichten ausgetauscht werden können, live und asynchron) (Malka et al. 2015). Die Grenzpraktiken (b) auf WhatsApp lassen sich am besten durch drei Schlaglichter verdeutlichen. Erstes Schlaglicht: 2014 wurde WhatsApp von Facebook übernommen, woraufhin es Kontroversen über eine mögliche Bedrohung priva­ ter Inhalte gab – wofür die Plattform vor allem genutzt und geschätzt wird (Lupton 2014, S. 126). WhatsApp hat dann, auch als Reaktion auf die Erfolge anderer Anbieter, im Jahr 2016 eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung eingeführt. Die Problematik ist damit noch nicht vollkommen aus der Welt (Facebook kann weiterhin bestimmte Metadaten aus WhatsApp abziehen), verschiedene andere Plattformen versuchen sich als Alternativen zu etablieren – die Bewertungen der Plattformen wandeln sich ständig und der Druck aus unterschiedlichen Richtungen erhöht sich. Zweites Schlaglicht: Gruppenchats waren bei WhatsApp ursprünglich auf 100 Teilnehmende begrenzt, wurden dann aber auf 256 Teilnehmende erhöht. Es wurde auf Bedürfnisse reagiert, in der eigenwilligen Logik eines Computers (die willkürlich erscheinende Zahl 256 kann mit genau 8 Bytes Speichergröße dargestellt werden, was ein wichtiger digitaler Standard ist – Lawrence Busch (2013, S. 65) schreibt nicht ohne Grund, dass die IT-Industrie „obsessed with standards“ ist). Drittes Schlaglicht: Es gibt um WhatsApp eine stetige Kontroverse, die sich auf die ominösen „blauen Haken“ im Chatverlauf bezieht. Diese zeigen an, ob das jeweilige Gegenüber die Nachricht bereits gelesen hat, die man ihr oder ihm geschickt hat. Dadurch entsteht eine Art Verbindlichkeit beziehungsweise ein Druck, schnell zu antworten, wenn eine Nachricht einmal geöffnet wurde. Wie eine ran­domisierte Suchanfrage auf Google zeigt (Abb. 6), wird dies auch als Problem angesehen, weshalb die Möglichkeit besteht, die Haken auszustellen. Das kann aber zu weiterem Rechtfertigungsdruck führen. Man kann sich den Affordanzen der Häkchen offenbar nur schwer entziehen. Eine alternative Möglichkeit (erneut eine Art „Work­around“) besteht darin, die Nachricht nicht direkt zu öffnen, sondern sie sich in der Benachrichtigungsvorschau auf dem Startbildschirm des Smartphones anzeigen zu lassen. Dieser Trick hat aber seine Grenzen (wenn etwa mehr als eine Nachricht gesendet wurde).

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Abbildung 6  Der „blaue Haken“ von WhatsApp. Eigener Screenshot von Google.de

Die drei Schlaglichter verweisen auf Praktiken, bei denen Konversationen innerhalb klar umrissener Räume im Mittelpunkt stehen (zwischen Einzelpersonen oder in Gruppen, wobei ein neues Update auch die private Kommunikation mit Einzelnen im Fenster eines Gruppenchats ermöglicht). Die Kommunikation ist durch einen Aufforderungscharakter und eine Verbindlichkeit zu antworten gekennzeichnet. Gleichzeitig unterliegt diese Verbindlichkeit permanenten Aushandlungen: es geht darum, ‚private Räume‘ zu schützen (erstes Schlaglicht), die Ausdehnung dieser Räume zu verhandeln (zweites Schlaglicht) oder kreativ mit den sozialen Verbindlichkeiten umzugehen (drittes Schlaglicht). Die drei Bei­spiele zeigen, dass

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die Erwartung an die Plattform hoch sind. Aktuelle Studien deuten darauf, dass WhatsApp im Vergleich mit anderen Plattformen (wie Twitter oder Facebook) auch deshalb wertgeschätzt wird, weil in relativ ähnlichem Ausmaß intensive positive wie auch negative Emotionen geäußert werden (Waterloo et al. 2017). Vielleicht könnte man also sagen, dass die Kommunikation bei WhatsApp als ehrlicher oder zumindest authentischer wahrgenommen wird, als auf anderen Plattformen. Ist das eventuell auch ein entscheidender Unterschied zur Nutzung von Pinterest – nicht zuletzt weil dort Werbung geschaltet wird ?4 Die Frage, wie der Grenzraum gestaltet ist (c), lässt sich schließlich beispielhaft anhand der sogenannten „AfD-Leaks“ verdeutlichen. Im Sommer 2017 wurden Inhalte einer Alternative für Deutschland-WhatsApp-Gruppe auf der linken Internetseite Indymedia Linksunten veröffentlicht (die nunmehr öffentlichkeitswirksam verboten wurde). Aufgrund der rechtsradikalen und fremdenfeindli­chen Inhalte sorgte diese Veröffentlichung für einen Skandal (zu lesen war etwa über den Landesvorsitzenden der AfD in Sachsen-Anhalt, André Poggenburg, dass er „Deutschland den Deutschen !“ wünschte, wofür er sich rechtfertigen musste). Ähnlich wie bei der Frage der Verschlüsselung von Nachrichten scheint hier eine Kommunikation als privat oder halböffentlich gerahmt geworden zu sein. Wie bei Skandalen üblich, entstand die öffentliche Reaktion, weil Informationen von der „Hinterbühne“ auf die „Vorderbühne“ gelangten (Neckel 1993, S. 150 ff. sowie Goffman 2010). Diese kurzen Ausführungen machen deutlich, dass die Kontaktzone auf WhatsApp im Gegensatz zu Pinterest einen eher gemeinschaftlichen und geschlossenen Charakter haben, aber gerade dieser wird permanent ausgehandelt, verschoben und umgangen. WhatsApp ist nunmehr stark verbreitet, über alle Generationen hinweg wird es benutzt – daher das große Interesse an teils sehr spezifischen Funktionen. In einigen Lebenssituationen (Jahrestreffen, Familienkommunikation, …) besteht ein Legitima­tionsdruck, wenn jemand kein WhatsApp

4 Aktuell wird anscheinend geplant, auch bei WhatsApp Werbung einzuführen (Kühl 2018). Die hinterlegten Telefonnummern der jeweiligen Nutzer_innen dienen dann als Hinweis auf Profile, über die Facebook oder auch Werbepartner weitere Informationen haben, um dann gezielt Anzeigen zu schalten. Wie genau sich die Plattform dadurch verändern würde, ist hingegen noch offen (auch von der Gestaltung her). Mit Blick etwa auf die „BroadcastFunktion“ ist aber offensichtlich, dass mehr Öffnung für Unternehmen ein zentrales Ziel ist. In manchen Ländern ist man da schon weiter – in Indien wird etwa im Kontext von „WhatsApp Business“ „WhatsApp Payments“ getestet, wobei die Plattform als Intermediär für Bezahlungen bei externen Dienstleistungen auftritt. Ähnlich wie bei Pinterest deutet sich damit eine Monetarisierung und rapide Erweiterung der Reichweite der Plattform an. Diese Entwicklung könnte im Fall von WhatsApp der Konkurrenz helfen (wie dem „Signal Messanger“), die nicht auf Kapitalflüsse angewiesen ist.

Für eine reflexive Vergleichspraxis in der Bewertungssoziologie 37

nutzt, also nicht erreichbar ist. Wie schon bei den Mobil­telefonen geht das neue Versprechen mobiler Freiheit (Weber 2008) auch mit neuen Zwängen einher.5

4

Fazit

Wenn Michèle Lamont (2012) für eine „comparative Sociology of Valuation and Evaluation“ plädiert, scheint es uns angebracht, diesen Appell um eine stärkere Theoretisierung und Reflexion von Vergleichspraktiken zu erweitern. Etwas zugespitzt gesagt, haben bewertungssoziologische Studien den Vergleich bisher eher als etwas Selbstverständliches gehandhabt. Im Kontrast dazu schlagen wir einerseits vor, bewusster zwischen „präkonstruierten“ und „explorativen“ Vergleichen zu unterscheiden – zwei in der Sozialwissenschaft oft verwendete Vergleichspraktiken, die unterschiedliche Auswirkungen haben –, wobei wir andererseits als wichtige dritte Form des Vergleichs die Reflexion eines „comparators“ im Sinne von Deville et al. (2016b) diskutiert haben. Wir haben uns dann auch vor allem dieser Vergleichspraktik gewidmet. Der Begriff des „comparators“ macht dabei deutlich, dass Vergleiche von soziotechnischen Assemblagen hervorgebracht werden, die eine Geschichte haben und sich ändern. Wir schreiben hier bewusst nicht ändern können, denn kein Vergleich tritt magisch auf die Bühne und behält von Anfang bis Ende dieselbe Form. Dadurch, dass Forschende ihre eigenen Vergleiche – ihre „comparators“ – kritisch beleuchten, so unser Argument, steigern sie die Intersubjektivität ihrer Aussagen und erhöhen außerdem die Wahrscheinlichkeit, innovative Beobachtungen zu machen. Der Kern unseres „comparators“ war eine Untersuchungsheuristik, die wir auf zwei Fälle übertragen haben. Tabelle 1 fasst den Vergleich zusammen, den wir im Anschluss an Susan Leigh Stars Grenzbegriff (Star 2017) unternommen haben. Im vorliegenden Essay haben wir einen Vergleich der digitalen Plattformen Pinter­est und WhatsApp durchgeführt. Die Analyse deutet einerseits darauf hin, dass die Plattformen aus völlig unterschiedlichen Gründen geschätzt werden – trotz, oder gerade wegen einiger ambivalenter Funktionen, Anforderungen und Konsequenzen. Andererseits gibt es auch für digitale Plattformen im Allgemeinen 5

WhatsApp hat im Anschluss an die neuen Richtlinien der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) das Mindestalter für Nutzer_innen in Europa auf 16 Jahre erhöht. Das könnte diese Mobilität einschränken, wobei die Plattform das Alter bisher nicht genauer prüft und Falschangaben keine Konsequenzen haben. Dadurch kann die Anfrage auch leicht umgangen werden (ansonsten könnten Eltern eine Einwilligung geben, was für viele Sinn ergeben könnte). Das Mindestalter bei Pinterest liegt übrigens bei 13 Jahren (was sich ebenfalls leicht „bestätigen“ lässt). Laut DSGVO soll das Mindestalter zwischen 13 und 16 liegen, was in den Mitgliedsstaaten unterschiedlich umgesetzt wird.

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Jonathan Kropf und Stefan Laser

Tabelle 1  Pinterest und WhatsApp im Vergleich. Eigene Darstellung Pinterest

WhatsApp

Grenzobjekte

Ein Log-In-Fenster schließt aus und fordert zum Anmelden auf; ein Grid im Hintergrund strukturiert Inhalte; verschiedene Bewertungsfeatures motivieren zu partizipieren (von Kommentaren bis hin zu einer AI)

Interpersoneller Chat (zwischen Einzelpersonen oder in Gruppen); Broadcast-Funktion; Nutzen von multimedialen Inhalten, Emoticons, etc.

Grenzpraktiken

Die Plattform wird als Infrastruktur zum Bau von Repositorien genutzt; Nutzer_in­ nen entwickeln einen kuratorischen Blick; Nutzer_innen teilen ihre kategorisierten Inhalte öffentlich oder in privaten Gruppen

Private, verschlüsselte, authentische Kommunikation wird erwartet, aber teils kontrovers ausgehandelt, wenn es zu Pannen kommt („AfD-Leaks“); Workarounds werden von vielen verwendet (siehe „Blauer Haken“)

Gestaltung des Grenzraums

Flexibel und gemischt; Zusammentreffen von Laien, Amateuren und professionellen Akteuren/dritten Plattformen

Gemeinschaftlich und geschlossen; private Unterhaltungen, zunehmend aber auch professionelle Direktkommunikation; Legitimationsdruck bei Nichtnutzen

charakteristische Gemeinsamkeiten, etwa die Unsicherheit bezüglich des Umgangs mit Daten betreffend (vgl. Englert et al. und Pittroff in diesem Band) oder bestimmte Monetarisierungstendenzen durch personalisierte Werbung. Dabei haben wir die Reflexion unseres Vergleichs derart unternommen, dass wir autoethnographisch auf die wechsel­volle und teils überraschende Geschichte unseres „comparators“ eingegangen sind. Wir haben so einige fast vergessene Ereignisse aufgreifen können, außerdem haben wir auf einige Unsicherheiten und die Instabilitäten der Untersuchung aufmerksam gemacht, die im Laufe des Forschungsprozess aufgetreten sind. Unserer Ansicht nach hat dieses Vorgehen einige Vorteile gegenüber der sonst üblichen Praxis mit Vergleichen innerhalb der Bewertungssoziologie umzugehen: Unser Vergleich ist nicht statisch gedacht, vielmehr sind sowohl die Vergleichsobjekte als auch die Maßstäbe des Vergleichs wandelbar bzw. prozessual konzipiert. Damit zeigt unsere Perspektive, dass man beim Vergleichen nicht stabile Dinge anschaut, die vollkommen unabhängig vom Forschungsprozess sind. Vielmehr verweist der Begriff des „comparators“ nicht nur auf den Beitrag der Forschenden an der Zusammenstellung eines Vergleichs sowie die Änderung oder Kanalisierung von Forschungsperspektiven im Prozess des Vergleichens, sondern auch auf die Wandelbarkeit der verglichenen Instanzen selbst, die sich nicht zuletzt auch aufdrängen. Die Offenlegung der Vergleichspraxis, also des konkreten Zustandekommens eines Vergleichs – so die Hoffnung – erhöht die intersubjektive Nachvollziehbarkeit und damit Objektivität von Vergleichen. Am

Für eine reflexive Vergleichspraxis in der Bewertungssoziologie 39

Ende dieses Artikels bleibt es aber auch den Leser_innen überlassen, zu beurteilen, ob die Offenlegung unserer Geschichte hilft, die ansonsten in der Tabelle verborgenen Entscheidungen gewinnbringend zu nutzen.

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Jonathan Kropf und Stefan Laser

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Digitale Bewertungskultur im Tourismus 2.0 Grenzüberschreitung und Normalisierungsdruck Thomas Frisch

Zusammenfassung  

Bewertungselemente haben sich zu einem festen Bestandteil der Architektur von Webseiten und Plattformen entwickelt. Sie begegnen uns bei der Nutzung von Online-Marktplätzen, Bewertungsportalen, sozialen Medien, Sharing Economy-Anbietern, Streaming-Diensten oder mobilen Apps. Aufgrund ihrer medialen Einbettung ist es für Analysen digitaler Bewertungspraktiken notwendig, diese im komplexen Zusammenwirken mit den jeweiligen techni­ schen Infrastrukturen zu begreifen. Anhand des Online-Community-Marktplatzes Airbnb untersucht der vorliegende Text Bewerten als ein Beispiel für die „kleinen digitalen Datenpraktiken des Alltags“ (Süssenguth 2015, S. 7). Es werden implizite, aber wirkmächtige Normen identifiziert, die sich an drei Bewertungsimperativen festmachen lassen und die Interaktionen der Nut­ zerInnen in hohem Maße strukturieren. Damit begegnet der Text den Anforderungen an eine Digital Sociology (Lupton 2014) und leistet einen Beitrag zur Bedeutung von Medien und Technologien für die Soziologie des Wertens und Bewertens (Lamont 2012). Schlagwörter  

Digital Sociology; Soziologie der Bewertung; Tourismus; Airbnb; Online-Bewertungen; Infrastruktur; community of practice; Bewertungskultur; Grenze; Normalisierung

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Kropf und S. Laser (Hrsg.), Digitale Bewertungspraktiken, Soziologie des Wertens und Bewertens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21165-3_3

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Thomas Frisch

Einleitung

Bewerten ist zu einer allgegenwärtigen Praktik für alle geworden, die sich in irgendeiner Form durch das Internet bewegen oder digitale Geräte bedienen. Während das Internet der Dinge (Weiser 1991) langsam immer mehr Bereiche des Lebens erobert, haben sich Bewertungselemente zu einem festen Bestandteil der Architektur von Webseiten und Plattformen entwickelt. Sie begegnen uns bei der Nutzung von Online-Marktplätzen, Bewertungsportalen, sozialen Medien, Sharing Economy-Anbietern, Streaming-Diensten oder mobilen Apps.1 Die dafür genutzten Interfaces stellen jeweils die für die Beurteilung eingesetzten Instrumente und Techniken zur Verfügung. Darunter fallen mehrstufige Skalen, ein individuell formulierbarer Text, verschiedene Ausformungen von social buttons (Gerlitz und Helmond 2013), das Erstellen von Listen und Rankings oder eine einfache Wischbewegung mit dem Finger. Mithilfe dieser in der Regel standardisierten Bewertungsapparate kann nahezu alles und jede/r einer Bewertung unterzogen sowie qualitative Unterschiede in rein quantitative Verhältnisse umgewandelt werden: Bücher und VerkäuferInnen, Restaurants und Elektrofachgeschäfte, Facebook-Beiträge und Nachrichtenartikel, Arbeitgeber und Ärzte, Prostituierte und TaxifahrerInnen, ProfessorInnen und potenzielle Dating-PartnerInnen. Diese täglich vielfach stattfindenden Bewertungspraktiken werden im Kontext spezifischer Kulturen des Bewertens vollzogen, die von einer ganzen Reihe von Faktoren beeinflusst werden – zum Beispiel von dem bewerteten Objekt oder beteiligten Akteuren und ihren jeweiligen Motiven. Aufgrund ihrer medialen Einbettung ist es für Analysen digitaler Bewertungspraktiken notwendig, diese im komplexen Zusammenwirken mit den jeweiligen technischen Infrastrukturen zu begreifen. Das bedeutet die spezifischen Bewertungsinstrumente, unter Berücksichtigung ihrer Einbindung in die Webseiten-Architektur sowie das Design ihrer Interfaces, stets in Beziehung zu der konkreten Anwendung der UserInnen zu setzen. Der vorliegende Text untersucht Bewerten als ein Beispiel für die „kleinen digitalen Datenpraktiken des Alltags“ (Süssenguth 2015, S. 7). Damit begegnet er den Anforderungen an eine Digital Sociology (Lupton 2014) und trägt zum Verständnis von Medien und Technologie für die Soziologie des Wertens und Bewertens (Lamont 2012) bei. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht die digitale Bewertungskultur im Tourismus 2.02, die am Beispiel des Online-Community-Marktplatzes Airbnb 1 2

Beispiele sind: Amazon, Ebay, Yelp, TripAdvisor, Facebook, Instagram, Airbnb, Uber, Spotify, Netflix, Tinder. Als Teilprojekt der DFG-geförderten Forschergruppe „Mediale Teilhabe. Partizipation zwischen Anspruch und Inanspruchnahme“ widmet sich „Tourismus 2.0 – Zwischen medialer

Digitale Bewertungskultur im Tourismus 2.0 43

illus­triert wird. Digitale Bewertungskulturen bilden sich in communities of practice (Lave und Wenger 1991; Star und Ruhleder 1996) heraus und sind – wie andere Formen sozialer Gruppierungen – durch bestimmte Routinen, Regeln und Normen gekennzeichnet. Im Falle von Airbnb wurde bereits auf die überdurchschnittlich hohe Anzahl von positiven Bewertungen (Zervas et al. 2015), die vorsichtige Äußerung von Kritik (Bridges und Vásquez 2016) und die enorme Macht negativer Bewertungen hingewiesen (Frisch und Stoltenberg 2018). Im Anschluss an diese Befunde zur dominanten Bewertungskultur bei Airbnb beschäftigt sich der Beitrag damit, wie UserInnen mit dem damit verbundenen Normierungsdruck umgehen. Um ein besseres Verständnis dieser Dynamiken zu erlangen, rücken jene Momente und Praktiken in den Fokus der Betrachtung, die von der Norm abweichen, das heißt Grenzfälle, bei denen (ungeschriebene) Regeln gebrochen werden. In diesem Sinne fungiert die Grenze als Heuristik, die es ermöglicht, implizite Normen zu identifizieren, die häufig unreflektiert akzeptiert werden. Der Text ist wie folgt aufgebaut: Zunächst werden auf Basis eines kurzen Forschungsüberblicks einige Grundprämissen der Soziologie des Wertens und Bewertens herausgearbeitet. Anschließend wird erläutert, warum der Infrastruktur-Begriff für das Verständnis von Online-Bewertungen von Bedeutung ist und welche Schlussfolgerungen daraus für die Erforschung digitaler Bewertungskultu­ren zu ziehen sind. Danach folgen einige Überlegungen zur Verwendung des Begriffs der Grenze und Grenzüberschreitung als Heuristik, die für die Auseinandersetzung mit den Grenzen der Bewertungskultur im Tourismus 2.0 von Bedeutung sind. Schließlich wird das konkrete Fallbeispiel (Airbnb) vorgestellt und anhand von drei Fällen analysiert, in denen sonst übliche Regeln gebrochen werden. Abschließend werden die zentralen Normen der plattformspezifischen Bewertungskultur bei Airbnb präsentiert, die sich an drei Bewertungsimperativen festmachen lassen.

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Bewertungspraktiken und digitale Medien

Die Evaluation einer Situation, eines Produkts, einer Handlung ist in ihrem Kern stets ein fester Bestandteil von sozialen Interaktionen und individuellem Verhalten (Lamont 2012). Die Auseinandersetzung mit dem Wertbegriff findet sich entsprechend auch bei vielen klassischen soziologischen Theoretikern. Marx oder Simmel beschäftigten sich beispielsweise eingehend mit der Besonderheit des ökoVermittlung und digitaler Entnetzung“ dem Einfluss digitaler Medien auf den klassischen Tourismus. Im Fokus des Teilprojekts an der Universität Hamburg stehen touristische Online-Plattformen, wie Couchsurfing oder Airbnb, über die Menschen ihre Wohnung für Reisende zur Verfügung stellen können.

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Thomas Frisch

nomischen Werts in Form des Geldes sowie seiner Entstehung und Bedeutung für eine kapitalistische Gesellschaftsordnung (Marx 1858; Simmel 1900). Werte, im Plural, wurden außerdem als Handlungsorientierungen begriffen. Sie finden sich, um nur zwei Beispiele zu nennen, bei Max Weber im Idealtypus des wertrationalen Handelns und nehmen auch im Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons eine zentrale Rolle ein (Weber 1984/1921; Parsons 1968). In Verbindung mit Normen zählen Werte zu den Grundbegriffen vieler soziologischer Einführungsveranstaltungen. Dennoch ist die Auffassung, dass es sich beim Werten und Bewerten um besondere und sozial hoch wirkmächtige Praktiken handelt, noch relativ jung (Kjellberg et al. 2013; Lamont 2012; Cefaï et al. 2015; Diaz-Bone bzw. die Einleitung von Laser und Kropf in diesem Band). Erst seit dem programmatisch betitelten Aufsatz Michèle Lamonts (Toward a comparative sociology of valua­tion and evaluation) aus dem Jahr 2012 formiert sich langsam ein eigener Forschungsstrang. Auch wenn es sich noch um ein äußerst heterogenes Feld handelt, haben sich einige Grundprämissen als charakteristisch herausgestellt: (1) Werten und Bewerten sind allgegenwärtige und gleichzeitig spezifische Praktiken, die näher untersucht werden müssen (Dewey 2004; Vatin 2013; Lamont 2012). (2) Es handelt sich dabei um durchaus komplexe Prozesse, für die unter anderem Praktiken des Messens (Espeland und Sauder 2007), Vergleichens (Espeland und Stevens 1998; Heintz 2010), Kategorisierens beziehungsweise Klassifizierens (Bowker und Star 1999; Neckel 2003) und Standardisierens (Busch 2013; Star und Lampland 2008, Timmermans und Epstein 2010) von besonderer Bedeutung sind. (3) Bewertungsprozesse können einerseits formalisiert, durchgeplant und langfristig organisiert sein (Hirschauer 2015), andererseits informell, spielerisch und momenthaft ablaufen (Berthoin Antal et al. 2015). (4) Menschen berufen sich in der Bewältigung dieser Situationen auf urteilsbildende Instanzen (Karpik 2011) und wenden bestimmte Rechtfertigungsordnungen (Boltanski und Thévenot 2007), orders of worth (Stark 2009) oder Register (Heuts und Mol 2013) für die Legitimation ihrer Entscheidungen an. In den letzten Jahren hat sich darauf aufbauend eine produktive Diskussion entwickelt, die Werten und Bewerten in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen untersucht. In vielen Arbeiten werden Technologien und Medien zwar als Motor dieser gestiegenen Relevanz angesehen, selbst aber noch kaum im Detail analysiert. Digitale Bewertungspraktiken bleiben folglich noch weitestgehend unerforscht. Einige AutorInnen haben allerdings in Bezug auf mediale Bewertungspraktiken darauf hingewiesen, dass sich spezifische Bewertungskulturen und -normen herausbilden und konsolidieren, je nachdem was und wie bewertet wird (Gerlitz und Helmond 2013; Bridges und Vásquez 2016; Otterbacher 2013). Ge­rade die Bewertungsplattformen TripAdvisor und Yelp sind gern gewählte Fallbeispiele

Digitale Bewertungskultur im Tourismus 2.0 45

und wurden bereits in Bezug auf ihre UserInnen-Motivationen (Yoo und Gretzel 2008; Hicks et al. 2012), die Vertrauenswürdigkeit der Inhalte (Jeacle und Carter 2011, Luca und Zervas 2016), ihre (soziomateriellen) Auswirkungen auf die bewerteten Hotels und Restaurants (Scott und Orlikowski 2012; Luca 2016) oder ihre Performativität als valuing device in der Bildung von Reputation (Baka 2015) erforscht. All diese Arbeiten sind davon angetrieben, herauszufinden, was sich mit der steigenden Digitalisierung und Verdatung von immer mehr Lebensbereichen verändert. Die Frage nach der Besonderheit beziehungsweise der Neuartigkeit des Digitalen bleibt aber umstritten und widersprüchlich (Stalder 2016). Dieser Beitrag schließt zunächst an diesen Befund an und geht davon aus, dass es mit der zunehmenden Digitalisierung des Sozialen zu einer Intensivierung und Erweiterung von Bewertungspraktiken kommt, die vermehrt in der Nutzung von Online-Diensten und Plattformen zur Geltung kommen. Im Fokus der Analyse stehen die spezifischen Kulturen des Bewertens, die durch bestimmte soziotechnische Arrangements hervorgebracht werden und gekennzeichnet sind. OnlinePlattformen, ihre einzelnen Komponenten und Algorithmen3 werden als me­ diale Aktanten (Schüttpelz 2013) begriffen, welche die Handlungsmöglichkeiten der UserInnen strukturieren und durch sie strukturiert werden. Ihre Bewertungsinstrumente und die Bewertungspraktiken der NutzerInnen werden folglich als sich wechselseitig beeinflussende Elemente einer plattformspezifischen Bewertungskultur4 verstanden, da die Bewertungsinstrumente bestimmte Praktiken5 fördern und etablieren, diese Praktiken aber wiederum auf die ständige Anpassung und Veränderung der Bewertungsinstrumente rückwirken.

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Die „social power of algorithms“ (Beer 2017) hat sich in beinahe alle gesellschaftlichen Bereiche eingeschrieben und bestimmt, häufig unreflektiert, viele Alltagshandlungen. Über die Auswirkungen der Handlungsmacht von Algorithmen in Zeiten von Big Data wird auch unter dem Schlagwort der algorithmischen Kultur (Striphas 2015) debattiert. Ein prominentes Beispiel dafür ist US-amerikanische Wahlkampf im Jahr 2016. 4 Kultur wird in der Folge als „handlungsleitend und gesellschaftsformend“ (Stalder 2016, S. 16) für das betrachtete Fallbeispiel verstanden. 5 Reckwitz (2003, S. 289) begreift eine Praktik als „ein typisiertes, routinisiertes und sozial ‚verstehbares‘ Bündel von Aktivitäten“. Praktiken sind außerdem „know-how abhängige und von einem praktischen ‚Verstehen‘ zusammengehaltene Verhaltensroutinen, deren Wissen einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte ‚inkorporiert‘ ist, die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen ‚verwendeten‘ materialen Artefakten annehmen“.

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Thomas Frisch

Bewerten und Infrastrukturen

Wie bereits erwähnt werden Technologien und Medien in der Soziologie des Wertens und Bewertens zwar als Motor der Bewertungszunahme angesehen, selbst aber kaum im Detail analysiert. Eine Möglichkeit, diesem Defizit beizukommen, ist, den Infrastruktur-Begriff für die Auseinandersetzung mit medial eingebetteten Bewertungspraktiken nutzbar zu machen.6 Der Begriff ist einerseits theoretisch anschlussfähig und eignet sich andererseits besonders gut, um die sozialen und technischen Aspekte zusammenzubringen, durch die digitale Bewertungssituationen und ihre soziotechnischen Arrangements gekennzeichnet sind.7 Bereits in den späten 1980er Jahren erfuhr der Infrastruktur-Begriff verstärkte Aufmerksamkeit, hauptsächlich beeinflusst von der Forschung zu „Large Technological Systems“ (LTS). Sie wird vor allem mit den Arbeiten von Thomas P. Hughes, Wiebe Eco Bijker und Renate Mayntz (u. a. Bijker et al. 1987; Mayntz und Hughes 1988) in Verbindung gebracht, die aus historischer und soziologischer Perspektive die Entstehungsgeschichte und die Etablierung großer neuer Infrastruktursysteme – wie zum Beispiel Stromversorgung, Telefonnetze oder Luftfahrtkontrolle – in den Blick nahmen (Plantin et al. 2016). In Auseinandersetzung mit den LTS sowie der Akteur-Netzwerk-Theorie entwickelte sich knapp zehn Jahre später ein zweiter, bis heute sehr einflussreicher Strang der Infrastrukturforschung (infrastructure studies), der maßgeblich von Susan Leigh Star und Geoffrey C. Bowker geprägt wurde. Dieser Ansatz interessiert sich besonders für die Interaktionen zwischen Menschen und Technologien in Arbeits- und Alltagssituationen, aber unter anderem auch für die strukturellen Ausschlussprozesse, die Technologien produzieren und bestimmte Gruppen betreffen (Bowker und Star 2000). Viele Arbeiten, die in den letzten Jahren zu den infrastructure studies beitrugen, stellen zwei Aspekte in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Zum einen gab und gibt es eine rege Diskussion über die Frage nach der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Infrastrukturen (u. a. Graham 2010; Pinch 2010; Larkin 2013). Zum anderen geraten die verschiedenen Materialitäten von medialen und digitalen Infrastrukturen verstärkt in den Fokus (Parks und Starosielski 2015; Easterling 2014), häufig auch in Verbindung mit ihren sensorischen und geopolitischen Fähigkeiten 6 Eine kürzlich erschienene Sonderausgabe des Berliner Journals für Soziologie widmete sich der Soziologie der Bewertung. Dabei wurde in einem Beitrag das Modell der Bewertungskonstellationen vorgestellt, das neue Forschungsperspektiven eröffnen soll. Das darin vorgestellte Modell ist theoretisch offen gehalten und hat drei Komponenten: (i) Positionen und Relation mit eigenen Strukturmerkmalen, (ii) transituative Regeln und (iii) materielle und technologische Infrastrukturen. (Meier et al. 2016) 7 Das bedeutet auch, Design und Anwendung von Technologien integrativ zu denken (siehe dazu auch Pipek und Wulf 2009).

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(Gabrys 2016; Bratton 2016) oder den affektiven Zuschreibungen, die Menschen mit ihnen verknüpfen (Amin 2014). Für die Analyse digitaler Bewertungspraktiken lohnt es sich aber, einen Schritt zurück zu gehen und zu fragen, was Infrastrukturen überhaupt sind. Nach Susan Leigh Star und Karen Ruhleder (1996, S. 113) werden Systeme zu Infrastrukturen, wenn sie sieben Eigenschaften erfüllen.8 Auf Basis dieser viel zitierten Definition hat sich ein „praxistheoretischer Begriff der Infrastruktur etabliert, der vorrangig auf organisationale Zusammenhänge abzielt“ (Schüttpelz 2015, S. 27), es aber auch ermöglicht, Online-Bewertungen als Infrastrukturen zu verstehen. Denn sie sind (1) jeweils eingebettet in bestehende soziale und technische Strukturen, wie zum Beispiel eine UserInnen-Community oder andere Tools innerhalb der WebsiteArchitektur. Sie können (2) als weitestgehend transparent und unsichtbar begriffen werden, insofern ihre Funktion zwar relativ klar ist und UserInnen sie bewusst anwenden, die dahinterliegenden Prozesse aber meist im Verborgenen operieren. Bewertungen haben (3) im Prinzip kaum räumliche und zeitliche Einschränkungen, was ihre Reichweite angeht. Bewertungspraktiken werden (4) innerhalb eines Kollektivs, so lose es auch immer sein mag, vollzogen, denn meist ist eine Registrierung notwendig, wodurch der/die Einzelne Mitglied einer geschlossenen Gruppe wird. Als Teil dieser Community sind die UserInnen (5) auch zwangsläufig ihren Konventionen und Routinen unterworfen. Sei es durch die festgelegten Rahmenbedingungen, innerhalb derer eine Bewertung abgeben werden kann, oder durch eine bestimmte Art und Weise Bewertungstexte zu formulieren, weil sich mit der Zeit Standards etabliert haben. Das jeweilige Bewertungssystem ist (6) wiederum nicht vom Himmel gefallen, sondern baut auf bekannten und erprobten Strukturen in anderen Kontexten auf, wie zum Beispiel der Kombination aus numerischer Skalen-Bewertung und individueller Freitext-Bewertung. Schließlich wird es (7) in seiner Form und Funktionsweise ständig angepasst und verändert  –  etwa durch das Hinzufügen von Elementen oder Bewertungsanreizen – und in Beziehungen zu anderen Komponenten und Aktanten gesetzt (z. B. zur übergeordnete Plattform). Für die Auseinandersetzung mit der Bewertungskultur von Airbnb und ihren Grenzen sind vor allem Punkt 4 und 5 von Bedeutung. Dieser Beitrag begreift UserInnen der Plattform als Teil einer Community of practice (Lave und Wenger 1991; Star und Ruhleder 1996), in der das gegenseitige Bewerten eine zentrale Stellung einnimmt. Im Zusammenspiel zwischen Bewertungsinstrumenten und den Praktiken der NutzerInnen werden auch spezifische 8

Die Autorinnen nennen folgende sieben Dimensionen: Embeddedness, transparency, reach or scope, learned as part of membership, links with conventions of practice, embodiment of standards, built on an installed base, becomes visible upon breakdown (Star und Ruhleder 1996, S. 113).

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Regeln, Konventionen und Standards herausgebildet, die mit Normalisierungsdynamiken verbunden sind. So dominiert bei dem gewählten Fallbeispiel, Airbnb, eine affirmative und überschwängliche Bewertungskultur, in der die Vergabe von 5 Sternen dem Normalfall entspricht (Zervas et al. 2015) und Kritik sehr vorsichtig und zwischen den Zeilen geäußert wird (Bridges und Vásquez 2016). Als Kehr­ seite dieses Befundes haben negative Bewertungen, als Ausnahmeerscheinung, eine enorme Macht (Frisch und Stoltenberg 2018). Um ein besseres Verständnis dieser Dynamiken zu erlangen, ist es notwendig jene Momente genauer zu untersuchen, die von der Norm abweichen. Das bedeutet, Praktiken zu analysieren, die sich an den Grenzen der dominanten Bewertungskultur befinden oder bei denen gar ein Überschreiten dieser Grenzen stattfindet.

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Grenzen und Grenzüberschreitung

Grenzen werden ausverhandelt und gezogen, aber auch in Frage gestellt, ausge­ reizt und überschritten, verletzt und verteidigt, verschoben und überwunden; sie können aber auch verschwimmen, bröckeln oder sich auflösen. Es wird von natürlichen, symbolischen, sozialen oder territorialen Grenzen gesprochen und auf die Grenzen des Erlaubten, Möglichen, Wahrnehmbaren oder gar des guten Geschmacks verwiesen. Am alltagssprachlichen Gebrauch wird bereits deutlich, wie vielfältig sich die Zugänge zum Grenzbegriff gestalten können.9 Ähnliches lässt sich auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften oder der Philosophie beobachten, wo die Grenze als Metapher vielfach Verwendung findet.10 Grundsätzlich gilt es, die Grenze als eine komplexe philosophische Metapher anzuerkennen (Zill 2007, S. 135), die eine räumliche und zeitliche Komponente hat Als Lehnwort des polnischen granica wurde die „Grentze“ in der Reformation von Luther im deutschen Wortschatz verankert und in erster Linie genutzt, um Eigentum räumlich (z. B. mit Grenzsteinen) zu kennzeichnen (Zill 2007, S. 135). Bis heute bildet die Grenze einen Sammelbegriff für Bedeutungen, die in anderen Sprachen mehrere Ausprägungen haben (Medick 2016). So wird im Englischen beispielsweise zwischen border, boundary, frontier oder limit unterschieden, die jeweils mit spezifischen Assoziationsketten versehen sind (Zill 2007, S. 135). Im Französischen werden wiederum hauptsächlich frontière und limite voneinander abgegrenzt (Febvre 1988). 10 Die Komplexität der Metapher sieht Rüdiger Zill (2007, S. 135) darin begründet, dass sie sowohl lebensweltliche als auch philosophische Bezüge haben kann. Ihre Verwendung lässt sich bis in die griechische Antike zurückverfolgen (Zill 2007, S. 137) Liegt eine philosophische Metapher der Grenze vor, so ist sie abhängig von der kulturgeschichtlich sich entwickelnden Bedeutung von „Grenze“, dem Grad der Metaphorisierung (alltagssprachlich oder philosophisch) sowie den nationalsprachlich unterschiedlich ausdifferenzierten Assoziationssystemen (Zill 2007, S. 135). 9

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und das Überschreiten einer solchen immer mitdenkt.11 In der deutschsprachigen Soziologie hat Georg Simmel bereits Anfang des 20. Jahrhunderts auf den sozialkonstruktivistischen Charakter der Grenze hingewiesen: „Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“ (Simmel 1908/2016, S. 17). An einer anderen Stelle vergleicht er die Bedeutung der Grenze für eine soziale Gruppe mit jener des Rahmens für ein Kunstwerk und betont ihre doppelte Qualität: den inneren Zusammenhalt und die Abgrenzung nach außen (Simmel 1908/1992, S. 694). An dieser doppelten Qualität offenbart sich die ordnungs- und orientierungsstiftende Funktion, die jede Grenzziehung in sich birgt. Für die sozialwissenschaftliche Analyse bedeutet das, sich mit Fragen zur Herstellung von Identität und Zugehörigkeit (zu Gruppen), Normen und Normalität, aber auch zur Kontrolle beziehungsweise Toleranz von Grenzüberschreitungen zu beschäftigen. Besonders in den Postcolonial, Cultural und Gender Studies erfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit der Grenze als einen trennenden, normativ negativ aufgeladenen Begriff, den es zu hinterfragen oder zu überwinden gilt (Reuter und Wieser 2006; Hall und du Gay 1996). Außerdem ist die Beschäftigung mit Grenzen, Rändern, dem Marginalen oder der Peripherie eines der klassischen Themen der soziologischen Ungleichheitsforschung (Wacquant 2008; Perlman 1979; Bourdieu 1997). Die hier angesprochenen Grenzen befinden sich beispielsweise zwischen Globalem Norden und Globalem Süden, Hoch- und Populärkultur, zwischen den Geschlechtern oder zwischen den Gruppen der Ein- und Ausgegrenzten. Sie sind nicht nur territorialer, sondern vor allem auch symbolischer, kultureller und sozialer Art und haben weitgehende machtpolitische Konsequenzen. Allerdings greift diese Perspektive zu kurz, denn Grenzen haben durchaus auch einen verbindenden Charakter (Anselm 1995). Bei Luhmann sind sie beispielsweise die Voraussetzung dafür, dass Systeme als solche überhaupt erkannt werden und in Beziehung zu anderen Systemen und ihrer Umwelt treten können (Eigmüller 2016, S. 60; Luhmann 1982, S. 236 f.). Eine ähnliche Her­angehensweise findet sich beim Konzept der boundary objects (Star und Griesemer 1989; Star 2010), das Ende der 1980er Jahre in den Science and Technology Studies (STS) entwickelt wurde. Darunter sind bestimmte Objekte12 zu verstehen, die eine Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Gruppen an einem gemeinsamen Projekt ermöglichen, ohne notwendigerweise auf Konsens zu beruhen. Hier wird die Grenze zu einem Ort, den Akteure miteinander teilen, an dem übliche Zuordnun11 Einen guten Überblick über die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Grenze abseits einer territorialen Lesart bieten Lamont und Molnár (2002). 12 Star und Griesemer (1989) nennen vier Beispiele: repositories, ideal types, coincident boundaries und standardized forms.

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gen umgeworfen werden und Handlungsmöglichkeiten entstehen: „Here, however, it [a boundary] is used to mean a shared space, where exactly that sense of here and there are confounded. These common objects form the boundaries between groups through flexibility and shared structure – they are the stuff of action.“ (Star 2010, S. 602 f.). Bei der Grenze handelt es sich, wie diese Ausführungen deutlich machen, um einen durchwegs ambivalenten und sehr stark normativ aufgeladenen Begriff, der immer auch die Grenzüberschreitung mitberücksichtigt. Für einige Theoretiker ist die Grenzüberschreitung sogar „eher als Normalität denn als Abweichung“ (Baltes-Löhr 2003, S. 89) zu begreifen und positiv zu deuten, weil sie subversives Potenzial in sich tragen (de Certeau 1988) oder Möglichkeitsräume eröffnen (Foucault 2001, S. 226). Neben den angesprochenen Funktionen können Grenzen auch unterschiedliche Qualitäten aufweisen, die von Bedeutung sind, wenn sie überschritten werden. Je nachdem, ob eine Grenze als hermetisch oder durchlässig, temporär oder dauerhaft, starr oder veränderbar definiert ist, unterscheidet sich auch die Kontrolle beziehungsweise Toleranz von Grenzüberschreitungen. Das gewählte Fallbeispiel Airbnb zeichnet sich durch eine stark ausgeprägte authority (Bialski 2016) der Plattform und massiven Kontrollbestrebungen in vielen Bereichen aus (Frisch und Stoltenberg 2017; Stoltenberg und Frisch 2017).13 Die Perspektive auf Grenzüberschreitungen als von der Norm abweichenden Praktiken ermöglicht es, diese Kontrollbestrebungen offenzulegen, den Umgang der UserInnen mit dem damit verbundenen Normierungsdruck zu untersuchen und zu beschreiben, wie dadurch die grundlegenden Normen der Bewertungskultur bestätigt und gestärkt werden. Ihre Grenzen sind durchlässig, temporär sowie veränderbar und werden ständig überschritten. Zum Teil wird das durch die Plattformarchitektur und ihre impliziten Logiken ermöglicht, gleichzeitig unternimmt das Unternehmen Maßnahmen, diese Grenzüberschreitungen unter ihre Kontrolle zu bringen.

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Airbnb: Bewertungen als Infrastruktur des Tourismus 2.0

Airbnb bezeichnet sich selbst als Community-Marktplatz für die Vermittlung von Übernachtungsmöglichkeiten bei Privatpersonen und zählt zu den populärsten 13 Diese Kontrollbestrebungen zeigen sich z. B. im Background-Check, der auf Basis der personenbezogenen Daten erfolgt, die UserInnen bei der Registrierung angeben müssen, bürokratischer Inspektionsverfahren von Interview-Anfragen, Vorstellungsgesprächen mit potenziellen MitarbeiterInnen oder auch im spezifischen Design des Review Systems.

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Akteuren der Sharing Economy (Airbnb 2017a). Seit der Gründung als Start-up 2008 im Silicon Valley ist sein Aufstieg medial intensiv begleitet und kritisch diskutiert worden (Kagermeier et al. 2016). NutzerInnen der Plattform haben die Möglichkeit, Airbnb sowohl in der Rolle des Gastes („Guest“) als auch in der des Gastgebers oder der Gastgeberin („Host“) zu verwenden. Die Buchung einer Unterkunft ist kostenpflichtig, Airbnb erhebt eine Provision, die von beiden Beteiligten gezahlt werden muss. Laut eigenen Angaben haben bis September 2017 bereits mehr als 200 Millionen Gäste diesen Dienst genutzt (Airbnb 2017a). Seit Ende 2016 werden außerdem sogenannte experiences, also diverse Aktivitäten und geführte Touren in ausgewählten Städten, über die Plattform angeboten (Airbnb 2016). Neben der regen Diskussion in Zeitungen, Blogs und anderen Medienformaten gibt es mittlerweile auch eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Publikationen, die sich mit Airbnb befassen. In diesen wird das Unternehmen häufig als ein Paradebeispiel der Sharing Economy angesehen (exemplarisch: Botsman und Rogers 2010), das mit seinem innovativen, auf disruptiven Technologien beruhenden Geschäftsmodell die Hotellerie und Übernachtungsbranche aufmischt (Guttentag 2013). Kritischere Beiträge bezeichnen das ökonomische In-Wert-Setzen des Teilens, wie es bei Airbnb der Fall ist, mitunter auch als „Pseudo-Sharing“ (Belk 2014). Darüber hinaus finden sich Arbeiten zum Problem der Regulierung (u. a. Quattrone et al. 2016), zur Konstruktion einer brand community durch die Airbnb-UserInnen (Yannopoulou et al. 2013), zu den Auswirkungen auf den städtischen Wohnungsmarkt (Sans/Domínguez 2016) oder zum Problem der rassistischen Diskriminierung (Edelman und Luca 2014).

5.1 Grundzüge des Airbnb-Review Systems Die Architektur des Bewertungssystems und das Design des Interfaces bilden den Rahmen, innerhalb dessen die Bewertungspraktiken vollzogen werden. Airbnb beeinflusst als Plattformbetreiber dadurch in hohem Maße das Bewertungsverhalten seiner UserInnen, beispielsweise durch das Erteilen und Einschränken von Nutzungsmöglichkeiten. Bevor die drei ausgewählten Fälle der Grenzüberschreitung im Detail analysiert werden, ist es notwendig, die Grundzüge des Airbnb-Review System kurz nachzuzeichnen.14 14 Der Beitrag analysiert Bewertungspraktiken, die in der Nutzung des Review Systems vollzogen werden. Allerdings gibt es auch abseits des Review Systems Praktiken und Techniken des Bewertens. Dazu zählt die Verwendung von Wishlists, mithilfe derer UserInnen Listen von Inseraten z. B. für die Planung zukünftiger Reisen zusammenstellen können. Auch der

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Bewertungen bei Airbnb sind reziprok ausgerichtet und kombinieren quantifizierte Skalen mit einer individuellen Textbewertung. Bestimmte Teile der einzelnen Reviews können öffentlich eingesehen werden, manche davon anonymisiert, manche mit den persönlichen UserInnen-Profilen versehen. Allerdings gibt es auch die Möglichkeit, Informationen vertraulich zwischen Gast und Gast­ geberIn beziehungsweise Airbnb auszutauschen.15 Die Abgabe einer Bewertung muss innerhalb einer Frist von 14 Tagen erfolgen, die mit Ablauf des letzten Buchungstages beginnt. Nach Ablauf dieser Frist werden die Reviews auf der jeweiligen Profilseite angezeigt beziehungsweise sobald beide Beteiligten der Bewertungsaufforderung nachgekommen sind. Eine Bearbeitung der eigenen verfassten Bewertung ist innerhalb von 48 Stunden möglich beziehungsweise bis zum Zeitpunkt, an dem der/die jeweils andere die Bewertung vervollständigt hat. Auf den persönlichen Profilseiten der UserInnen lassen sich die bisherigen Bewertungen einsehen und – bei Bedarf – innerhalb von weiteren 14 Tagen beantworten. Ein Löschen von verfassten und erhaltenen Bewertungen ist für die UserInnen nicht möglich. Diese Befugnis wird allein der Plattform erteilt, die sich das Recht vorbehält, „Inhalte nach eigenem Ermessen ganz oder teilweise zu entfernen, wenn sie gegen diese Richtlinien [zu Inhalten] oder die Nutzungsbedingungen von Airbnb verstoßen oder aus anderen Gründen entfernt werden müssen“ (Airbnb 2017b). Bei Stornierungen von Buchungen, die von GastgeberInnen ausgehen, werden automatisch standardisierte Bewertungen generiert. Diese informieren über die Stornierung und deren Zeitpunkt. Gäste, die Buchungen stornieren, erhalten keine automatisierte Bewertung und konnten bis August 2017 auch keine Bewertung verfassen.16 Das Bewertungssystem ist ein essentieller Bestandteil der Plattformarchitektur, das Bewerten einer Airbnb-Erfahrung nach der Abreise oft eine Selbstverständlichkeit für die UserInnen. Reviews sind von erheblicher Bedeutung für Airbnb. Sie schaffen Vertrauen zwischen Unbekannten und sind damit eine zentrale Voraussetzung dafür, dass diese online-vermittelten Begegnungen überhaupt zustande kommen. Sie begründen und festigen die individuelle Reputation innerhalb der Community. Ihr Inhalt kann darüber entscheiden, ob UserInnen in Zukunft wieder die Möglichkeit haben, die Plattform zu nutzen oder nicht. Aber sie fungieren nicht nur als Bedingung einer Begegnung zwischen Gast und Gast­geberIn. Algorithmus, der für die Reihenfolge der Sucherergebnisse verantwortlich ist, kann als Aktant verstanden werden, der Inserate auf Basis mathematischer Funktionen bewertet. 15 Die Sphäre der vertraulichen Bewertungskommunikation zwischen Gast und GastgeberIn beinhaltet allerdings auch Airbnb und seine Dienstleister. 16 Auf Druck der Competitions and Market Authority (CMA), der Wettbewerbsbehörde des Vereinigten Königreichs, können Airbnb-Guests seit 31. 08. ​2017 auch bei Abbruch eines Aufenthalts eine Bewertung des Hosts abgeben (Brignall 2017).

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Das Wissen um eine nachträgliche, öffentlich einsehbare Bewertung gestaltet und prägt die Interaktion und das Verhalten der beteiligten AkteurInnen über den gesamten Zeitraum, der neben dem tatsächlichen Aufenthalt auch die Vor- und Nachbereitung umfasst, die über die Plattform abgewickelt werden. Folglich entfalten Bewertungen eine Wirkung, die über die konkrete Beurteilung einer temporären (touristischen) Erfahrung hinausreicht. Aufgrund dieser herausragenden Stellung liegt es nahe, Bewertungen auch als Infrastruktur dieses online-fundierten Tourismus zu verstehen (Frisch 2017).

5.2 Methodisches Vorgehen Ein großer Teil der Bewertungsaktivitäten der Airbnb-UserInnen ist auf den entsprechenden Webseiten öffentlich zugänglich. Es kann ohne viel Aufwand nachvollzogen werden, welcher Gast zu welchem Zeitpunkt bei welchem Host übernachtet hat, wie der Aufenthalt verlaufen ist, ob es Konflikte gab oder nicht. Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema können ForscherInnen daher auf sehr umfangreiches Material zurückgreifen. Dieser Beitrag beruht auf den empirischen Ergebnissen eines qualitativen Methoden-Mixes, der sich an der Methode der infrastructural inversion (Bowker 1994) orientiert. Diese ist im weitesten Sinne vergleichbar mit dem going backstage, der Erkundung der Hinterbühne bei Goffman (2007). Im Kontext der Airbnb-Bewertungen bedeutet das, auch die weniger sichtbaren Prozesse zu berücksichtigen, durch die Infrastrukturen gekennzeichnet sind sowie soziotechnische Arrangements als komplexe Beziehungsgeflechte zwischen ihren einzelnen Elementen zu analysieren (Objekte, Technologien, aber auch Praktiken). Mithilfe einer Webseitenanalyse wurde die Architektur der Plattform erforscht. Sie gibt Aufschluss darüber, wie sie durch ihre impliziten Logiken und die von ihr gewünschten UserInnen-Praktiken den Handlungsspielraum der UserInnen bestimmt.17 Um mehr über die konkreten Praktiken der UserInnen im Umgang mit der Plattform zu erfahren, wurden teilnehmende Beobachtungen und leit­ fadengestützte Interviews in Deutschland und den USA eingesetzt. Die Erhebung begann im Januar 2016 und wurde noch bis Dezember 2017 fortgeführt. Bislang konnten 15 teilnehmende Beobachtungen in der Rolle des Gastes unternommen und 30 Interviews mit GastgeberInnen und Gästen geführt werden. Interview17 Airbnb verändert seine Webseite regelmäßig, indem neue Features ausprobiert und manche davon längerfristig eingebaut werden. Für die vorliegende Analyse muss notgedrungen ein Zeitpunkt festgelegt werden. Dieser entspricht dem Stand von September 2016, spätere Änderungen können daher nicht berücksichtigt werden.

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partnerInnen wurden direkt über die Plattform, den Besuch von einschlägigen Veranstaltungen sowie das Schneeballprinzip rekrutiert. Schließlich wurde ein umfangreicher Korpus an öffentlich einsehbaren Bewertungstexten ausgewählter Hamburger Airbnb-Inserate angelegt, um konkrete Host-Guest-Interaktionen nachvollziehen zu können. Für den vorliegenden Beitrag werden Interviews mit Hosts in Hamburg, New York und San Francisco sowie Material der Webseitenanalyse, des Bewertungskorpus und einer eingehenden Netnographie herangezogen.18 Da das Forschungsprojekt an der Universität Hamburg angesiedelt ist, waren zunächst die Erfahrungen von GastgeberInnen in Hamburg für die Analyse interessant. Zusätzliche Interviews wurden während eines mehrwöchigen Forschungsaufenthalts mit Hosts in New York und San Francisco durchgeführt. Aufgrund der wesentlich größeren Popularität und der weiter fortgeschrittenen Professionalisierung in den USA haben die Erkenntnisse aus diesen Gesprächen einen besonderen Stellenwert für die Betrachtung des Phänomens über dessen Bedeutung im deutschsprachigen Raum hinaus. Auf Basis dieses empirischen Materials können keine repräsentativen Aussagen über die Gesamtheit der Airbnb-UserInnen-Praktiken getroffen oder Vergleiche über kulturelle Unterschiede angestellt werden. Vielmehr sollen die daraus gewonnenen Erkenntnisse über die individuellen Alltagspraktiken des Wertens und Bewertens zur Diskussion gestellt werden, um zukünftige Forschung in dem Bereich anzustoßen.

5.3 Grenzüberschreitung als Risiko – Kennzeichen der Airbnb-Bewertungskultur Die plattformspezifische Bewertungskultur von Airbnb hat, wie bereits erwähnt, charakteristische Muster herausgebildet (Zervas et al. 2015; Bridges und Vásquez 2016; Frisch und Stoltenberg 2018). Die folgende Analyse knüpft an diese Arbeiten an und beschreibt anhand von drei Fällen, Momente und Praktiken, die von der Norm abweichen, das heißt Grenzfälle, bei denen (ungeschriebene) Regeln gebrochen werden. Das sind (1) das Verweigern einer Bewertung; (2) die Abgabe einer negativen Bewertung; (3) das Ausfechten eines Konflikts über öffentlich einsehbare Bewertungen. Vorneweg muss zunächst klargestellt werden, dass die Architektur der Webseite diese Praktiken erlaubt beziehungsweise zum Teil sogar ermöglicht. Denn Bewertungen erfolgen nicht etwa automatisiert, sondern müssen von den UserInnen aktiv verfasst werden. UserInnen können frei entscheiden, 18 Neben der Analyse der offiziellen Airbnb-Webseiten wurden gezielt Beiträge in Zeitungen, Zeitschriften, Blogs und Online-Foren gesichtet.

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welchen Text sie schreiben und ob sie nur 1 von 5 Sternen vergeben. Durch das Anbieten einer Antwortfunktion entsteht erst die Chance eines Bewertungsdialogs der beteiligten Personen. Die Existenz einer überschwänglichen Bewertungskultur, in der jedes Erlebnis einzigartig und überdurchschnittlich positiv dargestellt wird, ist folglich auch im Zusammenwirken mehrerer anderer Faktoren begründet (Zervas et.al 2015; Bridges und Vásquez 2016; Frisch und Stoltenberg 2018). 5.3.1 Grenzüberschreitung 1: Bewertungsverweigerung „Silence, silence never works to your favor within the Airbnb system of the person who decides to be silent.“ John, Airbnb-Host, San Francisco19

Airbnb hat großes Interesse daran, dass seine UserInnen das Review System nutzen. Aus diesem Grund betont das Unternehmen an verschiedenen Stellen (z. B. Airbnb-Blog, Hilfeartikel, Interviews etc.) die Wichtigkeit, dieses Tool auch anzuwenden. Besonders deutlich tritt dies in den standardisierten E-Mails zu Tage, die automatisiert und innerhalb von 24 Stunden nach Ablauf eines Airbnb-Aufenthalts an Host und Guest verschickt werden. In diesen kurzen Nachrichten, die mit einem Foto des/der anderen Users/Userin versehenen sind, wird auf den wertvollen Dienst verwiesen, den die Abgabe einer Bewertung leistet: als Feedback und Dankeschön an den Host/Guest beziehungsweise als Form affektiver Arbeit für die UserInnen-Community, die sich dadurch ein besseres Bild des Hosts/Guests machen kann. Bis zum Ablauf der 14-Tage-Frist folgen mehrere, gezielt getaktete Erinnerungen sowie eine Benachrichtigung, sobald die jeweils andere Person eine Bewertung verfasst hat, um unmotivierte NutzerInnen doch noch zu überzeugen. Auch wenn diese Methoden nicht immer Wirkung zeigen, kommt ein großer Teil der Airbnb-UserInnen der Bewertungsaufforderung nach – gerade auch im Vergleich zu nicht reziproken Bewertungssystemen, wie zum Beispiel Hotelbewertungen bei Booking.com oder TripAdvisor. Gesicherte Zahlen darüber, wie viele UserInnen tatsächlich eine Bewertung abgeben, lassen sich allerdings schwer finden, da das Unternehmen keine verlässlichen Angaben dazu veröffentlicht. Unabhängig davon ist das Bewertet-Werden für GastgeberInnen von wesentlich größerer Dringlichkeit als für Gäste, da ihre zukünftigen Einkommensmöglichkeiten durch Bewertungen gesichert beziehungsweise gefährdet werden können. Dieser Umstand ist den befragten Hosts und Guests mehr als bewusst, manifestiert sich aber auch im Prozess, den UserInnen bei der Abgabe einer Bewertung durchlaufen müssen: 19 Persönliches Interview am 26. 04. ​2017.

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„Yeah and the review process itself like the guest answers like ten questions for the host and the host answers like three questions for the guest. But I don’t think it will change any time soon, because Airbnb needs and wants more guests, so there, that will be a way to discourage more guests on the platform, so they’re trying to yeah, they’re trying to get more guests, so they won’t do anything to inhibit hosts accepting guests also, ’cause that makes them money, so I don’t think it will change.“ Frank, Airbnb-Host und Unternehmer, San Francisco20

Dieses Ungleichgewicht hinsichtlich der Abhängigkeit von guten Bewertungen und der Ausgestaltung der Bewertungsinstrumente spiegelt auch die unterschiedliche Bedeutung der UserInnen für Airbnb wider. Gäste werden als Kunden behandelt, Hosts sind mehr als MitarbeiterInnen oder BereitstellerInnen des Produkts, das heißt der privaten Unterkunft, zu verstehen – trotz aller Beteuerungen und Aktivitäten, die zeigen sollen, wie wichtig dem Unternehmen die Host-Community ist (Stoltenberg/Frisch 2017). Dementsprechend empfinden Gäste auch sehr viel geringeren Druck zu bewerten. Im Gegensatz dazu ist es für Hosts ge­ rade am Anfang unerlässlich, sich über eine gewisse Anzahl und Qualität von Bewertungen einen Ruf aufzubauen.21 Haben sie schließlich eine gute Reputation erreicht, nimmt auch bei ihnen die Bedeutung und Abhängigkeit kontinuierlicher, positiver Bewertungen ab, wie Susan (Airbnb-Host, New York)22 erzählt: Interviewer: „And would you be disappointed if somebody doesn’t leave a review ? Or is it //“ Susan: „No, I, I have a lot of reviews now. At the beginning I wanted, I really needed reviews, but now I have so many, I’ve been doing it for two years, so now I have 150 reviews or something. They’re all pretty good. So, I don’t know. If someone doesn’t leave me a review, I don’t think it makes a difference.“ Interviewer: „Hm, but in the beginning it was quite important to, because //“ Susan: „You have to build your reputation.“

In einer Bewertungskultur, die maßgeblich auf der ständigen Beurteilung jeder einzelnen Interaktion beruht, ist das Unterlassen einer Bewertung Indiz eines möglichen Konflikts. Zumindest lassen die bisherigen Ergebnisse aus den Inter20 Persönliches Interview am 28. 04. ​2017. 21 Aufgrund der Reziprozität des Bewertungssystems gehen viele Hosts davon aus, eine Bewertung der Gäste abgeben zu müssen, um auch selbst bewertet zu werden. Meist reagieren sie darauf mit standardisierten, kurzen Texten. Professionelle Hosts delegieren diese Aufgabe an ihre MitarbeiterInnen oder nutzen bestimmte Apps und Tools, die automatisierte Bewertungen erstellen. 22 Persönliches Interview am 13. 4. ​2017.

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views darauf schließen, dass eine bewusste Bewertungsverweigerung auf beiden Seiten meist in einer negativen Erfahrung begründet liegt. So wird das Ausbleiben einer Bewertung in vielen Fällen mit einer Unzufriedenheit des Gegenübers in Verbindung gebracht. Eine Hamburger Gastgeberin berichtet von einem Paar, das sich aufgrund ihrer ausbleibenden Bewertung beunruhigt nach ihrem Aufenthalt an sie wendet: „Er hat mir schon eine Bewertung geschrieben und ich hatte das noch nicht gemacht, weil ich da irgendwie keinen Bock grade drauf hatte. […] Und dann hat er geschrieben, ob alles okay ist. Weil die haben ja auch so eine Nachricht hinterlassen und die haben sich so wohl gefühlt und fanden das so nett, wie ich immer reagiert habe und was ich empfohlen habe und, dass es genau deren Geschmack getroffen hat. […] Und dann dachten die halt, es ist irgendwas nicht okay gewesen, wie sie es hier hinterlassen haben.“ Sophie, AirbnbHost, Hamburg23

Gleichzeitig gaben viele Hosts an, im Falle von unerwünschten Erlebnissen erst einmal abzuwarten, ob sie selbst bewertet werden beziehungsweise sollte dies nicht eintreten, ganz auf die Bewertung der Gäste zu verzichten. Meist wird das mit dem Unbehagen begründet, eine öffentlich einsehbare schlechte Bewertung zu schreiben beziehungsweise zu erhalten. „The only times and I’m almost embarrassed to say this, the very rare times that I have not reviewed somebody is when there was something that made me unhappy. So in principle I should write a review and not rate them well but I always hesitate to do that.“ Clara, Airbnb-Host, San Francisco24

Auch in Online-Foren, wie zum Beispiel dem AirHostsForum25, wird der Umgang mit Bewertungen von Gast-Aufenthalten, die Hosts als unangenehm empfunden haben, thematisiert. Unter dem Thread „Review Period Update“ wird die Bewertungsverweigerung allerdings entschieden abgelehnt, indem UserInnen daran erinnern, dass GastgeberInnen sich mithilfe von Reviews gegenseitig vor problematischen Gästen warnen sollten. Als Alternative wird ein zweiter Vorschlag präsentiert, der dem öffentlichen Sanktionieren einer problematischen Begegnung gerecht wird und gleichzeitig das Risiko einer negativen Beurteilung für den Host minimiert. Wenn diese Strategie aufgeht, kann der Host statt auf den Ver23 Persönliches Interview am 15. 03. ​2016. 24 Persönliches Interview am 26. 04. ​2017. 25 Das Online-Forum (www.airhostsforum.com) richtet sich speziell an Airbnb-GastgeberInnen und bietet ihnen die Möglichkeit, sich weltweit zu vernetzen.

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zicht seiner Möglichkeit zu bewerten, seinen/ihren Gästen ein negatives Review hinterlassen, ohne selbst mit einer schlechten Bewertung belastet zu werden: „[S]ometimes leaving a review for bad guests actually PROMPTS them to write a review in return. So if there’s any doubt you’ll get smacked in a return review but you still want to leave one for them, try to wait until the last minute.“ (AirHostsForum 2017, H. i. O.)

Wie diese Beispiele zeigen, ist die Bewertungsverweigerung mit mehreren Ri­siken verbunden. Es besteht zunächst die Gefahr, selbst auch nicht bewertet zu werden, was in vielen Fällen kaum Konsequenzen hat. Für die sogenannten Superhosts26 allerdings können ausbleibende Bewertungen durchaus schwerwiegende Folgen haben, weil sie eine gewisse Anzahl an sehr guten Bewertungen vorweisen müssen, um diesen Status nicht zu verlieren. Die wesentlich größere Gefahr besteht jedoch darin, tatsächlich eine schlechte Bewertung zu erhalten und wie im letztgenannten Beispiel, die Möglichkeit zu verlieren, den eigenen Standpunkt nur über die Antwortfunktion öffentlich zu machen und damit einen Konflikt offensichtlich zu machen. Um diese Risiken zu umgehen, entscheiden sich UserInnen häufig für die Abgabe einer neutralen Bewertung. Denn öffentlich geäußerte Kritik und die darauffolgenden Konflikte, die für andere UserInnen sichtbar sind, können den eigenen Ruf innerhalb der Airbnb-Community erheblich schädigen. Sollte es Differenzen gegeben haben, werden diese meist im privaten Feedback zwischen den Betroffenen kommuniziert. Diese verbreitete Praktik erklärt einerseits die zu Beginn angesprochene, hohe Anzahl von Bewertungen bei Airbnb, aber auch die ständige Bestätigung einer überdurchschnittlich positiven Bewertungskultur. 5.3.2 Grenzüberschreitung 2: Negativ bewerten „That’s the whole system. That’s how it works. It’s like you, you know, that’s how people feel comfortable to open up their home to strangers because they know, if something is weird, they have this power of writing a bad review.“ Susan, Airbnb-Host, New York

Obwohl gerade die Möglichkeit, Bewertungen als Sanktionsmechanismus für unangenehme Erfahrungen anzuwenden, eine der wichtigsten Funktionen des Review Systems ausmacht, haben mehrere Arbeiten bereits auf die fehlende Existenz 26 Eine Auszeichnung für besonders gute GastgeberInnen. „Superhosts“ müssen mindestens zehn Buchungen im Jahr vorweisen, eine hohe und schnelle Antwortrate besitzen und kaum Stornierungen vornehmen. Außerdem müssen mindestens 80 % ihrer Bewertungen 5 Sterne haben (Airbnb 2017c).

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augenscheinlich negativer Bewertungen hingewiesen (Zervas et al. 2015, Bridges und Vásquez 2016, Frisch und Stoltenberg 2018). In der Tat zeigt sich in der Website-Analyse, den Recherchen einzelner Bewertungstexte sowie in den Interviews, dass diese äußerst selten sind. Werden erfahrene Airbnb-Hosts darauf angesprochen, erklären sie schlechte Erfahrungen – und folglich auch schlechte Reviews – häufig mit nicht erfüllten Erwartungen unerfahrener Gäste.27 Dennoch lässt es die wenigsten Hosts unbeeindruckt, wenn Gäste Kritik üben, schließlich wird mit ihrem privaten Zuhause auch ein sehr emotional besetzter Raum bewertet: „I think it depends on what the nature of the complaint is, but […] I guess I would take it more personally, because it’s your home, that you are opening up. Like if it were a client’s property and they […] left a negative review about that, then I have some distance emotionally to it, but if it’s my home, then I, I would feel probably like less neutral, you know ?“ Ragna, Airbnb-Host, San Francisco28

Die Analyse des Bewertungskorpus für Hamburger Airbnb-Inserate verdeutlichte zunächst, dass Bewertungstexte mit einem ausschließlich negativen Grundton sehr selten anzutreffen sind. Sofern Kritik geäußert wird, verpacken Gäste diese in der Regel zwischen positivem Feedback und beschränken sich tendenziell auf eher sachliche Schilderungen der Kritikpunkte.29 Neben verschiedenen Strategien der UserInnen eine negative Bewertung zu vermeiden beziehungsweise schlechte Erfahrungen neutral zu formulieren, gibt es in bestimmten Fällen auch die Option, eine Bewertung zu löschen. Wie erwähnt kann dies aber nur durch Airbnb, als Plattformbetreiber, erfolgen. Airbnb sieht sich immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, schlechte Bewertungen gezielt nicht zu veröffentlichen beziehungsweise zu entfernen, da sie als image- und geschäftsschädigend angesehen werden. Ob und in wie vielen Fällen das tatsächlich stattfindet, darüber lässt sich nur spekulieren.30 Allerdings konnten viele jener sehr schlecht bewerteten Inserate, die im Mai 2016 als Beispiele für den Bewertungskorpus dokumentiert wurden, im September 2017 nicht mehr aufgerufen werden. Das zeigt zumindest, dass sich Ham-

27 „They mainly, they’re very rare, they mainly happen when the guests stay at an Airbnb for the very first time. Their expectations are like a hotel, a four, five star hotel and home sharing is simply not that.“ John, Airbnb Host, San Francisco 28 Persönliches Interview am 28. 04. ​2017. 29 Bridges und Vásquez (2016) haben diese Art von Bewertungen auch als lukewarm bezeichnet. 30 Auf Webseiten wie z. B. airbnbHELL (www.airbnbnhell.com) werden Erfahrungsberichte von unzufriedenen Airbnb-UserInnen gesammelt. Darunter finden sich auch viele, die den Vorwurf erheben, dass ihre negative Bewertung gelöscht wurde.

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burger GastgeberInnen mit schlechten Bewertungen nicht dauerhaft auf der Plattform halten können. Betroffene Hosts oder Guests können das Entfernen eines Reviews beantragen, wenn dieses die Airbnb-Richtlinien für Inhalte (2017b) verletzt. Anschließend entscheidet das Unternehmen von Fall zu Fall, ob dem nachgekommen wird oder nicht. In manchen Angelegenheiten wird das relativ schnell durchgeführt, es gibt aber auch UserInnen, die von einem mühsamen und langen Prozess erzählen. Eine Gastgeberin aus New York berichtet von Gästen, die vermeintlich Bett­wanzen in ihrem Apartment entdeckt hatten und diese im Bewertungstext erwähnten: „So, these women had written a review ‚nice apartment, but girl the bed definitely has bedbugs‘, like ‚you need to get it fixed‘ and I wasn’t coming home for two more weeks, so I had someone come, I had, I called an exterminator. They came in, they said they didn’t see them. I had like my friends and like my family pretty much get like get rid of the mattress, buy a new mattress, get rid of all my sheets, come in here, clean and then I called Airbnb and was like: ‚Hey, what do I do about getting this review removed ?‘ and they were like, ‚Oh well, we have to send someone to verify it.‘ So there I had to wait for their exterminator to come, which took like another week, then they came, they verify it and it just became a process.“ Anna, Airbnb-Host, New York31

Die negative Bewertung eines Aufenthalts oder eines Gastes sieht sich im Vergleich zur Bewertungsverweigerung noch einigen Hürden mehr ausgesetzt: ein Unbehagen gegenüber einer schlechten Beurteilung des Zuhauses eines anderen Menschen, die Gefahr selbst schlecht bewertet zu werden oder gar Opfer von (un-)gerechtfertigter Zensur zu werden. Entscheiden sich UserInnen trotz all dieser Hindernisse für eine negative öffentliche Bewertung, die mit ihrem Profilbild auch personalisiert ist, bleibt das meist nicht unkommentiert. Über die implementierte Antwortfunktion bietet Airbnb die Möglichkeit, Konflikte zwischen Host und Guest über das Review System sichtbar zu machen.

31 Persönliches Interview am 13. 04. ​2017.

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5.3.3 Grenzüberschreitung 3: Bewertungskonflikte „P]eople in general, I think they don’t like to be confrontational and they just wanna move on and also I’m potentially worried because it is my home. […] [T]he guest knows where I live and if they were some crazy person, they can do something to me and who knows what.“ Ragna, Host, San Francisco

Der Streit ist beständiger und funktionaler Teil des Alltags (Simmel 1908), in der plattformspezifischen Bewertungskultur von Airbnb aber rar gesät. Manche GastgeberInnen, wie Ragna, scheuen Konfrontationen, auch aus Angst vor den Folgen, die damit verbunden sind, einen Fremden in das Zuhause zu lassen. Etwaige Konflikte werden im Normalfall nicht über öffentliche Bewertungen ausgetragen, sondern über die Nachrichtenfunktion oder das private Bewertungsfeedback verhandelt. Unstimmigkeiten öffentlich zu machen, bedeutet somit eine Eskalation des Konflikts, womit beide Beteiligten ein hohes Risiko eingehen. Denn eine Antwort auf eine Bewertung ist für den überwiegenden Teil der UserInnen eine Ausnahme und lenkt deshalb die Aufmerksamkeit zukünftiger ProfilbesucherInnen besonders darauf.32 Trotzdem gibt es UserInnen, die sich auf einen Streit einlassen und ihre Unzufriedenheit deutlich zum Ausdruck bringen, wie das folgende Beispiel33 eines Airbnb-Aufenthalts bei einem Hamburger Host zeigt: Guest: „[…] Missfallen hat uns jedoch, dass das Profil von [Name des Hosts] und die Wirklichkeit nicht übereingestimmt haben. Auch bei der Beschreibung zur Wohnung gab es unerwähntes. So waren weitere Mieter zu Gast, die recht Nachtaktiv waren und eine ist eine hellhörige Wohnung mit einigem Staub. Wir hätten uns Ehrlichkeit gewünscht ! Um dann selbst entscheiden zu können- ob die Wohnung für uns (unter den wahren Bedingungen) in Frage kommt.“ Host: „Liebe [Name des Guests], dass ich mir die Haare abgeschnitten habe, ist für mich kein Grund, die Fotos zu ändern. Überhaupt sollte die äußere Erscheinung nicht überbewertet werden. Dass ich nach wie vor an der Uni. aktiv bin ist nun mal eine Tatsache. Der Staub ist allgemein und in der Luft, wenn hunderte Menschen ihre Kleidung auf reiben. Warum habt ihr nicht einfach mal den Staubsauger genommen und gesaugt, wenn es so schlimm war ? Oder was wird von Euch unter ‚homesharing‘ verstanden ?“ 32 Ähnlich wie bei den schlecht bewerteten Inseraten, konnten allerdings auch viele der im Bewertungskorpus dokumentierten öffentlich gemachten Konflikte im September 2017 nicht mehr gefunden werden, da die entsprechenden Inserate gelöscht wurden. Die angeführten Texte sind ohne nachträgliche Korrektur (Orthographie, Grammatik) von den Profilen der UserInnen übernommen worden. 33 https://www.airbnb.de/users/show/16286938. Zugegriffen: 31. Oktober 2017.

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Mitunter sorgt der Umstand, dass Bewertungen erst sichtbar werden, wenn sie beide Beteiligten auch verfasst haben, für skurrile Situationen. So sind die ersten, unabhängig voneinander geschriebenen Bewertungstexte im folgenden Beispiel34 überaus positiv und typisch für die dominante, überschwängliche Bewertungskultur bei Airbnb. Jedoch scheint der Gastgeber im Nachhinein sehr erbost über eine vermeintlich (unbeabsichtigte) schlechte Beurteilung der Lage seiner Wohnung. Diese Abwertung und die Konsequenzen für sein Inserat veranlassen ihn sogar zu sehr persönlichen Angriffen, dem Bedienen von rassistischen Ressentiments und einer Warnung an andere GastgeberInnen, diese Gäste nicht aufzunehmen. Die Beschuldigten wiederum reagieren mit Ironie, verweisen auf die widersprüchlichen Aussagen des Gastgebers und beenden damit vermutlich als Gewinner den öffentlich gemachten Konflikt. Denn eine zweite Chance sich noch einmal auf der Airbnb-Webseite zu äußern, gibt es für beide Beteiligten nicht. Es ist von der Plattformarchitektur nicht vorgesehen. Guest: „Wonderful host and wonderful room ! well decorated with heart ! Generous breakfast and everything u need is provided . Perfect !“ Host: „Hallo Ihr Lieben ! [Name des Guests] und die begleitung waren ganz ganz schrecklich…ein albtraum die beiden…sie haben meine unterkunft nicht gefunden, weil sie die hausnummern nicht lesen konnten und kamen dann mit einem betrunkenen obdach­losen zu mir der ihnen den weg zeigte…der obdachlose war ganz schlimm und wollte garnicht mehr gehen…am ende stellte sich heraus, dass die [Nationalität der Gäste] schlecht englisch sprechen und die odyssee setzte sich fort…es wurde aber noch schlimmer, da ich zum schluss noch eine strafe bekam…die beiden gaben mir eine sehr schlechte bewertung für ‚ORT‘ und seitdem erscheint ständig ein gelber hinweis mit ausrufezeichen, dass ich doch eine bessere ortsbeschreibung vornehmen sollte…ich habe aber bereits alles optimiert und 69 andere gäste haben mich sofort gefunden und es gab keine probleme ! so schön die beiden auf dem foto auch lächeln, so schrecklich waren sie am ende und ich bin traumatisiert… ! […]“ Host: „Hallo to [Name des Guests] …thank you for all the gifts and so on…i will give you 5 stars for all you have done…you are very friendly and helpful and open for fun…bye bye and good luck for your travel ! ;=))) [Name des Hosts]“ Guest: „Dear [Name des Hosts], Thank you for your surprising message (in German) two weeks after my one-night stay. I was deeply sorry about the man. He scared me too. Please 34 Profil Host: https://www.airbnb.de/users/show/8388153; Profil Guest: https://www.airbnb.de/ users/show/33713884. Zugegriffen: 31. Oktober 2017.

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forgive my poor spoken English (or maybe even written ?), as compared with the native British. For the review, I am not sure if anything went wrong because I indeed gave a fivestar to you through the Airbnb App. Maybe there were some technical problems ? Being as guests, we did not break anything, we put everything back into their originally position after using, we kept everything neat and tidy, and we even prepared some little gifts for my hosts. I have to make ourselves clear on this. Other hosts had no problem with us and recommended us. Anyway, thank you for describing us as ‚terrible‘, twice in your public comment (but as ‚friendly and helpful and open for fun‘ in the private review ? !). I’ll take it as a compliment and so I would not be ‚traumatized‘.“

Der öffentliche Streit über das Nutzen der Antwortfunktion ist ein heikles Unterfangen. Er zieht die Aufmerksamkeit anderer UserInnen auf sich und kann sogar unangenehme Charakterzüge der beteiligten Personen offenbaren, die im Normal­fall verdeckt bleiben. Insofern haben UserInnen, und im Speziellen GastgeberInnen, großes Interesse, Konflikte möglichst unbeschadet zu überstehen.35 Erfahrene Hosts sind routiniert im Umgang mit solchen Situationen und sprechen auch Handlungsempfehlungen aus: „[…] if they leave a negative review, yeah, this, you also respond one, two sentences max. Like the future guests want to know, that it’s been dealt with. ‚Here you go, this place was pretty good, but the Wi-Fi really sucked.‘ You know, ‚Thanks for that info. I just upgraded twice as fast speed‘, bam. Taken care of. They [potential future guests] are just gonna’ read the first, few sentences, the first few words even to see if it’s positive or negative. […]. They are just looking for a negative. So, for those reviews [to which you reply] I’ll say the host should pick out one positive in there, like they really liked the pool, the parking garage was really nice. Pick out one positive and then put in, in one, no more than one sentence below the review as a response.“ Frank, Airbnb-Host, San Francisco

Der erste Ratschlag besteht darin, Kritik anzunehmen und gleichzeitig klarzumachen, dass kleinere Beanstandungen sofort behoben werden. Der Host zeigt dadurch, dass ihm seine Gäste wichtig sind, aber auch, dass er Probleme schnell und adäquat lösen kann. Die zweite Handlungsempfehlung geht von langen Bewertungstexten aus, die nach einem verbreiteten Muster verfasst sind: Zuerst werden ein oder zwei positive Punkte erwähnt, bevor schließlich die tatsächliche Kritik geäußert wird. Dieses Muster lässt sich zum eigenen Vorteil verwenden, indem bei der Antwort nicht auf die negativen Erfahrungen eingegangen wird, sondern 35 So gibt es beispielsweise bereits Analysen, die verschiedene Antwortstrategien auf negative Bewertungen (Herausfordern, Leugnen, Entschuldigen) untersuchen (Abramova et al. 2015).

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nur die positiven Eindrücke bestätigt werden. Somit wird der aufmerksamkeitserregende Effekt der Antwortfunktion entschärft und im Idealfall – bei einer nur oberflächlichen Lesart – die negative Erfahrung und der dadurch entstandene Konflikt gar in ein durchwegs positives Erlebnis verwandelt.

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Imperative der Bewertungskultur im Tourismus 2.0

Dieser Beitrag untersuchte am Beispiel des Online-Community-Markt­platzes Airbnb die spezifischen Normierungsdynamiken und Kontrollbestrebungen, durch die digitale Bewertungskulturen gekennzeichnet sind. Sie entstehen aus dem Zusammenwirken von PlattformbetreiberIn, dem Design und der Architektur der Bewertungsinstrumente und UserInnen-Praktiken. Dabei entfaltet jeder der Akteure und Aktanten seine eigene Wirkmacht. Im Falle von Airbnb wurden mit Hilfe der Analyse von drei von der Norm abweichenden Praktiken jene impliziten Regeln identifiziert und offengelegt, die als charakteristisch für die plattformspezifische Bewertungskultur angesehen werden können. Diese können auch anhand von drei Prämissen oder Bewertungsimperativen zusammengefasst werden: 1) Alle Airbnb-UserInnen sollen eine Bewertung abgeben. Sie sind ein wichtiges Feedback für die jeweiligen Hosts und Guests und leisten einen wertvollen Dienst für die anderen Mitglieder der Airbnb-Community. (Bewertungsimperativ 1) 2) Bewertungen sind die soziale Reputation innerhalb dieser Community. Positive Bewertungen sichern die zukünftigen Teilhabe- und Einkommenschancen, negative Bewertungen gefährden sie. (Bewertungsimperativ 2) 3) Mit der Abgabe einer (positiven) Bewertung ist die einzelne Airbnb-Erfahrung abgeschlossen. Ein darüberhinausgehender Kontakt zwischen Host und Guest ist nicht vorgesehen, Konflikte werden nicht öffentlich ausgetragen. (Bewertungsimperativ 3). Das empirische Material verdeutlichte, dass UserInnen aufgrund der damit verbundenen Risiken und potenziellen Konsequenzen nur in Ausnahmefällen eine (oder mehr) der drei Grenzüberschreitungen wagen. Vielmehr unternehmen sie eine Vielzahl von Strategien und Maßnahmen, um diese Grenzüberschreitungen zu verhindern, wodurch die grundlegenden Normen der Bewertungskultur beziehungsweise ihre Bewertungsimperative wiederum bestätigt und gestärkt werden. Neue UserInnen der Plattform müssen diese Normen erst erlernen, folglich sind sie es häufig, die gerade dem zweiten und dritten Bewertungsimperativ widersprechen. Bleiben sie Airbnb dennoch treu, durchlaufen sie einen Sozialisations-

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prozess, der eine Akzeptanz und einen spielerischen Umgang mit diesen Normen verlangt, um dauerhaft und erfolgreich die Plattform nutzen zu können. Der vorliegende Text beschreibt eine community of practice, die wesentlich von der gegenseitigen Bewertung ihrer einzelnen Mitglieder strukturiert wird. Bewerten – und bewertet werden – etabliert sich somit zu einer routinierten, manchmal sogar alltäglichen Praktik, die anhand von standardisierten, aber veränderbaren Instrumenten und entlang von bestimmten impliziten Normen (Bewertungsimperativen) vollzogen wird. Die geschilderten Ergebnisse sind nicht ohne weiteres auf andere digitale Bewertungskulturen zu übertragen. Es ist davon auszugehen, dass die Analyse von Bewertungssystemen, die nicht reziprok ausgerichtet sind oder eine stärkere intrinsische Motivation der Bewertenden aufweisen, zu ganz anderen Ergebnissen führen. Zukünftige Forschung, die sich mit digitalen Bewertungspraktiken auseinandersetzt, muss allerdings stets das komplexe Zusammenwirken menschlicher und nicht-menschlicher Akteure in diesen soziotechnischen Arrangements berücksichtigen. Die Verwendung eines praxistheoretischen Begriffs der Infrastruktur sowie der Grenze beziehungsweise Grenzüberschreitung als Methode kann dabei überaus nützlich sein, um spezifische Muster und Normen digitaler Bewertungskulturen zu identifizieren.

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Valuation an den Grenzen von Datenwelten Konventionentheoretische Perspektiven auf Quantifizierung und Big Data Rainer Diaz-Bone

Zusammenfassung  

Aus Sicht der Soziologie der Kategorisierung und Quantifizierung werden arbeitsteilige Prozesse der Datenproduktion und die ihnen unterliegenden Konventionen betrachtet. Die wichtigste theoretische Grundlage dafür ist die „Economie des conventions“, die in Frankreich wiederum Teil der neuen pragmatischen Soziologie ist. Diese hat ihre Entstehungsmomente in der Analyse ökonomischer Koordination sowie Institutionen, aber insbesondere auch in der Analyse statistischer Kategorien und Quantifizierung. In dem Beitrag wird der Unterschied zwischen Konventionen mit semantischem Gehalt und ohne semantischen Gehalt als folgenreich für die Datenproduktion und die Valuation von Daten betrachtet. Der Beitrag vergleicht die Datenproduktion der amtlichen Statistik mit derjenigen der Privatwirtschaft. Vor allem mit dem Aufkommen des Neoliberalismus wird die Datenproduktion zunehmend verprivatisiert, die statistischen Ketten inkonsistent und die der Quantifizierung unterliegenden Konventionen werden für die Öffentlichkeit und für betroffene Akteure unsichtbar. Diese hat nachteilige Folgen für die normativen Grundlagen und Auswirkungen der Quantifizierung sowie für Möglichkeiten von Kritik und Rechtfertigung. Schlagwörter  

Economie des conventions, Valuation, Big Data, amtliche Statistik, Neoliberalismus, pragmatische Soziologie, Kategorisierung, Soziologie der Quantifizierung, statistische Kette

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Kropf und S. Laser (Hrsg.), Digitale Bewertungspraktiken, Soziologie des Wertens und Bewertens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21165-3_4

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Einleitung „Perhaps it is safest to begin by asking how it is that the problem of valuation-theory has come to bulk so largely in recent discussions.“ (Dewey 1939, S. 1)

Die Soziologie der Kategorisierung und der Quantifizierung hat sich lange insbesondere mit der Datenproduktion in der amtlichen Statistik sowie in der sozialwissenschaftlichen Forschung befasst.1 Die Statistik wurde hierbei nicht einfach verstanden als die Wissenschaft der Datenanalyse, sondern im breiten Sinne als Wissenschaft des staatlichen Wissens.2 Insbesondere Alain Desrosières hat in seinen wissenschaftshistorischen Studien gezeigt, wie die verschiedenen epochalen Formen der politischen Ökonomie einhergehen mit unterschiedlichen Anforderungen an sowie Konzeptionen von „Statistik“ als Form des staatlichen Wissens, aber auch als Form der Repräsentation des Staates (Desrosières 2005, 2008a, 2008b, 2014). Desrosières hat maßgeblich zu der sogenannten Konventionentheorie (Economie des conventions, kurz EC) beigetragen (Desrosières 2011), die heute (mit anderen Ansätzen) führend in den neuen französischen Soziologien ist (Dosse 1999; Nachi 2006; Corcuff 2011; Diaz-Bone 2018). Mit neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sowie mit der zunehmenden Digitalisierung und Datafizierung (von Kommunikationen zwischen Menschen, von ökonomischen und technologischen Prozessen etc.) ist die Rede von der Datengesellschaft mit dem Stichwort „Big Data“ verknüpft (MayerSchönberger und Cukier 2013; Lazer und Radford 2017). Hiermit wird die Analyse nicht nur sehr großer, sondern auch heterogener Datenmengen bezeichnet, die aus solchen Prozessen resultieren und die sich (historisch gesehen) zunächst von staatlichen Institutionen, aber heutzutage insbesondere von privaten Unter-

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Die Soziologie der Quantifizierung baut in Frankreich unmittelbar auf den Analysen zu den Klassifikationssystemen auf (siehe die Beiträge in Diaz-Bone und Didier 2016). Klassifikationen sind Systeme von Kategorien, die in der Statistik zumeist für die Kodierung von Daten mit nominalem oder ordinalem Skalenniveau verwendet werden. Die Häufigkeiten von Kategorien (oder die Wahrscheinlichkeit für die Zugehörigkeit zu einer Kategorie) machen diese einer statistischen Analyse zugänglich, die Metriken (Distanzen, Verhältnisse etc.) berechnet. Und umgekehrt unterliegt vielen Analyseverfahren (insbesondere im Bereich von Big Data) das Interesse, Individuen aufgrund von metrischen Daten zu klassifizieren. 2 Das italienische Wort „statista“, von dem das Wort „Statistik“ etymologisch abstammt, bedeutet so viel wie Staatsmann oder auch Staatskunde, was auf die Verbindung zwischen Statistik und staatlichem Wissen hindeutet.

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nehmen ökonomisch verwerten lassen.3 In diesem Beitrag wird die neue Situation der zunehmenden Privatisierung der Datenwelten zum Ausgangspunkt genommen, um aus konventionentheoretischer Sicht zu fragen, welche Problemlagen sich ergeben, wenn die vormals wesentlich durch öffentliche Institutionen (staatliche Verwaltung und Wissenschaften) erfolgende Datenproduktion nun zunehmend durch Privatunternehmen erfolgt. Dabei wird die Konventionentheorie als ein Ansatz herangezogen, der seit Anfang der 1980er Jahre als Gründungsmomente die Analyse von Praktiken der Valuation im Zusammenhang mit statistischen (staatlichen) Kategorien sowie von Praktiken der Valuation von Produkten und Arbeit als Qualitätszuschreibung hat.4 Im folgenden Abschnitt (2) wird zunächst die Konventionentheorie mit ihren wesentlichen Grundkonzepten und im Kontext von Pragmatismus und Strukturalismus eingeführt. Dabei steht die sowohl durch Strukturalismus als auch durch Pragmatismus beeinflusste Konzeption von Valuation im Zentrum. In Frankreich basiert die Soziologie der Quantifizierung wesentlich auf der EC. Das Konzept der Konvention ist dafür zentral. Allerdings – so die hier vorgelegte Argumentation – muss man Konventionen danach differenzieren, ob sie mit einem umfassenden semantischen Gehalt ausgestattet sind oder nicht. Mit „semantischem Gehalt“ ist dabei gemeint, dass Konventionen zugleich eine „Denkweise“ repräsentieren, die auch in narrativer Form (als Schilderung, Erklärung) dargelegt werden kann. Dies hat Folgen für Reichweite, Kohärenz sowie Legitimität der auf Konventionen basierenden Prozesse der Klassifizierung, Quantifizierung und Datenproduktion. Der Beitrag stellt zunächst Pragmatismus und Strukturalismus als die Grundströmungen der modernen Sozialwissenschaften vor (Abschnitt 2). Diese sind bis heute insbesondere für die Theorie der Valuation die Grundlage. Anschließend werden die neuen französischen Soziologien und damit die EC mit ihren Grundkonzepten eingeführt (Abschnitte 3 und 4). Die auf der Grundlage der EC dann vorgestellten Beiträge zur Soziologie der Quantifizierung (Abschnitt 5) dienen dazu, vor allem zwei Hauptprobleme der Valuation zu diskutieren: die Privatisierung und die damit verbundene Unsichtbarmachung der statistischen Kette (Abschnitt 6) sowie die tendenziell zunehmende Inkohärenz der Konventionen in der statistischen Kette (Abschnitt 7 und 8).

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Das Konzept Big Data wird üblicherweise mit den Begriffen Datenvolumen (volume, also Masse der Daten), Geschwindigkeit mit der diese anfallen und ausgewertet werden (velocity) sowie der Unterschiedlichkeit der Daten und Datenformate (variety) charakterisiert. Siehe für solche „V-Definitionen“ Japec et al. (2015). Damit wird in diesem Beitrag auch aufgezeigt, dass die sogenannten „Valuation Studies“ keine neue Wissenschaftsbewegung darstellen.

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Pragmatismus und Strukturalismus

Die Thematik der Bewertung, heute auch Valuation, wird seit Jahrzehnten in den beiden großen Megaparadigmen von Pragmatismus und Strukturalismus als zentral angesehen. Die Rede von Megaparadigmen soll deutlich machen, dass die wichtigen (internationalen) sozialwissenschaftlichen Strömungen, Ansätze und Paradigmen letztlich wesentlich durch diese beiden großen Wissenschaftspositionen beeinflusst sind oder sich unmittelbar als Vermittlungen beider auffassen lassen.5 Dabei muss man anmerken, dass Pragmatismus und Strukturalismus selbst immer wieder Erweiterungen und Wandlungen unterworfen worden sind, so dass hier nur die wichtigen Grundelemente beider (und mit Bezug auf die hier vorgelegte Argumentation) eingeführt werden sollen.6 Für den Pragmatismus gilt seit seinen Gründungsmomenten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dass Prozesse sowie die Relationen von Akteuren und Prozessen in Umwelten die erklärenden Sachverhalte sind. Damit wird antisubstantiell argumentiert, dass Eigenschaften sich nicht als intrinsisch auffassen lassen. Das hat Folgen für Konzepte von Wert, Bewertung und Valuation. John Dewey hat dies in seiner Theorie der Valuation deutlich gemacht und auf ihn geht das Konzept der „Valuation“ letztlich zurück. „The expression ‚value‘ is used as a verb and a noun, and there is a basic dispute as to which sense is primary. If there are things that are values or that have the property of value apart from connection with any activity, then the verb ‚to value‘ is derivative. For in this case an act of apprehension is called valuation simply because of the object it grasps. If, however, the active sense, designated by a verb, is primary, then the noun ‚value‘ designates what common speech calls a valuable something that is the object of a certain kind of activity.“ (Dewey 1939, S. 4)

Valuation wird hier als Prozess gedacht und Wertigkeit oder Wert (value) werden nicht als inhärente Eigenschaften der Dinge aufgefasst. Im Pragmatismus wird die „Ontologie“ und die „Wertigkeit“ der Dinge als kontextuell, prozesshaft zugeschriebene und in Prozessen emergierende Qualität aufgefasst, die Relevanz für das Handeln hat und so erfahren wird. Für den Pragmatismus ist auch die Berücksichtigung von Objekten und Materialitäten für das Handeln und für Pro5

Siehe für eine solche Einschätzung die Diskussion um die sogenannte „relationale Soziologie“ Emirbayer (2017) sowie die Beiträge in Löwenstein und Emirbayer (2017). 6 Auf eine Ausweisung mit Präfixen wie „Post-“ oder „Neo-“ soll hier verzichtet werden, sie sind zum Teil auch unzutreffend, wie im Fall des so genannten „Poststrukturalismus“, der kein Nachstrukturalismus ist, sondern eine Radikalisierung grundsätzlich strukturalistischer Positionen darstellt und daher besser als „Neostrukturalismus“ zu bezeichnen wäre (siehe klärend Frank 1984).

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zesse insgesamt wichtig (Dewey 2002).7 Im Strukturalismus ist bereits durch die Sprachtheorie von Ferdinand de Saussure (1967) – die ein Gründungsmoment des Strukturalismus darstellt – die Ablehnung einer substantiellen Theorie (des Sprachwertes) Anfang des 20. Jahrhunderts formuliert worden. Es ist das Zeichenkonzept, das Zeichen nicht als substantiellen Bedeutungsträger sieht, sondern die Bedeutung von Zeichen auf deren Position im Sprachsystem zurückführt. Die Diskurstheorie von Michel Foucault (1973) sowie die Distinktionstheorie von Pierre Bourdieu (1982) stellen die modernen Formen strukturalistischer Konzepte von nichtsubstantiellen Valuationen dar (auch wenn in diesen strukturalistischen Theorien andere Begriffe dafür verwendet werden).8 Beide sehen Valuation als Effekt, der durch die differentielle Praxis im Diskurs beziehungsweise im sozialen Raum (Feld) ermöglicht wird. Sowohl Foucault als auch Bourdieu betten diese Effekte in strukturierte (und strukturierende) Kontexte ein, die zumeist durch Oppositionen organisiert sind, insofern hat der Strukturalismus eine Werttheorie, die dualistische Züge trägt, was der Pragmatismus ablehnt (Diaz-Bone 2017a).

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Die neue pragmatische Soziologie und die EC

In den 1980er Jahren fand in Frankreich als ein Gründungsmoment der neuen pragmatischen Soziologie der Bruch mit den strukturalistischen Sozialwissenschaften statt (Dosse 1999). Dieser bestand in der Zurückweisung starker Strukturkonzepte (insbesondere in der Soziologie von Bourdieu, wie „Habitus“, „Feld“ oder „Klasse“). Im Zentrum der neueren französischen Soziologien und insbesondere der neuen französischen Wirtschaftssoziologie stehen die Akteur-Netzwerk Theorie (kurz ANT; Latour 2007, 2014; Belliger und Krieger 2007) und die Konventionentheorie (Nachi 2006; Eymard-Duvernay 2006a, 2006b; Diaz-Bone 2018; Batifoulier et al. 2016).9 Die neuen Sozialwissenschaften zeichnen sich durch eine Repragmatisierung der Soziologie aus, sodass das Verhältnis von Strukturalismus und Pragmatismus seitdem „neu austariert“ wird. Es ist insbesondere die 7

Das bedeutet nicht, dass die Objekte nun mit ihren Eigenschaften eine bestimmte Wertigkeit oder Bedeutung hätten. Diese Bedeutung der Objekte und die Einsicht in die Notwendigkeit ihrer Interpretation setzt sich dann in den soziologischen Varianten des Pragmatismus, wie dem Symbolischen Interaktionismus, fort (Blumer 2013). 8 Dass es sich tatsächlich auch um Theorien der Valuation, z. B. im Sinne einer Theorie der Distinktion der lebensstilbezogenen Wertigkeit oder lebensstilbezogener Diskurse handelt, wird in Diaz-Bone (2010) vertreten. 9 Lucien Karpik vermittelt ANT und EC. Seine Arbeit zur Ökonomie des Singulären (Karpik 2011) basiert ebenfalls auf einem Konzept von Wert, das sich an dem Konzept der Qualitätskonvention der EC orientiert.

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EC, die in Frankreich eine Grundlage für die Studien zu Prozessen der Qualitäts-

konstruktionen, der Zuschreibungen von Wertigkeit und der sozialen Prozesse der Valuation oder auch Valorisierung beigetragen hat.10 (In der EC ist das Thema der „Valuation“ seit mehr als drei Jahrzehnten präsent. Es hat sich daher auch eine Vielzahl von Konzepten dazu herausgebildet, wie Wertigkeits(konstruktion), Rechtfertigung und insbesondere Valorisierung (Eymard-Duvernay 2012).)11 Ebenso stellt die EC eine der wenigen aktuellen soziologischen Theoriegrundlagen dar für die Analyse der Quantifizierung und Klassifikation.12 Die neue pragmatische Soziologie bricht zuerst mit dem, was David Stark (2000) „Parsons’ Pakt“ genannt hat, der darin besteht, dass die Werte im Sinne von Geldwerten als Gegenstand der Ökonomie betrachtet werden könnten und die Soziologie für das auf Normen sowie (moralische) Werte bezogene Handeln als Gegenstand zuständig sein könnte. Für die EC ist die Normativität des Handelns deshalb möglich, weil nicht einfach nur die Handelnden mit ihm einen normativen Sinn (im Sinne Webers und Parsons) verbinden, sondern weil in sozialen Situationen Wertigkeiten mit Bezug auf normative Ordnungen durch die Handelnden mobilisiert werden müssen. Damit wird nicht nur die Analyseeinheit anders gesetzt (Situationen statt Handelnde), sondern „Wert“ wird weder auf Geldwerte noch auf Handlungsorientierungen reduziert, sondern als „Wertigkeit“ auf alle Sachverhalte bezogen. Am wichtigsten ist aber, dass die sozialen Prozesse und Strukturen, die die Wertigkeiten generieren, als fundamental für das Soziale angesehen werden.13 Eben das macht die soziologische Analyse der Wertigkeiten und der Qualitäten nun zu einer Grundlage der Soziologie insgesamt.14 Weiter bricht die EC (wie auch die ANT) mit der Ausklammerung der Bedeutung von Dingen, Technologien und 10 Ein früher Einfluss für die Fokussierung auf „Qualität“ war die marktsoziologische Studie von White (1981). Ein weiterer war die Theorie der Qualität in der Unternehmensorganisation von Demming, siehe dazu Thévenot (1984). 11 Nach der EC finden sich weitere Adaptionen von „Valorisierung“, siehe die Beiträge in Vatin (2013). 12 In der deutschsprachigen Rezeption sind die Arbeiten von Luc Boltanski und Laurent Théve­ not am bekanntesten, dabei wird bislang zumeist verkannt, dass Boltanski nur einer von vielen Beitragenden und Repräsentanten der EC ist. 13 Und mit der Arbeit des Konventionentheoretikers André Orléan kann die Frage beantwortet werden, was denn seinerseits die Fundierung von ökonomischen Werten (values) ermöglicht. Orléan (2014) argumentiert, dass der Wert des Geldes und der ökonomische Wert der Dinge nicht fundamental, sondern letztlich auf kollektiver Konvention und damit auf dem Kollektiv selbst als letztem Garanten beruhe. 14 Dabei muss man ergänzen, dass im Französischen qualifier mehr bedeutet als das deutsche „qualifizieren“, nämlich nicht einfach „sich qualifizieren“ oder „befähigen“, sondern auch so viel wie „bestimmen“, „kennzeichnen“, „identifizieren“ oder auch „charakterisieren“. Die grundlegende Monographie von Luc Boltanski und Laurent Thévenot „Über die Rechtfertigung“ (2007) verwendet (im Original) das Wort grandeur, was mit „Größe“ übersetzt wurde.

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Materialitäten für die Valuation. Die sozio-technischen Netzwerke der ANT stehen hier für die Handlungsmächtigkeit (agency) von vernetzten Objekten, Menschen und Konzepten (Latour 2007). In der EC ist es ebenfalls die Fundierung von Prüfungen von Wertigkeiten sowie Wert auf Objekten, die diesen eine neue theoriestrategische Bedeutung zukommen lässt. Und Objekte können aus Sicht der EC auch als sogenannte Intermediäre fungieren (siehe Abschnitt 4). Die neuen französischen Soziologien setzen sich dann auch durch einen angenommenen Pluralismus der strukturierenden Formen und Prinzipien von der Soziologie Bourdieus ab. Hier ist es wesentlich die EC mit dem Konzept der Konvention, die mit einer Wiedereinführung des pragmatischen Konzepts des Pluralismus strukturierender Formen einflussreich geworden ist. Denn behauptet wird die praktische Koexistenz einer Vielzahl von Konventionen.15

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Konventionen, semantischer Gehalt und Intermediäre

Aus Sicht der EC sind Konventionen nicht lediglich Bräuche oder Standards, sie sind vielmehr Koordinationslogiken.16 Einige der Konventionen, die Bol­tanski und Thévenot identifiziert haben, haben zudem die Eigenschaft, dass sie als grundlegende Prinzipien herangezogen werden können, um die Richtigkeit und die Wertigkeit von Sachverhalten (Personen, Objekten, Handlungen) zu fundieren. In diesem Sinne sind einige (aber nicht alle) Konventionen zugleich Rechtfertigungsordnungen (Diaz-Bone 2018). Letztere zeichnen sich dadurch aus, dass sie auch für die öffentliche Debatte als diskursive Grundlagen gelten, und dass sie ein Gemeinwohl für die kollektive Koordination anstrebbar machen.17 Zudem unterliegen diese Konventionen auch Grammatiken, also Prinzipien, die die Konventionen strukturieren.18

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Es ist dieses Konzept, das die „Wertigkeit“ (valeur) nun auch als hierarchisierendes Prinzip repräsentiert. Siehe für einen Überblick zu den Konzepten von valeur Heinich (2017). Diese Position steht strukturalistischen Konzepten, wie dem des sozialen Raums oder des Feldes (Bourdieu 1982) sowie Konzepten des Diskurses und der Episteme (Foucault 1971, 1973), direkt entgegen. Das war noch die soziologische Bestimmung von Konventionen durch Max Weber (1972). In der EC findet sich mit dem Modell der Produktionswelten von Michael Storper und Robert Salais (1997) ein ähnliches Modell von solchen Konventionen, die ebenfalls herangezogen werden können, um die Qualitäten (also Wertigkeiten) zu rechtfertigen. Sowohl die Rechtfertigungsordnungen von Boltanski und Thévenot als auch die Produktionswelten von Storper und Salais sind an dem Konzept der Qualitätskonvention orientiert, welches von EymardDuvernay und Thévenot seit den frühen 1980er Jahren eingeführt wurde (Diaz-Bone 2018). Diese „Grammatiken“ klären auch, warum die Konventionen mit semantischem Gehalt nicht beliebig, sondern voraussetzungsvoll sind. Für das Konzept der Konventionen als Rechtfer-

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Die EC geht davon aus, dass den Akteuren eine Pluralität an Konventionen für die Koordination zur Verfügung steht und dass Akteure kompetent sind, die Richtigkeit und Gerechtigkeit („justesse et justice“) der Anwendung von Konventionen zu beurteilen (Boltanski und Thévenot 2007). Beispiele sind die industrielle Konvention, die staatsbürgerliche oder die handwerkliche Konvention, wie sie von der EC eingeführt wurden (Boltanski und Thévenot 2007). Man kann hier davon sprechen, dass diese Konventionen einen semantischen Gehalt haben, der letztlich für ihre Macht, als Rechtfertigungsgrundlage fungieren zu können, verantwortlich ist. Und man kann argumentieren, dass sie auch eine große Wirkmächtigkeit haben, sich als Koordinationslogik mit hoher zeitlicher und räumlicher Reichweite zu etablieren. Andere Konventionen haben diese Eigenschaft nicht – und haben daher auch nicht dasselbe Potential, auf Anerkennung und Legitimität zu treffen (man könnte auch sagen, als Konventionen haben sie keinen semantischen Gehalt). Hier kann man sich irgendwelche arbiträren Standards vorstellen. Die Arbitrarität besteht dann darin, dass auch ein anderer Standard hätte gewählt werden können. So kann man den Autoverkehr so regeln, dass Autos auf der linken Fahrbahn (wie in Großbritannien) oder auf der rechten Fahrbahn fahren (wie in Kontinentaleuropa). Welche Regelung getroffen wird ist arbiträr und nicht durch eine Logik (eine Denkweise) fundiert.19 Solche Konventionen werden nach einiger Zeit in der Öffentlichkeit einfach als gegeben und als „natürlich“ aufgefasst. Dennoch sind auch sie prinzipiell ein möglicher Gegenstand von Prüfung und dann auch der Kritik.20 Ein weiteres Beispiel ist die Konvention bei Grün und nicht bei Rot die Straße zu überqueren.21 Tabelle 1 stellt diese unterschiedlichen Konzeptionen von „Konvention“ gegenüber. Man kann argumentieren, dass Konventionen mit einem semantischen Gehalt (wie in der Form als Rechtfertigungsordnungen) eher und „intrinsisch“ bewirken können, dass Koordinationssituationen an ihnen ausgerichtet werden und dass sie eine hötigungsordnungen haben Boltanski und Thévenot insgesamt sechs Axiome vorgeschlagen, die entsprechend durch eine Rechtfertigungsordnung (welche eine Gemeinschaft mobilisiert und Wertigkeiten fundiert) realisiert werden müssen (Boltanski und Thévenot 2007, S. 108 f.). Für das Konzept der Konventionen als Produktionswelten haben Storper und Salais zwei Oppositionen vorgeschlagen, anhand derer sie vier Produktionswelten differenzieren (Storper und Salais 1997, S. 33 f.). 19 Was man zum Beispiel daran erkennen kann, dass in den meisten kontinentaleuropäischen Ländern die Züge links fahren, da englische Ingenieure führend waren, das Eisenbahnsystem international zu etablieren. Zumeist wird dies nicht als unvereinbar mit dem Rechtsverkehr im Straßenverkehr gesehen. 20 So könnten psychologische Forschungen untersuchen, ob Menschen sicherer auf einer der beiden Fahrbahnen fahren und dann Einwände formulieren. 21 Diese Konventionen haben zwar ihre Geschichte, aber sie sind offensichtlich kontingent und man kann sie woanders nicht finden.

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Tabelle 1  Konventionen mit und ohne semantischen Gehalt mit semantischem Gehalt

ohne semantischen Gehalt

Artikulation

Konventionen als Koordina­tions­ logiken (Rechtfertigungsordnungen, Qualitätskonventionen oder Produktionswelten)

Konventionen als (reine) „Standards“

„Grammatik“

ja

nein

Arbiträr

nein

ja

Intrinsische Wirkmächtigkeit, hohe Reichweite zu eta­ blieren (zeitlich/räumlich)

hoch

niedrig

Intrinsische Eigenschaft, öffentlich als legitim anerkannt zu werden.

hoch

niedrig

Quelle: Diaz-Bone (2016, S. 59)

here (Situationen, Raum und Zeit übergreifende) Reichweite erzielen – dieses „intrinsische Potential“ resultiert aus der durch die Konvention mit semantischem Gehalt repräsentierten Denkweise oder „Logik“. Ein Grund ist die höhere Legitimität, die ihnen zukommen kann, wenn Dispute, Kritiken, Rechtfertigungen und Erklärungen erfolgen und dann in einer stabilen Situation münden (wie in einem „Kompromiss“ zwischen mehreren Konventionen oder der akzeptierten Implementierung einer Konvention). Ein weiterer Grund ist die Kohärenz der Qualitätswahrnehmung, durch die die Chance für das Gelingen der Valuation gesteigert wird, wenn Akteure erkennen, dass die Wertigkeit integer ist und nicht auf verschiedenen Prinzipien beruht, die als gegensätzlich wahrgenommen werden (können) (Diaz-Bone 2016). Wenn man beispielsweise bei einem Produkt, das aufgrund seiner handwerklichen Qualität „hoch geschätzt“ (valuiert) wird, Bestandteile entdeckt, die industriell hergestellt wurden, kann das zu Irritationen (Reklamationen und Qualitätsabwertungen) führen.22 Hier wäre die erwartete Kohärenz riskiert beziehungsweise beeinträchtigt. Bei den Konventionen ohne semantischen Gehalt sieht man, dass hier einerseits technische Konventionen durchaus erzwingen können, dass sich ihre Reichweite für Koordination vergrößert, wenn sie zu Standards (per Gesetz) gemacht werden oder sich als faktische Standards durchsetzen konnten. Allerdings spie22 So stehen in Frankreich einige hoch ausgezeichnete Restaurants in der Kritik, da sie (unzulässigerweise und aus Kostengründen) vorgefertigte Produkte verwendet haben.

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len eben hier häufig wieder Konventionen mit semantischem Gehalt eine strategische Rolle bei der Durchsetzung von Konventionen ohne semantischen Gehalt als Standards.23 In vielen Fällen können Konventionen ohne semantischen Gehalt einfacher mit anderen Konventionen kombiniert werden.24 Die EC hat für die Steigerung der Reichweite von Koordinationsformen, aber auch für die Etablierung von Kohärenz neben kognitiven Formen, Dispositive und Intermediäre als wichtige Sachverhalte ausgemacht. Es sind auch diese Kon­zepte, die sowohl der Bedeutung von Objekten und Materialitäten im Rahmen der EC als auch dem pragmatischem Ansatz Rechnung tragen. Eymard-Duvernay und Thévenot haben mit dem Konzept der Forminvestition die kognitiven Formen identifiziert, in die für die Koordination zu investieren ist, so wie man in Maschinen für die Produktion investiert (Eymard-Duvernay und Thévenot 1983a, 1983b; Thévenot 1984). Forminvestitionen erfolgen spezifisch für die von den Konventionentheoretikern unterschiedenen Konventionen. Ein Beispiel sind numerische Darstellungen für die industrielle Konvention sowie die Marktkonvention, oder Narrationen und praktische Beispiele für die familiale oder die ökologische Konvention. Solche Formen vereinfachen die durch diese Konventionen strukturierte Koordination und tragen zu ihrer raumzeitlichen Reichweite und Kohärenz bei. Aus Sicht der EC ist der „Zwang zur Rechtfertigung“ ein erster Grund für die höhere Kohärenz (Boltanski und Thévenot 2007), ein zweiter ist die vielfach vorliegende Ko-Konstruktion von sozialen Kategorien, Institutionen, Praxisformen und Technologien, die zusammen und allmählich aufeinander abgestimmt emergieren, wie im Fall der industriellen Arbeitsorganisation die neuen Be­rufskategorien (Salais et al. 1999).25 In den letzten Jahren gewinnt das Konzept des Dispositivs in der EC zunehmend an Bedeutung. Ein Dispositiv ist in der Theorie von Michel Foucault (die die EC nun rezipiert) ein Sachverhalt, der für strategische Zwecke „zur Verfügung steht“, um eine (Macht-)Wirkung zu entfalten und einen Sachverhalt mit zu kon-

23 Man muss beachten, dass auch Standards ohne semantischen Gehalt faktisch als „Norm“ fungieren, dass aber „Norm“ nicht dasselbe ist wie „Normativität“. 24 Siehe das Beispiel mit dem Verkehr. Es gibt keine grundsätzlichen Probleme mit dem Linksverkehr auf dem Schienennetz und dem Rechtsverkehr auf der Straße. Man muss aber sehen, dass es auf die konkrete Ausstattung der Situation ankommt, wie diese Standards (ohne semantischen Gehalt) dann auch gut aneinander vermittelt werden können. Autoverkehr und Schienenverkehr sind ausreichend gut voneinander entkoppelt. 25 Dass es mit dem wachsenden Einfluss neoliberaler Regierungsformen auch gegenläufige Tendenzen gibt, die die Bedeutung der industriellen und insbesondere der staatsbürgerlichen Konventionen in der amtlichen Statistik zurückdrängen (wenn nicht gar die amtliche Statistik insgesamt), zeigt Desrosières (2008a, 2014, 2015); siehe auch die Beiträge in DiazBone und Didier (2016).

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stituieren.26 Zunächst werden in der EC damit im Grunde formale Institutionen (Organisationen), Geld, Recht (und Reglemente, Verhaltenskodes etc.), Diskurse (Sprache) sowie auch Technologien bezeichnet, die die Akteure für die konventionenbasierte Koordination heranziehen (Diaz-Bone 2017b). Menschen und Objekte können als Intermediäre fungieren, indem sie Koordinationssituationen miteinander verbinden und so ebenfalls die raumzeitliche Reichweite und Kohärenz der Koordination stützen. Solche Intermediäre können auf dem Arbeitsmarkt Personen sein, die in Agenturen als Vermittler tätig sind, Personalleiter, Personen, die Zeugnisse ausstellen oder bei der redaktionellen Bearbeitung von Stellenanzeigen mitwirken. Dann finden sich dort auch Objekte wie Diplome, CVs, psychologische Tests, Bewerbungsgespräche, Stellenanzeigen, die als solche Intermediäre zugleich auch als Dispositive der Evaluation von Bewerbenden praktisch eingesetzt werden (Eymard-Duvernay 2011). Eymard-Duvernay hat einen Begriff herangezogen, der im Grunde dem der prozesshaft gedachten Valuation entspricht, und der die Nähe der EC zur Theorie des Wertes bei Dewey deutlich macht. Er spricht von Valorisierung, als einem Begriff „[…], der klar die ethischen und politischen Dimensionen der Qualität anzeigt und der ermöglicht, die Beziehung zu den Werttheorien in der Ökonomie herzustellen. Der Begriff hat zudem den Vorteil, die Betonung auf die Dimension der Handlung des Urteilens in einer dynamischen und nicht statischen Perspektive zu legen. Das Urteil stellt keinen Zustand fest, es konstruiert (oder dekonstruiert) Wert. Das Urteil ist die Operation, die den Wert erschafft.“ (Eymard-Duvernay 2012, S. 11)27

Er sieht die Leistung von diesen Dispositiven der Evaluation nun darin, dass sie Räume der Valorisierung einrichten, welche erst ermöglichen Personen aus Sicht von Unternehmen auf ihren Wert hin einzuschätzen und zu vergleichen (EymardDuvernay 2012).

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Amtliche Statistik, Quantifizierung und statistische Kette

Die EC betrachtet die Vorgänge der Datenproduktion als auf Konventionen basierend. Messungen und Zuordnungen von numerischen Werten zu Sachverhalten werden erst möglich, wenn eine Konvention dafür eingeführt worden ist. Alain 26 Siehe für diesen Einfluss Foucaults sowie die Anwendung des Dispositivkonzeptes auch die Beiträge in Diaz-Bone und Hartz (2017). 27 Übersetzung RDB.

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Desrosières hat das prägnant so formuliert: „Quantifizieren bedeutet eine Konvention einzuführen und dann zu messen“ (Desrosières 2008a, S. 10). Man muss dabei hervorheben, dass nicht nur die metrischen Quantifizierungen einzelner Zu­stände durch die EC damit betrachtet werden, sondern auch die Quantifizierungen, die auf (nichtmetrischen) Kategorien und Klassifikationen aufbauen, also solche auszählen (und so Häufigkeiten als Quantifikationen konstruieren). Allgemein kann man sagen, dass die Messbarmachung (Operationalisierung), sowohl von kategorialen als auch von metrischen Variablen, aus Sicht der EC auf Konventionen basiert und in eine kollektive Praxis eingebettet ist, die auf diese Weise Konventionen-basiert ist. Desrosières hat für die amtliche Statistik aufgezeigt, wie über mehrere Jahrhunderte hinweg die Reichweite der Daten erst Schritt für Schritt etabliert werden musste. Dazu zählte zunächst die Vereinheitlichung von Messeinheiten und Währungen, dann die Einrichtung national gültiger Klassifikationen wie Berufsklassifikationen sowie die nationenweite Abstimmung der amtlichen Verwaltungsabläufe auf diese Einheiten und Klassifikationen. Die verschiedenen involvierten Intermediäre (wie Verwaltungsmitarbeitende, die Befragungen durchzuführen hatten, Statistiker in den statistischen Ämtern) waren hierfür auszubilden und zu instruieren, zum Teil waren gesetzliche Grundlagen zu schaffen, etwa um die Unternehmen verpflichten zu können, Wirtschaftsdaten in der erforderlichen (kognitiven) Form zur Verfügung zu stellen. Damit war eine der ersten Praktiken der Valuation möglich, nämlich diejenige der steuerlichen Bewertung, aber auch Analysen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, der Problemlagen (wie Armut und Arbeitslosigkeit) sowie der ökonomischen Entwicklung waren nun für sich zentralisierende und bürokratisierende Staaten (zunächst in Westeuropa) möglich. Die nationale amtliche Statistik wurde funktionsfähig, weil Dispositive verschiedenster Art für die Datenerhebung, Datenauswertung und Publikation eingesetzt wurden, wie rechtliche Regelungen, Ausbildungen, Fragebögen und Klassifikationen, Prozeduren in den Verwaltungen et cetera. Nun waren die Daten nationalweit vergleichbar, die Nation war ein vereinheitlichter „Datenraum“, indem die Zahlen nun die (für den Staat relevanten) Sachverhalte äquivalent, also vergleichbar machten (was nicht bedeutet: gleich machten). Desrosières hat für diese Reichweite das Konzept des Äquivalenzraums eingeführt (Desrosières 2005, S. 12).28 Für die Diskussion der Valuation sind aus Sicht der EC drei Aspekte besonders wichtig: einmal, dass Valuationen nicht allein durch Zahlen (wie wesentlich bei 28 Dass im Grunde lange Zeit nur große und staatliche Organisationen in der Lage waren, große und heterogene Datenmengen (vergleichsweise) schnell auszuwerten, hat erneut Busch (2016) aufgezeigt. Das Phänomen Big Data hat mit staatlichen Großtechnologien und Großorganisationen damit seit Mitte des 20. Jahrhunderts außerhalb der Privatwirtschaft seinen Anfang genommen.

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der industriellen Konvention) erfolgen, sondern auch durch Kodierungen oder gar durch Narrationen erfolgen können (wie bei der handwerklichen Konvention), dann zweitens dass „Zahlen“ alleine sinnhaft unvollständig sind und ihren semantischen Gehalt erst erhalten, wenn man sie auf die fundierende(n) Konvention(en) bezieht; und als drittes, dass Valuation verknüpft ist mit einer Konzeption des (anzustrebenden) Gemeinwohls und der (möglichen) Rechtfertigung – dass also Valuation einen Bezug hat zu kollektiver und konventionenbasierter Koordination. Desrosières und Thévenot haben das Konzept der statistischen Kette einge­ führt, um die Arbeitsteilung in der Generierung von Daten damit zu be­zeichnen (Desrosières und Thévenot 1979; Desrosières et al. 1983; Thévenot 2016). Datenge­ stützte Valuationen erfolgen als Prozess (im Sinne Deweys) anhand von Stationen, die durch solche Ketten vernetzt sind.29 In die Operationalisierung, Erhebung, Auswertung, der Präsentation sowie dem Einsatz von Daten sind verschiedene Technologien, (kognitive) Formate und andere Objekte, aber auch ver­schiedene Personengruppen eingebunden. Desrosières und Thévenot unterscheiden (1) die Inhaber der (beruflichen) Positionen, die im Rahmen einer Befragung mit Frage­ formulierungen und Formularen konfrontiert werden und die in Situationen gemäß ihren Praxisformen auf diese Befragung (als „Konfrontation“ mit den Kategorien) reagieren; dann (2) Personen, die beruflich mit der Kodierung der Antworten betraut sind und die für die Klassifizierungen möglicherweise Praxisformen entwickeln, die von denjenigen, die die Entwickler der Klassifikation vorgesehen haben, abweichen können; weiter (3) die Repräsentanten der Berufsgruppen, die an der Etablierung der „beruflichen Identität“ arbeiten und dafür verschiedene Strategien der Identitätspolitik einsetzen; und (4) die Entwickler der Klassifikation, die Kategorien mit Namen und Definitionen versehen müssen – im Unterschied zu den Repräsentanten der Berufsgruppen –, und die anstreben, den ganzen sozialen Raum anhand „objektiver“ Kategorien zu repräsentieren (Diaz-Bone 2018, Kap. 3). Die in die statistische Kette involvierten Akteure, wie Befragende und Repräsentierende, können aus Sicht der EC auch als Intermediäre aufgefasst werden. Intermediäre können die zeitliche und räumliche Reichweite der statistischen Kette erhöhen. Allerdings besteht die „Gefahr“, dass die Kette durch Inkohärenzen der verschiedenen konventionenbasierten Praktiken geprägt ist, die letztlich in verschiedenen Problemen resultieren können. Dazu zählt, dass „Daten“ am Ende der statistischen Kette eine Interpretation erhalten, die nicht zulässig ist oder die im Widerspruch steht zu der Situation am Anfang der statistischen Kette. Desrosières (2009) hat dies am Beispiel der Arbeitslosenstatistik demonstriert. Am Anfang haben Personen in der Regierung (Politiker, Beamte) zu entscheiden, wie die öf29 Siehe auch für die Soziologie der Standards die Beiträge von Timmermans und Epstein (2010) sowie insbesondere die Monographie von Busch (2013).

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fentliche Statistik „Arbeitslosigkeit“ auffassen und konzipieren soll. Statistiker in den statistischen Ämtern versuchen damit, Indikatoren zu entwickeln und Daten zu erheben. Behörden müssen dann institutionelle Routinen darauf basieren, anschließend werden die Daten durch institutionelle Praktiken des Kodierens und Aggregierens zusammengetragen, sie werden durch Personen in der Öffentlichkeitsarbeit, durch Journalisten, Politiker, „Substanzwissenschaftler“ (wie Ökono­men, Soziologen, Politikwissenschaftler etc.) publiziert und durch andere Personen interpretiert. Am Anfang ist den Statistikern klar, dass die Indikatoren konventionenbasiert sind und nicht einer davon unabhängigen Realität entsprechen. Am Ende erwartet aber insbesondere die Öffentlichkeit, dass die „tatsächliche Arbeitslosigkeit“ anhand von Zahlen abgebildet wird – so als ob Arbeitslosigkeit ein Datum wäre (im Sinne von „Gegebenem“). Über die Stationen der statistischen Kette hinweg wird ein transparenter konventionenbasierter Anfang in eine „realistische“ Interpretation der Daten transformiert (die faktisch die anfängliche Konvention ausblendet und die am Ende in die Interpretation eingehende Konventionen häufig verkennt). Ein weiteres Problem mit der statistischen Kette kann darin entstehen, dass die erhobenen Daten auf Konventionen basieren, die mit den Konventionen, die die Nutzenden und Interpretierenden erwarten, im Widerspruch stehen. Ein Beispiel ist das Bruttosozialprodukt (BSP), das zunehmend in die Kritik geraten ist, da es nicht den Zuwachs an Wohlstand in einer Gesellschaft abbildet und daher für kollektives Handeln Vielen als unbrauchbar gilt. Denn die Zerstörung der Umwelt oder der Zuwachs an Chancen (für Bildung, soziale Mobilität) werden durch dieses Maß nicht abgebildet, obwohl politische Steuerung eben diese Aspekte verbessern will. Amartya Sen und (an Sen anschließend) der Konventionentheoretiker Robert Salais haben hier davon gesprochen, dass das BSP keine angemessene „informationelle Basis“ (informational basis) für kollektives Handeln darstellt.30 Ein nächstes Problem, das Inkohärenzen in die statistische Kette einbringt, sind soziodynamische Prozesse, die vorher etablierte, aber nun überkommene statistische Kategorien nicht mehr als vereinbar mit der sozialen Realität erscheinen lassen, dies zumindest aus Sicht von neuen sozialen Kollektiven. Dazu sollen zwei Beispiele angeführt werden. (1) Robert Salais, Nicolas Baverez und Bénédicte Reynaud (1999) haben gezeigt, wie das Entstehen der industriellen Arbeitsorganisation allmählich eine neue Gruppe von dauerhaft und abhängig beschäftigten Industriearbeiterinnen und Industriearbeitern hervorbrachte, die dann (insbesondere in Zeiten ökonomischer Krisen) eine neue soziale Gruppe nach sich zog, welche heutzutage mit der Kategorie der Arbeitslosen evident bezeichnet 30 Siehe für die konventionentheoretische Diskussion um das Konzept der „informationellen Basis“ bei Amartya Sen den Beitrag von Salais (2008).

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(bzw. kodiert) wird. Für lange Zeit sah die amtliche Statistik aber eine solche Kategorie gar nicht vor, da vormals die abhängige Beschäftigung nur saisonal erfolgte, sodass für saisonal Mitarbeitende andere Kategorien vergeben wurden. Erst nach und nach realisierte die amtliche Statistik die neuen ökonomischen Arbeitsformen, mit der Folge, dass diese über Jahre nicht adäquat in der amtlichen Statistik abgebildet worden waren. (2) In einer anderen Studie hat Luc Boltanski (1990) rekonstruiert, wie über Jahrzehnte die statistische Kategorie und die soziale Gruppe der „cadres“ in Frankreich entstanden ist.31 Sie bildet dort heute die größte sozioprofessionelle Gruppe und stellt mit ihren Untergruppen einen Hauptbestandteil der in Frankreich etablierten Berufsklassifikation dar (Desrosières und Thévenot 2002). Auch für diese Gruppe gab es lange Zeit keine statistische Kategorie, mit der Folge, dass sie gesellschaftlich erst um ihre Anerkennung ringen musste. Die Etablierung gelang dann über den Umweg, dass eigene Sozialversicherungen für die cadres gegründet wurden und sie in den Unternehmen rechtlich eigenständig gestellt wurden, sodass die amtliche Statistik nach Jahrzehnten nachzog. Aber erst mit der Etablierung der amtlichen Kategorie wurden sie auch eine Berufsgruppe, die heute mit dem Begriff cadres auch als Lebensstilgruppe (mit Untergruppen) in den Massenmedien und im Alltag sozio-kognitiv etabliert ist. In diesen beiden Beispielen (für Probleme in der statistischen Kette) zeigt sich, dass über die statistische Kette hinweg semantische Inkohärenzen eingebracht werden, die darin bestehen, dass die anfänglich herangezogenen Konventionen einen anderen semantischen Gehalt haben als die am Ende für die Interpretation beziehungsweise Anwendung herangezogenen erwarteten. Diese beiden Beispiele zeigen auch, dass die durch Daten repräsentierte (oder darauf gestützte) Valuation hier durch Inkohärenzen gefährdet ist, die das Problem einbringen, dass hier Kritiken und Rechtfertigungsdynamiken darüber aufkommen, wie das kollektive Handeln welches Gemeinwohl anstreben kann und wie nicht. Zuletzt demonstrieren diese beiden Beispiele dann aber, dass die nach langer Zeit in die Statistik aufgenommenen neuen Kategorien (der cadres und der Arbeitslosen), sich als legitime Kategorien doch etablieren konnten und heutzutage (in Frankreich) kognitive Orientierungspunkte sowie kohärente und legitime soziale Repräsentationen darstellen, die mit vielen anderen institutionellen Praktiken vernetzt sind (soziale Absicherung, sozialer und rechtlicher Status, Lebensstilformen), dies auch deshalb, eben weil sie in die amtliche Statistik aufgenommen wurden (Bourdieu 1982). Die Praktiken und die Institutionen der amtlichen Statistik basieren wesentlich auf zwei kulturell gut etablierten Konventionen mit weitreichendem semantischem Gehalt, nämlich der industriellen Konvention und der staatsbürgerlichen 31 Man kann „cadres“ mit „Führungskräften“ oder „leitenden Angestellten“ übersetzen. Siehe für eine ausführlichere Darstellung der beiden hier angeführten Studien Diaz-Bone (2018).

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Konvention (civic convention). Die amtliche Statistik dient seit Jahrhunderten der effizienten Planung, der staatlichen Repräsentation aber auch zunehmend dem zivilbürgerlichen Informationsbedarf und Engagement.32 Es sind diese Konventionen mit semantischem Gehalt, die die ineinandergreifenden Prozeduren der amtlichen Statistik, ihre Technologie und Kategorien, aber auch ihre Verwendungsweisen (und ihre Zugänglichkeiten – insbesondere für die Öffentlichkeit) kritisch oder legitimierend „verhandelbar“ und dem Diskurs zugänglich werden lassen. Damit wird möglich, dass die Kohärenz der Daten und ihre Wertigkeit (auch im Sinne ihrer Nützlichkeit, Validität) öffentlich reflektierbar werden. Dies bedeutet nicht, dass eine statistische Kette frei von Spannungen und Widersprüchlichkeiten wäre, eben das haben die angeführten Beispiele verdeutlicht, aber es bedeutet, dass eine statistische Kette in der amtlichen Statistik zunehmend für die Öffentlichkeit sichtbar ist und der Anforderung einer Kohärenz insbesondere in Bezug auf diese beiden Konventionen als Rechtfertigungsordnungen unterliegt. Staatliches Handeln, gesellschaftliche (ökonomische, soziale) Zustände und soziale Entwicklungen lassen sich mit diesen Daten bewerten und öffentlich verhandeln, also kritisieren und legitimieren. Die sichtbare Kohärenz einer statistischen Kette ermöglicht dann solche Valuationen.

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Big Data und die Privatisierung der statistischen Kette

Das Konzept der statistischen Kette ist in der EC zunächst im Rahmen ihrer vergleichenden Analyse der (Formen der) amtlichen Statistik (sowie auch der „klassischen Sozialforschung“) eingeführt worden, die wesentlich Daten anhand von Befragungen und Verwaltungsprozeduren erhoben hat. Aber man kann dieses Konzept auch auf neue Konstellationen der Datengenerierung mit Hilfe computerisierter und vernetzter Messvorgänge beziehen, wie sie insbesondere in der Privatwirtschaft und der (durch die großen Internetunternehmen) privatisiert organisierten Sphäre des Internets kontinuierlich und massenhaft anfallen und ausgewertet werden. Das Eingangszitat von John Dewey hat heute mit der sich ausbreitenden Digitalisierung, Datafizierung und Vernetzung eine neue Aktualität. Es wird mit dem Schlagwort „Big Data“ bezeichnet, welches als Phänomen im Wesentlichen aus Informationen besteht, die von privaten Unternehmen mit Hilfe computergestützter und vernetzter Technologien gesammelt werden (Mayer-Schönberger und Cukier 2013; Einav und Levin 2014; Lazer und Radford 2017). Nur die wenigsten dieser 32 Die Rede von der „öffentlichen Statistik“ sowie die „Open Data-Bewegung“ machen letzteres deutlich.

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Daten sind öffentlich zugänglich wie Textdaten im Internet, aber auch hier sind die Zugänge zum Teil eingeschränkt und die Regeln, was an Daten in welchem Format im Internet publiziert wird, unterliegt der Entscheidung von Unternehmen (genauer den von Unternehmen kontrollierten Plattformen). Diese Daten werden mittlerweile seit einigen Jahrzehnten für die Identifikation ökonomisch verwertbarer Muster genutzt („Data mining“). Zudem werden sie nicht nur als Kommunikationsdaten (Zahlungsinformationen, Online-Bewertungen oder Textsowie Bilddaten) generiert. Die vermutlich größere „Masse der Daten“ wird über Sensoren gewonnen, die in Prozessen der Produktion, Distribution und der Konsumption integriert sind. Stichworte sind hier „Industrie 4.0“ oder „Internet der Dinge“. Und mit Sensoren ausgestattete Alltagstechnologien wie Mobiltelefone, Haushaltsgeräte oder Verkehrsmittel ermöglichen zusammen mit Internetdaten umfangreiche, heterogene und sehr fein auflösende Daten insbesondere zum Verhalten von Individuen zu erhalten und unmittelbar mit Hilfe von Algorithmen auszuwerten und ökonomisch zu verwerten.33 Datenformate, Datenkategorien, Kodierungen, Transformationen und Auswertungen basieren hier in aller Regel nicht auf solchen Kategorien, die in Beziehung stehen zu einer Rechtfertigungsordnung (wie Berufskategorien, etablierte andere soziale Klassifikationen, kollektive kognitive Kategorien im Sinne von Boltanski und Thévenot), die sich also daher auch nicht auf einen semantischen Gehalt beziehen lassen und semantisch „leer“ sind. Man kann hierbei dann von Datenwelten sprechen, in denen die Klassifikationen vielfach keine semantische Fundierung aufweisen. Das Problem der meisten Daten, die zu den Datenmengen gehören, die man Big Data nennt, ist, dass die fundierenden Konventionen unsichtbar sind und dass die Praktiken der Datenerhebung, Datenauswertung und Dateninterpretation ebenso unsichtbar, weil privatisiert sind. Akteure, die durch solche Praktiken betroffen sind, können hier zumeist gar nicht erkennen, dass dem so ist. Und wenn sie das erkennen, sind ein Verstehen und eine Kritik an den fundierenden Konventionen für sie nicht oder kaum möglich. Ein Beispiel sind die sich ausbreitenden Praktiken der Selbstquantifizierung, des spielerischen Umgangs mit „electronic devices“ (wie Smartphones) und der Übersetzung (anderswo generierter Daten) in die privaten Regimes des Engagements (im Sinne von Thévenot 2006), also in die pragmatische Strukturierung der individuellen Lebensführung (die nicht dem Zwang zur Rechtfertigung unterliegt). Hier erhalten Privatunternehmen Daten aus der Privatsphäre von Akteuren, die dann unternehmerisch ausgewertet werden. Akteure erhalten dann 33 Solche Daten werden durch Unternehmen auf einem Markt für Daten gekauft und verkauft, zudem bieten Unternehmen, die über große Datenmengen verfügen, die Analyse und ökonomische Verwertung als Dienstleistung an.

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„Feedbacks“ (wie die Veränderung von Krankenkassenbeiträgen oder von KFZVersicherungstarifen, die Präsentation von Werbebannern), ohne dass dies für die direkt oder indirekt betroffenen Akteure einsichtig wäre. Diese Formen der Quantifizierung ermöglichen keine Valuationen im oben beschriebenen Sinne, die auf ein Gemeinwohl und auf kollektive Koordination bezogen sind. Valuation, die auch öffentlich wahrgenommen werden kann, kann hier nur über die alternative Strategie erfolgen, die darin besteht, dass die Resultate von Big Data-Analysen als Scoring, Ranking, Klassifizierung et cetera zum Beispiel auf die Reputation eines Unternehmens oder den Vorhersageerfolg eines Algorithmus zurückgeführt wird.34 Wenn die statische(n) Kette(n) hier nicht sichtbar und möglicherweise auch durch Inkohärenzen geprägt ist (bzw. sind), kann man (im Anschluss an Busch 2016) von einer „Desituierung“ der Datenproduktion (Messung) sprechen, die anfängliche Messungen von Konventionen ablöst beziehungsweise die Konventionen unsichtbar werden lässt und damit im Grunde Daten auf den Status von Zahlen reduziert. Diese müssen, um eine Valuation als Prozess der Zuschreibung von Wertigkeit zu ermöglichen, erneut „resituiert“ werden, also in einen situativen Kontext gestellt werden, in dem Zahlen in strategischer Weise neu mit Konventionen verkoppelt werden. Die Wahrnehmung eines Rankings als durch ein renommiertes Unternehmen (als Marke) erstellt, wäre mit dem Prinzip der Markenwahrnehmung (handwerkliche oder häusliche Konvention) zu deuten. Die Akzeptanz von Häufigkeiten als Wertigkeit wäre mit dem Prinzip der Bekanntheit (Konvention der Bekanntheit) oder dem Prinzip der Effizienz (industrielle Konvention) zu deuten. Man muss aber sehen, dass „Valuation“ auf der Basis von Big Data-Analysen faktische Grenzen durch die Formen der privatwirtschaftlichen Auswertung hat, die darin bestehen, dass Unternehmen intern Valuationen von Zuständen, Objekten, Entscheidungen und Individuen durchführen, die diese gar nicht oder nur indirekt erfahren. Wenn Unternehmen unternehmensinterne Scorings von Personen durchführen, die Sachverhalte wie Versicherungsrisiken, Bonitäten, Arbeitsfähigkeit et cetera prüfen, dann werden damit nicht nur Marktzugänge, sondern insgesamt Lebenschancen in (gerade auch für die Betroffenen) nicht-sichtbarer Form durch diese Valuationen beeinflusst (Fourcade und Healy 2013). Für Arbeitsmärkte zeigt sich beispielsweise, dass große Arbeitgeber die CVs von Bewerbenden vorab auf der Grundlage von umfangreichen Datenmengen prüfen (Vieth und Wagner 2017). Bewerbende werden so mit Hilfe von Big Data-Analysen als Dispositiv der Evaluation (im Sinne von Eymard-Duvernay) vorselektiert. Diese Valuation 34 Man kann überlegen, ob Auszählungen wie Zitationshäufigkeiten oder die Anzahl von Klicks hinzuzuzählen sind, da sie auf großen Datenmengen basieren. Diese Art der Analyse wird allerdings nicht als Big Data-Analyse bezeichnet.

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ist nicht auf ein Gemeinwohl im Sinne der EC bezogen und entzieht sich durch die Privatisierung und Unsichtbarmachung der Möglichkeit der Kritik und dem Zwang der Rechtfertigung.

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Probleme und Inkohärenzen der digitalen Datenkonstruktion

In der Big Data-Literatur wird das Argument angeführt, dass man zukünftig auf der Basis von enormen Datenmengen die Analyse und Entscheidung Algorithmen überlassen könne, und dass Theorie damit obsolet werde (Mayer-Schönberger und Cukier 2013). Valuation scheint hier nur eine Frage der richtigen Daten(-mengen) und valider Algorithmen zu sein. Es findet sich eine Reihe von Problemlagen, die aus konventionentheoretischer Sicht eingewendet werden können. Dies wird deutlich, wenn man das Konzept der statistischen Kette auf Algorithmen bezieht, denn Algorithmen sind Dispositive, die sich über verschiedene Stationen der Kette erstrecken können (womit sich Algorithmen auch als Inter­ mediäre erweisen können). 1) Inkonsistenz, Fehlerhaftigkeit und Intransparenz von Algorithmen: Algorithmen sind im Zuge von Big Data-Analysen nicht nur in einer Programmdatei (Syntax) zu finden, sondern sind über verschiedene Dateien, Arbeitsschritte, Filter etc. verstreut und in technische Kontexte eingebettet, die sie mit strukturieren (Dourish 2016). Häufig sind Algorithmen nach einiger Zeit selbst für Datenanalysten nicht mehr vollständig rekonstruierbar: „Die Berechnungen von vielen typischen algorithmischen Systemen sind mittlerweile so komplex geworden, dass sie von Menschen nicht mehr nachvollzogen werden können. Vor allem bei lernenden Algorithmen […] bleiben die Muster und Logiken hinter den Entscheidungsprozessen verborgen.“ (Vieth und Wagner 2017, S. 12) Diese Streuung und die Vielzahl von Technologien, Datenformaten und Dateien, die bei der Entwicklung, Implementierung und dem Prozessieren von Algorithmen Einfluss haben, machen die Inkonsistenz der Konventionen in der statistischen Kette wahrscheinlich und somit die Algorithmen intransparent, womit sie viele Möglichkeiten für die Einbringung von Fehlern bergen (Zweig 2016). 2) Praktische Normativitäten in der Datenkonstruktion: Praktisch erfordern die Programmierung von Algorithmen und damit die Generierung von Entscheidungen auf der Grundlage von digitalen Massendaten die Einbringung von normativ zu entscheidenden Kriterien. Das sind Fragen wie: Was ist ein Schwellenwert für Klassifikationen ? Sollen Analysen lineare oder nicht-li­neare

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Modellierungen vornehmen ? Wie geht man mit fehlenden und ungenauen Werten um ? Was ist die Grundlage für die verwendeten Kategorien und Klassifikationen ? Diese Fragen sind konventionell (im Sinne der EC) zu entscheiden, sei es, dass hier Konventionen mit semantischem Gehalt herangezogen werden können, sei es, dass man Standards verwendet, die dann dennoch begründet werden müssten. Faktisch werden viele dieser Entscheidungen implizit, ad hoc und über die Kette in inkonsistenter Weise getroffen (Busch 2016). 3) Vorhersageerfolge und soziale Dynamik: Die Verwendung von Algorithmen und der Verzicht auf theoriebasierte Datenkonstruktion und Datenauswertung werden häufig mit dem prognostischen Erfolg von Big Data-Analysen gerechtfertigt (also mit rechtfertigendem Bezug auf die industrielle Konvention). Hierbei wird nicht nur übersehen, dass dieser mit Unschärfen (der Klassifikation und Vorhersage) verbunden ist, sondern dass diese Prognosen sich auf Datenmuster stützen, die in einer sich kontinuierlich wandelnden Gesellschaft nicht von Dauer sind – dies ist eine pragmatische Grundposition. (Ein vielfach angeführtes Beispiel für das Scheitern eines Algorithmus ist Google Flu Trends,35 siehe Mayer-Schönberger und Cukier 2013.)36 4) Notwendigkeit der Theorie: Dass Theorie insbesondere für die Identifizierung ökonomisch verwertbarer Muster und für die Folgerung von Unternehmensstrategien eine zentrale Bedeutung hat, ist eine einflussreiche Gegenposition zu derjenigen, die die Ersetzung von kausalem Denken durch Korrelationsanalysen postuliert (Einav und Levin 2014). Faktisch bedeutet dies aber, dass man Konventionen für die Interpretation der Daten heranzieht, und diese Interpretation fragt dann die Konsistenz und inhaltliche Kohärenz der Daten an. Die Interpretation muss eine statistische Kette sinnhaft rekonstruieren können, um den Sinngehalt und die möglichen Folgerungen auszuloten. „Theorien“ sind aus Sicht der EC aber letztlich auch die Konventionen mit semantischem Gehalt, die nun als pragmatische Ressource (implizit oder explizit) in die Interpretation und Anwendung der Daten eingebracht werden. Dies kann in einer strategischen, kritischen, rechtfertigenden, planenden Weise erfolgen 35 Google Flu Trends ist ein Projekt des Unternehmens Google, das versucht hat, anhand von Suchanfragen zur Grippe die Ausbreitung von Grippeepidemien vorherzusagen. Nach anfänglichen Erfolgen hat sich gezeigt, dass diese Vorhersagen nicht mehr valide waren, da die Suchanfragen zunehmend auch durch massenmedial initiierte Befürchtungen motiviert wurden und die Grippedynamik daher überschätzt wurde. 36 Dass die Frage der Repräsentativität und damit der Übertragbarkeit von Befunden aus Big Data-Analysen noch virulent ist, sowie das Problem, dass man im Wesentlichen Verhaltensdaten, aber nicht den Handlungssinn erfasst, sind für die Sozialforschung weiterhin Grundprobleme von Big Data-Analysen (siehe Japec et al. 2015). Dass gerade Verhaltensdaten ein Korrektiv zu Verzerrungen von Selbstauskünften sein können, betonen Lazar und Radford (2017).

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und „macht“ situativ aus Zahlen „Daten“, die Grundlage für Prozesse der Valuation sind. Eymard-Duvernay hat auf die mit der Pluralität der Konventionen einhergehende Unabgeschlossenheit und Unruhe der Kalkulation und Interpretation hingewiesen. „Sind die Qualitätskonventionen einmal fixiert, kann das rationale Kalkulieren ohne Probleme bewerkstelligt werden, insbesondere wenn die Einheiten des Kalkulierens fixiert sind. Aber es ist notwendig, in die Analyse die Konstruktion der Qualitätskonventionen einzubeziehen, weil sie niemals definitiv etabliert sind. Stattdessen werden sie im Zuge der Koordination immer wieder infrage gestellt. Diese Debatte über die Konventionen, die der Koordination unterliegt, wird in der Economie des conventions in Betracht gezogen, indem eine Pluralität der Konventionen eingeführt wird, zwischen denen die Akteure vermitteln müssen.“ (Eymard-Duvernay 2008, S. 60)37

Die EC verweist damit nicht nur auf die Fundierung der Messung auf Konventionen, sondern auch auf die konventionenbasierte Interpretativität der „Daten“, da sie diese als sinnhaft unvollständig ansieht, wenn sie nicht auf Konventionen interpretativ bezogen sind.

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Situationen der Valuation

Nicht nur die statistischen Ketten der amtlichen Datenproduktion, sondern insbesondere diejenigen Ketten der privaten Ökonomie nehmen an Komplexität zu, da mehr (und zunehmend verschiedene) Technologien und Akteure involviert sind. Valuation anhand von (zunehmend digitalisierten) klassifikatorischen und/ oder metrischen Daten kann auf verschiedene Weise erfolgen, je nachdem, wie die in die statistische Kette involvierten Konventionen (als kohärent oder inkohärent) wahrgenommen werden und ob die resultierenden „Daten“ mit Bezug auf Konventionen kollektiv (in Öffentlichkeiten) verhandelt und diskutiert werden (können) oder nicht. Die Tabelle 2 lässt deutlich werden, dass bei Inkohärenzen von statistischen Ketten verschiedene Erfahrungen möglich sind, denn die öffentlich geäußerte Kritik mit Bezug auf Konventionen ist nur eine Form, wie Infragestellung oder Widerstand artikuliert werden kann. Die andere Erfahrung kann die der individuellen (nun auf Seiten der Individuen „privaten“) Irritation sein. Desrosières (2015) hat beschrieben, wie Akteure angesichts solcher nicht kritisierbarer Quantifizierungen nun Kritik anders artikulieren. Er hat dafür das Konzept der Retroaktion 37 Übersetzung RDB.

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Tabelle 2  Verschiedene Situationen der Valuation involvierte Konventionen in der statistischen Kette werden wahrgenommen als

Kategorisierung/Quantifizierung wird: diskutiert/verhandelt

nicht diskutiert/verhandelt

kohärent

zumeist als reliabel und valide („legitim“/„richtig“) beurteilt

als unhinterfragt, unbewusst, „selbst-evident“ erlebt

inkohärent

als weder reliabel noch valide („legitim“/„richtig“) kritisiert

als problematisch, intransparent, nicht nachvollziehbar erfahren

Quelle: Diaz-Bone (2017c, S. 246)

eingeführt: Akteure erkennen, dass sie Klassifikationen und Quantifizierungen unterliegen, die sie nicht mitbestimmen können und sie wenden sich gegen die Klassifikation beziehungsweise Quantifizierung und die darauf begründete Valua­ tion selbst. Es sind insbesondere diese beiden Situationen (vorliegender Inkohärenz), in denen die betroffenen Akteure den Effekten der Valuation, denen sie unterliegen, Grenzen zu setzen versuchen.

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Kontroversen bewertbar machen Über die Methode des „Mapping of Controversies“ Stefan Laser und Carsten Ochs

Zusammenfassung  

Der Beitrag diskutiert einen innovativen, in Forschung und Lehre realisierbaren Ansatz: das „Mapping of Controversies“ (MoC). Das Mapping bietet die Möglichkeit, den Big Data-Schatz zu heben, ohne mit starken Vorannahmen zu operieren. Der Ansatz kann gleichzeitig als Antithese zu den bisweilen neopositivistisch-objektivistisch daherkommenden Computational Social Science verstanden werden, sofern offensiv die Situierheit von Forschenden und Forschungsgegenständen reflektiert wird. Entstanden ist das MoC im Umfeld der Science and Technology Studies beziehungsweise der Akteur-NetzwerkTheorie. Durch die Fokussierung auf Kontroversen soll die Transformation von Gesellschaft analytisch begleitet und ein Beitrag geleistet werden zur Hervorbringung entsprechender Problem-Öffentlichkeiten: Das Experimentieren mit neuen Darstellungs- und Erzählformen zielt auf die öffentliche „Bewertbar-Machung“ von Kontroversen. Wir stellen epistemologische Grundlagen des MoC vor, um daraufhin anhand von Fallbeispielen zu diskutieren, inwiefern es seine Versprechen zu halten geeignet ist. So werden Bedingungen identifiziert, die zur Umsetzung dieses vielversprechenden bewertungssoziologischen Ansatzes beitragen. Schlagwörter  

Digitale Soziologie, Big Data, Akteur-Netzwerk-Theorie, Mapping of Controversies, Bruno Latour, Kartographie, Computational Social Science

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Kropf und S. Laser (Hrsg.), Digitale Bewertungspraktiken, Soziologie des Wertens und Bewertens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21165-3_5

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Stefan Laser und Carsten Ochs

Einleitung

2014 veröffentlichte Facebook Ergebnisse eines News Feed-Experiments mit knapp 700 000 Teilnehmerinnen.1 Öffentlichen Verlautbarungen zufolge wies das Experiment nach, dass die Emotionen von Facebook-Nutzerinnen durch gezielte Manipulation der Inhalte des persönlichen News Feeds gesteuert werden können (Booth 2014). In der Folge brach eine Kontroverse um die Frage aus, ob und inwiefern Facebook berechtigt gewesen sei, das Experiment durchzuführen – zumal die Teilnehmenden weder eine Einwilligung erteilt hatten noch wussten, dass ihr News Feed manipuliert wurde. Verschiedene Diskutanten brandmarkten Facebooks Verhalten als „unethical“. Duncan Watts, Social Media-Forscher bei Microsoft, nahm die Gegenposition ein: „Stop complaining about the Facebook study. It’s a golden age for research“, ließ er die Bedenkenträgerinnen wissen. Den Gegenstand dieser Debatte bilden die Methoden der Sozialforschung, und die Auseinandersetzungen um den Einsatz solcher Methoden, die auf eine lange Geschichte zurückblicken können. Schon Gabriel Tarde verstand 1890 die (damals) neuen Möglichkeiten der Statistik als Verbesserung gesellschaftlicher Selbstbeobachtung – und nicht zuletzt auch zur besseren Organisation von Gesellschaft.2 Als Soziologe der ersten Generation nahm er damit die großen Hoffnungen vorweg, die gegenwärtige Diskurse mit den digitalen Datensätzen und neuen Analysemethoden verknüpfen (siehe auch Hanika et al. in diesem Band). Heute nimmt hingegen die „Computational Social Science“ für sich in Anspruch, Gesellschaft nicht nur besser zu verstehen, sondern auch besser zu verbessern: „Big data is made from the digital trail that we leave behind when we use credit cards, mobile phones, or the Web. Used carefully and accurately, these data give us unprecedented scope to understand our society, and improve the way we live and work.“ (Pentland 2014) Macht das „golden age for research“ also die Verwirklichung des tardeschen Traums möglich: eine Selbstbeobachtung der Gesellschaft in Echtzeit ? Ganz so einfach ist es dann wohl doch nicht. Noortje Marres (2017, S. 8) plädiert etwa für einen besonnenen und vorsichtigen Umgang mit den Daten, und 1 2

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwenden wir im Text ausschließlich das „generische“ Femininum. Selbstverständlich sind alle Personen immer gleichberechtigt mitgemeint. Unter dem Eindruck neuer statistischer Daten und Techniken schrieb er: „Wenn die Statistik den Fortschritt der letzten Jahre weiterführt und sich die Informationen, die sie uns liefert, weiterhin verbessern, beschleunigen, regulieren und vermehren, könnte der Moment kommen, in dem aus jeder sozialen Tatsache, noch während sie stattfindet, sozusagen automatisch eine Zahl zum Vorschein kommt, die sofort ihren Platz in den von der Ta­gespresse öffentlich gemachten Registern der Statistik einnimmt.“ (Tarde 2003, S. 157) Bei verbesserter Datenlage könne „die Statistik mit einiger Wahrscheinlichkeit daraus abgeleitete Vorhersagen wagen“ (Tarde 2003, S. 161).

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warnt sinngemäß vor einem neuerlichen, naiven Positivismus, dem die Computational Social Science zu verfallen drohten.3 Der spezifische Beitrag der Soziologie liegt Marres zufolge in einer stärker reflexiven Auseinandersetzung mit den neuen Möglichkeiten. Heraushalten kann sich die Soziologie aus diesem Thema allerdings nicht, wird doch der „Datenschatz“ ohnehin gehoben – und zwar von einer Vielzahl von Akteuren auch und gerade jenseits der Sozialwissenschaften (Ruppert et al. 2013). Letztere sind daher aufgerufen, das Feld selbst zu bestellen, wollen sie es nicht Plattformbetreiberinnen, Behörden, Journalistinnen oder benachbarten Disziplinen überlassen, und so auf Definitionshoheit bezüglich ihres originären Gegenstands verzichten. Eine ganze Reihe von Forscherinnen hat sich folgerichtig aufgemacht, die soziologischen Claims innerhalb des skizzierten Feldes abzustecken. Unser Text leistet einen Beitrag zu diesem Unternehmen, indem er versucht, die methodologi­ schen Debatten noch stärker für die deutschsprachige Forschungslandschaft aufzubereiten. Wir besprechen einen bestimmten, mittlerweile gut eta­blierten und methodologisch anspruchsvollen Forschungsansatz aus dem Feld der „Digital Methods“: das „Mapping of Controversies“ (MoC) (Beck und Kropp 2012; Venturini 2010, 2012; Venturini et al. 2015). Entstanden ist die Methode im Umfeld der Science and Technology Studies (STS), in dem soziotechnische Kontroversen schon seit langem als „society in the making“ (Michel Callon) untersucht werden. In den STS wurde das MoC in eine „digitale Methode“ übersetzt; insbesondere 3 Im Umfeld der Big Data-bezogenen Sozialforschung finden sich neo-positivistische Tendenzen, die mit der systematischen Auswertung digitaler Daten das Versprechen verbinden, eine korrelationsbasierte Objektivität zu erreichen, die auf Theoriebildung verzichten könne. Hält man sich an Ian Hackings Bestimmung des Positivismus (Hacking 1983, S. 4 f.; Niewöhner 2012, S. 57) und betrachtet dementsprechend dessen von ihm bestimmte Merkmale mit Blick auf die Computational Social Science, dann lässt sich die Positivismus-Kritik wie folgt qualifizieren: (1) Klassischen positivistischen Herangehensweisen zufolge kann zwischen Beobachtung und Theorie klar unterschieden werden. Der Neo-Positivismus der Computa­ tional Social Science geht noch weiter, indem er Theoriebildung als solche für überflüssig erklärt und durch datenbasierte Korrelationen zu ersetzen verspricht. Mit Marres (2017, S. 64) lässt sich hingegen argumentieren, dass Sozialtheorien immer schon in Plattforminfrastrukturen eingebaut sind (Google nutzt z. B. Mertons Erkenntnisse über Zita­tionsroutinen). (2) Auch die positivistische Vorstellung kumulativer Wissensproduktion lässt sich kaum halten, vielmehr verhält es sich grundsätzlich so, dass Sozialforschung Wissen produziert, das ins Soziale zurückgespeist wird und den Gegenstand reflexiv verändert – das ist gerade im Digitalen gut ersichtlich an der Hoffnung, die gegenüber „technological fixes“ ausgesprochen wird (Marres 2017, S. 18; 27). Es ließen sich weitere zuweilen in den Computational Social Sciences anzutreffende, positivistische Annahmen kritisieren, wie etwa die einer klaren Unterscheidbarkeit von Inhalt und Kontext von Entdeckungen sowie von präzisen Begriff‌lichkeiten einerseits und korrespondierender Realität andererseits usw. Wir verzichten hier auf eine solche Kritik nicht nur aus Platzgründen, sondern auch weil der ganze folgende Beitrag als Plädoyer gegen positivistische Sozialforschung verstanden werden kann.

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Forscherinnen aus dem Umfeld der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) haben das Grundgerüst entwickelt und erprobt. Mehr oder weniger frei zugängliche digitale Datensätze werden als Möglichkeit gesehen, ein Versprechen der ANT-Methodologie einzulösen: jenseits der Mikro-Makro-Unterscheidung zu forschen, indem den vielfältigen Spuren von Akteuren gefolgt wird (im Digitalen heißt das: tracing, tracking und navigating; Latour et al. 2012). Zusätzlich soll das Mapping Unsicherheiten handhabbar machen, die im Umgang mit Informationen im Internet entstanden sind. Dabei werden auch neue visuelle Darstellungsformen erprobt, um die interaktive und rückspiegelnde Kommunikation von Forschungsresultaten möglich zu machen (Beck 2013). Wir interpretieren den Ansatz mit Noortje Marres (2017, S. 82, 192, 194) als experimentelle soziologische Methode, die einerseits die grundlegenden Besonderheiten digitaler Infrastrukturen, Geräte und Praktiken nutzen will, andererseits aber auch Erkenntnisse der etablierten Sozialforschung integrieren möchte. Um diese Interpretation zu entfalten werden wir zunächst die epistemologischen Kontinuitäten und Grundkategorien freilegen, auf denen die Methode aufbaut (Kap. 2). Daraufhin diskutieren wir das Potential des MoC, Öffentlichkeiten sowohl zu analysieren als auch dazu beizutragen, diese aktiv hervorzubringen. Schließlich werden wir prüfen, ob das MoC die identifizierten Versprechen halten kann, indem wir zwei konkrete Forschungsprojekte aus dem MoC-Umfeld näher beleuchten (Kap. 3). Im Fazit diskutieren wir zusammenfassend die Leerstellen sowie Möglichkeiten, die Kontroversenkartographie weiterzuentwickeln (Kap. 4). Auf diese Weise soll das Vermögen des MoC-Ansatzes analysiert werden, die komplexen Problemstellungen zeitgenössischer Gesellschaften nicht nur analytisch nachvollziehbar, sondern auch öffentlich bewertbar zu machen. Die im Folgenden vorgestellte Methodologie gilt uns dabei als äußerst fruchtbare bewertungssoziologische Heuristik, sofern Kontroversen auch innerhalb dieses Forschungsfeldes als zentraler empirischer Einstiegspunkt zur Untersuchung von Bewertungspraktiken genutzt werden. Dementsprechend schreiben etwa Isabelle Dussauge, Claes-Fredrik Helgesson und Francis Lee (2015, S. 271), Forscherinnen aus dem Umfeld des Valuation Studies-Journal: „Controversies are prime arenas for surveying the articulation of various conflicting values, simply because central registers of value often are at stake in such situations.“ An dieser Prämisse wird sich der folgende Beitrag orientieren.

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Mapping of Controversies: theoretische Fundamente und Ziele

Die Entwicklung des MoC lässt sich bis in die 1990er Jahre zurückverfolgen. Bruno Latour suchte zu dieser Zeit nach einem Weg, die in Frankreich, England, den USA und den Niederlanden florierende ANT in der Lehre zu nutzen, ohne die teils komplizierten Grundbegriffe im Detail einführen zu müssen. „[W]e can describe the cartography of controversies as the practice of ANT unburdened of all theoretical subtleties“, so fasst es Tomasso Venturini (2010, S. 258) zusammen, der das Mapping mit Latour entscheidend weiterentwickelt hat.4 Gesucht wurde also eine vergleichsweise voraussetzungsarme, stark empiriegetriebene Forschungsmethode, die es obendrein erlauben sollte, dialogisch zu forschen und von den im Feld angetroffenen Akteuren zu lernen. Man kann hierin eine Weiterführung des bereits in der klassischen ANT angelegten Versuchs sehen, ein möglichst „leeres“ Beschreibungsvokabular zu entwickeln, das dann von den empirisch verfolgten Akteuren selbst semantisch „gefüllt“ werden soll (Schüttpelz 2008, S. 235). Inwieweit und auf welche Weise dies möglich ist, kann hier nicht diskutiert werden; vielmehr beschränken wir uns auf die Beobachtung, dass das MoC insofern orientierende methodologische Leitprinzipien anbietet, als es einen „eingebauten“ Fokus auf Kontroversen mit der Analysemethodik der Kartographie verbindet. Wir nähern uns daher im Folgenden über diese beiden Begriffe der MoC-Methodologie (Kap. 2.1) und gehen dann über zur Rolle der Öffentlichkeiten im MoC-Ansatz (2.2), bevor wir den Blick auf konkrete Umsetzungen des MoC richten (3).

2.1 Methodologische Grundlagen: über Kontroversen und Kartographie Theoriegeschichtlich ist das MoC die jüngste Weiterentwicklung des jahrzehntealten, zentralen Grundsatzes der „Science Studies“: „follow the controversy“. Vor4

An anderer Stelle des referenzierten Textes spricht Venturini davon, dass im MoC keinerlei sozialtheoretische oder methodologischen Annahmen die Forschung vororientieren würden: „Just observe and describe controversies“ (Venturini 2010, S. 259). Dennoch herrscht hier ein Bewusstsein für die methodologischen Probleme dieses scheinbar theoriefreien Ansatzes, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass Venturini selbst diese ausführlich behandelt, indem er sich an den Begriffen „just“ und „controversies“ entlang hangelt (dass sich das Beschreiben selbst methodologisch als ebenso problematisch erweist, weiß indessen nicht nur die Anthropologie schon länger, man denke hier nur an die intensiv geführte Writing Cul­ ture-Debatte; Clifford und Marcus 1986).

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bereitet wurde diese Schwerpunktsetzung durch eine sozialkonstruktivistische Wende innerhalb der Wissenschaftsforschung, die Anfang der 1980er Jahre vollzogen wurde. In offensiver Abgrenzung von den damals dominanten Erkenntnistheorien im Allgemeinen, und in kritischem Anschluss an Thomas Kuhns Arbeit im Speziellen, wurde eine alternative Wissenschaftsforschung etabliert, eine dezidiert empirisch verfahrende (Bloor 1976). Forscherinnen in diesem Bereich wendeten sich verstärkt der Frage zu, wie (natur-)wissenschaftliches Wissen praktisch produziert werde. Das auf Harry Collins zurückgehende „Empirical Programme of Relativism“ (EPOR) verfolgte dabei einen „explicit relativism in which the natural world has a small or non-existent role in the construction of scientific knowledge.“ (Collins 1981a, S. 3) Collins schrieb dies im Vorwort einer 1981 erschienenen Sonderausgabe der Zeitschrift Social Studies of Science, es behandelte das Thema „Knowledge and Controversy: Studies of Modern Natural Science“ (Collins 1981a). Indem der EPOR-Ansatz fast vollständig die Rolle materieller Entitäten für die Wissensproduktion ausblendete („the natural world […] has a small or non-existent role […]“; Collins 1981a), wurde davon ausgegangen, dass es vor allem soziale Schließungsprozesse seien, die über den Ausgang wissenschaftlicher Debatten entscheiden. Der Gültigkeitsstatus naturwissenschaftlichen Wissens sei sozial fabriziert – „the phenomenon itself does not dictate the outcome of the debate.“ (Collins 1981b, S. 54) Im relativ jungen Feld der Science Studies herrschte in der Folge zunächst eine gewisse Einigkeit darüber, dass Wissen sozial hervorgebracht werde und dass der Konstruktionsprozess wiederum maßgeblich auf Kontroversen beruhe, die im Rahmen sozialer Schließungsprozesse ihre Siegerinnen und Verliererinnen fänden. Trevor Pinch und Wiebe Bijker übertrugen diese Prämisse wenig später auch auf Prozesse der Technikentwicklung. Genau wie die Konstruktion von Fakten sei auch die Konstruktion von Artefakten ein kontroverses Geschehen, das durch „rhethorical closure“ oder „closure by redefinition of the problem“ entschieden würde (Pinch und Bijker 1984, S. 425). Sofern Pinch und Bijker noch ganz in der sozialkonstruktivistischen Tradition standen, beschränkten sie ihre Überlegungen zunächst auf Diskurse. Sie ahnten aber bereits, dass weitere entscheidende Instanzen zu finden sein könnten: „We have looked at only two types of closure mechanism: others must be researched.“ (Pinch und Bijker 1984, S. 430) Es war dann Michel Callons „Sociology of Translation“ vorbehalten, den Blick zu öffnen, um weitere Schließungsmechanismen analysieren zu können. Callons Kritik am Sozialkonstruktivismus wies darauf hin, dass man die an den Kontroversen beteiligten Entitäten schlechterdings nicht vorab festlegen könne, vielmehr müsse man sich in dieser Frage agnostisch verhalten. Die Sozialkonstruktivistin­ nen verführen demgegenüber apriorisch: „They acknowledge the existence of a plurality of descriptions of Nature without establishing any priorities or hierar-

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chies between these descriptions. However […] these social scientists act as if this agnosticism towards natural science and technology were not applicable towards society as well. For them Nature is uncertain but Society is not.“ (Callon 1986, S. 197) Wenn in Kontroversen folglich alles unsicher wird – Natur genau wie Gesellschaft – dann können keine Klassen von Entitäten mehr im Voraus aus der dichten Beschreibung einer Kontroverse herausgehalten werden. Callon entwickelte dieses Argument weiter, und zeigte, dass sich durchaus auch die Beiträge einer nicht-menschlichen Entität (der Jakobsmuscheln) zur Schließung einer wissenschaftlichen Kontroverse in die Analyse integrieren lassen. Vom so begründeten Einbezug „nichtmenschlicher Aktanten“, die epistemisch auf Augenhöhe mit menschlicher agency behandelt werden (Sayes 2014), ist die ANT seither nicht mehr abgerückt; die sich darum rankenden Auseinandersetzungen zwischen Callon, Latour und Law einerseits, und Bloor, Collins und Yearly andererseits, haben die Science (and Technology) Studies stark geprägt. Und auch der Kontroversenfokus der ANT wurde durch Kritik aus dem eigenen (Law und Hassard 1999) oder benachbarten Lagern (Star 1991) weiter geschärft. Ungeachtet der Binnen-Diskrepanzen standen Kontroversen damit von Anfang an im Fokus der empirischen Wissenschaftsforschung und sind Dreh- und Angelpunkt einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Ansätze innerhalb der STS geblieben (Clarke 2012; Pinch und Leuenberger 2006; Sismondo 2004). Dabei wurde zunächst betont, dass Kontroversen über die Formung und den Status von Wissen entscheiden. Im Laufe der Zeit wurde diese Fokussierung dann zugunsten weiterer Dimensionen verbreitert. Hatte Callon (1986, S. 69) bereits angedeutet, dass während der Wissensgenese auch Akteurs-„Identitäten“ geformt würden, so arbeitete Latour (1996) heraus, dass auch der Status von Technik als Resultat soziotechnischer Kontroversen gelten müsse: Wissen, Menschen, Organismen, Technologien würden allesamt im Zuge von Kontroversen geformt. Dass dies für das Soziale ebenso gelte, war dabei früh angedacht (Callon 1981), wurde aber für die allgemeine Sozialtheorie und Soziologie vor allem in den 2000er Jahren konsequent ausbuchstabiert. Latours lehrbuchartiges Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft (2007) wirkt in der Rückschau wie eine Grundlegung des MoC-Ansatzes: der erste Teil des Buches ist überschrieben mit „Die Entfaltung von Kontroversen über die soziale Welt“, während der zweite Teil Assoziationen „wieder nachzeichenbar“ machen möchte. Das Konzept der Kontroverse wird damit zur Grundkategorie einer im Wesentlichen experimentell und explorativ verfahrenden Soziologie, der Sozialität oder Gesellschaft immer nur im Modus des Umkämpften, Umstrittenen, zu Stabilisierenden begegnet (Callon 1981, S. 45). Auf diese Weise unternehmen ANT wie MoC den Versuch, mit der Analyse von Kontroversen der Frage nachzugehen, wie die Welt sozio-materiell hervorge­ bracht wird. Welche Verlaufsform Kontroversen dabei annehmen, ist vorab nicht

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zu bestimmen; man kann sich nicht an einem prototypischen Verfahren orientieren, nur an lose definierten Start- und Endpunkten: „controversies begin when actors discover that they cannot ignore each other and controversies end when actors manage to work out a solid compromise to live together. Anything between these two extremes can be called a controversy.“5 (Venturini 2010, S. 261) Um die in diesem Sinne offenen Kontroversen nachzuzeichnen, greift das MoC die Kartographie als Leitkonzept auf und orientiert sich dabei an grundsätzlichen Einsichten der elaborierten, theoretischen Kartographie-Diskussion. Demnach besteht ein wesentlicher Zweck von Karten darin, Handlungskontexte zu repräsentieren – seien dies Orte auf der Welt, Geburtenraten im Zeitverlauf oder politische Grenzverläufe zu einem Zeitpunkt X. „Repräsentieren“ meint dabei aber nicht einfach widerspiegeln, sondern immer auch: verschieben und neu präsentieren. Damit eine Karte als „immutable mobile“ (Latour 1987) eingesetzt werden kann (das heißt: sie besitzt eine in Raum und Zeit stabile Form), muss sie sich von dem Inhalt des Kartographierten unterscheiden. Daten auszuwählen und darzustellen geht dabei jeweils auf komplexe Entscheidungsprozesse zurück; Karten wollen etwas sichtbar machen, nehmen eine Perspektive ein, enthalten aber zwangsläufig auch Entscheidungen darüber, anderes unsichtbar zu lassen und alternative Perspektiven zu vernachlässigen. Karten sind schlechterdings weder perfekt noch neutral (Wood und Fels 2008) und werden von Kartennutzerinnen kreativ gedeutet. Selbst wenn Karten also als „immutable mobiles“ konzipiert sind, werden sie jedes Mal anders eingesetzt: Karten sind Praktiken, wie die Geographinnen Kitchin und Dodge (2007) betonen. Beim MoC wird zunächst zwischen der Gestaltung einer Karte einerseits (mapping) und dem Bewegen und Hantieren in und mit der Karte andererseits (routing) unterschieden.6 Der Zwang zur Auswahl führt dazu, dass zu spezifischen Problemen in der Regel nicht eine Karte, sondern gleich ein ganzer Atlas mit unterschiedlichen Zugängen zum Thema angeboten wird. Hier muss man sich auf einen schwierigen Spagat einlassen. Einerseits will das MoC die Fabrikation des Sozialen durch die Akteure beleuchten, und dies kann unterschiedlichste Formen annehmen. Andererseits ist man gezwungen, relevantes Material und involvierte Akteure auszuwählen. Ohne Eingriffe geht es also nicht. Die Rolle der Forsche5 6

Hierbei ist der offene Widerstreit von Anfang an entscheidend: „The difficulty of controversy is not that actors disagree on answers, but that they cannot even agree on questions.“ (Venturini 2010, S. 262) „In cartography, routing is as important as mapping. CM [Controversy Mapping] is both the atlas and the finger pointing at it. Just like a good hotel concierge, we cannot just hand over a map to our audience: We have to give them some directions, indicate the attractions, suggest a couple of good restaurants, and in general provide some narration of the city.“ (Venturini et al. 2015, S. 83).

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rin wird damit verschoben – sie wird zur Kuratorin. Über den Begriff des Kuratierens integriert die Kontroversenkartographie explizit (als Rollenbeschreibung) wie auch implizit (über aktuelle Diskurse im Feld) Debatten der Kunst: Das Kurationskonzept verweist im Zusammenhang mit dem MoC darauf, dass Forscherinnen sorgfältig spezifische Werke auswählen und mit Bedacht arrangieren. Sie kümmern sich um ihre Werke, lassen sie für sich sprechen. Dem Kuratierten wird dabei Wertschätzung entgegengebracht (Balzer 2014). An diesem Punkt sollte deutlich werden, warum das MoC nicht zuletzt auch bewertungssoziologisch von hoher Relevanz ist. Denn während die kuratorische Praxis ihren Inhalten stets mit Wertschätzung begegnet, geht sie gleichzeitig mit dem Versuch einher, zunächst offen zu lassen, was genau repräsentiert wird und wie Wertschätzung überhaupt sinnvoll zum Tragen kommen soll. Von der Kunst ist dabei zu lernen, dass die Gestaltung und Versammlung sich im besten Fall als ein Prozess entfaltet, in dessen Zuge Dinge mit Hilfe anderer sichtbar gemacht werden. Mit dieser Bestimmung liegt das MoC ganz auf der Linie jüngerer Entwicklungen im Bereich künstlerischen Kuratierens, die sich als Erweiterung und Öffnung verstehen lassen. Kuratorinnen streben dabei verstärkt die Interaktion mit der Öffentlichkeit an, sehen sich gar als aktive Agenturen der Forschung und Bildung. In diesem Sinne ändert sich die gelebte Bewertungspraxis hin zu einem „educational“ beziehungsweise „pedagogical“ turn (O’Neill und Wilson 2010). Bezogen auf das MoC wirft all dies Folgefragen auf. Wenn Wissen, Technik, Menschen und Sozialität im Zuge von Kontroversen gebildet, verändert und neu gebildet werden und wenn kuratorisches Kartographieren diese Prozesse sichtbar und bewertbar macht: Für wen oder um was bemüht sich die Forschung hier ? Das MoC will Öffentlichkeiten ansprechen – wie es das tut, soll im Folgenden kurz dargestellt werden.

2.2 Mapping of Controversies als Beobachten und Herstellen von Öffentlichkeit Sofern sich MoC an der kuratorischen Praxis orientiert, zielt es auf das schwierige Unterfangen ab, „Dinge von Belang“ (matters of concern) auszuwählen und in ihrer Hybridität zu präsentieren, ohne dabei normative Entscheidungen über deren sozialen Status zu fällen (Latour 2007). In der Kontroverse sind die Dinge noch im Prozess der Formung. Da es hierbei mithin um die Formung von Gesellschaft geht, dürfte letztere ein grundständiges Interesse daran haben, an diesem Formgebungsgeschehen beteiligt zu werden (Marres 2017, S. 143 – ​173). Weil Fakten hingegen immer umstritten sind, zielt das MoC nicht auf eine „eindeutige Repräsentation objektiven Wissens“ ab. Viel mehr gilt es, Kontroversen über Streitsachen

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weiterzuentwickeln und die involvierten Akteure zu versammeln, um in der Zusammenarbeit etwas Neues zu entwerfen und zu institutionalisieren – wobei auch das Verhältnis von Expertinnen- und Erfahrungswissen neu verhandelt werden soll. Diese auf Demokratisierung abstellende Herangehensweise basiert auf pragmatistischen Grundüberlegungen, wie sie von John Dewey ausformuliert worden sind: „Indirekte, weitreichende, andauernde und schwerwiegende Folgen vereinten und interaktiven Verhaltens bringen eine Öffentlichkeit hervor, die ein gemeinsames Interesse an der Kontrolle dieser Folgen besitzt“ (Dewey 1996, S. 44). Die Herausforderung für solche Öffentlichkeiten sah Dewey Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem in ihrer praktischen Organisation: „Das wesentliche Erfordernis besteht […] in der Verbesserung der Methoden und Bedingungen des Debattierens, Diskutierens und Überzeugens. Das ist das Problem der Öffentlichkeit.“ (Dewey 1996, S. 173; H. i. O.) Dewey erkannte hier einen Handlungsdruck, der vor allem auch durch das „Maschinenzeitalter“ erzeugt würde. Das MoC zielt genau ins Zentrum dieses problemzentrierten Öffentlichkeitsverständnisses, wenn es die Art und Weise untersucht, wie Dinge als Problem hervortreten; und welche Instanzen sich mit ihren Problemdefinitionen durchsetzen, um schließlich Mittel und Zwecke zu definieren und Lösungen zu erarbeiten.7 Das MoC bemüht sich darum, den Öffentlichkeiten analytische Instrumente zur Verbesserung ihrer Selbst-Konstitution an die Hand zu geben. Zu diesem Zweck versucht es, die Logiken der Kontroversenkonstitution sichtbar zu machen: „it directs attention to precise moments in which issues are opened up for outside involvement, and attempts are made to move processes of issue formation beyond institutional settings.“ (Marres 2007, S. 772) Hier wird nun auch der große Unterschied zur eingangs als Abgrenzungsfolie eingeführten Computational Social Science deutlich: Anstatt durch eine positivistische Linse vermeintliche Erkenntnisse über das Soziale zu sammeln, um dieses dann effektiver engineeren zu können, geht es dem MoC um ein „representing society to society“ (Marres 2017, S. 160), das die Formungsprozesse nach wie vor bei den Akteuren selbst verortet. Und „bei den Akteuren selbst“ meint aktuell in zunehmendem Maße: in digitalen Umgebungen (Marres 2015, S. 677; Marres 2017). Die Untersuchung dort geführter Debatten kann dazu beitragen, herauszufinden, ob ein Thema überhaupt problematisiert wird – und wenn ja, von wem, wie und wo. Indem dieses Wissen über das Soziale im Sinne der doppelten Hermeneutik (Giddens 1992) in das Soziale rück7

In dieser Hinsicht spielt soziale Ungleichheit eine entscheidende Rolle: „Controversies decide and are decided by the distribution of power. Actors are not born equals in controversies: Arctic seals and political leaders were both concerned by the Bali climate conference, but the second were probably slightly more influential.“ (Venturini 2010, S. 262) Die Definition von Zwecken, die über konkrete Mittel erreicht werden (was im Fließtext angedeutet ist), steht wiederum im Zentrum der Theory of Valuation von John Dewey (1939).

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eingespeist wird, sollen Problem-Öffentlichkeiten dazu befähigt werden, bessere Strategien der Komplexitätsbewältigung zu entwickeln. Genau darin sehen einige MoC-Vertreterinnen das demokratisierende Potential dieses Ansatzes.8 Damit ist schon angedeutet, dass der Beitrag des MoC zur Ausbildung von problemzentrierten Öffentlichkeiten gerade nicht in der Einnahme einer kritischen Außenposition besteht; das Mapping bringt den Kontroversenbegriff vielmehr wissenschaftsimmanent als Antithese in Stellung. Anstatt in der Rolle einer Krisenwissenschaft (vgl. Bogusz 2018) zu agieren, und von einer virtuellen Außenposition aus Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen und ihren „Defiziten“ üben zu wollen, wird nach neuen Wegen gesucht, Wissen mit der Gesellschaft über die Gesellschaft für die Gesellschaft hervorzubringen. Die mehr oder weniger explizite Ablehnung des Krisen- und Kritikparadigmas des MoC (Latour 2004) kann dabei im deutschsprachigen Forschungsraum an ältere Debatten anschließen (Sewing 1983; Luhmann 1991). Man bewegt sich zudem im Fahrwasser einer „Soziologie der Kritik“, die in Deutschland ebenfalls aktuell viel rezipiert wird (Boltanski und Chiapello 2006; Vobruba 2017). Dem Mapping geht es im Anschluss an diese Debatten darum, eigene Kritikund Bewertungsschemata zurückzuhalten, um stattdessen den Kritikformen und Rechtfertigungsordnungen der sozialen Akteure selbst Raum und Sichtbarkeit zu verschaffen. Auf diese Weise soll die starke Trennung von (scheinbarem) Expertentum und (sogenanntem) Laienwissen aufgehoben werden. An die Stelle eines harten epistemischen Bruches zwischen soziologischer Wissenschaft und Alltagswissen treten graduelle Unterschiede, die die wissenschaftliche Expertise politisch entprivilegieren. Überlegenheitspositionen finden in der Kartographierung von Kontroversen höchstens in Form der Identifizierung und Markierung rhetorischer Strategien einen Platz. Dementsprechend ist die Rolle, die der Soziologie im Rahmen des MoC zufällt, eher die eines „öffentlichen Dienstleisters“. Man zeigt, dass Werte und Bewertungen auch durchaus anders gestaltet werden können (und werden) (Dussauge et al. 2015, S. 278). Als Zielgruppe gilt neben dem professionellen auch das öffentliche Publikum (Marres 2017; Burawoy 2005). Im Sinne einer „öffentlichen Soziologie“ versucht das MoC dementsprechend, Formen der Öffentlichkeitsgenese mit zu entwickeln, wenngleich sich MoC-Protago8 „According to several scholars working on politics with an ANT approach, the contemporary crisis of political representations is largely due to the difficulty of negotiating modern controversies within the existent public forums. Traditional institutions (such as parliaments, referendums, newspapers) may have difficulties in hosting technoscientific disputes, because they are not issue-specific and because they are incapable of handling enough heterogeneity. Based on heterogeneous observations and issues-centred representations, controversies-websites might become an interesting alternative setting for collective debate, thereby participating to the digital renewal of public sphere.“ (Venturini 2012, S. 814)

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nistinnen üblicherweise weniger auf das Feld der „Public Sociology“, als vielmehr in der Tradition der STS auf Fragen des „Public Understanding of Science“ (Beck 2013, S. 59) beziehen. Das Ziel ist aber das Gleiche: Der Öffentlichkeit soll dabei geholfen werden, auf der Suche nach Mitteln und Zwecken zur Behandlung eines Problems bessere Kompromisse zu finden.9 Öffentlichkeiten und ihre Probleme sollen demgemäß nicht nur deskriptiv erfasst werden, vielmehr soll ein Beitrag zur Hervorbringung von Öffentlichkeit geleistet werden. Das Kuratieren tritt damit an die Stelle des Kritisierens und die Rolle der Forscherin verschiebt sich dahingehend, dass sie nunmehr Vielstimmigkeit sichtbar machen will sowie Unsichtbarkeiten abbauen und Blockaden aus dem Weg räumen muss, die den Zugang zu einem Thema beschränken. Sofern die Ausgestaltung dieser Rolle jedoch grundsätzlich immer stark von den empirischen Konstellationen der jeweiligen Fälle abhängt, kann dies in ganz unterschiedlichen Forschungsdesigns resultieren. Ein Horizont an Möglichkeiten eröffnet sich auch dank des Internets – Interaktivität und Partizipation10 werden zu gestalterischen Elementen in der Erhebung, Visualisierung und Überarbeitung von Daten unterschiedlicher Art (Marres 2017, S. 144 ff.). Zusammenfassend transportieren die methodologischen Grundlagen des MoC damit zwei Versprechen: 1) Zum einen birgt es das Potential in sich, Kontroversen sichtbar, folglich analysierbar und schließlich auch (im kuratorischem Sinne) normativ bewertbar zu machen. Kontroversen werden dabei als Prozesse der Produktion von Gesellschaft (Wissen, Menschen, Technologien, Gruppen, Relationen) verstanden. 2) Zu diesem Zweck soll das MoC zum anderen auch in der Lage sein, problemzentrierte Öffentlichkeiten nicht nur zu beschreiben, sondern überdies einen Beitrag dazu zu leisten, dass diese Öffentlichkeiten hervorgebracht werden.

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Grundlagedieser Herangehensweise bildet Bruno Latours politische Philosophie, in der davon ausgegangen wird, dass niemand „die beste“ Lösung kennt, sondern diese immer nur provisorisch über Tests (trials) und Vermittlungen (mediation) erreicht werden kann (Harman 2014, S. 15, 30 f.). 10 Das MoC reflektiert dabei auch Ideen des „partizipativen Designs“ (Ehn 2008) und Erfahrungen mit dieser Gestaltungsform in der Informationstechnologie – z. B. bei öffentlichen „Hackathons“. In der Unternehmensberatung hat sich als übergeordneter Begriff für eine derartige Perspektivverschiebung hin zum kreativen Gestaltungsprozess das „Design Thinking“ durchgesetzt (zur „projektbasierten Polis“ darin, Seitz 2017). An dieser Stelle fehlt der Raum, die komplizierte internationale Geschichte all dieser Bewegungen mit dem MoC zu verweben.

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Wir werden im Folgenden zwei Projekte vorstellen, die von MoC-Vertreterinnen durchgeführt wurden; wir prüfen anhand dieser Beispiele, inwieweit die Versprechen der Methodologie in der Praxis eingelöst werden konnten.

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Methode: über das Wie der Kontroversenkartographie

Die grundlegende Methodologie der Kontroversenkartographie wurde in konkrete methodische Leitlinien übersetzt, mitsamt einem Katalog an Instrumenten, der laufend weiterentwickelt wird.11 Treibende Kräfte sind europaweit durch­geführte Forschungsprojekte und ihre spezifischen Fragestellungen einerseits sowie neue, in den Digital Humanities entwickelte und verbreitete Tools andererseits.12 Um einen Zugang zum Feld der Kontroversenkartographie zu eröffnen, stellen wir exemplarisch zwei Projekte vor, an denen die Potentiale und Schwierigkeiten des MoC gut zu identifizieren sind. In unsere Evaluation gehen eigene Erfahrungen mit der Kontroversenkartographie ein, die wir explorativ in laufenden Forschungsprojekten und in der Lehre gesammelt haben.13 Dabei geht es uns gerade nicht darum, das MoC wahlweise zu bejubeln oder zurückzuweisen, sondern um die Möglichkeit, die Methode konstruktiv auf Stärken und Schwächen abzuklopfen, um sie so für weitere Forschungsvorhaben fruchtbar zu machen. Was kann das MoC also leisten, auf welche Fallstricke ist zu achten ? Um hierauf zu antworten, beleuchten wir zuerst (Kap. 3.1) das Projekt „Mapping Controversies on Science for Politics“ (MACOSPOL), in dem KontroversenWebsites als mehrschichtige Informationsplattformen vorgestellt wurden, und im nächsten Schritt (3.2) dann das Projekt „Electronic Maps to Assist Public Science“ (EMAPS), in dem vor allem Kontroversen um den Klimawandel kartographiert wurden. Wir blicken auf diese Großprojekte, um neben der Methodenvielfalt auch die Spannbreite unterschiedlicher Interaktionsmodi vor Augen zu führen, die mit 11 Vergleichbare quantitative Instrumente wurden schon in den 1980er Jahren von Michel Callon et al. (1983), Callon et al. (1986) und Jagodzinski-Sigogneau et al. (1982) entwickelt. In diesen Analysen wurden meist wissenschaftliche Literaturkorpora aufgearbeitet (so etwa Verweisungsstrukturen). 12 Die Webseiten mappingcontroversies.net und emapsproject.com bieten eine Auswahl an Software, auf die zur Forschung – größtenteils kostenlos – zurückgegriffen werden kann. Die Amsterdamer Digital Methods Initiative (wiki.digitalmethods.net) gewährt ebenfalls Zugang zu einer Vielzahl an Tools. Als eine Vernetzungsplattform dient zudem das Public Data Lab (publicdatalab.org). 13 Diese Aussage bezieht sich in erster Linie auf Stefan Laser, der versch. MoC-Verfahren in seiner Dissertationsarbeit zum Thema Elektroschrott (explorativ: Laser 2016) sowie im Lehrforschungsprojekt „Kontroversen kartographieren“ eingesetzt hat (letzteres in Zusammenarbeit mit und unter Leitung von Jörn Lamla).

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dem MoC anvisiert werden können. Wir zeigen aber auch systematische Leerstellen auf, um so Hinweise für die eigene Adaption und Weiterentwicklung des MoC zu erhalten.

3.1 Kontroversen-Websites als öffentliche Versammlungsorte Das MACOSPOL ist laut Selbstbeschreibung „a joint research enterprise that gathers scholars in science, technology and society across Europe. Its goal was to devise a collaborative platform to help students, professionals and citizens in mapping out scientific and technical controversies.“ (MACOSPOL 2010) Dementsprechend ist der im Titel geführte Begriff „Politics“ in einem weiten Sinne zu verstehen. Normative Enthaltsamkeit ist Programm: „The navigation on the platform is organised so as to enable users to search these resources according to their own way of thinking and interests.“ (MACOSPOL 2010, H. v. SL/CO) Grundsätzlich wurde im Rahmen des MACOSPOL-Projektes eine Vielzahl methodischer Instrumente entwickelt und eingesetzt, die Ergebnisse wurden auf mehreren „Kontroversen-Websites“ veröffentlicht. Letztere sind ein entscheidender MoC-Baustein, der auch den meisten anderen Kartographie-Projekten als Grundlage dient.14 Die Kontroversenkartographie soll die Form eines Atlas annehmen und die Kontroversen-Website gilt dabei als dessen zeitgenössische Form. Venturini (2010, S. 804) unterscheidet zwischen neun Darstellungsebenen, die zur Gestaltung dieses digitalen Atlas genutzt werden können. Diese haben wir der Übersichtlichkeit wegen in drei Gruppen gegliedert: 1) Die erste Gruppe betrifft die Darstellung der Datengrundlage. Auf dieser Ebene kommen Glossare oder Dokumentenübersichten zum Einsatz (Venturini 2010). Die entsprechenden Karten präsentieren zunächst Akteure und Informationen, ohne dabei Konflikte in den Fokus zu rücken. Auf der Kontroversen-Web­site können diese Elemente auch multimedial eingeführt werden, um Zugangsbarrieren zur Auseinandersetzung mit der jeweiligen Kontroverse zu senken.15 14 Das Münchener MACOSPOL-Projekt „Risikokartographie“ – in dem Risiken etwa von Nahrungsergänzungsmitteln mit Argumentationslandkarten aufbereitet werden – ging dabei noch einen Schritt weiter. Es wurde eine Software entwickelt, die im Browser aufgerufen werden kann, wobei der gesamte Code speziell für diese Problemstellung geschrieben wurde. Das ist eine besonders aufwendige Methode, auf die wir hier nicht genauer eingehen (vgl. Beck und Kropp 2012). Siehe auch risk-cartography.org 15 Venturini (2012, S. 9) führt die Vorteile wie folgt aus: „Instead of describing in words the procedures of science, it is now possible to actually show them through simulations and multimedia, thereby overcoming the difficulties of specialized jargons.“ Und: „Thanks to dig-

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2) Zur zweiten Gruppe können Tools gezählt werden, die das Thema analysieren. Verfügbar sind etwa digitale Werkzeuge zur Untersuchung von wissenschaftlicher Expertinnenliteratur oder von medienöffentlichen Diskursen. Beides sind Strategien des tracing, das heißt des Nachverfolgens von Statements und Meinungen auf digitalen Plattformen. Dazu können im Idealfall (halb-)automatisierte Programme genutzt werden, etwa der „Issue Crawler“, der basierend auf Links Verweisungsstrukturen im Web rekonstruiert (s. u.), oder das „Actor Network Text Analysis“ (ANTA)-Tool, das semantische Netze analysiert. 3) Zur dritten Gruppe an Instrumenten zählen wir kreative Darstellungsformen, die aus interpretativen Rekonstruktionen hervorgehen. Diese Ebene behandelt die genealogische Darstellung von konkreten Meinungsverschiedenheiten. Visuell, so Venturini, können die Streitigkeiten etwa mit einem „tree of disagreement“ präsentiert werden, der die historische Entwicklung von und die Zusammenhänge zwischen konträren Positionen aufzeigt. Möglich ist auch, die unterschiedlichen Maßstäbe („scales“) innerhalb von Kontroversen darzustellen, womit auf Sub-Debatten und ihre Beziehung zueinander verwiesen wird. All diese Instrumente zielen darauf ab, eine Übersicht der Kontroverse zu liefern, und selbst wenn die methodologischen Grundlagen dieser Werkzeuge konzeptionell klar strukturiert sind, stellt ihre Anwendung bereits einen deutlichen, von Vorannahmen geprägten Eingriff in das Material dar. Das gilt erst recht für Darstellungsformen, die ausdrücklich mit Akteur-Netzwerk-theoretischen Prämissen hantieren, wie etwa das „Akteur-Netzwerk-Diagramm“, durch das die feinen Netze starker Akteure transparent gemacht werden sollen, oder die „Table of Cosmoses“, die im Sinne einer Diskursanalyse unterschiedliche Interpretationsschemata nebeneinanderstellt, die den Zugang zu einer Kontroverse vorformatieren. An der französischen Hochschule Sciences-Po, von der aus das MACOSPOLProjekt geleitet wurde, sind unterschiedliche empirische MoC-Projekte dokumentiert, die vornehmlich in Lehrforschungsprojekten angelegt wurden. Die hier in drei Gruppen präsentierten Darstellungs- und Analyseformen wurden in den Projekten in jeweils spezifischer Art und Weise miteinander kombiniert. Dabei zielen die meisten der verwendeten Instrumente darauf ab, digitale Daten zu verarbeiten oder auszuwerten. Mit Hilfe der Issue Crawler-Software wird etwa eine Karte der Stakeholder angelegt, die in einer Kontroverse involviert sind: „Enter URLs of organizations working in an issue area, and an issue network is returned in the form of a relational map“, so die MACOSPOL-Beschreibung dieses Tools. Das Resultat sieht dann beispielsweise so aus (Abb. 1): ital environments it is now possible to publish not only the results, but each and every step of an investigation, encouraging the reuse of data and research techniques.“

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Abbildung 1  Beispiel eines Issue Crawler-Resultats. Eigener Screenshot von: https:// web.archive.org/web/20150316053427/http://www.mappingcontroversies.net:80/Home/ PlatformDetectingStakeholders

Diese Karte liefert eine Übersicht über die Akteure, die in einer Kontroverse um die Wiederansiedlung des Braunbärs in der norditalienischen Trentino Region involviert waren. Untersucht wurde also ein geographisch recht gut eingrenzbarer Fall und das Mapping wurde im Rahmen von dessen Untersuchung unter anderem dazu genutzt, die Orte der Kontroverse zu identifizieren und sichtbar zu machen. Um die Karte zu generieren, wurde mithilfe des Issue Crawlers eine sogenannte „Co-Link-Analysis“ durchgeführt: „Seed URLs“ wurden als Startpunkte angegeben, woraufhin der Crawler dann URLs darstellte, die zumindest zwei Links zur Startpunkt-URL unterhielten. Auf diese Weise erhält man einen Überblick, der auf Verlinkungsintensität beruht und die in der Kontroverse involvierten Stakeholder sichtbar macht, das heißt zumindest diejenigen, die sich im Web an der Kontroverse beteiligten. Der Nutzen einer solchen Übersicht wird unmittelbar deutlich: Man erhält Hinweise nicht nur darauf, wer überhaupt an der Kontro­ verse teilnimmt, sondern gegebenenfalls auch auf deren Gewicht (gemessen am Kriterium der Verlinkungsintensität der Website eines Akteurs).

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Genau hier tauchen aber auch mögliche Problemquellen auf.16 Zunächst stellt sich die Frage nach der Kontrolle des Analyseinstrumentes: Wie genau funktioniert der Issue Crawler ? Um ihn gezielt einsetzen zu können, muss ein Mindestmaß an Verständnis vorhanden sein, sollen keine Artefakte produziert werden. Dies erfordert ein ansehnliches Maß an interdisziplinären Fähigkeiten – und damit mehr statt weniger Methodenskills. Doch selbst wenn hinreichende Kon­trolle über das eingesetzte Instrument besteht, entbindet dies die Forschenden keineswegs von der Notwendigkeit, das Resultat der Datenanalyse zu interpretieren. Denn was genau bedeutet es, dass hier bestimmte Stakeholder auftauchen ? Wofür steht etwa Verlinkungsintensität – spiegelt sich darin der Einfluss eines Stake­ holders in der Kontroverse wider oder das genaue Gegenteil (viele Links zu einer Seite aufgrund kollektiver Ablehnung des Akteurs) ? Was sind die Gründe dafür, dass die Stakeholder-Konstellation genauso aussieht, wie sie aussieht ? Liegen vielleicht technische Gründe für die Entstehung bestimmter Muster vor (die sogenannte Eigenlogik des Webs), die gar nichts mit dem Verlaufspfad der Kontroverse zu tun haben ? Die genannten Probleme führen nicht dazu, dass man den Einsatz der Instrumente grundsätzlich ablehnen muss, die im Kontext von MACOSPOL entwickelt wurden. Sie verweisen aber auf die Notwendigkeit, eine gewisse Vorsicht walten zu lassen. Zudem scheint es sinnvoll, stets über isolierte Plattformen hinauszugehen, wenn man Kontroversen erforschen will. Nur so ist zu gewährleisten, dass auch tatsächlich die interessierende Kontroverse in den Blick kommt, und nicht etwa die Strukturierung der fraglichen Kontroverse durch die infrastrukturelle Eigenlogik einer bestimmten Plattform.17 Deshalb scheint es uns auch angebracht, 16 Ein Problem, auf das wir hier nicht im Detail eingehen, aber auch nicht unerwähnt lassen wollen, stellt sich durch die die Nutzung von Daten privatökonomisch verfasster Plattformen. Hier stellen sich zahlreiche Fragen etwa hinsichtlich der Zugänglichkeit, Güte und Vorstrukturierung der Daten (Marres 2017, S. 118 – ​123; Lupton 2014, S. 65). 17 Marres (2017, S. 116 – ​142) widmet der Problematik ein ganzes Kapitel unter der treffenden Überschrift „Are we researching society or technology ?“ und kommt dabei zu dem Schluss: „we must not answer it too soon. Instead of assuming a stable object of analysis, the qualification of the empirical object must become part of the objective of research.“ (Marres 2017, S. 142) Schließt man sich dieser Sichtweise an, so kann es dem Forschungsprozess selbst überlassen bleiben, ob dieser bspw. im Rahmen einer Analyse von Tweets auf Twitter Erkenntnisse über eine gesellschaftliche Kontroverse X zutage fördert, oder doch eher über technologisch induzierte Kontroversendynamiken auf Twitter. Allerdings dürfte eine solche Offenheit eher für die Infrastruktur- und Plattformforschung (vgl. Plantin et al. 2018) eine befriedigendere Herangehensweise darstellen, als für die Sozialforschung als solche. All jene Unternehmungen, die eine bestimmte gesellschaftliche Kontroverse selbst in den Blick bekommen möchten, sind gut beraten, technologische Eigenstrukturen zu berücksichtigen, um gerade dadurch keine durch Plattformperspektiven verengte Sichtweise auf die untersuchte Kontroverse einzunehmen.

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eine gezielte Triangulation der Datenanalyse mit etablierten soziologischen Methoden anzustreben. Dazu kann dann, in Abhängigkeit von der jeweiligen Frage­ stellung, sowohl das Betreiben von (N)ethnographie (Hine 2000, 2015; Kozinets 2009), wie auch die ganz klassische Durchführung von Interviews zählen – it depends. Aber dass man am Einbezug der Analyse digitaler Daten in qualitativen Forschungsprojekten mitunter kaum noch vorbeikommt, bedeutet keineswegs, dass nun umgekehrt ein einseitiger Fokus auf solche Daten angemessen wäre (einer solchen Reduktion redet allerdings auch niemand im MoC-Umfeld das Wort, soweit wir es erkennen können). Orientierung bietet in dieser Hinsicht nach wie vor Christine Hine, die schon in früheren Arbeiten für eine „ethnography in, of and through the virtual“ plädierte (Hine 2000, S. 65). Hine streicht ausdrücklich die Vorzüge von Erhebungsmethoden, wie dem MoC, heraus (Hine 2000, S. 15); gleichzeitig weist sie aber auch auf die in der Forschung zu berücksichtigende Einbettung des Internet in Alltagssozialität hin. Damit haben wir nun einige Hinweise eingesammelt, wie das erste benannte Versprechen der Kontroversenkartographie eingelöst werden kann: Kontroversen können dann sichtbar und analysierbar gemacht werden, wenn große Sorgfalt auf die Erhebung und Auswertung der Daten angewendet wird und wenn die so erzeugten Resultate mit anderen Datentypen trianguliert werden. Wie aber sieht es mit der normativen Bewertbarkeit kontroverser Ge­sellschaftsproduktionsprozesse aus ? Um zur Behandlung dieses zweiten Versprechens überzugehen, richten wir als nächstes den Blick auf eine weitere, im Rahmen von MACOSPOL durchgeführte Untersuchung – eine Kontroversen-Website zur „Abortion Controversy“, die in einem (studentischen) Projekt der Aalborg-Universität erstellt wurde (Abb. 2). Die Karte zeigt exemplarisch den Narrationsbereich der Website („Investigate the Stories“), in dem der Fokus auf der kreativen Beschreibung der Kontroverse gelegt wurde. Wer durch die weiteren Elemente des Atlas navigiert, findet darüber hinaus eine ganze Menge an Informationen zur Formierung von involvierten Gruppen (Sozialität), zur Produktion von konkurrierenden Wissensformen (Episteme), zur Entwicklung der abtreibungsspezifischen Rechtsprechung (Normativität), vorgebrachten Argumenten (Politik) und so weiter. Im Wortsinn behandelt die Website die Reproduktion menschlicher Organismen und den Einsatz von (Abtreibungs-)Technologie. Das Material dokumentiert damit aber tatsächlich in anschaulicher Weise die Reproduktion von Gesellschaft im Zuge von Kontro­ versen. Aber dennoch: Obwohl die Ästhetik der Website als ansprechend gelten kann, zogen die im Gesamtprojekt involvierten Mitarbeiterinnen ein selbstkritisches Fazit (Venturini 2015). Während viele der erarbeiteten Karten zwar schön anzusehen seien und aus Sicht der Gestalterinnen überzeugten, erwies es sich als schwierig, potentielle Nutzerinnen zu interessieren: Die MACOSPOL-Kartogra­ phien erhielten nur wenig öffentliche Resonanz. Ein Atlas, wie etwa der zur

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Abbildung 2  Ausschnitte: „Abortion: the Controversy“. Eigener Screenshot. Siehe auch Andersen et al. 2013

„Abortion Controversy“, präsentiert zwar äußerst vielfältige und komplexe Inhalte, jedoch scheint hier die Gefahr gerade darin zu bestehen, sich im Material zu verlieren – insbesondere ohne Vorwissen. Wenn aber die Bildung von ProblemÖffentlichkeiten misslingt, dann kann es kaum zur normativen Bewertung der verhandelten Streitfälle durch diese Öffentlichkeiten kommen. Dieses Öffentlichkeitsdefizit wurde in Folgeprojekten reflektiert.

3.2 Den Klimawandel kuratieren Zu welchen Resultaten die angeführte Reflexion führte, soll nun anhand des zweiten großen Projektverbundes erörtert werden: EMAPS. Um das weiter oben herausgearbeitete Versprechen des MoC-Ansatzes einzulösen, einen analytischen Beitrag auch zur Ausbildung problemzentrierter Öffentlichkeiten zu leisten, behandelte dieses Projekt zum einen stärker die Auseinandersetzung mit involvierten Akteuren und zum anderen eine narrative Begleitung der Kontroversen. Gut

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deutlich werden diese Bemühungen an einem der vorstechenden Outputs dieses Projektes, Climaps.eu. Diese Website ist ein aufwendig aufbereiteter Issue Atlas, der den weltweiten Umgang mit dem Klimawandel und einige der damit ein­hergehenden zentralen Konflikte aufgreift. So wird beispielsweise die Frage behandelt, welche Länder Anspruchsberechtigung zu finanzieller Unterstützungen beim Umgang mit dem Klimawandel haben (sollen) (sog. vulnerability assessment bzw. priorities of adaptation funding). Die Ergebnisse des Atlas sind in dreierlei Form festgehalten. Dazu zählen erstens Issue Maps, die an die oben beschriebenen MACOSPOL-Instrumente anknüpfen. Hinzu kommen zweitens Issue Stories, in die die Karten an strategischen Stellen integriert werden. Begleitend wurde drittens ein „Summary for Policymakers“ angeboten, die auf zwei Seiten die wichtigsten Methoden und Erkenntnisse zusammenfasst. Bevor wir vertiefend auf einige dieser kuratorischen Elemente eingehen, beleuchten wir zunächst die übergeordnete Projekt-Strategie der direkten Einbindung von Akteuren, die selbst in die Kontroverse involviert waren (bzw. sind). Aufgrund der Probleme mit der Zielgruppenansprache in den MACOSPOLProjekten wurden bei EMAPS potentielle Nutzerinnen früh in den Prozess der Gestaltung einbezogen. Mit Blick auf die von den Forscherinnen aus­gewählte Kontroverse um den Klimawandel wurden bestimmte Expertinnen als Nutzerinnen ausgewählt, um mit diesen dann im Rahmen mehrerer Workshops (sog. „Sprints“18) die Kontroverse gemeinsam zu kartographieren. Den Anfang machten hierbei jeweils Problembeschreibungen der Expertinnen, dann arbeitete man sich in Gruppen an Thesen und passendem Material ab. Auch der finale gestalterische Schliff erfolgte im Anschluss an die und in Absprache mit den Teilnehmerinnen. Die Kontroversenkartographie wurde auf diese Weise in die Expertinnenkultur der ausgewählten Expertinnen eingebettet. Diese Einbettung wurde nun zusätzlich mit einer (im Vergleich zu MACOSPOL) neuen Erzählform kombiniert, die zweite zentrale Neuerung dieses Projektes. Der 18 Der Begriff des Sprints spielt in der „agilen Softwareentwicklung“ eine herausragende Rolle, insbesondere in auf Flexibilität und Kundeeinbezug setzenden Methoden wie z. B. dem Scrum. Er wird zudem im „Design Thinking“ und IT-Produktionsmanagement verwendet. Üblicherweise werden Gestaltungsprozesse in diesen Bereichen in unterschiedliche Phasen und Gruppenarbeitsmomente eingeteilt. Auf der climaps.eu-Website (2015) ist der Ablauf wie folgt beschrieben: (1) die Organisatorinnen wählen ein Oberthema (Klimawandel), (2) die Organisatorinnen bereiten eine Auswahl an unterschiedlichen Datenbanken vor, auf die zurückgegriffen werden kann, (3) der Sprint beginnt, circa 30 – ​40 Personen sind anwesend, (3.1) Expertinnen präsentieren ihre Sicht auf zentrale Kontroversen, (3.2) die Teilnehmerinnen teilen sich in Gruppen auf, die zwei Tage isoliert an einer ausgewählten Kontroverse arbeiten, basierend auf den Expertinneninputs, (3.3) die Gruppen stellen ihre jeweiligen Ergebnisse/Ideen vor, (4) die Daten und Karten werden ausgearbeitet und aufbereitet. Für eine detaillierte Erörterung der Sprints vgl. auch Venturini et al. (i. E.).

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Einbezug von Issue Stories bedeutete, dass die MoC-Kartographinnen bei climaps. eu stärker die interpretativ-narrative Rahmung der Kartenpräsentation berücksichtigten. Die Nutzerinnen konnten in vorherigen Projekten bisweilen nur schwer an die Ergebnisse des Mappings andocken; hier sollte nun über eine ansprechende Erzählung mehr Bedeutungsgehalt transportiert werden. Um diese Strategie beispielhaft vorzuführen, werfen wir einen kurzen Blick darauf, wie die oben bereits erwähnte Problemstellung der finanziellen Anspruchsberechtigung („Who deserves to be funded ?“) im Projekt bearbeitet wurde. Als Auftakt der Funding-Issue Story führen die Autorinnen den Begriff der Schadenanfälligkeit (vulnerability) ein, der in der finanziellen Debatte über den Klimawandel von zentraler Bedeutung sei. Dem innerhalb der Kontroverse vorfindlichen Kalkül zufolge gilt: Je höher die Anfälligkeit eines Gebiets, desto mehr Ansprüche auf Förderungsmittel sind legitim. Wie aber soll die fragliche Anfälligkeit international vergleichend bestimmt und bemessen, wie sollen einzelne Länder hinsichtlich ihrer Schadensanfälligkeit bewertet werden ? Wie genau man vulnerability misst, ist der Aufhänger einer globalen Kontroverse, die die Autorinnen in der Issue Story nachzeichnen. Dabei wird die Unübersichtlichkeit der Situation erkennbar: In der Kontroverse werden mehrere Indizes und teils stark abweichende Bewertungsregister in Anschlag gebracht, um das Instrument zu hinterfragen: „A serious challenge following from the rise of adaptation and its inherent complexity is the question of how to develop robust and credible indicators and criteria for measuring vulnerability.“ Die Autorinnen zeigen auf, wie stark die Bewertungen auseinandergehen können: „What we see is not only that very few countries (7 in total) are among the most vulnerable according to all three indices“, so ein Fazit. „Even more interesting is the fact that quite a few countries (25) are simultaneously assessed to be most vulnerable and least vulnerable according to different indices.“ (Climaps 2015) Die Issue Story führt das Problem der normativen Bewertung vor Augen, und macht die Bewertungskriterien ihrerseits für eine problemzentrierte Öffentlichkeit bewertbar. Der Vergleich entfaltet hier seine bewertungssoziologischen Stärken, im Sinne von Dussage et al.: „[i]t […] challenges the idea that certain values are ingrained in the very nature of the setting investigated.“ (2015, S. 274) Die Werte werden auch mit Hilfe interaktiv gestalteter Diagramme transparent gemacht; die Darstellungen ermöglichen es, dass komplexe Thema an konkreten Beispielen zu fassen und gezielt Bewertungsregister offenzulegen, die ansonsten intransparent blieben (vgl. beispielhaft Abb. 3): „One pragmatic way of exploring these difficulties is to triangulate some of the most commonly used vulnerability indices to see how they agree or disagree in their assessment of different countries.“ (Climaps 2015) Experimentiert wird auch mit neuen digitalen Darstellungsmethoden. So wird ein spielerischer Umgang mit dem Fall angeregt. Interaktive Karten lassen

Diese Darstellung vergleicht das Ranking von Ländern basierend auf vier unterschiedlichen Indizes und korreliert es mit den erhaltenen Unterstützungsleistungen (abgebildet durch die mehr oder weniger starken Balken). Beispielhaft ist hier der Jemen ausgewählt, der in den konkurrierenden Indizes teils deutlich unterschiedlich evaluiert wird. (Auf diesem Screenshot ist die Position des Jemen in den vier unterschiedlichen Spalten extra mit einem Stern markiert, da die Balken des Originals auf dieser gedruckten Seitengröße ansonsten etwas untergehen.) Eigener Screenshot von: http://climaps.eu/#!/narrative/who-deserves-to-be-funded

Abbildung 3  „Multilateral adaptation funding and vulnerability indices – matrix“

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die Möglichkeit offen, in das Thema herein beziehungsweise heraus zu „zoomen“, womit der perspektivische Maßstab von den Nutzerinnen selbst bestimmt werden kann (Versenkung in Details vs. grobe Übersicht). Die Methode des Sprint soll in diesem Rahmen ein höheres Maß an Zielgruppenadäquatheit gewährleisten, während die spielerische Erzählform der Issue Story problemzentrierte Öffentlichkeiten durch stärkere affektive Involvierung hervorzurufen versucht. Beides zusammen genommen soll die Wahrscheinlichkeit der Ausbildung solcher Öffentlichkeiten erhöhen. Indessen erweist sich auch dieses Vorgehen als nicht gänzlich unproblematisch. Nicht nur gestaltet sich die Durchführung von Projekten aufgrund der erforderlich werdenden Workshops wesentlich aufwändiger – und ein derart hoher Aufwand kann sicherlich nur von sehr wenigen, ausgesprochen ressourcenstarken Institutionen getrieben werden; sondern darüber hinaus zeigt sich hier auch ein spezifischer trade-off der MoCPraxis, der die oben theoretisch herausgearbeiteten Ziele der Kontroversenkartographie ganz grundsätzlich zu charakterisieren scheint: Die Sprints helfen zwar dabei, die Forschung und ihre Ergebnisse genauer auf spezifische Zielgruppen und ihre Belange hin zuzuschneiden, sie bleibt diesen aber gerade dadurch auch besonders stark verhaftet. Die Expertinnen werden selektiv einbezogen, kontrolliert durch die Forscherinnen einerseits und eine öffentliche Akzeptanz der Expertinnen als Expertinnen andererseits. Dadurch werden neue Erkenntnisse über den wissenschaftsimmanenten Diskurs zum Thema des Klimawandels gesammelt, im wissenschaftsinternen Diskurs der Sozialwissenschaften (Venturini, Baya et al. 2014). Aber konterkariert diese Auswahl nicht gerade die demokratische Öffnung des Issues für eine größere Problemöffentlichkeit, bestehend auch aus denjenigen, die von den fraglichen Problemlagen des Klimawandels zwar betroffen sind, üblicherweise aber eben nicht als Expertinnen gelten (die „community of the affected“, Marres 2012) ? Inwieweit entfernt sich die Forschung damit von dem Ziel, problemzentrierte Öffentlichkeiten inklusive bislang unterrepräsentierter Stimmen hervorzubringen ? Die Probleme, die hier sichtbar werden, erwachsen keineswegs aus Nachlässigkeiten oder blinden Flecken der MoC-Community. Ganz im Gegenteil herrscht durchaus ein Bewusstsein für die skizzierten methodischen, methodologischen und politischen Schwierigkeiten (Venturini 2015; Marres 2017). Das Grundproblem liegt offenbar in einem unauflösbaren Zielkonflikt. Die Schwierigkeit besteht darin, dass ■■ einerseits versucht wird, Kontroversen-Mapping effektiv, anschaulich und auf nutzbare Weise zu betreiben („Expertinnenfokus“). Das führt zu einer Engführung des anvisierten Publikums (dazu: Betonung der analytischen Ele­mente der Kartographie);

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■■ andererseits versucht wird, Betroffene ohne Stimme einzubeziehen („Laien­ fokus“). Das führt zu einer Öffnung des anvisierten Publikums (dazu: Betonung der offen-kuratorischen Elemente der Kartographie). Gelungenes MoC bewegt sich geschickt im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen, ohne dabei in eines der beiden Extreme „hineinzurutschen“. Zusammengefasst lässt sich somit feststellen, dass das große Potential des MoC wohl am besten zu realisieren ist, wenn erstens die Forschungsresultate des MoC mit flankierenden soziologischen Forschungsmethoden trianguliert werden; und wenn zweitens der soeben beschriebene Zielkonflikt berücksichtigt und fallabhängig gehandhabt wird.

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Fazit

Während die Ansicht zum Gemeinplatz geworden ist, dass Daten in der digitalen Gesellschaft zum „new oil“, zur umkämpften Ressource schlechthin werden, scheint es alles andere als klar, ob und inwieweit die zugrundeliegenden soziotechnischen Transformationen in ein goldenes Zeitalter digitaler Sozialforschung führen. Gegen die eingangs des Textes eingeführte, zum Teil positivistische Euphorie scheinen die Soziologie und verwandte Sozialwissenschaften gut beraten, den methodischen Zweifel in bekannter pragmatistischer Manier aufrechtzuerhalten – das heißt: als wirklichen und lebendigen Zweifel (Peirce 1967), an dem sich die Forschung systematisch abarbeitet. Wissen über das Soziale zu erzeugen bedeutet immer auch, an der Ausbildung des Sozialen mitzuwirken. Das In-Rechnung-Stellen der Unsicherheit des Digitalen stellt eine Strategie dar, den Bau des Sozialen für Interventionen offen zu halten, und zwar (mitunter) gegen die positivistische Wissens- und Sozialitätsproduktion. Die Kontroversenkartografie ist eine vielversprechende Möglichkeit, die Unsicherheit des Digitalen produktiv zu wenden, um die eigene Forschung zu erweitern und zur Bildung von Öffentlichkeiten beizutragen. Der vorliegende Beitrag sollte nicht nur dieses Potential vor Augen führen, sondern auch deutlich machen, unter welchen Bedingungen diese Versprechen des MoC zu realisieren sind. Dabei sollte klar geworden sein, dass das Mapping auch als ein bewertungssoziologisches Instrument verstanden werden kann. Seine Stärke besteht darin, mitunter schwer zu fassende Kontroversen so auszuleuchten, dass sowohl Forschung als auch Öffentlichkeit zu Bewertungen kommen können – selbst wenn Kontroversen kompliziert verwickelt sind. Die Kontroversenkartographie ist eine Forschungsstrategie, die im Geiste der „Soziologie der Kritik“ eigene Urteile hinten anstellt, um anderen das Urteilen möglich zu machen. Sofern bewertungssoziologische

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Arbeiten beziehungsweise die „Valuation Studies“ das Ziel verfolgen, Bewertungen und ihre Konsequenzen diskutierbar zu machen (Doganova et al. 2014), bietet das MoC auch für diese Forschungsrichtung vielfältige Anknüpfungspunkte. Wo diese Anknüpfungspunkte genau liegen, wird bis auf weiteres jedes Forschungsprojekt immer wieder neu für sich beantworten müssen. Der digital induzierten Fluidität des Sozialen und dem extrem hohen Innovationstempo im soziodigitalen Bereich kann gegenwärtig wohl nur mit einer grundständig experimentellen Haltung begegnet werden, und gerade hierbei kann das MoC als fruchtbare Ressource innovativer Forschungsbemühungen zum Zuge kommen. Ähnliches gilt indessen auch für die Lehre, wo das MoC neue Interaktionsformen und Erfahrungsräume zu eröffnen verspricht, wie nicht zuletzt die oben präsentierten MACOSPOL-Projekte anschaulich machen. Eine experimentierfreudige Haltung einzunehmen, ist dabei gerade nicht mit methodischer und methodologischer Beliebigkeit zu verwechseln. Wie wir im vorliegenden Beitrag zu zeigen versucht haben, bringt der Einsatz von MoC-Instrumenten für die Forschenden nicht nur hohe Reflexions- und Kompetenzanforderungen mit sich; er führt eben auch gerade nicht zum Verwerfen etablierter soziologischer Methoden und Methodologien. Das notwendige Triangulieren zwingt Forschende vielmehr dazu, genau die Anschlussstellen zu identifizieren, an denen MoC-Instrumente mit hergebrachten oder alternativen Methodenangebote zu kombinieren sind. Das Engagement für die Ausbildung problemzentrierter Öffentlichkeiten macht es zudem erforderlich, dass Forschende Rechenschaft ablegen sowohl hinsichtlich der anvisierten Publika als auch ihrer eigenen Positionierung und Rolle in den soziotechnischen Konstellationen digitaler Gesellschaften. Die Kompetenzanforderungen steigen somit beträchtlich und zwar nicht nur hinsichtlich neuartiger, quasi-informatischer Anforderungsprofile, sondern auch in mindestens zwei weiteren Hinsichten: in Bezug auf die Fähigkeit, hergebrachte Methoden und Methodologien der Sozialwissenschaften gewinnbringend mit diesen neuartigen MoC-Verfahren zu verknüpfen; und in professionsethischer Hinsicht, mit Blick auf die Reflexion der unvermeidbaren eigenen Positionierung von Forschungsunternehmen im öffentlichen Kontroversengeschehen. Wir scheinen in diesem Sinne also durchaus in einem „golden age for (social) research“ zu leben – anders, als die Positivistinnen des digitalen Zeitalters zuweilen glauben machen, ist das Forschen darin jedoch schwieriger, statt einfacher geworden.

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Recommender Systems in der populären Musik Kritik und Gestaltungsoptionen Jonathan Kropf

Zusammenfassung  

Der vorliegende Beitrag ist einem bisher vernachlässigten Themenbereich gewidmet: Digitalen Bewertungspraktiken im Bereich populärer Musik, insbe­ sondere mit Blick auf algorithmische Empfehlungssysteme (bzw. „Recommender Systems“). Nach einer Einführung in das Thema wird zunächst der kritische Diskurs über die Konsequenzen einer zunehmenden Verbreitung von Recommender Systems rekonstruiert. Davon ausgehend, dass sich in Empfehlungssysteme sehr verschiedene Wissensformen, Werte oder Klassifikationsprinzipien einschreiben lassen, diskutiert der zweite Teil des Aufsatzes Gestaltungsoptionen, die auf zwei Ebenen ansetzen: Die erste Ebene beschäftigt sich mit der Frage, wer im Kurationsprozess als verantwortliche Instanz adressiert wird, die zweite Ebene bezieht sich auf unterschiedliche Logiken der Klassifikation. Anstatt selbst Kritik zu üben, versucht der Beitrag damit einen Diskursraum für weitere kritische Debatten zu erschließen. Schlagwörter  

Empfehlungssysteme, populäre Musik, Musikstreaming, Kritik, Digitalisierung, Gestaltung

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Kropf und S. Laser (Hrsg.), Digitale Bewertungspraktiken, Soziologie des Wertens und Bewertens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21165-3_6

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Einleitung

In den popular music studies gibt es eine lange Tradition der Erforschung von Bewertungs- und Klassifikationsprozessen. Dieser Forschungsstrang drängt sich nicht zuletzt aufgrund der inneren Dynamik des Gegenstands auf. So stellt der Musiksoziologe Simon Frith (1998, S. 16) beispielsweise mit Blick auf populäre Musik fest: „[T]he essence of popular cultural practice is making judgments and assessing differences.“ Studien zu Bewertungs- und Klassifikationsprozessen im Bereich populärer Musik widmen sich unter anderem der Rolle von Musikzeitschriften (Doehring 2011) und -preisen (Anand und Watson 2006) bei der Bewertung von Musik, Fragen der populären Ästhetik (Appen 2007) oder Genre-Einteilungen (Lena 2012; Peterson und Lena 2008), um nur einige Themenbereiche zu nennen. Dabei fällt jedoch auf, wie wenig Aufmerksamkeit digitale Bewertungspraktiken hier erfahren. Vor dem Hintergrund neuerer Studien zum Umgang mit Musik wiegt diese Feststellung umso schwerer: ■■ Der Nielsen-Studie „Music 360“ aus dem Jahr 2016 zufolge haben 80 Prozent der Musikhörer in den letzten 12 Monaten einen „online music service“ genutzt (streaming music, video und live broadcast radio).1 ■■ In der (repräsentativen) Studie „Jugend, Information, (Multi-)Media“ aus dem Jahr 2015 (JIM-Studie 2015) des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest (mpfs) wurde unter anderem abgefragt, welche Medien Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren nutzen, um sich über Musik zu informieren. Dabei liegt das Internet mit 64 Prozent klar an erster Stelle, gefolgt vom Radio (17 %) und Fernsehen (10 %). Zeitschriften landen mit nur zwei Prozent weit abgeschlagen auf dem letzten Platz (Feierabend et al. 2015, S. 18). ■■ Bereits in der 2010 im Rahmen des „Medienkonvergenz Monitorings“ der Universität Leipzig durchgeführten Studie „Klangraum Internet“ gaben drei Viertel der befragten Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren an, YouTube als Informationsquelle über neue Musik zu nutzen. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch die Empfehlungen ‚ähnlicher‘ Videos durch YouTube (Jünger 2012, S. 23). David Beer (2013) bemerkt, dass die Vernachlässigung digitaler Infrastrukturen bei der Betrachtung populär-musikalischer Bewertungsformen deshalb besonders bemerkenswert ist, da in den letzten Jahren unter dem Stichwort der „cultural

1 http://www.nielsen.com/us/en/insights/reports/2016/music-360-2016-highlights.html. Zugegriffen: 08. Mai 2017

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omnivorousness“ ein verstärktes Interesse an neuen Mustern der Distinktion qua Musikgeschmack aufgekommen ist:2 „Despite this interest, virtually no attention has been given to how cultural infrastructures and emergent media forms might be shaping, guiding and reshaping these apparently important cultural tastes and preferences. As a result we might be missing an important dimension from such analysis of the social ordering powers of culture. […] This is not to say that social class and personal networks do not shape taste anymore, but that ultimately we may find in new media infrastructures powerful forces that implicate the direction of cultural tastes.“ (Beer 2013, S. 91)3

Der vorliegende Beitrag versucht einige Grundlagen für die Analyse solcher Infrastrukturen zusammenzutragen. Dafür werden im ersten Schritt die Charakteristika der gegenwärtigen digitalen Bewertungslandschaft im Bereich populärer Musik herausgearbeitet. Der Schwerpunkt liegt dabei auf algorithmischen Empfehlungssystemen (oder Recommender Systems) und dem kritischen Diskurs, der sich um sie herum gebildet hat. Das Ziel dieser Ausführungen besteht zum einen darin, eine Einführung in dieses bisher vernachlässigte Themengebiet zu geben, zum anderen sollen in loser Anlehnung an eine „Soziologie der Kritik“ in der Tradition Boltanskis und Thévenots (2007) verschiedene Kritikpunkte aus dem wissenschaftlichen und publizistischen Diskurs herausgelesen, dargestellt und sortiert werden – nicht um selbst Kritik zu üben, sondern um einen „Möglichkeitsraum“ aktueller kritischer Bezugnahmen aufzuspannen (Kap. 2). Im zweiten Schritt sollen in der gebotenen Kürze und in explorativer Absicht zwei Heuristiken zur Differenzierung und Gestaltung von Klassifikationssystemen vorgestellt werden, die erstens an der Frage ansetzen, wer als verantwortliche Instanz für die musikalische Kuration adressiert wird (Kap. 3.1) und zweitens welcher inneren Logik die Bewertungs- und Klassifikationsformen jeweils folgen. Diese Klassifikationen werden als mehr oder weniger implizit vorliegende Gestaltungsoptionen verstanden und in ihren Vor- und Nachteilen diskutiert (Kap. 3.2).4 Die in diesem 2

Der Begriff der „kulturellen Allesfresserei“ geht auf den amerikanischen Soziologen Richard Peterson zurück, der davon ausgeht, dass Distinktionsmechanismen heute weniger nach dem Muster der Exklusivität, sondern auf der Basis der Breite des Geschmacks funktionieren (zum Überblick Kropf 2012, 2016a; Parzer 2011; Peterson 2005). 3 Es gelte in diesem Zusammenhang gerade algorithmische Empfehlungssysteme als „infrastructures of taste formation“ (Beer 2013, S. 97; H. i. O.) Ernst zu nehmen. 4 Eine weitere Gestaltungsebene könnte sich mit der Wirkungsweise von Klassifikationssystemen beschäftigen. An anderer Stelle (Kropf 2016b, 2017, 2018) ist vorgeschlagen worden dafür auf Jörn Lamlas (2013a, S. 306 ff.) Heuristik verschiedener Strukturdynamiken im „kulturellen Kapitalismus“ zurückzugreifen.

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Zusammenhang vorgenommenen Unterscheidungen können in einem abschließenden Fazit an die zuvor herausgearbeiteten Kritikpunkte rückgebunden werden (Kap. 4).

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Die Digitalisierung der (musikalischen) Bewertungslandschaft und die neue Unübersichtlichkeit: Musik im Zeitalter ihrer permanenten und unbegrenzten Verfügbarkeit

Die Digitalisierung scheint der Vielfalt musikalischer Produktion, Distribution und Rezeption kaum mehr Schranken aufzuerlegen: Jede und jeder kann heute Musik machen und einem breiten Publikum zur Verfügung stellen; im Netz steht nahezu die gesamte Geschichte aufgenommener Musik zum Download oder Stream bereit. Dass die Musik (vermeintlich) in ‚das Zeitalter ihrer permanenten und unbegrenzten Verfügbarkeit‘ eingetreten ist, kann als Folge des (illegalen) Filesharings betrachtet werden, das Ende der 1990er Jahre mit Napster einsetzte (Tschmuck 2012, S. 163 ff.). Nachdem die großen Musikfirmen sich lange gegen die digitale Verbreitung von Musikdateien zur Wehr zu setzen versuchten (Dolata 2008), haben sie mittlerweile eine Kehrtwende vollzogen, die wesentlich mit dem Auftreten legaler Streamingdienste zusammenhängt. Diese Streamingdienste haben in den letzten Jahren einen rasanten Aufschwung erlebt: Nach Angaben des Bundesverbands Musikindustrie (BVMI 2017, S. 18) verzehnfachte sich die Anzahl der gestreamten Songs pro Woche zwischen 2012 und 2016 von 99 Millionen auf 906 Millionen. Es steht darüber hinaus zu vermuten, dass das StreamingModell sich in den nächsten Jahren weiter durchsetzen wird. Mit seiner Ausbreitung zeichnen sich zwei Entwicklungen ab: Erstens wird es immer leichter mit nur wenigen Klicks auf ein nahezu grenzenloses musikalisches Angebot zuzugreifen, das zwar nicht mehr in den Besitz der HörerInnen übergeht, zu dem aber ein vergleichsweise kostengünstiger Zugang besteht. Zweitens steht Streaming auch für den Trend Musik als eine Ware zu verkaufen, die zum permanenten Begleiter avanciert und sich an die Alltagspraktiken der HörerInnen anschmiegt:5

5 Das Wired Magazin bringt diese Vision auf den Punkt: „Du brauchst zehn Minuten im Bad ? Dann bekommst du drei Wachmacher-Tracks mit hoher BPM-Zahl. Dein Tee zieht fünf Minuten und der Toast braucht zwei ? In der Zeit haben wir ein bisschen Feel-Good-Gedudel für dich. Danach möchtest du dich beim News-Lesen gern konzentrieren ? Spotify hat auch dafür die richtige Mood-Musik parat.“ (Wehn 2015).

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„The cloud based music services […] certainly seem convinced that users are ready to move from ownership to access, so long as this access includes almost all the music they could imagine wherever they happen to be. Music in the cloud is an attempt to make the music commodity available everywhere. Your music. Anytime. Anywhere.“ (Morris 2015a, S. 175)

Die vermeintliche Kehrseite dieser Entwicklung ist die zunehmende Überforderung der HörerInnen. Fragen der Kuration (vgl. Laser und Ochs in diesem Band) gewinnen dann an Bedeutung, wenn Verfügbarkeit in eine ‚neue Unübersichtlichkeit‘ umschlägt (vgl. auch Reynolds 2012): „A typical music streaming service contains in the region of 30 million tracks. If we assume an average track length of 3.5 minutes, it would take 200 years to listen to every track each of this services offer. […] How on earth do we decide what to listen to ?“ (Luck 2016, S. 50)

Die großen Streamingdienste, wie Spotify, Apple Music oder Deezer, versprechen hier teilweise durch menschlich kuratierte Playlists, aber vor allem auch mittels algorithmischer Empfehlungssysteme Orientierung zu bieten. Im folgenden Unterkapitel soll zunächst kurz auf die Funktionsweise dieser algorithmischen Empfehlungen eingegangen werden, bevor die Kritik daran, unter Bezug auf das Problem der musikalischen Vielfalt, ausführlicher thematisiert wird.

2.1 Algorithmische Empfehlungssysteme und Musikstreaming Die Frage, auf welche Art und Weise der Weg durch das Labyrinth des musikalischen Angebots gebahnt wird, ist mittlerweile zum wesentlichen Unterscheidungskriterium der verschiedenen Streaminganbieter geworden, die sich preislich und im musikalischen Angebot kaum voneinander unterscheiden: „In an ecosystem where many of the services offer the same catalogs of musical content, the affective cues and features for discovering and encountering music become the main point of differentiation.“ (Morris und Powers 2015, S. 117)6 Eine 6 Eine Ausnahme davon ist der Deal zwischen Aldi und Napster: Unter dem Namen „Aldi Life Music“, bietet der Discounter einen Musikstreamingservice für monatlich nur 7,99 Euro an, während alle anderen vergleichbaren Dienste 9,99 Euro verlangen (Stand: September 2017). Eine grundlegende Unterscheidung, die im Diskurs zudem immer wieder auftaucht, ist die zwischen menschlicher und algorithmischer Kuration: Algorithmische Empfehlungssysteme werden häufig als steril, kalt oder „unemotional“ dargestellt (Seaver 2014). Der seit 2015 verfügbare Streamingdienst Apple Music versuchte sich daher durch die Wiedereinfüh-

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wichtige Rolle spielen dabei die erwähnten algorithmischen Empfehlungssysteme. Lampropoulos und Tsihrintzis (2015, S. 1) definieren Empfehlungssysteme als „any system that provides individualization of the recommendation results and leads to a procedure that helps users in a personalized way to interesting or useful objects in a large space of possible options.“ Mit Pöchhacker et al. (2017, S. 10 f.) lässt sich ergänzen: „Vorschlagsysteme stützen sich im Wesentlichen auf die Erzeugung von Profilen der Nutzerinnen, welche oft persönliche Daten, z. B. Alter, Geschlecht oder Wohnort, aber auch Daten über das Verhalten auf der Plattform enthalten. Das Ziel der Profilbildung ist es, heterogene Informationen über die Interessen und Präferenzen der Nutzerinnen zu sammeln, um daraus Vorschläge zu generieren. Interessen können direkt aus expliziten Bewertungen von den Inhalten sowie indirekt aus dem Nutzungsverhalten abgeleitet werden, z. B. wie viel Prozent eines Videos [oder Musikstücks; JK] tatsächlich gesehen [bzw. gehört; JK] oder wie oft ein Video angeklickt wurde. Wie die explizit von Nutzerinnen artikulierten Präferenzen mit ihrer persönlichen Verhaltensbiographie zu einer Vorhersage des individuellen Geschmacks verbunden werden, ist jedoch von Verfahren zu Verfahren unterschiedlich.“

In der Regel wird hier zwischen inhaltsbasierten und kollaborativen Verfahren unterschieden. Erstere stellen Empfehlungen auf der Basis von eigens erhobenen Merkmalen der entsprechenden Güter bereit (im Falle der Musik z. B.: Tonart, Tempo, Dynamik etc.), letztere stützen sich ausschließlich auf die Aktivitäten vermeintlich ähnlicher NutzerInnen (nach dem Muster: ‚Personen, die x hörten, hörten auch y‘) (vgl. Klahold 2009, S. 42 ff.; Kropf 2016b; Morris 2015b; Pöchhacker et al. 2017; Stenzel und Kamps 2005, S. 376; Zustra 2016). Der in Deutschland erfolgreichste Musikstreamingdienst Spotify nutzt eine Mischform aus beiden Verfahren und ergänzt diese durch Informationen, die automatisiert aus im Netz verfügbaren Texten herausgelesen werden (vgl. auch Hanika et al. in diesem Band). Brian Whitman, ehemaliger „Chief Technology Officer“ von Spotify, erklärt letzte­ res folgendermaßen:

rung menschlicher Kuration von der Konkurrenz abzuheben. In einem Interview mit der Zeitschrift Intro erläutert Jimmy Iovine, einer der wesentlichen Entwickler von Apple Music, die zentrale Rolle menschlich kuratierter Playlists: „Und wir waren wirklich die ersten, die Streaming mit Kuration zusammengedacht haben. Alle anderen Streamingdienste haben anfangs auf die Kraft des Algorithmus gesetzt, was zu Ergebnissen führt, die zwar mit Blick auf das Genre Sinn machen mögen, oft aber unemotional wirken. Wir hingegen haben diesen Prozess mit menschlicher Kuration zusammengeführt. Gefühl, Intuition und Kreativität sind dabei genauso wichtig wie es Daten sind.“ (Iovine und Koch 2015)

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„Nehmen wir an, es gibt einen neuen Künstler und über ihn ist in Blogs oder News zu lesen, dass er Pop-Punk macht. Wenn wir also eine Korrelation zwischen der Häufung eines Künstlernamen und einem spezifischen Genre erkennen, können wir auch andere Musik damit verknüpfen, die so ähnlich klingt und sie wiederum diesem Genre zuordnen.“ (Wehn 2015).

Während die Empfehlungssysteme der großen Musikstreamingdienste mit dem Versprechen auftreten, den Geschmack der HörerInnen vermeintlich besser zu kennen als diese selbst, haben sie jedoch auch Kritik hervorgerufen. Diese Kritik soll im folgenden Unterkapitel näher beleuchtet werden. Es geht dabei nicht darum, selbst Position im kritischen Diskurs zu beziehen, sondern diesen zu ordnen (bzw. zu „kuratieren“; vgl. Laser und Ochs in diesem Band), indem verschiedene Kritikpunkte idealtypisch unterschieden werden.

2.2 Zur Kritik an algorithmischen Empfehlungssystemen Die algorithmische Vorstrukturierung von Informationen wird in der Literatur häufig als eine neue Form der Machtausübung begriffen. So hält David Beer (2009, S. 997) am Beispiel des Musikempfehlungsdienstes last.fm fest, „how the music that people come across and listen to has become a consequence of algorithms. This is undoubtedly an expression of power, not of someone having power over someone else, but of the software making choices and connections in complex and unpredictable ways in order to shape the everyday experiences of the user“. Nach Karen Yeung (2017, S. 118) lassen sich die Strategien, die hinter den Algorithmen stehen, im Kontext des „Nudging-Paradigmas“7 als eine Form der sanften Kontrolle analysieren, die seitens der Architekten der entsprechenden Infrastrukturen ausgeübt wird, um zum Beispiel HörerInnen auf einer bestimmten Plattform zu halten.8 Es ist plausibel anzunehmen, dass dies nicht dadurch geschieht, dass 7

Der Begriff „nudging“ lässt sich wörtlich als „anstupsen“ übersetzen und stammt aus der Verhaltensökonomik (vgl. Thaler und Sunstein 2009). Er meint eine Methode der Beeinflussung von Menschen, die nicht auf explizite Verbote oder ökonomische Anreize setzt. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Platzierung gesunder Lebensmittel in öffentlichen Kantinen an gut sichtbaren und leicht zugänglichen Plätzen, während weniger gesunde Lebensmittel ‚versteckt‘ angeboten werden, sodass es einer aktiven und bewussten Entscheidung für die ungesunde Essensvariante bedarf. Insbesondere im kritischen Diskurs (aber auch in der Selbstzuschreibung) wird Nudging als „liberaler Paternalismus“ bezeichnet, da es beim Nudging um eine Steuerung von Menschen geht, die nicht auf direktem Zwang beruht (zur Kritik: Lamla und Laser 2016, S. 256 f.). 8 Yeung (2017, S. 118) schreibt dazu: „By highlighting correlations between data items that would not otherwise be observable, these techniques are being used to shape the informa-

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bei den HörerInnen gezielt (vermeintlich) produktive Diskrepanzerfahrungen erzeugt werden, sondern dadurch, dass ihnen weniger herausfordernde Musik präsentiert wird, die zu ihren ohnehin bereits bestehenden Präferenzen passt. Jeremy Wade Morris (2015a, S. 171) hebt hervor, dass der Übergang vom Kauf beziehungsweise Besitz von Tonträgern zum Zugang via Streaming eine „willing delegation of musical collection, curation, and discovery to service providers“ bedeutet, die ihrerseits vor allem kommerzielle Interessen verfolgen. Das Versprechen der Streamingdienste, Musik immer und überall verfügbar zu machen, wie es sich im Konzept der „cloud music“9 manifestiert (vgl. Morris 2015a, S. 166 ff.), im Verbund mit der Delegation der Kurationstätigkeit an (algorithmische) Empfehlungen, führt nach Morris zu einer „continual commodification of the musical experience“ (Morris 2015a, S. 169) beziehungsweise zur Ausbreitung der „branded musical experience“ (Morris und Powers 2015, S. 109 ff.). Das Geschäftsmodell beruht dabei darauf, dass diese „musical experience“ die Alltagspraxis der Nut­ zerInnen als „always-appropriate accessory“ (Morris und Powers 2015, S. 111) begleitet und mittels der erzeugten Datenströme neue Einnahmequellen erschließt (Morris 2015a, S. 173 f.). An dieser Stelle sollen idealtypisch drei (aus dem wissenschaftlichen und publizistischen Diskurs herausgelesene) Krisendiagnosen unterschieden werden, die die Folgen dieser algorithmischen Macht, Kontrolle und Delegation (teilweise) unterschiedlich einschätzen:10 Erste Krisendiagnose: Streaming begünstigt ein weniger konzentriertes Hören und vermindert damit die potenzielle musikalische Erfahrungsvielfalt. Morris führt dazu aus: „With music so thoroughly interwoven into everyday activities, it is possible the digital music commodity contributes to a lack of the specificity of musical experiences. Listeners may listen to more music then ever, though it is unclear wheth-

tional choice context in which individual decision making occurs, with the aim of channeling attention and decision-making in directions preferred by the ‚choice architect‘. By relying upon the use of ‚nudge‘ – a particular form of choice architecture that alters people’s behavior in a predictable way without forbidding any options or significantly changing their economic incentives, these techniques constitute a ‚soft‘ form of design-based control.“ 9 Zum Begriff der „cloud music“ schreibt Morris (2015a, S. 167 f.): „Part metaphor, part vision for the future business model of music, cloud music is part of a transectorial push to make digital files and personal libraries more readily available for users, more profitable for producers and rights holders, and more surveil-able for advertisers, marketers, and a host of other information intermediaries.“ 10 Neben den genannten Kritiken kommen auch datenschutzrechtliche Bedenken (vgl. Englert et al. und Pittroff in diesem Band) im Diskurs vor. Da der Fokus hier jedoch auf Probleme gerichtet werden soll, die unmittelbar die Frage der musikalischen Vielfalt betreffen, wird dieser Kritikstrang im vorliegenden Artikel nicht weiter vertieft.

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er they recognize listening as a distinct activity.“ (Morris 2015a, S. 175)11 Zu einer ähnlichen Feststellung gelangt auch der Musikpsychologe Geoffrey Luck (2016, S. 50): „When faced with a large number of options, people will often choose to simplify the process by engaging with the familiar, listening to a track they already know, or turning to an alternate activity that doesn’t require such decision-making effort.“ In dem Maße, wie Musik zur bloßen Untermalung der Alltagspraxis degradiert wird, verliert demnach auch die Fähigkeit des konzentrierten Hörens an Bedeutung. Vor diesem Hintergrund ist es plausibel, den neuerlichen Aufschwung der Vinyl-Schallplatte als Gegenbewegung zur Digitalisierung des Musikhörens zu interpretieren (Bartmanski und Woodward 2015; Berli 2016; Müller 2006; Shuker 2016; Winkler 2017):12 Die haptischen und optischen Qualitäten der Schallplatte sowie der stärkere Aufforderungscharakter, der ein ritualisiertes und aufmerksames Hören nahelegt (die Platte muss z. B. aufgelegt und umgedreht werden), stehen den oben postulierten Eigenschaften des Streamings diametral entgegen. Zweite Krisendiagnose: Streaming führt zum Ausbau der oligopolistischen Struk-

tur des musikalischen Feldes. Wenn HörerInnen sich an das halten, was sie ohnehin schon kennen, profitieren davon vor allem bereits erfolgreiche Musikschaffende. Folgt man dem Musiksoziologen Michael Huber (Drögemüller und Huber 2015, S. 59) begünstigt die weniger konzentrierte Aneignung von Musik vor allem den sogenannten „Mainstream“: „Streaming ist tatsächlich für den klassischen Popsong und für das Chart- und Starsystem gemacht. Dreiviertel der Songs, die auf Spotify angeboten werden, haben null Klicks. Es wird zwar immer damit geworben, wie groß das Angebot ist. De facto wird aber nur ein ganz kleiner Teil des Angebots von den Kunden genutzt. Die wollen nur die Hits. Denn je größer das Angebot, und je geringer die Übersicht über dieses Angebot, desto eher verlässt man sich wieder auf Bewährtes wie chartplatzierte Songs.“

11 Dafür dass Streaming unsere Hörgewohnheiten in Richtung eines weniger konzentrierten Hörens verändert, spricht auch die Tatsache, dass 25 % der Spotify-Streams innerhalb der ersten fünf Sekunden übersprungen werden (vgl. Negus 2015, S. 156). Die Kritik wiederholt Vorwürfe, die bereits im Zusammenhang mit dem Radio erhoben wurden. Für eine andere Thematisierung des Radios siehe den Beitrag von Tina Klatte in diesem Band. 12 Streaming und Vinyl-Schallplatte sind die beiden einzigen Bereiche auf dem internationalen Musikmarkt, die über die letzten Jahre hinweg ein stetiges Wachstum verzeichnen konnten (BVMI 2016; IFPI 2016). Auf dem deutschen Markt haben sich die Einnahmen aus dem Streaming im Jahr 2015 im Vergleich zum Vorjahr beispielsweise mehr als verdoppelt und machen mittlerweile 14,4 % des gesamten Umsatzes der Branche aus; auf einem deutlich niedrigeren Niveau (3,2 % des Gesamtumsatzes) hat die Vinyl-Schallplatte im gleichen Zeitraum um rund 30 % zulegen können (BVMI 2016, S. 11 ff.). In den USA und Großbritannien liegt der Streaminganteil mit ca. 20 % noch höher als in Deutschland (IFPI 2016, S. 17).

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Dass diese Praxis nicht bloß ein Effekt der Überforderung ist, sondern auch gezieltes Produkt der Kurationstätigkeit seitens der Streamingdienste, drückt sich zum Beispiel in den immer wichtiger werdenden Playlists aus: „[I]t seems at least possible, if not likely that playlists will become the dominant listening format in the age of access-based music consumption“, prophezeit Luck (2016, S. 51). Diese Playlists sind so gestaltet, dass sie für jede Gelegenheit die passende Musik bereitzustellen versprechen. Eine Auswahl von Playlists auf Aldi Life Musik (Napster) im November 2016 enthält zum Beispiel folgende Überschriften: „Sunday Morning“, „8 Stunden Rock zum Arbeiten“, „Singen unter der Dusche“, „Stimmung: Verliebt !“, „Afternoon Chill“ oder „Workout“, die nach verschiedenen „Stimmungen“ geordnet sind: „wütend“, „entspannt“, „traurig“, „aktiv“, „glücklich“, „selbstbewusst“ oder „sexy“, um nur einige zu nennen (vgl. dazu auch Morris und Powers 2015, S. 111). Gezielte Versuche der Einflussnahme auf Playlists werden derzeit unter dem Stichwort des „Playlist Marketings“ verhandelt (BVMI 2016, S. 22).13 Ziel ist es dabei, durch spezifische Algorithmen möglichst viel „traffic“ für bestimmte Playlists zu erzeugen beziehungsweise Musikschaffende gezielt in bereits erfolgreichen Playlists unterzubringen. Thomas Ford, Chief Marketing Officer von Soundrop, hebt hervor, wie schwierig letzteres für Musikschaffende ohne Major-Deal ist: „It’s very tricky right now to figure out how to do that in a consistent way. The first thing you should do as an artist is to go through Spotify in your genre and look at the big playlists that are there. If the playlist is owned by Spotify, and you don’t have a solid direct connection, it’s going to be tricky. And then the majors have also invested quite a lot into building up playlist brands. These high-profile playlists are very difficult to get 13 Dem Playlist Marketing wird vielfach ein signifikanter Effekt auf die Anzahl der erreichten Streams und die Gesamtpopularität der Musikschaffenden attestiert. Dies drückt sich u. a. darin aus, dass das weltweit größte Musiklabel Universal Music sich seit August 2015 mit Jay Frank einen eigenen „Playlist-Marketing-Vorstand“ („Senior Vice President of Global Streaming Marketing“) leistet, dessen Aufgaben in der entsprechenden Pressemitteilung folgendermaßen beschrieben werden: „Frank will be responsible for using data and analytics to maximize the performance of Universal Music’s artists across all streaming platforms, evaluate the effectiveness of the company’s global streaming marketing efforts and identify opportunities for artists on streaming platforms. He will also oversee the curation and management of Universal Music’s global playlists, coordinate a cohesive worldwide playlist strategy across the company’s labels and work with third-party playlist owners to promote artists.“ Nach Analysen des „streaming labels“ AWAL kann die Platzierung in einer Playlist unbekannten KünstlerInnen zu einer schlagartigen Popularitätssteigerung verhelfen. Trotz eines Verbots in den AGBs von Spotify, halten sich hartnäckig Gerüchte darüber, dass einige Anbieter Plätze in Playlists des Streamingdienstes verkaufen (vgl. https://omr.com/de/spotifyplaylist-marketing/ und http://www.universalmusic.com/universal-music-group-names-jayfrank-veteran-music-and-media-executive-to-lead-companys-playlist-marketing-strategy/. Zugegriffen: 20. September 2017.)

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into because they are run by major labels who have a very vested interest in the content that goes into them.“ (Ford und Rogers 2016)

Das Ziel der Streamingdienste muss dabei nicht nur darin bestehen, eine möglichst große Anzahl von HörerInnen zu binden, sodass der Wechsel zu einem anderen Dienst unwahrscheinlich wird, sondern gleichzeitig auch gute Beziehungen mit den Majors zu pflegen, die ihnen den Großteil ihres Katalogs bereitstellen. Die Majors haben ihrerseits zuletzt viel Geld in die Hand genommen, um Einfluss auf das Kurationsbusiness zu nehmen und damit potenziell ihren Vorsprung gegenüber kleineren Labels auszubauen: „Record companies have […] heavily invested in this area with Sony Music purchasing Filtr, Universal Music launching Digster.fm and Warner Music buying Playlists.net which aggregates and recommends playlists created on Spotify.“ (IFIP 2015, S. 20) Aber auch die Streamingdienste selbst rücken in den Fokus der Übernahmestrategien der Labels, so wird beispielsweise vermutet, dass die Majors zu den größten Anteilseignern von Spotify gehören (Marshall 2015, S. 185): „This, again, is a repeat of earlier industry structures, in which each of the majors owned their own CD distribution companies […].“ (ebd.) Der Ausbau oligopolistischer Marktstrukturen wird in der einschlägigen Literatur zudem durch Nachahmungseffekte (Tarde 2009) erklärt: „On the Internet listeners are also influenced by peer-to-peer comments and recommendations by people with the same musical tastes and affinities, an amplified form of word-of-mouth communication. Yet this trend strengthens the social logic of imitation and reputation, reinforcing even further the gregarious behaviour of cultural consumption. What is most recommended is what is most listened to which at the same time, is also what is most recommended, creating an endless circle. As a result, people are listening to even more of the same products, already mainstream, in a specific socio-cultural territory. This is the music that is produced and distributed by the large recording companies and distributed via mass means of communication.“ (Álvarez Monzoncillo und Calvi 2015, S. 42 f.)14

14 Auch die Studien von Bhattacharjee et al. (2007) sowie Ordanini und Nunes (2016) kommen zu dem Ergebnis, dass sich die starke Konzentration auf wenige Superstars in den Charts durch die Digitalisierung eher noch verstärkt hat. Die abweichenden Untersuchungsdesigns haben jedoch leicht unterschiedliche Ergebnisse im Detail zur Folge: Álvarez Monzoncillo und Calvi (2015) sehen eine Stärkung der Majors, während Bhattacharjee et al. (2007) einen relativen Zugewinn der Indies gegenüber den Majors feststellen. Nach Ordanini und Nunes (2016) hat sich zwar die Anzahl der Titel („Blockbuster“) in den Single-Charts erhöht, diese verteilen sich aber auf eine geringere Anzahl von „Superstars“. Alles in allem bleibt jedoch festzuhalten, dass der Zugang in die Spitze des Feldes erstens nicht leichter geworden ist und der Weg dorthin zweitens nach wie vor allem über die großen Musiklabels führt.

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Aber auch die immer wieder auf‌flammende Kritik an der Bezahlung von Musikschaffenden durch Streamingdienste (Marshall 2015) betrifft Fragen der musikalischen Vielfalt: Wenn nur noch wenige Superstars (Ordanini und Nunes 2016) in der Lage sind, von ihrer Musik zu leben und der langfristige Aufbau neuer KünstlerInnen seitens der finanziell unter Druck geratenen Labels zunehmend vernachlässigt wird, reduziert sich – so eine gängige Argumentationsfigur – potenziell die Anzahl neuer, innovativer Musikschaffender. Dritte Krisendiagnose: Algorithmische Empfehlungssysteme haben nicht nur das Potenzial die Konzentration an der Spitze des Feldes zu befördern, sondern auch in sich geschlossene Nischen zu produzieren.15 Die Herausbildung ab­geschlossener Milieus (sogenannter „Filter Bubbles“ oder „Echo Chambers“) im Internet wurde bisher vor allem im Bereich politischer Meinungsbildung untersucht (u. a. Flax­ man et al. 2016; Garrett 2009; Jacobson et al. 2015) und ist als These im Hinblick auf die Entstehung rechtsradikaler Netzwerke mittlerweile auch im publizistischen Diskurs angekommen (vgl. Gensing 2016). Jacobson et al. (2015) zeigen zum Beispiel, dass soziale Netzwerke starke Tendenzen zur Segregation nach politischer Ausrichtung aufweisen: Erstens gibt es eine Konzentration auf wenige dominante Informationskanäle. Zweitens zeigen die LeserInnen parteipolitisch unterschiedlich verorteter Medien äußerst geringe Überschneidungen bei der Wahl ihrer Nachrichtenquellen. Auch wenn es die Tendenz zur Wahl von Medien, die die eigene Meinung stützen, auch vorher bereits gab, markieren algorithmische Empfehlungen demnach einen qualitativen Unterschied, da diese oft ohne das Wissen der Betroffenen filtern und in der Regel unklar ist, auf welcher Grundlage die entsprechenden Filter gebildet werden (Pariser 2012, S. 17 f.). Dies entspricht einer Dynamik, bei der jede und jeder findet, was vermeintlich zu ihr oder ihm „passt“, ohne dass hierfür noch Kontroversen um ästhetische Qualität notwendig sind (Kropf 2016b): „Die neue Generation der Internetfilter schaut sich an, was Sie zu mögen scheinen – wie Sie im Netz aktiv waren oder welche Dinge und Menschen Ihnen gefallen – und zieht entsprechende Rückschlüsse. Prognosemaschinen entwerfen und verfeinern pausenlos eine Theorie zu Ihrer Persönlichkeit und sagen voraus, was Sie als Nächstes tun und wollen. Zusammen erschaffen diese Maschinen ein ganz eigenes Informationsuniversum für jeden von uns – das, was ich die Filter Bubble nenne – und verändern so auf fundamentale Weise, wie wir an Ideen und Informationen gelangen.“ (Pariser 2012, S. 17) 15 Die Gleichzeitigkeit von Ökonomisierung und Nischenbildung habe ich an anderer Stelle als „zentrifugale Strukturdynamik“ des musikalischen Feldes bezeichnet (Kropf 2017).

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Es ist plausibel, ähnliche Effekte für den Kulturkonsum anzunehmen. Pötchhacker et al. (2017, S. 13) fassen die Kritik an der Wirkung der beiden oben genannten Arten von Vorschlagsystemen (inhaltsbasiert und kollaborativ) zusammen: „Während inhaltsbasierte Verfahren eine thematische Isolierung einzelner Nutzerinnen nach sich ziehen, welche eine Abweichung von einmal festgestellten Präferenzen schwierig erscheinen lässt, weisen kollaborative Verfahren eine potentiell größere thematische Breite auf. Diese wird jedoch durch die Privilegierung von Popularität bewirkt, welche eine Zersplitterung der Nutzerinnen in mehrere Gruppen mit vergleichbaren Medienpraktiken nach sich zieht.“

Nischenbildung muss sich aber nicht bloß als direkte Folge von Recommender Systems einstellen, sie kann auch aus der bewussten Suche nach alternativen Distri­butionsmodellen resultieren. In einem Interview mit der Musikzeitschrift Visions kritisiert der Musiker und Produzent Steve Albini Musikstreaming-Dienste aus einer Position, die seine Verwurzelung im „Independent-Diskurs“ (Doehring 2013) erkennen lässt: „Der alleinige Fokus auf Spotify und Apple ist ein Denkfehler. Diese Services sind für die großen Pop-Acts dieser Tage extrem wichtig. Aber das ist banale Musik für Teenager, sie geht mir am Arsch vorbei.“ (Albini und Bosse 2015, S. 54) Direkt im Anschluss macht Albini die Strategien und Potenziale deutlich, die den von ihm bevorzugten Indie-Künstlern offenstehen: „Was mich interessiert, ist die Musik aus der Nische. Diese Musik ist Kunst. Sie wird von Berufenen gespielt, oft von genialen Handwerkern. Es ist tatsächlich ein Segen, dass solche Leute ihre Musik heute selbständig übers Internet öffentlich machen können. Sie brauchen dafür keine Plattenfirmen mehr, die sich um den Vertrieb kümmern. Was mich deshalb begeistert, sind Plattformen wie Bandcamp, Soundcloud – unabhängige Provider oder Torrent-Services, die es Bands ermöglichen, Musik auf eigene Faust weltweit zu veröffentlichen. Um es kurz zu machen: Nicht die Konzerne schmeißen den Laden, sondern die Musiker – und das ist fantastisch.“ (Albini und Bosse 2015, S.  54 f.)16

Albini bringt hier die Möglichkeit des Florierens „virtueller“ (Underground-) Szenen als Reaktion auf die Dominanz der „großen Pop-Acts“ auf den gängigen Streamingportalen ins Spiel (Bennett und Peterson 2004). Motti Regev (2013, S. 136 ff.) spricht in diesem Zusammenhang mit Bezug auf Karin Knorr Cetina (2005) von „global microstructures“, die zwar über eine globale Reichweite ver16 Albini hat diese Position im Jahr 2014 bereits ausführlicher bei seiner Keynote auf der „Face the Music“-Konferenz in Melbourne zum Ausdruck gebracht (Albini 2014).

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fügen, gleichzeitig aber einen mikrosozialen Charakter aufweisen. Insbesondere kleine Labels, die zuvor kaum finanzielle Möglichkeiten hatten sich global zu vernetzen, könnten demnach von der Digitalisierung profitieren. Verschiedene Musikszenen und eine globale „Pop-Rock Intelligentsia“ (Regev 2013, S. 142) fördern demzufolge eine zunehmende Spezialisierung relativ kleiner Kreise, die sich anknüpfend an die Funktionslogik von DIY-Labels als idealistische Gemeinschaften ohne vordergründig ökonomische Interessen konstituieren.17 Potenziell problematisch wird diese Entwicklung, wenn sie eine zunehmende Isolierung musikalischer Szenen zur Folge hat. In diesem Krisenszenario existiert zwar eine vielfältige Musiklandschaft, die Erfahrungsvielfalt jedes und jeder Einzelnen wird jedoch durch die Bildung von Filter Bubbles eingeschränkt.

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Zur Gestaltung von Bewertungsinstanzen

Die oben genannte Kritik bezieht sich auf bestehende Streamingdienste und algorithmische Empfehlungssysteme. Eine andere Möglichkeit der Bezugnahme besteht darin, die Veränderlichkeit von Technik zu fokussieren. Dies wird plausibel, wenn Streamingdienste und Algorithmen als sozio-technische Arrangements gefasst werden. Rob Kitchin (2017, S. 18; dazu auch Marres 2017) nennt in diesem Sinne drei Eigenschaften von Algorithmen: Erstens zeichnen sie sich durch eine spezifische Performativität aus. Algorithmische Empfehlungen sind demnach nicht einfach neutrale Abbilder bestehender Präferenzen, sondern spielen eine aktive Rolle in Geschmacksbildungsprozessen: „Just as algorithms are not neutral, impartial expressions of knowledge, their work is not impassive and apolitical. Algorithms search, collate, sort, categorise, group, match, analyse, profile, model, simulate, visualise and regulate people, processes and places. They shape how we understand the world and they do work in and make the world through their execution as software, with profound consequences.“

17 Dies wird von Dunn (2012, S. 231) etwa am Beispiel des Punk beschrieben: „many DIY punk labels lose money regularly. There is a simple reason for that: their business model is not one defined by profitmaximization. In the simplest terms, they are intentionally bad capitalists. But according to many of those I spoke to, that is often the point. In some ways, the DIY record industry can be seen as an alternative model to the world of the corporate music industry. DIY punk labels tend to invest in bands they like, not the ones that they think are going to make them rich. They tend to price their releases so that people can afford them, rather than worrying about increasing the profit margin.“

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Für Kitchin (2017, S. 21 f.) ist darüber hinaus aber von entscheidender Bedeutung, dass Algorithmen nicht bloß performativ sind, sondern auch zweitens „onto­ genetic“, das heißt stets im Werden begriffen, da sie sich durch eine oft auch von ExpertInnen nicht vollständig nachvollziehbare permanente und komplexe Informationsverarbeitung auszeichnen. Drittens sind sie „contingent“, also in ihrer jeweiligen Ausgestaltung veränderbar.18 In Algorithmen lassen sich also sehr verschiedene Logiken, Wissensformen oder Werte einschreiben. Pöchhacker et al. (2017) machen in einem ähnlichen Sinne darauf aufmerksam, dass es nicht bloß darauf ankomme, die Macht und Bedeutung von Algorithmen im Allgemeinen hervorzuheben, sondern ihre je spezifische Architektur und Wirkung zum Gegenstand der Analyse zu machen. So lassen sich, den AutorInnen zufolge, auch andere Prinzipien in Algorithmen einbauen als die, die in der kritischen Diskussion hervorgehoben werden (vgl. Pöchhacker 2017, S. 15 ff.). Pöchhacker et al. beschreiben in diesem Zusammenhang ein kollaboratives Projekt, das sich damit beschäftigte, das Empfehlungssystem des Bayerischen Rundfunks so weiterzuentwickeln, das es dessen Bildungsauftrag entspricht. Die Au­ torInnen nennen dabei drei Ebenen, auf denen Variationen des Vorschlagsystems möglich sind: ■■ Die Algorithmische Ebene (vgl. Pöchhacker 2017, S. 15 ff.): Hier ist unter anderem an die Einführung von Zufallselementen in das Empfehlungssystem oder gezielte Vorschläge von unähnlichen oder bei anderen NutzerInnen-Clustern beliebten Inhalten zu denken, mit denen dem Trend zur Bildung von Filterblasen potenziell entgegengewirkt werden kann („Anti-Recommender System“; Pöchhacker 2017, S. 17). Die gezielte Gewichtung von Messdaten (z. B. in Form der bevorzugten Empfehlung bestimmter Genres) verspricht zudem einen „algorithmischen Umverteilungsmechanismus“ in Gang zu setzen, wenn zum Beispiel solche Entitäten empfohlen werden, die zwar inhaltlich zu den zuvor gehörten oder angesehenen Beiträgen passen, aber insgesamt eine geringe Popularität aufweisen. ■■ Die Datenebene (Pöchhacker 2017, S. 17 ff.): Änderungen sind aber auch auf der Ebene des Klassifikationsschemas möglich, etwa bezüglich der Breite und inhaltlichen Definition von Kategorien. Breitere Kategorien führen zum Beispiel dazu, dass mit einem Mal mehr Entitäten einander „ähnlich“ sind (vgl. Pöch18 Ein wesentliches Problem bei der Erforschung von Algorithmen besteht darin, dass diese meist proprietär und damit nicht öffentlich zugänglich sind. Kitchin (2017, S. 22 ff.) identifiziert sechs Methoden der Untersuchung von Algorithmen, die auf unterschiedliche Art und Weise mit diesem Problem umgehen. Darauf kann jedoch aus Platzgründen an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden.

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hacker 2017, S. 18). In diesen Zusammenhang gehören aber auch die Fragen, welche Daten überhaupt erfasst und wie diese Daten aufbereitet beziehungsweise weiterverarbeitet werden. ■■ Das User Interface (vgl. Pöchhacker 2017, S. 19 ff.): Schließlich sind auch verschiedene Gestaltungen des User Interfaces möglich. Das betrifft beim Radio oder Fernsehen beispielsweise die zeitliche Ordnung prominenter Sendeplätze (bei Streamingdiensten ist u. a. die Reihenfolge innerhalb von Playlists von Bedeutung), bei Online-Angeboten spielt generell die räumliche Anordnung der präsentierten Elemente eine wichtigere Rolle (Pöchhacker 2017, S. 19) – werden Inhalte zum Beispiel gut sichtbar in der Mitte platziert oder klein am Rand der Homepage, sodass sie nur per Scrolling erreichbar sind und leicht übersehen werden können ? Während die Vorschläge von Pöchhacker et al. (2017) schon die konkrete technische Umsetzung betreffen, sollen im Folgenden in explorativer Absicht Gestaltungsmöglichkeiten von Bewertungs- und Klassifikationsinstanzen auf einer grundsätzlicheren Ebene vorgestellt werden. Wenn diese Überlegungen oder Denkanstöße auch vor dem Hintergrund der Dominanz und der Interessen der großen Streamingdienste einen kontrafaktischen Charakter aufweisen, können sie doch einen Möglichkeitsraum aufspannen, in dem sich potenzielle Gestaltungsoptionen als politisch anzustrebende Fluchtpunkte auftun. Die vorgestellten Gestaltungsoptionen betreffen erstens die Frage, wer als verantwortliche Instanz im Prozess der Kuration adressiert wird und zweitens welcher internen Logik die Klassifikation folgt.

3.1 Wer wird im Kurationsprozess als verantwortliche Instanz adressiert ? Künstlerische Vielfalt gilt nicht bloß als Zielwert bildungs- und kulturpolitischen Handelns, ihr wird zudem im Kontext kulturkritischer Einlassungen ein spezifisches emanzipatorisches Potenzial attestiert, das für eine funktionierende Demokratie unabdingbar erscheint. Demnach ist es gerade die Vielfalt kultureller Hintergründe, die eine demokratische Aushandlung sowohl erfordert als auch ermöglicht. Die Vorwürfe gegenüber der Industrialisierung und Kommerzialisierung künstlerischer Produktion, Distribution und Rezeption entspinnen sich nicht umsonst am topos der Vereinheitlichung: „Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit.“ (Horkheimer und Adorno 2004, S. 128) Die Gleichförmigkeit kultureller Erzeugnisse wird zum Signum eines Mangels an innovationsfördernden Strukturen (Peterson und Berger 1975), der die „Verarmung“, „Standardisierung“

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und „Entqualifizierung“ der Kunst amplifiziert (Karpik 2011, S. 285). Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie der Kurationsprozess gestaltet sein muss, um kulturelle Vielfalt sicherzustellen. Die Überlegungen dazu können Anregungen aus einem anderen thematischen Kontext erhalten. Vor dem Hintergrund der Diskussion über ein „partizipatives Design“ von digitaler Soft- und Hardware (Ehn 1988) beziehungsweise das Konzept der „Privacy by Design“, die eine demokratische Beteiligung der NutzerInnen bereits im Gestaltungsprozess der entsprechenden Anwendungen vorsehen,19 entwickeln Jörn Lamla und Carsten Ochs (2017) eine Typologie von Verfahren des Schutzes der Privatheit in Zeiten der Digitalisierung, die sich zwischen den Polen des individuellen Selbstdatenschutzes und paternalistischen Formen der Verantwortungsübernahme durch staatliche (oder privatwirtschaftliche Akteure) bewegen. Die Autoren gehen dabei von der These aus, dass Privatheit und Demokratie in einem konstitutiven Verhältnis zueinander stehen und diskutieren, inwiefern demokratische Elemente bereits in der Gestaltung von Privatheit zum Tragen kommen sollten. Entscheidendes Differenzierungskriterium ist dabei die Frage, wer in den verschiedenen Modellen als verantwortliche Instanz (für den Schutz von Privatheit) adressiert wird (das Individuum, der Staat, der Markt etc.) und welche Problemlagen und Verfallsformen sich daraus ergeben. In Anlehnung daran lässt sich eine vergleichbare Typologie auch für real existierende und potenziell denkbare Verfahren der Kuration entwickeln, wenn man, wie oben angedeutet, davon ausgeht, dass kulturelle Vielfalt in einem analogen Verhältnis zur Demokratie steht wie das Konzept der Privatheit. Dabei gilt es jeweils zu klären, wem die Aufgabe für die Auswahl des kulturellen Programms überantwortet wird beziehungsweise auf welcher Grundlage und nach welchen Prinzipien der Kurationsprozess noch vor dem Einsatz spezifischer Algorithmen gestaltet wird. Hintergrund dieser Überlegungen ist die These, dass ein Großteil der oben genannten Kritikpunkte aus der Tatsache erwächst, dass die Kurationstätigkeit im Streamingmodell den großen, kommerziellen Anbietern überlassen bleibt, die ihre spezifischen Interessen in diese Tätigkeit einschreiben. Je größer die Marktmacht einzelner Anbieter wird, umso plausibler ist es, hier eine Form des Paternalismus am Werk zu sehen, der grundsätzlich vergleichbar mit einer staatlichen Zensur der Medienkanäle ist. Das hier angestrebte Vorgehen setzt darauf, den oben entfalteten kritischen Diskurs bezüglich des Streamings und algorithmischen Empfehlungssystemen mit einer Bandbreite an Gestaltungsoptionen zu konfrontieren, deren Vor- und Nachteile auszuloten sind, ohne einen der Ansätze als bevorzugte Lösung auszuweisen. Statt eine von außen herangetragene Kritik zu betreiben, gilt es also – in einer konstruktiven, an gesellschaftliche Lernpotenziale anknüpfenden Haltung – im Dis19 https://www.privacybydesign.ca/. Zugegriffen: 12. Oktober 2017

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kurs bereits vorhandene kritische Impulse aufzugreifen, zu sortieren und mit potenziellen Reaktionsweisen ins Verhältnis zu setzen.20 Das öffentlich-rechtliche Modell: Verglichen mit dem Modell der Zensur, stellt

der, vom staatlichen Rundfunk zu unterscheidende, öffentlich-rechtliche Rundfunk eine weniger extreme Form des Paternalismus dar. Die politischen Zielvorgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sind, insofern sie auf rechtlichen Grundlagen beruhen, in letzter Instanz demokratisch legitimiert. Der Idee nach hat der öffentlich-rechtliche Rundfunk die Aufgabe, durch qualitativ hochwertige und unabhängige Berichterstattung, die es sich leisten kann sich von rein ökonomischen Maßgaben frei zu machen, zu einer funktionierenden Demokratie beizutragen.21 Diese Zielsetzungen sollen durch ein spezifisches, die Unabhängigkeit sicherndes Finanzierungsmodell (vorrangig über Rundfunkgebühren, statt Steuer­gelder oder Werbeeinnahmen) sichergestellt und durch bestimmte Gremien (insbes. durch die Rundfunkräte) überwacht werden. Die inhaltliche Vorgabe einer Sicherung kultureller Vielfalt wird in den Programmrichtlinien der Länder konkretisiert.22 Ele20 Diese Vorgehensweise knüpft lose an den Pragmatismus und die „Soziologie der Kritik“ an (Bogusz 2013; Boltanski und Thévenot 2007; Lamla 2013a und b). In früheren Publikationen (Kropf 2016b, 2017) habe ich argumentiert, dass sich die Analyse von Kontroversen in ein feldanalytisches Forschungsprogramm integrieren lässt: Kontroversen treten immer dann gehäuft auf, wenn es zu strukturellen Umbrüchen in Feldern kommt und damit die Homologie von Disposition und Feldstruktur aufgekündigt wird. Diese Homologie führt im Normalfall zu einer Vorangepasstheit, die ein routiniertes Handeln im Modus der Selbstverständlichkeit nahelegt. In Momenten der Unsicherheit allerdings werden die „kritischen Kompetenzen“ der Akteure gewissermaßen ‚aktiviert‘. Es ließe sich argumentieren, dass sich damit auch die Rolle der Soziologie (historisch) wandelt: Während sie im ersten Fall vor allem als kritische Instanz gefordert ist, um die „verborgenen Mechanismen der Macht“ (Bourdieu 2005) aufzudecken, kann sie im zweiten Fall stärker „diplomatisch“ (Gertenbach 2016) als Vermittlerin auftreten, die gesellschaftliche Lernpotenziale unterstützt (Lamla 2014). 21 „Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat den verfassungsrechtlich vorgegebenen Auftrag, einen Beitrag zur individuellen und öffentlichen Meinungsbildung zu leisten und so zu einem funktionierenden demokratischen Gemeinwesen beizutragen. […] Der Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ergibt sich aus dem Grundgesetz, er ist darüber hinaus unter anderem im Rundfunkstaatsvertrag gesetzlich festgeschrieben. Danach soll der öffentlichrechtliche Rundfunk mit seinen Programmangeboten ‚zur Information, Bildung, Beratung, Kultur und Unterhaltung einen Beitrag zur Sicherung der Meinungsvielfalt und somit zur öffentlichen Meinungsbildung‘ leisten. Grundversorgung meint, dass ein flächendeckender Empfang von Rundfunk für die Allgemeinheit genauso gewährleistet sein muss wie ein vielfältiges Programmangebot.“ http://daserste.ndr.de/ard_check/fragen/Aufgabe-und-Funktiondes-oeffentlich-rechtlichen-Rundfunks-der-ARD,antworten104.html. Zugegriffen: 14.  September 2017. 22 In den entsprechenden Richtlinien des Westdeutschen Rundfunks (WDR) heißt es z. B.: „Es gibt mehr als nur eine Kultur. Kulturen sind vielfältig und dynamisch: Alltagskultur und

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mente des Paternalismus finden sich dort, wo die Legitimation zur Programmauswahl allein auf historisch gewachsene Expertise gegründet wird, ohne dass die Verfahren und Ziele der Auswahl noch der demokratischen Aushandlung ausgesetzt werden: „Kulturelle und gesellschaftliche Zusammenhänge werden immer vielfältiger und komplexer; wir haben als öffentlich-rechtlicher Rundfunk die Erfahrung und Kompetenz, Orientierung zu bieten, Neues aufzuspüren und vor allem: Bedeutendes von Banalem zu trennen.“ (WDR 2013, S. 25) Die re­klamierte Expertise schlägt zudem dann in Paternalismus um, wenn die Festlegung von Programmaufträgen sich aufgrund mangelnder Transparenz der demokratischen Aushandlung entzieht. In einem offenen Brief „Zur Zukunft öffentlich-rechtlicher Medien“ aus dem September 2017 fordern vierzig WisenschaftlerInnen sowie Medien- und Kulturschaffende in diesem Sinne u. a. ein höheres Maß an Transparenz ein: „Das öffentlich-rechtliche Angebot ist rechtlich dazu verpflichtet, eine Grundversorgung für die Allgemeinheit sicherzustellen, und wird deshalb von der Allgemeinheit finanziert. Zugleich soll es mehr Gestaltungsspielraum der Anstalten geben. Deshalb haben Beitragszahlerinnen und Beitragszahler einen berechtigten Anspruch auf Transparenz. Transparenz über Finanzentscheidungen allein reicht nicht aus […]. Es geht auch um Transparenz von Entscheidungen hinsichtlich der Auftragsfortentwicklung sowie organisatorischer und programmlicher Umsetzung.“ (H. i. O.)23

Das marktliberale Modell: Das Modell des öffentlich-rechtlichen Rundfunks erhält seine Plausibilität aus dem Misstrauen gegenüber einer rein privatwirtschaftlichen Organisation der Medienlandschaft.24 Kritiker der öffentlich-rechtlichen Medien stellen dagegen häufig in Frage, ob ‚die Öffentlich-Rechtlichen‘ ihrem Programmauftrag in angemessener Art und Weise nachkommen. In der Wochenzeitung Die Zeit vom 29. Juli 2010 beklagt Jens Jessen beispielsweise die „Vom Volk Avantgarde, Hochkultur und Nischenkultur, Subkultur und Popkultur. […] Der WDR verpflichtet sich in einer Weise zur kulturellen Bildung, die ein tieferes Verständnis der Vielfalt von Kultur ermöglicht, nicht nur im Hinblick auf Hoch- und Alltagskultur, sondern vor allem in Hinblick auf kulturelle Veränderungen durch Menschen mit Migrationshintergrund.“ (WDR 2013, S. 22) 23 http://zukunft-öffentlich-rechtliche.de/. Zugegriffen: 14. September 2017. 24 Dies wird in dem genannten offenen Brief ebenfalls deutlich: „Die Demokratie benötigt einen offenen Prozess der Meinungsbildung. In diesem Prozess kommt den öffentlich-rechtlichen Medien eine unverzichtbare Rolle zu. Sie sind auch und gerade in der digitalen Medienwelt wichtiger denn je. Denn aufgrund ihrer öffentlichen Beauftragung und Finanzierung können sie von sich heraus leisten, was privaten Anbietern aufgrund ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit nicht oder nur begrenzt möglich ist: eine journalistisch-redaktionelle Selbstbeobachtung der Gesellschaft im öffentlichen Interesse.“ (H. i. O.)

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bezahlte Verblödung“, die daraus entstehe, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk sich zunehmend privatwirtschaftlichen Medienkonzernen angleiche:25 „Wann immer eine gute Sendung aus dem Programm genommen wird, heißt es: Die Quote war schlecht, und wann immer eine schlechte Sendung im Programm gehalten wird: Die Quote war gut. Über Qualität und Angebot von Sendungen nach der Zuschauerquote zu urteilen bedeutet aber für die öffentlich-rechtlichen Sender, dass sie sich wie reine Wirtschaftsunternehmen verhalten, das heißt nach Maßgabe der Produktverkäuflichkeit, ohne Blick auf eine weitergehende Verantwortlichkeit. Warum sollen Sender, die sich wie Privatakteure auf dem Markt verhalten, eine Gebühr bekommen, die sie von der Rücksicht auf den Markt befreit ? Dies ist die Legitimationskrise des öffentlich-rechtlichen Rundfunks: Er wird für eine Freiheit bezahlt, die er nicht nutzt.“ (Jessen 2010)

Dieses Legitimationsdefizit kann von Privatsendern genutzt werden, um den Vorwurf der Wettbewerbsverzerrung stark zu machen: Wenn öffentlich-rechtliche Sendeanstalten sich nicht wesentlich von dem unterscheiden, was der freie Medienmarkt ohnehin hervorbringt, dann ist deren staatlich unterstütztes Finanzierungsmodell als eine Form des unlauteren Wettbewerbs zu interpretieren. Aus einer marktliberalen Position ist die Notwendigkeit eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks gänzlich in Frage zu stellen: Qualität, so eine mögliche These, setzt sich auf dem Markt dauerhaft ohnehin durch. Außerdem lässt sich aus dieser Position heraus die Frage stellen, wer überhaupt das Recht hat, über Qualität zu urteilen beziehungsweise das, was von einer Mehrheit der Menschen bevorzugt wird, als qualitativ minderwertig einzustufen. Das Modell der Intermediation: Eine andere Möglichkeit den Kurationsprozess zu organisieren besteht darin, auf Intermediäre zurückzugreifen, die weder direkt oder indirekt staatlich finanziert, noch unmittelbar vom Musikmarkt abhängig sind. Musikzeitschriften, -Blogs oder -Preise sind Beispiele für dieses Modell. Intermediäre zeichnen sich dadurch aus, dass sie zumeist im Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen stehen, ohne einer der verschiedenen Seiten gänzlich verpflichtet zu sein, wie Doehring (2011) am Beispiel der Musikzeitschriften zeigt. Die Tatsache, dass Intermediäre am Kreuzungspunkt widerstrebender Interessen stehen, macht sie aber potenziell auch instrumentalisierbar für dominante Inter­ essensparteien. Beatrice Jetto (2014, 2015) zeigt zum Beispiel, wie bestimmte Musik-Blogs im Laufe der Zeit von einem unabhängigen Akteur zunehmend zum 25 Diese Kritik wird häufig auch gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Radioanstalten geäu­ ßert (Karpik 2011, S. 285 ff.).

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Marketinginstrument der großen Plattenfirmen wurden. Musikrezensionen in Zeitschriften verkörpern zudem eine Form des Reviews, die Grant Blank (2007) als „connoisseurial review“ bezeichnet. Sie stehen mit anderen Worten für ein Modell der Kritik, dass ob seiner Bindung an die ExpertInnen-Figur immer wieder dem Vorwurf eines paternalistischen Elitismus ausgesetzt wird, der sich an ein exklusives Nischenpublikum wendet (vgl. Doehring 2011, S. 167 f.). Das individualistische Modell: Während der Markt als kollektive Struktur begriffen wird, auf der sich bestimmte Kulturgüter aufgrund einer existierenden Nachfrage durchsetzen, kann die Argumentation auch stärker noch beim Individuum selbst ansetzen. Diese Grundhaltung liegt der „Long Tail“-These zugrunde (Anderson 2011): Die Digitalisierung ermöglicht demnach, das jede und jeder, das findet, was nach dem individuellen Geschmack ist. Gut ist demnach nicht unbedingt das, was sich auf dem Markt durchsetzt oder intrinsische und vermeintlich objektive Qualitäten besitzt, sondern das, was zum je eigenen Geschmack passt. Das Individuum wird hier stärker noch als in den anderen Modellen als autonom und entscheidungsfähig verstanden. Ein Zugang, der auf die Kreativität und Entscheidungsfähigkeit der Subjekte setzt, kann jedoch auch aus verschiedenen Perspektiven kritisiert werden. Erstens könnte man hier ein (soziologisch) naives Verständnis von Geschmacksbildungsprozessen am Werk sehen. Die Ausführungen Bourdieus (1997) in Die feinen Unterschiede beruhen ja zum Beispiel gerade darauf, dass der vermeintlich individuelle Geschmack sozial formatiert ist und auf diese Art und Weise qua Distinktion zur Reproduktion von Macht- und Herrschaftsstrukturen beitragen kann. Wenn davon ausgegangen wird, dass Individuen von sich aus finden, was zu ihnen passt, werden möglicherweise die entsprechenden Abgrenzungsmechanismen weiter befördert. Zweitens bietet die radikal-individualistische Position keine Lösung für das vermeintliche Problem der Überforderung, was der oben zitierten Kritik zufolge dazu führen kann, dass sich HörerInnen an bereits Bekanntes klammern oder eine unkonzentrierte Hör­weise an den Tag legen. Das Modell widerständiger Aneignungspraktiken: Das zuvor präsentierte Akteurskonzept verträgt sich gut mit dem Vertrauen auf eine widerständige Aneignung kommerzieller Medien, wie sie in den Cultural Studies (bzw. bei Michel de Certeau 1988) betont wurde (vgl. Clarke et al. 1981; Fiske 2000; Hebdige 1980; Willis 1991). Es gilt demnach nicht die Kulturindustrie als Massenbetrug zu beklagen, sondern den kreativen Umgang mit ihren Erzeugnissen zu pflegen. Tatsächlich gibt es eine Reihe von Versuchen auf spielerische Art und Weise mit dem per API frei zugänglichen Spotify-Empfehlungsalgorithmus zu experimentieren, um zum Beispiel bestimmte Muster in der Musiklandschaft jenseits von Genre-Einteilun-

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gen zu erkennen26 oder spezifische Zusammenhänge zwischen Alter, Geschlecht und Musikgeschmack aufzudecken.27 Das Vertrauen auf eine kreative Aneignung des Algorithmus kann jedoch problematisch werden, da es sich lediglich auf vereinzelte Projekte richtet, die kaum dazu geeignet sind flächendeckend zur musikalischen Vielfalt beizutragen und weil diese Projekte selbst wiederum von den Streaminganbietern für ihre eigenen Marketingzwecke vereinnahmt werden können. Nicht umsonst wird die Seite musicmachinery.com, auf der sich viele expe­ rimentelle Anwendungen finden, die den Spotify-Algorithmus nutzen, von Paul Lamere betrieben, einem der Chef-Entwickler von Spotify. Das kollaborative Modell: In der oben zitierten Studie von Pöchhacker et al. (2017) wurde ein kollaboratives Projekt zwischen Entwicklern des Bayerischen Rundfunks und einem soziologischen Forschungsteam durchgeführt. Es ist aber auch denkbar, diesen kollaborativen Ansatz stärker noch in Richtung des partizipativen Designs zu entwickeln, indem NutzerInnen selbst im Gestaltungsprozess des Empfehlungssystems beteiligt werden. Das Ziel dieses Vorgehens besteht dann nicht darin, Vorschläge zu liefern, die besonders gut den Geschmack der NutzerInnen treffen, sondern sich über die Ziele des Empfehlungssystems bereits in der Entwicklungsphase demokratisch zu verständigen. Potenzielle Probleme eines solchen Vorgehens sind zum Beispiel, dass es sehr aufwendig ist und eine starke Motivation der NutzerInnen voraussetzt. Projekte dieser Art können jedoch auch schnell ‚pseudo-demokratisch‘ werden, wenn die angestrebte Offenheit dazu führt, dass besonders durchsetzungsfähige Akteure die Richtung des Projekts maßgeblich bestimmen und schwächere Akteure ihre Interessen nicht angemessen artikulieren können.28

Der kursorische und ohne Anspruch auf Vollständigkeit vorgetragene Überblick über verschiedene Gestaltungsoptionen des Kurationsprozesses macht deutlich, dass bereits im frühen Stadium der Definition von Zielvorgaben und der Verteilung von Verantwortlichkeiten verschiedene Modelle denkbar sind. Ein produktiver Umgang mit den zuvor vorgetragenen kritischen Einlassungen bezüglich des Streamings würde es nahelegen, bereits auf dieser Ebene anzusetzen und die falladäquate Anwendung der entsprechenden Modelle zu forcieren.

26 http://www.decibelsanddecimals.com/dbdblog/2016/6/13/spotify-related-artists. Zugegriffen: 18. Oktober 2017. 27 https://musicmachinery.com/. Zugegriffen: 18. Oktober 2017. 28 In diesem Zusammenhang wäre weiterführend z. B. die Rolle von Assoziationen bzw. Verbänden zu diskutieren.

Markt

Intermediäre

Individuum

Individuum/Experimentier- und Protestkollektive

Kollektiv von NutzerInnen und EntwicklerInnen

Marktliberales Modell

Modell der Intermediation

Individualistisches Modell

Modell widerständiger Aneignungspraktiken

Kollaboratives Modell

Grundidee

Demokratische Beteiligung der NutzerInnen bereits im Gestaltungsprozess

Widerständige, experimentelle Aneignung bestehender Medienangebote

Individuen finden autonom, was zu ihnen passt

Unabhängige ExpertInnen fällen Qualitätsurteile

Qualität setzt sich auf dem Markt ohnehin durch

Staat oder Privatunternehmen organisieren den Kurationsprozess autonom

Mögliche Probleme

Setzt hohe Motivation voraus/ „Pseudo-Demokratie“

Begrenzte Reichweite/potenzielle Aneignung durch Unternehmen

Überforderung/Verringerung produktiver Diskrepanzerfahrungen

Elitismus

Verwechslung von Popularität und demokratischer Aushandlung

Paternalismus/keine demokratische Beteiligung

* Es wäre möglich, die verschiedenen Modelle wiederum an die Rechtfertigungsordnungen nach Boltanski und Thévenot (2007) rückzukoppeln (ähnlich wie ich es in Kropf 2017 versucht habe). Darauf wird an dieser Stelle jedoch verzichtet, um die Argumentation nicht unnötig kompliziert zu gestalten.

Verantwortliche Instanz

Staat/Privatunternehmen

Modell

Staatlicher oder privatwirtschaftlicher Paternalismus

Tabelle 1  Gestaltungsoptionen des Kurationsprozesses*

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3.2 Welche Logik liegt der Klassifikation zugrunde ? Während bisher vor allem der Frage nachgegangen wurde, wer als verantwortliche Instanz im Kurationsprozess adressiert wird beziehungsweise wem die entsprechende Entscheidungs- und Zielsetzungskompetenz jeweils zugesprochen wird, geht es nun darum den inneren Logiken29 verschiedener Klas­sifikationsschemata auf die Spur zu kommen, die prinzipiell unabhängig von der Frage sind, wer auf sie zurückgreift. Um dies zu erreichen, wird es notwendig noch einen weiteren Schritt in Richtung theoretischer Abstraktion zu gehen, zumal wir uns damit in den Bereich grundlegender Klassifikationsformen begeben, die auf einer langen Tradition der Theoriediskussion beruhen. Dabei sollen vier Logiken der Klassifikation unterschieden werden. Diese lassen sich wiederum schematisch danach ordnen, inwiefern sie erstens entweder dem Modell des Allgemeinen beziehungsweise der formalen Rationalisierung oder dem Modell des Besonderen beziehungsweise der Singularitäten folgen (vgl. Karpik 2011; Reckwitz 2017). Zweitens können Klassifikationen unterschieden werden, je nachdem ob sie von intrinsischen Eigenschaften der entsprechenden Entitäten ausgehen oder ob sie die Entitäten extrinsisch klassifizieren (siehe Tab. 2). Substanzialistische Klassifikationen: Im klassischen aristotelischen Schema ent-

steht ein hierarchisch in Unterkategorien gegliedertes Klassifikationssystem durch die Gruppierung von Entitäten, die geteilte, intrinsische Eigenschaften aufweisen. Es handelt sich dabei um eine substanzialistische Klassifikation, wie Ernst Cassirer (2000) in Substanzbegriff und Funktionsbegriff und an ihn anschließend Bourdieu (1998, S. 15 ff.) festhält (auch Bongaerts 2008, S. 76 ff.; Nairz-Wirth 2009; Vandenberghe 1999, S. 42 ff.). Hier wird das Besondere einem Allgemeinen untergeordnet, sodass die konkrete Entität nur noch als Exemplar einer Gattung beziehungsweise als „Allgemein-Besonderes“ in Erscheinung tritt (Reckwitz 2017, S. 48 ff.). Mit Bezug auf seine eigenen (relationalen) Analysen in Die feinen Unterschiede (1997) hält Bourdieu fest, dass „die substanzialistische Denkweise […] mit der Neigung [einhergeht], die Aktivitäten oder die Vorlieben, die für bestimmte Individuen oder Gruppen einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt kennzeichnend sind, als substantielle, ein- für allemal in irgendeinem biologischen oder – was auch nicht besser ist – kulturellen Wesen angelegte Merkmale zu behandeln“ (Bourdieu 1998, S. 16; H. i. O.). Derartige Klassifikationen tendieren dazu, Einzigartigkeiten zu tilgen oder als „anormalen Rest“ be­ziehungsweise „Idiosynkrasien“ auszusortieren (Reckwitz 2017, S. 49 f. und S. 66 f.). Der substan29 Der Begriff der „Logik“ meint an dieser Stelle, nach welchem Organisationsprinzip die entsprechenden Klassifikationssysteme gebaut sind.

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Tabelle 2  Logiken der Klassifikation Das Allgemeine

Das Besondere

Intrinsisch

Substanziell

Exemplarisch

Extrinsisch

Funktionalistisch

Relational

zialistische Modus der Klassifikation neigt aber nicht bloß dazu die Merkmale der klassifizierten Entitäten als feststehend zu behandeln, er folgt darüber hinaus einem „naiven Realismus“ (Vandenberghe 1999), der eine unvermittelte Korrespondenz zwischen der Welt und ihrer symbolischen Repräsentation unterstellt. In inhaltsbasierten Empfehlungssystemen finden sich Anteile substanzialistischer Klassifikationen. Relationale Klassifikationen: Bourdieu plädiert dagegen, mit Cassirer und dem Strukturalismus (vgl. Lévi-Strauss 1978, S. 45 f.), für eine relationale Form der Klassifikation: „Die Begriffe der Wissenschaft erscheinen jetzt nicht mehr als Nachahmungen dinglicher Existenzen, sondern als Symbole für die Ordnungen und funktionalen Verknüpfungen innerhalb des Wirklichen“ (Cassirer zit. n. NairzWirth 2009, S. 30). Im Fokus stehen dann nicht Merkmalsbündel, die eine Entität an und für sich definieren, sondern entweder Konstellationen von Merkmalen beziehungsweise Merkmalsausprägungen in Relation zu anderen Konstellationen von Merkmalsausprägungen oder schlicht das gemeinsame Auftreten bestimmter Entitäten, unabhängig davon, welche Merkmale sie aufweisen. Im ersten Fall wäre beispielsweise an das Verfahren der Korrespondenzanalyse zu denken, während der zweite Fall für die klassische Netzwerkanalyse typisch ist: Die Kor­respon­ denzanalyse legt eine strukturbezogene Analysehaltung nahe, die in der Anwendung Bourdieus zum Beispiel über Ressourcen definierte Positionen ermittelt. Die (ebenfalls relationale) Netzwerkanalyse ist für Bourdieu dagegen eine „interaktionistische“ Methode (vgl. Bernhard 2010; Bourdieu 2014, S. 202; Bourdieu und Wacquant 2006, S. 145 f.):30 „Die Strukturen der Netzwerkanalyse sind aus feldanalytischer Perspektive Muster der Praxis, die auf (Tiefen-)Strukturen zurückgeführt werden können und die diese (Tiefen-)Strukturen weder vollständig abbilden, noch die Praxis vollständig ausfüllen.“ (Bernhard 2010, S. 123) Relationale Klassifikationen beider Spielarten bieten sich weniger für die Konstruktion von ‚Schubladen‘ als für räumliche Darstellungen in Form kontinuierlicher „maps, ter30 Zur Wahlverwandtschaft von Korrespondenzanalyse und der Methodologie Bourdieus vgl. Lebaron (2012); Le Roux und Rouanet (2010); Mejstrik (2012).

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ritories, fields“ (Fabbri 1999, S. 13) an. Sie legen zudem eine Haltung nahe, die nicht mit vorab definierten Kategorien arbeitet, sondern bestimmte Cluster innerhalb einer untersuchten Gesamtheit iterativ, in mehreren Überarbeitungsschleifen identifiziert. Wenn sich die Entitäten erst durch ihre relative Position innerhalb einer Struktur oder eines Netzwerks bestimmen, dann können sich Bedeutungen zudem auch ändern, sobald es zu Verschiebungen innerhalb des Relationensystems kommt. Relationale Klassifikationen sind daher wesentlich dynamischer als solche, die auf substanzialistischen Zuschreibungen von Merkmalen beruhen. Gleichzeitig weisen sie aber auch eine Neigung auf, die „Eigenkomplexität“ der betrachteten Entitäten zu negieren: Indem sie streng differenztheoretisch das Besondere lediglich „ex negativo“ über den Unterschied zu den anderen Entitäten, mit denen es in Relation steht, definiert, sperrt sich die relationale Klassifikation dagegen, die je spezifischen Affordanzen der betrachteten Einheit zu berücksichtigen (Reckwitz 2017, S. 52 f.). Dies gilt, obwohl die relationale Klassifikation letztendlich ein Interesse am Besonderen, zum Beispiel im Sinne einer „Personalisierung“, hat. (Netzwerk-)Individualität wird hier aber über die Kreuzung verschiedener Relationen und nicht qua intrinsischer Eigenschaften definiert. Vor allem kollaborative Empfehlungssysteme folgen einem solchen relationalen Zugriff. Exemplarische Klassifikationen: Ebenfalls kritisch gegenüber sub­stanzialistischen Ansätzen, aber dennoch vom Relationismus zu unterscheiden, ist die These, dass Klassifikationen sich um exemplarische Fälle herum bilden: „If the ‚classical theory‘ states that all category members share the same properties, then any demonstration that in a given category some members are more representative than others can be taken as a strong suggestion that the classical model is wrong.“ (Fabbri 1999, S. 5) Es ist möglich hier von exemplarischen Klassifikationen zu sprechen, wie sie zuletzt in Anlehnung an Hannah Arendts (1985) Diskussion der Kritik der Urteilskraft Immanuel Kants (1995) verhandelt wurden (Dekker 2016; Karpik 2011, S. 51 ff.). „[D]ie Urteilskraft [wird dabei] als das Vermögen des menschlichen Geistes, sich mit dem Besonderen zu befassen [begriffen]“ (Arendt 1985, S. 26; H. J. K.). Ein Urteil kommt demnach zustande, wenn eine Verbindung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen gestiftet wird, bei dem das Besondere einer Allgemeinheit zugeordnet werden kann, ohne dessen Individualität zu beseitigen: „denken heißt verallgemeinern. Somit ist Urteilen das Vermögen, das Besondere und das Allgemeine auf geheimnisvolle Weise miteinander zu verbinden. Das ist verhältnismäßig einfach, wenn das Allgemeine gegeben ist – als Regel, Prinzip, Gesetz –, so daß das Urteil diesem das Besondere lediglich unterordnet. Die Schwierigkeit wird groß, wenn nur das Besondere gegeben ist, zu dem das Allgemeine gefunden werden muss.“ (Arendt 1985, S. 101) Genau vor diesem Problem steht man jedoch nach Kant bei Geschmacksurteilen. Gefordert ist hier ein hohes

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Maß an schöpferischer Kraft und Kreativität, da das Besondere, um intelligibel und kommunikabel werden zu können, sich ein Allgemeines, dem es fortan angehört, erst schaffen muss. Erik Dekker (2016, S. 106) hält dazu fest: „The type of reasoning called for in such cases is different from two well-known other modes of reasoning. The deductive mode of reasoning starts from a universal law and then deduces what is true of the particular as in the time tested: All men are mortal, Socrates is a man, and therefore Socrates is mortal. The other type of reasoning, prominent in the social sciences, is inferential reasoning which observes many particulars to arrive at ‚empirical regularities‘ which at some stage would preferably be formulated as universal laws.“

Der substanzialistische Modus der Klassifikation legt eine deduktive Logik nahe, weil er von feststehenden Qualitäten ausgeht, die etwa – um Arendts Beispiel zu wählen (vgl. 1985, S. 101 f. sowie Dekker 2016, S. 106 f.) – einen Tisch als Tisch auszeichnen beziehungsweise die Zuordnung eines besonderen Gegenstands zur Kategorie der Tische erlauben. Das induktive Schließen entspricht eher der relationalen Klassifikationslogik, weil es auf einem Vergleich verschiedener Entitäten beruht, bei dem das Gemeinsame in der Operation des Vergleichens erst gefunden werden soll (auch Heintz 2010, 2016). Arendt (1985, S. 102) schlägt in Anlehnung an Kant die exemplarische Methode als eine dritte Art und Weise der Vermittlung zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen vor: „Eine weitere Möglichkeit bleibt, und hiermit betritt man den Umkreis von Urteilen, die keine Erkenntnisse sind. Man mag einen Tisch antreffen oder sich ausdenken, den man für den bestmöglichen erklärt, und man nimmt diesen Tisch als Beispiel dafür, wie Tische in Wirklichkeit sein sollen: der exemplarische Tisch“. Beispiele für die exemplarische Klassifikationslogik finden sich häufig in Musikrezensionen wie dem folgenden Ausschnitt aus Markus Schneiders Besprechung von Tame Impalas Album Currents aus dem Rolling Stone (Aug. 2015): „Weil er die psychedelische Entgrenzung nun auch im kontinuierlichen Energiestrom der Tanzmusik entdeckt hat, klingt ‚Currents‘ nicht nur deutlich und flirrend elektronisch dominiert, sondern auch stärker an Clubsounds interessiert – ‚Let It Happen‘, wie der prachtvoll preschende Opener fordert. Dort möhrt er achteinhalb euphorische Minuten lang über einen poppigen, bunt fanfarisch geschmückten House-Beat, mit schwelgenden Streicher-Synths und einer süß steigenden Stimme. Wie stets erinnert sie ein wenig an John Lennon, aber durch die Pet Shop Boys gefiltert. Er feiert mit 80er-R&B-Drall brummend und britzelnd moduliert ‚The Moment‘, säuselt in ‚Past Life‘ verhallend zu einem flauschigen Hip-Hop-Beat, und ein Hauch Michael-JacksonFalsett strömt nicht nur durch den entspannten Groove von ‚Cause I’m A Man‘. In der

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Gitarrenarbeit und den Drumsounds erkennt man durchaus die Rockprägung. Doch die Stimmung erinnert mehr an die frühen Pink Floyd.“ (H. J. K.)

Erik Dekker (2016) zufolge handelt es sich bei solchen exemplarischen Verweisen, wie hier auf John Lennon, die Pet Shop Boys, Michael Jackson oder Pink Floyd, um „judgment devices“ oder „urteilsbildenden Instanzen“. Solche urteilsbildenden Instanzen werden auf Märkten für „singuläre Güter“, die mehrdimensional, in ihrer Qualität ungewiss und unvergleichlich sind, notwendig (Karpik 2011, S. 20 ff. sowie Kropf 2018). Auf solchen Märkten ist der Preiswettbewerb gegenüber dem Qualitätswettbewerb zweitrangig. Da die Beurteilung von Qualität allerdings umstritten ist, werden vermittelnde Instanzen benötigt, die Konsumierende bei ihrer Urteilsbildung unterstützen. Für Dekker (2016) sind „exemplary goods“ paradigmatisch für Märkte, auf denen singuläre Güter gehandelt werden, zumal ihnen der Spagat zwischen Kategorisierung und Bewahrung der Einzigartigkeit in besonderem Maße gelingt. Im Gegensatz zur substanzialistischen Klassifikation ordnet die exemplarische Klassifikationen die betrachteten Einheiten nicht einfach einem bestehenden Allgemeinen unter und macht sie dadurch zum Exemplar einer Gattung. Sie negiert aber auch nicht die „Eigenkomplexität“ und „innere Dichte“ (Reckwitz 2017, S. 52) der betrachteten Einheiten, wie es bei relationalen Klassifikationen der Fall ist. Sie ist damit intrinsisch und zugleich am Besonderen orientiert. Um überhaupt ein Urteil fällen, eine Bewertung vornehmen zu können, ist eine Art von Relationierung oder Vergleich notwendig. Andernfalls müsste jeder Einzelfall als inkommensurabel und damit gleichwertig betrachtet werden. Umgekehrt ist die exemplarische Klassifikation in hohem Maße darum bemüht, Bewertungen im Modus der „Singularisierung“ vorzunehmen, wie man mit Andreas Reckwitz (2017, S. 66 f.) sagen könnte. In dem oben zitierten Ausschnitt aus dem Rolling Stone werden die verschiedenen Referenzen (John Lennon, Pet Shop Boys etc.) nicht angeführt, um die LeserInnen zum Kauf der entsprechenden Tonträger zu bewegen, sondern um ihnen anhand exemplarischer „Meilensteine“ der Pop- und Rockgeschichte ein Urteil über das rezensierte Album zu ermöglichen. Amazons Empfehlungsalgorithmus verweist dagegen zum Beispiel durchgängig auf zeitgenössische Bands, die – wie Tame Impala selbst – der „Indie-Sparte“ zugeordnet werden können (z. B. Destroyer, Beach House, The Maccabees oder Julia Holter) und entspricht damit eher der vierten Form des Verweises. Funktionalistische Klassifikation: Diese könnte man als funktional oder instrumentell bezeichnen. Es ist dann nicht entscheidend, ob die klassifizierten Entitä­ ten geteilte (intrinsische) Eigenschaften aufweisen, sondern welche (extrinsischen) Effekte sie in einer gegebenen Situation (und ggfs. für eine bestimmte Person) zeitigen. Unabhängig davon, ob bestimmte musikalische Formen einem

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gemeinsamen Genre zugeordnet werden, können sie zum Beispiel ihrer Funktion nach in dieselbe Kategorien fallen: So gibt es Formen von Rockmusik und Elektro, die sich entweder zum Entspannen oder zum Feiern von Partys eignen. Genauso kann ich mir eine Playlist von Liedern zusammenstellen, die mich in eine melancholische Stimmung versetzen, da sie zum Beispiel spezifische Erinnerungen evozieren.31 Dieser funktionale Modus der Klassifikation findet sich, wie oben ausgeführt, in den Playlists auf Streamingportalen. Charakteristisch für funktionale Verweise ist die Reduktion „mehrdimensionaler“ (Karpik 2011) Güter auf eine einfache, oft (aber nicht notwendigerweise) quantifizierbare Dimension. Dies ist bereits bei Musikcharts der Fall, aber auch in Empfehlungssystemen, die primär auf dem Prinzip der Popularität beruhen. Prozesse, in denen die Einzigartigkeit von Produkten durch die Einführung einheitlicher Vergleichsmaßstäbe zurückgedrängt werden, nennt Karpik (2011, S. 277 ff.) „Entsingularisierung“. Den oben dargestellten Übergang vom exemplarischen zum funktionalen Verweis kann man in diesem Sinne als „entsingularisierend“ deuten: Das inhaltliche (Qualitäts-)Urteil wird durch eine „semantisch leere“ (vgl. Diaz-Bone in diesem Band) Referenz ersetzt, die sich am bloßen Kaufakt vermeintlich ähnlicher Kunden orientiert. Während sich funktionale Klassifikationen in das Einfügen, was Reckwitz (2017) mit der „formalen Rationalisierung“ und Praktiken des „doing generality“ (Reckwitz 2017, S. 37) identifiziert, bewegt sich die exemplarische Klassifikation in den Bahnen der Singularisierung: „Auch die formale Rationalisierung schreibt den Elementen im weitesten Sinne natürlich Wert zu, aber es handelt sich dabei um einen funktionalen oder instrumentellen Wert, das heißt eigentlich einen Nutzen oder eine Funktion im Rahmen einer Ordnung, einer Rangliste oder Skala […]. Hingegen valorisiert die Logik der Singularitäten die Entitäten in einem genuinen Sinn, indem sie sie mit einem Eigenwert ausstattet, so dass sie für sich genommen wertvoll, gut und bedeutsam zu sein scheinen.“ (Reckwitz 2017, S. 67; H. i. O.)

31 Um sich den hier anvisierten Unterschied zwischen funktionalen Klassifikationen auf der einen Seite und substanzialistischen Klassifikationen auf der anderen Seite zu verdeutlichen, ist es möglich an die Unterscheidung zwischen einer Gesinnungs- und einer Verantwortungsethik bei Weber (2012) zu denken. Während die Gesinnungsethik essentialistisch an spezifischen, als unhintergehbar verstandenen Prinzipien festhält, ist die Verantwortungsethik bereit, diese Prinzipien situational auf eine gewünschte Funktion hin auszulegen.

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Fazit

Der vorliegende Beitrag hatte zunächst das Ziel, in einen bisher vernachlässigten Bereich einzuführen: digitale Bewertungspraktiken in der populären Musik, insbesondere hinsichtlich algorithmischer Empfehlungssysteme. Dafür wurden Charakteristika der gegenwärtigen Bewertungslandschaft benannt und die Funktionsweise von Recommender Systems im Kontext von Streamingdiensten kurz umrissen. Im Folgenden wurde die Kritik an diesen Systemen referiert. Die zweite Hälfte des Beitrags war dann den Gestaltungsoptionen algorithmischer Empfehlungssysteme gewidmet. Ausgehend von der These, dass Algorithmen nicht einer spezifischen, feststehenden Logik gehorchen, sondern, dass sich in Algorithmen eine Vielzahl von Logiken einschreiben lässt, wurden zwei Ansatzpunkte der Gestaltung differenziert: Erstens die Frage, wie der Kurationsprozess grundsätzlich, noch vor der konkreten technischen Umsetzung konzeptionalisiert werden soll beziehungsweise wer die Verantwortung für Empfehlungslogiken und Zielvorga­ ben trägt und zweitens, nach welchem inneren Organisationsprinzip Klassifikationen gestaltet werden sollen. Die oben ausgeführte Kritik an Empfehlungssystemen kann nun abschließend an die entsprechenden Gestaltungsoptionen rückgebunden werden. Auf der ersten Ebene erscheinen die algorithmischen Empfehlungssysteme der großen Streamingdienste als eine Form des Paternalismus durch privatwirtschaftliche Akteure, die vor allem daran interessiert sind, Profite dadurch zu generieren, dass sie KonsumentInnen auf den entsprechenden Plattformen halten. Fragen der intrinsischen Qualität kultureller Güter oder der demokratischen Aushandlung über Zielvorgaben algorithmischer Empfehlungen werden dementsprechend dem Imperativ der individuellen Passung und der Vermeidung von Diskrepanzerfahrungen geopfert. Hier stellt sich die Frage, inwiefern andere Formen der Beteiligung oder Delegation entsprechend der genannten Modelle möglich sind. Auf der zweiten Ebene scheinen die gängigen Empfehlungsalgorithmen vor allem funktional auf die Generierung von Kaufakten oder die Anpassung an bestehende Stimmungslagen ausgerichtet zu sein. Sie können zudem eher substanzialistisch funktionieren und damit die Bindung an bereits bestehende Geschmacksvorlieben befördern (inhaltsbasierte Verfahren) oder eher einer relationalen Logik gehorchen, die aber dazu neigt, in bestimmten Gruppen populäre Güter zu empfehlen und die gänzlich frei von Qualitätszuschreibungen ist (kollaborative Verfahren). Hier wäre zu diskutieren, welche Logik in die entsprechenden Algorithmen eingebaut werden soll. Der im vorliegenden Beitrag aufgespannte Möglichkeitsraum potenzieller Gestaltungsoptionen kann dabei als Denkanstoß und Diskussionsgrundlage über die Neuformierung algorithmischer Empfehlungen (bzw. der Bewertungslandschaft im Zuge der Digitalisierung insgesamt) dienen und zur Debatte

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darüber anregen, welche Formen des Kompromisses zwischen den verschiedenen Kritiken und Gestaltungsoptionen möglich wären.

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„Ich denke, es ist wichtig zu verstehen, warum die Netzwerkanalyse jetzt populär und besonders interessant für die Forschung geworden ist.“ Im Gespräch mit einem Mathematiker und einem Informatiker Tom Hanika, Mark Kibanov, Jonathan Kropf und Stefan Laser

Zusammenfassung  

In diesem Interview befragen zwei Soziologen einen Mathematiker und einen Informatiker zu den Grundlagen der Netzwerkanalyse. Das Interview ist durch Reflexionen und Gedankenexperimente aufgelockert und führt das Thema der digitalen Bewertungsinfrastrukturen so aus einer experimentellen Perspektive ein. Der Schwerpunkt liegt auf der (oftmals unsichtbaren) Arbeit, die hinter Netzwerkinfrastrukturen steht. Es wird über die lange Forschungstradition der Netzwerkanalyse gesprochen, disziplinäre und in­terdisziplinäre Herausforderungen werden diskutiert, zudem wird ein Einblick gegeben in aktuelle Forschungen zum Thema der Wissensverarbeitung, mit denen sich die befragten Personen beschäftigen. Berichtet wird etwa von Waldbränden auf Indonesien, die mit Daten von Twitter in einem UN-Projekt für die lokale Regierung aufbereitet werden, und von mathematischer Auseinandersetzung mit Individualität, die sich auch auf soziologische Grundbegriffe bezieht. In diesem Beitrag werden zudem Dokumente und wissenschaftliche Praktiken analysiert; im Sinne der Science and Technology Studies wird sich der „Science in Action“ und ihrer Unsicherheiten angenähert. Schlagwörter  

Interview, Interdisziplinarität, Netzwerkanalyse, Computational Social Science, Science and Technology Studies, Graphen, Twitter, Positivismus

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Kropf und S. Laser (Hrsg.), Digitale Bewertungspraktiken, Soziologie des Wertens und Bewertens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21165-3_7

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Tom Hanika, Mark Kibanov, Jonathan Kropf und Stefan Laser

Einleitung

Der folgende Text ist ein „gebautes Interview“1, das auf mehreren Treffen beruht, die im Sommer 2017 zwischen Tom Hanika, Mark Kibanov und den beiden Herausgebern des Sammelbands stattgefunden haben. Gebaut meint dabei, dass wir das Interviewgespräch verschriftlicht und dann in ein Narrativ eingeflochten haben. Wir beschreiben auch Handlungen und Interaktionen, um das Gespräch lebhaft zu gestalten. Das Ziel dieses Beitrags ist, mit einer alternativen Per­spektive einen Einstieg in das Thema der Bewertungspraktiken in der mathematischen Netzwerkanalyse zu erhalten. Es wird in der Soziologie zurzeit viel über Algorithmen und Big Data gesprochen, man nähert sich einem neuen Themengebiet an. Hier gehen wir einen Schritt zurück und sprechen sozusagen mit Akteuren, die in den Datenwelten beheimatet sind. Mit zusätzlichen Daten, Visualisierungen und Informationen führen wir zudem Anschauungsmaterial ein. Es geht uns aber nicht nur um Veranschaulichung, sondern um (Natur- und Technik-)Wissenschaft als Praxis. Wir zeigen also auf, wie mit digitalen Daten Wissen gebaut wird. Damit wollen wir keine Kritik üben, sondern deutlich machen, welche aufwendige und oftmals kunstvolle Arbeit hinter dem Wissen der Informatik und Mathematik steht. Dazu greifen wir an geeigneten Stellen auf Hinweise der Science and Technology Studies (STS) zurück (einführend: Beck et al. 2012). Die Einschübe zwischen den Interviewpassagen (jeweils kursiv hervorgehoben) nutzen wir als lockere Übungen, um das Gespräch soziologisch einzuordnen. Diese sollen nicht als abschließende Deutungen verstanden werden, gleichzeitig gilt aber auch, dass diese ad-hoc-Interpretationen eher auf die Herausgeber denn auf die Interviewten zurückgehen. Das Adjektiv „gebaut“ ist auch insofern passend, weil der Begriff nebenbei darauf verweist, dass wir die Interviewpassagen gezielt ausgewählt und arrangiert haben, es sich hier also nicht um die „natürliche“ Ordnung handelt, in der alle Aussagen getätigt wurden. Aus unserer Sicht ist nicht die entscheidende Frage, ob Inhalte konstruiert (also zusammengestellt oder gebaut) sind, sondern ob die Konstruktion gelungen beziehungsweise gut ist – das ist eine zentrale Erkenntnis der Konstruktivismusdebatte in den STS. Im Zuge der Korrektur des Interviews wurden in diesem Sinne auch offensichtliche Fehler der mündlichen Sprache korrigiert, hier haben wir uns aber bemüht, die Änderungen auf ein Minimum zu reduzieren. Zu den institutionellen Rahmenbedingungen: Tom Hanika und Mark Kibanov sind wissenschaftliche Mitarbeiter am Fachgebiet Wissensverarbeitung der 1

Der Begriff des „gebauten Interviews“ stammt aus dem Journalismus und kennzeichnet eine Erhebungs- und Darstellungsform, die vor allem für lange und komplexe Gespräche verwendet wird, die dadurch aufgelockert werden.

„Ich denke, es ist wichtig zu verstehen, warum die Netzwerkanalyse …“ 167

Universität Kassel und beschäftigen sich aus der Perspektive der Mathematik und Informatik mit der Analyse sozialer Netzwerke. Die Gespräche drehten sich vor allem um den spezifischen Zugriff der Informatik auf soziale Netzwerke, den epistemologischen Stellenwert von Modellen (wie Graphen) sowie mögliche Kooperationen zwischen Informatik und Soziologie. Es wird auch von aktuellen Forschungsprojekten berichtet, die teilweise noch durch Unsicherheiten geprägt sind. Grundlage der Unterhaltung ist die gemeinsame Beteiligung am Wissenschaftlichen Zentrum für Informationstechnik-Gestaltung der Universität Kassel (ITeG)2, wo auch die Interviews geführt wurden.

2

Über einige Grundlagen der Netzwerkanalyse

Jonathan Kropf/Stefan Laser [JK/SL]:3 Ihr beschäftigt euch ja viel mit sozialen Netzwerken. Könnt ihr uns euer Forschungsgebiet etwas genauer erklären und sagen, welche Art von Aussagen ihr auf der Basis eurer Forschung treffen könnt ? Mark Kibanov [MK]: Unser Forschungsgebiet umfasst unter anderem die Bereiche Computational Social Science, Data Mining und Knowledge Discovery. Zu den Herausforderungen, zu deren Lösung die Informatik in diesem Zusammenhang beitragen kann, gehört meines Erachtens die Bearbeitung großer Datenmengen. Es gibt gesellschaftlich relevante Fragen und Aufgaben, die nur durch die automatisierte Analyse von großen (von Menschen erzeugten) Datenmengen beantwortet werden können. Oft stehen den Forschenden nur Online-Daten zur Verfügung, mit deren Hilfe sie Modelle bauen, die Aussagen über die Off‌line-Welt ermöglichen sollen. Diese Vorgehensweise eröffnet natürlich weitere Probleme. Zum Beispiel kann die Datengrundlage unvollständig sein. In meiner Forschung versuche ich zu verstehen, inwieweit die Online-Welt als „Proxy“ (das heißt als Stellverstreter) für die Off‌line-Welt genutzt werden kann und wie diese Ergebnisse für die soziologische Forschung nutzbar gemacht werden können. Tom Hanika [TH]: Unser Untersuchungsgegenstand sind Netzwerke, aber wir arbeiten nicht notwendigerweise mit den klassischen Methoden der Netzwerkanalyse. Vielmehr versuchen wir neue Methoden zu entwickeln. Dabei müssen 2 3

http://www.uni-kassel.de/eecs/iteg/startseite.html. Zugegriffen: 15. August 2017. Wir Herausgeber treten hier als Kollektiv auf, da wir die Fragen zusammen ausgearbeitet haben und unsere individuellen Stimmen nach hinten treten sollen. Im Sinne des „gebauten Interviews“ dienen die Fragen zudem eher zur Strukturierung der Interviewpassagen. Sie geben unsere ursprünglich gestellten Fragen in einer präzisen, d. h. gekürzten Form wieder.

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Tom Hanika, Mark Kibanov, Jonathan Kropf und Stefan Laser

wir unterscheiden zwischen expliziten sozialen Netzwerken (z. B. Facebook, Twitter) und Daten, die implizit ein solches enthalten beziehungsweise als ein solches in­terpretiert werden können (z. B. das Netzwerk der Schauspieler (Watts und Strogatz 1998)). Wir können sagen, dass wir ein soziales Netzwerk haben, weil (menschliche) Individuen irgendwie miteinander verbunden sind, was auch immer die jeweilige Verbundenheitsrelation ist. Sobald es solche Verbindungen gibt, können wir von einem (sozialen) Netzwerk sprechen. Das ist der erste Schritt: ich identifiziere etwas in der Welt Existierendes als (soziales) Netzwerk. Dann kommt Schritt zwei: Ich suche ein mathematisches Modell, das das Netzwerk ausreichend gut darstellt, um mir eine weitere Analyse zu ermöglichen. Ein beliebtes mathematisches Modell hierfür sind Graphen, die in der Mathematik schon seit fast 300 Jahren erforscht werden. MK: Ich denke, es ist wichtig zu verstehen, warum die Netzwerkanalyse jetzt po-

pulär und besonders interessant für die Forschung geworden ist. Dies lässt sich an dem Unterschied zum Data Mining der 1980er und 90er Jahre erklären. Dort hatte man beispielsweise Einkäufe in Supermärkten analysiert und versuchte, Zusammenhänge zwischen diesen zu ermitteln. Dafür wurden vorrangig statistisch basierte Methoden genutzt. Heute stehen wesentlich größere Mengen an Daten zur Verfügung, sogenannte Big Data, die auch noch gehaltvoller und vernetzter sind. Das ermöglicht und zwingt uns diese Daten als Netzwerke zu betrachten, um zum einen implizite Verbindungen entdecken zu können und zum anderen, um keine Information aus dem Datenreichtum zu vernachlässigen. TH: Interessanterweise ist es dabei zunächst für viele Methoden auch völlig egal,

welche Art von Netzwerken man analysiert: Weil man alles als eine Art Graph auffasst, gelten die Eigenschaften, die man errechnen kann, überall. Es kann sich dabei um eine Gruppe von Frauen handeln, die sich gegenseitig zu verschiedenen Events einladen, wie in der klassischen Studie von Davis et al. (1941), um die Vernetzung zwischen Twitter-Usern, aber auch um die Vernetzung von Internetknoten oder Molekülen in unserer DNA. Bemerkenswert ist also, dass man die gleichen Netzwerkanalysen auf sehr heterogene Fälle anwenden kann, um zum Beispiel festzustellen, wie stark die Elemente eines Netzwerks miteinander verbunden sind. Die Frage am Ende ist dann immer: Welche Eigenschaft des Graphen ist für die jeweilige Fragenstellung relevant ? JK/SL: Die Analyse sozialer Netzwerke findet ja auch in der Soziologie statt. Wie

unterscheidet sich da euer Vorgehen ?

„Ich denke, es ist wichtig zu verstehen, warum die Netzwerkanalyse …“ 169

MK: Zunächst zum Begriff der sozialen Netzwerke – wie Tom bereits angedeutet

hat: Für uns sind soziale Netzwerke das, was Soziologen darunter verstehen, aber eben nicht nur ! Neben klassischen sozialen Netzwerken, wie Facebook und Twitter, betrachten wir auch implizite soziale Netzwerke, wie das Schauspieler-Netzwerk oder Zitations- oder Ko-Autoren-Netzwerke. Darüber hinaus analysieren wir auch Netzwerke, die nicht direkt als sozial angesehen werden. Das sind unter anderem Informationsnetzwerke (z. B. das Netzwerk der Webseiten), biologische Netzwerke (z. B. die Interaktion von Proteinen) oder technologische Netzwerke (z. B. das Stromnetz). Davon ausgehend versuchen wir nun Strukturen zu identifizieren, die allgemein für alle diese Netzwerke gelten beziehungsweise die sie unterscheiden, gerade im Hinblick auf soziale Netzwerke. Interessanterweise besitzen die Netzwerke sehr viele ähnliche Eigenschaften, obwohl sie unterschiedlicher Natur sind und unterschiedlich aufgebaut sind. Die Experten der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen können dann anschließend unsere Ergebnisse mit ihrer jeweiligen Wissensdomäne verbinden. Um solche Analysen anzustellen, müssen mindestens drei Aufgaben gelöst werden. Es müssen erstens bestehende Metriken und Maße evaluiert und gegebenenfalls weiter entwickelt werden, um relevante Netzwerkgrößen abzubilden. Zweitens müssen passende Netzwerkmodelle gefunden werden, die die Eigenschaften realer Netzwerke reflektieren. Das Dritte schließlich ist die Frage nach der Berechenbarkeit sowie Komplexität und die damit verbundene Entwicklung von Algorithmen. JK/SL: Du hast eben von Netzwerkmodellen gesprochen. Kannst du darauf noch

einmal genauer eingehen ?

MK: Lass mich ein paar Beispiele von Netzwerkmodellen nennen und erläutern, wie sie mit realen Netzwerken korrespondieren. Eines der ersten Netzwerkmodelle haben sich Paul Erdős and Alfréd Rényi überlegt, zwei ungarische Mathematiker (Erdős und Rényi 1959). Ausgehend von n Knoten und der Annahme, dass die Wahrscheinlichkeit, dass zwischen zwei Knoten eine Kante existiert, überall gleich ist, wird ein Netzwerk erstellt. Vorher festgesetzt wird also nur eine feste Anzahl von Knoten und eine feste Anzahl von Kanten beziehungsweise eben die entsprechende Wahrscheinlichkeit. Was die Autoren damals schon mit ihrem Modell vorhersagen konnten, war, dass ein Graph dieser Art eine sehr große Zusammenhangskomponente besitzt, wenn eine kritische Anzahl an Kanten überschritten wird. Eine Zusammenhangskomponente ist ein Subgraph ohne isolierten Knoten oder Knotengruppen. Jeder Knoten ist somit von allen anderen Knoten im Subgraph erreichbar.

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Während wir uns über diese Grundlagen der Netzwerkanalyse unterhalten, in einem Seminarraum des Fachgebiets, sitzt Mark neben seinem Laptop. Nun möchte er uns auch zeigen, wie die zuletzt dargestellte These modelliert wird. Die Informatik gewinnt durch derartige Simulationen Anschaulichkeit, in der universitären Lehre ist es eine große Hilfe, so Mark. Und es gibt eine Vielzahl an Programmen, die bei dieser Veranschaulichung Hilfestellung leisten (siehe Abb. 1). In einem späteren informellen Gespräch in der Mensa mit unseren (soziologischen) Kolleg_innen Ca­tharina Lüder und Jonas Müller diskutieren wir mit Bezug auf unser Interview darüber, welche Funktionen Modelle und Simulationen in der Informatik möglicherweise haben: Sie helfen Komplexität handhabbar zu machen – so ein vorläufiges Ergebnis unserer gemeinsamen Überlegungen. Sie haben dabei aber auch eine generative Funktion, das heißt: sie machen einen Unterschied. Sie machen (neue) Komplexität. Mark tippt Zahlen ein, verschiebt ein paar Balken, die Netzwerke ändern sich, Theorien ändern sich und damit auch die Art und Weise der Analyse. Simulationen machen so aber auch Objektivität, könnte man mit Blick auf klassische Erkenntnisse der Science and Technology Studies (Stichwort: Laborstudien) sagen. Für sich genommen bringen die modellierten Szenarien keine Objektivität hervor; dann aber, wenn sie direkt mit vorherigen Beobachtungen und Theorien verbunden werden, und vor allem dann, wenn mit ihnen spielerisch Unsicherheiten erforscht werden, arbeiten Modelle daran mit, Aussagen zu stabilisieren – und damit Objektivität zu generieren. MK (weiter): Ein interessantes Experiment, in dem diese Eigenschaft in einem ech-

ten sozialen Netzwerk viel später gefunden wurde, stammt von Jure Leskovec und Eric Horvitz (2008). Sie haben das Netzwerk des damaligen Microsoft Messengers MSN mit 240 Millionen Knoten und 30 Milliarden Kanten daraufhin ausgewertet, wer mit wem befreundet ist und sich angeschaut, wie die größte Komponente dort aussieht. Dabei wurde festgestellt, dass 99,9 % der Nutzer dieser größten Komponente angehören. Somit hat man die gleiche Eigenschaft in einem echten sehr großen Netzwerk beobachtet, wie man sie auch im Modell von Erdős und Rényi beobachten kann. Diese Beobachtung wurde auch in vielen anderen Netzwerken bestätigt. Eine immer wieder bestätigte Tendenz in Netzwerken ist auch, dass es wenige Knoten mit einer sehr hohen Anzahl an Verbindungen gibt, sogenannte Hubs, und sehr viele verbindungsarme Knoten. Protein-Interaktion, Science-Collaboration, das Internet – überall findet man diese Tendenz ! Das ist faszinierend: Ob es um unsere Gene geht oder um die Interaktion auf Facebook, man sieht immer ein ähnliches Muster. In der Soziologie wurde dies als Pareto-Verteilung erklärt: grob gesagt, wenige Reiche haben sehr viel Vermögen, aber sehr viele Arme haben keins. Um dieses Phänomen zu beschreiben, wurde von Barabási und Albert (2002) ein praktikables Modell entwickelt. Dieses basiert darauf, dass neuhinzukommende Knoten in einem sozialen Netzwerk sich eher mit einem Kno-

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Abbildung 1  Erdős-Rényi-Modell, Simulation in einer NetLogo-Umgebung. Links: die Größe der größten Zusammenhangskomponente (abhängig von der Anzahl der Kanten im Graph). Rechts: Erzeugter Graph (die Elemente der größten Zusammenhangskomponente sind dunkel markiert). Eigene Screenshots.

ten verbinden, der bereits viele Verbindungen hat. Zum Beispiel: Wer sich neu bei Twitter anmeldet, wird eher Donald Trump folgen als irgendeiner beliebigen anderen Person, die selbst nur wenige Follower hat. Die zugrundeliegende mathematische Eigenschaft wird als „preferential attachment“ bezeichnet. Mark zeigt uns eine weitere Simulation, die nun das Preferential-AttachmentModel erklären soll (siehe Abb. 2). Im Gespräch wird immer wieder deutlich, dass es beim Zugriff der Informatik auf Netzwerke vor allem um verallgemeinerungsfähige Merkmale geht: Gibt es bestimmte mathematisch berechenbare Eigenschaften, die für alle Netzwerke gelten ? Die Behandlung spezifischer Entitäten als „Netzwerke“ impliziert somit eine „Gleichheitsunterstellung“, die vergleichende „Differenzbeobachtungen“ (Heintz 2010, S. 164) möglich macht. Dafür sollen auch (wie später deutlich wird) Kennziffern errechnet beziehungsweise Maße gefunden werden, anhand derer sich Netzwerke voneinander unterscheiden lassen. MK (weiter): Ein letztes Beispiel ist angelehnt an das bekannte „Kleine-Welt-Ex-

periment“ von Stanley Milgram (Travers und Milgram 1969). Die Hypothese des Psychologen war, dass alle Menschen auf der Erde über circa sechs Kanten in der „Bekanntschaft-Relation“ miteinander verbunden sind – resultierend in dem po-

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Abbildung 2  Preferential-Attachment-Modell (Simulation in einer NetLogo-Umgebung). Links: die Knotengradverteilung. Rechts: Erzeugter Graph. Nur wenige Knoten haben eine große Anzahl von Nachbarn. Eigener Screenshot.

Abbildung 3  Verteilungen der kürzesten Pfadlängen zwischen zwei beliebigen Knoten in verschiedenen Netzwerken: im Milgram-Experiment (Travers und Milgram 1969) (links) und im MSN.Netzwerk (Leskovec und Horvitz 2008) (rechts).

„Ich denke, es ist wichtig zu verstehen, warum die Netzwerkanalyse …“ 173

pulären Ausspruch von „six degrees of separation“. Es gab lange Zeit Zweifel an seinen Ergebnissen, vor allem aufgrund der unzureichenden Datenbasis und fehlenden weiteren Nachweisen. Auf der Basis der MSN-Daten konnten Leskovec und Horvitz (2008) dann jedoch eine Durchschnittspfadlänge von 6,6 ermitteln. Damit wurden die Ergebnisse des klassischen Milgram-Experiments anhand eines größeren und weltumspannenden Netzwerks bestätigt (siehe Abb. 3). TH: Dieser Effekt ist auch früher schon von Watts und Strogatz (1998) für andere

(kleinere) Netzwerke nachgewiesen worden. In dem genannten Paper ging es insbesondere um ein Schauspieler-Netzwerk – auf der Basis von Daten der Internet Movie Database.4 Das Spannende an vielen gleichartigen Untersuchungen ist, dass auf den meisten Plattformen der Wert sogar noch deutlich geringer ist. Auf Twitter liegt er zum Beispiel bei circa vier (Myers et al. 2014). Diese Größe wird neben einer weiteren, dem „Average Local Clustering Coefficient“ (ALCC), von Watts und Strogatz genutzt, um die Klasse der „small-world networks“ zu charakterisieren. Den ALCC kann man sich ungefähr so vorstellen: Immer wenn X und Y sich kennen und Y kennt Z, wie oft kennen sich dann auch X und Z ? Natürlich sind nicht alle Netzwerke „small-world“, sonst wäre die Charakterisierung ja nicht sehr sinnvoll. Witzigerweise ist die Internetinfrastruktur selbst nicht so gut vernetzt, wie die meisten sozialen Netzwerke online.

3

Über die Ziele der Wissenschaft – disziplinär und interdisziplinär

JK/SL: Ihr habt über das Verhältnis von Modell und Realität gesprochen, könnt ihr vielleicht exemplarisch darauf eingehen, wie eure Wissenschaft mit Wert hantiert – oder gar Daten zu bewerten hilft ? TH: Woran misst man denn Wissenschaft ? Man misst Wissenschaft, meinem

Empfinden nach, an den richtigen Vorhersagen (im Sinne von Aussagen), die man treffen kann und an dem tieferen Verständnis (im Sinne einer konsistenten Struktur), das man generieren kann. Das schöne Beispiel ist immer der Kreationismus: Du kannst natürlich alles in der Vergangenheit so interpretieren, dass es als göttliche Schöpfung erscheint und das lässt sich nicht widerlegen. Es ist ein Modell, das passt und das widerspruchsfrei ist. Das heißt aber nicht, dass man den Kreationismus gegenüber der Evolutionstheorie favorisieren kann, denn das Modell hat ja einen großen Schaden: Man kann zwar die ganze Vergangenheit erklären, 4 http://imdb.com.

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aber man kann keine Vorhersagen daraus folgern oder eine tiefere Struktur offenbaren. Am Ende will man eben nicht nur irgendein Modell, das irgendwie passt, sondern eines, das das Verständnis erhöht und mit dessen Hilfe man wirklich weiteres Wissen ableiten und im besten Fall sogar noch eine Vorhersage für die Zukunft tätigen kann. Ob Graphentheorie also das richtige mathematische Modell für die gegebenen Daten ist, kann man nur daran messen, ob es richtige Vorhersagen trifft und strukturelle Merkmale richtig erklärt. Man kann das an sogenannten Empfehlungssystemen verdeutlichen [vgl. auch Kropf in diesem Band; JK und SL]: Die Evaluierung eines Empfehlungssystems würde zum Beispiel die folgende Frage erfordern: Findet die Person die gemachte Empfehlung auch wirklich gut ? Das ist sozusagen das Schwert, an dem jedes Empfehlungssystem gemessen wird. Ein Beispiel für ein Empfehlungssystem liefert das Publikationsmanagementsystem BibSonomy, an dem Tom als Software-Entwickler beteiligt ist (siehe Abb. 4). BibSonomy ist darauf angelegt, mit Schlagworten und Bookmarks Literatur (gemeinsam) zu verwalten. TH (weiter): Um Empfehlungssysteme zu bewerten, beobachtet man das Nutzer-

verhalten in Umgebungen, die solche Systeme verwenden. In Online-Mediatheken wie Netflix, oder Online-Shops wie Amazon, misst man zum Beispiel, wie oft eine Empfehlung angenommen wurde. Man kann dann natürlich Empfehlungen so anpassen, dass sie eine inhaltliche Breite abdecken beziehungsweise auch gegenteilig eine sehr kleine Diversifikation haben, was gleichzeitig einen Vorteil wie ein Problem darstellt. Ein populäres Beispiel für den letzten Fall sind „Echokammern“, die einzig Informationen im Sinne eines Nutzers empfehlen. An irgendetwas muss man aber jedenfalls messen, ob der Empfehlungsalgorithmus hinter dem System „das Richtige“ tut. Diese Bewertung hängt nach dem obigen Beispiel jedoch stark von dem verwendeten Maß ab. Dennoch, irgendein Maß muss man einführen. Das heißt nicht, dass es das perfekte Maß gibt, aber wenn man gar keins nutzt, ist es ja mehr oder weniger egal, was das Empfehlungssystem tut. Das gilt, wie hier im Kleinen natürlich auch in der gesamten Wissenschaft. Wir messen unsere Erkenntnisse, unseren Fortschritt an allerlei Maßen, insbesondere Zita­ tionszahlen. Auch dieses ist nachweislich noch weit weg von perfekt und mitunter sogar kontraproduktiv (Hicks et al. 2015). Das Gute am wissenschaftlichen Prozess ist aber, dass er erstens evaluiert wird und zweitens neue Versuche unternommen werden, es besser zu machen. Interessanterweise gelangen wir im Laufe unseres Gesprächs (anhand von konkreten Beispielen) immer wieder zu erkenntnistheoretischen und methodologischen Grundfragen, die auch für die Zusammenarbeit von Informatik und Soziologie von Bedeu-

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Abbildung 4  Beispiel für ein Empfehlungssystem, das Schlagwörter für Literatur empfiehlt, entnommen von BibSonomy.org. Hier wurden die Schlagworte „social“ und „network“ vergeben. Das System empfiehlt zusätzlich die Schlagworte „small“, „world“, „collective“, „dynamics“ und „networks“ zu nutzen

tung sind. Dies wurde bereits bei der Thematisierung von Graphen und Modellen sowie Toms Ausführungen zum wissenschaftlichen Forschungsprozess erkennbar. Es deutet sich ein neopositivistisches Wissenschaftsverständnis an (Theorie kann klar von Empirie getrennt werden, Wissen kann kumulativ angehäuft und damit gesteigert werden, Wissenschaften ergänzen sich wechselseitig, …; siehe Laser und Ochs in diesem Band; Hacking 1983, S. 4 f.; Niewöhner 2012, S. 57). Der Drang hin zu erkenntnistheoretischen Grundfragen spiegelt sich aber auch in den folgenden Interviewpassagen: MK: Tom hat da implizit zwei wichtige Stichworte angerissen: „Verstehen“ und „Vorhersagen“. Die Soziologen, mit denen wir arbeiten, versuchen vorrangig zu verstehen. Es interessiert sie weniger, wenn ich sage, dass man mit einem Modell eine um zehn Prozent bessere Vorhersage machen kann. Systembetreiber dagegen, wie zum Beispiel Netflix, wollen zwar in gewissem Maße verstehen, was die Leute mögen, um etwa zukünftige Serien zu konzipieren, aber im Grunde wollen sie, dass die Leute dabeibleiben und die Serien weiter schauen. Viele Informatiker arbeiten an beiden Stellen. Ich denke aber, es ist schon wichtig zu trennen: Verstehen bedeutet normalerweise, dass man in gewissem Maße vorhersagen kann. Vorhersagen zu treffen bedeutet aber nicht, dass man es verstanden hat. Die mathematischen Netzwerkmodelle dienen oft beiden Zwecken. Die in meinen Forschungsgebieten entwickelten Modelle sind oft sehr datengetrieben. Allerdings bleiben sie eben nur Modelle im strengen wissenschaftlichen Sinne, mit all ihren Limitierungen. JK/SL: Welche Rolle spielen Daten in diesem Zusammenhang, speziell Big Data ? MK: Stellt Euch ein Informatikprojekt aus den 80er Jahren vor: Für damalige Verhältnisse bedeutete eine zweistellige Zahl an Megabyte sehr viele Daten. Das könnte als Big Data in den 1980ern gelten, heute muss ein moderner Toaster mehr

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Daten verarbeiten ! Wir haben mittlerweile vielleicht milliardenfach so viele Daten zu allen möglichen Themen. Auf dieser Basis können wir Modelle entwickeln, die genauer und exakter sind, aber die Wissenschaftler in zehn oder zwanzig Jahren werden vielleicht genauso auf unsere Daten und unser Vorgehen zurückschauen, wie wir jetzt auf die Daten und das Vorgehen aus den 80er Jahren. TH: Allein einer unserer Kollegen, der jetzt in Berlin arbeitet, hat zum Spaß alle

deutschen Hochschul-Websites der letzten acht Jahre im Halbmonats-Rhythmus heruntergeladen. Das Ergebnis ist so groß, dass bereits der Index zu den Daten, also nicht der Inhalt, sondern nur das „Wo-Steht-Was“, zehn Terrabyte groß ist – und das gepackt ! Entpackt sind es sogar ungefähr zehn Terrabyte. Das heißt wir reden hier von ein paar hundert Terrabyte nur Daten und das ist sozusagen bloß ein einzelner Wissenschaftler, der dieses Projekt unter vielen anderen hat ! Dagegen sind die von uns verwendeten Datensätze, in der Größe von ein paar Gigabyte, auch schon sehr klein.

Der Begriff Big Data wird seit den 1990er Jahren verwendet und ist in seiner Bedeutung relativ. Das Verständnis von Größe bezogen auf Daten hat sich aufgrund des exponentiellen Wachstums dieser Daten (vgl. Manhart 2011) in den letzten Jahrzehnten radikal verändert. Gleichzeitig zeichnet sich ab, dass mit der Zunahme an Daten auch ein Optimismus bezüglich verbesserter wissenschaftlicher Erkenntnisse verbunden ist. Mehr Daten, mehr Einsicht (mehr Intervention). Ist das Positivismus-in-action ? Und wäre das ein Problem ? Für wen ?

4

Aktuelle Forschungen aus der Nahperspektive: über Waldbrände aus Sicht von Twitter-Nachrichten und die mathematische Erkundung von Individualität

JK/SL: Vielleicht können wir an dieser Stelle einmal versuchen, etwas konkreter zu werden: Mark, gibt es ein aktuelles Forschungsprojekt, an dem Du arbeitest beziehungsweise kürzlich gearbeitet hast ?5 MK: Ich habe ein Praktikum im Pulse Lab Jakarta6 gemacht, einer Einrichtung der UN (United Nations). Dort wird auf einen Big Data-Ansatz gesetzt, um die Daten

für die Entwicklung und den Wohlstand der Menschen in aller Welt zu nutzen. In

5 6

Ausführliche Informationen zum hier beschriebenen Forschungsprojekt finden sich in Kibanov et al. (2017). https://www.unglobalpulse.org/jakarta Zugegriffen: 21. Dezember 2017.

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Indonesien gibt es das Problem, dass die öffentliche Infrastruktur zum Austausch von Informationen nicht ausreichend ist. Das betrifft zum Beispiel Messdaten. Dafür nutzen die Einwohner sehr stark soziale Netzwerke, so kommen zum Beispiel rund zwei Prozent aller Twitter-Nachrichten beziehungsweise Tweets auf der Welt allein aus Jakarta, der Hauptstadt Indonesiens.7 Wir hatten die Vermutung, dass man mithilfe von Sozialen-Netzwerk-Daten den Katastrophenschutz in Indonesien unterstützen kann. Dafür muss man wissen, dass Waldbrände auf Indonesien ein großes Problem sind: Die Waldbrände auf Sumatra produzieren in etwa einen täglichen CO2-Ausstoß, der größer ist, als der tägliche CO2-Ausstoß der gesamten US-Wirtschaft.8 Konkret haben wir dann die Tweets eines Jahres analysiert, die aus Indonesien stammen. Dafür haben wir für Tweets mit waldbrandbezogenen Inhalten eine Kategorisierung eingeführt. Mark zeigt uns das Kategoriensystem, das zusammen mit lokalen Experten entwi­ ckelt wurde (siehe Abb. 5). Entscheidend ist, dass für die jeweiligen Klassifikationen jeweils ein Schlagwort oder eine Schlagwort-Kombination erfüllt sein muss. Klassifikationen (soziotechnische Klassifikationen !) wurden soziologisch lange als Nebensache abgetan. Das ändert sich langsam, auch auf Grund von Pionierarbeit aus den Science and Technologies Studies. Die nunmehr kanonische Definition von Klassifikationen, von Susan Leigh Star und Geoffrey Bowker (2000, S. 10) vorgeschlagen, ist auch hier hilfreich: „A classification is a spatial, temporal, or spatia-temporal segmentation of the world“ so die Wissensanthropolog_innen. Ein Klassifikationssystem wiederum definieren die beiden (ebd.) als „a set of boxes (metaphorical or literal) into which things can be put to then do some kind of work – bureaucratic or knowledge production.“ Was für eine Arbeit wird in diesem Fall verrichtet ? Mark wird hier einige interessante Infrastrukturen transparent machen. MK (weiter): Wir haben im Laufe des Projekts festgestellt, dass es eine hohe Kor-

relation zwischen Waldbränden und Diskussionen auf Twitter gibt. Weiterhin gab es einige interessante Einsichten, zum Beispiel, dass Gesundheitsprobleme, die auf Waldbrände zurückzuführen sind, überall diskutiert wurden, nicht nur dort, wo die Waldbrände tatsächlich aufgetreten sind. Das nächste Problem war, dass die Regierung von Indonesien nicht wusste, ob die Leute die Regionen, für die eine Evakuierung angekündigt wurde, auch wirklich verlassen. Wir konnten anhand der Twitter-Daten zeigen, wie sich die Mobilität der Menschen bei Waldbränden

7 https://semiocast.com/en/publications/2012_07_30_Twitter_reaches_half_a_billion_accounts_140m_in_the_US Zugegriffen: 29. September 2017. 8 http://www.wri.org/blog/2015/10/indonesia’s-fire-outbreaks-producing-more-daily-emissions-entire-us-economy Zugegriffen: 29. September 2017.

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Abbildung 5  Die Regeln für die Kategorisierung der waldbrandbezogenen Tweets (übersetzt aus der Bahasa-Sprache), nach Kibanov et al. (2017)

ändert. Das war möglich aufgrund der in den Meta-Daten der Tweets enthaltenen Ortsinformationen. TH: Tweets haben einen unglaublichen Datenreichtum. Ein Tweet besteht zwar nur aus 140 Zeichen [bzw. nunmehr 280; JK und SL], aber die Meta-Daten dazu

sind ein riesiger Berg. Insgesamt sind es circa 130 Merkmale, die zusätzlich zu den lediglich 140 Zeichen erhoben, generiert und geschätzt werden. Darauf wird viel maschinelles Lernen betrieben. Andersherum nutzt Twitter selbst auch maschinelles Lernen, um zum Beispiel den Ort zu schätzen, von dem der Tweet aus gesendet wurde, wenn er nicht sowieso genau vorliegt. Als Forscher kann man zwar alle diese Daten zu einem Tweet bekommen, aber der Zugriff auf die Menge an Tweets ist beschränkt, das ist Teil des Geschäftsmodells von Twitter. MK: Die UN hatte allerdings alle Tweets für Forschungszwecke für Indonesien:

Die Daten wurden käuflich erworben – hier waren natürlich die Geo-Daten besonders wichtig. Damit hatten wir für Sumatra circa 30 Millionen Tweets. Das Ergebnis des gesamten Projekts war dann ein Tool, der Haze Gazer,9 mit dessen 9

http://hazegazer.org/ Zugegriffen: 21. Dezember 2017.

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Hilfe man die aktuelle Situation visualisieren und beurteilen kann. Dieses Tool benutzen jetzt die Behörden in Indonesien. Eine Besonderheit ist dabei, dass es sich um Live-Daten aus sozialen Netzwerken handelt. Zurzeit wird jeder Abschnitt der Erde vier Mal pro Tag per Satellit fotografiert. Man hat also im schlechtesten Fall eine Verzögerung von sechs Stunden, bevor ein Waldbrand erkannt wird. Auf Twitter hat man im besten Fall eine Verzögerung von wenigen Minuten. Marks Beispiel macht unter anderem deutlich, wie die Bewertungspraktiken verschiedener Organisationen oder Institutionen on- und off‌line (Twitter, von User_in­nen erzeugte Tweets, die UN, eine Gruppe von Forschenden, die indonesischen Regierungsbehörden, etc.) bei der Entwicklung eines technischen Tools zur Situationsbewertung ineinandergreifen. Mit dem im Folgenden dargestellten Forschungsbeispiel Toms kehren wir wieder stärker zu den zuvor diskutierten theoretischen und mathematischen Grundfragen der Netzwerkanalyse zurück. JK/SL: Tom, kannst du uns auch ein Beispiel aus Deiner Forschung geben ? TH: Ich bin eher Theoretiker, mein Forschungsgebiet betrifft das Finden von logi-

schen Theorien in Daten. Das heißt praktisch, ich versuche so effizient wie möglich eine Basis von Regeln in einem Datensatz zu finden. Aus dieser wiederum lassen sich alle gültigen Regeln in diesem Datensatz ableiten, was man als Theorie bezeichnet. Es geht dabei auch um die Frage: was ist berechenbares Wissen ? Für meine Forschung ist Wissen eine gewisse Menge von Regeln nach dem Typ „wenn …, dann …“, die ich aus einer Menge von Daten oder den Eingaben eines Experten ableiten kann. Dabei benutze ich vorrangig die Formale Begriffsanalyse, ein mathematisches Gebiet mit Bezug zur Verbandstheorie (Wille 1982; Ganter und Wille 1999). Die daraus entstehenden Ordnungsstrukturen implizieren die gesuchten Theorien. Das Problem, das dahinter steht, ist aber, dass schon für relativ kleine Datenmengen solche Regelsysteme nicht mehr zeiteffizient zu berechnen sind. Als Beispiel: Hätte man eine Menge von Gegenständen, was immer das ist, die durch sieben verschiedene Merkmale beschrieben werden, so gäbe es dafür schon circa 14 Trillionen mögliche sogenannte „Hüllensysteme“, die den Theorien zugrunde liegen. Für zehn verschiedene Merkmale ist diese Zahl noch nicht mal bekannt. Deshalb arbeite ich im Moment daran, diese Basen zu approximieren. Das heißt, ich will herausfinden, wie ich diese Basis auf eine festgelegte „Nähe“ zu einer gegebenen Wahrscheinlichkeit approximieren kann. Vielleicht ein kleines Beispiel für solche Regeln, das ich immer in Vorträgen verwende: Man nimmt alle Mensa-Speisepläne des Jahres, mit den vielen unterschiedlichen Merkmalen: Ist das Essen vegan ? Ist das Essen vegetarisch ? Enthält es Mehl oder Milch ? Ist Salz, Soja oder was auch immer enthalten ? Wenn ich alle diese Daten habe, könnte ich

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relativ leicht die Regel finden: „wann immer ein Essen vegan ist, dann ist es auch vegetarisch“. Natürlich war das auch schon vorher klar, zumindest für Menschen, die die Begriffe „vegan“ und „vegetarisch“ konzeptuell kennen. Mit den Methoden der Formalen Begriffsanalyse lassen sich nun zum einen neue „Begriffe“ entdecken und zum anderen eben Regeln zwischen diesen finden, die nicht so offensichtlich per Definition gelten. Ein Beispiel aus meiner aktuellen Forschung ist die Untersuchung eines Krebs-Datensatzes, der aus einer Zell-Klassifizierung in circa 550 Beispielen bestand.10 Da stehen Merkmale wie zum Beispiel „Zellkern ist zu groß“ oder „Zellwand ist kaputt“ drin. Insgesamt gibt es 32 Merkmale und ich will gerne wissen, welche Kombination dieser vielen Merkmale impliziert, dass Krebs vorliegt. Das Problem ist aber, wie gesagt, dass dies für zwanzig oder wesentlich mehr Merkmale mit den klassischen Methoden nicht mehr so leicht berechenbar ist. Deswegen versuche ich eben neue Methoden zu erforschen, mit denen man es trotzdem kann – zum Preis eines gewissen Fehlers. JK/SL: Gibt es Anwendungen der Formalen Begriffsanalyse in der Soziologie ? TH: Natürlich können die erwähnten (Regel-)Theorien auch in sozialen Netzwer-

ken sehr interessant sein. Aber eine vielleicht der Soziologie etwas näher stehende Forschungsfrage von mir ist die folgende: Wie kann man innerhalb von sozialen Netzwerkstrukturen Individualität sinnvoll definieren und wie ließe sich diese berechnen ? Meine Hypothese ist, Individualität liegt dann vor, wenn ein Knoten in einem Netzwerk eine stark andersartige Verbindung zu den anderen Knoten des Netzwerks hat. Davon ausgehend ist ein Netzwerk individueller, wenn mehr seiner Knoten individuell sind. Man könnte zum Beispiel wieder das Netzwerk der Schauspieler und ihrer Filme zur Hand nehmen, das sich leicht aus der Internet Movie Database extrahieren lässt. Grob, wenn zwei Schauspieler genau in den gleichen Filmen mitgespielt haben, sinkt die Individualität des Netzwerks. Das wird dann umso spannender, wenn man Teilnetzwerke, die man sich aufgrund irgendwelcher Merkmale ausgesucht hat, untersucht und versucht zu vergleichen. Ich kam daher auf diese Idee, eine Größe zu finden, um zunächst die Netzwerke voneinander zu unterscheiden und dann darauf basierend auch die Individuen innerhalb und zwischen Netzwerken in ihrer Individualität zu unterscheiden. Vor diesem Hintergrund habe ich mich mit der Frage der Individualität beschäftigt (Borchmann und Hanika 2017). Ausgehend von der darin enthaltenen Definition und den eingeführten Methoden geht es also zum einen darum, bestimmte Netzwerke als individueller als andere unterscheiden zu können und zum anderen geht

10 https://archive.ics.uci.edu/ml/datasets/Breast+Cancer+Wisconsin+(Diagnostic) Zugegriffen: 21. Dezember 2017.

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Abbildung 6  Beispiel für ein Netzwerk mit wenig Individualität. Das gezeigte Nutzer-FilmNetzwerk besteht aus Nutzern und Filmen, wobei eine Kante zwischen einem Nutzer und einem Film bedeutet, dass dieser Nutzer diesen Film mag. Eigene Darstellung

es darum, welche Knoten beziehungsweise Nutzer, zum Beispiel bei Twitter, individueller sind. Und: kann ich das überhaupt konsistent in einer Zahl ausdrücken und messen ? Um meine Antwort auf diese Frage verstehen zu können, muss man zuerst verstehen, was ein sogenannter formaler Begriff in diesem Zusammenhang ist. Ich möchte das anhand von einem Beispiel erläutern. Tom steht auf und zeichnet eine Abbildung an die Tafel, die hinter uns an der Wand hängt (siehe Abb. 6). Nun kommen wir zu digitaler Bewertung-in-action. Erneut spielt ein Modell eine entscheidende Rolle, um ein Argument zu veranschaulichen (und möglich zu machen). TH (weiter): Die Abbildung soll folgenden Zusammenhang visualisieren: Es gibt

eine Menge von Leuten, nämlich Jonathan, Stefan, Mark und Tom, und eine Menge von Merkmalen, in diesem Fall sind es Filme, nämlich Star Wars I, Matrix 3 und Star Trek X. Die Namen spielen strukturell natürlich für die Individualität keine Rolle. Ich habe hier also ein Movie-Netzwerk, bei dem die Kanten für Filmvorlieben stehen. Hier gibt es bloß eine Regel: Ich darf zwischen den Leuten keine Kanten ziehen und ich darf zwischen den Filmen keine Kanten ziehen. Da in diesem Beispiel jeder jeden Film mag, ist dieses Netzwerk mehr oder weniger das Gegenteil von individuell. Jeder Film und jede Person sind austauschbar innerhalb des Netzwerks. Dieses Netzwerk ist sozusagen langweilig. Mathematiker oder Informatiker nennen diese Struktur einen „vollständigen bi-partiten Graphen“: Ich kann überhaupt keine weiteren Kanten mehr ziehen. Noch immer an der Tafel stehend zeichnet Tom eine zweite Grafik (Abb. 7). Eine Notiz am Rande: Die Filminteressen sind rein zufällig zugewiesen. Selbstverständlich legen wir hier nicht unsere Lieblingsfilme offen.

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Abbildung 7  Beispiel für ein Netzwerk mit hoher Individualität. Eigene Darstellung

TH (weiter): Ist dieses Netzwerk interessanter als das andere ? Ich würde sagen: Ja !

Hier kann man die Leute nicht mehr so einfach austauschen, weil sie jeweils andere Filminteressen haben, andere sogenannte Nachbarschaften im Graph. Aber ich kann trotzdem noch bestimmte Sachen finden. Ich kann finden: Mark und Stefan haben dieselbe Filmvorliebe, nämlich Star Wars I und Matrix 3. Zusammen bilden all diese Film- und Personenknoten ein bestimmtes Konstrukt, das wir in der Graphentheorie eine „maximale Clique“ nennen. Wir sprechen hier auch von einem „formalen Begriff“: Wenn immer ich frage, wer die Leute sind, die Matrix 3 und Star Wars I mögen, kommt heraus, dass es Mark und Stefan sind. Und wenn ich umgekehrt frage, welche die Filme sind, die Mark und Stefan mögen, kommt Matrix 3 und Star Wars I heraus. In der Formalen Begriffsanalyse bezeichnen wir dann die Menge {Mark, Stefan} als Begriffsumfang und die Menge {Matrix 3, Star Wars I} als Begriffsinhalt. Eine Begriffsbildung in dieser Art würde jetzt zum Beispiel bei Jonathan nicht funktionieren: Wenn ich frage, was die Filme sind, die Jonathan mag, kommt Star Trek X heraus. Wenn ich umgekehrt frage, wer die Leute sind, die Star Trek X mögen, erhalte ich aber Jonathan und Tom. Da passiert etwas, es „wächst“, man sagt, die Menge, die nur Jonathan enthält ist nicht „abgeschlossen“. Meine erste These ist jetzt, dass dieses zweite Netzwerk individueller als das erste Netzwerk ist. Ich kann da mehr Struktur im Sinne der formalen Begriffe finden. Die zweite These ist, dass ich die Individualität der Personen in dem Netzwerk vergleichen kann, allerdings einzig innerhalb der gegebenen Daten. Damit meine ich, die Aussagen lassen nicht notwendig generell auf die Individualität einer Person schließen, sondern nur bezogen auf das gegebene Netzwerk, hier also, den Filmgeschmack für drei konkrete Filme. Die von mir entwickelte Theorie würde jetzt zum Beispiel folgern, dass Tom individueller ist als Mark, Stefan und Jonathan. Das trifft sicher nur hier in diesem künstlichen Beispiel zu. Es ist vielleicht intuitiv, dass Tom individueller als Stefan und Mark ist, denn die beiden letzteren haben ja denselben Filmgeschmack. Der Vergleich zwischen Jonathan und Tom bedarf dagegen der Einführung einer Regel, ist also eine konkrete Ent-

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scheidung. Tom bildet auch einen Begriff. Tom ist der Einzige, der Star Trek X und Star Wars I mag. Jonathan formt jedoch keinen Begriff, wie bereits festgestellt. Tatsächlich bilden Jonathan und Tom zusammen auch einen Begriff, da sie die einzigen beiden sind, die Star Trek X mögen. Also Tom mag alles, was auch Jonathan mag. Allerdings mag Tom noch ein weiteres Merkmal beziehungsweise einen weiteren Film. Deshalb behaupte ich hier – und das ist wie gesagt eine Modell-Festsetzung meinerseits –, dass Tom individueller ist. Man könnte auch so argumentieren, dass Jonathan die Haltung vertritt, nur das eine, Gute zu mögen, was man als individueller verstehen könnte als noch irgendeinen „Schund“ dazu zu mögen, den auch noch andere mögen. Das wäre auch eine mögliche Definition. Ich habe hier aber meine Definition anders gewählt. Diese Ausführungen zeigen, dass Tom unser Treffen auch nutzt, um sein aktuelles Forschungsthema zu diskutieren. Hier gibt es noch Unsicherheit, anders als bei den weiter oben besprochenen Modellen. Das macht die Mathematik als praktische Wissenschaft greifbar. „Individualität“ in dieser Form zu besprechen, ist für die Soziologie noch ungewohnt. Man spricht eher über „Subjektivität“, oder bleibt gleich bei Gemeinschaft oder Gesellschaft oder auch Akteur-Netzwerken, und fragt demgemäß danach, wie Kollektivstrukturen Individuen hervorbringen. Aufschlussreich ist dafür etwa Karl-Heinz Hillmanns (1994) (kompaktes) Wörterbuch der Soziologie, was einige als das Standardwerk der Disziplin ansehen. Unter „Individualität“ heißt es dort schlicht: „→Individuum“ (unter diesem Eintrag wird dann dargelegt, wie Individuen erst durch die Gesellschaft zu Individuen werden). Andreas Reckwitz (2017, S. 56 f.) verweist auf die „enorm changierende Bedeutung“ des Begriffs der Individualität in der Soziologie: „Mit Individualismus/Individualität kann wahlweise das außersoziale Idiosynkratische oder die sozial zertifizierte Einzigartigkeit oder das Besondere im Rahmen einer Ordnung des Allgemeinen bezeichnet werden. Manchmal wird der Begriff der Individualität auf Idiosynkrasien gemünzt. In anderen Fällen werden die Begriffe auf den für die Moderne charakteristischen Individualismus der Gleichheit in seinen verschiedenen Facetten bezogen: auf die gleichen Rechte, die Menschen erhalten, auf die gleiche Würde, die allen Menschen zugeschrieben wird, auf die Eigenverantwortlichkeit und die Eigeninteressiertheit des Handelns – von jedem Besonderen in gleicher Weise.“ Tom macht aber schnell deutlich, worin der Vorzug dieser Perspektive für die Ausdifferenzierung der Netzwerkanalyse liegt: Tom (weiter): Wie kann man damit jetzt Netzwerk-Individualität genau definieren ? Ich kann beispielsweise ein beliebiges bi-partites soziales Netzwerk betrachten und dabei die Benutzer und deren Merkmale wie oben analysieren. Jetzt kann ich in diesem Netzwerk die formalen Begriffe bestimmen. Es ist dabei auch möglich, solche Begriffe zu bestimmen, bei denen der Begriffsumfang eine be­stimmte

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Größe hat, also eine gewisse Anzahl von Nutzern enthält. Wenn ich jetzt weiß, wie viele formale Begriffe ein Netzwerk enthält, dann wäre meine Intuition zu sagen, dass eine größere Zahl solcher einzigartiger Kombinationen für eine größere Individualität des Netzwerks steht. Dabei werden Begriffe mit einem kleineren Begriffsumfang höher gewertet als solche mit einem größeren. Genau das habe ich mir für verschiedene soziale Netzwerke angeschaut und festgestellt, dass sich die definierte Individualität der Netzwerke stark voneinander unterscheidet, obwohl die Netzwerke im Hinblick auf die allgemeinen Netzwerk-Eigenschaften, von denen wir anfangs gesprochen haben, zum Beispiel dem „Clustering-Koeffizient“ oder die durchschnittliche kürzeste Pfadlänge, fast identisch sind. Trotz der Ähnlichkeit kann ich auf diesem Wege also eine strukturelle Eigenschaft finden, bei der sich die Netzwerke stark unterscheiden. Insbesondere gibt es starke Unterschiede bezogen auf die Größe der Begriffsumfänge. Wie kann Toms Forschung soziologisch eingeordnet werden ? Reckwitz (2017) zieht den offenbar präziseren Begriff der „Singularisierung“ dem Begriff der „Individualität“ vor. Singularisierung spricht eine bestimmte Form der Zuschreibung und bestimmte Selbsttechniken an – mit anderen Worten eine spezifische Form der Subjektivierung: „Singularisiert wird ein Subjekt dann, wenn seine Einzigartigkeit sozial wahrgenommen und geschätzt, wenn sie in bestimmten Techniken aktiv angestrebt und an ihr gearbeitet wird.“ (Reckwitz 2017, S. 59) Die Art der Singularisierung (oder Personalisierung) „hinter dem Rücken“ der Akteure, wie sie im Internet betrieben wird und auf die auch Toms Überlegungen zu zielen scheinen, könnte man mit Reckwitz als „maschinelle Singularisierung“ bezeichnen. Dabei gelte: „Es liegt auf der Hand, dass diese Art maschineller Singularisierung die Offenlegung der Bin­ nenstrukturen des einzelnen Subjekts zum Ziel hat, um Vorhersagen über dessen zukünftiges Verhalten zu ermöglichen. Diese Art von Einzigartigkeit ist somit gerade nicht identisch mit dem, was früher einmal als ‚individueller Faktor‘ bezeichnet wurde, der jede soziale Regel mit einem Moment der Unberechenbarkeit versieht. Im Gegenteil: Das digitale Subjekt scheint, sobald es mit Blick auf seine Bestandteile transparent geworden ist, als Besonderes in seinem Verhalten vorhersagbar.“ (Reckwitz 2017, S. 256) Gerade vor dem Hintergrund der vorherigen Ausführungen zur Vorhersage als letztem Ziel der Wissenschaft, erscheint es plausibel, dass auch Toms Diskussion von Individualität – auch wenn sie in ihren mathematischen Grundlagen zunächst unabhängig von „digitalen Maschinen“ ist – in ihrer konkreten Anwendung letztendlich auf Vorhersage qua „maschineller Singularisierung“ hinausläuft. Bemerkenswert ist dabei, dass Tom an dieser Stelle (noch) nicht von konkreten Vorhersagen spricht. Es scheint zunächst darum zu gehen, das Objekt der Individualität zu stabilisieren. Sobald dies gelungen ist, wäre es möglich mit dem Begriff als Objekt zu arbeiten, das heißt, Individualität als objektive Gegebenheit zu behandeln. Noch

„Ich denke, es ist wichtig zu verstehen, warum die Netzwerkanalyse …“ 185

spricht Tom von der Konstruiertheit seines Gegenstandes und den Unsicherheiten des Forschungsprozesses. Möglicherweise wird sich dies ändern. In den Laborstudien von Latour und Woolgar (1986, S. 177) wird etwa der Begriff der „Inversion“ benutzt, um zu zeigen, wie sich das Verhältnis von Aussagen über ein Forschungsobjekt und das Objekt selbst umkehrt: „Before long, more and more reality is attributed to the object and less and less to the statement about the object. […] [T]he object becomes the reason why the statement was formulated in the first place.“ Es zeichnet sich also ab, dass wir „live dabei sind“, wie Wissenschaft vollzogen wird. Wir haben uns natürlich nicht nehmen lassen, diese Idee rückzukoppeln und haben nach einem Feedback Toms in einer Email gefragt. Nach Toms Ansicht geht der Begriff der „maschinellen Singularisierung“ an seiner Forschung vorbei, da – wie er schreibt – „weder die Netzwerke noch die Methoden etwas mit Maschinen zu tun haben, müssen sie auch keinen Prozess der Singularisierung widerspiegeln, sie sind eher eine Momentaufnahme. Mit anderen Worten: Es ist ein Versuch der Sichtbarmachung eines Zustands.“ Hat die „Inversion“ (Latour und Woolgar) hier bereits stattgefunden oder haben wir etwas falsch verstanden ? SL/JK: Eine letzte Frage zum Abschluss: Eure Forschung streift ja mehr oder weniger stark auch den Forschungsbereich der Soziologie. Wie würdet ihr euer Verhältnis zur Soziologie beschreiben ? TH: Schwierig ist ja, dass ich auf der rein mathematischen Ebene zwar eine sinn-

volle Definition von Individualität finden kann, um im genannten Beispiel zu bleiben, ich kann aber keine soziologische Aussage über Individualität treffen. Wir gehen zum Beispiel regelmäßig auf eine Konferenz gemeinsam mit Soziologen: auf das „Computational Social Science Winter Symposium“ (CSS WS).11 Ich finde es immer witzig, wenn Informatiker dann den Soziologen erklären möchten, was ihre Modelle bedeuten. Ich halte mich immer fern von solchen Aussagen. Ich kann lediglich sagen: „hier ist ein Netzwerk und das passiert“. Was das jetzt gesellschaftlich bedeutet, darüber kann ich nichts sagen. Was bedeutet es zum Beispiel, dass ein Netzwerk individueller ist als ein anderes ? Keine Ahnung ! Ich habe hier ein Werkzeug basierend auf mathematischen Theorien und meinen Intuitionen entwickelt. Ob das nützlich ist, wird sich im wissenschaftlichen Prozess zeigen. Ich kann nur sagen: Dieses Facebook-Netzwerk, das ihr mir gegeben habt, verhält sich im Hinblick auf dieses Maß anders als ein bestimmtes anderes Netzwerk. Und ich nenne das jetzt mal „Individualität“, weil ich das Gefühl habe, die einzelnen Knoten darin verhalten sich in der Summe anders als die Knoten hier drüben. Umgekehrt passiert das gerade glaube ich in einem noch viel größeren Maße. Sehr

11 https://www.gesis.org/css-wintersymposium/home/ Zugegriffen: 21. Dezember 2017.

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viele andere Wissenschaften drängen in den Bereich der Informatik, Mathematik und Physik. Das scheint ein Umkehrprozess aufgrund der datengetriebenen Mathematisierung vieler Wissenschaftsbereiche zu sein. Da werden leider viele Sachen neu erfunden, die schon sehr lange bekannt sind. In beiden Fällen halte ich es für sehr wichtig, mehr miteinander zu kommunizieren und zu arbeiten. MK: Wir haben einige Projekte am Fachgebiet gemeinsam mit Soziologen und wir

haben festgestellt, dass es manchmal sehr schwierig ist, sich gegenseitig richtig zu verstehen. Ich glaube, dass diejenigen Wissenschaftler, die es tatsächlich hinbekommen, Modelle der Informatik mit soziologischen Modellen zu „verheiraten“, in Zukunft viele wissenschaftliche Erfolge für sich verbuchen werden. Als ich vor zwei Jahren auf der CSS WS war und dort ein Paper vorgestellt habe, hat mich ein Soziologe angesprochen und sagte, dass ich ein methodologisches Paper vorgestellt habe, das ihm gefallen hat. Für mich war das Paper weniger methodologisch. Es gibt also bereits bei diesem Grundverständnis, ob etwas methodologisch ist oder nicht, große Unterschiede. Informatiker und Soziologen sprechen unterschiedliche Sprachen und schauen auf viele Dinge sehr verschieden, was eine große Herausforderung ist. Dennoch muss man auch ergänzend wohl sagen, dass es nicht nur hilfreich ist, wenn verschiedene Disziplinen zusammenarbeiten, sondern es in vielen Bereichen auch einfach eine Notwendigkeit werden wird, weil sonst viele wissenschaftliche Fragestellungen unbeantwortet bleiben werden. TH: Ich habe neulich ein Interview von einem recht bekannten Mathematiker ge-

lesen (Stumfels 2017), der darin eine sehr interessante Aussage machte. Er meinte, er hält nicht viel von interdisziplinären Studiengängen. Er favorisiert, dass man erst einmal sehr tief in sein jeweiliges Fach einsteigen sollte, um dann eine gute Basis für eine gemeinsame Arbeit mit anderen Wissenschaftsdisziplinen zu haben. Das ist genau der Punkt, über den wir bereits gesprochen haben: Ich kann keine Soziologie, ich kenne die ganzen Gedankenmodelle dahinter nicht wirklich, wie es ein Soziologe kann. Was ich aber kann ist eine Sache: Mathematik. Für mein Gegenüber gilt das dann eben umgekehrt genauso. Wie Mark vorhin schon gesagt hat, am Ende ist die Frage, wie bereit wir sind zu kommunizieren, und den anderen zu verstehen.

Einige etwas ausführlichere Informationen zu den Gesprächspartnern: Tom Hanika ist von Haus aus Mathematiker und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Wissensverarbeitung der Universität Kassel. Seine Forschung beinhaltet unter anderem die Analyse bipartiter Graphen – im Speziel-

„Ich denke, es ist wichtig zu verstehen, warum die Netzwerkanalyse …“ 187

len in Verbindung mit sogenannten formalen Begriffen und ihrer Anwendung bei der Suche nach verborgenen Relationen in diversen Daten, wie zum Beispiel sozialen Netzwerken. Seine Interessen erstrecken sich dahingehend bis zu den mathematischen Grundlagen des maschinellen Lernens und der Wissensentdeckung. Darüber hinaus interessiert er sich für Muster von Permutationen, Ordnungsstrukturen und im Speziellen „series parallel partial orders“. Weiterhin ist er ein Senior-Software-Entwickler des Publikationsmanagementsystems BibSonomy. Mark Kibanov ist Informatiker und ebenfalls wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Wissensverarbeitung. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit der Wissensentdeckung in sozialen Netzwerken. Dabei untersucht er Algorithmen des maschinellen Lernens und entwickelt sie für die gegebenen Problemstellungen weiter. Seine Schwerpunkte liegen in der Verbindung zwischen Online- und Off‌­ line-Netzwerken sowie Algorithmen zur Verarbeitung von geographischen Daten. Dazu ist er ein Senior-Software-Entwickler der Plattform für ubiquitäre und soziale Anwendungen Ubicon.

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Teil II: Leben im Digitalen. Oder: Grenzen des Privaten neu bewerten

Perverse Privatheiten Die Postprivacy-Kontroverse als Labor der Transformation von Privatheit und Subjektivität Fabian Pittroff

Zusammenfassung  

Im Zuge der Digitalisierung wird Privatheit neu ausgehandelt. Der Beitrag untersucht deshalb mit Hilfe foucaultscher und pragmatistischer Konzepte einen konkreten Fall der Neuordnung des Privaten: In der Postprivacy-Kontroverse wird die Annahme verhandelt, Privatheit sei langfristig nicht zu bewahren und ihr Verschwinden sei möglicherweise zu begrüßen. Die Analyse zeigt einerseits die Zurichtung einer Privatheit der individuellen Informationskontrolle und andererseits eine Gegenbewegung devianter Formen des Privaten. Während dabei normale durch perverse Formen des Privaten herausgefordert werden, wird deutlich, dass diese Verschiebungen mit einer neuen Subjektivität des Digitalen in Verbindung stehen. Schlagwörter  

Digitalisierung; Foucault; Postprivacy; Pragmatismus; Privatheit; Subjektivierung

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Kropf und S. Laser (Hrsg.), Digitale Bewertungspraktiken, Soziologie des Wertens und Bewertens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21165-3_8

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Einleitung: Welche Krise ?

Im Zuge der Digitalisierung geraten diverse Institutionen der Moderne in die Krise – Privatheit ist eine davon. Die Reichweite und Vielschichtigkeit dieser Krise zeigt sich an zahlreichen Kontroversen um den Wert und die Zukunft des Privaten (Büttner et al. 2016; Baumann und Lamla 2017). Verhandelt wird über den angemessenen Umgang mit staatlicher Massenüberwachung, privatwirtschaftlichen Datenökonomien und neuen Praktiken der Selbstkonstitution. So ist etwa auch die für Deutschland zentrale rechtliche Institutionalisierung der Privatheit, das sogenannte Recht auf informationelle Selbstbestimmung, einem digitalen Wandel ausgesetzt, der ihre Zukunftsfähigkeit in Frage stellt (Roßnagel und Nebel 2015; Friedewald et. al. 2017). In dieser Situation der Verunsicherung stellt sich die Frage, welche sozialen Suchbewegungen anlaufen, wie also neue Probleme erfasst werden und welche Lösungsstrategien in Frage kommen. Um solchen politischen Prozessen der kollektiven Neuverhandlung auf die Spur zu kommen, folge ich pragmatistischen Ansätzen, die nicht abstrakte politische Verfahren, sondern konkrete öffentliche Anliegen und deren Aushandlung in den Mittelpunkt der Untersuchung stellen (Dewey 2016; Marres 2007; Latour 2007b). Eine politische Soziologie in dieser Tradition geht von „Issues“ aus, das heißt von unklaren und umstrittenen Dingen, Technologien oder Konzepten, um die sich eine Öffentlichkeit jeweils Betroffener versammelt, um das geteilte Anliegen zu problematisieren und neu zu verhandeln. Dabei sind gerade Prozesse der kollektiven Neubewertung Anzeichen für un­gelöste Probleme und Konflikte (Dewey 1939, S. 34). In diesem Sinne konzentriert sich der vorliegende Beitrag auf eine kom­ pakte Kontroverse der Neubewertung des Privaten, nämlich die Postprivacy-Kon­ troverse (PPK). Im Zentrum dieser Debatte steht die umstrittene Annahme, Privatheit sei langfristig nicht zu bewahren und ihr Verschwinden sei möglicherweise zu begrüßen. Die PPK ist nicht nur aufgrund der Radikalität des diskutierten Vorschlags ein prägnanter Fall der Neuverhandlung von Privatheit. Auch die durch den Vorschlag mobilisierten Repräsentant*innen einer digital-vernetzten Avantgarde machen die PPK zu einem relevanten Labor der Zukunft des Privaten. Gerade in einer Kontroverse um den angeblich unausweichlichen Untergang der Privatheit kann verfolgt werden, wie und warum sich das Private verändert. So zeigt sich die Krise der Privatheit in der PPK als eine Ausdifferenzierung, die wiederum mit einer Transformation von Subjektivität verknüpft ist. Im nächsten Kapitel stelle ich der empirischen Analyse zwei theoretische Vor­ überlegungen voran, die helfen sollen, die allgemeine Diagnose einer Krise der Privatheit zu erweitern (Kapitel 2). Anschließend werde ich die PPK in vier Schritten nachzeichnen. Erstens werde ich die Kontroverse als soziale Arena (Strauss

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1978) analysieren und damit die Ökologie (Clarke and Leigh Star 2008) des Postprivacy-Vorschlags beschreiben (3.1). Zweitens werde ich den zentralen Streitpunkt (Issue) der PPK rekonstruieren, um darzulegen, wie Privatheit hier als Problem formiert wird (3.2). Drittens werde ich Lösungsansätze in der PPK analysieren, um die Ausdifferenzierung des Privaten in der Kontroverse zu verfolgen (3.3). Viertens schließlich werde ich die Verhandlung von Subjektivität in der PPK als Ausschnitt einer ästhetischen Bewegung beschreiben, um darzulegen, inwiefern Privatheit und Subjektivierung in der Kontroverse verschränkt sind (3.4).

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Die Analogiehypothese

Einleitend will ich zwei theoretische Vorüberlegungen vorstellen, die helfen, die allgemeine Diagnose einer Krise der Privatheit und die folgenden empirischen Analysen für eine differenzierte Interpretation zu öffnen. Erstens schlage ich eine konzeptionelle Analogie zwischen Foucaults historischer Analyse der modernen Sexualität und der gegenwärtigen Situation der Privatheit vor (Foucault 2014).1 Mit Hilfe dieser Analogie generiere ich die allgemeine These, dass Privatheit aktuell ebenso wenig gefährdet ist, wie die Sexualität im als prüde geltenden Viktorianismus. Stattdessen wären beide Situationen vom selben Missverständnis betroffen: die öffentliche Problematisierung wird als Verfall gedeutet, obwohl eine Ausdifferenzierung der kontrovers gewordenen Praktiken angestoßen wird. Zweitens stelle ich ein praxistheoretisches Konzept des Privaten vor, um die empirischen Analysen für heterogene Privatheiten zu sensibilisieren. Wenn die aktuelle Krise der Privatheit nicht nur mit einem Verfall, sondern auch mit einer Ausdifferenzierung des Privaten einhergeht, sind Analysen dieses Wandels auf eine Heuristik angewiesen, die es erlaubt, private Praktiken zu identifizieren, selbst wenn diese von den Beteiligten nicht als solche erkannt oder anerkannt werden. Michel Foucault widmet ein Kapitel seines 1976 erschienen Buchs Der Wille zum Wissen der Kritik der sogenannten Repressionshypothese (Foucault 2014, S. 21 ff.). Foucault kritisiert hier die Annahme, die bürgerliche Gesellschaft seit dem Viktorianismus sei von einer Unterdrückung und Reduzierung sexueller Diskurse und Praktiken geprägt. Dem gegenüber diagnostiziert Foucault für diese Ära eine „diskursive Explosion“ (Foucault 2014, S. 23) und eine „Wucherung der Lustarten und die Vermehrung disparater Sexualitäten“ (Foucault 2014, S. 53): „Das 19. und unser Jahrhundert sind eher ein Zeitalter der Vermehrung gewesen: einer Verstreuung der Sexualitäten, einer Verstärkung ihrer verschiedenartigen 1

Ich verdanke diese Anregung Rainer Diaz-Bone im Rahmen der Ad-hoc-Gruppe „Grenzen der Bewertung“ am 30. 09. ​2016 auf dem DGS Kongress in Bamberg.

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Formen, einer vielfältigen Einpflanzung von ‚Perversionen‘. Unsere Epoche war die Wegbereiterin sexueller Heterogenitäten“ (Foucault 2014, S. 41). Die Folge ist kein Weniger an Sexualität, sondern eine diskursive und praktische Ausdifferenzierung im Sinne einer „Isolierung, Intensivierung und Verfestigung“ (Foucaults 2014, S. 52). „Nineteenth-century ‚bourgeois‘ society – and it is doubtless still with us – was a society of blatant and fragmented perversion“ (Foucault 1987, S. 47). Diesen historischen Analysen Foucaults ließen sich einige Fragen entnehmen, die für Untersuchungen der aktuellen Krise der Privatheit relevant sind. Für die hier folgenden empirischen Analysen der PPK möchte ich von Foucaults Überlegungen eine konzeptionelle These aufgreifen, die den Raum der Interpretationen nicht verkleinern, sondern erweitern soll. So wie die Problematisierung der Sexualität nur scheinbar deren Verfall befördert und stattdessen ihre Ausdifferenzierung angestoßen hat, muss auch die aktuelle Krise der Privatheit nicht notwendigerweise auf ein Weniger an privaten Praktiken beschränkt sein. Stattdessen ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass gerade die diskursive Problematisierung zu einer Vervielfältigung möglicher Privatheiten beiträgt. Die Annahme dieser formalen Analogie zwischen Foucaults Kritik und der aktuellen Krise der Privatheit generiert so die folgende These: Die aktuelle Krise der Privatheit geht mit einer Ausdifferenzierung des Privaten einher. Ich bezeichne diese heuristische Figur im Folgenden als Analogiehypothese. Die aktuelle Situation wäre demnach nicht ausschließlich vom Druck auf bestimmte Formen des Privaten durch staatliche Überwachungsinteressen, ökonomische Dateninfrastrukturen und digital-vernetzte Selbsttechnologien geprägt. Während traditionelle Formen des Privaten irritiert werden, können sich gleichzeitig neue Praktiken des Privaten entwickeln (Marwick und boyd 2014; Miller 2012). Diese müssen zudem nicht immer als Privatheitspraktiken erkannt oder anerkannt werden und können stattdessen als perverse Privatheiten missverstanden werden, das heißt als naive, ignorante, trügerische, schädliche, pathologische oder sonst wie deviante Formen des Privaten erfasst werden. Auch Sami Coll (2014) findet in der Arbeit mit Foucault formale Ähnlichkeiten zwischen den historischen Prozessen der wissenschaftlichen und institutionellen Problematisierung von Sexualität einerseits und Privatheit andererseits. Wie Sexualität sei auch Privatheit stets mit dem Erwerb von Rechten, der Ausbreitung von Werten und der Regulierung von Praktiken verbunden. Privatheit ist in dieser Logik etwa an das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, Werte der individuellen Autonomie und Praktiken der Einwilligung und des Selbstdatenschutzes gekoppelt. Privatheit sei dabei ebenso wie Sexualität Objekt wissenschaftlichen Interesses und produziere spezifische Subjekte, die sich um ihre persönliche Sexualität beziehungsweise Privatheit kümmern sollen und wollen. Coll modelliert Privatheit damit in Abhängigkeit von einem Dispositiv (Foucault 1986; 2003,

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S. 392 – ​395), durch das Unternehmen und Regierungen private Praktiken zu regulieren versuchen. Während Coll den Effekt dieses Dispositives auf Privatheit als individualistische Verengung und ökonomische Nutzbarmachung beschreibt, verfolge ich die komplementäre These, dass gleichzeitig ein Prozess der Ausdifferenzierung privater Praktiken abläuft. Die beiden Thesen schließen sich nicht aus, insofern die Zurichtung einer normalen Privatheit mit der Produktion perverser Privatheiten einhergehen kann. Ich folge damit Colls These einer indivi­ dualistischen Verengung von Privatheit mittels rechtlicher und wissenschaftlicher Diskurse, will sie aber um die Möglichkeit minoritärer Gegenbewegungen er­gänzen. Die Analogiehypothese macht eine zweite theoretische Vorüberlegung sinnvoll. Wenn die aktuelle Krise der Privatheit nicht mit einem Weniger, sondern einem Mehr an privaten Praktiken einhergeht, sind Analysen dieses Wandels auf eine Heuristik angewiesen, die es erlaubt, neue private Praktiken zu erkennen, selbst wenn diese in der Kontroverse nicht als solche registriert werden. Dafür stelle ich im Folgenden ein Konzept des Privaten vor, um die empirischen Analysen für heterogene Privatheiten zu sensibilisieren. So kann formal spezifiziert werden, inwiefern von neuen Privatheiten gesprochen werden kann und wo es nicht nur um die Auflösung von Privatheit (und die Kritik dieser Auflösung), sondern auch um die Ausdifferenzierung neuer Formen des Privaten geht. Zu diesem Zweck bediene ich mich einem praxistheoretischen Konzept von Carsten Ochs (2018). Dieser Heuristik nach besteht die Ähnlichkeit möglicher Privatheitspraktiken in einer Beschränkung von Teilhabe mit dem Ziel, eine spezifische Erfahrungskonstellation zu etablieren.2 Alle privaten Praktiken haben einen doppelten Effekt: Erstens beschränken sie die Teilhabe bestimmter menschlicher, nichtmenschlicher oder kollektiver Akteur*innen und damit deren Möglichkeit sich an einer bestimmten Situation als aktiv oder passiv Erfahrende zu beteiligen. Zweitens gehen diese Momente der Beschränkung immer mit dem Ziel einher, einen neuen Möglichkeitsraum der Teilhabe und Erfahrung für Akteur*innen zu eröffnen. Eine geschlossene Türe und ein beschränkter Chat schließen nicht nur Dritte aus, sondern schaffen außerdem Optionen, die ohne diese Ausschließung nicht 2 „The distinction ‚private‘ generally refers to the teleological shaping of ‚experienceability‘ (Erfahrbarkeit): it opens up the experiential realm of an actor/group of actors A (positive aspect) by limiting the range of possibilities (negative aspect) of a related actor/group of actors B to partake in A’s mental content, decisions, knowledge, body, space, resources, or social realm. B strives to constitute itself as an actor by partaking in (i. e. taking a part of) some of A’s features, and as this affects A’s experiential realm, B’s partaking may be normatively blocked in favor of the privacy enjoying entity A. The teleological nature of privacy is evident: the limitation of B’s partaking serves the purpose of creating, establishing, or maintaining A’s experiential realm“ (Ochs 2018).

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möglich wären. Schließlich geht Privatheit immer mit einer Beschränkung von Teilhabe einher, umgekehrt ist jedoch nicht jede Beschränkung von Teilhabe notwendigerweise eine Form von Privatheit. Diese Heuristik des Privaten hilft zu erkennen, welche Praktiken sinnvollerweise als privat verstanden werden können. So lässt sich die Intuition der Analogiehypothese spezifizieren: Die aktuelle Krise der Privatheit geht einher mit einer Ausdifferenzierung neuer Praktiken der Beschränkung von Teilhabe mit dem Ziel einer spezifischen Erfahrungskonstellation. Damit ist analytisch abgesteckt, wo neue Formen des Privaten erwartet werden können. Es öffnet sich ein Feld von Praktiken, die nicht notwendigerweise als Privatheitspraktiken registriert werden und doch als solche verstanden werden sollten. Das schließt Praktiken ein, die als Perversionen disqualifiziert oder pathologisiert werden. So findet sich in der PPK eine auf Informationskontrolle zugespitzten Privatheit, die es erschwert, nichtkontrollierende Praktiken als möglicherweise privat zu erkennen oder anzuerkennen. Hier hilft die Analogiehypothese, neue Praktiken als relevante Experimente im Feld des Privaten zu registrieren.

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Die Postprivacy-Kontroverse

In diesem Teil werde ich die Intuition der Analogiehypothese an die PostprivacyKontroverse (PPK) herantragen, in der die umstrittene Annahme verhandelt wird, Privatheit sei langfristig nicht zu bewahren und ihr Verschwinden sei möglicherweise zu begrüßen. Die PPK wird angestoßen durch einen Vortrag von Christian Heller am 28. Dezember 2008 (Heller 2008). In den darauffolgenden Jahren versammelt sich um den Begriff und seine Auslegung eine lose Gruppe von Personen und Argumenten, die unterschiedlich an den Vorschlag anschließen. Heller selbst veröffentlicht 2011 ein Buch zum Thema (Heller 2011). Gegenwärtig ist die De­batte weitgehend abgeebbt. Die PPK ist zunächst als öffentlich ausgetragene Uneinigkeit interessant, denn die Transformation und Stabilisierung sozialer Ordnung lässt sich besonders gut an der Entfaltung von Kontroversen nachvollziehen (Latour 2007a; Venturini 2010; Laser und Ochs in diesem Band). Zur Analyse der Kontroverse folge ich einer pragmatistischen Tradition, in der die Formierungsprozesse umstrittener Issues im Mittelpunkt stehen (Dewey 2016, Marres 2007; Latour 2007b). Issues sind hier aktivierende Streitsachen und öffentlich verhandelte Probleme, die betroffene Akteur*innen zu Verhandlungen zusammenbringen. In der PPK ist es der Postprivacy-Vorschlag, der als unklare Angelegenheit debattiert wird und dabei eine spezifische Öffentlichkeit interessierter Akteur*innen versammelt. Für die Analyse gilt es dann zu allererst nachzuvollziehen, wie das Issue besorgte und betrof-

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fene Akteur*innen zusammenbringt. „First define how things turn the public into a problem“ (Latour 2007b, S. 815). Um diese Versammlungsdynamik nachzuzeichnen, beschreibe ich die PPK zudem als soziale Arena, in der unterschiedliche soziale Welten in Sorge um die geteilte Angelegenheit aufeinander treffen (Strauss 1978; Lamla 2013; Ochs et al. 2016). „An arena, then, is composed of multiple worlds organized ecologically around issues of mutual concern and commitment to action“ (Clarke and Leigh Star 2008, S. 113). Für einen ersten Überblick über die PPK ist es deshalb sinnvoll, die wichtigsten sozialen Welten vorzustellen, die an dieser Arena beteiligt sind. Soziale Welten sind Gruppen, die sich um eine gemeinsame Kernpraktik organisieren. Sie sind zudem gekennzeichnet durch das Wo und Wie der jeweiligen Kernpraktik, das heißt die Orte, an denen die Kernpraktik vollzogen wird, und die Technologien, die zur Durchführung der Kernpraktik eingesetzt werden. „In each social world, at least one primary activity (along with related clusters of activity) is strikingly evident; i. e., climbing mountains, researching, collecting. There are sites where activities occur: hence space and a shaped landscape are relevant. Technology (inherited or innovative modes of carrying out the social world’s activities) is always involved“ (Strauss 1978, S. 122). Zur Rekonstruktion der Kontroverse gehe ich in vier Schritten vor. Erstens werde ich die Ökologie der PPK beschreiben, indem ich die soziale Arena und die beteiligten sozialen Welten vorstelle. Zweitens werde ich das umstrittene Anliegen der PPK, das heißt ihr Issue und seine Konstitution nachvollziehen. Drittens werde ich beschreiben, inwiefern in der PPK neue Formen des Privaten ausdifferenziert werden. Viertens werde ich zeigen, dass die Verhandlung von Postprivacy mit einer Kritik von Subjektivität verknüpft ist.

3.1 Die Arena der Postprivacy-Kontroverse Die Arena der PPK versammelt insbesondere drei soziale Welten: die Welt des Hackens, die Welt der Netzgemeinde und die Welt des Datenschutzes. Die PPK beginnt als Provokation in der Welt des Hackens. Christian Heller hält den Vortrag, der die Kontroverse in Gang setzt, 2008 auf dem „Chaos Communication Congress“, der jährlichen Veranstaltung des Chaos Computer Clubs (CCC). Der CCC ist eine der wichtigsten Organisation in der Welt des Hackens und nach eigenen Angaben „die größte europäische Hackervereinigung“ (CCC o. J.b). Die Kernpraktik der Welt des Hackens ist der dekonstruktive und spielerische Umgang mit Computern und Technik (im engeren Sinne) und Systemen (im weiteren Sinne).3 So 3

„Hackers believe that essential lessons can be learned about the systems – about the world –

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lautet der erste Grundsatz der weithin anerkannten Hackerethik: „Der Zugang zu Computern und allem, was einem zeigen kann, wie diese Welt funktioniert, sollte unbegrenzt und vollständig sein“ (CCC o. J.a).4 Mit dieser optimistischen Herangehensweise an Technik korrespondiert aber auch ein Misstrauen gegenüber ihrer Zuverlässigkeit und ihren Missbrauchspotenzialen. Daraus resultiert nicht zuletzt der engagierte Einsatz für Datenschutz durch diese soziale Welt. Entsprechend ergänzt der CCC die Hackerethik in den 1980er Jahren um den Grundsatz „Öffentliche Daten nützen, private Daten schützen“ (CCC o. J.a). Hellers Vortrag und der dadurch initiierte Postprivacy-Vorschlag fordern die weitgehend positive Haltung gegenüber Datenschutz in der Welt des Hackens heraus. Es sind häufig Erfahrungen und Praktiken aus der jüngeren Welt der Netzgemeinde, die als Argumente für Postprivacy-Positionen angebracht werden. Die Welt der Netzgemeinde ist eng gekoppelt an den Erfolg von Social Networking Sites (SNS). Die Kernpraktik der Welt besteht in der persönlichen Vernetzung durch digitale Technologien inklusive der Reflexion dieser Vergemeinschaftungspraktiken (Büttner et al. 2016, S. 33 f.; Pittroff et. al. 2017, S. 153). Neben der empathischen Nutzung von Blogs und SNS informiert das Programm der Konferenz Republica über die Praktiken der Netzgemeinde. Diese zentrale Veranstaltung der sozialen Welt findet 2007 zum ersten Mal unter dem Motto „Leben im Netz“ statt; diskutiert werden der Stellenwert digitaler Vernetzungsformen, Regeln des Austauschs und Möglichkeiten der Kommerzialisierung (Republica 2007).5 Die für die Kernpraktik notwendigen Aktivitäten der Sammlung und Streuung von Daten harmonisieren dabei nicht überall mit den Grundsätzen klassischen Datenschutzes. Auch zeitlich fällt die PPK mit der Entstehung der Welt der Netzgemeinde zusammen. Christian Heller und andere Akteur*innen der PPK beginnen 2007 die für die Welt der Netzgemeinde integrale SNS Twitter zu nutzen. Zwei Jahre später, Anfang 2011, gründen an diesem Ort der Netzgemeinde Postprivacy-Vertreter*innen die lose Vereinigung „Datenschutzkritische Spackeria“ (Spackeria o. J.). Der Name geht zurück auf eine kritische Äußerung gegenüber Postprivacy durch Constanze Kurz; die prominente Sprecherin des CCC bezeichnet Befürworter*innen von Postprivacy-Positionen auf dem Chaos Communication Congress des Jahfrom taking things apart, seeing how they work, and using this knowledge to create new and even more interesting things. They resent any person, physical barrier, or law that tries to keep them from doing this“ (Levy 2010, S. 28). 4 „Access to computers – and anything that might teach you something about the way the world works – should be unlimited and total. Always yield to the Hands-On Imperative !“ (Levy 2010, S. 28). 5 Auch das 2006 erschiene Buch Wir nennen es Arbeit (Friebe/Lobo 2007) dokumentiert, welche Hoffnungen in der Welt der Netzgemeinde mit einer kommunikativen Vernetzung durch digitale Technologien verbunden sind.

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res 2010 als „Postprivacyspacken“ (Bogk et al. 2010). Damit kann mindestens seit 2011 von einer Postprivacy-Bewegung in den Welten des Hackens und der Netzgemeinde gesprochen werden.6 Im Zuge dieser größeren öffentlichen Aufmerksamkeit positioniert sich auch die Welt des Datenschutzes. Die Praktiken dieser Welt zielen auf die Umsetzung und Einhaltung datenschutzrechtlicher Grundsätze, um Machtasymmetrien zwischen Individuen und Organisationen zu reduzieren (Barlag et al. 2017, S. 142 f.). Peter Schaar, einer der bekanntesten deutschen Datenschützer und Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit von 2003 bis 2013, äußert sich 2011 interessiert und kritisch zum Buch von Heller (Schaar 2011). Die Welt des Datenschutzes ist in Deutschland institutionell verwurzelt; sie ist organisational durch Datenschutzbehörden präsent und kann sich auf Grundrechte berufen. Das wichtigste dieser Grundrechte ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das mit dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1983 als Ausprägung des Persönlichkeitsrechts etabliert wurde und die individuelle Selbstbestimmung hinsichtlich der Offenbarung persönlicher Daten zum Ziel hat (Jandt 2016). Eine organisationale Schnittstelle zwischen den drei Welten der PPK ist die deutsche Piratenpartei. Der Aufstieg und Fall der netzpolitischen Partei passiert etwa zu selben Zeit wie die Ereignisse der PPK (Lauer und Lobo 2014). Gemessen an Wahlergebnissen befindet sich die Partei mit dem Einzug in mehrere Landesparlamente in den Jahren 2011 und 2012 auf dem Höhepunkt ihres Erfolges. Entsprechend wird der Postprivacy-Vorschlag auch innerhalb der Partei diskutiert. Uneinigkeit besteht über die Rolle der Informationskontrolle und über mögliche Widersprüche zwischen Politiken des Datenschutzes und der Transparenz (Paetau 2011). Dass der Postprivacy-Vorschlag in der Partei aufgegriffen wird, zeigt seine Relevanz für die beteiligten Welten (Hensel 2012). Während Postprivacy-Positionen von einer Minderheit innerhalb der Partei vertreten werden, interpretiert der Pro-Postprivacy-Repräsentant Michael Seemann die Politik der Piratenpartei als primär ausgerichtet an der Ausweitung von Transparenz und Zugang (Seemann 2011a). Die drei an der PPK beteiligten Welten (Hacken, Netzgemeinde, Datenschutz) haben den reflexiven Gebrauch digital-vernetzter Technologien gemein. Werk6 Bewegungen innerhalb von sozialen Welten sind nicht ungewöhnlich: „Social movements are not features merely of explicitly political or religious realms – what our sociological literature on movements is mostly about – but are features of all social worlds. There are movements, as we all recognize, in architecture, in painting, in poetry, certainly in the academic disciplines, and probably in ship building and in banking, too. Many movements, of course, spill over to engage or affect other worlds and generally result in new organizations or affect old ones“ (Strauss 1978, S. 125).

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zeuge der Erzeugung und Manipulation von Daten und die damit verbundenen Praktiken sind nicht bloß Mittel zum Zweck, sondern Grundlage ihrer Assoziation: keine Welt des Hackens ohne „Spaß am Gerät“ (CCC o. J.b), keine Welt der Netzgemeinde ohne SNS und keine Welt des Datenschutzes ohne gefährdete Daten. Auf Grund dieser Verquickung von Kernpraktiken und Technologien in den beteiligten Welten herrscht in der PPK Sensibilität für neue Probleme im Zuge der Digitalisierung. Dass die PPK an der Schnittstelle dieser sozialen Welten in Gang kommt, verweist auf eine Transformation des Zusammenhangs zwischen Privatheit, Datenschutz und Digitalisierung. Deshalb ist relevant, wie Privatheit und ihre Krise in der PPK formiert werden, welche Probleme dabei identifiziert werden und welche Lösungen in Frage kommen. Ich werde deshalb im nächsten Teil genauer beschreiben, wie Postprivacy als Issue in der PPK verhandelt wird.

3.2 Das Issue der Postprivacy-Kontroverse In diesem Kapitel werde ich ausgehend vom Issue der PPK die zentrale Prämisse, die wichtigsten Argumentationslinien und schließlich die Konzeption von Privatheit in der Kontroverse rekonstruieren. An den Aushandlungen um das PPK-Issue ist interessant, wie Privatheit unter den Vorzeichen der Kontroverse formiert und mit Vorstellungen von Digitalisierung und Informationskontrolle verknüpft wird. Das Issue der PPK besteht in der umstrittenen Annahme, Privatheit sei langfristig nicht zu bewahren und ihr Verschwinden sei möglicherweise zu begrüßen. In der Folge geht es für die Postprivacy-Vertreter*innen um die Frage des besten Umgangs mit dem angeblich unausweichlichen Absterben des Privaten insgesamt. „Die Privatsphäre ist ein Auslaufmodell. Unser Sein und Handeln, egal wie persönlich oder geheimniskrämerisch, ist zunehmend für andere einsehbar. Wir müssen lernen, damit klarzukommen. Wir treten ein in ein Zeitalter der ‚Post-Privacy‘: in ein Leben nach der Privatsphäre. […] Schuld ist das Internet“ (Heller 2011, S. 7 f.).

Der letzte Satz des Zitates verweist auf die zentrale Prämisse der Postprivacy-Vertreter*innen. Begründet wird das unausweichliche Verschwinden von Privatheit mit dem Erfolg digital-vernetzter Technologien, in deren Folge eine Kontrolle von Informationen zunehmend unmöglich werde. Diese These firmiert in der PPK auch unter dem Begriff „Kontrollverlust“ (Seemann 2014).7 Dieser Fluchtpunkt 7

„Wir haben die Kontrolle über die Daten also auf dreifache Weise verloren: Wir wissen nicht mehr, welche Daten zu welcher Zeit erhoben werden können, weil die ganze Welt durch die allgegenwärtige Verbreitung von Sensoren digitalisiert wird. Wir bestimmen nicht selbst,

Perverse Privatheiten 201

der Debatte zeigt, wie das Issue von den Praktiken der jungen Welt der Netzgemeinde geprägt ist. Im Gegensatz zu den Welten des Hackens und des Datenschutzes ist gerade die Welt der Netzgemeinde auf die Verteilung persönlicher Daten angewiesen. Die Vernetzung der Netzgemeinde mithilfe verschiedener SNS ist nicht nur ein Kommunikationskanal, sondern integrale Kernpraktik der Welt. So ist auch die ständige Veröffentlichung von Texten, Bildern oder anderen persönlichen Äußerungen unverzichtbar. Deshalb sind die Praktiken der Netzgemeinde weniger an der Kontrolle von Daten als an ihrer Vervielfältigung und Erreichbarkeit orientiert (vgl. auch Ganz 2015; Stalder 2011). In der Kontroverse um das Issue entwickeln sich zwei prominente Argumentationslinien: eine Kritik des Datenschutzes und ein Lob der Transparenz. Diskutiert wird, ob die für den Datenschutz konstitutive Kontrolle von Daten hinsichtlich fortschreitender digitaler Vernetzung langfristig möglich bleibt und ob in dieser Situation Daten- und Vernetzungssparsamkeit eine angemessene Reaktion sein kann. Postprivacy-Vertreter*innen betonen, dass Datenschutz immer auch Freiheiten einschränke und wünschenswerte Entwicklungen aufhalte (Seemann 2011b; Schramm 2011a), insbesondere sei bei datenschützenden Eingriffen die Offenheit des Internets gefährdet (Fasel 2011). Kritiker*innen erwidern in Verteidigung des Datenschutzes, Kontrolle von Daten durch neue Normen sei möglich und wünschenswert (Kurz und Rieger 2011; Schaar 2011). Flankiert wird diese Position von einem Lob der Transparenz. Postprivacy-Vertreter*innen betonen hier die unverzichtbare Rolle von Öffentlichkeiten für wirksames politisches Handeln (Heller 2011, S. 124 ff.). Julia Schramm beschreibt diesen Zusammenhang so: „Doch wer im öffentlichen Raum politisch agieren will, darf nicht anonym sein, darf nicht Teile seiner Identität löschen oder löschen lassen, sondern muss vielmehr mit dem Getanen leben lernen. Anonymität und politische Verantwortung schließen einander aus“ (Schramm 2011b). Kritiker*innen merken indes an, dass Öffentlichkeit stets von Machtasymmetrien durchzogen sei (Kurz und Rieger 2011) und die Veröffentlichung persönlicher Daten problematischen Geschäftsmodellen in die Hände spielen würde (Schaar 2011). Privatheit und Datenschutz könnten diese ungünstigen Effekte abfedern, so die Kritiker*innen. Auch die Kritiker*innen des Postprivacy-Vorschlags verbleiben größtenteils innerhalb des Gegensatzes zwischen Datenschutzkritik und Lob der Transparenz und tragen so zu einer Polarisierung der Kontroverse bei. Die zu verteidigende Privatheit der Gegner*innen ist vor allem eine Privatheit des Datenschutzes. Daten, die nicht geschützt und kontrolliert würden, würden ökonomisch ausgebeuwas mit diesen Daten geschieht, wo sie gespeichert werden, wo sie hinkopiert werden, wer darauf Zugriff hat. Und wir können nicht ermessen, welche Dinge diese Daten potenziell aussagen“ (Seemann 2014, S. 38).

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tet und gefährdeten die individuelle Autonomie (Kurz und Rieger 2011). Praktiken, die nicht dem Modell der Datensparsamkeit entsprechen, werden von Postprivacy-Kritiker*innen mit mangelhafter Aufklärung erklärt oder pathologisiert (Kurz und Rieger 2011, S. 205). Dieser Zuschnitt des Issues formiert das Konzept Privatheit und die damit verbundenen Probleme und Lösungen in spezifischer Weise: Privatheit und ihre Krise werden auf Informationskontrolle verengt. Argumentiert wird, Privatheit sei nicht zu bewahren, weil Informationskontrolle im Zuge der Digitalisierung unmöglich sei. Gleichzeitig wird die Offenbarung von Informationen als absolutes Gegenteil einer so verstandenen Privatheit konzipiert. In dieser Logik gelten un­kontrollierte Informationen tendenziell als unbeschränkt zugänglich. Im Ergebnis kommt es zu einer harschen Polarisierung von Privatheit und Transparenz. Diese zweiseitige Zurichtung des Problems durch einen Kurzschluss von Privatheit mit Digitalisierung und Informationskontrolle ermöglicht schließlich die Form des Issues der PPK: Privatheit sei insgesamt nicht zu erhalten und ihr Verschwinden zugunsten einer größeren Zugänglichkeit von Informationen möglicherweise zu begrüßen. So bleibt Privatheit in der PPK an das Modell der Informationskontrolle gebunden. Mit dieser Verengung ist die Kontroverse nicht isoliert, sondern eingebettet in weitreichendere Aushandlungen. Ein Großteil der jüngeren wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte um Privatheit ist von einem Verständnis geprägt, dass primär auf (individuelle) Informationskontrolle abstellt (Ochs 2015). In der PPK jedoch wird es durch diese Zuspitzung (und ihre Ablehnung) möglich, Probleme dieser Form von Privatheit zu registrieren und zu diskutieren. Eines dieser Probleme ist die Überschätzung des Selbstdatenschutzes. Im Rahmen einer Privatheit der Informationskontrolle gelten individuelle und technische Maßnahmen des Datenschutzes als zentrale Bedingungen für Privatheit. Abzulesen ist dies etwa am Recht auf informationelle Selbstbestimmung, dass als Recht des Einzelnen, selbst über die Verbreitung seiner personenbezogenen Daten zu bestimmen, auch eine individuelle Pflicht impliziert, diese Entscheidung zu treffen (BVerfG 1983). So wird Arbeit und Verantwortlichkeit für den Erhalt von Privatheit individuellen Akteur*innen überlassen. Problematisch ist dies, insofern es die Kompe­ tenzen, Ressourcen oder Reichweite von Einzelpersonen übersteigt. Ein weiteres Problem folgt aus den zunehmend unübersichtlichen Möglichkeiten der Datenerhebung und -verknüpfung. Selbstdatenschutz ist unter anderem deshalb nicht durchgehend individuell umsetzbar, weil Daten zunehmend beiläufig erfasst werden und im Anschluss individuell unvorhersehbar verteilt und verknüpft werden (Roßnagel und Nebel 2015). Diese Probleme verschärfen sich durch die zunehmende Digitalisierung und Vernetzung von Alltagsgegenständen (Internet der Dinge) und die algorithmische Sammlung und Vernetzung großer Datenmengen (Big Data) (Ladeur 2015; Matzner 2014).

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Beide Probleme im Zuge dieser Privatheit der Informationskontrolle werden in der PPK unter der Prämisse des „Kontrollverlusts“ verhandelt: Selbstdatenschutz gilt als dysfunktional, weil die Erhebung, Verteilung und Verknüpfung von Daten individuell unkontrollierbar seien (Heller 2011, S. 14 – ​20; Seemann 2014, S. 38). So werden in der PPK Probleme identifiziert und bearbeitet, die über die Kontroverse hinaus von Belang sind. Die prominent vorgeschlagene Lösung, auf Privatheit insgesamt zu verzichten, ist analytisch wie normativ grobschlächtig, repräsentiert aber auch nicht die gesamte Breite der verhandelten Lösungsansätze. Ich werde im nächsten Kapitel einige in der Kontroverse verhandelte Ansätze vorstellen, die von einer bloßen Verabschiedung von Privatheit absehen und stattdessen zu einer Ausdifferenzierung des Privaten beitragen.

3.3 Die Privatheiten der Postprivacy-Kontroverse Es ist der Zuschnitt von Privatheit auf Informationskontrolle, der die Kritik und die Suche nach alternativen Lösungen für die Krise der Privatheit in der PPK antreibt. Mit Hilfe der Heuristik der Analogiehypothese zeigt sich, dass es dabei nicht nur um die Kritik und Verteidigung von Privatheit als In­formationskontrolle geht, sondern auch um eine Ausdifferenzierung des Privaten. Im Windschatten einer scheinbar vollständigen Ablehnung von Privatheit motiviert die PPK Suchbewegungen nach alternativen Formen des Privaten. In der Kontroverse wurden Praktiken verhandelt und erprobt, die eine Beschränkung von Teilhabe im oben beschriebenen Sinne etablieren (vgl. Kapitel 2) und dabei in neuer Weise auf Informationskontrolle setzten. In der PPK wird damit zwar der Rahmen der Informationskontrolle kaum überschritten, wohl aber neue Möglichkeiten kollektiv verteilter Kontrolle erkundet. Die der Welt der Netzgemeinde verbundenen Autor*innen Kathrin Passig und Sascha Lobo stellen die Position der Postprivacy-Vertreter*innen wie folgt dar: Statt Informationskontrolle zu einer individuellen Aufgabe zu machen, sollten Organisationen zu einem verantwortlichen Umgang mit verfügbaren Informationen verpflichtet werden (Passig und Lobo 2012, S. 209 f.). Diese Interpretation der Postprivacy-Position macht deutlich, dass hinter der radikalen Ablehnung aller Momente der Informationskontrolle auch Lösungen diskutiert und erprobt werden, die viel mehr auf eine Verschiebung von Kontrolle setzten als auf deren Verabschiedung. Das führt zu Erkundungen der Potenziale verteilter Informationskontrolle in der PPK. Solche Erkundungen sind insbesondere im Umfeld digital-vernetzten Assoziations- und Selbsttechnologien zu beobachten und äußern sich entsprechend als Thematisierung neuer Privatheitspraktiken in SNS (auch Marwick und boyd 2014;

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Stalder 2011; Sauter 2014). Motiviert durch Zweifel am Modell der Datensparsamkeit und geprägt von den Daten streuenden Praktiken der Welt der Netzgemeinde herrscht in der PPK besondere Sensibilität für Praktiken jenseits individueller Informationskontrolle. Während Postprivacy-Kritiker*innen den Nutzer*innen von SNS vor allem zu Vorsicht, Verzicht und Sparsamkeit raten, sind Postprivacy-Vertreter*innen hier offener für die Widersprüchlichkeit von SNS-Praktiken.8 Es sind deshalb eher die Postprivacy-Vertreter*innen, die auch in den Nutzungsweisen von SNS Privatheitspraktiken entdecken: „Allen Unkenrufen zum Trotz war Facebook der Retter der Privatsphäre – indem es sie neu erfand. Es ist richtig, dass Facebook nicht dem Ideal von Privatsphäre entspricht, das sich ein traditioneller Datenschützer wünscht. Eine ‚informationelle Selbstbestimmung‘ hat man bei Facebook nicht. Man ist zumindest Facebook selbst ausgeliefert, das von jedem alles weiß. Und damit auch den Werbepartnern und im Zweifel auch den US-Geheimdiensten. Aber dafür hat man bei Facebook andere Möglichkeiten, Privatsphäre auszuüben. Feingranular kann ich für jede eingestellte Datei einstellen, wem unter meinen Bekannten ich einen Blick darauf gewähre und wem nicht“ (Seemann 2015).

Im Gegensatz dazu pathologisieren Postprivacy-Kritiker*innen Praktiken, die nicht dem Modell der Datensparsamkeit entsprechen (vgl. auch Ganz 2011): „Der sparsame, sorgsame Umgang mit den eigenen Daten betrifft nicht nur einen selbst. […] Der soziale Umgang mit Menschen, die keine Privatsphäre-Manieren haben oder gar offensiv Post-Privacy-Ideologien vertreten, kann im Ernstfall ähnlich riskant sein wie intimer Umgang mit habituellen Safe-Sex-Verweigerern“ (Kurz und Rieger 2011, S. 205).

Die PPK trägt hier zu einer Ausdifferenzierung des Privaten bei, insofern Prakti­ ken als privat anerkannt werden, die nicht dem Modell der individuellen Informationskontrolle entsprechen. In der Kontroverse wird registriert, dass SNS-Nut­ zer*innen Privatheit praktizieren, obwohl sie Kontrollmöglichkeiten an Plattformen und Technologien delegieren. Diese Delegation ist nicht unproblematisch, insofern jene Technologien für Nutzer*innen weitgehend undurchsichtig sind und viele Plattformbetreiber*innen nicht in erster Linie an der informationellen Privatheit ihrer Nutzer*innen interessiert sind und deshalb die Kontrollmöglichkei8 „Wenn Post-Privacy doch so ein ‚realitätsfernes Gedankenexperiment‘ (S. 252) [Zitat aus Kurz und Rieger 2011, F. P.] sein soll, stellt sich die Frage, warum post-private Technologien des Selbst für viele scheinbar unbedrohlich, spannend, gar erfolgsversprechend sind“ (Ganz 2011).

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ten nach anderen Maßgaben gestalten oder schlicht vernachlässigen. Nichtsdestotrotz bieten kommerzielle SNS ihren Nutzer*innen die Möglichkeit, bestimmte Formen einer Privatheit der Informationskontrolle zu praktizieren, die eher Modellen der Delegation als solchen der individuellen Autonomie folgen (Ganz 2015, S.  40 f.).9 Nutzer*innen verzichten teils auf die Kontrolle über persönliche Informationen in SNS und setzen stattdessen (trügerisches) Vertrauen in die Anbieter*innen (Marwick und boyd 2014). Ein weiterer Fall einer Ausdifferenzierung des Privaten in der PPK findet sich in Christian Hellers Buch Post-Privacy (2011). Heller schildert im Kapitel „To­ leranz“ eine Praktik auf der US-amerikanische Dating- und Kontakt-Plattform OkCupid. Auf dieser SNS können Nutzer*innen eine Vielzahl teils selbst erstellter Fragen über sich selbst beantworten und ihre Antworten jeweils denen zugänglich machen, die dieselbe Frage beantwortet haben. Heller bewertet die Plattform wie folgt: „OkCupid ist ein Testlabor der Post-Privacy, eine kleine utopische Insel. […] Benutzer können jede ihrer Antworten ‚öffentlich‘ schalten. Das heißt nicht unbedingt, dass jeder Besucher meines Profils diese Antworten sehen kann, aber zumindest jeder Nutzer, der dieselbe Frage beantwortet und ebenfalls ‚öffentlich‘ geschaltet hat: gegenseitige Entblößung auf Augenhöhe“ (Heller 2011, S. 142 f.).

Der Autor lobt hier einen soziotechnischen Mechanismus, der das Modell individueller Informationskontrolle überschreiten soll. Argumentativ liegt der Zweck der Darstellung darin, eine Alternative zur Regel der Datensparsamkeit vorzustellen, um stattdessen die Vorteile gegenseitiger Offenbarung plausibel zu machen. Hier werden Verfahren der Informationskontrolle nicht nur an Technologien delegiert, sondern mit deren Hilfe außerdem an menschliche Gegenüber. An den Informationen des Profils kann teilhaben, wer selbst bestimmte Informationen bereitstellt, und umgekehrt. Dass Heller hier die Bezeichnung „öffentlich“ übernimmt (wenn auch in Anführungszeichen), verweist auf die starke Polarisierung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit innerhalb der PPK. Heller sieht darin eine Praktik der Veröffentlichung und konkreten Nutzen: „OkCupid ist umgekehrte Öffentlichkeit: ein Ort, wo Menschen alles ausbreiten und miteinander vergleichen, was gewöhnlich ins Schweigen des Privaten verdammt ist“ (Heller 2011, S. 143 f.). Im Gegensatz dazu interpretiere ich die Situation als Bericht über eine Privatheitspraktik und einen Beitrag zu einer Ausdifferenzierung des Privaten. Es geht 9

Das wird durch rechtliche Einwilligungsverfahren kaschiert, um die daraus folgenden Praktiken mehr schlecht als recht an den Rahmen einer informationellen Selbstbestimmung zurückzubinden.

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weniger um eine breite Streuung im Sinne einer Veröffentlichung, sondern eher um die Ermöglichung einer intimen Erfahrungssituation, an der nur bestimmte Personen nach bestimmten Regeln teilhaben können. In dieser Konstellation von Beschränkung und Teilhabe werden in der PPK neue Praktiken des Privaten erprobt, in diesem Fall sogar ohne als solche wahrgenommen zu werden. Durch die Polarisierung von Privatheit und Transparenz in der PPK werden viele Gegensätze zu Datenschutz als Veröffentlichungen missverstanden. Tatsächlich aber werden hier mithin die kollektiven und technischen Möglichkeiten von Informationskontrolle erkundet. Diese beiden Interpretationen von Praktiken in den SNS Facebook und OkCupid stehen exemplarisch für eine spezifische Sensibilität in der PPK für neue Probleme des Privaten im Zuge der Digitalisierung. Jenseits der Front zwischen Ablehnung und Verteidigung von Privatheit finden sich diverse Versuche, eine Privatheit der ausschließlich individuellen Informationskontrolle zu überwinden. Viele der verhandelten Konzepte und Taktiken rechnen mit den technischen und individuellen Schwierigkeiten von Informationskontrolle. Außerdem gelten – geprägt durch die Praktiken der Welt der Netzgemeinde – Kontrolle und Exklusivität von Informationen weniger als Bedingung für Intimität und Selbstbildung. In dieser Situation entfalten sich in der PPK Problembeschreibungen und Lösungsansätze jenseits ausschließlich technischer oder individualistischer Konzepte. So werden normale Privatheiten durch perverse Formen des Privaten herausgefordert und ein Stück weit von den dominanten Kräften der Regulierung als individualistische Praktik im Sinne der informationellen Selbstbestimmung entfernt (Coll 2014, S. 1260).

3.4 Die ästhetische Bewegung der Postprivacy-Kontroverse Die Analyse der PPK offenbart schließlich eine weitere Besonderheit der Kontroverse: Die Kritik einer Privatheit der Informationskontrolle und die damit verbundenen Beiträge zur Ausdifferenzierung des Privaten sind an Verhandlungen um Subjektivierungsprozesse gekoppelt. Der Subjektivierungsbegriff bezeichnet heterogene und historisch kontingente Prozesse der Einbindung und Selbsteinbindung von Individuen in soziale und materielle Umwelten.10 Diese Prozesse 10 „Das Wort Subjekt hat einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewußtsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein“ (Foucault 1994, S. 246 f.). „Das Subjekt ist der Fluchtpunkt der Definitions- und Steuerungsanstrengungen, die auf es einwirken und mit denen es auf sich selbst einwirkt. Ein soziales Problem und eine individuelle Aufgabe, kein Produkt, sondern ein Produktionsverhältnis“ (Bröckling 2007, S. 22).

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werden in der Kontroverse thematisiert und mit Fragen der Zukunft der Privatheit verknüpft. Für Kritiker*innen von Postprivacy-Positionen bewahrt Privatheit „die Individualität, letztlich die Menschenwürde“ (Kurz und Rieger 2011, S. 205), Postprivacy-Befürworter*innen dagegen äußern Zweifel an diesem Zusammenhang. Christian Heller formuliert etwa eine polemische Umkehrung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, die nicht zuletzt Prämissen eines alternativen Modells von Subjektivierung enthält: „Wenn wir den Einzelnen ermächtigen wollen, dann sollten wir ihm dieses Recht in die Hand geben. […] Jeder soll selbst bestimmen, was er an Informationen aufnimmt und mit diesen anstellt. Man könnte ein solches Recht […] nennen: ‚Recht auf informationelle Selbstbestimmung‘. Leider ist dieser Begriff bereits von einer anderen, ganz und gar gegensätzlichen Denkschule in Beschlag genommen“ (Heller 2011, S. 71).

Heller interpretiert hier informationelle Selbstbestimmung als ein Recht auf möglichst unbeschränkten Zugang zu Informationen – und gerade nicht als ein Recht auf Informationskontrolle. Der Zugang zu Informationen gilt ihm als Bedingung individueller Autonomie und in der Folge werden Informationskontrolle und Autonomie zu widerstreitenden Werten. Der argumentative Hebel ist hier ein Modell von Subjektivierung, demzufolge ein möglichst unbeschränkter Zugang zu In­formationen für die Subjektkonstitution wichtiger ist als die Möglichkeit zu individueller Kontrolle. Etwas anders setzt Michael Seemann an, wenn er die Postprivacy-Idee auch mit dem Ende jeder Pflicht zur Subjektivierung verbindet: „Postprivacy ist vielleicht – wenn man sie weiterdenkt – sogar das Ende einer jeden Forderung des ‚Soseins‘ an das Individuum […] Klar, ist das verwirrend und unbefriedigend. Genau so verwirrend und unbefriedigend wie das Idividuum [sic], das in Wirklichkeit nie eine einheitliche, kohärente Identität ausbildete […] Die Akzeptanz und das Leben mit diesen Brüchen und Idiosynkrasien ist wahrscheinlich die größte Herausforderung der Postprivacy“ (Seemann 2011b).

In beiden Fällen wird ein bestimmtes Modell von Subjektivierung als Grundlage und Argument für Postprivacy-Positionen ins Spiel gebracht. Für diese Form von Subjektivität sind der Zugang und die Prozession von Welt relevanter als Rückzug und Konsolidierung; Heterogenität und Dynamik sind wichtiger als die Ausbildung und Verfeinerung einer stabilen Identität. Diese Absetzungsversuche schließen an eine Kritik bürgerlicher Subjektivität an, die für die Moderne nicht untypisch ist: Die soziale Fixierung der Einzelnen wird als zu eng kritisiert und ein ästhetisches Subjekt der „Steigerung und Multiplizierung durch außeralltägliche Erfahrung“ als Alternative positioniert (Reckwitz 2006, S. 443). Insofern in der

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PPK in dieser Weise eine alternative Version von Subjektivierung mobilisiert wird,

lässt sich die Kontroverse als Ort und Ausschnitt einer ästhetischen Bewegung verstehen, das heißt einer kulturellen Gegenbewegung, die eine Form von Subjektivität propagiert und praktiziert, die von der vorherrschenden Subjektkultur abweicht (Reckwitz 2006, S. 75).11 Die Verhandlung einer alternativen Subjektivität auf Seiten der Postprivacy-Repräsentant*innen ist einerseits argumentatives Mittel zur Kritik einer spezifischen Form von Privatheit, andererseits angeschlossen an eine breitere Debatte um die Transformation von Subjektivierungsprozessen. Einflüsse kommen aus der naheliegenden Welt der Netzgemeinde, in der sich Teile als „digitale Bohème“ bezeichnen und so ganz explizit auf die Semantik vorangegangener ästhetischer Bewegungen Bezug nehmen (Friebe/Lobo 2007). Darüber hinaus konzipiert die ästhetische Bewegung der PPK Subjektivität passend zu den Momenten der Zugänglichkeit, Dynamik und Heterogenität als Resultat von Netzwerkprozessen (Ganz 2015, S. 41 f.). So wird in der PPK eine bestimmte Form von Privatheit problematisiert, zeitgenössische Subjektivierungskritik geäußert und Verbindungen zwischen diesen beiden Position gezogen. Wenn dies als Indiz für eine tatsächliche Verschränkung gewertet werden kann, wäre die PPK sowohl Teil als auch Symptom einer allge­ meineren Transformation des Verhältnisses von Privatheit und Subjektivierung. Was in der Kontroverse registriert wird, ist eine zunehmende Spannung zwischen einer Privatheit der Informationskontrolle und einer wachsenden Zahl von Situation, in denen die Streuung persönlicher Informationen eine gelingende Subjektivierung verspricht.

4

Schluss: Perverse Privatheiten und die Ausbreitung des Persönlichen

Zunächst bleibt die Form der Privatheit in der PPK weithin stabil (Kapitel 3.2). Neben Bewegungen der Bewahrung, der Wiederherstellung, des Ausklangs und der Abschaffung gibt es in der Kontroverse wenig Raum für Modifikationen des Privaten – Privatheit bleibt an das Konzept der Informationskontrolle gebunden. Befürworter*innen und Kritiker*innen des Postprivacy-Vorschlags teilen das 11 Ästhetische Bewegungen „initiieren Subjektcodes und Ansätze avantgardistischer Praktiken in einer subkulturellen ‚Bohème‘. Sie bleiben aber eine minoritäre kulturelle Bewegung, die zur Unterminierung des bürgerlichen Modells diskursiv beiträgt, ohne selbst zur Hegemonie zu werden“ (Reckwitz 2006, S. 282). Ästhetische Bewegungen brechen „den jeweiligen universellen Horizont eines scheinbar allgemeingültigen bürgerlichen bzw. nach-bürgerlichen Subjekts“ auf und positionieren „dagegen ein ästhetisch ausgerichtetes Alternativ­ modell“ (Reckwitz 2006, S. 442).

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normative Ziel einer Aufhebung informationsbasierter Machtasymmetrien, Uneinigkeit besteht in der Frage der angemesseneren Strategie zur Erreichung dieses Ziels: Während Kritiker*innen auf Datenschutz setzten, hoffen Befürworter*innen auf die ausgleichende Wirkung der Transparenz. So steht und fällt der Wert des Privaten mit der Rolle der Informationskontrolle. Privatheit ist so nützlich, wie Informationskontrolle hilft Machtasymmetrien entgegenzuwirken. In diesem Sinne scheint auch die PPK von einem normalisierenden Dispositiv bestimmt, das auf eine individualistische Verengung und ökonomische Nutzbarmachung des Privaten abzielt, während Bewegungen der Modifikation von Privatheit (etwa als kollektives Gut) kaum zur Geltung kommen (Coll 2014; Regan 2011). Die Analyse der PPK hat aber auch gezeigt, dass die öffentliche Problematisierung einer Privatheit der Informationskontrolle zu einer Ausdifferenzierung des Privaten beiträgt und perverse Privatheiten hervorbringen kann (3.3). Solche devianten Formen des Privaten stehen konträr zu den normalen, individualistischen Privatheiten rechtlicher und wissenschaftlicher Diskurse. Gerade im Umfeld digital-vernetzter Assoziations- und Selbsttechnologien ist die Streuung persönlicher Daten integrale Bedingung kollektiver Praktiken. Entsprechend florieren hier die Kritik an bestimmten Konzepten und Praktiken des Privaten sowie die Suche nach Alternativen. Insbesondere dort, wo sich die Welten des Hackens und der Netzgemeinde mischen, verhandeln Repräsentant*innen einer digital-vernetzten Avantgarde über mögliche Lösungen. Dabei wird nicht jede Form von Privatheit im Sinne einer Beschränkung von Teilhabe aufgegeben, sondern auch neue Mechanismen der Informationsverteilung ins Spiel gebracht, die stärker mit der Streuung und Kollektivität aktueller Dateninfrastrukturen rechnen. Die daraus resultierenden Praktiken sind teils umstritten und werden mithin als perverse Privatheiten disqualifiziert. Wenn die Situation auch jenseits der PPK von einem normalisierenden Dispositiv bestimmt ist, könnte sich Perversion als wichtiger Modus der Modifikation von Privatheit erweisen. So finden sich in der PPK im Schatten der Zurichtung einer dominanten Privatheit auch minoritäre Gegenbewegungen, die dazu beitragen, Privatheit weniger fass- und kontrollierbar zu machen (Coll 2014, S. 1260). In der PPK zeigt sich schließlich auch, dass die Kräfte der Modifikation von Privatheit mit der alternativen Subjektivität einer ästhetischen Bewegung zusammenhängen (3.4). In der Kontroverse wird ein Modell von Subjektvierung mobilisiert, das auf Zugänglichkeit, Heterogenität und Dynamik setzt und dabei in digitalen Assoziations- und Selbsttechnologien passende Alliierte findet.12 Digi12 Dieses Modell von Subjektivierung korrespondiert mit einer Reihe zeitgenössischer Positionen der Sozial- und Gesellschaftstheorie (Bauman 2015; Boltanski und Chiapello 2003; Latour 2007a; Laux 2014; Stäheli 2013).

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tale Technologien scheinen hierbei Prozesse der Singularisierung zu unterstützen und anzutreiben, in denen sich Subjekte als einzigartig formieren und formiert werden (Reckwitz 2017, S. 243 – ​258). Für diese digitale Singularisierung sind unter anderem Profile (etwa in SNS) entscheidend, über die sich Subjekte durch eine komponierte und dynamische Versammlung heterogener Elemente als interessante Person zu präsentieren versuchen. Die alternative Subjektivität der PPK zeigt sich so als Symptom einer weitreichenderen Transformation von Subjektivierungsangeboten. An anderer Stelle vertrete ich die These, dass die aktuelle Transformation von Privatheit und Subjektivierung mit der Ausbreitung einer neuen Personalität zusammenhängt (Pittroff 2017). Personalität verstehe ich dabei als spezifische Form der Subjektivierung, bei der (menschliche) Wesen durch Momente der Pflege, Erreichbarkeit und Komposition zu Personen werden (Luhmann 1995; Foucault 1993; Latour 2014). Nicht mehr nur für Liebende und Familien sind Personen umfänglich relevant, auch SNS und digitale Öffentlichkeiten gehören heute zu den Interessenten. Entsprechend florieren Praktiken der Personalisierung im Digitalen und geraten dabei in Konflikt mit etablierten Formen des Privaten, die auf Rückzug und Kontrolle setzen (boyd 2012). Während solche Privatheiten im Zuge der Digitalvernetzung grundsätzlich destabilisiert werden, verlässt das Persönliche den Bereich des Privaten und hält Einzug in weitere Teile der Gesellschaft (Reckwitz 2017, S. 254 f.). So lässt sich die Krise der Privatheit mit einer Ausbreitung des Persönlichen in Verbindung bringen.

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Un/erbetene Beobachtung Bewertung richtigen Medienhandelns in Zeiten seiner Hyper-Beobachtbarkeit Kathrin Englert, David Waldecker und Oliver Schmidtke

Zusammenfassung  

Fragen der Bewertung sind – so die Ausgangsthese des Beitrags – in das Internet, so wie es aktuell verfasst ist, elementar eingeschrieben: Fragen nach der Bewertung des richtigen Maßes an Beobachtbarkeit. Internetbasierte Kommunikation eröffnet praktisch unbegrenzte Möglichkeiten der Beobachtung, Überwachung und Datensammlung durch diverse Institutionen und Akteur/innen. Gleichzeitig sind viele kooperative Medien, nicht zuletzt zahlreiche Anwendungen im Web 2.0, darauf angelegt, dass die Teilnehmer/innen sich gezielt beobachtbar machen. Der Beitrag fokussiert das Spannungsverhältnis zwischen der Überwachungsgesellschaft und einer Kultur der Maximierung der Produktion medialer Daten aus der Sicht von Nutzer/innen anhand der Unterscheidung „erbetene/unerbetene Beobachtung“. Von Interesse ist die kritische Urteilskraft von Social-Media-Nutzer/innen gerade deshalb, weil diese über ihre Online-Aktivitäten in die eigene Überwachung und Kontrolle ‚verstrickt‘ sind. Empirisch wird mit Bezug auf die Soziologie der Rechtfertigung von Boltanski und Thévenot sowie die Arbeiten von Kessous ein Blick auf subjektive Deutungen und Rechtfertigungen un/erbetener Beobachtung seitens junger Netzakteur/innen geworfen. Die empirisch vorgefunden Legitimierungen richtigen Medienhandelns zeigen, dass bei Fragen der Beschränkung von Daten und Kommunikation nicht nur eine Ökonomie der Aufmerksamkeit eine Rolle spielt, sondern diverse Konfigurationen verschiedener Rechtfertigungsordnungen relevant werden. Schlagwörter  

Surveillance, Überwachung, Internet, Social Media, Ökonomie der Aufmerksamkeit, Jugendliche, Medienhandeln, Bewertung, Rechtfertigung © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Kropf und S. Laser (Hrsg.), Digitale Bewertungspraktiken, Soziologie des Wertens und Bewertens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21165-3_9

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Medienhandeln in Zeiten seiner Hyper-Beobachtbarkeit

Praktiken des Bewertens sind in digitalen Medien allgegenwärtig. Be­wertungen müssen aber nicht in Form von Likes, Sternen oder Kommentaren explizit zum Inhalt von Medienpraktiken werden, um für das Medienhandeln relevant zu sein. Vielmehr sind – so unsere Ausgangsthese – in das Internet, so wie es aktuell verfasst ist, Fragen der Bewertung elementar eingeschrieben, nämlich solche nach der Bewertung des richtigen Maßes an Beobachtbarkeit. Internetbasierte Kommunikation eröffnet praktisch unbegrenzte Möglichkeiten der Beobachtung, Überwachung und Datensammlung durch diverse Institutionen und Akteur/innen mit unterschiedlichsten Zielen. Die Grenzen zwischen kommerzieller und nachrichtendienstlicher beziehungsweise polizeilicher Datensammlung sind permeabel und Datensammlungen werden teilweise gegen den Willen der Netzteilnehmer/innen, des Öfteren ohne deren genaues Wissen über Art und Ausmaß der erfassten Daten und deren mögliche Verwendung erstellt. Gleichzeitig sind viele kooperative Medien, nicht zuletzt zahlreiche Anwendungen im Web 2.0, darauf angelegt, dass die Teilnehmer/innen sich gezielt beobachtbar machen beziehungsweise ihre Beobachtbarkeit nach Möglichkeit steigern, also an einer Maximierung der Produktion und Ver-‚Öffentlichung‘ von Daten über sich selbst mitarbeiten. Vereinfachend kann man sagen: Das Internet ist gegenwärtig durch das Spannungsverhältnis zwischen Preisgabe von Daten durch Nutzung einerseits – bereits bei Herstellung der Internetverbindung wird die IP-Adresse öffentlich – und Schutz der Privatsphäre vor institutionellen und interpersonellen Beobachter/innen andererseits geprägt. Dieser Modus operandi des Internets lässt sich von Nutzer/innen nicht hintertreiben. Datenschutztechnologien mögen einen Verlust der Datenkontrolle verzögern, können ihn aber nicht zuverlässig verhindern. Das Spannungsverhältnis spitzt sich freilich zu, wenn Webinhalte aktiv mitgestaltet werden, also Nutzer/-innen zu „Produsern“ (Bruns 2008) werden.1 Die schon zu Beginn des Jahrtausends von Haggerty und Ericson (2000) beschriebene „sur1

Überwachung in der Informationsgesellschaft war bereits vor dem Web 2.0 dadurch geprägt, dass die Daten von den ‚Überwacher/innen‘ nicht mehr gesammelt oder gar erst erzeugt werden müssen, sondern die Individuen – und zwar prinzipiell alle – die Daten selbst produzieren (Gandy 1993, S. 64): Sei es durch Magnetkarten als Schlüssel für Gebäude, durch das Einloggen auf vernetzten Firmencomputern oder durch die Anmeldung und Nutzung etwa von Telefondiensten. Mit dem Web 2.0 – vor allem durch Anwendungen wie Foto- und Videoportale oder Soziale Netzwerke – werden diese Überwachungsmöglichkeiten insofern wesentlich erweitert, als die nutzergenerierten Inhalte zusammen mit gespeicherten Informationen über besuchte Webseiten, Konsumverhalten, Kommunikationspartner/innen, geographische Positionsdaten usw. Datensammlungen und -kombinationen von bislang ungeahntem Umfang ermöglichen.

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veillant assemblage“ – die Vielzahl heterogener Überwachungssysteme – erlangt im Web 2.0, sowohl durch die Intervisibilität der Nutzer/innen und die damit nicht selten einhergehende „interpersonal surveillance“ (Trottier 2012a, 2012b), als auch durch das enorme Wachstum institutioneller (staatlicher und kommerzieller) Überwachung neue Dimensionen. Die institutionelle Überwachung wird durch Entwicklungen im Bereich der Auswertungsverfahren vervollständigt, die es ermöglichen, in kurzer Zeit aus den „Big Data“ Muster zu extrahieren (Mayer-Schönberger und Cukier 2013; Reichert 2014; dazu auch Diaz-Bone in diesem Band). Es ist Individuen heute kaum noch möglich, sich der Nutzung digitaler Medien zu entziehen. Selbst bei einem weitgehenden Verzicht im privaten Kontext können die entsprechenden Technologien in der Schule, im Arbeitsalltag oder in anderen institutionellen Zusammenhängen kaum umgangen werden. Mithin ist die Frage nach der Beobachtbarkeit des eigenen medialen Tuns virulent und spitzt sich im Falle der Nutzung von Web 2.0-Anwendungen zu. Insofern fließen in die Nutzung von Webangeboten nolens volens Bewertungen erbetener Beachtung und unerbetener Beobachtung ein. Wir werden im Folgenden zunächst unsere Perspektive auf das Spannungsverhältnis zwischen der Überwachungsgesellschaft und einer Kultur der Maximierung der Produktion medialer Daten näher umreißen. Wir wählen für unseren Zugang zum Medienhandeln (jugendlicher) Netzakteur/innen einerseits die Leitdichotomie der „un/erbetenen Beobachtung“ und andererseits eine „Soziologie der Bewertung“, genauer: die „Soziologie der Rechtfertigung“ nach Luc Boltanski und Laurent Thévenot (1991, 2007), wobei wir auch auf Emmanuel Kessous’ (2012, 2015) Analyse der Ökonomie der Aufmerksamkeit Bezug nehmen, die an Boltanski und Thévenot anschließt (Abschnitt 2). Nachdem wir das methodische Vorgehen skizziert haben, werfen wir anhand zweier exemplarisch ausgewählter Fälle einen empirischen Blick auf die Rechtfertigungen erbetener beziehungsweise unerbetener Beobachtung seitens Jugendlicher und junger Erwachsener (Abschnitt 3). Im Fazit (Abschnitt 4) versuchen wir, einige Schlüsse aus unseren Befunden zu formulieren.

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Un/erbetene Beobachtung und Urteilskraft der Nutzer/innen

Die hier vorgestellte Perspektive auf das Spannungsverhältnis zwischen der Überwachungsgesellschaft und einer Kultur der Maximierung der Produktion media­ler Daten entstammt dem Forschungsprojekt „Un-/Erbetene Beobachtung: Die Überwachungsgesellschaft und das soziale Feld der Medien“, das am SFB 1187 ange-

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siedelt ist.2 Die Projektkonzeption folgt zwei miteinander verwobenen Schwerpunkten. Zum einen interessieren wir uns für die kritische Urteilskraft von Social-Media-Nutzer/-innen, gerade weil diese über ihre Online-Aktivitäten in ihre eigene Überwachung und Kontrolle ‚verstrickt‘ sind. Die Nutzer/innen arbei­ ten sich angesichts dessen durchaus an der Spannung zwischen Schutz der Privat­ heit und (Steigerungs-) Optionen der medialen Selbstdarstellung ab. Zum anderen wollen wir für die subjektiven Grenzziehungen der Akteur/innen nicht Definitionen von Öffentlichkeit und Privatheit als relevant setzen, wie sie in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen formuliert werden. Wir versuchen uns vielmehr, mit der Leitdichotomie der „un/erbetenen Beobachtung“ einen (neuen) Zugang zu erarbeiten. Die Folgen informatisierter Datenproduktion und -sammlung und ihre Wahrnehmung und Bewertung durch die Nutzer/innen werden freilich schon länger in den Sozial-, Medien-, Kultur- und Rechtswissenschaften thematisiert. Meist geschieht dies unter der Perspektive der Bedrohung von Privatheit. Untersuchungen zur Perspektive der Nutzer/innen kommen in aller Regel zu dem Ergebnis, dass Privatheit – gemeinhin verstanden als die Möglichkeit, über die Verbreitung und Verwendung der eigenen Daten selbst zu bestimmen – zwar durchaus als ein schützenswertes Gut angesehen wird (Fuchs 2010; boyd und Marwick 2011) und die Internetnutzer/innen keineswegs als naiv oder unreflektiert hinsichtlich der Zugriffsmöglichkeiten, insbesondere der organisierten (staatlichen oder kommerziellen) ‚Überwacher‘ beschrieben werden können. Gleichzeitig gibt es einen Widerspruch zwischen den Einstellungen zur Privatheit und den konkreten Online-Praktiken (Taddicken 2011; Krämer und Haferkamp 2011, S. 128; Stalder 2011, S. 510), einen Widerspruch, der im Anschluss an Barnes (2006) als „privacy paradox“ beschrieben wird (Lee und Cook 2015). Meist wird dieses Paradox so gefasst, dass der Schutz der Privatsphäre als selbstverständlich positive Norm und die dieser Norm widersprechenden Praktiken als zu erklärende Abweichung behandelt werden. Dementsprechend werden auch Schutz der Privatsphäre und Überwachung als zwei Pole ein und desselben Kontinuums konzipiert.3 Im Gegensatz dazu gehen wir in Anbetracht der Entwicklungsdynamik sozialer Medien und deren Durchdringung des Alltags, nicht 2

Der Sonderforschungsbereich 1187 „Medien der Kooperation“ ist an der Universität Siegen eingerichtet und wird von 2016 bis 2019 von der DFG in einer ersten Laufzeit gefördert. Das hier vorgestellte Teilprojekt B06 gehört am SFB dem Projektbereich „Öffentlichkeiten“ an und wird von Wolfgang Ludwig-Mayerhofer geleitet. Bis Mai 2017 war neben den Autor/innen Jacqueline Klesse als wissenschaftliche Mitarbeiterin beteiligt. 3 In diesem Sinn wird in der Debatte um die richtige Internetnutzung die Alternative zwischen einer mit Sicherungstechnik hochgerüsteten Nutzung und Post-Privacy-Ansätzen aufgemacht (dazu Pittroff in diesem Band).

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zuletzt durch mobile, multifunktionale Endgeräte, von der Hypothese aus, dass ein „offensiver“ Gebrauch der sozialen Medien als neue, positiv konnotierte Normalität zu konzipieren ist – gerade was die, unter der Chiffre der „digital natives“ (Prensky 2001; kritisch zu dieser Begriff‌lichkeit etwa Rogers 2009, S. 17) verhandelten, Jahrgänge ab den 1980er Jahren und damit auch und insbesondere heutige Jugendliche angeht, für die Online-Vernetzung nicht mehr aus dem Alltag wegzudenken ist.4 Soziale Medien erfüllen heute ganz wesentliche Funktionen der Darstellung, Erprobung und Verhandlung von Identität(en); die Orientierungs- und Wertfragen, mit denen Jugendliche konfrontiert sind, tragen sie heute zu beträchtlichen Teilen über Online-Medien der Kooperation im Web 2.0 aus, sodass sie potenziell in hohem Umfang in ihrem „Innersten“ beobachtbar werden. Ein Leben in Zeiten digitaler Vernetzung scheint ein Leben zu sein, in dem fortlaufend Informationen preisgegeben werden und eher deren Zurückhaltung zum erklärungsbedürftigen Phänomen wird. Pauschale Deutungen dieses Verhaltens der Nutzer/innen als Voyeurismus oder als Exhibitionismus (Pecora 2002, S. 355; Simanowski 2014, S. 53) sind freilich ebenso einseitig wie Visionen einer gigantischen Überwachungsmaschinerie, in denen die Mediennutzer/innen ausschließlich als hilflose Marionetten konzipiert werden. Wie Forschungen zeigen, ist die Mediennutzung gerade Jugendlicher und junger Erwachsener durchaus auch von Privatheit und Abgrenzung geprägt (namentlich gegenüber den Eltern,5 Steeves 2012, S. 353). Die Nutzer/innen konstituieren ihre je eigenen, „persönlichen Öffentlichkeiten“ (Schmidt 2013), in denen Grenzen zwischen Privatheit(en) und Öffentlichkeit(en) diffus, auf jeden Fall aber situativ und kontextabhängig variabel ausgestaltet werden (Trottier 2012a; Baym und boyd 2012). Mit Blick hierauf schlagen wir vor, die Leitdichotomie der erbetenen/unerbetenen Beobachtung zu erproben, um einen neuen Zugang zu den Öffnungs- und Abgrenzungsstrategien von (jugendlichen) Mediennutzer/innen zu erarbeiten. Die Frage, wer aus Sicht der Nutzer/innen erbetene/r und wer un­ erbetene/r Beobachter/-in ihrer Medienpraktiken ist, dürfte ebenso abhängig von Situation und Kontext sein, wie die kommunikativen Formen und Gehalte dieser 4 Zur Illustration einige Nutzungszahlen: 2013 nutzten 87 % der 14- bis 19-Jährigen ein soziales Netzwerk und verbrachten dort im Durchschnitt 87 Minuten pro Tag (Busemann 2013, S. 392). Laut JIM-Studie 2016 nutzten 89 % der 12- bis 19-Jährigen täglich WhatsApp, 39 % täglich Instagram, 35 % täglich Snapchat, 32 % täglich Facebook (mpfs 2016, S. 31) und 56 % täglich Youtube (mpfs 2016, S. 38). Abgesehen von Facebook werden WhatsApp, Snapchat und Instagram in der Mehrzahl „aktiv“ genutzt, d. h., die Jugendlichen stellen primär eigene Inhalte auf der Plattform zur Verfügung (mpfs 2016, S. 33). 5 Jugendliche erleben gerade die Wohnung – in den modernen liberalen Konzepten der Ort von Privatheit schlechthin – nicht als privat, da die Eltern in der Regel Zugang zu ihrem Zimmer haben (boyd und Marwick 2011).

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Praktiken selbst. Wir gehen also im Sinne einer praxistheoretischen Perspektive davon aus, dass die Bewertungen der eigenen Beobachtbarkeit im Online-Alltag der Jugendlichen nicht nur implizit mitfließen, sondern beständig neu verhandelt werden. Wir vermuten, dass sich Jugendliche weniger an abstrakten Fragen – etwa der informationellen Selbstbestimmung als wesentlichem Ausdruck liberaler Beschränkung staatlicher Macht – abarbeiten, sondern dass ihre Urteilskraft eher durch alltägliche Probleme herausgefordert wird: den Schutz vor Beobachtung sowohl durch Eltern als auch Ausbildende beziehungsweise Arbeitgeber, den Schutz vor Cybermobbing sowie generell Fragen der angemessenen (Selbst-)Präsentation im Netz (boyd 2014). Bei der Beurteilung solcher Angemessenheit und bei den Grenzziehungen zwischen adressierten Öffentlichkeiten und auszuschließenden Personen und Institutionen ist davon auszugehen, dass die Jugendlichen verschiedene „Rechtfertigungsordnungen“ im Sinne von Boltanski und Thévenot (2007) aufrufen. Boltanski und Thévenot haben in ihrem grundlegenden Beitrag zur Soziologie der Bewertung (Lamont 2012) beschrieben, wie sich Argumente und Bewertungsschemata auf Rechtfertigungsordnungen zurückführen lassen (vgl. auch Diaz-Bone in diesem Band). Zentral für ihre Überlegungen ist der Hinweis, dass Akteur/innen in konfliktträchtigen Alltagssituationen ihr Handeln einer Refle­ xion unterziehen und es notwendigerweise begründen müssen, das heißt, sie legen sich und Interaktionspartner/innen gegenüber Rechenschaft über ihr Handeln ab (Boltanski und Thévenot 2007, S. 61). Boltanski und Thévenot führen die in Prozessen der Einigung aufgerufenen Bewertungsmuster auf sechs Rechtfertigungsordnungen zurück, die sie in ihrem alltäglichen Gebrauch auch als Welten bezeichnen: jene der Inspiration, des Hauses, der Meinung, des Staatsbürgers/der Staatsbürgerin, des Marktes und der Industrie. Diese Rechtfertigungsordnungen sind nicht an gesellschaftliche Sphären gebunden, sondern können prinzipiell in jeder Situation zur Bewertung herangezogen werden. Zugleich können in Prozessen der Bewertung beziehungsweise Einigung auch Kompromisse aus verschiedenen Rechtfertigungsordnungen gebildet werden. Kessous (2012, 2015) knüpft an die Soziologie der Rechtfertigung an und konstatiert anhand der spezifischen Interaktionsanforderungen und Bewertungspro­ zesse im digitalen Netz eine Ökonomie der Aufmerksamkeit, wobei er Ökonomie explizit in einem weiten Verständnis als „differing normative frameworks of action (modes of coordination), economies of means (specific forms of investment) and meanings of worth (success)“ (Kessous 2015, Abs. 5) versteht, und zu den Ökonomien der „Größe“ (grandeur, also des Wertes von Personen) par­allelisiert, die Boltanski und Thévenot in verschiedene Welten aufgliedern (Kessous 2012, S. 185 – ​ 202). Kessous spricht hierbei auch von einer Welt der Aufmerksamkeit (Kessous 2012, S. 189, 201), und konzipiert seine Untersuchung des digitalen Netzes als Ergän-

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zung der sechs Welten von Boltanski und Thévenot. Er unterscheidet eine marktförmige und eine partizipative Ökonomie der Aufmerksamkeit. In ersterer wird die Aufmerksamkeit eines Web-Users/einer Web-Userin für ein entsprechendes Angebot monetarisiert. Es geht hier also um ein „marketing des traces“ (Kessous 2012, S. 26; H. i. O.), um eine Inwertsetzung jener Spuren, die man notwendigerweise bei der Nutzung von Webangeboten hinterlässt. Im Gegensatz dazu kommt die partizipative Ökonomie der Aufmerksamkeit vor allem im Bereich der Social-Media-Nutzung als Rechtfertigungsordnung zum Tragen. Zentral sind hier die „cooperation and circulation of information in networks“ (Kessous 2015, Abs. 11). Als „groß“ im Sinne des Erwerbs von grandeur gilt dieser Rechtfertigungsordnung zufolge jemand, der sowohl Aufmerksamkeit erzeugt, als auch diese sinnvoll verteilt. „Größe“ zeigt sich also in Bekanntheit, aber auch im Bekanntmachen – das heißt im Verlinken, Posten und Kommentieren – würdiger Inhalte: „The worthy [persons] are both attentive and thoughtful, which is especially remarkable insofar as they are the object of all the attention“ (Kessous 2015, Abs. 19; H. i. O.). Damit unterscheidet sich diese Rechtfertigungsordnung von jener der Meinung, in der es allein um die Bewertung einer Person geht. In der Welt der Meinung hat vor allem der Star grandeur, da er für seine Berühmtheit berühmt ist. In der Welt der partizipativen Ökonomie der Aufmerksamkeit hingegen ist es weniger die Person selbst, sondern es sind die von der Person relevant gemachten Inhalte oder anderen Personen, die für das Renommee der Person sorgen (Kessous 2012, S. 201). Da Aufmerksamkeit keine unendliche Ressource ist, gilt es im Überfluss der online verfügbaren Informationen die begrenzte Aufmerksamkeit auf relevante Personen und Inhalte zu lenken. Dadurch sind in dieser Rechtfertigungsordnung nicht nur jene Personen „klein“, denen keine Aufmerksamkeit zuteil wird, sondern auch jene, die nicht dazu in der Lage sind, ihre eigene Aufmerksamkeit auf das Wesentliche zu lenken und die deswegen auch andere Beteiligte auf Unwesentliches aufmerksam machen (Kessous 2015, Abs. 20). Die Art und Weise, wie Jugendliche und junge Erwachsene online Daten über sich publizieren, ist in dieser Perspektive also nicht als unreflektierter Umgang mit einem unverstandenen Medium, sondern als Ergebnis von Abwägungsprozessen zu deuten. Die Medienpraktiken jugendlicher Internetnutzer/innen sind als dynamisches Handeln zu fassen, mit dem sich die Jugendlichen verschiedenen Akteur/-innen, medialen Infrastrukturen und unterschiedlichen Rechtfertigungsordnungen gegenüber behaupten. Es dürfte die partizipative Ökonomie der Aufmerksamkeit sein, die ins Verhältnis zu Bemühungen um Beschränkung bei der Datenweitergabe gesetzt werden muss – wenngleich sie selbst nicht jede Form der Datenveröffentlichung rechtfertigt und somit auch zur Kritik von Online-Aktivitäten herangezogen werden kann –, weil sich der Status sowie der Selbstwert der Jugendlichen heute auch zentral über ihre Wahrnehmbarkeit im medialen Ge-

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schehen bestimmen. Wir wollen im Folgenden der Frage nachgehen, inwiefern die partizipative Ökonomie der Aufmerksamkeit in die Bewertung und Begründung des Online-Handelns eingebunden und zu den anderen Rechtfertigungsordnungen in Beziehung gesetzt wird.

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Rechtfertigungen un/erbetener Beobachtung seitens junger Netzakteur/innen

Werfen wir also einen Blick auf Rechtfertigungen angemessener Beobachtbarkeit seitens Jugendlicher und junger Erwachsener. Wir tun dies anhand von ausgewähltem empirischen Datenmaterial, genauer: anhand zweier kontrastiver Fälle. Die Darstellung bezieht sich insofern exemplarisch auf Fälle, deren Vergleich spezifische Ausprägungen in der subjektiven Deutung und Bewertung un/erbetener Beobachtung plastisch versinnbildlichen kann, und eine erste Sondierung des Möglichkeitsraumes von Legitimierungen richtigen Medienhandelns seitens junger Netzakteur/innen erlaubt. Bevor wir uns den empirischen Fallbeispielen zuwenden, möchten wir noch einige Anmerkungen zum methodischen Vorgehen vorausschicken. Wir greifen auf Datenmaterial aus dem bereits erwähnten, laufenden Forschungsprojekt zurück. Als Datengrundlage dieses Beitrages dienen 14 problemzentrierte Interviews (zu dieser Interviewform Witzel 1985) mit Jugendlichen im Alter zwischen 17 und 19 Jahren, die in einer Kleinstadt wohnhaft sind und zum Interviewzeitpunkt die mittlere Reife, das Fachabitur oder Abitur anstreben.6 Die Auswahl der Fälle für diesen Beitrag folgt dem Prinzip der Kontrastierung, wobei sich die Kontrastivität nicht auf sozialstrukturelle Merkmale bezieht, sondern auf die subjektiven Unterscheidungen von un/erbetener Beobachtung. Maßgeblich ist also, dass die beiden Befragten in ihrem alltäglichen Medienhandeln deutend markant unterschiedliche Grenzen zwischen erbetener und unerbetener Beobachtung ziehen. Die beiden Interviews wurden sequenzanalytisch in Anlehnung an die Objektive Hermeneutik (Wernet 2000; Oevermann 2000) ausgewertet. Im Zentrum unserer Analyse standen die Rekonstruktion der subjektiven Deutungen von erbetener Beachtung und unerbetener Beobachtung – mithin die subjektive Wahrnehmung von richtigem Medienhandeln – sowie die expliziten wie latenten Begründun6 Im Projektkontext sind die Interviews Bestandteil eines medienethnographischen Verfahrens. Insgesamt sollen mit 30 Jugendlichen in besagtem Alter mit unterschiedlichem Bildungsabschluss und in unterschiedlichen Siedlungsräumen (großstädtisch versus kleinstädtisch) problemzentrierte Interviews geführt und anschließend ihre Medienpraktiken virtuell teilnehmend beobachtet werden. Daneben sieht das Projektdesign die Durchführung von Gruppendiskussionen vor.

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gen der subjektiven Unterscheidungen und Grenzziehungen. Die Analyse umfasste stets die Einstiegssequenz sowie im Anschluss Schlüsselstellen und er­folgte gemeinsam im Projektteam. In einem zweiten Schritt haben wir die empirisch vorge­fundenen Begründungsmuster daraufhin untersucht, inwiefern in ihnen Bezüge zu unterschiedlichen Rechtfertigungsordnungen aufscheinen. Die erste Falldarstellung greift dieses zweistufige Vorgehen auf, während wir aufgrund des beschränkten Umfangs dieses Beitrags in der zweiten Falldarstellung die beiden Schritte zusammenziehen.

3.1 „Ich habe das eigentlich alles unter Kontrolle“ Berka Kaya7 ist 18 Jahre alt und auf dem Weg zum Fachabitur. Die Nutzung von Social-Media-Angeboten deutet sie generell als problembehaftet. Sie betont, um Abgrenzung bemüht, sie sei auf Instagram „jetzt auch nicht so eine, die immer was posten möchte“. Der freizügige Umgang mit Daten erscheint ihr anrüchig und charakterisiert für sie eine Person potenziell als moralisch zweifelhaft. Auch das Interesse, „so die meisten Follower eher zu kriegen“, weist sie für ihre eigenen Medienpraktiken zurück. Zudem deutet sie soziale Medien aufgrund der interpersonellen Beobachtbarkeit als problematisch. Obwohl sie betont, dass sie etwa Cybermobbing noch nie erlebt hat, erscheinen ihr andere Nutzer/innen als Un­sicherheitsfaktoren und potenzielle Gefährdung ihrer Privatheitsbedürfnisse. Mithin hat Berka Kaya kaum eine positive Konzeption von der Herstellung erbetener Beachtung ihrer selbst in einer Online-Öffentlichkeit. Gleichwohl aber wäre ihr der Preis für die vollständige Vermeidung von Beobachtbarkeit zu hoch, denn die Nutzung der Social Media begründet sie mit der Sicherstellung ihrer sozialen Teilhabe on- und off‌line. Sowohl Postings von Klassenkamerad/innen als auch andere Profilseiten auf Instagram seien Gegenstand von Off‌line-Unterhaltungen: „[D]arüber redet man auch“. Und selbst wenn über WhatsApp und Snapchat auch „viel Unnötiges“ kommuniziert werde, gehe es doch darum, „dass man hauptsächlich in Verbindung bleibt mit den besten Freundinnen“. Zudem nutzt Berka Kaya ihren Instagram-Account zum „Zeitvertreib“ und als „Forschungsseite“. Man könne „so vieles sehen“, weil „das die ganze Welt irgendwie so zusammenbringt auf Instagram“. Ihr zufolge stiften die sozialen Medien aufgrund der Überwindung der Notwendigkeit physischer Ko-Präsenz eine globale Verbundenheit, eine Art Weltgemeinschaft, an der sie qua Nutzung partizipieren kann. Sie betont, sie verwende die „aktuellsten Apps“ und könne auf Insta­gram-Profilen von Stars und Modefirmen in puncto Bekleidungstrends „alles 7

Bei den im Folgenden verwendeten Personennamen handelt es sich um Pseudonyme.

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immer rechtzeitig sehe[n]“. Insofern erscheint ihr eine Nicht-Nutzung als unangebrachte Praxis, denn es gilt, mit der Zeit zu gehen, und sich als modern zu erweisen. Berka Kayas Medienhandeln bewegt sich in diesem Spannungsverhältnis zwischen Schutz persönlicher Informationen vor interpersoneller Beobachtung und Partizipationswunsch. Richtige Social-Media-Nutzung bedeutet für sie, sich online in möglichst geringem Umfang beobachtbar zu machen. Die interpersonelle Beobachtbarkeit ihrer Person schwächt sie erstens dadurch ab, dass sie ihre Pro­fi le nur minimal zur Selbstpräsentation nutzt. Auf Instagram etwa ist nur ihr Profil­ foto öffentlich, und mit diesem verbindet sie weniger eine Identitätsdarstellung als die eindeutige Zuordenbarkeit des Profils zu ihrer Person. Ihre Profile fungieren primär als Zugang zur Beobachtung anderer, dienen also (gewissermaßen die Logik des Web 1.0 reproduzierend) der Rezeption von Inhalten, die andere bereitstellen. Darüber hinaus misst sie zweitens den von den Internetfirmen bereit gestellten technischen Möglichkeiten der Verprivatlichung zentrale Bedeutung zu: „Ich gehe auch ganz sicher damit um. Also äh, die Privatsphäre und so alles, was man auf sozialen Netzwerk einstellen kann, habe ich auch immer auf Privatmodus.“ Die Privatsphäre erscheint ihr als ein technisch erzeugter und erzeugbarer Zustand. Indem sie die Privatsphäre-Einstellungen ausgiebig nutzt, wird ihr zufolge ein sicherer Social-Media-Umgang möglich. Sie kann ihrer Meinung nach effektiv Maßnahmen zum Schutz vor unerbetener interpersoneller Beobachtung treffen, also über Kontakte oder angezeigte Informationen, etwa wann sie „zuletzt online war“, selbst bestimmen. Diese subjektive Deutung sichert ihr die Vorstellung, Kontrolle zu haben, und die „Privateinstellungen“ liefern ihr eine (technische) Lösung für das Spannungsverhältnis zwischen Privatheits- und Partizipationswunsch. Angemessene erbetene Beobachtung bedeutet für sie also, generell wenig persönliche Informationen zu veröffentlichen, nur selbst definierte Teilöffentlichkeiten zu adressieren und für andere Nutzer/innen sichtbare Informationen selbst auszuwählen. Freilich bleibt hier die kommerzielle institutionelle Überwachung ausgeblendet. Mit Blick auf das Back-End, also den Nutzer/innen nicht zugänglichen Bereich der Plattform, ist ein im Privatmodus betriebener Account nicht privat. Ein Widerspruch lässt sich aber insofern nicht konstatieren, da Berka Kaya die kommerzielle Überwachung kaum als relevante unerbetene Beobachtung deutet. Das zeigt ihre Antwort auf die Frage, was man online über sie erfahren könne: „Also wenn das eine fremde Person ist, eigentlich nichts. Also wirklich nichts.“ In ihrer subjektiven Abgrenzung erbetener von unerbetener Beobachtung erscheint die Technik als Garant von Privatheit und nicht als Quelle ihrer Gefährdung. Die Gründe für eine Bedrohung ihrer Privatheit erkennt sie weniger in der Existenz der sozialen Medien als in der (falschen) Praxis einzelner User/innen – paradigmatisch verkörpert als „gefährlicher Typ“ –, die versuchen, sie etwa mit „Fake-Ac-

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counts“ zu beobachten. Sie teilt so gesehen die Problemdiagnose vom „Ende der Informationskontrolle“ (Hagendorff 2017) nicht. Im Gegenteil, die Internetfirmen, die die Social-Media-Plattformen betreiben, stellen in ihren Augen effektive Kontrollmöglichkeiten im Hinblick auf die für sie subjektiv relevante unerbetene interpersonelle Beobachtung zur Verfügung. So gefällt ihr bei Instagram vor allem, dass die Privatheit „auch ernst genommen wird“. Das Empfinden, Kontrolle über relevante Unsicherheitszonen zu haben, ist allerdings nicht rein technisch erzeugt, sondern erfordert ihrer Ansicht nach flankierend ein Monitoring der eigenen Online-Aktivitäten. Sie betont, „ich äh kontrollier auch ab und zu meine Abonnentenliste“, und sie entfernt Personen, die sie vielleicht „aus Versehen nur angenommen“ habe. Als unsicher und fehleranfällig erscheint auch an dieser Stelle nicht die Technik, sondern erscheinen die Personen, die sie (unzulänglich) einsetzen. Als unerbetene institutionelle Beobachtung erwähnt sie lediglich „diese Werbungen“ auf Facebook. Indem personalisierte Werbung angezeigt wird, teilt sich ihr mit, dass sie zuvor institutionell unbemerkt beobachtet wurde: „Und man merkt, dass das gar nicht so sicher ist.“ Dieser Verweis auf einen Kontrollverlust bleibt jedoch in zweifacher Hinsicht eingehegt. Sie hebt einerseits (erneut) den Aspekt eigener Handlungsfähigkeit hervor. Die Werbung wird unter das generelle Problem von „überflüssige[n] uninteressante[n] Sachen, die jemanden auch manchmal nerven“, subsumiert. Indem sie ihre Aufmerksamkeit nicht auf die Werbung richtet, mobilisiert sie eine Handlungsressource, lässt die Werbung ins Leere laufen und bewahrt sich in ihrer Sicht Souveränität. Zudem hebt sie hervor, dass sie in dem Fall, in dem die Werbestrategie ihre aktive Mitarbeit voraussetzt, diese verweigern kann und verweigert. Auf den offensichtlichen Deal, „Rabatt“ gegen Angabe personenbezogener Daten, falle sie nicht herein: „Da acht ich drauf.“ Andererseits wird der Kontrollverlust insofern minimiert, als für sie das Problem unerbetener kommerzieller Beobachtung auf die Plattform Facebook beschränkt bleibt. Facebook gilt ihr als unsicher, „der Inhaber“ könne die Daten „irgendwo anders einfach veröffentlichen“. So gesehen wird aus ihrer Perspektive Facebook zum ‚schwarzen Schaf ‘ und die anderen Internetfirmen geraten aus dem Blick. Sie resümiert etwa: „Ich vertrau auch Google.“ Da der mangelhafte Datenschutz auf Facebook zum common sense gehört, können Nutzer/innen die entsprechenden Konsequenzen ziehen und wie Berka Kaya dort das Posten unterlassen: „Ich meine, man muss ja auch selber gucken, was man macht.“ Ihre Betonung von Eigenverantwortlichkeit führt zu einer Individualisierung der In­formationskontrolle. Der Komplex staatlicher Überwachung findet im Interview keine Erwähnung. In den Begründungen der Angemessenheit ihres Medienhandelns spielen zwei Rechtfertigungsordnungen eine zentrale Rolle: Die Welt des Hauses (Boltanski und Thévenot 2007, S. 228 – ​245) und die Welt der Industrie (Boltanski und Thévenot 2007, S. 276 – ​286). Berka Kaya thematisiert soziale Medien in ihrer Eigenschaft als

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nicht an körperliche Ko-Präsenz beziehungsweise Anwesenheit gebundene Kommunikationsmittel im Sinne der häuslichen Welt. Ihre erbetenen Beobachter/-innen sind Personen, die sie „auch wirklich persönlich kenne“. Online gepflegte Beziehungen entsprechen für sie „persönliche[n] Beziehungen“, die sich „im Zusammentreffen mit oder in der Gegenwart der anderen“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 240; H. i. O.) entfalten. Unter Rekurs auf die Welt des Hauses beurteilt Berka Kaya auch, wie man sich online richtig verhält. In dieser Welt sind „Diskretion und Zurückhaltung“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 326; H. i. O.) Zeichen von „Größe“ und jene gelten als „klein“, die versuchen, „Aufmerksamkeit zu erregen“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 243; H. i. O.). Personen, die „Facebook zu ihrer Welt gemacht haben“ und „Gefühle und äh, Orte und so alles posten“, lassen sich ihrer Ansicht nach gehen, neigen „zu Klatsch und zu Indiskretion“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 244). Die Veröffentlichung von „unnötigen Sachen“ in einer allgemeinen Öffentlichkeit, so Berka Kaya, „gehört sich einfach nicht“, verrät also schlechte „Manieren“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 235; H. i. O.). „Man sollte sich jetzt auch nicht so äh von den solchen Seiten so […] anziehen lassen.“ Übermäßige Social-Media-Nutzung zeugt in ihren Augen „von mangelnder Selbstkontrolle“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 324). Auch auf den für die häusliche Welt geltenden Umstand, dass sich in der persönlichen Erscheinung der Charakter eines Individuums widerspiegelt (Boltanski und Thévenot 2007, S. 237), kommt sie zu sprechen. So können online veröffentlichte Fotografien einen „Chef “ zu einem Zweifel an der Anständigkeit seiner Angestellten veranlassen. Die Online zur Schau gestellte Charakterschwäche kann handfeste Folgen zeitigen, dass man „dadurch vielleicht gar nicht den Ausbildungsplatz kriegt“, denn „Unternehmen, […], die gucken ja auch erstmal auf Facebook“. Die Welt des Hauses erscheint hier als Gegenpol zur Welt der partizipativen Ökonomie der Aufmerksamkeit. Die in letztere Welt eingeschriebene Verhaltenserwartung, in der Vernetzung mit anderen auch Persönliches preiszugeben (Kessous 2015, Abs. 37), weist Berka Kaya unter Bezugnahme auf die Bewertungslogik der häuslichen Welt als prinzipiell problematisch zurück und plädiert für ein geringes Maß an virtueller Selbstpräsentation. Sie versucht zu erreichen, was entlang der Bewertungslogik innerhalb der partizipativen Ökonomie der Aufmerksamkeit als „klein“ gilt, nämlich „to remain invisible in the flow of data“ (Kessous 2015, Abs. 20; H. i. O.). Eine Deutung ihrer selbst als „klein“ verhindert sie gleichwohl mit Verweis auf die Sittlichkeit beziehungsweise grandeur der häuslichen Welt. In ihrer maximalen Ausnutzung der Recherchemöglichkeiten, welche die SocialMedia-Plattformen bieten, zeigt sich gleichwohl, dass sie den Datenfluss in ihrer Rolle als Zuschauerin schätzt. Mit der primären Verortung von Social Media im Sinne der Welt des Hauses wird der virtuelle Raum für Berka Kaya stark „durch die Opposition von innen und

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außen strukturiert, zwischen denen Übergänge möglich oder unmöglich gemacht werden“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 241; H. i. O.). Soziale Medien konstituieren nun Öffentlichkeiten, die danah boyd (2014, S. 5) „networked publics“ nennt und die durch Persistenz, Durchsuchbarkeit, Replizierbarkeit, Skalierbarkeit und unsichtbares Publikum gekennzeichnet sind (Schenk et al. 2012, S. 44; boyd 2014). Mithin gewinnt online erstens die „Kunst zu wissen, wen man zulässt und wen man ausschließt“ (vgl. Boltanski und Thévenot 2007, S. 240; H. i. O.), an Bedeutung und zweitens gerät die „häusliche Ordnung des Vertrauens“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 417) unter Druck. An dieser Stelle, an der die Bewertungslogik der häuslichen Welt aufgrund der technischen Vermittlung des Zusammentreffens als herausgefordert erscheint, wird in den Äußerungen von Berka Kaya eine zweite Rechtfertigungsordnung relevant, die Welt der Industrie. Die Regulierung von Innen und Außen sowie die Vertrauenswürdigkeit der Personen werden zu einer Frage der „technische[n] Beherrschung“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 283). Die Privatsphäre-Einstellungen werden zu „Definitions- und Messinstrumenten“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 282) und mit ihnen wird der Schutz ihrer Privatheit vor unerbetener interpersoneller Beobachtung in ein lösbares Problem überführt. Mit der geschilderten Kontrolle ihrer Kontaktlisten vollführt sie einen Test im Sinne der industriellen Welt und prüft, „ob die Dinge wie vorgesehen funktionieren“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 285). Indem sie die technischen Ob­jekte (die Webplattformen, die Privatsphäre-Einstellungen, die Listen) entsprechend der Welt der Industrie als Mittel denkt, die zum Handlungsvollzug eingesetzt werden, erscheinen sie ihr neutralisiert. Den technischen Objekten wohnen in ihrer Perspektive keine Absichten inne, sie sind nicht „subjektiv“ (Boltanski und Théve­ not 2007, S. 279; H. i. O.) und mithin „klein“, sondern gelten ihr als „groß“, d. h. als „funktional, einsatzfähig“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 278; H. i. O.). „Zwischenfälle und Risiken“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 279; H. i. O.) werden ihr zufolge durch Personen erzeugt, nicht durch die technischen Bedingungen. So vermag sie die technisch über Algorithmen vollzogene, institutionelle kommerzielle Überwachung in ihrer Betrachtung außen vor zu lassen und (mit der Ausnahme von Facebook) die Social-Media-Plattformen als funktionierende Systeme zu deuten. Insgesamt kann sie ihre Mediennutzung als angemessen rechtfertigen, weil sie darin doppelt „Größe“ beweist: Sie zeigt Selbstbeherrschung (Datensparsamkeit bzw. Datenzurückhaltung, häusliche Welt) und technische Beherrschung (Privatheitsregulierung, industrielle Welt). Personalisierte Werbung thematisiert sie als Gegenstand im Sinne der marktförmigen Ökonomie der Aufmerksamkeit. Die unternehmensseitig avisierte Inwertsetzung der Spuren, die sie bei der Nutzung von Webangeboten hinterlässt, durchschaut sie. Entsprechend der partizipativen Ökonomie der Aufmerksamkeit kritisiert sie die personalisierte Werbung als irrelevanten Inhalt. Insofern rahmt

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sie die Unternehmen beziehungsweise Facebook als Ort des Zirkulierens derartiger Inhalte als „klein“, weil sie Beteiligte auf Unwesentliches aufmerksam machen (Kessous 2015, Abs. 20). Berka Kaya positioniert sich entlang der Bewertungslogik der partizipativen Ökonomie der Aufmerksamkeit als Person, die ihre Aufmerksamkeit auf die wesentlichen Dinge zu lenken vermag. Insofern zeichnet sich bei ihr an dieser Stelle ein Kompromiss zwischen der häuslichen Welt und der partizipativen Ökonomie der Aufmerksamkeit ab: Das Vermögen zu Selbst­kontrolle verbindet sich mit dem Management von „informational priorities“ (Kessous 2015, Abs. 20). Während also Berka Kaya die Seite der partizipativen Ökonomie der Aufmerksamkeit, die die Herstellung von Aufmerksamkeit belohnt, von der Welt  des Hauses ausgehend kritisiert, arrangiert sie jene Seite dieser Ökonomie, die die gekonnte Verteilung der eigenen Aufmerksamkeit betont, mit der häus­ lichen Welt.

3.2 „Eigentlich müsste ich alles schließen, damit niemand alles über mich weiß“ Sebastian Koch ist 19 Jahre alt und strebt ebenfalls das Fachabitur an. Im Unterschied zu Berka Kaya erwähnt er eine mögliche unerbetene interpersonelle Beobachtung durch andere Social-Media-Nutzer/innen nur am Rande. Er hat mit Berka Kaya gemein, dass angemessene erbetene Beobachtung auch für ihn bedeutet, nur selbst definierte Teilöffentlichkeiten zu adressieren. Während Berka Kayas Nutzung der sozialen Medien primär auf ‚das Sehen‘, also die Rezeption von Inhalten anderer, ausgerichtet ist, stellt Sebastian Koch ‚das Zeigen‘, also die Produktion von Inhalten beziehungsweise die Herstellung von erbetener Beachtung in Teilöffentlichkeiten, in den Vordergrund. „Wenn man mit Freunden unterwegs ist, dann hat man ja, irgendwie dann hat man auf einmal so das Bedürfnis, man will es zeigen.“ Indem Sebastian Koch mit der App Snapchat ein Foto von der Essenstüte bei „Mäcces“ versendet, übermittelt er eine aktuelle Aktivität. Snapchat wird zur Schaffung eines gemeinsamen Präsenzraumes genutzt, indem nicht anwesende Freunde an Alltagsereignissen teilhaben können. Wie im Fall Berka Kaya zeigt sich eine Thematisierung von sozialen Medien in ihrer Eigenschaft als Kommunikationsmittel, die Restriktionen physischer Ko-Präsenz überwinden, im Sinne der häuslichen Welt. Die Veröffentlichung von Daten dient der Aktualisierung und Versicherung der persönlichen Beziehung. Dazu sind auch vergleichsweise banale (und wie hier deutlich wird, eben nur vermeintlich überflüssige) Inhalte geeignet. Dass die Inhalte auf Snapchat nur 24 Stunden lang verfügbar und mithin flüchtig sind, erscheint passend. Unter Verweis auf die Welt des Hauses begründet Sebastian Koch auch die

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auf Instagram hergestellte Beobachtbarkeit. Im Zentrum seiner Postings steht die Darstellung seiner sozialen Eingebundenheit. Auf seinem Profil dokumentiert er, ganz im Stile des klassischen Fotoalbums, biographisch und sozial bedeutsame Anlässe und Ereignisse (zu den sogenannten Familienzeremonien Boltanski und Thévenot 2007, S. 242), konkret seinen „18. Geburtstag“. Dabei steht nicht er als Individuum, als „bindungslose[s] Wesen“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 236), entsprechend einer ichbezogenen Selfie-Logik im Zentrum, sondern er präsentiert sich in einer eigens angefertigten Bildcollage „mit den wichtigsten Personen auch von dem Abend, die wirklich mir persönlich sehr nahestehen“, mithin als Teil einer Gemeinschaft. Auch mit Blick auf weitere veröffentlichte Fotografien bemerkt er, es seien „hauptsächlich welche mit Freunden“. Dass hier primär die soziale Eingebundenheit Inhalt der (Selbst-)Darstellung ist, läuft den Social-MediaNutzer/innen häufig unterstellten Tendenzen zu narzisstischem beziehungsweise exhibitionistischem Verhalten entgegen. Sebastian Koch will mit seinem Profil nicht Aufmerksamkeit für seine Person als solche erzeugen und Bekanntheit generieren. Sein Profil folgt vielmehr „Identifikationsdispositive[n]“, die eine Person offenbaren, „indem sie eine Verbindung zwischen ihr und einem Haus, einem Milieu, einer Gesellschaft (im Sinne der guten Gesellschaft) herstellen“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 237; H. i. O.). Bei der Bewertung der Angemessenheit der erbetenen Beachtung, die er in der Teilöffentlichkeit auf Instagram herstellt, spielt gleichwohl die partizipative Ökonomie der Aufmerksamkeit eine Rolle. Es ist Sebastian Koch wichtig, sich bei der Veröffentlichung als „thoughtful“ (Kessous 2015, Abs. 19; H. i. O.) zu erweisen und nur würdige Inhalte bekannt zu machen. Personen mit „Größe“ „know how to prioritize that which is important for them and for others“ (Kessous 2015, Abs. 19). Sein Profil folgt dem Motto ‚Klasse statt Masse‘, insofern stets nur eine ge­ringe Anzahl von Bildern verfügbar ist. Bilder, die dauerhaft auf dem Profil sichtbar sind, sind solche, die ihm „persönlich wichtig sind“ oder die ihm „persönlich gefallen“, also einen biographischen oder ästhetischen Wert haben. Neben dieser ‚Dauerausstellung‘ kuratiert er eine ‚wechselnde Ausstellung‘. Fotografien für diese Ausstellung müssen thematisch eine gewisse Außeralltäglichkeit aufweisen: „[W]enn man gerade was wirklich Schönes erlebt hat“, etwa einen „schönen Geburtstag“ oder ein Wiedersehen mit Freunden. Von diesen Ereignissen (der Gemeinschaftsbezug ist wiederum augenfällig) gilt es, „ein schönes Bild“ zu machen und dieses „aufwendig [zu] bearbeiten“. Die ‚Exponate‘ müssen ästhetischen Gesichtspunkten genügen und werden für die Veröffentlichung von ihm vorbereitet und inszeniert. Insofern lässt sich seine Beurteilung richtiger Veröffentlichungspraxis als Kompromiss aus den Bewertungslogiken der häuslichen Welt und der partizipativen Ökonomie der Aufmerksamkeit beschreiben. Scheint ihm die Preisgabe seiner Daten an sich unter Bezug auf die Welt des Hauses gerechtfertigt, beurteilt er ‚das

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Wie‘ der Veröffentlichung auf Instagram unter Rekurs auf die partizipative Ökonomie der Aufmerksamkeit. Einen starken Kontrast zwischen den Fällen offenbart die Antwort Sebastian Kochs auf die Frage, was man online über ihn erfahren könne: „Wenn man was […] über mich herausfinden möchte und sich dabei Mühe geben würde, könnte man im Prinzip alles herausfinden.“ Er bekundet direkt seine Einsicht in das „Ende der Informationskontrolle“ (Hagendorff 2017). Ein effektiver Schutz seiner Privatheit scheint ihm, anders als Berka Kaya, nicht möglich, denn als re­levante unerbetene Beobachtung thematisiert er nicht nur interpersonelle Beobachtung durch fremde Privatpersonen, sondern auch institutionelle Beobachtung. Deshalb bleibt die Frage nach Privatheit auch nicht, wie bei Berka Kaya, auf das Feld der sozialen Medien beschränkt, sondern betrifft seine gesamte Internetnutzung. Zwar nutzt er seine individuellen Handlungsmöglichkeiten, ist mit Blick auf harte personenbezogene Daten (etwa Wohnadresse, GPS- oder Bankdaten) sparsam und postet „niemals peinliche Bilder“, aber bezogen auf die institutionelle Beobachtung, die für ihn sowohl kommerziell als auch staatlich erfolgt, bekundet er: „Wirklich was dagegen tun kann man im Endeffekt nicht.“ Unternehmen könnten etwa mit „Cookies“ persönliche Vorlieben erfassen und so herausfinden, auf welche Produkte jemand „anspringen würde“. Anders als Berka Kaya lehnt er perso­ nalisierte Werbung, das „marketing des traces“ (Kessous 2012, S. 26 [H. i. O.]), aber nicht vollständig ab, denn es „könnte vielleicht auch ein Vorteil für einen selber sein, dass sie [die Unternehmen] halt ein Angebot anzeigen“, mithin (entsprechend der partizipativen Ökonomie der Aufmerksamkeit) auf einen würdigen Inhalt aufmerksam machen. Kommerzielle Beobachtung besitzt für ihn zumindest eine Ambivalenz, mit der Ausnahme der Internetfirma Facebook, die er wie Berka Kaya als unsicheres Webangebot rahmt. Die Überwachung durch staatliche Behörden und Geheimdienste erscheint ihm problematischer beziehungsweise unerbetener als die ökonomische Beobachtung. Er sieht hier einzelne Internetnutzer/innen Institutionen gegenüber, die unschuldige Online-Aktivitäten rekontextualisieren und Personen unbegründet kriminalisieren (können). Mit unverfänglichen Suchanfragen auf Google könne man eventuell ins „Raster“ fallen, etwa wenn man „eine Waffe“ aus einem Computerspiel sucht und „wegen den Nachrichten IS-Anschlag“ eingibt. Potenziell stelle sich die Frage, ob „man jetzt auch irgendwie auf der No-Fly-Liste [ist], weil man irgendwelche Suchbegriffe zu oft eingegeben hat“. Die naheliegende Konsequenz aus der Einsicht in die Unmöglichkeit der Kontrolle seiner persönlichen Daten formuliert er prägnant: „[E]igentlich müsste ich alles schließen.“ Insofern ist das Spannungsverhältnis, in dem sich sein Medienhandeln bewegt, viel grundlegender als im Fall von Berka Kaya. Es stellt sich die Frage, wie Sebastian Koch nun begründet, dass er die formulierte Konsequenz

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handlungspraktisch nicht zieht. Eine Antwort auf diese Frage ist umso interessanter, als er im Vergleich zu Berka Kaya eine umfänglichere Nutzung zeigt, obwohl er unerbetene Beobachtung viel umfassender deutet. Die radikale Exit-Option der Nicht-Nutzung erscheint als unangebrachte Praxis in einer durch das Internet fortgeschrittenen Gesellschaft. Sebastian Koch sagt selbst, „ich kann es mir jetzt halt nicht denken, wie es früher gewesen ist“. Das Internet ist selbstverständlicher Bestandteil seines Alltags und die Maßnahme der Nicht-Nutzung wäre ebenso unverständlich wie der generelle Verzicht auf Strom und fließendes Wasser. Aus dem Internet auszusteigen, bedeutete nicht weniger, als aus der Gesellschaft auszusteigen und mit dem Ausstieg zum Außenseiter zu werden. Mit Blick auf den Verlust der Datenkontrolle löst sich Sebastian Koch im Interview von seiner subjektiven Perspektive. Die Faktizität des Kontrollverlustes betreffe alle Internetnutzer/innen, sei mithin ein Allen gemeinsames Problem; insofern wäre der Ausstieg einzelner Internetnutzer/-innen auch eine unzureichende Lösung. Sebastian Koch transponiert das Thema Internet und Fragen des Datenschutzes in die staatsbürgerliche Welt (Boltanski und Thévenot 2007, S. 254 – ​264): Im „Internet hat man mehr die eigene Verantwortung, für die Privatsphäre zu sorgen, als jetzt im privaten, echten Leben, im realen Leben, wo der Staat da für einen eingreift.“ Der Datenschutz im Internet müsste seiner Ansicht nach seitens des in der staatsbürgerlichen Welt „großen Wesen[s]“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 255), der repräsentativ gewählten Regierungsgewalt, „besser“ geregelt werden. Der Staat müsste „mehr Gesetze für den kleinen Bürger machen“, „nicht den Geheimdiensten mehr Freiheiten“ lassen, „als es wirklich im Grundgesetz dasteht“, und einen „Ausschuss“ für die Kontrolle von Verletzungen der Privatsphäre durch Vollzugsbehörden einsetzen. Prägnant beruft er sich auf „Legalität“ als eine in der staatsbürgerlichen Welt „besonders geschätzte Form von Größe“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 255), erinnert an die „Größe“ der „Verkörperung eines allgemeinen Interesses“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 256; H. i. O.) die Vertretung des Wohls aller Bürger/innen, und verweist auf „das Gesetz, in dem sich der Gemeinwille niedergelegt findet“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 263; H. i. O.). Unter Rekurs auf die staatsbürgerliche Welt vermag er seine derzeitige Internetnutzung als noch angemessen zu rahmen. Der Schutz seiner Privatsphäre im Internet sei zwar defizitär, aber eine kritische Grenze noch nicht überschritten: Erst wenn sich der Staat weiterhin als „klein“ erweist, statt der notwendigen Regulierung den Schutz der Privatsphäre im Internet weiter de-reguliert und sagt, „wir wollen mehr Informationen erhalten“, dann würde Sebastian Koch seine Internetnutzung einschränken, das heißt nur noch dem „Luxusbedürfnis“ „YouTube gucken“ nachgehen und aufgrund der „Verschlüsselung“ weiterhin WhatsApp zur Kommunikation nutzen: „Aber dann würde ich Facebook, Instagram, Snapchat und so was sofort deinstallieren.“ Indem er das aktuelle Ausmaß institutioneller

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(insbesondere der für ihn subjektiv relevanten staatlichen) Beobachtung als noch vertretbar rahmt, vermag er seine Internetnutzung als angemessen zu rechtfertigen. Ein Widerspruch lässt sich insofern nicht konstatieren. Dieser wird gelöst, indem eine mögliche Unangemessenheit in die Zukunft verschoben wird.

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Fazit

Die Frage nach dem richtigen Umgang mit sozialen Medien wird angesichts immer neuer Vernetzungsmöglichkeiten breit diskutiert. Dabei geraten in medialen Debatten insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene in den Fokus und werden nicht selten als gedankenlos portraitiert. Beispielhaft sei auf die Reportage „Privat war gestern“ verwiesen, die das Onlinehandeln von Jugendlichen als „[u]nbedarft und ungeschützt“ (Scherz und Höch 2014, S. 35) beschreibt. Wie boyd (2014, S. 54 ff.) konstatiert, herrscht vor allem bei Erwachsenen das Bild vor, dass Jugendliche sich über die Gefahren des Internets und der Verbreitung personenbezogener Daten zu wenig Gedanken machen. Unsere Fallbeispiele zeigen jedoch, dass junge Internetnutzer/innen die Zugriffsmöglichkeiten auf ihre persönlichen Daten sehr wohl reflektieren und dies nicht nur mit Blick auf alltägliche Probleme. Zwar arbeitet sich Berka Kaya primär am Schutz vor interpersoneller Beobachtung durch andere Social-Media-Nutzer/innen oder zukünftige Arbeitgeber ab. Aber bei Sebastian Koch ist es gerade die abstrakte Frage nach informationeller Selbstbestimmung, der Komplex institutioneller staatlicher Beobachtung, der für seine Internetnutzung relevant ist. Er erscheint weniger als naiv denn als politisch interessierter Bürger, wenn er Gesetzesänderungen im Bereich Datenschutz aufmerksam verfolgt. Die beiden Fallbeispiele zeigen auch, dass Jugendliche sich um den Schutz ihrer Privatheit bemühen und durchaus handlungspraktisch Konsequenzen ziehen. So nutzen sowohl Berka Kaya als auch Sebastian Koch etwa die Plattform Facebook aufgrund mangelhafter Datenschutzrichtlinien nur noch passiv, das heißt sie stellen dort keine Inhalte mehr ein und keine erbetene Beachtung mehr her. Freilich ließe sich kritisch einwenden – und Sebastian Koch würde dem zustimmen –, dass damit kein Schutz der Privatsphäre erreicht ist. Es griffe allerdings zu kurz, sein Medienhandeln deshalb unter das erwähnte privacy paradox zu subsumieren, denn was das privacy paradox implizit unterstellt, ist die Möglichkeit eines Schutzes der bedrohten Privatheit. Der Schutz der Privatheit liefe allerdings angesichts des gegenwärtigen Modus Operandi des Internets auf eine Nicht-Nutzung hinaus – auch darauf verweist Sebastian Koch. Mithin kann aus der Perspektive der Bedrohung von Privatheit jegliche Internetnutzung als eine der positiven Norm der Privatheit widersprechende Praktik gedeutet werden. Wir möchten unter Rückgriff

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auf die beiden Fallbeispiele für einen Perspektivwechsel plädieren. Sie verdeutlichen – darin liegt eine Gemeinsamkeit –, dass die Möglichkeit des Schutzes der Privatheit, in letzter Konsequenz die Nicht-Nutzung, objektiv kaum als Option gegeben ist. Zugespitzt formuliert: In der digitalisierten Gesellschaft erscheint es weniger unangebracht, trotz bedrohter Privatheit das Internet zu nutzen, als das Internet nicht zu nutzen, um den Schutz der Privatsphäre zu gewährleisten. Ein Leben in Zeiten digitaler Vernetzung ist ein Leben, in dem fortlaufend Informationen preisgegeben werden, also die positive Norm der Privatheit unterlaufen wird. Was Privatheit gegenwärtig ist beziehungsweise Privatheiten sein können oder sollten, befindet sich noch in einem Prozess der Aushandlung, aber Praktiken der Nicht-Nutzung erscheinen als nicht mehr legitim.8 Es scheint uns notwendig, die Norm der Nutzung ernst zu nehmen, will man einen verständlichen und anschlussfähigen Ansatz für Kritik finden. Betrachtet man die empirisch vorgefundenen Legitimierungen richtigen Medienhandelns genauer, zeigt sich, dass verschiedene Rechtfertigungsordnungen aufgerufen werden, um ein richtiges Maß an Beobachtbarkeit zu begründen. Bemerkenswert ist, dass in den Konfigurationen von Rechtfertigungsordnungen, die sich in den beiden Fällen andeuten, (ausgerechnet) die partizipative Ökonomie der Aufmerksamkeit mit ihrem Imperativ der Vernetzung durch Verbreitung und Würdigung persönlicher Informationen argumentativ eine untergeordnete Rolle spielt: In beiden Fällen kommt ihr als Rechtfertigung für die Veröffentlichung persönlicher Daten keine Bedeutung zu. Berka Kaya rahmt vielmehr unter Rekurs auf die häusliche Welt den Modus der Erzeugung von Aufmerksamkeit generell als „klein“. Bedeutsam wird die partizipative Ökonomie der Aufmerksamkeit nur in der Bewertung der Angemessenheit von Inhalten: Berka Kaya betont, es gelte, nur würdigen Inhalten anderer Aufmerksamkeit zu schenken, und Sebastian Koch hebt hervor, es gelte, anderen nur würdige Inhalte bekannt zu machen. Insofern wird die partizipative Ökonomie der Aufmerksamkeit relevant, aber – und das ist durchaus überraschend – eher mit denjenigen ihrer Begründungsmuster, mit denen Online-Aktivitäten als zu exzessiv kritisiert werden können. Wenn es darum geht, die Herstellung erbetener Beobachtung zu begründen und die Preisgabe persönlicher Informationen zu rechtfertigen, wird in beiden Fällen eine andere Rechtfertigungsordnung aufgerufen. So bringen sowohl Berka 8 Ochs (2015) kommt zu einem ähnlichen Schluss. Er beklagt ein „zunehmendes Auseinanderklaffen des individuenzentrierten Privatheitsdiskurses auf der einen, und der aktuellen soziotechnischen Praktiken auf der anderen Seite“ (Ochs 2015, S. 21) und plädiert für „eine den aktuellen Praktiken angemessene Remodellierung“ (Ochs 2015, S. 27) von Privatheit. Zudem läuft die Idee individueller Informationskontrolle darauf hinaus, ein Subjekt für einen letztlich nur kollektiv regelbaren Umgang mit personenbezogenen Daten verantwortlich zu machen (Ochs 2015, S. 14).

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Kaya als auch Sebastian Koch die Welt des Hauses in Anschlag. In beiden Fällen zeigt sich, dass die häusliche Welt mit der Seite der partizipativen Ökonomie der Aufmerksamkeit arrangiert werden kann, die auf das Kriterium der Interessantheit und Relevanz von Inhalten verweist. Insofern lässt sich von einer Kompromissbildung zwischen diesen beiden Rechtfertigungsordnungen sprechen. Dass sich mit der über digital vernetzte Medien vermittelten Pflege von persönlichen Beziehungen neue Probleme unerbetener Beobachtung verbinden, ist beiden, wie eben erwähnt, bewusst. Als dennoch angemessen begründen sie ihre (wenngleich unterschiedlich intensive) Nutzung der sozialen Medien mit Blick auf weitere Rechtfertigungsordnungen. Während Berka Kaya die für sie subjektiv relevante unerbetene interpersonelle Beobachtung durch Privatpersonen entlang der Welt der Industrie als technisch beherrschbar rahmt, deutet Sebastian Koch, die staatsbürgerliche Welt aufrufend, die für ihn subjektiv relevante unerbetene staatliche Beobachtung als noch vertretbar. Als ein Ergebnis lässt sich erstens festhalten, dass es nicht nur die partizipative Ökonomie der Aufmerksamkeit zu sein scheint, die bei Fragen der Beschränkung von Daten und Kommunikation eine Rolle spielt. Vielmehr ist es in den hier vorgestellten Fällen die Welt des Hauses, die ins Verhältnis zu Bemühungen um Beschränkung bei der Datenweitergabe gesetzt werden muss, weil sich persönliche Beziehungen heute auch zentral im und über das mediale Geschehen aktualisieren. Und zweitens lässt sich konstatieren, dass die partizipative Ökonomie der Aufmerksamkeit selbst zu einer Herausforderung für die Kultur der Maximierung der Produktion medialer Daten werden kann. Insofern scheinen diverse Konfigurationen verschiedener Bewertungslogiken für das Medienhandeln in Zeiten seiner Hyper-Beobachtbarkeit relevant zu werden.

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Making Radio More Elastic. SAVVY Funk A Documenta 14 Radio Program Tina Klatte

Summary  

SAVVY Funk was a radio program from documenta 14 in collaboration with Deutschlandfunk Kultur. This text is a written record of a fictional radio broadcast, which in fact has never been broadcast, but which is compiled of conversations, radio shows and experiences that actually took place in the course of SAVVY Funk, redefining and reflecting on the medium and its arts. It presents radio as a collective practice, which has the ability to generate a plurality of voices and networks. SAVVY Funk draws on the initial qualities of radio as a time-based medium, a medium of serendipity, ephemerality and liveness, which allows listeners to be part of events in the very moment they might not even have looked for, and therefore allows one to escape from the filter bubbles of internet media. Being part of such a prestigious art exhibition like documenta, the program introduces radio and sound art to the contemporary art world, while at the same time questioning – as performance arts already do – art as an economic system. “I proposed this radio program, because I wanted my grandmother to listen to documenta, I want my grandmother to be part of it. Very simple,” says Bonaventure Ndikung, co-curator of the program, pointing at the potential of radio as a mass media to enlarge the exhibition space. Keywords  

documenta 14, radio, SAVVY Funk, art, performance, alternative knowledges

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Kropf und S. Laser (Hrsg.), Digitale Bewertungspraktiken, Soziologie des Wertens und Bewertens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21165-3_10

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Tina Klatte

Introduction

SAVVY Funk was a radio program from documenta 14 in collaboration with Deutschlandfunk Kultur. Curated by Bonaventure Soh Bejeng Ndikung (SAVVY Contemporary/documenta 14), Marcus Gammel (Deutschlandfunk Kultur) and Elena Agudio (SAVVY Contemporary). It was the German iteration of the documenta 14 radio program “Every Time A Ear di Soun”, which was broadcasting with eight radio stations all over the world; for instance Vokaribe Radio, a community radio station from Barranquilla, the online radio station RURUradio run by an artist collective in Jakarta, and Paranoise Radio and Cannibal Radio, both DJ radio stations based in Thessaloniki and Athens. While those radio stations were existing structures, SAVVY Funk was built from scratch, broadcasting as a temporary radio station from June 17 to July 8 2017 from SAVVY Contemporary in Berlin. Therefore the gallery was transformed into an open radio studio and a sonic exhibition space, where over twenty artists1 in collaboration with the Class of Experimental Radio at Bauhaus-Universität Weimar – led by Prof. Nathalie Singer and Martin Hirsch – were broadcasting live (on FM 103.0 MHz in Berlin, on FM 90.4 MHz in Kassel, online and partly on SW 15560 kHz). In the following, you can read a written record of a fictional radio broadcast, which in fact has never been broadcast, but which is compiled of conversations, radio shows and experiences that actually took place in the course of SAVVY Funk, redefining and reflecting on the medium and its arts. The broadcast reveals how the SAVVY Funk radio project re-evaluates the formats of the medium, and thus processes of producing knowledge and information. It draws on the initial qualities of radio as a time-based medium, a medium of serendipity, ephemerality and liveness, which allows listeners to be part of events in the very moment they might not even have looked for, and therefore allows one to escape from the filter bubbles of internet media. The artists of the project are exploring ways of communication by pointing at the contradicting qualities of the mass media being able to establish intimate connections by infiltrating the “private” and at the same time providing a wide range, which in turn also means to be available for people not having access to the www.

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AGF (Antye Greie-Ripatti), Leo Asemota, Gívan Belá, Alessandro Bosetti, Alberto de Campo, Hannes Hoelzl and Magdaléna Kobzová, Islands Songs (Silvia Ploner and Nicolas Perret), Tim Etchells, Dani Gal and Achim Lengerer, Satch Hoyt, Felix Kubin, Brandon LaBelle and Anna Bromley, Mobile Radio (Sarah Washington and Knut Aufermann), Nástio Mosquito, Ahmet Öğüt, Natascha Sadr Haghighian and Nicholas Bussmann, Saout Radio (Anna Raimondo and Younes Baba-Ali), Tito Valery.

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The re-evaluation of radio by an art project goes along with the evaluation of radio as an art and artistic practice. As part of a contemporary art exhibition of international reputation SAVVY Funk (and Every Time A Ear di Soun in general) introduces radio to the artistic field. It presents radio as a collective practice, which has the ability to generate a plurality of voices and networks. At the same time, for working with sound and therefore being tied to ephemerality (at least theoretically) it questions – as performance arts already do – art as an economic system. Caught in the written medium, you might still be able to listen to its sounds. Excerpts of aired radio shows are set in Italics.

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Format Radio – “Making it more elastic”

Jingle “SAVVY Funk – the documenta 14 Radio” Tina Klatte: You are listening to SAVVY Funk, on 103.0 MHz in Berlin, on 90.4 MHz in Kassel, and online on documenta14.de. Tonight we’re talking about what you’re listening to: SAVVY Funk. The rather small studio cabin we are sitting in will fill with artists, curators and participants of the project talking about their experiences and notions of radio. In the background you might already hear the first people entering the gallery space, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Marcus Gammel and Elena Agudio, the curators of this radio project. Actually we had to put a huge sign on the door to tell people to lower their voices when entering the space, because the gallery space is extremely reverberant, and the studio cabin is not fully soundproof, so from time to time you have these obscure voices in the background – another kind of station ID. But you can actually come by and visit us, if you want to experience radio in the making. You find us in Wedding, in SAVVY Contemporary. The gallery has its premises in the souterrain of Silent Green Kulturquartier, a former crematorium – you can still see the notches for urns in the walls. In this space of ephemerality we are daily live on air from 9am til midnight, and in this time the gallery space is open to the public. Besides looking at and listening to the radio events, you can also discover visual and audible footnotes to every single radio program, and spend hours reading about sound and radio art in the library which is contributed by Nathalie Singer, professor of the Class of Experimental Radio in Weimar. Nathalie will also come to the studio later, but as you three have arrived, we can start talking about the curatorial approach towards the program.

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Marcus Gammel: I think the particularity of this project is first of all the context: Documenta gives it a kind of audibility, visibility that you would never have for this kind of radio. Secondly, there is a very particular connection of form and content. This is shaped by the mix of artists who have clear political, social and artistic messages to convey, and who are choosing radio on purpose for conveying those messages. Because radio is a very simple way of communication, and a very effective one. Bonaventure Ndikung: A “Kommunikationsapparat” (see also Brecht 1967, p. 134) Marcus Gammel: Exactly. Often when radio is exposing itself, it gets quite self-referential “it’s so great we can make radio, it’s so great we can experiment with the formats and the airwaves”, ok that’s great. But here, it goes beyond that. It does all that, but it also references many things outside the radio. Political issues, social issues that you can voice well through radio. Bonaventure Ndikung: So if we have the impression that a lot of radios we are listening to are stuck in a certain format and don’t go beyond that space, what is it you try to do with radio, that makes you feel that we are going beyond that boundary of what radio can be, or actually – making it more elastic ? Elena Agudio: Elasticity is in fact a key word for the understanding of the project. Here we are actually interested in stretching the physical, temporal and spatial boundaries, in making the nowadays very rigid borders elastic, to be able to reach a wider, culturally and socially diverse public; we are into the idea of challenging the format of radio making and transforming it into a space for alternative narrations, in a media for “writing” counter-hegemonic histories. To us, now and always at SAVVY, looking beyond a merely European vision and Western notion of the world is fundamental. And we all know that orality and the embodiment of sound in many cultures are already privileged means of sharing knowledge and archiving memory. Marcus Gammel: With SAVVY Funk, we tried to quote the more or less conventional structure of a radio program, which is very similar all over the world. So we take our formats from there, like the news, weather, music shows and so on, but we do them very differently. We were looking out for people who would have an interesting message to relate through a given format. Elena Agudio: As we started to think how to deconstruct and subvert the basic structure of a radio, immediately we got ideas of the artists we wanted to invite.

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Inviting Ahmet Öğüt2 for example was one of the first ideas we had; we gave him a program entitled “The rights to have rights”. It was a program thought for empowerment and migrants navigating the “bureau-crazy”, the crazy bureaucracy. For the news, we thought about Natascha Sadr Haghighian3 because she always has a very deep political analysis of facts that are usually not said or political reflections that are important for the geopolitics. To have her doing the news meant to considering the strategy of communication in a very different way, to look at things that are usually not said, disrupting our very controlled and western system of information. Marcus Gammel: The concept of the artists is to shift the focuses, bringing other news from other areas of the world, and then get them sung by different singers that also have to echo what the previous singer has done. So it gets a kind of relay and is actually a comment on how information spreads through sound, about oral culture in general, kind of relativizing the claim of truth that is always hovering above the news or media in general. I mean, the system is not necessarily bad, but it has a few blind spots. This is what they are pointing at.

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Receiving Knowledges – Tuning down the filter bubble

Jingle “The News Again” Natascha Sadr Haghighian: It is 5 o’clock in Berlin. Today Yesterday’s News are brought to you by Ming Wong. Ming Wong: More than 200 migrants rescued off the Libyan coast, two dead. Two people were found dead as more than 200 migrants adrift in two dinghies off the Libyan coast were rescued by the Spanish navy on Sunday, the Spanish Defence Ministry said on Monday. In total, 229 people were picked up after a Spanish navy ship was dispatched to help the boats struggling to stay afloat. This comes as Libya’s coastguard received the first of a long-awaited batch of patrol boats from Italy last month as part of the EU’s effort to halt migrants. “They want us to be Europe’s policemen,” said naval coastguard spokesman Ayoub Qassem. Half a million people have crossed the Mediterranean from Libya to Italy during the past four years. An estimated 13,000 of them have drowned. 2 3

Piratensender. Radio broadcast by Ahmet Ögut. Daily 12:10 – ​13:00. Singing Yesterday’s News Again. Radio broadcast by Natascha Sadr Haghighian and Nicholas Bussmann. Daily live at the top of the hour, 11 am – ​5 pm.

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Natascha Sadr Haghighian: This was Ming Wong, singing yesterday’s news again. As a time traveller and shape shifter he explores gender, language, race, society with the means of videos and installations. Ming Wong likes to copy. Yesterday’s News Concept: Natascha Sadr Haghighian and Nicholas Bussmann. Yesterday’s News Room Crew: Maria Karpushina. Bonaventure Ndikung: I ask myself quite often, what is the news made for ? Is it made for the people that watch, or is it made for the people that make the agenda ? The conundrum. It is something that fascinates me about news itself. How a focus is being put. Natascha Sadr Haghighian: I’m following the news quite a lot, but I noticed that at least in recent times something has changed profoundly, something maybe got more tangible that existed all along, and it has to do with: what is my role in listening to the news ? What kind of testimony is it actually, and what kind of storytelling is it ? And it felt as if something undead has entered the way that news is being told in this kind of seemingly neutral, disengaged form. When it comes in my newsfeed it mixes with all sorts of things and it becomes a toxic mix. I don’t know anymore how to deal with the toxicity of it, and what the toxicity is exactly composed of. It only immediately felt better when I thought, of course, you have to sing it ! And then I remembered your project, Nicholas, with singing the news from the newspapers and the choir that you had. Nicholas Bussmann: I did research and went to Deutschlandfunk and spoke to the makers of the news. And it was very interesting because there were two guys explaining their system to me and how they try to verify that this is relevant news. But then I said, we want to shift the coordinates. One guy said, of course, no problem, you just look for places which are close to them and then you find it. And the other one said, but you probably don’t find anything, if you go there there is nothing, you probably have to go half a year back to find something. This is their system, which is the basis for our complete system of information. You have to realize that. If you shift coordinates you will end up at a place in the world where you have nothing, no information. We don’t know anything. And for other regions the news is dropping in in minutes. Bonaventure Ndikung: The live-ticker. Nicholas Bussmann: Yes, and also in terms of economically relevant news, which are concerning brands and huge international companies. If you look at how much news for Google comes every day, it is so dense.

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Natascha Sadr Haghighian: What we did, we asked each singer for their coordinates, not necessarily in an essentialist way like, where are you from, but which coordinates are important to you, in your life, and where do you pay attention. So we came up with a set of coordinates for every day and we stick to these coordinates completely independently from what is considered relevant news for the world. That means we would stick to the news in Nigeria even though something might have happened in London or Paris, and this is how we have created one shift. The coordinates are personal, but at the same time of course they create a map of a group of people who have a variety of coordinates in their lives. Elena Agudio: A fundamental act of disruption and a necessary practice of disorientation. As an act of decolonization, we must learn to become disoriented, to become decentered – within oneself and from oneself – to turn our perspective upside down on regions of humanity long considered ‘backward’ by Europeans (as Seloua Luste Boulbina has taught us)… In our current times of uncertainty, we tremendously need opportunities to practice acts of unmapping and getting lost, to reimagine the world and our position in the cosmos. Tina Klatte: The plurality of perspectives is also the concept of “Multiverse Crosstalk Radio”4, the radio show of Alberto de Campo, Hannes Hoelzl and Magdaléna Kobzová, which you can listen to daily between 11:40 and 12 pm. And since they just entered the studio, maybe we can give them the mic and give a quick listen to one of their shows. Multiverse Crosstalk Radio Alberto de Campo: This is one of the shows we did with the “Society for Nontrivial Pursuits”. That’s a group of alumni from our class and current students and their friends. Here, we do live coded network music with them, which is a hyper-democratic style of playing music together. Hannes Hoelzl: It is like the multiverse theory applied to a contemporary musical practice employing computers: We only use the laptops as musical instruments, with the sound from their internal loudspeakers – they are just loud enough for a

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Multiverse Crosstalk Radio. Radio broadcast by Alberto de Campo, Hannes Hoelzl & Magdaléna Kobzová. Daily 11:40 – ​12:00.

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chamber music setting. The point is that all these musical agents, the laptops, keep talking to each other in the wireless network, which is radio. It’s like a permanent chat, and the human agents in the game can address any of these computers as their instruments. Alberto de Campo: You can distribute a cloud of sound over all of them, if you want to, or you just say, these three people over there will play the sound you are generating. The code goes to everybody, whenever you evaluate a line of code it is sent as text to everyone, so everyone sees the history of who did what when. Hannes Hoelzl: The players can comment on it, they can make variations on a theme that one proposed and it can really develop, like in a Chinese whisper game. The main point is that the whole notion of authorship as we’re used to, gets really badly corrupted, to the degree that somebody who is doing some action cannot be really sure where it is happening. The result is much more similar to the soundscape of a jungle than to conventional music, a sonic eco-system which is very multi-faceted and polyphonic. Tina Klatte: So the idea of your show is to split up the universe. Alberto de Campo: Maybe that is just an obsession of the western world, we think there is only one universe that exists, where we know all the rules of physics and based on that everything else. That’s kind of the platonic idea of figuring out how the world really works and having this one explanation for everything. Bonaventure Ndikung: But there are a lot of people in many cultures of the world who really live with these multiple universes at the same time. In Cameroon, where I come from for example, it’s a normality and people communicate within these spaces. Alberto de Campo: Yes, in practical experience this single universe doesn’t seem to exist. To me that seemed to be a really good topic for a very polyphonic approach to do radio, where we bring in really strange perspectives and kind of throw people into them. So it’s not about analytical explanations about how all of this works, but the experience, what does it feel like when you think within these worlds, what does it feel like when you enter the world of, for example, Peter Blasser’s strange and wonderful instruments. He has a language of describing electronics that is very poetic, it’s still technically accurate, but it’s very different from how engineers think about how electronics work. And that’s a really good case of somebody who is living in a universe that very few other people understand. I think

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culturally that’s a really good and important sensibility for a human kind of development. Just to understand, how does somebody’s world work which is really different from my own. Hannes Hoelzl: The quality it got for me is something I’d call “radical pluralism”. Of course, for our show we select a “topic of the day”; it’s a convention for a common point of departure. But then we look at this one thing from as many facets as possible, and we try to give it a plurality of voices. So that’s one of the reasons why we read literature in four languages at the same time. Bonaventure Ndikung: For me the medium radio itself already is a “multi-versal” medium. From my own experience, growing up listening to radio like many people do around the world, I think if there is one thing that made me understand something about some other world, it was through the radio. Tuning from Africa N°1, which was a radiostation broadcasting from Gabon, to VOA (Voice of America) and it was just so close to each other, but these people are talking about something completely different. And then you go to the BBC, to the news, and they were sometimes talking about the same things. Alberto de Campo: I found that really attractive about the invitation to do something here, to think about radio in this sense. I guess the difference between the programs within SAVVY Funk already does that to an extent that you might as well have switched to a different thing already. So if you stay tuned, you definitely get this multi-versatility in SAVVY Funk radio just beautifully.

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Mass medium vs. “Kommunikationsapparat” – We are close from afar ! Is anyone listening out there ?

Ahmet Öğüt: Yes, but I was never sure if anyone listens. I am still not sure. Bonaventure Ndikung: Please send us mail that you are listening to us. Ahmet Öğüt: I was not sure about that. Then I thought if we still need the format of radio. It is the same with we keep making publications, and I am not always sure how many people actually read them. Some publications are made to be read in the future. But radio here is instantly live. Bonaventure Ndikung: I think radio itself is in a crisis, because of the fact that it is stuck within the auditory space.

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Ahmet Öğüt: I want to stop saying that this format is over, that it is the end of radio. We played the song “The Revolution Will Not Be Televised” because that was the time of TV, and I saw recently a graffiti saying, “the revolution will not be twittered”, because then they cut the internet when you occupy a park. Things are changing. Radio was a vanguard and that changed, but that does not mean it dies. Coming to Germany I realized that a lot of people do listen in their kitchen, in their car. So it is actually another type of community. Hannes Hoelzl: Yes, in radio we are probably left with the car drivers, who are forced to keep their visual sense free so as to not to cause accidents. I think that for commercial radio, car drivers are really the main target group, and people with a “Radiowecker” that wakes them up in the morning. Bonaventure Ndikung: People working in the factories and on construction sites. Hannes Hoelzl: There is this special super heavy battery radio… Bonaventure Ndikung: Actually, it works also when it rains on them. They are fine under all conditions. Hannes Hoelzl: So the so-called target group has really shrunk. I wouldn’t know of people who sit down in the evening having a cup of rum and listen to the radio. It is always reduced to something that goes alongside something else. Bonaventure Ndikung: Radio is a kind of thing you do “en passant”, you do everything else and you just have radio running by. Anna Bromley5: That is true. Brandon and I are having the morning slot from 9:30 to 10:00, and when the other artists arrive at the studio, they often tell me, “I listened to your show under the shower !” Bonaventure Ndikung: Under the shower or in your bedroom. The intimacy of radio also happens, because sound has the possibility of getting into the most intimate of spaces, instead we turn it off. But also, when you talk to people making radio, they often try to attain that you have the impression they are there talking to you. They are trying to reach that intimacy.

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Laugh of the Hyposubject. Radio broadcast by Brandon LaBelle and Anna Bromley. Daily 9:30 – ​10:00.

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Tina Klatte: I think especially Nástio’s show is dealing with this phenomenon of distance and closeness in radio.6 He is creating a very special atmosphere in the studio, an intimate atmosphere. A couple of days ago he was a guest in Ahmet’s show, so we could actually recall his voice talking about his artistic approach: Ahmet Öğüt: Nástio, welcome. We are happy to have you here today as our guest. You are presenting your own program daily at 4:10pm. And it is called a Nástio Mosquito recipe. Nástio Mosquito: I present it as a Nástio Mosquito recipe as I’m quite obsessed with food, and I kind of recognize myself, if I was gonna put myself in any pretentious position, it would be as a chef. I like to imagine that I present recipes. But the program is called “Embrace”. That is the concept behind this particular recipe. Ahmet Öğüt: The title of my program is not as charismatic as yours maybe: “Piratensender” in German and it means pirate radio. A pirate radio station is a station that broadcasts without a valid license. As far as I know in 1958 a Danish newspaper used the term “pirate radio” for Radio Mercur, a Danish offshore broadcasting, but in 1960s in the UK this became really a big thing. The most well-known offshore radio station was Radio Caroline broadcasting from international waters. But before we listen on in the history of pirate radio, what do you think about radio as an attitude in your own recipe ? Nástio Mosquito: I appreciate very much the power that radio has to do two things that might sound contradictory, in the sense of intimacy a very, very deep sensation of intimacy as if somebody is talking just to you, but at the same time knowing that it also does reach a wider community. You can imagine reaching an immense group of people and still have that directed to one single individual. You can create narratives in that way. I think to some extent that can be an attitude to how you do things, how you go towards life when it comes to of course my obsession, which is to create narratives. The radio becomes a very democratic medium, in the sense that you don’t have to deal with all the baggage that comes with visual language, and that in itself is an attitude of having something to say, having something to transmit, to pass on, to testify. Ahmet Öğüt: And you like acting live ?

6 Embrace – A Nástio Mosquito recipe. Radio broadcast by Nástio Mosquito. Daily 16:10 – ​ 16:30.

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Nástio Mosquito: Well, I think it’s a very organic way of communicating, of establishing particular messages. I do like the element of live, being unpredictable can happen in radio. Still today, what you get in terms of visuals when it comes to live are those daytime programs about how to get better orgasms, there’s nothing wrong about knowing how to get better orgasms, but it becomes redundant after a while. I think radio still has a lot of good content, and a lot of good conversations happening in that live attitude. Brandon LaBelle:7 This has been a nice quality I experienced here in the gallery, which is that sense of liveness that actually the space is alive and people behave differently. There is a great kind of activation of people producing content and dialogue. It is almost like a relay, that you pass the turn on to the next one. There is a great kind of energy to that, to how you keep that going. Bonaventure Ndikung: I like the metaphor of the relay. And even though you have this transparent studio space, there is still the impression of a space you could pull back to. You feel some safeness within that space. At least that is the impression I had being in there, it seems as if anything around you doesn’t matter, although there may be hundreds of people listening out there. Brandon LaBelle: The radio booth as a kind of sanctuary or little haven, separate from the space around. Anna Bromley: The radio booth is a very intimate space. I need to keep eye contact with the people who run the technology plus with my talk-guests. Speaking into a microphone makes me observe my own voice. To monitor the volume, pitch and timbre of it, I listen to myself as I speak wearing headphones. So do my talk-guests. This breeds a unique conversational space. Brandon LaBelle: But it only gains its power by this feeling of the other out there. That is always there, the imaginary. Bonaventure Ndikung: That is true, but I feel less of a pressure while speaking than when I stand in front of a thousand people. Of course because you don’t have all these eyes on you, but all the ears. So again, it is about the intensity of the looks, of the visual and the sonic. Although the sonic is kind of closer to us, but you feel less of a pressure that people are listening to you than if they would see you. 7

Laugh of the Hyposubject. Radio broadcast by Brandon LaBelle and Anna Bromley. Daily 9:30 – ​10:00.

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Brandon LaBelle: So there is a kind of liberating quality. I wonder how these qualities of radio are conditioning our sense of responsibility. Does it free us in terms of an obligation towards speaking, or does it intensify one’s position as a speaker ? Anna Bromley: Speaking in a radio always confronts you with the – or more precisely your voice of representation. A radio voice is most likely to be listened to in an every-day-environment – a work place, a home, a kitchen, a bath room. The virtuosity of radio presenters lies in creating unique styles of speaking that sound informal and near enough. The listeners need to be somatically affected to stay tuned. To get into the perfect tone is the result of many experiments and reflections. Similarly I like to think of artists as being hosts. Literally this is the material of this radio format: your voice is hosting the listening and you can only do it through a voice. Bonaventure Ndikung: But interestingly when Brecht was writing about radio being a “Kommunikationsapparat”, he wasn’t thinking about one person speaking and the other one listening, but he had the impression that when one uses the radio properly – that is what he is writing about, he is concerned about using it properly – that it could be a two way thing. Not only is somebody sending out information and the other one eavesdropping, but also the other one is sending out information. But the feedback in this radio comes in very different ways. For example Tito8 is very particular about that, he sets a lot of information on Facebook and tries to get feedback, and people should let him know which songs he should play and so on. I’m also thinking about other ways to generate feedback so that the radio becomes not a one way street but some kind of reflection. Brandon LaBelle: But why is that important ? Bonaventure Ndikung: It could be important not to look at it also as a dialogical medium or a medium for a multilogue. Brandon LaBelle: I think in a way I really appreciate the strangeness of radio, the strangeness being also about estrangement, also about the stranger. I like that radio actually doesn’t bring me into a dialogical space. Anna Bromley: I remember, how I grew up at the time of the Cold War, and I was on the Eastern Side of the so called “Iron Curtain” and we would listen to radio and comment on it together. We said, “yes !”, “no !” or “good” or “bad”. It was quite 8

Yo i mi circunstancia. Radio broadcast with Tito Valery. Daily 10:00 – ​11:00.

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relieving to do this in small groups with friends, where you can speak openly, because you couldn’t speak openly in public. Dani Gal:9 Like television, radio is a very national medium. To me, moving to a different country, there were days where I was sitting in the studio – as an artist you sit alone in the studio many hours –, and I was listening on the internet to Israeli radio. My political consciousness starts to shift and I got really annoyed by it, and I thought, “Ok, that’s enough”. You realize how this whole medium is creating the so called “imagined communities” Benedict Anderson was writing about. Even the people in the smallest state don’t know each other personally, but there is something that keeps them together under the same consciousness of nationality. Radio and TV are very dominant in this process. Bonaventure Ndikung: You noticed that in places where there is a coup d’etat, the first thing that people do is to get the radio, and of course also the TV, to reach as many people as possible, to make them believe that things have changed. But of course we shouldn’t forget the amount of subversive pirate radios that have been existing. Achim Lengerer: One of the emancipatory strengths of the radio nowadays is that it is technically relatively easy to make radio and broadcast on the net; you don’t need to be a radio professional for this. On the other hand there are still these big national broadcasting stations, which form national narratives and identities with the specific sounds they create. A German cultural radio sounds in a specific way, the French one sounds in a specific way, the Israeli one, the Cameroonian one. As listeners we are not always 100 percent aware the whole time how specific and ideologically biased they are. Dani Gal: And that is something we are playing with in our show. It is playing on your own feelings you got from your childhood towards the medium and at the same time commenting on them. To me part of the subversion is to dress up in this professional costume. We got these professional radio voices to make our jingle to create a frame that says: this is radio, this is how radio sounds. By using familiar language, one can bring in subversive content. It is throwing you back to your national context and then going back to something that is behaving different. I like this space of confusion.

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different time different place different pitch. Radio broadcast by Dani Gal & Achim Lengerer. Daily 15:10 – ​16:00.

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Calling for ephemerality – Nostalgia or: the spark resists

Bonaventure Ndikung: One of my childhood radio moments is that I associated radio for a long time with witchcraft. Because my father used to listen to this program on Africa N°1 where they were talking about witchcraft practices, and I was scared to death. The fact that you couldn’t see the person who was talking to you and it was coming from somewhere far away. There was something transcendental in the transmission. Dani Gal: I can say about that, growing up in Israel, where you had the official Israeli radio on FM, in very good quality. Israel isolated itself from its surrounding countries of course – I once made a work about the first television broadcast in Israel and how they created these kind of frequency fences to block other television channels, and obviously that happens with radio too. So, the radio from the Arab countries always came on AM, and the quality was much lower. It always had this kind of hauntological feeling. It comes from very far away. Achim Lengerer: The fact that sounds are very concrete and bodily tangible, but at the same time fleeting has a strength to it. The sounds disappear. For example, the radio at SAVVY: it is on one hand very precisely located, because it is produced at SAVVY in Berlin-Wedding, but at the same time it dislocates itself. It plays into the very nature of the project that there are no podcasts. Of course, afterwards everybody asks for exactly this kind of podcast format, which is a current day desire. But here with SAVVY radio, it is basic radio: for the time being you cannot possess the sounds we produce. Dani Gal: It’s kind of loyal to the nature of sound. It is there and it disappears. Marcus Gammel: Indeed, the idea with SAVVY Funk was: it’s just happening, in the present, like in the beginning of radio. The first ten years of radio in Germany, from 1920-something to thirty, there is very little trace of that. All the famous radio broadcasts by Walter Benjamin, the audio is gone. Because, first of all the technology wasn’t there, but also the producers didn’t bother. The logic of making radio came very much from a performance culture, from theater culture. In radio dramas, they were performing in costume, because they thought it was theater on the air and not meant to be recorded, even if film was around already. It was about the liveness in the first place like it is with SAVVY Funk.

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Anna Raimondo:10 And in the studio two minutes are really alive. Being live changes the notion of time completely. Bonaventure Ndikung: Yes, interestingly many artists when we invited them and we proposed them to do a show for one hour, they said, “oh no, one hour in the studio, that’s an eternity, I take rather thirty minutes”. Now they are coming back to us saying, “my slot is too short.” Anna Raimondo: Also the excitement that you know that you are live, that there are people listening to you. I think this is really the key of the radio making. There is a kind of phantasma about what you are generating in that moment in which someone is listening to you, probably without making attention, but probably yes. What is she doing in this precise moment ? There is something very magic about that. You don’t control your audience. You really have to seduce people. That is why radio for me first of all is a language; it is not just a medium. And it is even different from the sonic art language. Marcus Gammel: At the same time, listening to this great stuff live you realize how strong it is and how durable. It also needs to stay not only in the memory of the listeners, but it needs to leave a trace somewhere. This is actually what we are starting to tackle by putting stuff on mixcloud11 (2017). Dani Gal: But the fact of making it to the normal FM scale is an achievement, because it’s not like the artists are doing some radio on the internet like anyone can do, it has really been there. Bonaventure Ndikung: Also, I think the internet is a legitimate platform, but there are just too many people out there that don’t have access to the internet. Even if it is by chance that somebody stumbles on this while tuning the radio, I think that is fair enough. I grew up with radio and in most of the cases it was by chance, that I stumbled on something. As I have said a couple of times, there is something about the closeness of the world with radio, it’s a proximity tuning from one station to another in such a short space, and getting possible entries into these worlds. That always fascinated me.

10 Saout Africa(s). Radio broadcast by Saout Radio (Anna Raimondo & Younes Baba-Ali). Daily 18:00 – ​19:00. 11 Available at: https://www.mixcloud.com/SAVVY_Funk/.

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Sarah Washington12: Also, the energy that it brings. The people here in the studio are getting excited behind the mic when they are on air. If this was a web-stream half of that would be gone, you wouldn’t have the spark, the spark would have been missing. Knut Aufermann: When we did all these interviews with the people from the different radio stations13, of course this theme came also up. Meira Ashra from KolHaCampus in Tel Aviv said: “I want to have a station where I can broadcast on FM. If you do it on the internet, you would preach to the converted.” Sarah Washington: And people have to find you. They don’t find you by accident. Knut Aufermann: In London they still have like thirty, forty pirates that do dance and music stuff, good stuff. They also have internet streams, and they do have a lot of listeners on the internet these days. But if the transmitter gets busted by the police or if something fails technically, the DJs don’t even turn up, they are like: “no FM, then I’m not coming in.” Even though they might have lots of listeners online, they don’t care. Maybe things are changing, but I think… Sarah Washington: There’s something really primal about radio. It is the analogue side of the technology. In the beginning when web-streaming started, nobody wanted to call it a web-stream, they wanted to call it radio. Things like last.fm, everything was FM. It was trendy to call anything online with audio ‘radio’. We were always fighting that battle, just saying, “we are not degrading what other people do, but it’s not radio, please use the right term !” This is also happening a bit with the discussion about archiving online we were having here at SAVVY Funk. We were talking about podcasts, and these are not podcasts. Because a podcast is made to be delivered on a podcast platform, it is created in a certain way for that genre. But we are archiving radio online, to me that is completely different from a podcast, and these terms are quite important. I think by now we’ve come to the point where people are coming back to radio, they are realizing there is something in it. Bonaventure Ndikung: But is it not also something very nostalgic ? I also look at it a bit skeptical. There is a trend of wanting to be retro, of using the analogue camera, and not a digital one. Wouldn’t that apply to radio as well ? 12 Render. Radio broadcast by Mobile Radio (Sarah Washington & Knut Aufermann). Daily 08:15 – ​09:00 and 14:10 – ​15:00. 13 Render: Radiaphiles. Radio broadcast by Mobile Radio (Sarah Washington & Knut Aufer­ mann). Daily 08:15 – ​09:00.

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Knut Aufermann: There are two things that are important about radio. One thing that we always say is that nobody knows you are listening. Not even looking at the transmission side, looking at the reception side. If you are listening to internet radio – Bonaventure Ndikung: They can track you. Knut Aufermann: They do track you. If you listen to the FM, they don’t know. Sarah Washington: It is possible, but it would be a lot of effort for anybody to track you down. The way the TV vans used to drive around to see who has got a TV license in the UK. Knut Aufermann: Or the effort they did in the GDR [German Democratic Republic] to figure out who is watching TV from the West, who is listening to the radio. These things come out in crisis situations. Bonaventure Ndikung: That is a very important point. Sarah Washington: And there is another key question apart from this surveillance thing. It is the robustness of the technology. It is not about retro, it is about what works. How do you get a radio working in Cameroon ? Half of the country gets denied the internet for three months, so you can’t stream. Bonaventure Ndikung: You can’t do anything. The only thing you can rely on for information is the radio. Sarah Washington: Yes, even if you think of radio just in terms of an emergency system, it is crazy. It is much harder to jam a radio transmitter than it is to take down your internet streaming service or even your digital radio. Knut Aufermann: The other thing is also, radio has always been very much controlled by the state. Now they let go a little bit, and you can suddenly reclaim a format for artistic use. Just like vinyl was reclaimed and repurposed and turned into an instrument. I don’t think that is “retro”, that is just a part of it, driven by capitalism and by the market. Sarah Washington: Suddenly it is not wanted anymore, and it is then available for somebody else to use. And this is why one of our demands has always been “FM for culture”. Because countries are shutting down their FM network, and we are

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saying, don’t get rid of the infrastructure, make it available for art or for cultural use.

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Radio as an exhibition space – radio, sound and art

Bonaventure Ndikung: For me, using radio as an art space is first of all about accessibility. Where I come from there are no galleries, but everybody listens to radio, but there are also no curators for radio taking particular care of a theme and a way how the works are placed. So I’m really thinking about the possibility of making art works accessible also to somebody sitting in Brazil, not through the sense of sight, but conveying the experience through radio. I proposed this radio program, because I wanted my grandmother to listen to documenta, I want my grandmother to be part of it. Very simple. We commissioned sound works for radio, and also streaming the public program, and doing SAVVY Funk and so on, so people that could not come to Kassel or to Athens could sit in their home and be part of it as well. It is really an exhibition platform. Hannes Hoelzl: It’s probably the most global one with the oldest technology. Alberto de Campo: And is your grandmother listening ? Bonaventure Ndikung: Yes, she doesn’t understand what you guys are doing, but she has the chance. Hannes Hoelzl: My mama is totally happy to hear my voice on the radio, she doesn’t understand the English, but she certainly hears me. Magdaléna Kobzová: I also think it’s great that radio is part of such a mega-exhibition like the documenta that is about visual art mainly. Sound art and the auditory experience has always been difficult to present in galleries, in physical spaces. There is always the question, “ok, what do you show actually, what is the product here ?” Hannes Hoelzl: For anything sonic, radio is an ideal platform. Generally, as sound people we can always claim that we don’t get as much attention as the visual artists. But isn’t the human mind generally dominated by the visual sense ? A person with a vivid imagination is a visionary. A person that hears voices is hallucinating. Anyways, it’s interesting to watch how sound art is placed within these bigger art events which are just by definition more visually oriented.

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Bonaventure Ndikung: This is something I wanted to ask you about, Nathalie. Might be that some of us making exhibitions are not well informed enough about sonic art, but I also have the impression that a lot of sound artists, especially those working with radio, also want their niche. Nathalie Singer:14 It is difficult to talk for all the sound artists, but we just moved from the Faculty of Media to the Faculty of Art and Design, and they didn’t know where to put us with radio art. They said, “What do you do in an art school, why are you not belonging to the music school ?”, and I said, “I don’t ask you why photography and video and graphic design belongs to an art school !” I mean, experts in media art are still asking me why radio art should have a space in a media art school ! So I think you did a great step for the sound to bring it more in consciousness and to also make clear that it is as much art as everything else. People still have difficulty to accept a non-visual art as something tangible. Bovanture Ndikung: Which brings me to another question. Because I come from a society in which the sonic plays a very important role. If you look at the communication, people would use the drums, at least they used to do that, and the gong to tell the time. Sound plays a very important role, and of course, if sound plays an important role people also experiment to get different sounds. So how can we explain the fact that there is now little interest in sound as art, but more in kinds of popular music ? Tito Valery: I think the answer is pretty simple: The art spaces back home have failed to push sound forward as a proper, independent art practice. Because people don’t perceive the buying of sound as an art piece, people would buy painting. Because we have a very sonic culture as well, people don’t consider it to be special, because it is available. We have a very loud city culture, the horns – it’s nothing like Berlin – Douala, Yaounde, Bamenda, Ebolowa, the horns speak, the cars speak, the people speak, the vendors speak. Anna Raimondo: In the streets of Rabat you can have a speech in the street which sounds like sound art. And, I mean, as we started with our project Saout Radio, I read a lot about sound art and recognized: every time we speak about sound art it was white and by men, and we were like, what is the problem with that ? To me, sound art is also a question of listening. How do we listen to the context ? I would

14 Prof. Nathalie Singer, holder of the professorship of Experimental Radio at Bauhaus-Universität Weimar.

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say that a speech on the street is sound art, for another person in Rabat probably it is just a person speaking with a loud voice. Tina Klatte: That reminds me of the project Younes did. He is doing this radio program with you, Anna, but unfortunately can’t be with us today. In 2012 in Rabat Younes realized a sound art project called “Carroussa Sonore”, and he filled the public space, the soundscape15 of the streets with sound art pieces. You both did a radio work about the project, and I would like to tune into that: Female voice: “The carroussa sonore is an object with a specific function, to sell and deseminate Cds by broadcasting religious verses in the streets of Morocco. A kind of religious marketing stemming from the idea that sound is an interactive element that conditions public space … [Singing male voice in the background] … Now, imagine that the same object, the carroussa, spreads instead a selection of sound and radio art… [Beeping, humming, street sounds fading in] … Imagine that the soundscapes, abstract sounds and noises, that alternative narratives contaminate and mix with local sounds.” Anna Raimondo: Yes, this was a great project. Younes asked 16 sound artists from Marocco and all over the world to contribute to the carroussa sonore. And this merging of sound art and the daily soundscape also points at the question, how we frame things, how we frame what we are listening to, and how we canonize. That’s the point. There are a lot of people working with voice, working with speeches, which are very radiophonic, but they never thought, “Ah, I could make a piece in radio for that !”, because there is not a tradition which supports this kind of art. Bovanture Ndikung: But of course it is an art practice, the way the history and knowledge is packaged within that orality, be it in song and so on and so forth. As you said, of course, it is a matter of how you give value to it. But there is a lot of experimentation also within that realm. It is not maybe the way we want to see it in the western museums, but it happens. There is a very beautiful presentation by 15 The notion “soundscape” was coined by the composer R. Murray Schafer when he in the 1970s began to research on the changing sound quality of landscapes and cities.

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an ethno-musicologist called Kofi Agawu (see 2003), and he talks about minimal music in Africa. When you talk about minimal music the canon of minimal music says: minimal music started in Europe or America in the 1960s. What Agawu is trying to show is that minimal music existed in the African continent forever and he gives certain examples. One example is a young guy playing in Angola with a leaf, making sound with the leaf. To me that is the highest form of sound art. It’s picking something in the environment, it is experimenting with it, it is creating some sound, it’s making many out of that object and out of that sound, and creating an audience for it as well. So on many levels it does exist as sound art. But again, what value is given to it ? Tito Valery: But it is already out there. For people walking to a space where you have a recording of the market, they don’t understand why it was there. Because they have a daily sonic experience which is proper to them. And that’s why unfortunately still, or fortunately, fine arts is still a very middle class or high class practice in the African society. Because – especially when it comes to abstract art – people look at it as something that is not accessible to everybody, because to paint something that you can explain, you don’t get that every day: But to say something, people have sound encounters on a daily basis. Then it is a challenge to explain why there are drops of water being played on the radio. It is occupying time on the radio, you know. But interestingly, the first question people asked me was: this is art, how do you sell this ? Anna Raimondo: But actually, there is not a big economy with sound art. Now we are starting to speak about it, but there is a tradition. But still, there was never much economic value behind it. This is why in Marocco, for example, a lot of artists (in order) to live won’t make radio art or sound art, they will rather go for photography or painting. Radio art would be always a little bit marginal, and I am glad about it. Bonaventure Ndikung: Ok, so radio art is difficult to sell, but why do we have to separate it from every other art ? Knut Aufermann: I think radio art is something completely different. Radio art is a very wide spectrum. It’s not only pieces that are made for radio. It could be performances, installations or conceptual works. Bonaventure Ndikung: One of the things we question at SAVVY is also the issues of discipline. There is a kind of – for a lack of a better term, we have put it like this – fascism of disciplines. I was trained as a biotechnologist, and the arts have always

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been there, I cannot separate the way I think as a bio-technologist or the way I think as a curator, they are all so closely tight. You look at this guy who comes in as a photographer and then uses light to do sound, and it becomes very interesting because he blends this. Then the separation of disciplines doesn’t exist anymore, which I found very interesting. For me as an exhibition maker it seems evident that if I would do an exhibition, I would also think of that space called radio as a possibility of showing some art works. I would commission what one might call “radio art”, which functions within that same space, though it is an auditory form. So why do we have to separate that actually ? Sarah Washington: The two things don’t fit together very well, the cultures are very different. What the art world is not ready for is to have bodies on the ground for the whole time of the exhibition. You’re used to people coming and putting a picture on the wall or installing a video, but actually with radio you’ve got people there and you’ve got some responsibility for them and they need things from you, it stresses the structures. Bonaventure Ndikung: Of course, but the art world also has to cope with that. If they have invigilators for the whole time of the exhibition, if they could have performance artists for the whole time of the exhibition, and they also could have artists doing radio for the whole time of the exhibition. Because that is it how it is, if you want to do live art, under which live radio would be categorized. Elena Agudio: During the radio program we are actually creating a performative situation, a moment of togetherness. So, of course, the idea of having us there performing every day this labor is a fundamental idea of the project, even if of course the idea is especially to produce a sound exhibition for people that are not physically there. Martin Hirsch:16 I think that interaction is a lot more pronounced at SAVVY Funk leads to so many situations you couldn’t have otherwise. Because the space is designed to be open, it is designed to be host to people visiting, but also to the people working there every day, and this leads to different social interaction than I think it would, if it would have been produced in Deutschlandfunk. That merging of artists and radio people and also the technicians and the people of the gallery, of course. Magdaléna Kobzová: Yes, we have talked to other participants and artists here, and they start to collaborate with each other and invite each other in their shows. 16 Martin Hirsch, artistic associate at the Experimental Radio at Bauhaus-Universität Weimar.

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Martin Hirsch: It is hard to do alone, also. There is a need for teams.17 Bonaventure Ndikung: There is kind of cross-pollination that is happening here, which is something that doesn’t really happen in other arts. Hannes Hoelzl: Imagine the painter who would say, here I have a bit of empty canvas, don’t you want to add some of your colors ?

References Agawu, K. (2003). Representing African Music: Postcolonial Notes, Queries, Positions. New York/London: Routledge. Brecht, B. (1967). Schriften zur Literatur und Kunst, 1920 – ​1932. Frankfurt a. M.: Suhr­ kamp. Mixcloud (2017). https://www.mixcloud.com/SAVVY_Funk. Accessed: December 15, 2017.

17 SAVVY Funk Team: Programmers and Curators: Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Marcus Gammel, Elena Agudio. Coordinators: Tina Klatte, Maximilian Netter; Curatorial Assistant: Sol Izquierdo de la Viña; Management: Lema Sikod; Management Assistant: Lynhan Balatbat. Experimental Radio at Bauhaus-Universität Weimar, Faculty of Art and Design, led by Prof. Nathalie Singer and Martin Hirsch; broadcast: Konrad Behr, Jennifer Fuchs, Jan Glöckner, Grit Lieder, Johann Mittmann, Janine Müller, Benjamin Serdani, Corinna Thamm, Josephine Tiede, Severin Schenkel, Andreas von Stosch, Markus Westphal; Display design and archival research: Anna Rupp, Rosa Süß, Rafael Brasil Sabino, Alejandro Weyler. SAVVY Contemporary: Elena Agudio, Antonia Alampi, Jasmina Al-Qaisi, Aouefa Amoussouvi, Lynhan Balatbat, Juan Blanco, Federica Bueti, Pia Chakraverti-Wuerthwein, Johanna Gehring, Janine Georg, Sol Izquierdo, Anna Jäger, Hounyeh Kim, Cornelia Knoll, Saskia Köbschall, Lisa Kolloge, Corinna Kuehnapfel, Nathalie Mba Bikoro, Siyah Mgoduka, Bonaventure Ndikung, Abhishek Nilamber, Beya Othmani, Elena Quintarelli, Marleen Schröder, Jörg-Peter Schulze, Lema Sikod, Jorinde Splettstößer, Marlon Van Rooyen, Laura Voigt, Elsa Westreicher, Johanna Wild.

Ausweitung der Paarungszone ? Grenzverschiebungen digitalisierter Paarbildung Thorsten Peetz

Zusammenfassung  

Ein nicht zu vernachlässigender Anteil der Paarbildung nimmt heute im Internet oder auf GPS-fähigen Mobiltelefonen ihren Anfang. Datingseiten und -apps wie OkCupid.com oder Tinder bieten neue Möglichkeiten, po­tenzielle Partnerinnen kennenzulernen. Ausgehend von der Soziologie der Bewertung versteht der Aufsatz Onlinedating als eine neue Form intimer Bewertungsspiele. Er fragt, wie sich die Digitalisierung der Infrastruktur intimer Bewertung auf die Möglichkeiten, die Grenzen von Intimsystemen zu ziehen, auswirkt und entwickelt Forschungsperspektiven für die Analyse intimer Bewertungsspiele. Schlagwörter  

Intimsysteme; Grenzziehung; Soziologie der Bewertung; Bewertungsspiele; Onlinedating; Infrastrukturen

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Kropf und S. Laser (Hrsg.), Digitale Bewertungspraktiken, Soziologie des Wertens und Bewertens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21165-3_11

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Thorsten Peetz

Einleitung

Grenzziehung ist konstitutiv für die Bildung sozialer Systeme (Luhmann 1984). Ohne die Unterscheidung von Innen und Außen, System und Umwelt können sich soziale Systeme, wie Interaktionen, Gruppen, Organisationen oder auch gesellschaftliche Teilbereiche, weder als solche etablieren noch dynamisch reproduzieren. Und wo käme man auch hin, wenn die Barfrau als Teil des Gesprächs an der Theke behandelt werden müsste oder ständig neu verhandelt würde, ob die Benotung einer Schülerin nun ein schulischer Akt sei oder nicht. Ein Typ sozialer Beziehung zeichnet sich allerdings durch ein besonderes Verhältnis zu seinen Grenzen aus: Intimsysteme. So versteht zum Beispiel Karl Lenz (2009, S. 48) „[u]nter einer Zweierbeziehung [… einen] Strukturtypus persönlicher Beziehung zwischen Personen unterschiedlichen oder gleichen Geschlechts […], der sich durch einen hohen Grad an Verbindlichkeit (Exklusivität) auszeichnet, ein gesteigertes Maß an Zuwendung aufweist und die Praxis sexueller Interaktion – oder zumindest deren Möglichkeit – einschließt.“ Der Ausschluss der Anderen wird hier als charakteristisch angesehen. Auch empirisch kann man feststellen, dass die Arbeit an der Grenze – boundary work – ein zentrales Element der (Re-)Produktion von Intimsystemen darstellt (Jamieson 2005). Intimsysteme haben also ein Auge auf ihre Grenze gerichtet. Sie wachen ständig darüber, ob beziehungsweise wie die Zweisamkeit der Partnerinnen durch Dritte irritiert wird. Und dies selbst dann, wenn sie sich nicht als „Zweierbeziehung“ verstehen und nicht-monogame Beziehungsformen realisieren (Jamieson 2004). Der Grenzbezug von Intimsystemen verleiht der Frage nach dem Aufbau dieser Grenzen eine besondere soziologische Bedeutung. Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass Intimsysteme ihre sozialen Grenzen in Bewertungsspielen ziehen.1 Die Art und Weise wie diese Spiele gespielt werden, ist dabei historisch variabel (Illouz 2012). Welche Kriterien anzulegen sind, welche Kompetenzen den Spielerinnen zugestanden werden, wer legitimerweise das Bewertungsspiel beobachten und eventuell sogar kommentieren darf, all das wird zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich gehandhabt. So untersuchte schon Willard Waller (1937, S. 727 ff.) in den 1930er Jahren den Übergang von einem „courtship system“, das klar auf die Etablierung von Ehen ausgerichtet war, hin zum „rating and dating complex“, der stärker auf den Erlebnischarakter des Kennenlernens abstellt. Für die Analyse von Bewertungsspielen im Allgemeinen – und intimer Bewertungsspiele im Besonderen – sind dann einerseits die Situationen relevant, in denen Bewertungen stattfinden (Hutter und Stark 2015). Daneben sind aber vor 1

Mit der Verwendung des Begriffs des Bewertungsspieles folge ich Michael Hutter (2015), der den Begriff des „ernsten“ Spiels für die Analyse von Bewertungsgeschehen stark macht.

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allem auch die Bewertungskonstellationen zu berücksichtigen: die formellen wie informellen Regeln der Bewertung, die Struktur von Positionen und Relationen, in denen sie stattfindet sowie die technologischen Infrastrukturen der Bewertung (Meier et al. 2016). Gerade die Infrastrukturen intimer Bewertungsspiele haben sich in den letzten Jahren in nicht zu übersehendem Ausmaß verändert. Mit dem Computer und dem Internet, mit GPS-fähigen Smartphones und mobilen Apps wurden neue Spielfelder konstruiert, auf denen Personen auf die Suche nach Partnerinnen gehen können. Der Einschnitt ist entscheidend: Führten Kontaktanzeigen in der Paarbildung eher ein Randdasein, so ist die mediale Vermittlung von Partnerinnen heute im Zentrum der Gegenwartskultur angekommen. Wenn digitale Infrastrukturen in intimen Bewertungsspielen immer bedeuten­ der werden, dann liegt die These nahe, dass sie sich auch im besonderen Maße auf die Möglichkeiten und Formen der Paarbildung auswirken werden. Entsprechend gehe ich im Folgenden der Vermutung nach, dass sich die Arten und Weisen, in denen die Grenzen, die um intime Beziehungen gezogen werden, gegenwärtig verändern. Ich skizziere im nächsten Abschnitt kurz den Gegenstand „(mobiles) Onlinedating“ und befrage im Anschluss darauf die einschlägige sozialwissenschaftliche Forschung, ob Anzeichen der Veränderung der sozialen, sachlichen und räumlichen Grenzziehung durch Intimsystembildung zu beobachten sind.

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(Mobiles) Onlinedating

Von der Kontaktanzeige in der Tageszeitung bis zum „Videodating“ (Woll und Young 1989), auf der Suche nach Partnerinnen haben die Leute schon recht lange auf mediale Infrastrukturen zurückgegriffen. Gesellschaftlich bedeutsam wurde die medial vermittelte Paarbildung aber eigentlich erst mit der Möglichkeit, am Computer über das Internet Personen kennenzulernen. Anfänglich noch als letzter Strohhalm der Verzweifelten diskreditiert, ist Onlinedating heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Über zwanzig Prozent der heterosexuellen Paare, die sich in den USA im Jahr 2009 gebildet haben, haben sich online kennengelernt – bei homosexuellen Paaren ist deren Anteil noch größer (Rosenfeld und Thomas 2012, S. 530 ff.). Insgesamt haben laut einer repräsentativen Telefonumfrage elf Prozent der Erwachsenen in den USA Onlinedating-Seiten genutzt (Smith und Duggan 2013). In Deutschland nutzen nach (mit Vorsicht zu behandelnden) Angaben des Branchenportals „SinglebörsenVergleich“ 11,9 Millionen Personen monatlich Onlinedatingportale (Moucha et al. o. J., S. 6). Die deutschen Onlinedater sind dabei „eher männlich, jünger, höher gebildet und wohnen in städtischen Gebieten oder Ballungsräumen“ (Schulz et al.

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2008, S. 288). 6,1 Prozent der Befragten der deutschen Panelstudie „Panel Analy­ sis of Intimate Relationships and Family Dynamics“ (pairfam) haben ihre Partnerin im Internet gefunden (Potarca 2017, S. 285). Auch hierzulande nimmt also ein nicht unerheblicher Anteil der Paarbildung im Internet seinen Anfang. Generell ist das Feld des Onlinedating diversifiziert und dynamisch. Neben Angeboten, die sich an die breite heterosexuelle Masse richten, gibt es spezialisierte Plattformen für andere Formen des Begehrens und spezifische, an potenzielle Partnerinnen gerichtete Wünsche. Bartliebhaberinnen können zum Beispiel die App Bristlr nutzen, um ihr Leben um einen Bartträger zu bereichern.2 Regelmäßig entstehen neue Plattformen. Wichtig für die Entwicklung des Feldes war auch die Einführung von Apps für „location-based mobile dating“ (Birnholtz et al. 2014). Mit Apps wie Tinder oder Grindr wird die initiale Phase der Paarbildung auf den Bildschirm von Smartphones verlegt. Damit löst sich das Onlinedating vom Computerarbeitsplatz und kann buchstäblich überall stattfinden. Mittlerweile werden Apps auch von ehemals nur am heimischen Computer zugänglichen Seiten angeboten. Das Feld des (mobilen) Onlinedatings ist also nicht nur durch eine Angebotsvielfalt und teilweise rasante technologische Entwicklungen gekennzeichnet, sondern auch soziologisch bedeutsam: Wie die oben zitierten Studien zeigen, ist seine quantitative Bedeutung im Feld der Paarbildung zwar noch überschaubar, sie ist aber doch zumindest so groß, dass Onlinedating als soziales und kulturelles Phänomen ernst genommen werden muss. Welche Konsequenzen hat dieser infrastrukturelle Wandel intimer Bewertungsspiele für die Art und Weise, in der die Grenzen von Intimsystemen gezogen werden ?

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Digitalisierung intimer Grenzziehungen

Intimsysteme sind – wie andere Typen sozialer System auch – Systeme, die ihre Grenzen im Medium des Sinns ziehen. Entsprechend kann man soziale und sachliche (sowie zeitliche3) Dimensionen sozialer Grenzziehung unterscheiden (Luhmann 1971): Wer wird für die Paarbildung in Betracht gezogen ? Worum geht es in 2 3

www.bristlr.com. Zugegriffen: 23. November 2017. Die Zeitdimension der Paarbildung hat wesentlich weniger Aufmerksamkeit erfahren als soziale und sachliche Fragen. Diskutiert wird sie lediglich in zwei Hinsichten: Wird die Paarbildung im Internetzeitalter effizienter – kommt es also zu Zeitersparnissen ? Und welche Auswirkungen kann man hinsichtlich der Stabilität und Dauer der online gebildeten Paare ausmachen ? Der Anteil derjenigen Paare, die das erste gemeinsame Jahr überstehen, ist bei Paaren, die sich zwischen 2000 und 2009 über das Internet vermittelt gebildet haben, jedenfalls höher als bei konventionell gebildeten Paaren (Rosenfeld und Thomas 2012, S. 534).

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den sich bildenden Paaren ? Im Kontext der Digitalisierung intimer Bewertungsspiele ist neben den Fragen kommunikativer, also sinnhafter Grenzziehungen noch eine weitere Dimension bedeutsam: Hat das Internet vielleicht auch Konsequenzen für die räumlichen Grenzen der Intimsystembildung ? Kommt es in all diesen Dimensionen zu Prozessen der Entgrenzung ? Soziale Entgrenzung Die Bildung von Intimsystemen ist eng mit der Reproduktion der Sozialstruktur von Gesellschaften verknüpft und entsprechend historisch variierenden Formen sozialer Kontrolle unterworfen (Goode 1959): Von der Verheiratung der zukünftigen Partnerinnen im Kindesalter über klar definierte Verwandtschaftsregeln, die Isolierung von Paarungsfähigen in geschlechtlich getrennten Bildungseinrichtungen oder die Überwachung durch Anstandsdamen und enge Verwandte bis hin zur formell freien Partnerinnenwahl unter den Augen der Mitglieder der Peer Group. Gemeinsamen ist diesen Formen der Kontrolle, dass sie die Paarungswilligen – wenn nicht schon früh für vollendete Tatsachen gesorgt wurde – einer konsequenten Beobachtung durch andere unterwerfen. Die Digitalisierung der Paarbildung führt nun zunächst dazu, dass die ersten Stufen der Etablierung einer Intimbeziehung der direkten Beobachtung durch andere entzogen werden. Die Kontaktaufnahme durch Alter, die Reaktion durch Ego und die sich entspinnende virtuelle Interaktion der beiden Beteiligten findet ohne die Anwesenheit menschlicher Beobachter statt.4 Auf die Abwesenheit der kontrollierenden Anderen könnte man nun die Hoffnung stützen, dass sich soziale Grenzziehungen (Lamont und Molnár 2002) in der Paarbildung stärker individualisieren. Ein recht konsistentes Ergebnis der Forschung zum (mobilen) Onlinedating ist allerdings die Feststellung, dass sich das Paarungsverhalten auch unter Abwesenheit von Beobachtung an etablierten sozialen Grenzziehungen orientiert. So sind die Nutzerinnen der entsprechenden Angebote zum Beispiel auf der Suche nach Partnerinnen mit gleichem Bildungsniveau (Skopek et al. 2009). Und auch aus ihrem Kontaktverhalten lassen sich Rückschlüsse auf „preferences for similarity“ hinsichtlich Alter, Erziehung, race und Größe (Hitsch et al. 2010, S. 424) ziehen. An der sich etablierenden Interaktion kann man feststellen, dass „ähnliches Bildungsniveau, tendenzielle Altersgleichheit und eine vergleichbare physische Attraktivität […] den Aufbau reziproker Beziehungen, in denen mindes4 Die Einschränkung auf menschliche Beobachter ist wichtig, da das intime Bewertungsverhalten auf Onlineplattformen und Datingapps sehr wohl von Algorithmen beobachtet wird. Deren Beobachtung ist direkt relevant für das Bewertungsgeschehen, da es sich zum Beispiel auf die Auswahl der vorgeschlagenen potentiellen Partnerinnen auswirkt.

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tens zwei Nachrichten zwischen den beteiligten Akteuren ausgetauscht werden“ (Schulz et al. 2010, S. 506) begünstigen. Hinsichtlich der Kategorie race scheint allerdings Bewegung ins Beziehungsgefüge zu kommen. So stellt Kevin Lewis (2013) auf der Grundlage von Daten des Onlinedating-Anbieters OkCupid (in den USA) fest, dass zwar der Erstkontakt der Nutzerinnen stark innerhalb der eigenen Kategorie verbleibt. Wird die ka­tegoriale Grenze aber einmal überschritten, so ist die Anschlusswahrscheinlichkeit sogar höher als bei Kontakten innerhalb der Kategorie. Ebenso steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Nutzerinnen, selbst einen grenzüberschreitenden Kontakt initiieren. Dies scheint sich in den USA auch im Ansteigen der Zahlen von „interracial marriages“ widerzuspiegeln, die mit der Popularisierung von Onlinedating sowie der App Tinder in Beziehung gesetzt werden können (Ortega und Hergovich 2017). Allerdings zeigen Ken-Hou Lin und Jennifer Lundquist (2013, S. 204) – ebenfalls auf der Grundlage eines großen Datensatzes eines Onlinedating-Anbieters –, dass das Antwortverhalten dennoch von einer „racial hierarchy“ geprägt wird: „Daters tend to respond to those of the dominant or same racial status while rejecting racially marinalized groups.“ Sachliche Entgrenzung Sachliche Grenzen legen die Themen fest, die Kommunikation in spezifischen sozialen Kontexten prozessieren kann.5 Im Kontext digitaler intimer Bewertungsspiele beziehen sie sich auf die Frage, worum es in einem gegebenen Spiel überhaupt geht. Sie sind zentraler Gegenstand von Bewertungsregeln: Was steht in intimen Bewertungen auf dem Spiel ? Welche Typen von Personen sind als Spielerinnen an ihm zu beteiligen und wie ist es zu spielen ? Im (heterosexuellen) Onlinedating werden traditionelle Themen der Paarbildung reproduziert. So wird zum Beispiel klar zwischen den Onlineseiten und Apps unterschieden, die eher auf kurzfristige Abenteuer angelegt sind, und jenen, die Nutzerinnen in eine längerfristige Beziehung führen sollen (Bergström 2011). Zentrale Beiträge zum (deutsch- wie auch englischsprachigen) öffentlichen Diskurs zur Dating-App Tinder reproduzieren diese Dichotomie. So wird in der Süddeutschen Zeitung – um nur ein Beispiel zu nennen – zwischen Plattformen „wie … Tinder“, die „vor allem jüngere Kunden“ ansprechen, „die auf der Suche 5

Es ist müßig, muss aber erwähnt werden: Diese Feststellung bedeutet nicht, dass Kommunikation monothematisch stattfindet, immer nur über ein klar und eindeutig feststellbares Thema kommuniziert wird. Jedes kommunikative Ereignis bekommt seinen operativ wirksamen Sinn nur durch kommunikative Anschlüsse, die es selbst weder kontrollieren noch in ihrer Quantität und Diversität bestimmen kann. Ereignisse können so in multiple Grenzziehungen involviert sein, ohne dass dadurch die Grenzziehungen als solche ihren Unterscheidungscharakter verlieren.

Ausweitung der Paarungszone ? 267

nach schnellen Bekanntschaften und Verabredungen sind“ und „[s]eriöse[n] Partnerschaftsvermittlungen“, die „Kunden in einem Alter ab etwa 25 Jahren im Blick [haben], die auf der Suche nach einer Liebe fürs Leben sind“, unterschieden (Busse 2016). Die „vocabularies of motives“ (Mills 1940), die von Nutzerinnen des (mobilen) Onlinedatings aufgerufen werden, wenn sie um Accounts ihrer Nutzungspraxis gebeten werden, sind dann schon ein wenig differenzierter. Die Nutzerinnen einer deutschen Onlinedatingplattform scheinen noch vor allem auf der Suche nach einer Partnerin für eine längerfristige Beziehung zu sein (Schmitz et al. 2011) und bleiben deshalb innerhalb der Sex/Liebe-Dichotomie. Für die Nutzung der App Tinder werden – entgegen dem gängigen im Diskurs formulierten Vorurteil – unterschiedlichste Motive angegeben. Sie reichen von der Suche nach Liebe oder unverbindlichen Sex bis hin zum Verlangen nach Bestätigung oder etwas Aufregung (Sumter et al. 2016) und sind geschlechtsspezifisch erwartbar verteilt: „with men using the app more for hooking up/sex, traveling, and relationships, and women rather for friendship and self-validation“ (Ranzini und Lutz 2016, S. 12). Selbst die App Grindr, die sich an Männer richtet, die Sex mit Männern haben wollen (Licoppe et al. 2016; Race 2015; Stempfhuber und Liegl 2016), und als ein virtueller Ort der Zügellosigkeit gilt, wird nicht nur zum Finden von Sexualpartnern genutzt (Van de Wiele und Tong 2014). Man kann entsprechend die Hypothese formulieren, dass die sachliche Grenzziehung im Kontext des Onlinedatings vermutlich nicht zwangsläufig den öffentlich zirkulierenden Vorstellungen entspricht. Wie die Grenzen hier tatsächlich gezogen werden und welche Konsequenzen die Grenzziehungen haben, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings noch offen. Während sich die bislang diskutierten Studien der Frage widmen, wie das intime Bewertungsspiel des (mobilen) Onlinedatings moduliert ist, stellt eine Reihe anderer Beiträge die wesentlich radikalere Frage, ob es sich tatsächlich noch um intime Bewertungsspiele handelt und nicht vielleicht bereits um ökonomische. Entsprechende Studien identifizieren Anzeichen für die Auflösung der Grenze zwischen der Intimsphäre und der Sphäre der Ökonomie (Barraket und HenryWaring 2008). So findet in narrativen Interviews zum Beispiel die Metapher des „Viehmarktes“ – und damit eine eindeutig ökonomische Metapher – Verwendung (Dröge und Voirol 2013, S. 191). Andere Studien weisen die Verwendung der „Shopping“-Metaphorik nach (Finkel et al. 2012, S. 16) und zeigen, dass die Nutzerinnen von Onlinedating ein „commodified understanding of the self “ (Hobbs et al. 2016, S. 10) an den Tag legen. Sie fänden sich in einer „illusionären Welt des Konsums“ wieder, „die vorgaukelt, ein Mann oder eine Frau könne wie Käse in einem Supermarkt ausgesucht werden“ (Kaufmann 2011, S. 13). Insgesamt stünde die „Begegnung […] unter dem Banner der liberalen Ideologie der ‚Wahlfreiheit‘“ und wird auf einem „offenen Markt der Konkurrenz mit anderen“ ausgetragen, so

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dass das „Internet aus dem Selbst eine öffentlich ausgestellte Ware“ macht (Illouz 2007, S. 120). Auch in diesem Fall stehen die im Onlinedating verwendeten Regeln der Partnerinnenwahl in Frage. Die Diagnose lautet zum einen, dass die Ontologien intimer Bewertungsspiele die Beteiligten als ökonomische Subjekte konstituieren. Zum anderen wird festgestellt, dass die Art und Weise, in der potentiellen Partnerinnen im Onlinedating Wert zugeschrieben wird, mit der Regelung ökonomischer Bewertung auf Märkten verglichen werden kann. Den analytischen Wert dieser Diagnose kann man allerdings begründet anzweifeln. John Levi Martin und Matt George (2006) argumentieren zum Beispiel, dass die Marktmetapher bei der Analyse sexuellen Begehrens überzogen wird, wenn weder die in­dividuelle Nutzenfunktion der Marktakteure empirisch feststellbar ist, noch bepreiste Objekte ausgetauscht werden. Empirisch kann man zudem feststellen, dass Onlinedater neben Attraktivität Kriterien wie „Humor“, „Intelligenz“ und „Bildung“ bei der Partnerinnenwahl verwenden (Schmitz et al. 2011, S. 367). Räumlich Entgrenzung Neben Fragen der sozialen und sachlichen Grenzziehung stellt sich schließlich auch die Frage, ob sich im Zuge der Digitalisierung intimer Bewertung auch deren Verhältnis zum Raum verändert. Gemeinhin hat sich die Partnerinnensuche im nahen Umfeld der Lebensabläufe vollzogen. Partnerinnen findet man da, wo man wohnt und arbeitet. Durch die Nutzung von mobilen Dating Apps wird die Paarbildung nun in gewisser Weise unabhängig von konkreten Räumen (Aretz 2015, S. 41). Jetzt kann im Prinzip immer und vor allem auch überall nach Partnerinnen gesucht werden: Nicht nur am Arbeitsplatz, bei der Freizeitgestaltung mit Freundinnen, beim Sport oder am Hundeplatz, sondern einsam abends kurz vor dem Einschlafen, auf der langen Bahnfahrt oder auf einem stillen Ort. Außerdem müssen die gesuchten Anderen im Moment der Suche nicht körperlich anwesend sein. Die diversen Anbieter (mobilen) Onlinedatings geben ihren Nutzerinnen in unterschiedlichem Ausmaß die Möglichkeit, im weiteren Umkreis der eigenen Position, aber auch an fernen Orten nach Partnerinnen zu suchen. Prinzipiell stehen der Paarbildung also keine räumlichen Grenzen mehr im Wege. Von dieser Ausweitung der Paarungszone scheinen sich Nutzerinnen von Onlinedating aber noch nicht wirklich beeindrucken zu lassen. Natürlich weitet sich der Radius aus, in dem nach Personen gesucht wird. Eine gewisse räumliche Nähe potenzieller Partnerinnen bleibt aber weiterhin ein wichtiges Kriterium dafür, ob sie tatsächlich für die Paarbildung in Betracht gezogen werden (Barraket und HenryWaring 2008). Studien zu Dating-Apps, die von Männern, die Sex mit Männern haben, genutzt werden, berichten darüber hinaus von einem weiteren räumlichen Aspekt

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vor allem des mobilen Onlinedatings, von einer tiefgreifenden Transformation des sozialen Raums. Sie beschreiben, wie durch Apps wie Grindr homosexuelle Sinnschichten über den heterosexuell konnotierten Raum gelegt werden (Blackwell et al. 2014). Damit eröffnen sich homosexuellem Dating virtuelle Räume jenseits klar ausgewiesener homosexueller Orte.

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Digitale Bewertungen und die Arbeit an der Grenze

Die Bildung von Intimsystemen basiert auf Grenzziehungen; Grenzen werden in intimen Bewertungsspielen gezogen; in der Analyse von Bewertungen müssen neben den Positionen und Relationen (von Bewerteten, Bewertenden und Publikum) sowie Bewertungsregeln vor allem Infrastrukturen berücksichtigt werden – so lautete das theoretische Argument, das diesem Aufsatz zugrunde gelegt wurde. Empirisch wurde in entgegengesetzter Richtung argumentiert: Wenn sich im Zuge der Etablierung digitalisierter Infrastrukturen die Möglichkeiten von Bewertungen verändern, dann sind auch Auswirkungen auf die Grenzziehung von Intimsystemen zu erwarten. Das Ausmaß dieser Veränderungen habe ich versucht auf der Grundlage der existierenden Literatur nachzuzeichnen: Die Prinzipien sozialer Grenzziehung scheinen auch im Onlinezeitalter stabil zu bleiben (oder: sich zumindest nicht radikal zu verändern); ökonomische Grenzüberschreitungen werden zwar von einer Reihe Autorinnen identifiziert, die Diagnose selbst kann aber angezweifelt werden; und auch die räumlichen Beschränkungen der Grenzziehung werden eher sachte ausgeweitet als gesprengt. Der einzige wirklich fundamentale Vorgang der Entgrenzung wird im Kontext homosexuellen Datings berichtet, dem neue Möglichkeiten im medial transformierten Raum eröffnet werden. Bleibt also alles gleich ? Hat die Digitalisierung der Intimsphäre im Gegensatz etwa zur Digitalisierung der Wirtschaft nur marginale Auswirkungen ? Auf der Grundlage des gegenwärtigen Forschungsstandes wird diese Frage nicht zu beantworten sein. Eine vielversprechende Analysestrategie für zukünftige Forschungen besteht aber sicherlich darin, die Arbeit an der Grenze (Gieryn 1983) expliziter als bisher geschehen in den Blick zu nehmen und sich dabei auf den theoretischen Werkzeugkasten der Soziologie der Bewertung zu beziehen (Lamont 2012; Peetz et al. 2016). Mit Blick auf die hier diskutierten Dimensionen sozialer, sachlicher und räumlicher Grenzziehung bieten sich dabei mindestens drei Fragestellungen an. So stellt sich erstens die Frage, wie soziale Grenzziehungen stabil gehalten werden, wenn die Initialphase der Paarbildung nicht mehr der direkten Beobachtung durch die Familie oder die Peer Group ausgesetzt ist. Welche Rolle spielen zu Bei-

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spiel die von den Datingseiten eingesetzten Algorithmen, die – abhängig von der Plattform – den Wert der Nutzerinnen oder ihre Übereinstimmung mit anderen bewerten und diese numerischen Werte dann den Nutzerinnen zugänglich machen (etwa OkCupid.com: „97 % Match“) oder zur Grundlage der Strukturierung deren Auswahlmöglichkeiten machen (so Tinders „desirability score“). Oder sind die Nutzerinnen selbst dafür verantwortlich, indem sie Personen anhand klassenspezifischer Regeln des Datings sortieren und die soziale Position einer potentiellen Partnerin schon mit einem kurzen Blick auf ein Foto oder Profil identifizieren – und wie tun sie das ? Oder spielt die entscheidende Rolle letzten Endes doch nicht die virtuelle Kommunikation im Netz, sondern der Moment, in dem sich potenzielle Partnerinnen zum ersten Mal in die Augen (und auf die lebensstilspezifische Ausstattung) blicken können ? Zweitens, welche Regeln der Identitätskonstitution sehen zeitgenössische Ontologien intimen Bewertens vor und wie werden diese in der Be­wertungspraxis umgesetzt ? Wenn sich die Nutzerinnen von Datingplattformen ein Bild der Anderen machen – ihre Profile durchblättern, Fotos inspizieren, Kommunikations­ offerten interpretieren und so weiter – arbeiten sie an der kommunikativen Konstruktion der anderen: Sie sammeln Informationen, die sie zu einer „Person“ formen und entsprechend einordnen. Ähnliche Prozesse finden auch in der Konstruktion des je eigenen Profils statt, das auf Erwartungen an die Erwartungen anderer aufbaut. Welche Typen von Personen hier konstruiert werden, Romantikerinnen etwa oder unternehmerische Subjekte, ist empirisch noch nicht hinreichend deutlich herausgearbeitet. Noch interessanter sollte sein, wie diese Identitäten im Kommunikationsgeschehen aufgegriffen und umgebaut werden. Schließlich ist, drittens, fraglich, ob die räumliche Dimension intimer Bewertungen nicht doch stärker und vor allem: anders von der Digitalisierung betroffen ist, als bislang vermutet. Im Kontext von Migration zeigt sich etwa, dass die Plattformen (mobilen) Onlinedatings (Shield 2017, am Beispiel von Dänemark und Schweden) verwendet werden, um vielfältige Kontakt im Aufnahmeland zu knüpfen. Neben der Etablierung von Intimbeziehungen geht es hier auch um die Inklusion in wirtschaftliche Zusammenhänge. Was im Hinblick auf die Paarbildung ins Auge sticht, ist, dass sich die Möglichkeit, weltweit intime Kommunika­ tionszusammenhänge zu bilden, vereinfacht hat. Wenn immer und nahezu überall Kommunikationsangebote auf spezialisierten Plattformen gemacht werden können, eröffnen sich weltweite intime Kommunikationschancen. Und auch wenn damit über die Annahme der Kommunikationsangebote noch nichts gesagt ist: Die Paarungszone hat heute weltgesellschaftliches Format.

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