Digital Customer Experience

Die Digital Customer Experience rückt zunehmend in den Fokus, wenn es darum geht, Kunden einen besonderen Nutzen und ein besonderes Erlebnis zu versprechen, sie zufrieden zu stellen und zu binden. Sie ergänzt Produkte und Dienstleistungen und bietet dabei insbesondere im Kontakt zwischen Kunden und Anbietern digitale Services und Unterstützungsangebote. Hier setzt das Buch an: Der vorliegende Herausgeberband legt aus der theoretischen Perspektive der Service Dominant Logic die Grundlagen für die Betrachtung und Gestaltung einer Digital Customer Experience. Anschließend fokussieren die Autoren auf IT-gestützte Möglichkeiten, die persönliche Beziehung zwischen Kunde und Anbieter im stationären Einzelhandel durch digitale Dienste zu ergänzen. Besondere Betrachtungen einer mobilen oder mithilfe von virtueller Realität gestalteter Customer Experience sowie sozialer und kooperativer Konzepte schließen sich an. Ansätze zu Design und Rahmenbedingungen der Gestaltung einer Digital Customer Experience runden das Herausgeberwerk ab. Wie typisch für die Fachbuchreihe Edition HMD greifen die Beitragsautoren das Thema aus Sicht von Forschung und Praxis gleichermaßen auf.

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Edition HMD

Susanne Robra-Bissantz Christoph Lattemann  Hrsg.

Digital Customer Experience Mit digitalen Diensten Kunden gewinnen und halten

Edition HMD Herausgegeben von: Hans-Peter Fröschle i.t-consult GmbH Stuttgart, Deutschland

Stefan Meinhardt SAP Deutschland SE & Co KG Walldorf, Deutschland

Knut Hildebrand Hochschule Weihenstephan-Triesdorf Freising, Deutschland

Stefan Reinheimer BIK GmbH Nürnberg, Deutschland

Josephine Hofmann Fraunhofer IAO Stuttgart, Deutschland

Susanne Robra-Bissantz TU Braunschweig Braunschweig, Deutschland

Matthias Knoll Hochschule Darmstadt Darmstadt, Deutschland

Susanne Strahringer TU Dresden Dresden, Deutschland

Andreas Meier University of Fribourg Fribourg, Schweiz

Die Fachbuchreihe „Edition HMD“ wird herausgegeben von Hans-Peter Fröschle, Prof. Dr. Knut Hildebrand, Dr. Josephine Hofmann, Prof. Dr. Matthias Knoll, Prof. Dr. Andreas Meier, Stefan Meinhardt, Dr. Stefan Reinheimer, Prof. Dr. Susanne Robra-Bissantz und Prof. Dr. Susanne Strahringer. Seit über 50 Jahren erscheint die Fachzeitschrift „HMD – Praxis der Wirtschaftsinformatik“ mit Schwerpunktausgaben zu aktuellen Themen. Erhältlich sind diese Publikationen im elektronischen Einzelbezug über SpringerLink und Springer Professional sowie in gedruckter Form im Abonnement. Die Reihe „Edition HMD“ greift ausgewählte Themen auf, bündelt passende Fachbeiträge aus den HMD-Schwerpunktausgaben und macht sie allen interessierten Lesern über online- und offline-Vertriebskanäle zugänglich. Jede Ausgabe eröffnet mit einem Geleitwort der Herausgeber, die eine Orientierung im Themenfeld geben und den Bogen über alle Beiträge spannen. Die ausgewählten Beiträge aus den HMD-Schwerpunktausgaben werden nach thematischen Gesichtspunkten neu zusammengestellt. Sie werden von den Autoren im Vorfeld überarbeitet, aktualisiert und bei Bedarf inhaltlich ergänzt, um den Anforderungen der rasanten fachlichen und technischen Entwicklung der Branche Rechnung zu tragen. Weitere Bände in dieser Reihe: http://www.springer.com/series/13850

Susanne Robra-Bissantz Christoph Lattemann Hrsg.

Digital Customer Experience Mit digitalen Diensten Kunden gewinnen und halten

Hrsg. Susanne Robra-Bissantz Institut für Wirtschaftsinformatik Technische Universität Braunschweig Braunschweig, Deutschland

Christoph Lattemann Department of Business and Economics Jacobs University Bremen, Deutschland

Das Herausgeberwerk basiert auf vollständig neuen Kapiteln und auf Beiträgen der Zeitschrift HMD – Praxis der Wirtschaftsinformatik, die entweder unverändert übernommen oder durch die Beitragsautoren überarbeitet wurden. Zudem basieren einzelne Kapitel auf Beiträgen des Tagungsbandes zur Multikonferenz Wirtschaftsinformatik (MKWI) 2018, die entweder unverändert übernommen oder durch die Beitragsautoren überarbeitet wurden.

ISSN 2366-1127     ISSN 2366-1135 (electronic) Edition HMD ISBN 978-3-658-22541-4    ISBN 978-3-658-22542-1 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Vieweg © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Vieweg ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Digital Customer Experience Die vorliegende Buch in der Reihe Edition HMD „Digital Customer Experience – Mit digitalen Diensten Kunden gewinnen und halten“ beschäftigt sich mit der digitalen Kundenbeziehung, die einen zentralen Baustein in der digitalen Transformation von Unternehmen darstellt. Die Digitalisierung ermöglicht es, bisher isolierte Kommunikationskanäle im Unternehmen zu verknüpfen und somit aktiv mit den Kunden auf verschiedensten Wegen in Kontakt zu treten. Hiermit kann sich ein Unternehmen ein umfassendes Bild des Kunden erschaffen und dieses für eine stärkere Kundenbindung nutzen. Denkt man diesen Perspektivwechsel in eine digitale, vernetzte Welt weiter, so führt das zwangsläufig zu der Erkenntnis, dass die Erstellung von wertvollen und werthaltigen (digitalen) Diensten für den Kunden nur gemeinsam mit dem Kunden erfolgen kann. Denn der Kunde kann selbst am besten seine Bedürfnisse definieren. Dies steht der traditionellen Marketingperspektive diametral entgegen, in der ein Kunde als passiver Rezipient gesehen wird. Ausgangspunkt der neuen Betrachtungsweise ist die „Digital Customer Experience“. Sie umfasst alles, was ein Kunde, unterstützt durch digitale Informationsverarbeitung und Vernetzung, im Kontakt zu einem Anbieter unterschiedlichster Produkte oder Leistungen, auf seiner Customer Journey, erfahren kann. Die Digitalisierung von Produkten, Dienstleistungen und Kundenschnittstellen stellt den Service-Gedanken in den Vordergrund. Hier findet die Digital Customer Experience ein konzeptionelles und theoretisches Pendant in der Service Dominant Logic. Der Gedanke, dass hinter jedem Produkt eine Dienstleistung steht, und dass jede Dienstleistung einen Wert für den Kunden erfüllt, rückt wiederum unweigerlich den Kundenwert in den Fokus. Entsprechend muss ein Unternehmen nicht wie bisher ausgehend vom Produkt denken, sondern an erster Stelle überlegen, wie und welche Werte es für den Kunden mit seinen Produkt-Dienstleistungsbündeln über die digitalen Kundenschnittstellen erfüllt. In diesem Kontext wurden in den letzten Jahren in der Forschung, wie auch in der Praxis, verschiedenste Strömungen, wie beispielsweise die Customer Integration, neue Ansätze der Partizipation, digitale Kontrollpunkte, Produkt-Service-Systeme und Cyber-Physical Systems, Service-Ökosysteme und agile Vorgehensweisen des V

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Service-Designs und -Engineerings mit Gamification-Ansätzen entwickelt, die auf neuen ökonomischen Ansätzen, wie dem Crowdsourcing, der Co-Creation oder der Sharing Economy basieren, und somit den oben genannten ­Perspektivwechsel unterstützen. Diese beispielhaften Schlagworte beschreiben, wie Kunden heute an digitalen Schnittstellen partizipieren und was sie erleben können. Die Sharing Economy zeigt zum Beispiel mit Uber und AirBnB die Potenziale in der Praxis auf. Eine Vielzahl weiterer Lösungen und Konzepte finden sich in der Praxis und werden derzeit in der Forschung entwickelt. Angeregt durch eine Vielzahl von Gesprächen mit Praktikern, durch den Erfolg von Workshops und Konferenzen zum Thema und durch unsere Erkenntnisse in der Forschung haben wir das dringende Bedürfnis verspürt, dieses Thema weiter zu tragen. Die äußerst positive Resonanz auf das HMD Sonderheft „Digital Customer Experience“ und auf die Teilkonferenz der MKWI „Der Kunde in der Digitalen Transformation  – Creating Customer Values“ in Lüneburg 2018 bestätigt unsere Einschätzung, dass das Thema Digital Customer Experience nicht nur ein Hype, sondern ein nachhaltig theoretisch fundiertes Konzept ist, das seine Realisierung in der Praxis findet. In diesem Buch werden offene Fragen zur Gestaltung der digitalen Customer Experience, zu bestehenden Best Practices und deren Übertragbarkeit und Allgemeingültigkeit sowie zu methodischen Ansätzen der notwendigen Transformation von Organisationen als Reaktion auf den Paradigmenwechsel von einer Markt-­ Produkt-­Perspektive hin zu einer Dienstleistungs-Kunden-Perspektive thematisiert. Zukunftsweisende und vielversprechende Konzepte der digitalen Kundenbeziehung, die auf Crowdsourcing und Social-Media-Strategien, mobile Lösungen und Geschäftsmodellinnovationen sowie auf Augmented Reality zurückgreifen, werden beschrieben. Im ersten, einführenden Beitrag stellen die Herausgeber dieses Sammelbandes ihre grundlegende Perspektive auf die Customer Experience anhand von sieben illustrativen Regeln dar, die insbesondere die zwingende Notwendigkeit aufzeigt, digitale Innovationen immer von der Kundenperspektive und deren Bedürfnissen her zu denken. Das hier aufgezeigte Gedankengebäude, das den Kunden mit seinen Werten in den Mittelpunkt rückt und auf die Service Dominant Logic fußt, bildet einen guten Überblick und Einstieg in die Themen der folgenden Beiträge. Der folgende, zweite Teil umfasst sechs Beiträge, die jeweils aus ihren Perspektiven Rahmenbedingungen, Gestaltungskonzepte und das Design einer Customer Experience darstellen. Hierbei wird sowohl auf B2B- als auch auf B2C-­Beziehungen referenziert. Beitrag 2 stellt kritische Erfolgsfaktoren für die Einführung von intelligenten Dienstleistungen (aka Smart Services) in bestehenden Geschäftsumgebungen dar. Hierbei wird insbesondere auf die Bedeutung der Generierung von Kundenmehrwerten verwiesen. Erfolgsfaktoren werden aus der Literatur extrahiert und mittels Experten aus der Praxis bewertet und ergänzt. In Beitrag 3 wird auf Einkaufs- und Serviceerlebnisse abgehoben, die KMU mithilfe eines intelligenten Omni-Channel-Ansatzes im Verkauf- und im Service-­ Bereich für ihre B2B-Kunden generieren können. Ein Omni-Channel-Ansatz führt

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Unternehmen dazu, zwingend eine Kundenperspektive einzunehmen, um ein konsistentes Erlebnis für den Kunden über alle Kanäle und Berührungspunkte hinweg zu bieten. Im vorliegenden Beitrag werden hierzu Erkenntnisse von Vertretern der Telekommunikationsindustrie herangezogen, um ein funktionales Referenzmodell für KMU abzuleiten. Die Idee des bereits in Beitrag 3 aufgeworfene Omni-Channel-Ansatzes wird in Beitrag 4 aufgegriffen und von einer technischen Perspektive beleuchtet. Kundenerfahrungen im Omni-Channel-Kontext, die Kunden über ihre Customer Journey (Marketing-Perspektive) erleben, werden im vorliegenden Beitrag über Customer Touch Points in eine technische Perspektive überführt. Aus der Verbindung der Marketing-­basierten Perspektive der Customer Journey und der technisch basierten Perspektive der Customer Touch Points wird im Beitrag ein Entity-Relationship­Modell formuliert, um aufzuzeigen, wie in einem Unternehmen das Omni-Channel-­ Marketing-­Konzept effizient durch IT unterstützt werden kann. Beitrag 5 führt die im Beitrag 4 aufgezeigte Notwendigkeit der Zusammenarbeit verschiedener Bereiche in einem Unternehmen (z. B. Marketing und IT), um eine angemessene produktbezogene User Experience für den Kunden zu ermöglichen, weiter aus. Grundlage der Überlegungen ist, dass für interaktive Produkte die User Experience ein wichtiges Mittel ist, um die emotionale Beziehung zwischen Kunde und Produkt zu verbessern. Um die User Experience erfolgreich in Produkten umzusetzen, müssen Unternehmen organisationale Gestaltungskompetenzen aufbauen. Die Autoren zeigen einen Weg zur Evaluation dieser organisationalen Gestaltungskompetenz auf. Eine solche Evaluation ermöglicht es Unternehmen, Handlungsfelder zur Verbesserung der organisationalen User-Experience-Kompetenz zu identifizieren. Beitrag 6 nimmt Videospiele-Anbieter, und hier die Plattform Steam, als Ausgangspunkt, um die Digital Customer Experience näher zu analysieren. Basierend auf der Analyse werden Handlungsempfehlungen für die Gestaltung der Digital Customer Experience abgeleitet, die für Unternehmen in traditionellen Branchen anwendbar sind. Diese werden anschließend in der Automobilbranche, bei TV-Streaming-Anbietern und anhand einer Plattform für Autoreparaturen beispielhaft illustriert. Beitrag 7 gibt Empfehlungen für die Gestaltung von interaktiven Informationsmanagement-Tools in Online Shops. Informationsmanagement-Tools ermöglichen es Käufern durch Filtern, Sortieren oder Vergleichen das Informationsangebot zu steuern. Für die vorliegende Untersuchung wurden die 100 umsatzstärksten Online Shops in Nordamerika analysiert. Es wird aufgezeigt, dass bei der Gestaltung der Tools generell Verbesserungspotenziale bestehen. Während der zweite Teil User-Experience-Aspekte aus einer breiten, branchenübergreifenden Perspektive behandelt, werden im dritten Teil des Buches User-Experience-Konzepte für den stationären Einzelhandel dargestellt. Wir räumen dem stationären Einzelhandel einen derart besonderen Platz ein, da er an einem Scheideweg steht. Denn die klassischen Marketingkonzepte scheinen nicht mehr auszureichen, um Kunden zu binden. Omni- und Multi-Channel-Ansätze bieten Lösungsansätze.

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Die Beiträge 8 bis 11 zeigen interaktive, händler- und kundenübergreifende Multi-Channel-Konzepte auf, die neue digitale Technologien berücksichtigen, um das Einkaufserlebnis für Kunden in Innenstädten attraktiver zu machen. Beitrag 8 skizziert hierzu den Gestaltungsansatz eines digitalen innerstädtischen Marktplatzes, der mithilfe von Beacons und W-LAN das lokale Einkaufserlebnis ergänzt. Ein solches Konzept ermöglicht es Einzelhändlern zusammen mit den Kunden, mittels eines Co-Creation-Ansatzes, wertvolle digitale kundenseitige Einkaufserlebnisse zu generieren. Beitrag 9 konzeptualisiert dieses digitale Einkaufserlebnis und stellt, als Fortführung des vorhergehenden Beitrags, acht Design-Prinzipen für kontextualisierte und digitalisierte Services für den stationären Einzelhandel auf derartigen digitalen Marktplätzen dar. Beitrag 10 beschäftigt sich damit, wie mit Mobilgeräten und Public Displays im stationären Handel Mehrwerte für Kunden durch personalisierte Angebote generiert werden können. Dabei werden innovative Konzepte vorgestellt, in denen Mobilgeräte und Kleidungsstücke intelligent im Sinne von cyber-physischen Systemen kombiniert sind. Beitrag 11 zeigt auf, wie man Multi-Channel-Strategien intelligent mit Gamification-Elementen anreichert, um Kunden über mobile Anwendungen in stationäre Ladengeschäfte umzuleiten. Die Technologie-Akzeptanz der aufgezeigten gamifizierten Lösung ist mittels ­einer Online-­Umfrage geprüft. In Beitrag 12 stellen die Autoren vor, wie die Kundenwahrnehmung von Kauferlebnissen im stationären Einzelhandel mit location-based Crowdsourcing und Geofencing gemessen werden kann. Hierzu führen die Autoren ein innovatives Konzept mit unterschiedlichen Design-Optionen ein. An einem Fallbeispiel werden erste Erfahrungen mit den unterschiedlichen Designs erläutert und Handlungsempfehlungen aufgezeigt. Beitrag 13 beschäftigt sich nicht mehr mit innerstädtischen Problemen, sondern mit dem zunehmenden Problem der Nahversorgung im ländlichen Raum. Der Bevölkerungsrückgang in ländlichen, strukturschwachen Regionen und der demografische Wandel führen zu einer Ausdünnung der Angebote von Produkten und Dienstleistungen in ländlichen Kommunen. In diesem Kontext präsentiert dieser Beitrag ein Konzept, in dem der traditionelle Dorfladen über seine Neugestaltung zum zentralen (Social-)Hub der Region wird. Der vierte Teil des Buches zeigt auf, wie smarte und mobile Lösungen dazu beitragen, dass Produkte und Dienstleistungen in einer neuen Art und Weise vom Nutzer erlebt werden. Hierzu werden in Beitrag 14 Smart-Glasses-basierte Systeme vorgestellt, die nutzerbasierte Self-Services ermöglichen. Der Beitrag stellt Design-Prinzipien für eine nutzerfreundliche Gestaltung solcher Systeme vor. Beitrag 15 beschäftigt sich mit der intelligenten Anwendung von Augmented Reality für komplexe, technische Dokumentation im B2B-Bereich. Im dargestellten Beispiel wird deutlich, wie neue, interaktive Technologien beratungsintensive Produkt-Dienstleistungsbündel von Unternehmen für Nutzer erlebbar machen und damit neue Geschäftsmodelle ermöglichen. Beitrag 16 führt die Idee der erfahrungsbasierten Dienstleistung weiter aus und stellt eine Virtual-Reality-Lösung dar. Im konkreten Fall wird, für viele andere Bereiche exemplarisch, eine 360°-Panorama-­Lösung für den Garten- und Landschaftsbau dargestellt, bei der die Autonomie des Kunden im Kaufprozess von ortsgebundenen und

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b­ eratungsintensiven Gütern und Dienstleistungen gesteigert wird. Die aufgezeigte, immersive 360°-Panorama-­Planung von Projekten verbessert die Entscheidungsfindung. Im letzten und fünften Teil des Buches werden soziale und kooperative ­Lösungsansätze aufgezeigt, die eine Digital Customer Experience positiv beeinflussen. Im Beitrag 17 wird ein Vorgehensmodell für kleine und mittelgroße Unternehmen zur Entwicklung einer markenkonformen Social-Media-Strategie aufgezeigt. Ansätze und Methoden der klassischen Strategieentwicklung sowie aus dem Marken- und Medienmanagement ergeben in ihrer Kombination einen Baukasten, mit dem ausgehend von der Marke systematisch eine dazu passende Social-Media-Strategie entwickelt und umgesetzt werden kann. Die Beiträge 18 bis 20 beschäftigen sich mit innovativen Crowd-, Co-Creationund Sharing-Konzepten. In den Beiträgen wird aufgezeigt, wie verschiedenste Stakeholder-­Gruppen, wie Kunden oder Mitarbeiter (Fokus: Crowd), zusammen mit einem Unternehmen gemeinsam Werte entwickeln (Co-Creation) und austauschen (Sharing) können. Beitrag 18 stellt in diesem Kontext eine innovative, iterative Crowdsourcing-Methode zur Unterstützung der Unternehmensentwicklung sowie der Gestaltung von Geschäftsmodellen dar. Implizit wird hier also nicht nur der Kunde als Stakeholder adressiert, sondern es wird im Sinne der Co-Creation auch auf die eigenen Mitarbeiter abgestellt. In Beitrag 19 wird eine neue Form der digitalen Wertschöpfung durch Crowd Services vorgestellt, die die Ansätze der Plattform-Ökonomie und der Sharing Economy aufgreift. Anhand eines Fallbeispiels wird dargestellt, wie Unternehmen eine Vielzahl von Leistungserbringern für die Wertschöpfung einsetzen, ihren Kundensupport mit den Ansätzen der Sharing Economy ausbauen und damit Vorteile für alle Beteiligten generieren können. Handlungsempfehlungen für Unternehmen werden abgeleitet. Im letzten Beitrag wird analysiert, welchen Beitrag ein Sharing-Economy-Konzept zur nachhaltigen Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien, im Speziellen von Mobilfunkgeräten, leisten kann. Der Beitrag kommt zu dem Schluss, dass sich Sharing-Economy-Geschäftsmodelle insbesondere für hochpreisige, kurzzeitig genutzte mobile Systeme eignen. Liebe Leserinnen und Leser, wir hoffen auf eine offene, anregende und kritische Diskussion, die zur Weiterentwicklung des Themas beiträgt. Prof. Dr. Susanne Robra-Bissantz Prof. Dr. Christoph Lattemann

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Teil I  Grundlagen und Perspektiven 1 7 Rules of Attraction – Mit kundenorientierten Diensten erfolgreich in der Digitalen Transformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   3 Susanne Robra-Bissantz und Christoph Lattemann 1.1 Einleitung und Motivation ����������������������������������������������������������������   4 1.2 Service Dominant Logic zur Analyse der digitalen Transformation ������   4 1.3 Seven Rules of Attraction ������������������������������������������������������������������   6 1.4 Fazit����������������������������������������������������������������������������������������������������  20 Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������  21 Teil II  Design und Rahmenbedingungen 2 Kritische Erfolgsfaktoren für die Einführung von Smart Services: Eine Anbietersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  25 Sonja Dreyer, Jan Zeren, Benedikt Lebek und Michael H. Breitner 2.1 Einleitung ������������������������������������������������������������������������������������������  26 2.2 Forschungsvorgehen ��������������������������������������������������������������������������  27 2.3 Kritische Erfolgsfaktoren für die Einführung von Smart Services ��������  28 2.4 Limitationen und zukünftige Forschung��������������������������������������������  35 2.5 Fazit����������������������������������������������������������������������������������������������������  37 Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������  37 3 Konstruktion eines Omni-Channel-Frameworks für Sales & Service in KMU in der B2B-Telekommunikationsindustrie . . . . . . . . .  39 Robert Heidekrüger, Markus Heuchert, Nico Clever und Jörg Becker 3.1 Motivation ������������������������������������������������������������������������������������������  39 3.2 Forschungshintergrund ����������������������������������������������������������������������  41 3.3 Forschungsvorgehen ��������������������������������������������������������������������������  42 3.4 Analyse der Kundenkommunikationskanäle��������������������������������������  43 3.5 Design des Omni-Channel-Frameworks��������������������������������������������  47 3.6 Demonstration des Omni-Channel-Frameworks��������������������������������  50 3.7 Diskussion ������������������������������������������������������������������������������������������  51 Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������  51 XI

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4 Entwicklung eines Entity-Relationship-Modells und eines Verknüpfungskonzeptes – eine Betrachtung des Omni-Channel-Managements aus einer Information Systems-Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  53 Markus Heuchert, Benjamin Barann, Ann-Kristin Cordes und Jörg Becker 4.1 Einleitung��������������������������������������������������������������������������������������������  54 4.2 Theoretische Grundlagen��������������������������������������������������������������������  55 4.3 Customer Experience Management Entity-Relationship-Modell������  57 4.4 Omni-Channel-Verknüpfungskonzept������������������������������������������������  59 4.5 Fazit und Ausblick������������������������������������������������������������������������������  64 Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������  65 5 Evaluation der organisationalen UX-Gestaltungskompetenz . . . . . . . .  69 Dominique Winter und Gunnar Stevens 5.1 Einleitung��������������������������������������������������������������������������������������������  70 5.2 Organisationale UX-Gestaltungskompetenz��������������������������������������  70 5.3 Evaluation der UX-Gestaltungskompetenz����������������������������������������  72 5.4 Auswertung ����������������������������������������������������������������������������������������  76 5.5 Limitationen����������������������������������������������������������������������������������������  77 5.6 Fazit����������������������������������������������������������������������������������������������������  78 Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������  79 6 Was Unternehmen von der Videospieleplattform Steam für die Gestaltung der Digital Customer Experience lernen können. . . . . . . . .  81 Benjamin Spottke 6.1 Einleitung und Motivation������������������������������������������������������������������  82 6.2 Steam als führende Plattform der Videospieleindustrie����������������������  83 6.3 Datenerhebung und Analyse ��������������������������������������������������������������  84 6.4 Gestaltungsebenen digitaler Plattformen und ihre Bedeutung für die Digital Customer Experience bei Steam ��������������������������������  85 6.5 Illustration der Handlungsempfehlungen in Automobil-, Unterhaltungs- und Versicherungsbranche ����������������������������������������  90 6.6 Zusammenfassung und Ausblick��������������������������������������������������������  93 Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������  94 7 Interaktive Informationsmanagement-­Tools in Online Shops: Studienergebnisse und Gestaltungsempfehlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . .  95 Thomas Groissberger und René Riedl 7.1 Problembeschreibung��������������������������������������������������������������������������  96 7.2 Interaktive Informationsmanagement-Tools (IIMT)��������������������������  98 7.3 Analyse der 100 umsatzstärksten Online Shops ��������������������������������  98 7.4 Fazit���������������������������������������������������������������������������������������������������� 103 Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 105

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Teil III  Konzepte für den stationären Einzelhandel 8 Interaktive, digitale Einkaufserlebnisse in Innenstädten. . . . . . . . . . . . 109 Jan H. Betzing, Daniel Beverungen, Jörg Becker, Martin Matzner, Gertrud Schmitz, Christian Bartelheimer, Ingo Berendes, Marina Braun, Andera Gadeib, Moritz von Hoffen und Christian Schallenberg 8.1 Einkaufserlebnisse in Innenstädten im Wandel���������������������������������� 110 8.2 Digitale Technologien für den Einzelhandel�������������������������������������� 112 8.3 Digitale Einkaufserlebnisse���������������������������������������������������������������� 114 8.4 Der innerstädtische Marktplatz als mobile Plattform ������������������������ 117 8.5 Zusammenfassung und Ausblick�������������������������������������������������������� 119 Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 121 9 Gestaltungsprinzipien für mobile, kontextbezogene Dienste zur Ko-­Kreation digitaler Einkaufserlebnisse im Einzelhandel. . . . . . . . . . 123 Jan H. Betzing, Daniel Beverungen und Jörg Becker 9.1 Motivation ������������������������������������������������������������������������������������������ 124 9.2 Theoretische Grundlagen ������������������������������������������������������������������ 125 9.3 Der Einfluss mobiler Technologien auf die Entstehung digitaler Einkaufserlebnisse im Einzelhandel �������������������������������������������������� 127 9.4 Gestaltungsprinzipien für mobile, kontextbezogene Dienstleistungen zur Ko-Kreation digitaler Einkaufserlebnisse�������� 133 9.5 Fazit���������������������������������������������������������������������������������������������������� 136 Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 137 10 Interaktive Customer Experience mit mobilen und öffentlichen Systemen im stationären Handel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Ellen Wieland, Sarah Hausmann, Frank Lamack und Thomas Schlegel 10.1 Motivation und Einführung�������������������������������������������������������������� 140 10.2 Verwandte Arbeiten �������������������������������������������������������������������������� 141 10.3 Studie: Nutzertypen und persönliche Daten ������������������������������������ 142 10.4 Realisierung: Information und Interaktion �������������������������������������� 144 10.5 Evaluation ���������������������������������������������������������������������������������������� 148 10.6 Diskussion und Ausblick������������������������������������������������������������������ 149 Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 150 11 Spielerisch lockt der Einzelhandel den Kunden – Einfluss von Belohnungen auf die Kanalwahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Alina Stein, Linda Eckardt und Susanne Robra-Bissantz 11.1 Motivation und Zielsetzung�������������������������������������������������������������� 154 11.2 Theoretische Grundlagen ���������������������������������������������������������������� 155 11.3 Empirische Untersuchung���������������������������������������������������������������� 158 11.4 Zusammenfassung und Ausblick������������������������������������������������������ 163 Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 165

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12 Messung der Customer Experience im Ladengeschäft mit Location-based Crowdsourcing und Geofencing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Carolin Durst, Janine Hacker und Theresa Berthelmann 12.1 Herausforderungen bei der Messung von Customer Experience im Ladengeschäft ���������������������������������������������������������������������������� 168 12.2 Customer-Experience-Messung im Ladengeschäft �������������������������� 169 12.3 Location-based Crowdsourcing und Geofencing ���������������������������� 171 12.4 Customer-Experience-Messung mittels Location-based Crowdsourcing und Geofencing ������������������������������������������������������ 174 12.5 Fallstudie mit Streetspotr������������������������������������������������������������������ 175 12.6 Fazit�������������������������������������������������������������������������������������������������� 178 Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 179 13 Digitale Transformation ländlicher Versorgungsstrukturen durch Partizipation der Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Pascal Meier, Jan Heinrich Beinke und Frank Teuteberg 13.1 Einleitung ���������������������������������������������������������������������������������������� 182 13.2 Aktuelle Digitalisierungsprojekte der Nahversorgung im ländlichen Raum ������������������������������������������������������������������������������ 183 13.3 Partizipative Entwicklung digitaler Nahversorgungsstrukturen am Beispiel der Gemeinde Ohne������������������������������������������������������ 185 13.4 Implikationen und Diskussion���������������������������������������������������������� 191 13.5 Fazit und Ausblick���������������������������������������������������������������������������� 192 Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 193 Teil IV  Mobil und smart: Wearables, mobile Applikationen, AR/VR 14 Der Kunde als Dienstleister in der Supply Chain: Akzeptanz und Gebrauchstauglichkeit von Smart-Glasses-Systemen im Self-Service . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Sebastian Werning, Lisa Berkemeier, Benedikt Zobel, Ingmar Ickerott und Oliver Thomas 14.1 Smart Glasses als Self-Service-Technologie������������������������������������ 198 14.2 Aufbau und Vorgehen der Untersuchung������������������������������������������ 199 14.3 Auswertung der Akzeptanz und Usability���������������������������������������� 202 14.4 Resultierende Handlungsfelder�������������������������������������������������������� 205 14.5 Potenziale und Anwendungsmöglichkeiten entlang der Supply Chain������������������������������������������������������������������������������������ 207 14.6 Diskussion und Ausblick������������������������������������������������������������������ 208 Anhang�������������������������������������������������������������������������������������������������������� 209 Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 211

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15 Augmented Documentation – Technische Innovation in den Praxisalltag implementieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Christopher Rechtien und Beke Redlich 15.1 Einleitung ���������������������������������������������������������������������������������������� 214 15.2 Theoretische Grundlagen ���������������������������������������������������������������� 215 15.3 Methodischer Ansatz ������������������������������������������������������������������������ 216 15.4 Testergebnisse ���������������������������������������������������������������������������������� 221 15.5 Diskussion���������������������������������������������������������������������������������������� 222 15.6 Zusammenfassung und Ausblick������������������������������������������������������ 223 Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 223 16 Kundennutzen von VR-basierten 360°-Panoramen für den Erwerb beratungsintensiver Güter und Dienstleistungen: Eine Case Study im Garten- und Landschaftsbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Florian Remark, Lisa Berkemeier und Oliver Thomas 16.1 Einleitung ���������������������������������������������������������������������������������������� 226 16.2 Einordnung in die Wirtschaftsinformatik ���������������������������������������� 227 16.3 Beschreibung der Case Study ���������������������������������������������������������� 228 16.4 Prozessanalyse und Identifikation von Einsatzszenarien ���������������� 229 16.5 Konzeption des Prototyps ���������������������������������������������������������������� 232 16.6 Evaluation ���������������������������������������������������������������������������������������� 233 16.7 Zusammenfassung und Ausblick������������������������������������������������������ 236 Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 236 Teil V Sozial und kooperativ: Social-Media-­Strategien, Crowd Sourcing/Crowd Services, Sharing Economy 17 Markenkonforme Social-Media-Strategie für kleine und mittelgroße Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Christian Bauer und Philipp Bensmann 17.1 Herausforderungen: Social Media und Markenkommunikation�������� 242 17.2 Praxisbeispiel: Social Media bei Viva con Agua de Sankt Pauli e.V. ������������������������������������������������������������������������������������������ 242 17.3 Vorgehensmodell������������������������������������������������������������������������������ 243 17.4 Ausgewählte Methoden der strategischen Ebene ���������������������������� 246 17.5 Zukunftsperspektiven ���������������������������������������������������������������������� 252 Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 252 18 Systematische Unternehmensentwicklung und Geschäftsmodellinnovation durch die Integration kollektiver Intelligenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Oliver Christ, Michael Czarniecki, Lukas Andreas Scherer und Ivo Blohm 18.1 Einleitung ���������������������������������������������������������������������������������������� 256 18.2 Crowdsourcing – Potenziale und Grenzen Kollektiver Intelligenz ���������������������������������������������������������������������������������������� 257

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Inhaltsverzeichnis

18.3 Crowdsourcing für die Geschäftsmodellinnovation und Unternehmensentwicklung �������������������������������������������������������������� 258 18.4 Die BeeUp-Methode ������������������������������������������������������������������������ 261 18.5 Konventionelles versus iteratives Crowdsourcing ���������������������������� 264 18.6 Zwei Fallbeispiele���������������������������������������������������������������������������� 267 18.7 Zusammenfassung���������������������������������������������������������������������������� 268 Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 269 19 Digitale Wertschöpfung durch Crowd Services: Neue Formen des Kundensupports am Beispiel Mila und Swisscom . . . . . . . . . . . . . . 271 Volkmar Mrass und Christoph Peters 19.1 Einführung���������������������������������������������������������������������������������������� 272 19.2 Neue Formen des Kundensupports �������������������������������������������������� 273 19.3 Analyse des Arbeitssystems ������������������������������������������������������������ 274 19.4 Crowd Kundensupport: Vor- und Nachteile der Nutzung ���������������� 276 19.5 Fazit und Diskussion ������������������������������������������������������������������������ 279 Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 282 20 Nachhaltiger IKT-Konsum durch Sharing Economy? Eine multimethodische Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Rikka Wittstock, Danielle Warnecke und Frank Teuteberg 20.1 Einleitung ���������������������������������������������������������������������������������������� 284 20.2 Forschungsmethodik ������������������������������������������������������������������������ 285 20.3 Ergebnisse ���������������������������������������������������������������������������������������� 289 20.4 Synthese und Diskussion������������������������������������������������������������������ 293 20.5 Fazit�������������������������������������������������������������������������������������������������� 294 Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 295 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

Die Autoren

Benjamin  Barann  ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Informationsmanagement der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster, der Teil des European Research Center for Information Systems (ERCIS) ist. Er hat seinen Bachelor of Science in Wirtschaftsinformatik und anschließend seinen Master of Science in Information Systems mit Auszeichnung an der Universität Münster absolviert. Aktuell forscht er im Bereich der Digitalen Transformation des Handels mit einem Schwerpunkt auf digitalen und datengetriebenen Geschäftsmodellen und der Digitalisierung von Kundenkontaktpunkten im Omni-Channel. Christian Bartelheimer  absolvierte von 2010 bis 2014 ein duales Studium im Bereich Business Administration & IT und studierte von 2014 bis 2016 Management Information Systems an der Universität Paderborn. Seit Oktober 2016 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik, insb. Betriebliche Informationssysteme an der Universität Paderborn. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Geschäftsprozessmanagement, Digitale Dienstleistungen und Digitale Transformation. Prof. Dr. Christian Bauer  lehrt und forscht im Bereich Organisation und Wirtschaftsinformatik an der Fakultät Wirtschaftswissenschaften der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt. Schwerpunkte seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit sind wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fragestellungen der Gestaltung digitaler Organisations-, Geschäfts- und Lebensmodelle. Er ist Leiter des Digital Business Labs der Fakultät, Gründungspromotor und selbst Unternehmer im Digital Business. Prof. Dr. Dr. h.c. Dr. h.c. Jörg Becker  ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Wirtschaftsinformatik der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster, Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsinformatik und Informationsmanagement am Institut für Wirtschaftsinformatik und akademischer Direktor des European Research Center for Information Systems (ERCIS). Er ist Sprecher des

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Die Autoren

WWU Centrum Europa und Herausgeber mehrerer wissenschaftlicher Zeitschriften. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Informationsmodellierung, die Hybride Wertschöpfung, das Geschäftsprozessmanagement, E-Government und Handelsinformationssysteme. Jan  Heinrich  Beinke  studierte Wirtschaftsinformatik an der Universität Osnabrück und ist seit 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet für Unternehmensrechnung und Wirtschaftsinformatik. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der Gestaltung der digitalen Transformation, Multi-sided Platforms, Blockchain und Kryptowährungen. Philipp  Bensmann  studierte an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt Marken- und Medienmanagement (M3ve) und schloss mit der Masterthesis zum Thema „Social-Media-Strategie“ ab. Er ist bei der EMP HGmbH, einem marktführenden, deutschen E-Commerce-Unternehmen, im Bereich Social-Media-Marketing mit Fokus Facebook Advertising tätig und lehrt in Würzburg im Bereich „Online und Mobile Marketing“. Als Co-Gründer der Craftbier-­Marke „Brew Dudes“ ist er zudem für den Vertrieb und die Kommunikation des Start-ups zuständig. Ingo Berendes  studierte von 2007 bis 2013 Betriebswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth und von 2014 bis 2016 Wirtschaftsinformatik an der Universität Paderborn. Seit Oktober 2016 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik, insb. Betriebliche Informationssysteme an der Universität Paderborn. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen In-Memory-Datenhaltung, Mobile ERP und Location-based Services. Lisa Berkemeier  ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Informationsmanagement und Wirtschaftsinformatik an der Universität Osnabrück. Neben ihrer Tätigkeit im Projekt Glasshouse erforscht sie die Entwicklung und User Experience von tragbaren und mobilen Informationssystemen. Ihre aktuellen Forschungsinte­ ressen liegen im Bereich Akzeptanz und Adoption von Smart Glasses. Theresa Berthelmann  hat International Business Studies an der Universität Paderborn und an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg studiert. Derzeit arbeitet sie als Analystin für die Statista GmbH in Hamburg und ist unter anderem für Marktrecherche, Marktbeobachtung und Marktprognosen für Digitale Märkte verantwortlich. Sie ist Expertin für Datenbankentwicklung und Prozessoptimierung sowie für den Markt Digitale Medien innerhalb des Statista Digital Market Outlook. Jan H. Betzing  studierte von 2010 bis 2015 Wirtschaftsinformatik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und ist seit 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und dem European Research Center for Information Systems (ERCIS). Seine Forschungsschwerpunkte

Die Autoren

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umfassen die Gestaltung und Implementierung standortbezogener, kontext-adaptiver Dienstleistungen und Informationssysteme. Prof. Dr. Daniel Beverungen  ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsinformatik, insb. Betriebliche Informationssysteme, an der Universität Paderborn. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Dienstleistungsforschung, das Geschäftsprozessmanagement, die Informationsmodellierung sowie die Gestaltung betrieblicher Informationssysteme. Er ist Mitherausgeber der Fachzeitschrift Business & Information Systems Engineering (BISE) und Mitglied im Editorial Board des Journal of Business Research (JBR). Er ist der amtierende Präsident der Special Interest Group on Services (SIGSVC) in der Association for Information Systems (AIS) und leitet das Service Science Competence Center am European Research Center for Information Systems (ERCIS). Prof. Dr. Ivo Blohm  ist Assistenzprofessor für Data Science und Management am Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität St. Gallen, wo er auch das Competence Center Crowdsourcing leitet. Er studierte Technologie- und Managementorientierte Betriebswirtschaftslehre an der Technischen Universität München, wo er auch im Bereich Wirtschaftsinformatik promovierte. Seine Forschungsinteressen umfassen Crowdsourcing und Crowdfunding, Big Data und Data Science sowie die Internetökonomie. Marina Braun  ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Dienstleistungsmanagement und Handel an der Fakultät für Betriebswirtschaftslehre, Mercator School of Management der Universität Duisburg-Essen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind das Kundenverhalten in Innenstädten sowie die kundenseitige Bewertung und Nutzung standortbezogener Dienstleistungen des innerstädtischen Einzelhandels. Prof. Dr. Michael H. Breitner  ist Direktor am Institut für Wirtschaftsinformatik der Leibniz Universität Hannover. Seine Forschung konzentriert sich auf Operations Research, Digitalisierung, künstliche Intelligenz, Big Data Analytics, erneuerbare Energien sowie Industrie 4.0 in Theorie und Praxis. Dr. Oliver Christ  ist Dozent und Forscher am Institut für Qualitätsmanagement und Angewandte Betriebswirtschaft an der Fachhochschule St. Gallen. Nach seinem Betriebswirtschaftsstudium arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität St. Gallen und promovierte 2001 im Bereich Informationsmanagement. Nach einer zweijährigen akademischen PostDoc-Tätigkeit im Bereich Internet of Things war er zehn Jahre lang bei SAP tätig. Zuerst als Assistent des CEO und ab 2006 als Forschungsleiter SAP Schweiz. Dr. Nico Clever  ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und PostDoc am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Informationsmanagement am Institut für Wirtschaftsinformatik der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster. Er hat einen Masterabschluss in Information Systems der WWU Münster und hat sich in seiner

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Dissertation mit der ganzheitlichen Konstruktion und Anwendung des Prozessmodellierungswerkzeugs icebricks beschäftigt. Weitere Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Compliance Management, Datenmanagement, Business Intelligence, Software Engineering und Testmanagement. Dr. Ann-Kristin Cordes  ist PostDoc am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Informationsmanagement der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster. Ihre Promotion hat sie am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Logistik der WWU Münster zu dem Thema „Prozesse, Prognose und Planung in Ersatzteil-­ Supply-­Chains für die zustandsorientierte Instandhaltung“ abgeschlossen. Ihre aktuelle Forschung befasst sich mit der Digitalisierung von Prozessen im Handel mit den Schwerpunkten auf das Geschäftsprozessmanagement und quantitative Methoden im Handel. Michael Czarniecki  ist Dozent und Projektleiter am Institut für Qualitätsmanagement und Angewandte Betriebswirtschaft an der Fachhochschule St. Gallen. Er arbeitet an Projekten zu unterschiedlichen Themen für private und öffentliche Institutionen im In- und Ausland. Herr Czarniecki ist seit 2001 Mitgründer und Mitglied der Geschäftsleitung der Solid Chemicals GmbH und war von 2007 bis 2011 deren Geschäftsführer. Zudem ist er Mitbegründer der Firma BeeUp GmbH. Sonja  Dreyer  ist Doktorandin an der Leibniz Universität Hannover am Institut für Wirtschaftsinformatik. Ihre Forschung konzentriert sich auf Dienstleistungen und innovative Geschäftsmodelle in Bezug auf Industrie 4.0 und das Internet der Dinge. Prof. Dr. Carolin Durst  ist Professorin für Digitales Marketing an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Ansbach. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der Analyse und der Gestaltung von soziotechnischen Systemen und der Digitalisierung von Innovationsmethoden. Als Scientific Director der ITONICS GmbH begleitet Carolin Durst Methoden- und Produktentwicklung der Innovation Software Suite. Linda Eckardt  hat im Bachelor Wirtschaftsingenieurwesen an der Brandenburgischen Technischen Universität und im Master Wirtschaftsinformatik an der Technischen Universität Braunschweig studiert. Seit November 2014 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Informationsmanagement. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit dem Design und den Auswirkungen von Gamification-Anwendungen und Serious Games. Andera  Gadeib  ist Digital-Visionärin, Vollblut-Entrepreneurin (Dialego, SmartMunk, lets-balance.de) und dreifache Mutter. Sie ist seit vielen Jahren etablierte Expertin in den Themen Digitalisierung und Künstliche Intelligenz und berät Blue Chip-Unternehmen genauso wie öffentliche Institutionen.

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Thomas  Groissberger  BA MSc hat einen Bachelorabschluss in Marketing und Electronic Business (FH Oberösterreich) und einen Masterabschluss in Digital Business Management (gemeinsames Studium der Universität Linz und der FH ­Oberösterreich). Er arbeitet aktuell als Digital Marketing Consultant bei der traffic3 GmbH in Wien. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Interaktive Entscheidungshilfen sowie Gestaltung einer optimalen Customer Journey. Dr. Janine  Hacker  ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik, insbes. im Dienstleistungsbereich an der Friedrich-­Alexander-­ Universität Erlangen-Nürnberg. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Enterprise Social Software, Wissensmanagement und virtuellen Teams. Sarah Hausmann  arbeitet seit Mai 2016 als akademische Mitarbeiterin am Institut für Ubiquitäre Mobilitätssysteme (IUMS) der Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der Usable Privacy sowie Privacy Awareness und der Mensch-Computer-Interaktion. Im Dezember 2015 schloss sie ihr Studium der Medieninformatik an der TU Dresden ab. Hier beschäftigte sie sich bereits mit Usability-Aspekten der Privacy für mobile Geräte, sowie mit Kontextmodellierung und verteilten Systemen. Robert Heidekrüger  studierte Wirtschaftsinformatik und Information Systems an der WWU Münster und arbeitete währenddessen als studentische Hilfskraft in der Forschungsgruppe für Kommunikations- und Kollaborationsmanagement. Seit Abschluss seines Studiums im Jahre 2017 ist Herr Heidekrüger in der Telekommunikationsbranche tätig. Markus Heuchert  ist seit 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter am European Research Center for Information Systems (ERCIS). Zuvor hat er in Münster und ­Madrid Wirtschaftsinformatik und Information Systems studiert. Seine Forschungsschwerpunkte sind Omni-Channel-Management sowie konzeptionelle Modellierung. Dr. Moritz von Hoffen  arbeitet seit 2014 als wissenschaftlicher Mitarbeiter und später auch als PostDoc an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und dem European Research Center for Information Systems (ERCIS). Nach dem Erwerb des Bachelor- und Masterabschlusses an der Freien Universität Berlin, schloss er nach Tätigkeiten an den Telekom Innovation Laboratories, einem An-Institut der Technischen Universität Berlin, Anfang 2018 seine Promotion an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster ab. Zu seinen Forschungsinteressen gehören u.  a. kontext-adaptive Dienste, innovative Dienstleistungen und die Geschäftsmodellentwicklung. Prof. Dr. Ingmar Ickerott  leitet den Lehrstuhl für Betriebswirtschaft der Hochschule Osnabrück seit 2010. Das Team von Prof. Ickerott verfolgt einen anwendungsorientierten Forschungsansatz. Hierzu zählen u.  a. Forschungsvorhaben zur

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Prozessunterstützung von Logistikdienstleistungen unter Verwendung von Smart Glasses. Prof. Ickerott ist Vorstandsmitglied des Kompetenznetzes Individuallogistik e.V., einem Logistikverein im Raum Osnabrück-Münster-Bielefeld. Frank Lamack  ist seit 19 Jahren bei der T-Systems Multimedia Solutions GmbH tätig und ist dort Strategischer Berater für Digitalisierungsprojekte. Er bildet die Schnittstelle zwischen Kundenanforderungen, Kreativ- und Entwicklungsbereichen sowie – getrieben durch technologische Grenzbereiche – der engen Vernetzung mit Forschungs- und Ausbildungseinrichtungen. Er betreut verschiedene Unternehmen aus den Branchen Telekomunikation, Maschinenbau, Automobilbau, Flugzeugbau, Baubranchen sowie Messen. Aktuell ist er im Bereich Augmented und Virtual Reality für Industrie-4.0-Anwendungen tätig. Prof. Dr. Christoph  Lattemann  ist Professor für Business Administration and Information Management an der Jacobs University Bremen und Professor für Entrepreneurship an der University of Agder in Norwegen – mit den Schwerpunkten der digitalen Transformation und des Design Thinking. Dr. Benedikt Lebek  ist IT-Demand-Manager bei der BHN Dienstleistungs GmbH & Co. KG in Aerzen, Deutschland. Seine Forschung konzentriert sich auf IT-­ Sicherheit und Datenschutz sowie Dienstleistungen und innovative Geschäftsmodelle. Prof. Dr. Martin Matzner  ist Inhaber des Lehrstuhls für Digital Industrial Service Systems an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Die Forschungsgebiete des Lehrstuhls umfassen Business Process Management, Business Process Analaytics und Smart Services mit einem Fokus auf industrielle Anwendungen. In diesen Themenfeldern hat Herr Matzner zahlreiche durch EU, BMBF und die Industrie geförderte Forschungsprojekte durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Forschung sind in über 70 Artikeln veröffentlicht, die unter anderem in MIS Quarterly und IEEE Transactions on Engineering Management erschienen sind. Martin Matzner ist Herausgeber des Journal of Service Management Research. Pascal  Meier  studierte Wirtschaftsinformatik an der Universität Osnabrück und arbeitet seit 2016 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet für Unternehmensrechnung und Wirtschaftsinformatik an der Universität Osnabrück. Im Rahmen des BMBF-Projektes Dorfgemeinschaft 2.0 beschäftigt sich Herr Meier mit der nutzerzentrierten Entwicklung einer Plattform zur Integration verschiedener Dienstleistungen, die im alltäglichen Leben im ländlichen Raum erbracht werden. Dabei legt er einen Forschungsschwerpunkt auf die Bereiche User-centered Design, Multi-sided Platforms und sprachbasierte Assistenten. Volkmar Mrass  ist Doktorand und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Wirtschaftsinformatik und dem Wissenschaftlichen Zentrum für Informationstechnik-Gestaltung (ITeG) der Universität Kassel. Er betreut dort unter anderem das

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vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt „Herausforderung Cloud und Crowd“. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Crowdsourcing, Crowdworking-Plattformen, Digitalisierung der Arbeit und IT Innovation Management. Dr. Christoph  Peters  ist Forschungsgruppenleiter, Post-Doc und Habilitand am Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität St.Gallen sowie am Fachgebiet Wirtschaftsinformatik und dem Wissenschaftlichen Zentrum für Informationstechnik-Gestaltung (ITeG) der Universität Kassel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Dienstleistungen und Dienstleistungssysteme, sich verändernde Wertschöpfungsstrukturen und Geschäftsmodelle sowie Digitale Arbeit und Crowdwork. Christopher Rechtien  dokumentierte als ausgebildeter Chemielaborant und studierter Technischer Redakteur bei der Rheinmetall Technical Publications GmbH Wartungs- und Fehlerbehebungsprozeduren an Flugzeugen aus dem Hause Airbus. Zudem konnte er auch in Dokumentationsprojekten aus dem Rüstungsbereich Erfahrungen sammeln. Mit dem Wunsch, in kleinen und innovativen Teams neue Konzepte im Bereich der Nutzerinformation zu entwickeln, wechselte er zur kothes GmbH. Dort leitete er von 2011 bis 2016 die Niederlassung Bremen und ist seitdem als Innovationsmanager für die kothes GmbH tätig. Beke  Redlich  ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin im Bereich Business & Economics, Arbeitsgruppe für Innovation Management, Information Systems und International Business an der Jacobs University gGmbH in Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich systematischer Innovationsprozesse, wie Design Thinking und Dienstleistungsforschung. Seit 2016 arbeitet sie im BMBF-geförderten Verbundprojekt „DETHIS – Design Thinking für Industrienahe Dienstleistungen“ zusammen mit dem Verbundpartner kothes gGmbH. Florian Remark  arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Informationsmanagement und Wirtschaftsinformatik an der Universität Osnabrück. Neben seiner Tätigkeit im Projekt Audit-as-a-Service beschäftigt er sich mit der Erforschung von betrieblichen Einsatzpotenzialen virtueller und erweiterbarer Realitäten. Assoziierter Univ.-Prof. FH-Prof. Mag. Dr. René Riedl  ist Professor für Digital Business und Innovation an der FH Oberösterreich sowie Assoziierter Universitätsprofessor am Institut für Wirtschaftsinformatik – Information Engineering der Universität Linz. Seine Arbeiten sind unter anderem in folgenden Fachzeitschriften erschienen: Business & Information Systems Engineering, European Journal of Information Systems, Journal of Information Technology, Journal of Management Information Systems, Journal of the Association for Information Systems und MIS Quarterly. Er ist im Herausgebergremium mehrerer Fachzeitschriften und unter anderem Gutachter für die National Science Foundation sowie die DFG.

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Die Autoren

Prof. Dr. Susanne Robra-Bissantz  leitet seit 2007 an der Technischen Universität Braunschweig das Institut für Wirtschaftsinformatik und dort den Lehrstuhl für Informationsmanagement. Nach ihrer Ernennung zum Doktor der Wirtschaftsund Sozialwissenschaften, arbeitete sie als wissenschaftliche Assistentin und habilitierte am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre insbesondere Wirtschaftsinformatik. Sie arbeitet aktiv Themen des Service- und Kooperationsdesigns und hat in Kooperation mit Unternehmen zahlreiche Drittmittelprojekte umgesetzt. Ihre Forschung veröffentlicht sie auf internationalen Konferenzen und in anerkannten Fachzeitschriften. Christian Schallenberg  ist Mitglied der Geschäftsleitung und CTO bei der LANCOM Systems GmbH. Er studierte Nachrichtentechnik an der RWTH Aachen und absolvierte ein MBA-Studium an der WHU Otto Beisheim School of Management in Vallendar, Evanston und Hong Kong. Prof. Dr. Lukas Andreas Scherer  ist Leiter des Instituts für Qualitätsmanagement und Angewandte Betriebswirtschaft IQB-FHS und Dozent an der FHS S ­ t. Gallen. Zuvor war er mehrere Jahre als Unternehmensleiter/Rektor einer privaten Hochschule sowie als Berater in den Bereichen Unternehmensführung, strategische ­Neuausrichtungen und Change-Management für gewinnorientierte und Non-­Profit-­ Institutionen aktiv. Prof. Dr.-Ing. Thomas  Schlegel  leitet das Institut für Ubiquitäre Mobilitätssysteme (IUMS) der Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft. Er forscht und lehrt auf dem Gebiet der ubiquitären Mobilitätssysteme und damit am Schnittpunkt von Mensch-System-Interaktion, modellbasierten Technologien und Systemen. Er wurde 2015 auf die Stiftungsprofessur der init AG an die Fakultät für Informationsmanagement und Medien berufen, nachdem er seit 2010 an der Technischen Universität Dresden als Juniorprofessor für Software Engineering ubiquitärer Systeme mit einem Schwerpunkt auf mobilen und allgegenwärtigen Technologien forschte. An der Hochschule hat er eine Eck-Professur mit dem Schwerpunkt Informatik im Studiengang Verkehrssystemmanagement inne. Univ.-Prof. Dr. Gertrud Schmitz  ist Inhaberin des Lehrstuhls für Dienstleistungsmanagement und Handel an der Fakultät für Betriebswirtschaftslehre, Mercator School of Management der Universität Duisburg-Essen. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind Kundenlösungen, interaktive Wertschöpfung, unterstützendes/ dysfunktionales Kundenverhalten und standortbezogene Dienstleistungen des innerstädtischen Einzelhandels. Zur Erkenntnisgewinnung werden gleichermaßen qualitative und quantitative empirische Forschungsmethoden genutzt. Benjamin Spottke  forscht und arbeitet am Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität St. Gallen. Er hat zahlreiche Fachartikel zu konsumentenzentrischen Informationssystemen sowie zur Digitalen Kundenerfahrung veröffentlicht. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit arbeitet er mit führenden Unternehmen an

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zentralen Fragestellen der Digitalisierung, u. a., zur Gestaltung von Service Ecosystemen und Digitalen Plattformen, sowie zur agilen Transformation. Alina Stein  studierte an der Hochschule Weihenstephan Triesdorf Ingenieurwesen für Lebensmitteltechnologie, im Master studierte sie an der Technischen Universität Braunschweig Technologie-orientiertes Management, was sie 2017 erfolgreich ­abschloss. Alina Stein arbeitet als Unternehmensberaterin im Bereich Digitalisierung von Industrieprozessen in München. Prof. Dr. Gunnar Stevens  ist Professor für BWL, insbesondere Wirtschaftsinformatik, an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Er forscht und publiziert seit Jahren auf den Gebieten des Co-Designs, der Technikaneignung und der empirischen Designforschung. Für seine Forschung erhielt er 2005 den IBM Eclipse-Innovation Award und 2010 den Promotionspreis der IHK Siegen-Wittgenstein. Er hat über 100 Publikationen veröffentlicht, unter anderem zu den Themen nachhaltige IT, Verbraucherinformatik und ethnografisch gestützte Designmethoden. Aktuell leitet er verschiedene Forschungsprojekte zu Community-Usability-Methoden für den Mittelstand sowie zum nachhaltigen Design in betrieblichen und privaten Kontexten. Prof. Dr. Frank Teuteberg  leitet seit dem Wintersemester 2007/08 das Fachgebiet Unternehmensrechnung und Wirtschaftsinformatik im Institut für Informationsmanagement und Unternehmensführung (IMU) an der Universität Osnabrück. Herr Teuteberg ist Verfasser von mehr als 280 wissenschaftlichen Publikationen, darunter die Zeitschriften Business & Information Systems Engineering (BISE), Electronic Markets oder das Journal of Cleaner Production. Seine Forschungsschwerpunkte sind u. a. Digitale Gesellschaft/Digitale Transformation, Open Innovation, eHealth, Mensch-Technik-Interaktion sowie Smart Service Systems. Prof. Dr. Oliver Thomas  hat das Fachgebiet Informationsmanagement und Wirtschaftsinformatik an der Universität Osnabrück im Jahr 2009 übernommen. Seither werden erfolgreich Forschungsprojekte im Bereich Dienstleistungen, Hybride Wertschöpfung und Geschäftsprozessmanagement durchgeführt. Danielle  Warnecke  studierte Medienwirtschaft und Journalismus an der Jadehochschule Wilhelmshaven und anschließend Medienwirtschaft mit Schwerpunkt nachhaltiger Produktion an der Technischen Universität Ilmenau. Seit Februar 2016 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Fachgebiet für Unternehmensrechnung und Wirtschaftsinformatik der Universität Osnabrück tätig. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf dem nachhaltigen Konsum von Informationsund Kommunikationstechnologie. Sebastian  Werning  ist neben seiner Industrietätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Management und Technik der Hochschule Osnabrück beschäftigt. Dort führt er Forschungen zu mobilen Informationssystemen und

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Die Autoren

Wearables sowie deren Einbindung in die Unternehmenslandschaft in den Bereichen Logistik und Produktion durch. Er studierte in den Bereichen Wirtschaftsingenieurwesen und Mechatronik an der Hochschule Osnabrück. Ellen Wieland  studierte von 2007 bis 2011 an der HTWG Konstanz Wirtschaftsinformatik und von 2011 bis 2015 an der TU Dresden Informatik. Ihre ­Abschlussarbeit „Persönliche und öffentliche Interaktion in Multi-View-Umgebungen“ schrieb sie an der Juniorprofessur Software Engineering Ubiquitärer Systeme bei Prof. ­Dr. Schlegel. Seit dem Studium beschäftigt sie sich mir der praktischen Umsetzung von Themen im Bereich Mensch-Computer-Interaktion in der freien Wirtschaft, zuletzt bei der N+P Informationssysteme GmbH. Dominique  Winter  studierte Medieninformatik in Wolfenbüttel und Emden. Heute arbeitet er als Agile Coach bei der OBI next und hilft bei der agilen Transition. Sein Schwerpunkt ist die Befähigung von Organisationen und ihren Mitgliedern zur Entwicklung von Produkten mit ausgezeichneter User Experience. Des Weiteren ist er Gastwissenschaftler und Mitglied der „Research Group for Agile Software Development and User Experience“ der Hochschule Emden/Leer und promoviert an der Universität Siegen zum Thema organisationaler UX-Kompetenz. Rikka Wittstock  studierte Business Management an der University of Surrey und im Anschluss Sustainability Economics and Management an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seit Januar 2016 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Fachgebiet Unternehmensrechnung und Wirtschaftsinformatik der Universität Osnabrück tätig. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien für die Entwicklung nachhaltiger Mobilitätkonzepte. Jan  Zeren  ist Student der Wirtschaftswissenschaften an der Leibniz Universität Hannover. Im Rahmen seiner Bachelorarbeit beschäftigte er sich mit der Einführung von Smart Services in bestehenden Unternehmen. Benedikt Zobel  studierte Wirtschaftsinformatik an der Universität Mannheim und ist seit 2015 am Fachgebiet Informationsmanagement und Wirtschaftsinformatik beschäftigt. Seine aktuelle Forschung beschäftigt sich mit innovativen Technologien in der Logistik, mit besonderem Augenmerk auf Software Engineering von mobilen Apps für Wearables.

Teil I Grundlagen und Perspektiven

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7 Rules of Attraction – Mit kundenorientierten Diensten erfolgreich in der Digitalen Transformation Susanne Robra-Bissantz und Christoph Lattemann

Zusammenfassung

Alles bleibt anders. Die Digitalisierung verändert Märkte – zum Teil disruptiv. Allerdings gilt heute noch mehr als früher: es kommt nicht auf ein Produkt an, sondern auf den Wert, den man dem Kunden bietet. So zumindest proklamiert es der Ansatz der Service Dominant Logic. Und hier bietet genau die Digitalisierung und ihr Einsatz in kundenorientierten Diensten verschiedene Möglichkeiten, die aus Produkten ganze Problemlösungen für den Kunden machen und damit ihren Wert deutlich steigern: ob durch Individualisierung, durch bessere Unterstützung oder durch raffinierte Zusatzleistungen. Es lohnt sich, an verschiedenen Stellen einen anderen Blick auf die Attraktivität des eigenen Angebots zu werfen. Hierzu stellt der vorliegende Beitrag die wesentlichen Grundlagen der Service Dominant Logic vor. In 7 Schritten entwickelt er darauf aufbauend Denkanstöße in Regelform für eine Servitization und Digitalisierung der eigenen Produktpalette. Schlüsselwörter

Service Dominant Logic · Customer Value · Kundenorientierte Dienstleistung · Regeln zur Digitalisierung · Value in interaction · eServices

Überarbeiteter Beitrag basierend auf Robra-Bissantz und Lattemann (2017) 7 Rules of Attraction, HMD – Praxis der Wirtschaftsinformatik Heft 317, 54(5):639–651. S. Robra-Bissantz (*) TU Braunschweig, Braunschweig, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Lattemann Jacobs University Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Robra-Bissantz, C. Lattemann (Hrsg.), Digital Customer Experience, Edition HMD, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1_1

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1.1

S. Robra-Bissantz und C. Lattemann

Einleitung und Motivation

Die Digitalisierung verändert Märkte. Viele Anbieter, begonnen mit der Musikindustrie, dem Verlagswesen, über den stationären Einzelhandel bis hin zur Industrie kämpfen um ihre Kunden. Sie beobachten die technischen Möglichkeiten, die sich heute mit Websites, Apps, Location Based Services oder anspruchsvoller Datenanalyse ergeben. Parallel bringen globale Player oder auch hunderte von innovativen Start-ups täglich viele neue digitale Dienstleistungen auf dem Markt. Technologie, auch Informationstechnologie, kann dabei unternehmerischen Erfolg nicht erklären. Aber auch das Produkt allein führt heute häufig nicht mehr dazu, dass Kunden ihrem Anbieter mehr oder weniger treu sind. Ein relativ neuer Ansatz, der eine Erklärung vieler neuer Phänomene verspricht, ist die so genannte Service Dominant Logic – die seit dem Jahr 2004 immer konkreter einen anderen Blick auf Märkte, Kunden und das Angebot eines Anbieters richtet (Vargo und Lusch 2004). Aufbauend auf eine kurze Einführung in die Service Dominant Logic, ergänzt durch die Perspektive des Wirtschaftsinformatikers, entwickelt der vorliegende Beitrag sieben plakative Regeln, die eine Dienstleistungssicht auf Produkte, Unternehmen und Märkte mit der Digitalisierung verbinden und damit heutige Anbieter potenziell für zukünftige Herausforderungen wappnen.

1.2

 ervice Dominant Logic zur Analyse der digitalen S Transformation

Die Service Dominant Logic stammt aus dem Bereich des Dienstleistungsmarketings und stellt trotzdem die traditionelle Marketing-Perspektive auf den Kopf. Bestechend ist, dass dieses theoretische Konzept viele praktische Entwicklungen, die wir auf Märkten beobachten, begründen kann. Für die folgende Analyse hinsichtlich der digitalen Transformation beschreibt und erklärt sich die Service Dominant Logic im Wesentlichen über sieben Aspekte, die unser Markt- und vielleicht sogar Weltbild ganz grundlegend verändern: 1. Fokus: Wert Der zentrale Betrachtungsgegenstand eines Anbieters ist nicht sein traditionelles Produkt (Sach- oder Dienstleistung), sondern der Wert, den dieses Produkt einem potenziellen Kunden schafft. Bereits seit einiger Zeit wird diskutiert, dass Sachleistungen, bzw. Dinge, lediglich Vermittler für Dienstleistungen sind. Die Service Dominant Logic ergänzt, dass auch Dienstleistungen lediglich eine Mittlerrolle einnehmen: sie sind ein Vermittler von Kompetenzen und damit wertvoll. Als typisches Beispiel zieht diese Sichtweise hier den Kühlschrank heran: er ist lediglich der Träger des Wertes, Dinge kühl halten zu können. An sich, als Produkt, ist er nicht wertvoll. Gäbe es andere Wege, Dinge kühl zu halten, dann könnten auch diese gewählt werden.

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2. Austausch: Kompetenzen (Ressourcen) Um Werte zu schaffen, werden nicht Produkte sondern Ressourcen zwischen Partnern ausgetauscht und von diesen jeweils integriert: Fähigkeiten, menschliche Arbeit, Wissen etc. Ein Kunde nutzt seine eigenen Kompetenzen und die Ressourcen verschiedener Partner, um damit seinen Wert zu realisieren. Auch ein physisches Produkt entsteht, bevor es ausgetauscht wird, aus Kompetenzen. Es vermittelt diese lediglich. Menschliche Arbeit begründet die physische Dienstleistung. Wissen in der Form von digital gespeicherten Algorithmen bietet einen elektronischen Dienst. Für jede benötigte Kompetenz überlegt der Kunde, ob er sie selber beitragen oder aber extern erwerben will. Im letzteren Fall stellt der Kunde im Gegenzug jeweils seine Ressourcen und damit einen eigenen Service zur Verfügung. Dabei kann sich der Austausch von Ressourcen auch über mehrere Partner vollziehen. 3. Beteiligte: Akteure Der Kunde ist, ebenso wie der Anbieter, ein Akteur, der Werte aus Ressourcen schafft. Damit tritt der Kunde aus seiner passiven Rolle heraus: stattdessen greift er auf Ressourcen von Unternehmen zu – was heute sehr viel mehr der Lebenswirklichkeit, insbesondere über Apps, entspricht. Zudem sind die Rollen Anbieter und Kunde nicht mehr klar unterscheidbar, sie können rasch wechseln oder auch vom gleichen Akteur eingenommen werden. Dieser Blick ermöglicht, dass auch Phänomene, wie zweiseitige Märkte, auf welchen derselbe Mensch sowohl etwas anbietet als auch etwas konsumiert, beschrieben werden können. 4. Wertentstehung: Co-Creation Ein Wert entsteht damit immer in einer so genannten Co-Creation (Lattemann und Robra-Bissantz 2006): in einem gemeinsamen Kreationsprozess, der immer den Begünstigten dieses Wertes einschließt. So gilt in Bezug auf ein physisches Produkt, dass es erst wertvoll sein kann, wenn beide Partner zumindest einen Übergang des Besitzes gestaltet haben und der Begünstigte es im Anschluss derart nutzt, dass es für ihn genau das bietet, was er für die Lösung eines Problems oder für seine Lebensqualität benötigt hat. 5. Individuelle Werte Dabei kann der Wert eines Produktes, auch einer Dienstleistung, für jeden Einzelnen völlig unterschiedlich sein. Werte sind individuell, und sie überdauern auch beim Einzelnen nicht für immer. Man macht sich mit dieser Sicht gleichzeitig von der gängigen Perspektive eines Marktes frei, auf dem Angebote gleicher Art ihre Nachfrage suchen. Völlig neue Ideen, wie ein Wert entsteht, können auftreten – obwohl sie niemals im Blick des vorher definierten Marktes waren.

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S. Robra-Bissantz und C. Lattemann

6. Der Wert als Value in Use Der Wert eines Produktes oder einer Dienstleistung entsteht (auch) in seiner oder ihrer langfristigen Nutzung. Was ist der Wert eines Automobils? Wahrscheinlich nicht allein das Eigentum, das mit dem Kaufprozess übertragen und abgeschlossen ist. Es mag sein, dass das Automobil seinem Nutzer langfristig als Statussymbol dienen soll oder ihn von A nach B transportiert oder aber nur sicherstellt, dass eine Mobilität ohne Lücken möglich ist. Diese Werte gilt es zu entdecken und dafür zu sorgen, dass das eigene Angebot sie erfüllen kann. Zumindest sollte das eigene Angebot in einem so genannten Service-Ökosystem aus vielen Angeboten unterschiedlicher Partner (Unternehmen aber auch private Akteure) einen wesentlichen Beitrag zum gesamten Wert leisten. 7. Der Wert als Value in Interaction Für die Wirtschaftsinformatik besonders wichtig ist, dass neben dem genannten „Value in Use“ auch ein „Value in Interaction“ existiert. Damit erlaubt die Service Dominant Logic explizit, die „Digital Customer Experience“ (Lattemann und Robra-­Bissantz 2017) als eigenständigen und wichtigen Wertbeitrag zu sehen und zu gestalten. Vermittlungsplattformen, Konfigurationssysteme, Apps oder die gemeinsame Entwicklung von neuen Produkten oder Dienstleistungen tragen als eigenständiger eService (digitaler Service) dazu bei, dass sich Werte entfalten können. Die Service Dominant Logic verweist hier darauf, dass es gilt, gemeinsame Räume, so genannte Joint Spaces (Grönroos 2011), zu eröffnen. Diese können Orte sein, die der Anbietende und der Nutznießer für den jeweils anderen öffnen. Häufig sind diese Joint Spaces virtuelle Räume – z. B. eine Website oder eine mobile Applikation.

1.3

Seven Rules of Attraction

Jedes Unternehmen, sei es aus der Industrie oder der Dienstleistung, tut gut daran zu versuchen, einen völlig neuen Blick auf sein Angebot zu werfen – zunächst ganz allgemein auf den Charakter seines Angebots als Wert. Nehmen wir als Beispiel den typischen Supermarkt. Welchen Wert verspricht sich eine Konsumentin von Lebensmitteln? Nehmen wir hier, beispielhaft, an: sie möchte gerne mit Freunden und/oder Familie zuhause gut essen. Diesen Wert kann sie auf ganz unterschiedlichem Weg erhalten – völlig abstrahiert vom ursprünglichen Supermarkt. Immer sind verschiedene Ressourcen und damit auch Kompetenzen oder Aktivitäten notwendig. Die Waren müssen ausgewählt werden, sie müssen in die Wohnung gelangen, ein Rezept wird benötigt, man kocht oder man lässt es eben sein. Entsprechend findet sich eine Vielzahl von Anbietern, die zum Wert des Essens zuhause beitragen können. Sie transportieren zum Beispiel gewünschte Lebensmittel von den Regalen in die Wohnung. Warum nutzt man diesen Dienst? Weil es einem nicht wertvoll erscheint, Lebensmittel selber aus den Regalen zu wählen und

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sie zu tragen. Wählt man dagegen gerne aus, weil einem der Supermarkt Inspiration bietet, dann würde man eher nur auf einen Lieferservice zurückgreifen, der einem die Waren nach Hause transportiert. Ist es genau die Auswahl, die man eher lästig als wertvoll empfindet, dann entstehen Dienste, die vorgepackte Lebensmittel an einem Pick-up zur Verfügung stellen, damit man sie abholt und selber transportiert. Auch digitale Services, die den Einkauf im Supermarkt vereinfachen, zum Beispiel durch automatisierte Zahlungsvorgänge oder durch ein Routing durch den Supermarkt, setzen hier an. In diesem Fall ist der Einkauf wertvoll, das Anstehen an Kassen und die viele Zeit der Suche nach einzelnen Dingen nicht. Sind die Lebensmittel schließlich zuhause, dann erachtet die Konsumentin es unter Umständen als wertvoll selber zu kochen. Rezepte zu entwickeln, allerdings, ist keine Aktivität, die ihr Freude bereitet: Rezepte-Foren halten hierzu einen guten Service bereit. Für diejenige, die gerne Rezepte erarbeitet, stellt dieser Service eine Plattform dar, auf der sie selber zum Anbieter werden kann. Mit Plattformen, auf welchen Köche ihr Können vermieten, kommt die Konsumentin in den Genuss eines selbstgekochten Essens, zuhause – ohne dass sie es als Wert empfinden muss, selber zu kochen. Legt sie keinen Wert auf Kochaktivitäten zuhause, dann wendet sie sich an Lieferservices, die Speisen aus Restaurants nach Hause bringen. Und diejenige, die zwar kochen möchte, aber darauf möglichst wenig vorbereitende Gedanken verwenden mag, bestellt sich eine Kochbox, die Lebensmittel unter Berücksichtigung ihrer Präferenzen zusammenstellt und das passende Rezept beilegt. Man sieht an dieser kurzen Geschichte, die natürlich noch weiter ausgeschmückt werden kann, dass sehr viele eServices und Dienstleistungen auf dem Weg vom Lebensmittel bis zum Wert des gemeinsamen Essens liegen können. Jeder eService, jede Dienstleistung passt zu einem spezifischen Wert, den ein spezifischer Mensch sich, unter Berücksichtigung seines eigenen Ressourceneinsatzes, vorstellt. Die Aufgabe des Anbieters ist es, sein Produkt weiterzuentwickeln. Dabei muss das Unternehmen jedoch eine Vorstellung über die gesamte Bandbreite möglicher Werte haben, zu denen seine Ressourcen beitragen können. Diese Werte sind sein Ausgangspunkt. Trotz der aufgezeigten Vielfalt der Wertgestaltung zeigt sich doch eine gewisse Gemeinsamkeit, wenn man die jeweiligen Bestandteile der Angebote betrachtet. Sie bestehen typischerweise aus Produkten (Sachgut), Dienstleistungen sowie eServices. Eine Dienstleistung aus einem Produkt zu schaffen (Servitization) und diese Dienstleistung dann digital mit eServices zu unterstützen (Digitalisierung) stellt die Formel für eine gelungene Digital Customer  Experience  dar  (Vandermerwe und Rada 1988; Lattemann und Robra-Bissantz 2017). Die Dienstleistung geht ganz individuell auf die Bedürfnisse des potenziellen Kunden ein. Digitalisierung jedoch, macht diese Individualität über die direkte Vernetzung mit dem Kunden erst möglich. Ein erster Denkanstoß für den Anbieter ist damit zu erwägen, wie Produkt, Dienstleistung und eServices einzeln oder als gesamte Problemlösung e­ inen besonderen Kundenwert versprechen. Tab.  1.1 zeigt diese aus der ersten Regel ­resultierenden Designoptionen für neue Kundenwerte. Sie werden mit den weiteren Regeln schrittweise ergänzt, sodass sich als Fazit eine gesamte Wertematrix der ­digitalen Transformation ergibt (vgl. Abschn. 1.4).

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Tab. 1.1  Wertematrix der digitalen Transformation – Elemente aus Regel 1 Produkt

Problemlösung

Sachgut(güter)

Dienstleistung(en)

eService(s)

Als Hilfestellung, um einen Wert für den Kunden zu identifizieren, bietet sich das Methodenset des Design Thinking (Brown 2008; Lattemann et al. 2017) an. Hier entstehen seit den 1990er-Jahren Ansätze für so genannte „wicked problems“ – Pro­ bleme, für die es keine einzelne, determinierte Lösung gibt und die nicht einfach durch die Weiterentwicklung eines einzelnen Produkts lösbar sind. Insbesondere für das Design von Customer Experiences bietet es sich an, ganz bestimmte, durch Dienstleistung und Digitalisierung geprägte Gestaltungsmöglichkeiten für die eigene erfolgreiche digitale Transformation zu prüfen. Dabei fügen sich viele Trends sowie Konzepte der Wirtschaftsinformatik, die sich in den letzten Jahren entwickelt haben, in das Mind Set (Redlich et al. 2018) der Service Dominant Logic ein. Rule 2. Sein oder haben? – Bei Produkten geht es Kunden selten um das Kaufen Der erste Schritt zur Servitization von Produkten befasst sich mit der typischen Transaktion. Ein Produkt wird, gewöhnlich, gekauft und befindet sich dann im Handlungsbereich des Kaufenden. Allerdings ist es bei vielen Produkten nicht unbedingt eindeutig, dass der Wert des Kaufenden darin besteht, das Eigentum an einem Produkt zu erwerben. Denkt man beispielsweise an teure Werkzeuge oder Maschinen, dann genügt es häufig, sie fallweise zu leihen. Bereits die auf die Transaktionskosten-Theorie aufbauende Property-Rights-­ Theorie (Demsetz 1974) betrachtet neben dem Eigentumsübergang eine Reihe von kleinteiligen Verfügungsrechten (Property Rights), die statt dem Eigentum an einen anderen Akteur übergeben werden können. Dazu gehört insbesondere das Recht etwas zu nutzen. Heute sind diese Möglichkeiten unter dem Schlagwort der Sharing Economy (Wittstock et al. 2018) zusammengefasst. Teilen, Tauschen, Leihen: Für das einfache Beispiel einer Handtasche kann der Wert darin bestehen sie auf Dauer zu besitzen, weil man darauf stolz ist. Aber häufiger zählt ein anderer Value in Use. Wenn beispielsweise der eigene Wert darin besteht, immer die passende Tasche zum Outfit zu besitzen, dann hält man sich vielleicht an einen Tauschkreis oder an die Möglichkeit Handtaschen zu leihen. Die Möglichkeiten des Teilens, Tauschens und Leihens werden über Digitalisierung befördert. Anhaltspunkt hierfür sind die Transaktionskosten: die Kosten, ein passendes Produkt zu finden, die Verträge für die Verteilung der Property Rights zu gestalten sowie eine den gemeinsamen Interessen entsprechende Nutzung abzuwickeln (Williamson 1998). Ohne digitale Informationsverarbeitung, Smartphones, Apps und Vernetzung gelingt dies nur mit hohen Informations-, Vereinbarungs- bis hin zu Kontrollkosten, in Form von Zeit, Mühe und Geld, z. B. in langen Schlangen am Autoverleih. Heute am Smartphone genügt sozusagen ein „Tastendruck“. Bei Verbrauchsgütern reicht der einzelne Kauf häufig nicht aus, um eine komplette Problemlösung zu erhalten. Viele Ansätze so genannter Cyber-Physical-­ Systems zeigen auf, dass elektronische Services, die mit dem Produkt in einem Internet der Dinge verbunden sind, den Wert deutlich erhöhen können (Fleisch et al.

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2014). Aus Kundensicht zählt dazu beispielsweise die Möglichkeit der Nachbestellung. Bereits eine Lösung zum Rasieren, die neben dem Rasierer einen eService bereitstellt, der auf Knopfdruck eine Bestellung für neue Klingen auslöst, kann über höhere Bequemlichkeit für den Kunden seinen Wert steigern. Derartige Lösungen sind aus dem Supply Chain Management im B2B-Bereich seit langem bekannt. Mit den heute immer günstigeren Technologien sind vormals dem zwischenbetrieblichen Geschäftsverkehr vorbehaltene Ansätze, wie das Vendor Managed Inventory, bei dem der Lieferant das Lager seines Kunden verwaltet und jeweils, bei Bedarf, wiederbefüllt, oder die Just-in-Time-Lieferung auch im Privaten immer vorstellbarer. Denn es kann durchaus einen Wert darstellen, wenn der Kühlschrank erkennt, dass neue Milch benötigt wird, diese direkt bestellt und liefern lässt. Zusammenfassend setzen Gestaltungsoptionen für (elektronische) Dienstleistungen zu einem Produkt sehr naheliegend an der Transaktion sowie an einem nachhaltigen Value in Use an (vgl. Tab. 1.2). Rule 3. Mehr Service ist mehr … Digitale Dienste werden der aktive Partner in Dienstleistungen Dienstleistungen machen Produkte wertvoller, weil sie den Kunden in seiner Pro­ blemlösung oder ganz allgemein in seinem Leben unterstützen. Dies entspricht dem vor einigen Jahren proklamierten Ansatz der Support Economy (Zuboff 2010). Sie verweist darauf, dass jegliche Ökonomie bei der Gesellschaft beginnt. Sie beruhe damit auf dem Verlangen jedes Einzelnen, sein Leben so zu führen, wie er es will. Damit notwendige, kundenzentrierte Angebote setzen im Individualraum des Einzelnen an und ermöglichen ihm, seine Bedürfnisse individuell und effizient zu decken. Die Dienstleistung ist gemäß Definition von einem Prozess in Interaktion des Dienstleisters mit dem Kunden geprägt. Ein so genannter externer Faktor (ein Produktionsfaktor), der vom Kunden stammt, fließt in die Produktion der Dienstleistung ein (Bodendorf 1999). Schon allein aus diesem Grund müssen sich Dienstleistungen immer individuell an diesen externen Faktor anpassen. Ein Friseur wird beispielsweise die Haarstruktur und das Gesicht seiner Kunden beim Haarschnitt ebenso berücksichtigen wie ihre Präferenzen. Typischerweise sind die Automatisierungspotenziale in der Dienstleistung aufgrund der direkten Interaktion und der individuellen Anpassung eher begrenzt und können/sollen erst Schritt für Schritt durch moderne Technologien geborgen werden. Gerade bei Dienstleistungen am externen Faktor Mensch, die Maschinen oder Roboter erbringen könnten, stellt sich schnell auch die Frage der Akzeptanz: beispielsweise bei Robotern im Service eines Restaurants oder bei Maschinen, die eine medizinische Operation durchführen. Sobald sich die Dienstleistung jedoch in einer ihrer Phasen mit Informationen darstellen lässt, können digitale Technologien den menschlichen Partner ersetzen. Dies beginnt mit der Erkennung der individuellen Situation des externen Faktors – sei es ein Mensch oder ein Sachgut. Hier übernimmt beispielsweise ausgereifte Tab. 1.2  Wertematrix der digitalen Transformation – Elemente aus Regel 2 Transaktion Value in Use

kaufen nachbestellen

teilen erinnern

tauschen warten

leihen reparieren

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S. Robra-Bissantz und C. Lattemann

Sensorik die ehemals menschliche Wahrnehmung. Seit langem gelingt dies für die Ortserkennung, wenn es darum geht, den Startpunkt für eine Mobilitätsdienstleistung zu ermitteln oder für eine ganze Reihe weiterer Location Based Services. Weitergehend unterstützt die Kontexterkennung im gesamten Umfeld: beispielsweise mit Informationen über den aktuellen Zustand von Räumen, in Smart Homes. Der Zustand von Dingen ergibt sich beispielsweise über die Messungen von Materialeigenschaften. Ausgereifte Bilderkennung kann sowohl das Umfeld eines Menschen, anhand von Bebauung oder Vegetation, als auch den Zustand von Objekten über Bildvergleich, erkennen. Dazu kommt die Beobachtung des Menschen, über seine Bewegungen bis hin zu seinen Körpersignalen. Smart Watches, Fit Bits oder weitere ausgereifte Hardware im Bereich des Quantified Self (Swan 2012) zählen Schritte ebenso wie Schlafpositionen, Blickrichtungen oder den Hautleitwert. Sie können damit auf aktuelle Tätigkeiten, Präferenzen, Emotionen aber auch Risiken schließen. Beobachtungen im virtuellen Raum tragen beispielsweise Bewegungen auf Websites, genutzte Applikationen, aktuelle Kalendereinträge, Kontakte und potenziell jede in Text oder Sprache geäußerte Meinung bei. Es entsteht eine Sammlung von Daten, Informationen und Wissen, die das menschliche Gedächtnis deutlich übersteigt und über viele Kunden und Dinge hinweg vernetzt ist: genannt Big Data (Swan 2012). Ebenso wie der menschliche Dienstleister eine gute Antwort, ein gutes Angebot oder auch einen sinnvollen Warnhinweis (unter Rückgriff auf sein Gedächtnis) mithilfe seiner Intelligenz aus der erkannten Situation des Kunden ermittelt, nutzen Apps oder Websites intelligente Algorithmen, z.  B. des Data Mining oder Ansätze der Künstlichen Intelligenz. Mithilfe von maschinellem Lernen lassen sich, beispielsweise im Case Based Reasoning, Lösungsvorschläge für Kundenprobleme aus abgeschlossenen Fällen ermitteln, die so genannten Prescriptive Analytics erarbeiten aus Vergangenheitsdaten und Simulationen Lösungsvorschläge für die Zukunft oder Neuronale Netze bilden direkt die menschliche Verarbeitung des Gehirns nach (Eberl 2016). Die Resultate der automatisierten, digitalen Erwägungen machen eine individuelle digitale Dienstleistung möglich. Sie geht von der Information über die Beratung bis zur automatischen Steuerung. Fortschreitend entstehen immer bessere Empfehlung von nächsten Produkten, beispielsweise über das Collaborative Filtering (Sarwar et al. 2001) über viele Kunden hinweg. In einem noch menschlicheren Setting ahmen Social Bots den Kommunikationspartner (Strohmann et al. 2018), z. B. in Verkaufsgesprächen, nach. Im B2B-Bereich finden sich Dienstleistungen, die unter dem Stichwort der Predictive Maintenance (Mobley 2002) beispielsweise zum Kugellager eines Windrads die IT-gestützte Betreuung mit individueller und situationsspezifischer Wartung anbieten. Dazu bedienen sie sich Sensoren, die in einem typischen Setting eines datengetriebenen Geschäftsmodells Verschleißdaten von vielen dezentralen Aktivitäten von Kunden, in diesem Fall vom dezentralen Betrieb der Kugellager in Windrädern zusammentragen. Eine automatisierte Steuerung beeinflusst, aufbauend auf Sensorik und digitale Entscheidungsmechanismen, beispielsweise Warenflüsse bis hin zu gesamten Produktionsabläufen: in der Industrie 4.0. Dies unterstützt insbesondere die Möglichkeit individueller Produkte – eine nicht digitale aber dennoch über Digitalisierung ermöglichte und wertvolle Customer Experience.

1  7 Rules of Attraction – Mit kundenorientierten Diensten erfolgreich in der Digitalen … 11 Tab. 1.3  Wertematrix der digitalen Transformation – Elemente aus Regel 3 Automatisierung Quasi menschliche Interaktion

Situationserkennung Spracherkennung

Situationsinterpretation Chat

Lösungsentwicklung Companion

Leistungserbringung Sprachausgabe

Die digitale Informationsverarbeitung bietet, zusammenfassend, Potenziale für mehr (da automatisierbare) Dienstleistungen, indem eServices, gleich der typischen, menschlichen Informationsverarbeitung, Situationen erkennen, interpretieren, Lösungen entwickeln und diese zum Teil weitgehend und automatisiert umsetzen (vgl. Tab.  1.3). Im Vorgriff auf die Ausführungen im folgenden Abschnitt spielt hierbei die Annäherung an die menschliche Interaktion eine besondere Rolle. Rule 4. Doch. Man muss reden. – Insbesondere im „Shoppen“ liegt ein Wert: Der „Value in Interaction“ Lange Zeit haben sich fast ausschließlich die Fachgebiete des Designs sowie der Usability mit Fragen des digitalen Kundenkontakts, z. B. über Websites, beschäftigt. Sie sehen dabei ihre beiden Aufgabenbereiche zunehmend breit und in Überschneidung, aber auf alle Fälle so, dass zum Design auch die Nützlichkeit und zur Usability auch die Aufgabenangemessenheit der digitalen Schnittstelle für den Kunden tritt (Krug 2014). Gemäß des Technology Acceptance Models (Venkatesh et al. 2003) hängt entsprechend zumindest die Akzeptanz für eine Webseite im Wesentlichen von ihrer „Usefulness“ und ihrem „Ease of Use“ ab. Der Ansatz der Affordances, aus dem Design, weist darauf hin, dass die so genannte Gebrauchseigenschaft, also das wofür die Website genutzt werden soll, direkt aus ihrem Design erkenntlich ist (Norman 2013). Heute, in der Service Dominant Logic, ist mit dem Konzept des Value in Interaction ganz gezielt expliziert, dass genau die Interaktion selber, die Beratung, die Unterstützung einer Suche, die Empfehlung oder der Produktvergleich eine wertvolle Dienstleistung darstellt. Ebenso wie der Wert eines Produktes sich häufig erst in einem gut durchdachten Nutzungsszenario erschließt, kann auch der Weg bis zur Kaufentscheidung so wertvoll sein, dass sie in der Beziehung zwischen Anbieter und Kunde einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil darstellt. Bekannt sind diese Überlegungen aus frühen Gedanken dazu, ob der Internet-­ Geschäftsverkehr zu einer Disintermediation – zu einem Verlust verschiedener Handelsstufen zwischen dem Produzenten und seinem Kunden  – führt. Bereits frühe Entwicklungen des E-Commerce zeigten hier auf, dass sich die Rolle des Handels insofern wandelt, dass er nicht mehr obligatorisch ist und allein der Raum- und Zeitüberbrückung in der Verteilung von Gütern dient. Stattdessen kann er weitere typische Aufgaben übernehmen, die für den Kunden wertvoll sind: schon früh galt hier eine Differenzierung, beispielsweise, in die Sortimentsfunktion, die Maklerfunktion, die Beratungsfunktion oder die Interessenwahrung und Absicherung des Kunden. Man sprach hier von einer Re-Intermediation (Chircu und Kauffman 2000). Heute finden sich eine Fülle von eServices, die genau mit diesen Funktionen einen Wert für den Kunden schaffen. Die Digitalisierung der Geschäftsbeziehungen eröffnet zudem weitere Chancen, die beispielsweise auf den Konzepten der Customer Journey oder des Multi-Channel-Management (Wirtz 2008) basieren.

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Zur Unterstützung des Einkaufsprozesses finden sich mittlerweile verschiedenste eServices auf den Webseiten der Anbieter. Naheliegend ist es, den fehlenden räumlichen Kontakt des Kunden mit dem Produkt über ausgereifte Präsentationsservices auszugleichen. In der Dienstleistung, die an sich nicht greif- und schwer beobachtbar ist, tritt an diese Stelle häufig der Versuch, auf verschiedenste Art, beispielsweise durch Kundenempfehlungen, das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit zu stärken. Die Begleitung einer Lieferung durch Tracking und Tracing oder die Absicherung einer Zahlung durch ihre verzögerte Weiterleitung – erst nach Lieferung, sind ebenfalls im „neuen“ Charakter des E-Commerce begründet und damit fast naheliegend. Auch der Vergleich zwischen Produkten und Dienstleistungen ist ein Dienst, der dem potenziellen Kunden einen Wert bietet. Vergleichsportale mit reinem Preisvergleich, zumindest scheinbar objektiven Bewertungen oder Kundenurteilen, bieten diese Leistung über verschiedene Anbieter. Sie werden heute bereits ergänzt durch Seiten, die Vergleichsportale vergleichen (Bodendorf 1999) Dabei geht der Trend in der Customer Experience zunehmend zu immer menschlicheren Formaten (Robra-Bissantz 2005). Sprachverarbeitung löst mühsame Formulare ab. Chat-Formate nähern sich einer Kommunikation zwischen menschlichen Partnern, die, anders als die traditionelle Website, eine natürliche Steuerung des Gesprächs ermöglicht. In vereinzelten Ansätzen findet sich ein eService, der eine andere typische Situation des Einkaufs widerspiegelt: bei einem Bummel durch die Innenstadt sind häufig Freundinnen oder Familien gemeinsam unterwegs, um sich gegenseitig zu beraten. Ein derartiger Shopping Companion wird mithilfe eines eService imitiert, der dem Kunden regelmäßig, bei jedem Besuch auf der Website, den selben in Text oder Videochat verfügbaren, persönlichen Berater zur Seite stellt. Eine andere Möglichkeit sind Empfehlungen von anderen Kunden, die von der Vergabe von Sternchen über Rezensionen bis zu Kundenforen ausgeprägt sein können. Präferiert der Kunde allerdings seine eigenen privaten Berater, so empfindet er es potenziell als wertvolle Customer Experience, wenn es ihm ein Shop (stationär oder im Web) ermöglicht, diese in seine Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Sei es, indem er ihm verschiedene Auswahlmöglichkeiten oder auch ein Foto mit sich und dem in Frage kommenden Kleidungsstück übermittelt. Eine weitere Erkenntnis ist, dass der Einkauf nicht erst mit Betreten einer entsprechenden Website beginnt. Bedürfnisse und Probleme des Kunden entstehen in allen Lebenssituationen. Natürlich ist dann der Zugriff auf eine Suchmaschine naheliegend: nahezu jede Website wird mithilfe der Suchmaschinenoptimierung dafür fit gemacht, bei passenden Suchanfragen so weit oben wie möglich auf die Ergebnisliste der Suche zu gelangen. Ist dies schwierig, so helfen die aus der traditionellen Werbung bekannten Anzeigen: im Ergebnisbereich oder beispielsweise als Banner (Fritz 2014). Das Suchen und Finden eines passenden Produkts kann jedoch in speziellen Situationen mit noch spezifischeren eServices angenehmer werden. Eine besondere Situation stellt sich beispielsweise dann ein, wenn man einem Produkt begegnet und genauere Informationen dazu sucht. Der Musikmarkt ergreift diese Chance und bietet schon seit einiger Zeit die Möglichkeit, irgendwo gehörte Lieder über einen eService erkennen zu lassen. Mithilfe des so genannten

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Reverse-­Image-­Search (Bell und Bala 2015) – eine automatische Suche nach Bildern im Internet, die einem vom Nutzer eingegebenen Bild (Fotografie) ähneln – wird eine derartige Dienstleistung auch für andere Produkte, z. B. Mode, möglich. Insbesondere der stationäre Einzelhandel ist typischerweise nicht einen Klick von seinen Konkurrenten entfernt. Leider trifft dies aber auch auf die Distanz zu seinen Kunden und ihre Lebenssituationen zu. Umso wichtiger ist es hier, diese Distanz mit geschickten eServices vor dem Einkauf, in der Bedarfssituation, zu überbrücken und dabei den Kunden insbesondere bei seiner Produktsuche oder sogar bei der Lösung eines gesamten Problems (z. B. Geschenk für Kindergeburtstag) derart zu unterstützen, dass er eben nicht in der realen Innenstadt von Anbieter zu Anbieter „surfen“ muss. Ganz einfach, meint (zur gesamten Produktsuche) die typische Massenkommunikation: die Anzeige in einer Zeitschrift von gestern wird zunehmend vom Banner oder dem gesamten Ansatz des Affiliate Marketing – ein Ansatz bei dem Anbieter Anzeigen ihrer Produkte auf Webseiten ihrer Partner mit ihrer eigenen Website verlinken und diesem, bei Verkaufserfolg, eine Provision zahlen – abgelöst. Mit dem heutigen Medienset, das deutlich feiner, mit Rückkanälen und damit gezielter Botschaften streuen kann, sind jedoch auch andere Optionen mit potenziell geringeren Streuverlusten zumindest zu überdenken. Bereits angesprochen ist, dem Kunden einen möglichst breiten aber doch wertvollen eService anzubieten, der es ihm möglichst einfach macht etwas zu suchen und zu finden – egal, was genau, egal, in welcher Situation, immer dann, wenn er es möchte. Suchmaschinen gehören hierzu  – sehr breit, Reverse Image Search und Musikerkennung  – sehr dediziert, aber auch ein ganz allgemeiner Chat mit allen Händlern der Innenstadt – sehr fokussiert. Ebenfalls bereits angesprochen ist, den Kunden in seiner Situation zu erkennen (Robra-Bissantz 2005). Es klingt durchaus erstrebenswert, seinen Ort, seine Stimmung oder sein Verhalten wahrzunehmen, um ihm dazu die richtigen Angebote zu machen. Die Zukunft derartiger eServices wird von ihrer Wahrnehmung durch den Kunden und damit von ihrer Treffgenauigkeit aber auch Zurückhaltung abhängen. Eine besondere Situation, die man erkennen kann und die zudem die Möglichkeit der differenzierten, zurückhaltenden und nicht invasiven Ansprache bietet, sind Plattformen in sozialen Medien. Entgegen eines Umgangs, der lediglich typische Werkzeuge der Massenkommunikation weiterführt, können hier menschliche und sogar soziale Instrumente als eService gestaltet werden. Durch Gespräche (Posts, Kommentare, Statusmitteilungen etc.) zu umfassenden Problemlagen, Bedürfnissen und Wünschen – eben zu Werten – entstehen so etwas wie Assoziationsräume, die dann auch mit dem eigenen Angebot verlinkt werden können. Diese Gespräche kann ein Anbieter gezielt beginnen oder sich aber in bestehende Gespräche (dezent) einmischen (Ingenhoff und Meier 2012). Die in Dienstleistungstheorie (Rück 2000) und Support Economy (Zuboff und Maxim 2004) geforderte Individualisierung ist bereits ein gängiger eService. Sie tritt in unterschiedlichen Formen auf, die sich hinsichtlich des Individualisierungssubjekts und des Individualisierungsobjekts unterscheiden. Ist das Individualisierungssubjekt der Anbieter, so versucht dieser auf Basis der Präferenzen des Kunden

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oder auch vergleichbarer Kunden passende Angebote zu entwickeln. Ansonsten wird es dem Kunden überlassen, seine Wünsche entweder als Bedürfnisse oder auch als konkrete Produktparameter kund zu tun. Das Individualisierungsobjekt ist das Sachgut oder die Dienstleistung. Hier besteht entweder die Wahl zwischen unterschiedlichen Produkten, die an sich bereits vorproduziert und nicht veränderbar sind. In diesem Fall wird der Anbieter lediglich sein Angebot individualisieren, indem er dem Kunden das am besten passende Produkt aus verschiedenen Varianten vorschlägt. Es ist aber auch möglich, ein Produkt oder eine Dienstleistung individualisiert für den Kunden genau nach seinen Wünschen zu produzieren (Robra-­ Bissantz 2005). Mit dem Konzept der Mass Customization (Piller et al. 2017) sind auch Zwischenformen vorstellbar – Produkte bestehen dann aus Modulen, die gemäß Kundenwunsch zusammengestellt sind. Heute finden sich Individualisierungsmöglichkeiten für den Kunden von Müsli über die Bratwurst bis zu Handtasche oder Schuhen. Gerade im Bereich der Kleidung, aber auch bei Einrichtungsgegenständen, werden sie durch eServices ergänzt, die es dem Kunden vereinfachen, seine Individualisierungsinformationen einzugeben: Im Smart Measuring kann der Kunde sich oder seine Wohnung zusammen mit einem Gegenstand mit standardisierten Maßen (z. B. einer CD) fotografieren und einsenden. Der Anbieter kennt damit seine genauen Maße und kann damit auf die passenden Größen des gewünschten Produktes schließen. Ein neuerer Trend wirkt der allgegenwärtigen Aufforderung des Kunden nach selbstbestimmter Auswahl entgegen: das Kuratieren. Ähnlich dem Kurator, der Kunstausstellungen professionell arrangiert, übernehmen DJs oder bekannte Musiker die Zusammenstellung von Playlists in Musikportalen. Stylisten stellen auf Modeportalen ganze Styles mit verschiedensten Kleidungsstücken zusammen, die dem Kunden zur Auswahl zugesendet werden. Damit stellt das Kuratieren eine Alternative zum eService der Empfehlungen durch andere Kunden dar. Alle genannten Denkanstöße für Kundenwerte aus Regel 4 sind in Tab. 1.4 zusammengestellt. Rule 5. Kann alleine! – Die Kunst, dem Kunden seinen Willen zu lassen Für alle, und insbesondere die in Regel 3 und 4 genannten eServices gilt, dass Kunden sie nur dann als Wert wahrnehmen, wenn sie sie dem eigenen Handeln vorziehen. Sie entscheiden sich bei jeder Aktivität im Rahmen der Transaktion, vor Einkauf und auch bei zusätzlichen Diensten, wie der Wartung, für den Service oder dagegen. Damit besteht der Kauf eines Produktes oder auch die Inanspruchnahme einer Dienstleistung in rekursiven Abläufen aus der Entscheidung etwas selber zu machen oder dafür einen Anbieter zu wählen und der anschließenden Transaktion, die dann zu einem individuellen Wert führt. Tab. 1.4  Wertematrix der digitalen Transformation – Elemente aus Regel 4 Value in Interaction Unterstützung vor Kauf Individualisierung

Produkte präsentieren Ubiquitärer Zugriff Kommunikation

Empfehlungen

Produktvergleich

Suche unterstützen Angebot

Bedarfe erkennen Produkt

Tracking und Tracing Gespräche gestalten kuratieren

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Die Vernetzung und der Austausch zwischen Kunden und Anbietern reißen jedoch nicht mit dem gelungenen Kaufakt ab. Ebenso, wie in jedem Schritt der Kaufvorbereitung und -entscheidung, gilt auch für die Dienst- oder Sachleistungsproduktion, dass der Kunde sich für oder gegen einen Service entscheiden möchte. Hier zeigt die gesamte neue Do-it-yourself-Bewegung, dass Kunden sich nicht auf pure Konsumenten reduzieren lassen möchten. Stattdessen werden sie heute mit den Schlagworten des Co-Creators oder Prosumers (Robra-Bissantz und Lattemann 2005) belegt. In den Begrifflichkeiten der Dienstleistung heißt die Übernahme von Aktivitäten durch Kunden Self Service und sie lässt sich als Gegenteil des Service interpretieren (Bodendorf 1999). In Anfangszeiten diente Self Service, ob in Restaurants, im Supermarkt oder in der Waschstraße, der Kostenreduktion auf Seiten des Anbieters. Mit zunehmenden Erfahrungen zeigte sich, dass der Self Service auch einen Wert für den Kunden darstellen kann. Als psychologische Erklärungen stehen hierfür beispielsweise Theorien zur Verfügung, die am Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit oder Autonomie anknüpfen. Heute differenzieren sich Unternehmen für diejenigen Kunden, die es schätzen, über Self Service von ihren Konkurrenten. Dazu treten Angebote, die gezielt das Do-it-yourself mit kleineren Dienstleistungen und umfangreichen Angeboten unterstützen. So finden sich Millionen von Bastel- oder Reparaturanleitungen, Rezepten, Selbstmach-Tipps und Life-Hacks im Internet. Das Geschäft mit Kursen und Schulungen oder auch mit vorbereiteten Paketen, die alle notwendigen Teilprodukte sowie die entsprechenden Anleitungen für das Selbermachen umfassen, ergänzt dasjenige mit den fertigen Produkten. Als stationäres, reales Angebot treten dazu beispielsweise Fab-Labs: Selbstmach- oder Reparatur-Werkstätten für jedermann. Im eService im Internet stellt die programmierte Website oder App mit den vorgesehenen Prozessen für Kundeninteraktionen die Leistungsbereitschaft dar. Eine gewöhnliche Website ist damit immer eine Interaktion, die durch Self Service geprägt ist. Zusätzliche Leistungen, die dem Kunden Teile seiner Arbeit abnehmen, werden hier daher auch als Support Service bezeichnet. Sie weisen, über das Service-­Potenzial hinaus, den Vorteil auf, dass sie die typische Pull-Logik des Internets, in der gewöhnlich der Kunde die Steuerung des Dialogs übernimmt, auf eine Art überwinden, die der Kunde als Wert empfinden kann (Push-Konzepte) (Robra-­ Bissantz 2005). Sobald der Kunde es nun für sich als wertvoll empfindet, sein T-Shirt selbst zu designen oder sein eigenes Rezept zum eigenen Kochen zu entwickeln, ist der Schritt zur heutigen Maker-Bewegung nicht weit. Der Zugriff auf viele potenzielle Kunden ist heute nicht zentralen Anbietern vorbehalten, die über entsprechende Vertriebskanäle verfügen. Vielmehr können dezentrale Angebote auf Plattformen zusammengeführt oder eigenständig im Internet verbreitet werden und damit jeden Kunden zu einem Anbieter von Leistungen machen, die er selber gut erbringen kann. Entsprechende Customer Experiences führen dezentrale Angebote in allen Phasen der kundenspezifischen Wertschöpfung von Kunde zu Kunde zusammen: von eServices im Einkaufs- oder Transaktionsprozess mit Informations-, Beratungs- oder Vergleichsangeboten (typischerweise im Bereich der Touristik) über Produkte, heute noch meist in digitaler Form (z. B. Musik oder Bücher), oder die

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genannten „Produktions“-Anleitungen, wie in Rezepten, bis hin zu physischen Dienstleistungen, wie Übernachtungs- oder Personentransportangeboten von Privaten. Der geschickte Anbieter entwickelt aus diesen Potenzialen ein Geschäftsmodell, das die dezentralen Angebote als eService für Kunden, aber auch zu seinem Nutzen zusammenführt. Ein bereits seit einiger Zeit existierendes Konzept bezeichnet die freiwillige aber auch unentgeltliche Mitwirkung des Kunden als Customer Integration (Robra-­ Bissantz und Lattemann 2005). Sie beruht auf Anreizen, wie sozialer Anerkennung oder sozialer Einbindung, die dazu führen, dass Kunden, häufig auch im Vertrauen auf Gegenseitigkeit, zu einem Produkt oder einer Dienstleistung eines Anbieters beitragen. Die Kundenintegration führt zu Denkanstößen, die mehr oder auch weniger Service als Wert für den Kunden, aber damit auch als potenzielle Marktchance, betrachten – bis hinein in die Produktionsphase des Produktes (vgl. Tab. 1.5). Insgesamt werden dabei – wie bereits in vorhergehenden Regeln angeklungen und in folgenden weitergeführt – die Rollen und Akteure auf Märkten neu überdacht: von wechselnden Rollen in ehemals eindeutigen Beziehungen, über gleichberechtigte, kooperative Partnerschaften bis hin zum Einbezug der häufig wirkungsmächtigen Masse (Piller et al. 2017). Rule 6. Sehen Sie es doch einmal aus Kundensicht. Wer bestimmt aktiv, was wertvoll ist? Spätestens mit Blick auf die Maker-Bewegung wird klar, dass wir heute die typische Sicht eines Anbieters aufgeben sollten: mit einer konsequenten Trennung zwischen diesem und dem Kunden, gerne gesehen als passive Zielgruppe, die es zu definieren und anzusprechen gilt. In jedem Kunden steckt ein potenzieller Anbieter, in jedem Anbieter steckt ein Kunde, der sich in dieser Rolle nicht als passives Zielobjekt, sondern als der aktive Partner sieht und benimmt. Damit bietet es sich an, alle Akteure als gleichberechtigte Partner zu sehen, die miteinander in Beziehung treten, um sich gegenseitig Werte zu verschaffen. Dies gelingt, naheliegend, umso besser, je genauer man weiß, welches die Werte des jeweiligen Partners sind. Typisch und altbekannt ist hier die Marktforschung, die Kunden konkret nach bestimmten Aspekten hinsichtlich ihrer Präferenzen befragt. Sie gelangt an ihre Grenzen, wenn, wie im Gap-Modell der Service-Qualität beschrieben, die Kundenbedürfnisse nicht vollständig erfasst, nicht richtig verstanden oder falsch in Dienste umgesetzt werden (Bruhn 2016). Manchmal kennt sogar der Kunde selbst seine Bedürfnisse nicht, kann sie nicht äußern oder verharrt in alten Bedarfsstrukturen. Ein Nudging, sei es in der Erhebung, Diskussion oder Erkennung von Bedürfnissen „stupst“ den potenziellen Kunden in andere Richtungen, ohne diese zu explizieren (Thaler und Sunstein 2009). Zudem beobachten Unternehmen zunehmend konsequent die Äußerungen ihrer (potenziellen) Kunden, die, von ihnen nicht befragt, in Diskussionen im Internet Tab. 1.5  Wertematrix der digitalen Transformation – Elemente aus Regel 5 Kundenintegration Akteur

Support Service Anbieter

Self Service Partner

Do-it-yourself Kunde

Maker Crowd

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erscheinen. Das Text-Mining, in Blogs als Blog-Mining, kann Stimmungen zu Produkten, Produktgruppen oder Unternehmen automatisiert zusammentragen. Die Besonderheit dabei ist, dass man Antworten auf Fragen erhält, die man nicht gestellt hatte. Zudem setzt sich zunehmend durch, dass Kunden auch gezielt die Möglichkeit der Beschwerde haben. Auf Beschwerdeplattformen des Anbieters fordert dieser Kunden zur Äußerung von Problemen heraus, die sich in der Umsetzung der Dienstleistung oder in der Erfüllung des gewünschten Wertversprechens zeigen. Der Anbieter vermeidet so insbesondere, dass unzufriedene Kunden ohne seine Kenntnis ihrer Probleme abwandern oder schlechte Erfahrungen an andere potenzielle Kunden weitertragen. Konzepte der so genannten Open Innovation (Chesbrough 2003) beziehen zur Erkundung des potenziellen Wertes für einen Kunden die beschriebene Customer Integration auf die Phase der Ideen- oder Produktentwicklung. In unterschiedlichsten Ansätzen, vom Ideenwettbewerb bis zur Innovationswerkstatt sind Kunden vom Anbieter eingeladen, um ihre Bedürfnis- aber auch Lösungsinformationen hinsichtlich neuer Produkte und Dienstleistungen beizutragen. Produktideen werden weiterhin unter den Kunden diskutiert und bewertet. Dabei stellt die gemeinsame Produktentwicklung aufgrund verschiedener Anreize einen Wert an sich dar. Man erhofft sich, dass der Wert des zu entwickelnden Angebots für den Kunden über eine Abstraktion von den im Unternehmen anvisierten Produktlösungen besser erkennbar wird. Mit den genannten Konzepten werden Interaktionsräume vom Anbieter und in seiner Sphäre nicht allein für die Bereitstellung von Werten (in den genannten eServices) sondern zusätzlich für die Gestaltung derselben eröffnet. Dabei entstehen auch Probleme. Gerade in der Entwicklung von komplexen technischen Produkten und Lösungen, aber auch in der Unterstützung von Prozessen (z. B. dem Kaufprozess), zeigt sich immer wieder, dass der Kunde weder seine Bedürfnisse noch von ihm gewünschte Lösungen auf Anfrage und ohne weitere Hintergrund-­Informationen äußern kann. Hierzu wiederum schlagen die Ansätze der Support Economy vor, das Vertrauen von Kunden soweit zu fördern, dass dieser potenzielle Anbieter weit in seine persönliche Sphäre einlädt und hier sozusagen einen Interaktionsraum zu seinen nicht direkt naheliegenden Bedürfnissen und Problemen öffnet. Auch problematisch ist es, wenn Kunden die Entwicklung von neuen Ideen oder Produkten für den Anbieter nicht in dessen Sinne betreiben. Sie erfinden entweder Lösungen nur für sich, ohne auch andere Konsumenten in Betracht zu ziehen oder sie machen sich sogar einen Spaß daraus, dem Anbieter durch unsinnige oder für diesen negative Ideen zu schaden. Diese Probleme resultieren grundsätzlich daraus, dass zwar in der Werteentwicklung von beiden Seiten etwas geleistet wird, dass aber keine Kollaboration im Sinne einer freiwilligen Zusammenarbeit an als gemeinsam identifizierten Zielen stattfindet. Im letzteren Fall müsste nicht ein Partner seinen Raum öffnen, sondern es wird ein gemeinsamer Raum (Joint-Sphäre) gestaltet. Dort wird in dem Bewusstsein kollaboriert, dass die beste Lösung für eine Customer Experience darin besteht, dass beide Seiten den höchstmöglichen Wert daraus erfahren und hierfür auch in einen gemeinsamen Lernprozess eintreten. Derartige Beziehungen basieren auf gegenseitigem Vertrauen und einer Verbundenheit, die sich in der Wahrnehmung eines gemeinsamen Ziels begründet und zu freiwilliger Leistung in die entsprechende Richtung motiviert.

18

S. Robra-Bissantz und C. Lattemann

Potenziell kann sich die beschriebene Kollaboration von der Entwicklung über die Transaktion und die Produktion bis hin zum Genuss der beiderseitigen Werte erstrecken. Auch das traditionelle Customer Relationship Management nimmt damit eine kollaborative Prägung ein. Hierzu leisten entsprechende digitale, soziale Plattformen einen wesentlichen Beitrag. Denn heutige Vernetzung befördert nicht mehr allein die Kommunikation (über E-Mail, Internettelefonie oder Chat) oder die Koordination (über Webshops, Terminvereinbarungs- oder Prozessabwicklungsumgebungen), sondern auch die Kollaboration in unterschiedlichen Situationen. Die aktuelle Forschung zeigt bereits eine Reihe von Ansätzen auf, die Menschen über eine geschickte Gestaltung von Interaktionsmöglichkeiten und sonstigen Features einer Plattform (so genannten Kollaborationsmechanismen), wie Bewertungen, Spielmechaniken, Profile, Statusmitteilungen etc. zu eher kollaborativem als selbstsüchtigem Verhalten motivieren (Robra-Bissantz et al. 2017). Den Kunden, wie beschrieben und in Tab. 1.6 dargestellt, nicht als passive Zielgruppe zu sehen, sondern ihn aktiv in die Wertentwicklung einzubinden bietet Potenziale: für bessere Produkte aber auch für eine potenziell zukunftsweisende (kollaborative) Anbieter-Kundenbeziehung. Rule 7. Willst Du wirklich mich? – Sorgen Sie dafür, dass Sie für den Kunden wertvoll bleiben Der heutige aktive Kunde ist, auch als verbundener Partner, langfristig nur zu halten, wenn er den Wert, den er sucht, beim Anbieter und seinem Produkt findet. Die zentrale Frage, die sich jedes Unternehmen stellen muss, ist daher, welche Eigenschaft des eigenen Produktes dieses für den Kunden wertvoll macht. Ist es, am Beispiel des Automobils, die Überbrückung von Wegen, das Statussymbol, die Transportmöglichkeit oder die Sicherheit, mithilfe der Navigation den richtigen Weg zu finden? Diese Frage wird für mehrere potenzielle Nachfrager unterschiedlich zu beantworten sein. Jeweils jedoch ist weiter zu analysieren, ob man als Unternehmen den wesentlichen Wert selbst bietet, von Zulieferern einkauft oder es dem Kunden weitgehend überlässt, diesen Wert an anderer Stelle zum eigenen Produkt dazu zu erwerben. Damit stellt man die Frage danach, ob das eigene Unternehmen der Führer in der Wertschöpfung ist und auch potenziell bleibt. Insbesondere letzterer Fall birgt zudem die Gefahr, dass der Wert des Kunden zukünftig völlig unabhängig vom eigenen Produkt entstehen kann. Die Frage ist dann, ob das eigene Unternehmen überhaupt im Wertschöpfungsprozess für den Kunden besteht. In einer feineren Analyse lohnt es sich, für unterschiedliche potenzielle Werte verschiedener Kunden zu prüfen, ob man für diese über die wesentlichen Ressourcen und Kompetenzen, beispielsweise hinsichtlich der eigenen Infrastruktur aber auch des Mitarbeiterstammes, verfügt. Dies offenbart potenziell Marktrisiken aber auch -chancen, ebenso wie Chancen und Risiken, die jenseits des bekannten Marktes entstehen können. Aus den Ressourcen des einen Akteurs entsteht der Wert für einen anderen. Spätestens seit der Modellierung des Erlösmodelles werbefinanzierter Medien als DreiTab. 1.6  Wertematrix der digitalen Transformation – Elemente aus Regel 6 Wertentwicklung

Nudging

Beschwerden

Open Innovation

Customer Collaboration

1  7 Rules of Attraction – Mit kundenorientierten Diensten erfolgreich in der Digitalen … 19

ecksbeziehung (Wirtz 2008) ist offensichtlich, dass nicht immer allein Gut gegen Geld getauscht wird. Der Werbetreibende bezahlt Geld an das Medienunternehmen und erhält dafür Aufmerksamkeit potenzieller Kunden. Diese wiederum erhalten die Dienstleistung des Medienunternehmens kostenlos und bezahlen (potenziell) erst für Güter, die sie vom Werbetreibenden erhalten. Heute finden sich wesentlich differenziertere Tauschbeziehungen in umfassenden Service-Ökosystemen. Nutzer eines Reiseportals oder einer sozialen Plattform nutzen die ihnen gebotene Dienstleistung der Beratung oder Vernetzung, ohne dafür zu bezahlen. Sie bieten eigene Inhalte, ihre Aufmerksamkeit für Werbepartner sowie ihre Daten – über Präferenzen, über Einstellungen, über und zu Beziehungen zu anderen, und ganz wesentlich, über ihr Verhalten. Jeder digitale Dienst, bis hin zu den vernetzten Cyber-­Physical-­ Systems, stellt potenziell Daten über seine Nutzer zur Verfügung. Für die derart vernetzte Gesellschaft bieten die Sozialwissenschaften einen guten Ansatz zur Differenzierung grundsätzlich erstrebenswerter Ressourcen (Bourdieu 1982). Dabei wird im Wesentlichen zwischen dem ökonomischen, dem sozialen und dem kulturellen Kapital unterschieden. Zu einer tatsächlichen kurzfristigen Problemlösung für die Erfüllung eines Bedürfnisses – zum Well-Being einer Person – tritt damit, dass sie es potenziell auch für wertvoll erachtet, beispielsweise Besitz oder Geld, Anerkennung oder Freunde, Wissen oder Bildung anzusammeln (Lattemann und Robra-Bissantz 2006). Tatsächlich gilt dies, in dem Sinne, dass alle Akteure Ressourcen integrieren, auch für Unternehmen. Neben die Gewinnerzielungsabsicht tritt hier beispielsweise die Unternehmenskultur, die Beziehung zu Mitarbeitern und Kunden oder die Reputation sowie das im Unternehmen verfügbare Wissen. Bei letzterem ist, gemäß der heutigen Sicht auf marktliche Austauschbeziehungen ganz klar das Wissen über die Ressourcen nachfragende Seite, die Kunden hervorzuheben. Alle Möglichkeiten, an Daten jeglicher Art zu potenziellen Kunden, zu ihren und den von ihnen genutzten Ressourcen zu gelangen, werden daher heute als digitale Kontrollpunkte bezeichnet, die es, natürlich unter Berücksichtigung der gegenseitigen Wertsteigerung, nicht zu verlieren, sondern, soweit möglich, zu besetzen und im Sinne von Regel 2 möglichst automatisiert zu nutzen gilt. Und hierzu gehört in jedem Fall die direkte Schnittstelle zum Kunden, die nicht leichtfertig auf- oder freigegeben werden sollte: beispielsweise für Zulieferer einer potenziell für den Kunden wertvollen Ressource im eigenen Gesamtprodukt, für Anbieter eines Produktvergleichs oder einer Dienstvermittlung oder auch für Software-­Angebote wie Webservices oder Social Bots, die die eigene Interaktion mit dem Kunden durch ihre Interaktion unterstützen. Ein Check der derzeitigen Wertschöpfung aber auch der neuen Ideen für Dienstleistungen und eServices auf digitale Kontrollpunkte kann Ansatzpunkte für eine Verfeinerung von Konzepten bieten (vgl. Tab. 1.7): insbesondere wenn es um Kundendaten, aber auch wenn es um strategisch zu besetzende Positionen im Wertschöpfungsnetz geht. Tab. 1.7  Wertematrix der digitalen Transformation – Elemente aus Regel 7 Kontrollpunkte

Kundeninteraktion/-daten

Kunden-­ Ressourcen

Anbieter-­ Ressourcen

Service-­ Ökosysteme

20

1.4

S. Robra-Bissantz und C. Lattemann

Fazit

Seven Rules of Attraction und die daraus entwickelten Denkanstöße leiten den typischen Anbieter eines physischen Produktes, einer physischen Dienstleistung oder auch eines digitalen Produktes über Servitization und Digitalisierung erfolgversprechend durch die digitale Transformation. Wie eine Checkliste zu diesen „Seven Rules“, stellt der folgende morphologische Kasten (Tab. 1.8) die genannten Anstöße für eine kreative Wertentwicklung übersichtlich zusammen: Beginnend mit der Frage, was das zukünftige Leistungsangebot umfassen könnte, zeigt er neue Service-Potenziale in dessen Transaktion, der Nutzung durch den Kunden, der gemeinsamen Interaktion während und vor dem tatsächlichen Einkaufsprozess sowie im besonderen Fokus der Individualisierung auf. Viele dieser Dienstleistungen können heute automatisiert werden: mit Apps oder Websites, die immer menschlicher agieren. Für jeden (e-)Service kann es dem Kunden allerdings auch wertvoll sein, die entsprechende Aktivität selbst oder sogar für andere zu erbringen. Alternativ bindet der Anbieter weitere Partner oder eine Crowd (beispielsweise aus anderen Kunden) ein. Mit Blick auf die Zukunft ergeben sich Optionen für die Wertentwicklung aus der konsequenten Integration der Kunden und Rahmenbedingungen für ein nachhaltiges Leistungsangebot aus einem Check der (digitalen) Kontrollpunkte. Tab. 1.8  Wertematrix der digitalen Transformation Produkt

Problemlösung

Sachgut(güter)

Transaktion Value in Use Value in Interaction Unterstützung vor Kauf Individualisierung Kundenintegration Akteur Automatisierung Quasi menschliche Interaktion Wertentwicklung Kontrollpunkte

kaufen nachbestellen Produkte präsentieren Ubiquitärer Zugriff Kommunikation

teilen erinnern Empfehlungen Suche unterstützen Angebot

Bedarfe erkennen Produkt

leihen reparieren Tracking und Tracing Gespräche gestalten kuratieren

Support Service

Self Service

Do-it-yourself

Maker

Anbieter Situationserkennung Sprach-erkennung

Partner Situationsinterpretation Chat

Kunde Lösungsentwicklung Companion

Crowd Leistungserbringung Sprachausgabe

Nudging

Beschwerden

Open Innovation

Kundeninteraktion/-daten

Kunden-Ressourcen

Anbieter-Ressourcen

Customer Collaboration Service-Ökosysteme

Dienstleistung(en) tauschen warten Produktvergleich

eService(s)

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S. Robra-Bissantz und C. Lattemann

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Teil II Design und Rahmenbedingungen

2

Kritische Erfolgsfaktoren für die Einführung von Smart Services: Eine Anbietersicht Sonja Dreyer, Jan Zeren, Benedikt Lebek und Michael H. Breitner

Zusammenfassung

Smart Services ermöglichen es Anbietern, neue Kunden zu gewinnen und die Beziehungen zu bestehenden Kunden zu stärken. Etablierte Unternehmen erkennen, dass neben ihrem derzeitigen Portfolio auch intelligente Dienstleistungen angeboten werden sollten, um am Markt bestehen zu können. Um Smart Services erfolgreich anbieten zu können, müssen verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein. Es werden kritische Erfolgsfaktoren identifiziert, die von Unternehmen genutzt werden können, die in Zukunft intelligente Dienstleistungen anbieten und potenzielle Kunden und deren Bedürfnisse fokussieren wollen. Die Implementierung von Smart Services in bestehenden Geschäftsumgebungen, mit dem Ziel, den Kunden einen Mehrwert zu bieten, ist eine Herausforderung. Mittels einer systematischen Literaturrecherche werden kritische Erfolgsfaktoren für die Einführung von Smart Services aus der wissenschaftlichen Literatur extrahiert, mit dem Ziel einer Einführung im Interesse der Kunden. Experten aus der Praxis bewerteten und ergänzten die Erfolgsfaktoren. Sowohl eine theoretische als auch eine praktische Perspektive werden eingenommen.

Überarbeiteter Beitrag basierend auf Dreyer et al. (2018) Critical Success Factors for Introducing Smart Services: A Supplier’s Perspective, Tagungsband zur Multikonferenz Wirtschaftsinformatik (MKWI) 2018, Paul Drews, Burkhardt Funk, Peter Niemeyer und Lin Xie (Hrsg.), S. 410–421. S. Dreyer (*) · J. Zeren · M. H. Breitner Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected] B. Lebek BHN Dienstleistungs GmbH & Co. KG, Aerzen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Robra-Bissantz, C. Lattemann (Hrsg.), Digital Customer Experience, Edition HMD, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1_2

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26

S. Dreyer et al.

Schlüsselwörter

Smart Service · Smart-Service-Einführung · Smart-Service-Implementierung · Kritische Erfolgsfaktoren · Anbietersicht

2.1

Einleitung

Smart Services ermöglichen die Erfüllung individueller und sich ständig ändernder Kundenbedürfnisse (Massink et al. 2010). Solche Dienste werden für Anbieter immer wichtiger, um sich von Wettbewerbern zu unterscheiden. Obwohl es Unternehmen gibt, die sich ausschließlich auf die Bereitstellung von intelligenten Diensten konzentrieren, sind die meisten Anbieter bestehende Unternehmen, z. B. im Bereich der Produktion von Maschinenkomponenten. Sie zielen darauf ab, mit Smart Services neue Geschäftsmöglichkeiten zu schaffen. Die Entwicklung einer Lösung, die von einem bestimmten Kunden gewünscht wird, führt zu zunehmender Loyalität und einer Stärkung der Beziehung (Rabetino et al. 2016). Die Anforderungen der Kunden sind sehr individuell und ändern sich ständig. Aus Kundensicht ist die Zusammenarbeit mit einem Unternehmen, das diese Bedürfnisse erfüllen kann, prädestiniert, ein langfristiger Partner zu sein. So profitieren sowohl der Anbieter als auch der Kunde von erfolgreichen Smart Services. Da intelligente Dienstleistungen komplex sind, ist die Integration ihrer Angebote in bestehende Vertriebsstrukturen eine praktische Herausforderung (Knote und Blohm 2016). In der wissenschaftlichen Literatur sind Smart Services in den letzten Jahren von wachsendem Interesse. Der intelligente Übergang vom theoretischen Design eines Services zur praktischen Umsetzung wird in mehreren Publikationen behandelt. In den meisten Veröffentlichungen wird betont, wie wichtig es ist, Kundenanforderungen als kritischen Erfolgsfaktor bei der Implementierung von Smart Services zu berücksichtigen. Es müssen jedoch mehrere Voraussetzungen erfüllt sein, um die Bedürfnisse der Kunden zu erfüllen und somit Smart Services erfolgreich umzusetzen. Obwohl mehrere Publikationen Erfolgsfaktoren für die Einführung von Smart Services in einem bestehenden Geschäftsumfeld darstellen, gibt es keinen systematischen Überblick aus Sicht des Anbieters, der den Kunden fokussiert. Um diese Lücke zu schließen, beantworten wir die folgenden zwei Forschungsfragen: Forschungsfrage 1: Was sind, aus Sicht eines Anbieters, kritische Erfolgsfaktoren für die Einführung von Smart Services, die auf die individuellen Kundenbedürfnisse eingehen? Forschungsfrage 2: Inwiefern stimmen die in der wissenschaftlichen Literatur genannten kritischen Erfolgsfaktoren mit in der Praxis relevanten Erfolgsfaktoren überein? Zur Beantwortung dieser Forschungsfragen wurde eine systematische Literaturrecherche basierend auf Webster und Watson (2002) durchgeführt. Unter Verwendung vordefinierter Suchbegriffe wurden verschiedene akademische Datenbanken durchsucht, um relevante Literatur für die Einführung von Smart Services zu ­identifizieren. Anhand der identifizierten Literatur wurden kritische Erfolgsfaktoren

2  Kritische Erfolgsfaktoren für die Einführung von Smart Services: Eine Anbietersicht

27

für die Einführung von Smart Services erarbeitet. Experten, die in Interviews befragt wurden, erweiterten und bewerteten die identifizierten Erfolgsfaktoren. Der Artikel ist wie folgt strukturiert: Im Kapitel 2.2 wird das ausgewählte Forschungsvorgehen erläutert. Smart Services werden definiert, und die vorhandene Literatur im Bereich der Einführung von Smart Services wird im dritten Kapitel vorgestellt. Experten zur Überprüfung der Ergebnisse werden anschließend konsultiert. Die Ergebnisse werden diskutiert und die Implikationen werden systematisch dargestellt. Der Artikel schließt mit Limitationen, Ansätzen für weitere Forschung und Schlussfolgerungen in den Kapiteln 2.4 und 2.5 ab.

2.2

Forschungsvorgehen

Basierend auf der vorhandenen Literatur im Bereich der Smart-Service-Implementierung und Experteninterviews war das Ziel dieser Studie, kritische Erfolgsfaktoren zu identifizieren. Der Artikel ist motiviert durch ein wachsendes Interesse an Smart Services, das sich in der wissenschaftlichen Literatur widerspiegelt. Die Einführung von Smart Services in einem bestehenden Geschäftsumfeld ist eine reale Herausforderung in diesem Bereich. Es gibt jedoch keinen systematischen Überblick über kritische Erfolgsfaktoren in der Literatur aus Sicht des Anbieters. Solche Erfolgsfaktoren unterstützen Unternehmen dabei, Kunden und ihre Bedürfnisse während des Smart-Service-Implementierungsprozesses zu fokussieren. Darüber hinaus erhalten Forscher neue Erkenntnisse über die Einführung von Smart Services. Mit dem Ziel, einen Überblick über bestehende Literatur im Bereich der Smart-Service-Einführung zu erhalten, wurde zunächst eine systematische Literaturrecherche durchgeführt. Orientiert an Webster und Watson (2002) wurde in sechs verschiedenen Datenbanken, darunter AISeL, IEEEXplore, JSTOR, ScienceDirect, SpringerLink und Taylor & Francis, mit vordefinierten Suchbegriffen gesucht. Um die Anzahl der Treffer zu reduzieren, wurden im ersten Schritt die Ergebnisse auf englische Artikel beschränkt. Es wurden auch Whitepaper, Buchkapitel und andere nichtakademische Publikationen ausgeschlossen. Insgesamt zwölf Artikel wurden durch das Lesen der Titel und der Zusammenfassungen als relevant identifiziert. Wenn aus dem Titel und der Zusammenfassung nicht hervorging, ob eine Publikation für das behandelte Thema relevant ist, wurde der gesamte Text berücksichtigt. Sowohl eine Vorwärts- als auch eine Rückwärtssuche wurden basierend auf den identifizierten Artikeln durchgeführt. Dies führte zu zwei weiteren Artikeln, die in die Liste relevanter Literatur aufgenommen wurden. Somit wurden 14 Artikel zur Einführung von Smart Services aus der Perspektive eines Anbieters mit Fokus auf den Kunden identifiziert. Die relevante Literatur wurde anschließend analysiert. Kritische Erfolgsfaktoren für die Einführung von Smart Services wurden unter der Voraussetzung erarbeitet, dass sie aus Lieferantensicht erläutert werden. Kritische Erfolgsfaktoren werden als Faktoren verstanden, die für eine erfolgreiche Smart-Service-Einführung von besonderer Bedeutung und damit relevant für die Wettbewerbsfähigkeit sind (Rockart 1979). Nach dieser Definition wird in diesem Artikel ein in der Literatur benannter Aspekt als kritischer Erfolgsfaktor aufgeführt, wenn er für eine

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S. Dreyer et al.

Abb. 2.1  Verwendetes Forschungsvorgehen

erfolgreiche Einführung als notwendig erachtet wird. Insgesamt wurden neun verschiedene Erfolgsfaktoren identifiziert. Jede Veröffentlichung wurde hinsichtlich der in Betracht gezogenen Erfolgsfaktoren überprüft. Es wurde zwischen teilweise berücksichtigten Faktoren und berücksichtigten Faktoren unterschieden. Teilweise berücksichtigt bedeutet, dass sie benannt, aber nicht detailliert beschrieben wurden. Berücksichtigte Erfolgsfaktoren wurden von den jeweiligen Autoren diskutiert, analysiert oder kritisch überprüft. Die Erfolgsfaktoren bildeten die Grundlage für semistrukturierte Interviews mit zwölf Experten aus acht verschiedenen Unternehmen aus den Bereichen IT, Elektronik, Produktion und Medizintechnik. Allen Unternehmen ist gemeinsam, dass sie planen, Smart Services anzubieten oder bereits diese Art Services anbieten. Aus der Literatur extrahierte kritische Erfolgsfaktoren wurden sowohl hinsichtlich ihrer Bedeutung in der Praxis kritisch bewertet als auch erweitert. Dies führte zu kritischen Erfolgsfaktoren, die als Orientierung für die Einführung von Smart Services genutzt werden können und eine Fokussierung auf den Kunden gewährleisten. Abb. 2.1 zeigt das verwendete Forschungsvorgehen.

2.3

 ritische Erfolgsfaktoren für die Einführung von Smart K Services

Intelligente Dienste werden durch Informations- und Kommunikationstechnologie ermöglicht. Ziel von Smart Services ist es, kundenindividuelle Anforderungen zu adressieren (Demirkan et al. 2015). Dies wird durch Interaktion mit dem Kunden und einer Datensammlung in Echtzeit realisiert (Wünderlich et  al. 2012). In der Literatur wird dies als „Co-Creation“ bezeichnet. Mit Hilfe von verbundenen Systemen und intelligenten Maschinen (Gavrilova und Kokoulina 2015) werden Kontextinformationen genutzt, um an die Bedürfnisse der Kunden angepasste Services anzubieten (Oh et  al. 2010). Die verwendeten Informationen beziehen sich auf die Technologie, die Umwelt sowie den sozialen Kontext (Alahmadi und Qureshi 2015; Lee et al. 2012). Informationen aus mehreren Quellen werden kombiniert und bilden die Grundlage für Datenanalysen. Ergebnisse können in Dashboards dargestellt oder dazu verwendet werden, proaktiv Vorschläge zu machen (Kynsilehto und Olsson 2012). Hohe Dynamik (Byun und Park 2011) und der Einsatz von Kollaborationstechnologie ermöglichen eine kontinuierliche Kommunikation und Rückmeldung, die ebenfalls für Smart Services essenziell sind (Wünderlich et al. 2015).

2  Kritische Erfolgsfaktoren für die Einführung von Smart Services: Eine Anbietersicht

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Allmendinger und Lombreglia (2005) fassen die wichtigsten Merkmale von Smart Services zusammen. Smart Services werden durch Informationen ermöglicht. Kontextinformationen, häufig in Echtzeit gesammelt, werden für Analysen verwendet, z. B. mit Hilfe der Nutzung von Maschinenintelligenz. Smart Services ermöglichen es, unerwartete Ereignisse zu vermeiden und somit eine neue Art von Wert zu schaffen. In diesem Artikel ist ein Anbieter ein Unternehmen oder eine Organisation, die ihren Kunden Smart Services anbietet. Der Kunde kann ein geschäftlicher oder privater Nutzer sein. Die genannten Aspekte werden als Grundlage für die folgenden Untersuchungen herangezogen.

2.3.1 Erarbeitung kritischer Erfolgsfaktoren aus der Literatur Laut Priller et al. (2014) haben die Datensicherheit und der damit verbundene Datenschutz (1) einen großen Anteil bei der Einführung von Smart Services. Intelligente Dienste erfordern eine große Menge an Daten und Informationen, teilweise in Echtzeit. Da diese Daten sensibel sein können, ist ein effektives Sicherheitskonzept unumgänglich. Demirkan et al. (2015) stimmen zu und erklären, dass sowohl eine Sicherheits- als auch eine Datenschutzlösung entwickelt werden muss, bevor Smart Services angeboten werden. Daten und Informationen bilden die Grundlage für Wettbewerbsvorteile, weshalb Sicherheits- und Datenschutzbelange für potenzielle Kunden ein wichtiger Aspekt sind. Darüber hinaus müssen Rechtsgrundlagen (2) in einem frühen Stadium der Einführung von Smart Services berücksichtigt werden (Theorin et al. 2016; West und Gaiardelli 2016). Für die große Menge an Daten und Informationen ist Transparenz bezüglich der Besitz- und Nutzungsrechte erforderlich. Der Einfluss von Technologieentwicklungen auf Rechtsfragen muss geklärt werden (Barile und Polese 2010). Mitarbeiterqualifikation (3) ist ein weiterer Erfolgsfaktor für die Einführung von Smart Services, der in der Literatur genannt wird. Obwohl die Qualifikation der Mitarbeiter immer wichtig ist, wenn Kunden Produkte oder Dienstleistungen angeboten werden, hat sich die Art und Weise, Mitarbeiter auszubilden, geändert (Lerch und Gotsch 2015). Das Zeitalter der Digitalisierung ist der Grund für veränderte Anforderungen an die Mitarbeiter eines Unternehmens, das Smart Services anbieten und die Einführung im Unternehmen des Kunden unterstützen will. In diesem Zusammenhang werden Kompetenzen genannt, die Wissen und Fähigkeiten zusammenfassen, die für die erfolgreiche Einführung von Smart Services notwendig sind (Klötzer und Pflaum 2017). Smart Services sind sehr kundenorientiert, weshalb Verkaufsschulungen als wichtig herausgestellt werden, wenn es um die Qualifikation von Mitarbeitern geht (West und Gaiardelli 2016). Dies hilft auch, Kundenbedürfnisse zu verstehen. Neben den individuellen Kompetenzen der Mitarbeiter wird das Zusammenspiel mit anderen Mitarbeitern verschiedener Abteilungen (4) als ­Erfolgsfaktor bezeichnet. Das Zusammenspiel verschiedener Fähigkeiten und Erfahrungen spielt eine Rolle (Bullinger et al. 2015). Pétercsák et al. (2016) weisen darauf hin, dass die Interessengruppen sorgfältig ausgewählt werden müssen. Es ist notwendig, dass sie bereit sind, ihr Wissen zu teilen und mit den

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anderen Teammitgliedern zusammenzuarbeiten. Aus Kundensicht ist es hilfreich, einen eindeutigen Ansprechpartner zu haben, der für den angebotenen Smart Service verantwortlich ist. Allmendinger und Lombreglia (2005) zufolge ist es ebenfalls wichtig, dass das Management an den neuen Entwicklungen teilnimmt (5). Ansonsten scheitert das Projekt, Smart Services anzubieten, weil der Anbieter von potenziellen Kunden nicht als innovativ bewertet wird. Die Führungsebene ist verantwortlich für die Schaffung einer Innovationskultur in Unternehmen, da eine innovative Strategie in die bestehende Unternehmensstrategie integriert werden muss (Barile und Polese 2010). Die Berücksichtigung der Kundenbedürfnisse (6) ist der zentrale Aspekt erfolgreicher Smart Services. Dies muss auch in der Einführungsphase des Smart Services berücksichtigt werden (Geum et al. 2016). Die Motivation, warum ein Kunde einen smarten Service nutzen möchte, muss sich im Angebot widerspiegeln. Klötzer und Pflaum (2017) teilen die gleiche Meinung und betonen, dass zusätzlicher Kundennutzen geschaffen werden muss. Der Kunde wird als wichtiger eingeschätzt als die Technologie (West und Gaiardelli 2016). Die Zusammenarbeit mit den Kunden wird empfohlen, um intelligente Serviceangebote erfolgreich einzuführen. Ein Vorteil ist, dass der Lebenszyklus eines Smart Services (7) in der spezifischen Anwendung besser verstanden werden kann (Geum et al. 2016). Ein inte­ griertes Lebenszyklusmodell unter Berücksichtigung hybrider Produkte und ihrer Dienstleistungen trägt zur Nutzung des Wertschöpfungspotenzials bei (Blinn et al. 2008). Die Untersuchung, welche Arten von Aktivitäten ein Kunde ausführt, ermöglicht es, einen Smart Service anzupassen. Anforderungen können erkannt und die Arbeitsweise des Kunden unterstützt werden (Allmendiger und Lombreglia 2005). Es ermöglicht zu erkennen, welche Art von Smart Services für potenzielle Kunden relevant ist. Die Kompatibilität eines neuen Dienstes mit der IT-Infrastruktur (8) hat wesentlichen Einfluss auf die erfolgreiche Umsetzung (Bullinger et al. 2015). Baars und Ereth (2016) identifizieren mehrere Herausforderungen, die sich aus der Einführung von Smart Services ergeben (Baars und Ereth 2016). Ein wichtiger Punkt ist die Datenintegration. Es muss mittels einer geeigneten IT-Infrastruktur gelöst werden. Theorin et al. (2016) beschreiben, wie eine IT-Infrastruktur aussehen kann, die für Smart Services geeignet ist. Moderne Hardware in Form von großen und schnellen Speichern ist eine Voraussetzung dafür (Baars und Ereth 2016). Dies gilt nicht nur für den Smart-Service-Anbieter, sondern auch für den Kunden. Bezogen auf den Standort des Kunden ist eine entsprechende IT-Infrastruktur notwendig, um das volle Potenzial eines Smart Services auszuschöpfen. In wissenschaftlichen Publikationen werden Referenzmodelle (9) entwickelt, die helfen, sich bei der Einführung von Smart Services zu orientieren. Bullinger et al. (2015) empfehlen, bei der Einführung von Smart Services ein geeignetes Referenzmodell zu verwenden. Dies wird dadurch untermauert, dass die Einführung von Smart Services eine umfassende Planung erfordert (Demirkan et  al. 2015). Tab.  2.1 fasst die identifizierte ­Literatur in Verbindung mit den in Betracht gezogenen kritischen Erfolgsfaktoren zusammen.











⚫ Betrachtet ⚪ Teilweise betrachtet

Allmendiger und Lombreglia 2005 Baars und Ereth 2016 Barile und Polese 2010 Bullinger et al. 2015 Demirkan et al. 2015 Geum et al. 2016 Klötzer und Pflaum 2017 Lê Tuán et al. 2012 Lerch und Gotsch 2015 Lesjak et al. 2014 Pétercsák et al. 2016 Priller et al. 2014 Theorin et al. 2016 West und Gaiardelli 2016

1) Datensicherheit und Datenschutz

⚫ ⚫ ⚫





2) Rechtsgrundlagen













3) Mitarbeiterqualifikation

⚫ ⚫





4) Inter­ disziplinäre Teams

Tab. 2.1  Literatur sortiert nach den genannten kritischen Erfolgsfaktoren







5) Betei­ ligung des Managements ⚫



⚫ ⚫





6) Berück­ sichtigung der Kundenbedürfnisse ⚫





7) Berücksichtigung des Produktlebenszyklus ⚫





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9) Verwendung von 8) IT-­ ReferenzInfrastruktur modellen

2  Kritische Erfolgsfaktoren für die Einführung von Smart Services: Eine Anbietersicht 31

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S. Dreyer et al.

2.3.2 V  ergleich von theoretisch entwickelten Erfolgsfaktoren mit der Praxis Um die theoretischen Ergebnisse mit der praktischen Relevanz zu vergleichen, wurden zwölf Experten zu kritischen Erfolgsfaktoren für Smart Services befragt (siehe Tab. 2.2). Die Experten waren sich einig, dass Smart Services eine bessere Kommunikation mit dem Kunden ermöglichen (B, G2). Im Gegensatz zum Verkauf von Produkten bedeutet das Angebot von Dienstleistungen sowohl kontinuierlichen Kontakt als auch Einnahmen. Produkte sind häufig bereits ausgeschöpft, weshalb Dienstleistungen in Verbindung mit Produkten eine logische Erweiterung für Anbieter darstellen (A2). Darüber hinaus ist es ein konsequenter Schritt, um wettbewerbsfähig zu bleiben (D). Obwohl Smart Services zunehmend im Fokus stehen, sollten bereits bestehende interne Prozesse genutzt und angepasst werden (D). Vom Kunden durchgeführte Prozesse sollten auch bei der Einführung eines neuen Smart Services berücksichtigt werden. Dies ist besonders wichtig für große Unternehmen, da ihnen oft die Agilität fehlt (F). Als große Herausforderung nannte ein Experte die Tatsache, dass Smart Services oft ortsunabhängig sind (G1). Dies bedeutet, dass die Services auf der ganzen Welt durchgeführt werden. Sicherheits- und Datenschutzprobleme (1) werden als wichtiger Faktor betrachtet, wenn es darum geht, Smart Services anzubieten, da neue Anforderungen e­ ntstehen. Maschinen sind mehr und mehr mit externen Netzwerken wie dem Internet verbunden (A1). Aber nicht nur Maschinen und weitere technische Geräte müssen berücksichtigt werden, wenn es um Datensicherheit und Datenschutz geht, sondern auch die Menschen, die in der neuen Umgebung arbeiten. Regelmäßig durchgeführte Schulungen Tab. 2.2  Befragte Experten und deren Hintergrund Unternehmen/Teilnehmer Unternehmen A Teilnehmer A1 Teilnehmer A2 Unternehmen B Teilnehmer B Unternehmen C Teilnehmer C1 Teilnehmer C2 Unternehmen D Teilnehmer D Unternehmen E Teilnehmer E1 Teilnehmer E2 Unternehmen F Teilnehmer F Unternehmen G Teilnehmer G1 Teilnehmer G2 Unternehmen H Teilnehmer H

Branche/Abteilung IT-Branche, IT-Dienstleister IT-Demand-Management Innovation IT-Branche, Prozessoptimierung Programmierung Elektronikindustrie, Lieferant von Kommunikationssystem Beratungsmanagement Technischer Service Fertigungsindustrie, Komponentenhersteller Technischer Service Produzierende Industrie, Automobilzulieferer Planung Planung und Programmierung Produzierende Industrie, Automobil- und Industriezulieferer Strategisches Management Fertigungsindustrie, Hersteller von Automatisierungssystemen Innovation Produktmanagement, technischer Service Medizintechnikindustrie, Produzent medizinischer Instrumente Programmierung und Entwicklung

2  Kritische Erfolgsfaktoren für die Einführung von Smart Services: Eine Anbietersicht

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werden von einem Experten als mögliche Lösung zur Steigerung der Sensibilität für das Thema genannt (E2). Der mögliche zukünftige Kunde muss dem Dienstleister vertrauen (A2). Dies gilt insbesondere für Smart Services, da sensible Daten ausgetauscht und verarbeitet werden. Experten betonten jedoch, dass die Einhaltung von Sicherheits- und Datenschutzstandards für einen Kunden keinen Mehrwert bringt (F, G1). Dies sind jedoch dennoch Voraussetzungen, um Smart Services erfolgreich anbieten zu können. Ähnliche Überlegungen gelten für die Rechtsgrundlagen (2). Da der gesamte Bereich der Nutzung großer Datenmengen vom Kunden eine schnelle und dynamische Entwicklung ist, fehlt es häufig an Klarheit über den rechtlichen Rahmen (E1). Ein Experte hob hervor, dass Projekte im Bereich der Smart Services ständig auf ihre rechtliche Kompatibilität überprüft werden müssen (E2). Im Gegensatz dazu waren einige Experten der Meinung, dass die Rechtsgrundlage eine reine Definitionsfrage ist, weshalb sie nicht viel Zeit in Anspruch nimmt (A1, H). Rechtsgrundlagen müssen jedoch innerhalb des Unternehmens des Anbieters und des Kunden sowie zwischen den beteiligten Partnern eindeutig sein. Der Einfluss der Mitarbeiterqualifikation (3) auf den Erfolg der Einführung von Smart Services wird von den Experten als vergleichsweise gering eingeschätzt (A1, C1, C2, G1). Einige von ihnen erklärten, dass es wichtig ist, für das Thema Smart Services zu sensibilisieren (F, G2) und sicherzustellen, dass alle Mitarbeiter dasselbe Verständnis haben (D). Die Handhabung und Wartung der Systeme, die für das Angebot von Smart Services notwendig sind, erfolgt durch Personen (E2). Daher wird von einigen Befragten als wichtig und entscheidend für den Erfolg angesehen, dass Mitarbeiter in den Einführungsprozess von Smart Services eingebunden sind (E2, G1). Da sich die Prozesse teilweise ändern, können Schulungen dazu beitragen, Unsicherheiten zu reduzieren und die Effizienz zu steigern (A1). Eine andere Tendenz ist, dass die Systeme viel einfacher sein werden. Zwei Experten hoben hervor, dass Smart Services so strukturiert sein müssen, dass umfassende Schulungen nicht notwendig sind (F, G1). Nur ausgewählte Mitarbeiter sollten Schulungen durchlaufen, z. B. Mitarbeiter aus dem Vertrieb. Ein Experte aus der Elektronikindustrie war der Meinung, dass Fähigkeiten oft viel wichtiger sind als Qualifikationen (C2). Aus diesem Grund sind Schulungen nicht immer der Weg zum Erfolg. Es muss jedoch sichergestellt sein, dass der Kunde eines Smart Services einen zuverlässigen Ansprechpartner hat, der bei Anliegen unterstützen kann. Smart Services werden von allen Experten als sehr komplex eingeschätzt, weshalb Entscheidungen einzelner Mitarbeiter als ineffizient beurteilt werden (E1). Interdisziplinäre Teams (4) helfen, Entscheidungen zu treffen, die verschiedene Abteilungen zufriedenstellen. Es wird angenommen, dass der Prozess der Einführung von Smart Services viel länger dauert, wenn es diese Art von Teams nicht gäbe (G1). Ein Interviewpartner der Fertigungsindustrie wies darauf hin, dass interdisziplinäre Teams nicht auf das Unternehmen beschränkt sind, sondern dass auch die potenziellen Kunden bei Entscheidungen mit einbezogen werden sollten (G2). Da smarte Services immer individualisiert werden müssen, erleichtert eine Kooperation die Einführung im Unternehmen des Kunden. Die Bedeutung der Einbeziehung des Managements (5) wird von den Experten sehr unterschiedlich wahrgenommen. Smart Services sind eine neue Entwicklungsrichtung, die durch das Management

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S. Dreyer et al.

vorgelebt werden muss (D). Da sich das Projektmanagement (10) am operativen Geschäft beteiligt, wird es allgemein als wichtiger angesehen (E2). Die Bedeutung der Beteiligung des Managements hängt von der Unternehmensstruktur ab (A2). Die Berücksichtigung von Kundenbedürfnissen (6) gilt als der wichtigste kritische Erfolgsfaktor. Smart Services müssen immer für den Kunden entwickelt werden, weshalb sie die entscheidende Rolle für eine erfolgreiche Einführung spielen. Alle bereits genannten Erfolgsfaktoren sind mit dem Kunden verbunden. Es muss ein individueller Mehrwert geschaffen werden, weshalb eine Entwicklung abseits des Kunden unbedingt vermieden werden muss (C2). Ein Experte erklärte, dass Kundenanforderungen wichtiger sind als eine schnelle Einführung eines Smart Services (F). Im Idealfall werden die Erwartungen mehr als erfüllt (C1, C2). Servicelebenszyklen (7) sind in der Regel kürzer als Lebenszyklen klassischer Hardware. Dennoch empfiehlt es sich, die Lebenszyklen von Hardware und Services gemeinsam zu betrachten, da sich die Rentabilität oft aus der Kombination von Produkten und Services ergibt (G2). Ein Experte merkt an, dass dies nur für Smart Services im Zusammenhang mit Produkten gilt (A1). Ganz neue Smart Services haben einen anderen Lebenszyklus, weshalb bestehende Lebenszyklen nicht angewendet werden können. Darüber hinaus wird der Lebenszyklus eines Smart Services stark extern gesteuert (C2). Individuelle Umstände im Unternehmen des Kunden sollten berücksichtigt werden. Darüber hinaus sollten bereits implementierte Services bei der Einführung eines neuen Smart Services berücksichtigt werden (D). Dies erleichtert die Einführung und Nutzung des Smart Services, da doppelte Arbeit vermieden wird. Im Kontext von Smart Services spielt die Verfügbarkeit eine entscheidende Rolle. Eine geeignete IT-Infrastruktur (8) bildet dabei die Grundlage für einen Smart Service (E2). Obwohl dies eine Voraussetzung für das Angebot eines intelligenten Dienstes ist, ist es kein als sehr wichtig eingeschätzter Erfolgsfaktor. Hinsichtlich der IT-Infrastruktur gab es zwei unterschiedliche Meinungen. Auf der einen Seite hieß es, Smart Services sollten der bestehenden Infrastruktur folgen (E2). Auf der anderen Seite wurde umgekehrt erklärt, dass die IT immer der Lösung folgen sollte (A1, F). Welcher Weg von den Unternehmen gewählt wird, hängt oft vom Investitionsgrad ab. Dies gilt sowohl für den Dienstleister als auch für den Kunden. Wenn Unternehmen zum ersten Mal einen Smart Service einführen, können Referenzmodelle (9) nützlich sein. Ein Experte stimmte zu und ergänzte, dass es stark vom Modell abhängt. Je besser ein Referenzmodell zu den Unternehmensstrukturen passt, desto besser kann es genutzt werden (F, G1). Daher bieten sehr generische Modelle einen geringen Mehrwert (E1, E2, H). Smart Services sind dynamisch, weshalb es schwierig ist, statische Referenzmodelle zu verwenden (A1). Die Anforderungen ändern sich ständig und daher wird das Feedback der Kunden als viel wertvoller eingeschätzt (F). Klar definierte Anforderungen nicht nur von den ­Kunden, sondern auch von internen Stakeholdern (11) wurden von zwei Experten als zusätzlicher Erfolgsfaktor genannt, da sie helfen, abteilungsspezifische Pro­ bleme zu vermeiden (E1, E2). Ein flexibles Projektmanagement wird benötigt und als Voraussetzung für eine erfolgreiche Einführung von Smart Services genannt (H). Aufgrund der dynamischen Umgebung, sowohl im Unternehmen des Anbieters als

2  Kritische Erfolgsfaktoren für die Einführung von Smart Services: Eine Anbietersicht

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auch im Unternehmen des Kunden, ist eine schnelle Anpassung an Veränderungen von entscheidender Bedeutung. Entscheidend ist, wie gut es gelingt, neue Smart Services in bestehende Geschäftsmodelle (12) und die Unternehmensstrategie zu implementieren (A2, D). Hierbei ist es wichtig, eine geeignete Preisstrategie zu entwickeln (A1). Die Nutzung von Smart Services ist in der Regel mit zusätzlichen Kosten für den Kunden verbunden. Dies muss bei der Preisgestaltung berücksichtigt werden. Der Preis eines solchen Services muss gerechtfertigt sein, andernfalls würde der Smart Services nicht von den Kunden angefordert werden. Es wird festgestellt, dass dies nur durch eine konsequente Ausrichtung auf die Anforderungen der Kunden vermieden werden kann. Eine beispielhafte Lösung für die Preisgestaltung besteht darin, die Kosten des Produkts im Zusammenhang mit einem Smart Service zu reduzieren. Die Berücksichtigung des Marktes (13) wird von mehreren Experten aus der Praxis als äußerst wichtig erachtet (A2, C1, C2, D, G2). Auf der einen Seite dürfen kulturelle Aspekte bei der Einführung eines weltweit einsetzbaren Smart Services nicht vernachlässigt werden (G2). Die Offenheit gegenüber neuen Arten von Produkten und Dienstleistungen unterscheidet sich zwischen Ländern und Kontinenten. Dies beeinflusst den besten Zugang zu einem neuen Markt. Daraus ergeben sich auch Aspekte wie die geeignete Marketingstrategie. Auf der anderen Seite ist die Positionierung im Markt wichtig (G1). Eine hohe Marktpräsenz kann es ermöglichen, neue Kunden zu gewinnen und Standards zu etablieren. Standardisierung (14) wird als wichtig bezeichnet, um den Aufwand für die Einführung von Smart Services zu verringern (A2, C1, D, G2). Der Einführungsprozess ist kürzer und weniger kompliziert, insbesondere in Bezug auf technische Aspekte. Die Berücksichtigung des Marktes und damit zusammenhängender Aspekte erweist sich als wichtigster Erfolgsfaktor, der in der Literatur nicht im Fokus steht. Tab. 2.3 fasst alle kritischen Erfolgsfaktoren aus der Anbieterperspektive für die Einführung von Smart Services zusammen, die sowohl aus der Literatur als auch aus Experteninterviews herausgearbeitet wurden.

2.4

Limitationen und zukünftige Forschung

Grundlage der Untersuchungen bildeten wissenschaftliche Publikationen zur Smart-Service-Implementierung aus Anbietersicht. Relevante Literatur wurde durch die Verwendung englischer Suchbegriffe gefunden. Suchbegriffe in anderen Sprachen wurden nicht berücksichtigt. Alle Suchbegriffe enthielten den Begriff „Smart Service“. Andere Begriffe, die als Synonyme verwendet werden könnten, wurden nicht berücksichtigt. Die Einbeziehung von Suchbegriffen in anderen Sprachen und die Berücksichtigung von Synonymen für Smart Services hätte zu ­weiteren Ergebnissen führen können. Bei zwölf Interviews in acht verschiedenen Unternehmen ist die Anzahl der befragten Experten nicht notwendigerweise repräsentativ. Die Befragung weiterer Experten zu kritischen Erfolgsfaktoren für die Einführung von Smart Services könnte zu weiteren Aspekten führen. Dies gilt insbesondere für Experten aus noch nicht berücksichtigten Branchen. Da Smart Services noch in der

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S. Dreyer et al.

Tab. 2.3  Kritische Erfolgsfaktoren für die Einführung von Smart Services Kritischer Erfolgsfaktor 1) Datensicherheit und Datenschutz 2) Rechtsgrundlagen 3) Mitarbeiterqualifikation

4) Interdisziplinäre Teams

5) Beteiligung des Managements 6) Berücksichtigung der Kundenbedürfnisse 7) Berücksichtigung des Produktlebenszyklus 8) IT-Infrastruktur

9) Verwendung von Referenzmodellen 10) Projektmanagement

11) Berücksichtigung interner Anforderungen 12) Geschäftsmodell

13) Berücksichtigung des Marktes 14) Standardisierung

Beschreibung Daten, die für Smart Services verwendet werden, sind sensibel. Ein effektives Sicherheits- und Datenschutzkonzept ist notwendig. Transparenz bezüglich der Besitz- und Nutzungsrechte von Daten und Informationen ist erforderlich. Es ist wichtig, für das Thema Smart Services zu sensibilisieren. Schulungen tragen dazu bei, Kundenbedürfnisse zu verstehen und die Einführung von Smart Services zu verbessern. Smart Services sind sehr komplex, was interdisziplinäre Teams sowohl intern als auch zwischen Anbieter und Kunden erforderlich macht. Eine Innovationskultur kann nur entstehen, wenn das Management dies beispielhaft vorlebt. Die Bedeutung des Managements hängt von der Unternehmensstruktur ab. Smart Services müssen immer für den Kunden entwickelt werden. Nur Services, die Kundenanforderungen erfüllen, können erfolgreich sein. Der Lebenszyklus von Smart Services unterscheidet sich teilweise von denen von Produkten. Dies sollte berücksichtigt werden. Eine geeignete IT-Infrastruktur ist eine Voraussetzung für Smart Services, da Daten gesammelt, übertragen, verarbeitet und analysiert werden müssen. Als Orientierung dienen Referenzmodelle, die zur Unternehmensstruktur passen. Ein flexibles Projektmanagement ermöglicht eine schnelle Anpassung an die sich verändernde Umgebung und trägt dazu bei, Smart Services in einer bestehenden Strategie zu implementieren. Die Anforderungen interner Stakeholder sind als Meilensteine nützlich und sollten berücksichtigt werden, um interne Inkonsistenzen zu vermeiden. Neue Smart Services müssen in Geschäftsmodelle eingebettet werden. Eine geeignete Preisstrategie sowie geeignete Kooperationspartner müssen erarbeitet werden. Bei der Einführung eines weltweit einsetzbaren Smart Services müssen kulturelle Aspekte berücksichtigt werden. Die Marktpositionierung spielt eine wichtige Rolle. Smart Services sollten standardisiert werden, um sie einfach anpassen zu können und um Komplikationen mit Partnern und Kunden zu vermeiden.

Entwicklung sind, gibt es in den meisten Unternehmen noch keine Best-Practice-­ Ansätze für die Einführung eines neuen Smart Services, der den Kunden fokussiert und in ein bestehendes Geschäftsumfeld einbindet. Darüber hinaus gibt es noch keine abschließenden Erkenntnisse, welcher Kunde für die Nutzung von Smart Services prädestiniert ist. Zudem kann nicht gesagt werden, ob sich die kritischen Erfolgsfaktoren in Zukunft ändern werden.

2  Kritische Erfolgsfaktoren für die Einführung von Smart Services: Eine Anbietersicht

2.5

37

Fazit

Kritische Erfolgsfaktoren aus der Anbieterperspektive für die Einführung von Smart Services wurden erarbeitet. Ziel war es, Richtlinien zu erarbeiten, die dazu beitragen, Smart Services einzuführen, die den Kunden zufriedenstellen. Ein Smart Service kann nur dann erfolgreich eingeführt werden, wenn er im Interesse der Kunden umgesetzt wird. Insgesamt 14 Publikationen bildete die Grundlage für die Identifizierung kritischer Erfolgsfaktoren aus der Literatur. Neun kritische Erfolgsfaktoren wurden gefunden und analysiert. Theoretisch extrahierte Faktoren wurden mit den Anforderungen aus der Praxis verglichen. Zwölf Interviews mit Experten aus acht verschiedenen Unternehmen wurden durchgeführt. Die Experten kamen aus der IT-Branche, aus der Elektronik- und Fertigungsindustrie sowie aus der Medizintechnikbranche. Auf der einen Seite wurden bereits extrahierte Erfolgsfaktoren evaluiert. Alle kritischen Erfolgsfaktoren aus der Literatur, mit Ausnahme der Verwendung von Referenzmodellen, wurden im Durchschnitt als relevant eingeschätzt. Zudem wurden die Erfolgsfaktoren dahingehend erweitert, dass sie praktisch relevant sind. Ein Erfolgsfaktor, der mehrfach als sehr wichtig bezeichnet wurde und in der Literatur nicht im Mittelpunkt stand, war die Berücksichtigung des Marktes. Da Smart Services oft weltweit angeboten werden, müssen kulturelle Aspekte und Marktdynamiken berücksichtigt werden. Mit Blick auf die potenziellen Kunden müssen Anbieter von Smart Services sorgfältig planen, wie sie am besten Zugang zu einem neuen Markt erhalten und wie sie eine hohe Marktpräsenz sicherstellen können. Da sowohl eine theoretische als auch praktische Perspektive eingenommen wurde, sind die ausgearbeiteten kritischen Erfolgsfaktoren als Richtlinien für Unternehmen nützlich, die ihren Kunden Smart Services anbieten möchten.

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3

Konstruktion eines Omni-ChannelFrameworks für Sales & Service in KMU in der B2B-Telekommunikationsindustrie Robert Heidekrüger, Markus Heuchert, Nico Clever und Jörg Becker Zusammenfassung

Die Nutzung mobiler Technologien ist heutzutage selbstverständlich, gleichermaßen im privaten wie im beruflichen Bereich. Auch Geschäftskunden erwarten vermehrt ein Einkaufs- und Serviceerlebnis wie aus dem Privaten bekannt, daher müssen Business-to-Business (B2B)-Anbieter neue Lösungen erarbeiten. Omni-­ Channel Management ist ein Trend, der immer mehr Anreiz gewinnt. In diesem Kontext fehlt ein grundlegendes Verständnis der Einflussfaktoren für Sales & Service im Bereich kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU). Die Telekommunikationsindustrie ist von immenser Wichtigkeit und dient in diesem Forschungsvorhaben als Zieldomäne für die Entwicklung eines Omni-Channel-Frameworks für Sales & Service von KMU. Durch die Kooperation mit einem der drei größten deutschen Telekommunikationsanbieter konnten 22 Interviews geführt werden, welche als Datengrundlage für die Analyse dienen. Schlüsselwörter

Omni-Channel · KMU · B2B · Telekommunikation · Omni-Channel-­Management

3.1

Motivation

Der Weg hin zu einer digitalen Gesellschaft im Angesicht der anhaltenden Digitalisierung der Welt wirkt sich sowohl auf das Privat- als auch das Berufsleben der Menschen aus (Evangelista et  al. 2014; Hagberg et  al. 2016). Die Nutzung von Überarbeiteter Beitrag basierend auf Heidekrüger et al. (2018) Towards an Omni-Channel Framework for SME Sales and Service in the B2B Telecommunications Industry, Tagungsband zur Multikonferenz Wirtschaftsinformatik (MKWI) 2018, Paul Drews, Burkhardt Funk, Peter Niemeyer und Lin Xie (Hrsg.), S. 386–397. R. Heidekrüger (*) · M. Heuchert · N. Clever · J. Becker Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Robra-Bissantz, C. Lattemann (Hrsg.), Digital Customer Experience, Edition HMD, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1_3

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R. Heidekrüger et al.

(mobiler) Technologie ist heutzutage selbstverständlich, speziell aber nicht ausschließlich für die jüngeren Generationen. In 2015 nutzten 52,7 % der Weltbevölkerung das Internet von ihren Smartphones aus, für 2019 ist eine Steigerung auf 63,4 % prognostiziert (EMarketer 2014). Angesichts dieser Entwicklung kann beobachtet werden, dass Menschen Verhaltensweisen und Erwartungen aus ihrem Privatleben gleichermaßen in ihr Berufsleben übertragen. Infolgedessen erwarten Geschäftskunden vermehrt Einkaufs- und Serviceerfahrungen ähnlich zu denen, die sie als private Konsumenten gewohnt sind, wenn sie im Geschäftsumfeld in der Beschaffung tätig sind (Forrester Consulting 2014). Um diesen Erwartungen zu begegnen und letzten Endes durch Wettbewerbsvorteile und Dienstleistungsexzellenz herauszustechen, müssen Business-to-Business (B2B)-Händler und Dienstleister neue Lösungen finden und Angebote schaffen. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Konzept des Omni-Channel (OC)-Managements, in dessen Rahmen Informationen zwischen verschiedenen Touchpoints und Kanälen zum Zwecke einer überlegenen Customer Experience integriert werden, an Bedeutung und wird im B2B-Umfeld vermehrt genutzt (Forbes; Forrester Consulting 2015; Intershop 2016). Geschäftskunden von Telekommunikationsanbietern nutzen zahlreiche Touch­ points entlang ihrer Customer Journey. Dies geschieht zur Anbahnung, zur Beschaffung zusätzlicher Produkte, zur Lösung von Störungen oder zur Vertragskündigung oder -verlängerung. Da mobile Kommunikation heutzutage als selbstverständlich gilt, müssen Anbieter ihre Wertschöpfung durch zusätzliche Produkte und Dienstleistungen erweitern (Klein und Jakopin 2014). Zu diesem Zweck ist es die vielversprechende Vision, dem Kunden eine nahtlose Customer Experience über alle Kanäle hinweg anzubieten, um eine überlegene Einkaufs- und Dienstleistungsabwicklung in diesem umkämpften Markt bereitzustellen. Nichtsdestotrotz fehlt bisher ein gemeinsames, schlüssiges Verständnis des B2B OC-Konzepts, sowohl in der akademischen als auch der praxisnahen betriebswirtschaftlichen Literatur. Es bleibt unklar, wie Unternehmen OC einsetzen können, um Customer Journeys von Kunden über verschiedene Kanäle und Touchpoints verbessern können. Aus diesem Grund ist das Ziel dieser Arbeit zweigeteilt. Zum einen ist es Ziel, das Potenzial von OC-Lösungen in B2B-Umgebungen generell aufzuzeigen. Zum anderen wird die Entwicklung eines OC-Frameworks für Sales & Service angestrebt, welches Telekommunikationsanbietern hilft, eine nahtlose Customer Experience für ihre Kunden aus dem Bereich kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) über alle Touchpoints und Kanäle hinweg anzubieten. Zu diesem Zweck erfolgt die Argumentation aus der Kundenperspektive, da nach dem Verständnis der Autoren dieses Artikels OC ein kundenzentrierter Ansatz ist. Der restliche Artikel ist wie folgt strukturiert: In Abschn.  3.2 wird der Forschungshintergrund dargelegt. In Abschn.  3.3 wird das Forschungsvorgehen zur Entwicklung des OC-Frameworks beschrieben. Anschließend wird in Abschn. 3.4 die Analyse der Kundenkommunikationskanäle herausgestellt, bevor das Design des vorgenannten Frameworks in Abschn. 3.5 erläutert wird. In Abschn. 3.6 wird die Demonstration des OC-Framework beschrieben. In Abschn. 3.7 werden die Ergebnisse des vorliegenden Artikels diskutiert und ein kurzer Ausblick in weitere Forschung gegeben.

3  Konstruktion eines Omni-Channel-Frameworks für Sales & Service in KMU in der …

3.2

41

Forschungshintergrund

Diese Arbeit fußt auf bestehender Forschung im B2B-Bereich, dem Omni-­Channel-­ Ansatz und dem Customer-Experience-Management. Ziel dieses Kapitels ist es, die relevanten Konzepte vorzustellen und einzugrenzen sowie deren Zusammenhänge im späteren Design des Frameworks zu klären. Der B2B-Markt in der Telekommunikationsindustrie Während Verbraucher Transaktionen im Business-to-Consumer (B2C)-Markt durchführen, finden bei B2B ausschließlich Transaktionen zwischen Unternehmen statt. In dieser Arbeit wird Kunde und Geschäftskunde synonym verwendet. Eine Besonderheit in diesem Zusammenhang sind die so genannten Buying Center. Das Einkaufsgeschäft stellt typischerweise ein situationsabhängiges, interdisziplinäres Team unterschiedlicher Hierarchiestufen zusammen, um das Risiko einer Kaufentscheidung einer Organisation zu reduzieren (Kleinaltenkamp und Saab 2009). Da die B2BMärkte komplexer, volumenstärker und noch profitabler sind, zeichnen sie sich durch einen höheren Individualisierungsgrad auf der Seite der Verkäufer aus. Typischerweise ermöglichen Vertriebsmitarbeiter (VM) den Direktvertrieb über Kundentermine, zusammen mit anderen Vertriebsformen, die den Verkauf direkt an den Kunden ohne Zwischenhändler ermöglichen (Detroy et al. 2009). Der indirekte Vertrieb durch rechtlich und wirtschaftlich unabhängige Unternehmen, die als Reseller auftreten, spielt im B2B-Umfeld eine untergeordnete Rolle, da die persönliche Beziehung zwischen VM und ihren Kunden maßgeschneiderte Lösungen ermöglicht. Darüber hi­ naus wird ein kundenorientierter Service realisiert, indem eine interne Vertriebsunterstützung ohne Kundenkontakt dem Außendienst bereitgestellt wird (Bürli et al. 2008). Omni-Channel-Management Die Zunahme der verschiedenen Kontaktmöglichkeiten zwischen Unternehmen und Kunden hat zu Herausforderungen bei dem Management der Kanäle geführt. OC stellt die neueste Entwicklung in dieser Hinsicht dar, bei der die gesamte Kommunikation zwischen den beiden Parteien miteinander verbunden ist, so dass der Kunde unabhängig vom verwendeten Kanal eine bessere Kundenerfahrung (im folgenden Customer Experience) erfährt (Verhoef et al. 2015). Die Schnittstelle, die das Unternehmen zur Interaktion mit dem Kunden bereitstellt, wird als Touchpoint (TP) bezeichnet und ist hier auf firmeneigene TPs beschränkt. Straker et al. (2015) bieten eine Klassifizierung der Kanäle, die traditionelle und digitale Kanäle unterscheidet. Erstere bestehen hauptsächlich aus physischen und nicht-digitalen Interaktionsformen, während E-Mails aufgrund ihrer selbstverständlichen Allgegenwärtigkeit hier auch als traditioneller Kanal betrachtet werden. Das bestimmende Merkmal digitaler Kanäle ist das Internet als zugrunde liegende Technik. Ferner können vier Typologien digitaler Kanäle genannt werden (Straker et al. 2015). Functional Channels dienen unterschiedlichen Zwecken (Interaktion, Diversion, Funktionalität) in der bi- oder unidirektionalen Kommunikation für informative, unterstützende, verkaufsfördernde oder umsatzfördernde Inhalte. Social Channels

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werden durch die bidirektionale Interaktion zwischen den Nutzern und dem Unternehmen charakterisiert und enthalten informative sowie verkaufsfördernde Inhalte. Community Channels werden von Nutzern betrieben und dienen der Unterhaltung, d. h. der Teilnahme an Freizeitaktivitäten. Corporate Channels sind unidirektional und haben einen funktionalen Zweck, der in der Bereitstellung von Informationen zu sehen ist. Customer-Experience-Management Customer Experience ist in letzter Zeit zu einem wichtigen Schlagwort im Bereich Marketing geworden und hat an strategischer Bedeutung gewonnen (Lemon und Verhoef 2016). Unternehmen versuchen, den Weg des Kunden (im folgenden Customer Journey) vor, während und nach einem Kauf zu verstehen, um die Customer Experience durch eine kundenorientierte Sichtweise zu verbessern. Kunden nutzen heute mehr als einen Kanal in ihrer Customer Journey, sodass eine klare Verbindung zum OC-Management deutlich wird: Die holistische Sicht des Customer Experience Managements spiegelt sich in der geforderten Kanalintegration des OC-Managements für eine reibungslose und konsistente Customer Experience wider. Im weiteren Verlauf der Customer Journey sind verschiedene Organisationseinheiten (z. B. Sales & Service) Touchpoints zum Kunden, die zusätzlich dem One-Face-­tothe-Customer-Paradigma folgen müssen. Zusammengefasst kann die Customer Experience vertikal (über verschiedene Kanäle) und horizontal (über die Zeit und verschiedene Touchpoints) beeinflusst werden.

3.3

Forschungsvorgehen

Um ein OC-Framework für den Sales & Service-Bereich in der Telekommunikationsindustrie zu entwickeln, wird ein gestaltungsorientiertes Vorgehen gewählt. Das Framework, das zu entwickelnde Artefakt, kann als Modell in Bezug auf die von Hevner et al. (2004) vorgeschlagene Terminologie klassifiziert werden. Für dessen Entwicklung wird die Design Science Research Methodology (DSRM) nach Peffers et  al. (2007) angewendet. Die DSRM beinhaltet insgesamt sechs Phasen. Die erste Phase, Problemidentifikation und Motivation, und die zweite Phase, Anforderungsdefinition, sind bereits durch die Einleitung abgedeckt. Im nächsten Abschnitt wird die Analyse von Kundenkommunikationskanälen als Basis für die Entwicklung des OC-Frameworks beschrieben. In dieser Phase wurden 22 Experteninterviews in enger Zusammenarbeit mit einem der drei großen Telekommunikationsanbieter Deutschlands durchgeführt, um Anforderungen an und den Inhalt des OC-­Frameworks zu erheben. Jedes dieser Interviews dauerte zwischen 30 und 60 Minuten. Die vorab definierten Fragen wurden in die entsprechende Phase des Verkaufsprozesses bzw. der Customer Journey gegliedert, jeweils abhängig vom Interviewpartner. Dieses Vorgehen garantierte die Abdeckung aller Phasen. Die dritte Phase, Design und Implementierung, wird im fünften Abschnitt beschrieben. Die Anwendung, die vierte Phase der DSRM, wird im Anschluss daran beschrieben. Zu diesem Zweck wird das Vorgehen einer argumentativen Evaluation auf Basis von Anwendungsfällen (Use Cases) gewählt.

3  Konstruktion eines Omni-Channel-Frameworks für Sales & Service in KMU in der …

43

Die fünfte Phase, Evaluation, wurde bisher nicht durchgeführt und ist daher Bestandteil von zukünftiger Forschung. Die sechste Phase, Kommunikation, wird durch diese und weitere Publikationen abgedeckt.

3.4

Analyse der Kundenkommunikationskanäle

Um ein OC-Framework für den Sales & Service-Bereich von KMU in der Telekommunikationsindustrie zu entwickeln, müssen zunächst die relevanten Kanäle identifiziert werden, die die Customer Experience ergeben. Die Interviews wurden hauptsächlich zu diesem Zweck durchgeführt. Von den 22 Interviewpartnern können 17 als interne Experten aus den Bereichen KMU-Vertriebsmitarbeiter, Vertriebsleiter, Kundenserviceleiter und Produkt- und Softwareexperten bezeichnet werden. Die verbleibenden fünf Interviewpartner sind Kunden, die im Mittelpunkt des Interesses stehen, wenn es um eine Verbesserung der Customer Experience durch ein nahtloses OC-Angebot geht. In der Analyse der Interviews konnten zwei große Kanalgruppen auf Basis der Forschung zum Design digitaler Kanäle von Straker et al. (2015) identifiziert werden, wie bereits im Abschnitt zur verwandten Forschung beschrieben: traditionelle Kanäle und neue, digitale Kanäle. In diesem Kontext werden E-Mails, obwohl eigentlich digitaler Natur, als traditioneller Kanal angesehen aufgrund ihres Status als zunehmend rechtlich akzeptiertes Kommunikationsmedium. Überdies wurden einige digitale Kanäle aufgrund ihrer geringen Relevanz im B2B-Umfeld nicht berücksichtigt, bspw. Pinterest oder Flickr. Zusätzlich zu der Typologie wurden einige weitere Kanäle identifiziert. Dies sind bspw. Mobile Instant Messaging (MIM), Videokonferenzen, Chatbots und berufliche soziale Netzwerke wie Xing oder LinkedIn. Die vollständige Liste identifizierter Kundenkanäle kann in traditionelle und digitale Kanäle differenziert werden. Traditionelle Kanäle sind (1) Face-to-Face & Point of Sale, (2) Telefon, (3) Briefpost und Telefax und (4) E-Mail. Sie werden im Folgenden zusammen mit den digitalen Kanälen aus Tab. 3.1 beschrieben. Tab. 3.1 Identifizierte digitale Customer Touchpoints

Touchpoint-Gruppe Functional

Social

Community Corporate

Customer Touchpoint Self-Service-Plattformen Mobile Apps Livechats und Chatbots Webseite, Webanfragen, Newsletter Videokonferenzen Soziale Netzwerke (Facebook, Google+, Twitter) Berufliche soziale Plattformen (LinkedIn, Xing) Mobile Instant Messaging Foren YouTube FAQ Digitale Feedback-Formulare

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Face-to-Face-Kommunikation ist essenziell im B2B-Kontext, da es dort insbesondere um komplexere Angelegenheiten und Produkte geht. Die Interviews haben gezeigt, dass sowohl interne Experten als auch KMU-Kunden besonderen Wert auf Face-to-face-Termine legen, wenn es um komplexe Themen und Verhandlungen geht, z. B. Festnetzinfrastrukturen. Im Kontext des Point of Sale ist es eher ungewöhnlich, dass bei B2B-Angeliegenheiten Filialen aufgesucht werden. Nichtsdestotrotz sollten Filialen in der Lage sein, Geschäftskunden grundlegende Services wie SIM-Karten-Ersetzung oder Buchen von Standardtarifoptionen zu bieten, um ein einheitliches „One face to the customer“ zu bieten. Aus den Interviews ging hervor, dass das Telefon, zusammen mit der E-Mail, der meistgenutzte Kanal zwischen Kunden und Vertriebsmitarbeitern ist, um zu interagieren. Um Kunden eine OC-Erfahrung zu bieten, muss jeder Kundenkontakt über das Telefon gewissenhaft dokumentiert werden. Bezüglich Hotlines sehen sich Kunden von Telekommunikationsanbietern aktuell häufig mit einer Vielzahl an verschiedenen Telefonnummern für verschiedene Anfragen konfrontiert. Obwohl es sinnvoll sein kann, verschiedene Nummern für unterschiedliche Anfragen zu haben, sollten die Anzahl an Hotlines, die dem Kunden kommuniziert werden, so gering wie möglich gehalten werden, um eine möglichst komfortable und einfache Customer Experience zu bieten. Ein anderes Interviewergebnis ist, dass Briefpost und Telefax zunehmend von der E-Mail als rechtlich akzeptiertes Medium für Geschäftskommunikation abgelöst werden. Nichtsdestotrotz können Briefpost und Telefax aufgrund von traditioneller agierenden Kunden nach wie vor nicht vollständig abgeschafft werden. Ähnlich dem Telefon ist die E-Mail ein hochfrequent genutzter Kanal sowohl für ausgehende als auch eingehende Kommunikation von Telekommunikationsanbietern. Dieser Trend wurde von internen sowie externen (Kunden) Interviewpartnern bestätigt. Functional Channels In der Interviewanalyse wurden Self-Service-Plattformen als die Hauptanwendung, die Kunden angeboten wird, identifiziert. Da mobile Apps gesondert berücksichtigt werden, wird dieser Kanal im Folgenden als Self-Service-Plattform im Rahmen des zu entwickelnden Frameworks bezeichnet. Die internen Interviewpartner sehen enormes Verbesserungspotenzial und zukünftige Entwicklungen dieser Plattformen, obwohl diese schon jetzt Kunden die Möglichkeit bieten, etliche administrative und hochgradig standardisierte Aufgaben wie Vertragsverlängerungen und SIM-Karten-Ersetzungen durchzuführen. Mobile Apps sind selbstverständlich im Alltag bei vielen Menschen geworden. Im Geschäftsumfeld, insbesondere in großen Firmen, ist die Funktionalität solcher Apps allerdings zu einem bestimmten Grad eingeschränkt. An dieser Stelle könnte der Transfer der Funktionalität existierender Self-Service-Plattformen in die mobilen Apps, zusammen mit einem geeigneten Rechte- und Rollenmanagement, die Customer Experience im B2B-Kontext bereichern. Chats sind zunehmend präsent auf Webseiten aller Art (Intershop 2016). Hierbei kann unterschieden werden zwischen Livechats mit realen Supportmitarbeitern und virtuellen Assistenten oder Chatbots, welche mittels künstlicher Intelligenz betrieben

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werden (Kreutzer und Land 2017). In beiden Fällen eignen sich Chats für eher einfache Anfragen oder kurze Fragen bezüglich eines Produkts oder eines Service. Die Interviewpartner betonten, dass sie lieber telefonisch mit jemandem kommunizieren, wenn es um komplexere Angelegenheiten geht, oder E-Mails zu Dokumen­ tationszwecken schreiben. Nichtsdestotrotz sollte es Teil einer OC-Strategie sein, diese zusätzlichen, situativen Kanäle für einfachere Fragen und Angelegenheiten anzubieten. Webseiten sind häufig der erste Touchpoint für potenzielle Kunden. Daher ist es von enormer Wichtigkeit, dass die Informationen auf der Webseite konsistent zu den Informationen in allen anderen Kanälen sind. Dies ist ein grundlegendes Prinzip von OC-Management. In der B2B-Telekommunikationsindustrie werden Angebote an Kunden in der Regel grundsätzlich in Rahmenverträgen verhandelt. In der Konsequenz werden die Webseiten der großen Anbieter weitestgehend informativ gehalten, jedoch weniger mit Fokus auf spezielle Preise, sondern eher mit Kontaktmöglichkeiten für individuelle Verhandlungen. Aus diesem Grund sollten die Webseiten individualisiert für verschiedene Kundensegmente wie bspw. Selbstständige, KMU-Kunden, große Unternehmen und öffentliche Verwaltungen konzipiert sein. Als Alternative zu Face-to-Face-Besprechungen vor Ort sind Videokonferenzen ein Kommunikationskanal, der persönliche Interaktion ermöglicht. Anstatt von einer Drittanbietersoftware abhängig zu sein, können proprietäre Videokonferenzwerkzeuge oder Unified Communications-Lösungen der Telekommunikationsanbieter genutzt werden, um bspw. Kunden, Vertriebsmitarbeiter und Techniker im Rahmen eines komplexen Festnetzprojekts zusammenzubringen. Jedoch sind Videokonferenzen im Allgemeinen nicht mit jedem Touchpoint zu gebrauchen (bspw. Hotline-Personal), sondern eher für jene, wo eine persönliche Beziehung ermöglicht werden soll, bspw. mit einem dedizierten Vertriebsmitarbeiter für einen Kunden. Social Channels Die Nutzung von sozialen Netzwerken ist nicht mehr nur auf das Privatleben von Menschen beschränkt, sondern gewinnt zunehmend an Relevanz im B2B-Kontext (Forbes). Trotz betrieblicher Restriktionen, die Arbeitnehmer von der Nutzung sozialer Netzwerke im Namen ihres Arbeitgebers abhalten sollen, sind diese aus ihrer privaten Erfahrung mit diesen Netzwerken vertraut. Ähnlich den Webchats sind Social Media-Kanäle eher für einfache Standardanfragen geeignet, bspw. in Bezug auf Tarifoptionen oder Roaming. Nichtsdestotrotz können Social Media-Kanäle in einfacher Art und Weise (Einwegkommunikation) auch genutzt werden, um Neuigkeiten zu verbreiten, ohne zu viel Wert auf die Interaktion innerhalb des Netzwerks zu legen. So können Experten auf der Kundenseite diesen einfach folgen und es werden möglicherweise Up- und Cross-Selling-Potenziale generiert. Berufliche soziale Plattformen wie LinkedIn oder Xing sind speziell geschaffen für den geschäftlichen Kontext. Obwohl die Plattformen primär für die Personalbeschaffung (Recruitment) genutzt werden, können sie ebenfalls als Kommunikationskanal zwischen Telekommunikationsanbietern und deren (potenziellen) Kunden dienen. In den Interviews sagte ein Vertriebsmitarbeiter bspw., dass er regelmäßig Xing als Kanal zum „Social Selling“ nutze.

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R. Heidekrüger et al.

Betrachtet man die Verbreitung von Mobile Instant Messaging von Anbietern wie WhatsApp, gewinnen diese zunehmend an Wichtigkeit in interner Geschäftskommunikation. Dies wurde durch einige Interviewpartner bestätigt. Jedoch ruft die Nutzung solcher Drittanbieterdienste als Kommunikationsmedium gemischte Gefühle unter den Interviewpartnern aufgrund von Datenschutz- und Sicherheitsbedenken hervor. Um in der Lage zu sein, solche Kanäle Geschäftskunden, sofern gewünscht, anbieten zu können, können proprietäre MIM-Lösungen dabei helfen, den Datenschutz, die Sicherheit und eine geeignete Dokumentation des Kundenkontakts im Rahmen eines OC-Ansatzes zu garantieren. Nichtsdestotrotz bleibt die fehlende Akzeptanz auf Kundenseite ein großer Nachteil solcher Lösungen. Community Channels Onlineforen sind eine verbreite Form von Plattformen, die Kunden von allen Telekommunikationsanbietern angeboten werden, um gegenseitig Hilfestellungen zu leisten und von Supportmitarbeitern öffentlich Hilfe in Anspruch zu nehmen. Im Geschäftsbereich werden solche Plattformen in der Regel nicht angeboten. Ähnlich den Chats und Social Channels sind Foren geeignet für kleinere Anfragen, einfache Fragen oder, um Anfragen von vielen Kunden zu bündeln, wie es häufig im B2C-Kontext gehandhabt wird. Foren bieten einen Weg für Anbieter, um Antworten und Lösungen zu häufigen Problemen einer breiten Zielgruppe bereitzustellen und diese langfristig verfügbar zu machen. Jedoch sind diese, laut Interviewanalyse, eher weniger geeignet für B2B-Umgebungen, in denen Anfragen in der Regel spezifisch und individuell sind. Im Gegensatz zu Social Channels, die einen Mehrwert als ausgehender Einwegkommunikationskanal für Informationen und Neuigkeiten bieten, bieten Foren wenig(er) Mehrwert für Anbieter im Geschäftsbereich, sodass diese vermutlich keinen wichtigen Kanal für B2B-Kunden im Rahmen eines OC-Ansatzes darstellen werden. Wie bei den sozialen Netzwerken ist es vorteilhaft für Telekommunikationsanbieter, auf verbreiteten Onlinevideoplattformen mit YouTube als prominentestem Beispiel präsent zu sein, um Erwartungen von Kunden zu erfüllen, die diese aus dem privaten Bereich in den beruflichen Alltag projizieren. Corporate Channels Eine Sektion zu Frequently Asked Questions (FAQ) für grundlegende Themen anzubieten und diese Kunden zu kommunizieren kann helfen, unnötige Anfragen durch die Hilfe zur Selbsthilfe zu vermeiden. Die Inhalte der FAQ sollten auf häufigen Kundenanfragen basieren und regelmäßig aktualisiert werden, um diese sukzessive zu verbessern. Im Kontext von OC ist die Konsistenz dieser Informationen essenziell. Daher ist es vorteilhaft, die FAQ auf Fragen zu beschränken, die für alle Kundensegmente anwendbar sind, oder eine klare Abgrenzung zwischen den Kundensegmenten zu haben, um Irritationen zu vermeiden. Kunden eine Möglichkeit zu unterbreiten, Feedback zu geben, ist essenziell, wenn es um eine Verbesserung der Customer Experience geht, und ist daher entscheidend im OC-Kontext. Ein einfacher Weg aktuelles Feedback zu erhalten ist es, vorhandene Kundendaten im Anschluss an eine Interaktion zu nutzen, bspw. um eine SMS oder

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E-Mail mit Bitte um Rückmeldung zu senden. Im Falle negativer Erfahrungen können Folgeanrufe bei unzufriedenen Kunden getätigt werden, um Schaden zu mitigieren und Kundenabwanderung zu vermeiden. Abgesehen davon gibt Kunden die Möglichkeit, Feedback abzugeben, das Gefühl gehört und ernst genommen zu werden, wenn dieses dementsprechend beantwortet und berücksichtigt wird.

3.5

Design des Omni-Channel-Frameworks

Aus der Analyse der traditionellen und digitalen Touchpoints im vorherigen Kapitel kann die Struktur des OC-Designs eines Telekommunikationsanbieters abgeleitet werden. Aus dem Design der Kanäle lassen sich Implikationen für die Organisations- und IT-Infrastrukturen von B2B-Telekommunikationsanbietern ableiten. Das daraus resultierende Framework ist in Abb. 3.1 dargestellt. Auf der linken Seite des Frameworks werden die Kunden platziert, da im kundenzentrierten OC-Ansatz diese den Ausgangspunkt bilden. Neben den Kunden werden die zuvor definierten Kanäle platziert, um ihren Kommunikationszweck zu verdeutlichen. Auf der rechten Seite befindet sich der Telekommunikationsanbieter, welcher in drei Bereiche unterteilt sind. Der linke Bereich enthält die Touchpoints, die der Kunde über die verschiedenen Kanäle erreichen kann. Neben den Touchpoints wird die interne Organisationsstruktur des Anbieters abgebildet. Die gestrichelte Linie soll verdeutlichen, dass die Touchpoints in die Organisationsstruktur eingebettet sind, die Struktur aber für den Kunden nicht direkt sichtbar oder von Relevanz ist. Da der Schwerpunkt dieser Arbeit auf Sales & Service liegt, sind andere verbliebene Abteilungen nicht Teil des Frameworks. Der rechte Bereich zeigt die IT-Infrastruktur. Ähnlich wie bei der Organisationsstruktur werden nur solche Systeme berücksichtigt, die im Rahmen dieser Arbeit als relevant für OC identifiziert wurden. KMU-Kunden Die Kundenseite wird nicht näher spezifiziert, da es keine Einblicke in die individuelle Organisationsstruktur gibt und sie sollte jeden potenziellen KMU-Kunden repräsentieren soll. Jeder Teil der Kundenorganisation kann sich an die Touchpoints des Anbieters wenden. Telekommunikationsanbieter Auf der Anbieterseite werden Kanäle von mehreren Touchpoints genutzt, was sowohl durch traditionelle als auch durch digitale Kanäle, welche auf alle verfügbaren Touchpoints zeigen, veranschaulicht wird. Nicht alle Touchpoints nutzen jeden Kanal, so dass ein entsprechendes Touchpoint-Management erforderlich ist, um zu steuern welcher Kanal von welchem Touchpoint angesprochen wird. Da die Kanäle von Sales & Service gleichermaßen genutzt werden, müssen alle Touchpoints auf die gleichen Datenbanken und Softwaresysteme zugreifen können, damit der OC-Gedanke realisiert wird. Entsprechend ergeben sich Auswirkungen auf die Organisations- und IT-Infrastruktur des Telekommunikationsanbieters.

Digitale Feedback-Formulare

FAQ

Corporate

YouTube

Community

Mobile Instant Messaging

Linkedin und XING

Facebook, Google+ und Twitter

Social

Videokonferenzen

Webseite, Webanfragen, Newsletter

Abb. 3.1  Omni-Channel-Framework für B2B-Telekommunikationsanbieter

KMUKunden (Nachfrage)

Livechats and Chatbots

Mobile Apps

Self-Service-Plattform

Functional

Digitale Kanäle

Traditionelle Kanäle Face-to Face und Point of Sale Telefon Post und Telefax E-Mail

ServiceTeam/Agent

Servicemanager

Produktexperte

Vertriebsmitarbeiter

Partneragentur/ -geschäft

Filiale

Touchpoints

Service

Sales

Organisationsstruktur

Call Routing

Data Warehouse

Preisfindung

service Case Management

CRM

ITInfrastruktur

Telekommunikationsanbieter (Angebot)

48 R. Heidekrüger et al.

3  Konstruktion eines Omni-Channel-Frameworks für Sales & Service in KMU in der …

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3.5.1 I mplikationen für die Organisationsstruktur der Telekommunikationsanbieter Im Hinblick auf die Organisationsstruktur muss die in vielen Unternehmen übliche traditionelle Trennung von Sales & Service in separate Bereiche verschwinden und die Zusammenarbeit intensiviert werden. Diese Konvergenz zeigt sich im Rahmen der diagonalen Aufteilung in Sales & Service, die für eine integrierte Einheit steht. Dabei ist zu beachten, dass nicht die Schaffung einer riesigen Abteilung unter einem neuen Namen erforderlich ist, sondern vielmehr die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Zusammenarbeit und eines gemeinsamen Kundenverständnisses. Dazu gehören die gleiche Segmentierung der Kunden, der gemeinsame Zugriff auf alle relevanten Kundendaten, egal ob vertriebs- oder servicebezogen, sowie nahtlose interne Kommunikationsprozesse und Tools, um den Kunden ein OC-Erlebnis bieten zu können. Durch die kundenzentrierte Sichtweise kann das Potenzial einer solchen Konvergenz aufgezeigt werden: Da Vertriebsaktivitäten vor After-Sales-Aktivitäten stattfinden, wird die Customer Experience horizontal durch die Nutzung von Informationen aus früheren Phasen der Customer Journey verbessert.

3.5.2 I mplikationen für die IT-Infrastruktur der Telekommunikationsanbieter Die Bedeutung der IT-Infrastruktur als Voraussetzung für eine OC-Strategie wurde bereits zuvor betont. Da OC ein kundenorientierter Ansatz ist, der das Kundenerlebnis durch nahtloses Wechseln zwischen Kanälen und Touchpoints verbessert, sind Kundendaten das zentrale Element, das über alle Touchpoints hinweg verfügbar sein muss, die der Kunde erreichen kann. Daher ist ein Customer Relationship Management (CRM)-System für die Verwaltung von Kundendaten unerlässlich und stellt das Kernsystem im OC-Framework dar. Allerdings ist keine am Markt erhältliche CRM-Lösung in der Lage, alle Funktionalitäten anzubieten, die von bestimmten Branchen – hier Telekommunikation – benötigt werden. Daher müssen solche Systeme entweder kundenspezifisch angepasst oder mit weiteren Systemen integriert werden. Neben Stammdaten wie Firmenname, Adresse oder Branche eines Kunden gibt es auch Transaktionsdaten, z. B. aktuelle Kundenanfragen. Insbesondere diese Art von Kundenservicebezogenen Daten wird nicht immer im gleichen Softwaresystem wie die Kundenstammdaten gespeichert. Um OC zu realisieren, sollten die Daten jedoch entweder im gleichen System oder alternativ in verschiedenen voll integrierten Systemen gespeichert werden, um den Zugriff auf alle Daten aus jedem System zu gewährleisten. Insbesondere für Serviceabteilungen ist sogenanntes Service Case Management-System relevant. Um sicherzustellen, dass Servicefälle schnell und von den richtigen Personen bearbeitet werden, sollte ein solches System als Workflow-Management-Tool fungieren, das klar definierte Geschäftsprozesse auf Basis der zuvor diskutierten, integrierten Organisationsstruktur von Sales & Service implementiert.

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R. Heidekrüger et al.

Darüber hinaus ist ein gemeinsames Tool für die Preisfindung notwendig, um die Preiskonsistenz über die Touchpoints hinweg zu gewährleisten und sowohl Salesals auch Servicemitarbeiter in die Lage zu versetzen, transparente Informationen über die individuellen Konditionen für jeden Kunden einzuholen. Auch wenn die Systeme allen Mitarbeitern die gleichen Informationen zur Verfügung stellen, so ist doch gelegentlich eine Umleitung von Anfragen und Fällen am Telefon erforderlich. In diesem Fall muss ein modernes Call-Routing-System vorhanden sein, um Kunden nahtlos mit anderen Touchpoints zu verbinden, ohne dass der Kunde Maßnahmen ergreifen muss. Wie bereits erwähnt, müssen die Regeln für die Umleitung durch Geschäftsprozesse klar definiert sein und sollten durch ein Workflow-Management-Tool unterstützt werden, das die Zuordnung von Aufgaben zu anderen Teams oder Mitarbeitern z. B. im CRM-System selbst ermöglicht.

3.6

Demonstration des Omni-Channel-Frameworks

Um die Anwendbarkeit des entwickelten OC-Frameworks zu demonstrieren, wird an dieser Stelle ein fiktiver Use Case vorgestellt. Dieser Anwendungsfall – der persistente Warenkorb zwischen Touchpoints – wurde jedoch in vielen Interviews als großes Potenzial eines solchen Ansatzes genannt. Ein Warenkorb in einem Online-Shop ist in der Regel auf die Website beschränkt oder bestenfalls auch über eine mobile App erreichbar. Wie die zentrale Speicherung des Einkaufswagens sowohl zur Verbesserung der Kundenzufriedenheit als auch zur Umsatzsteigerung im Rahmen einer OC-Strategie beitragen kann, wird im Folgenden erläutert. Falls der Kunde Zweifel an Tarifen, Optionen oder Geräten hat, die nicht einfach alleine online zu lösen sind, sollte die Möglichkeit angeboten werden, einen Agenten direkt per Chat, E-Mail oder Telefon zu kontaktieren. Durch die automatische Aufnahme der Kundennummer in den Chat, die E-Mail oder das automatische Finden der Kundennummer bei Anruf von einer bekannten Nummer, kann der Kunde automatisch an einen Servicemitarbeiter weitergeleitet werden, der alle Informationen über den Warenkorb zur Verfügung hat. Indem dem Agenten auf Wunsch ein Schreibzugriff auf den Warenkorb des Kunden gewährt wird, kann der Kunde bei der Produktauswahl unterstützt und ihm schnell geholfen werden, z. B. durch Anpassung von Optionen oder Tarifänderungen im Warenkorb. Diese Interaktionen mit dem Kunden können auch als Gelegenheit für Up- und Cross-Selling durch den Anbieter genutzt werden, insbesondere, wenn er sich mit Fragen an seinen persönlichen VM wendet. Ebenso sollten alle Angebote von VMs oder anderen Touchpoints für den Kunden einsehbar sein, einschließlich aller individuellen Konditionen innerhalb der Self-Service-Plattform. Durch die zentrale und für alle Touchpoints zugängliche Speicherung dieser Daten ist gewährleistet, dass der Kunde jeden Touchpoint bei Fragen kontaktieren kann und alle Touchpoints die Informationen bei der Kundenberatung oder der Erstellung eigener Angebote berücksichtigen können. Es hilft auch bei der Vermeidung von Angeboten durch andere Touchpoints, wenn der VM

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bereits ein solches unterbreitet hat. Damit werden Irritationen beim Kunden verhindert, die die Zufriedenheit negativ beeinträchtigen. Vor allem muss sichergestellt sein, dass die Self-Service-Lösung die genauen Preiskonditionen widerspiegelt, die der Kunde an jedem anderen Touchpoint erhalten würde. Nur unter diese Prämisse wird sie der Kunde auch in Zukunft nutzen. Etwaige Preisnachlässe für Online-Bestellungen im Rahmen von Werbeaktionen müssen angeglichen werden. Neben dem Fall, dass Kunden aktiv mit einem Anbieter Kontakt aufnehmen, können Anbieter die Informationen aus dem Online-Verhalten ihrer Kunden auch proaktiv nutzen, z.  B. indem sie Benachrichtigungen über offene, nicht bestellte Warenkörbe, individualisierte Produktinformationen oder Newsletter an ihre Kunden versenden.

3.7

Diskussion

In diesem Artikel wurde die Entwicklung eines OC-Frameworks für Sales & Service in der B2B-Telekommunikationsbranche auf Basis von Design Science Research beschrieben. Die Notwendigkeit eines solchen Frameworks wurde in der Motivation respektive im Forschungshintergrund betont. Während der Entwicklung wurden 22 Experteninterviews mit internen Vertriebsexperten und externen Kunden durchgeführt, um traditionelle und digitale Kommunikationskanäle, typisiert nach Straker et al. (2015), zu überprüfen und zu erweitern. Auf der Basis von vier traditionellen Kanälen und zwölf digitalen Kanälen, unterteilt in Functional, Social, Community und Corporate Channels, wurde anschließend das OC-Framework abgeleitet, welches die Kommunikation mit den jeweiligen internen Touchpoints, der internen Organisationsstruktur sowie der für einen solchen OC-Ansatz notwendigen IT-Infrastruktur aufzeigt. Die Machbarkeit des Frameworks wurde anhand eines fiktiven, aber in den Interviews häufig genannten Anwendungsfalles demonstriert. Bislang fehlt die Evaluierung des Frameworks in der Praxis. Diese Evaluierung wird in enger Zusammenarbeit mit einem der drei großen deutschen Telekommunikationsanbieter durchgeführt werden, der bereits Zugang zu den internen Experten und den Kunden für die Experteninterviews in dieser Arbeit gewährt hat. Darüber hinaus sollten die Rahmenbedingungen und die Auswirkungen sowohl auf die Organisations- als auch auf die IT-Infrastruktur verifiziert bzw. angepasst werden, indem sie in einem größeren Kontext, wahrscheinlich nicht auf den deutschen Telekommunikationsmarkt beschränkt, getestet werden.

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R. Heidekrüger et al.

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4

Entwicklung eines Entity-RelationshipModells und eines Verknüpfungskonzeptes – eine Betrachtung des Omni-ChannelManagements aus einer Information Systems-Perspektive Markus Heuchert, Benjamin Barann, Ann-Kristin Cordes und Jörg Becker

Zusammenfassung

Die digitale Transformation drängt Unternehmen dazu, zunehmend Technologien zu implementieren, um den Kundenanforderungen gerecht zu werden. Der Omni-Channel-Ansatz ist ein neuer Trend, der es z. B. von Händlern erfordert, die Kundenperspektive einzunehmen, um ein konsistentes Erlebnis für den Kunden über alle Kanäle und Berührungspunkte hinweg zu bieten. Obwohl diese Weiterentwicklung zwangsläufig IT für die Umsetzung erfordert, liegt der Schwerpunkt der bisherigen Forschung im Bereich Marketing. In diesem Artikel wird ein Entity-Relationship-Modell und ein Verknüpfungskonzept entwickelt, welches aus Sicht der Information Systems-Disziplin die Kommunikation zwischen Marketing und IT unterstützt. Schlüsselwörter

Omni-Channel Management · Entity-Relationship-Modell · Customer Experience Management

Überarbeiteter Beitrag basierend auf Heuchert et al. (2018) An IS Perspective on Omni-Channel Management along the Customer Journey: Development of an Entity-Relationship-Model and a Linkage Concept, Tagungsband zur Multikonferenz Wirtschaftsinformatik (MKWI) 2018, Paul Drews, Burkhardt Funk, Peter Niemeyer und Lin Xie (Hrsg.), S. 435–446. M. Heuchert (*) · B. Barann · A.-K. Cordes · J. Becker Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Robra-Bissantz, C. Lattemann (Hrsg.), Digital Customer Experience, Edition HMD, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1_4

53

54

4.1

M. Heuchert et al.

Einleitung

Jedes Unternehmen ist von der digitalen Transformation betroffen und wird durch den Einsatz neuer Technologien in seinem Geschäftsumfeld herausgefordert (Hess et al. 2016). Die schnelle Einführung dieser neuen Technologien in weiten Teilen der Bevölkerung ließ Kunden einen Vorsprung auf Unternehmen aufbauen. Insbesondere müssen Einzelhändler aufholen, um die Kundenanforderungen zu erfüllen und somit wettbewerbsfähig zu bleiben (Beck und Rygl 2015). Historisch gewachsene, komplexe und heterogene Systemlandschaften behindern jedoch wesentliche technologische Veränderungen und machen ein integriertes System sehr teuer, da es die sich ändernden Anforderungen der Kundenseite kontinuierlich widerspiegeln muss. Ein neuer Trend, der durch die digitale Transformation hervorgerufen wurde, ist „Omni-Channel Retailing“ (Rigby 2011). Es ist definiert als die Verknüpfung aller Vertriebskanäle, um eine bessere Kundenerfahrung (im Folgenden Customer Experience (CE)) entlang der Customer Journey zu bieten. Doch während der Begriff weit verbreitet ist, besteht in den meisten Handelsunternehmen keine Aussicht auf eine Realisierung, da die technologischen Anforderungen zu ambitioniert sind (Hillebrand und Finger 2015). Marketingexperten müssen die Bedürfnisse des Kunden verstehen und IT-Experten müssen die erforderlichen Systeme implementieren. Dies kann weder unabhängig voneinander noch nacheinander geschehen, sondern muss ein gemeinsames Bestreben beider Parteien sein. Es fehlt jedoch ein einheitliches Verständnis aus der Sicht beider Perspektiven und eine Basis für die Kommunikation. Hauptsächlich aus der Marketing-Literatur stammend wird die CE als wesentlicher Einflussfaktor für die Kaufentscheidung angesehen. Da es sich um eine Zusammensetzung eher weicher Faktoren handelt (Lemon und Verhoef 2016), ist die Integration dieser Forschungsrichtung in eine technologische Sichtweise eine He­ rausforderung. Selbst der Smart-Retail-Bereich, welcher branchenspezifische technische Möglichkeiten bietet, konzentriert sich hauptsächlich auf Kundenakzeptanz, -adaption und -erfahrung (Roy et  al. 2016). Während es erste Versuche gibt, die Entscheidungsunterstützung zu erleichtern (Willems et al. 2016; Inman und Nikolova 2017), ist die fehlende funktionsübergreifende Kommunikation ein weiteres Hindernis für die Implementierung dieser Technologien – insbesondere bei der Verknüpfung verschiedener Kanäle und Berührungspunkte (im Folgenden Touchpoints) (Straker et al. 2015; Oh et al. 2012). Es ist der Daseinszweck der IS (Information Systems)-­Disziplin, den fehlenden Austausch von Betriebswirtschaft und IT zu fördern. Ziel dieses ­Artikels ist es daher, IT-Artefakte zu schaffen, die die Kommunikation zwischen den verschiedenen Bereichen fördern. Dieser Artikel soll die folgenden Forschungsfragen beantworten: (1) Wie können die Begriffe des Customer Experience Managements strukturiert werden, um ein gemeinsames Verständnis über die Begriffe und ihre Beziehungen zu vermitteln und (2) wie kann der Zusammenhang der Begriffe der Customer-Touchpoint-Integration definiert werden, um das Verständnis und die Strategieentwicklung zu unterstützen.

4  Entwicklung eines Entity-Relationship-Modells und eines …

55

Um die Forschungsergebnisse zu erzielen, wurde eine Literaturrecherche nach Webster und Watson (2002) durchgeführt. Die Identifikation relevanter Artikel basiert auf einer Stichwortsuche in den Bereichen Marketing, Handel und Dienstleistungen. Insgesamt wurden 48 Publikationen als relevant für diesen Artikel identifiziert. Als Nachbearbeitungsschritt im Zusammenhang mit der Stichwortsuche wurden die wesentlichen Begriffe des Customer-Experience-Managements (Customer Experience, Customer Journey und Customer Touchpoints) und der Touchpoint-­ Integration (Multi-, Cross- und Omni-Channel-Integration sowie ­Integration, Verknüpfung und Konnektivität) identifiziert. Diese bilden die Grundlage für die Beantwortung der Forschungsfragen, indem sie die Synonyme diskutieren sowie die Begriffe und ihre Zusammenhänge definieren. Dies führt zu IT-Artefakten, die ein gemeinsames Verständnis für die IS- und Marketing-Perspektive herstellen. Im Folgenden wird zunächst in Abschn. 4.2 der Forschungshintergrund vorgestellt, indem die zugrunde liegenden Konzepte der CE, der Customer Journey sowie der Kanäle und Touchpoints erläutert werden. Anschließend wird im Abschn. 4.3 das erste IT-Artefakt – ein Entity-Relationship-Modell – als erster Schritt zur Strukturierung der Begriffe der Domäne und deren Verbindung zueinander abgeleitet. Im Abschn. 4.4 wird das zweite IT-Artefakt – ein Omni-Channel-­Verknüpfungskonzept – hergeleitet. Es verdeutlicht die Begriffe der (Cross-/Omni-)Kanal- und Touchpoint-Integration unter Verwendung der Theorie des Systemdenkens. Abschn.  4.5 schließt den Artikel mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse und einem Ausblick ab.

4.2

Theoretische Grundlagen

4.2.1 Customer Experience Die Bedeutung von (Kunden-)Erfahrungen im sozialen und wirtschaftlichen Bereich wurde als erstes von Pine und Gilmore (1999) hervorgehoben. In jüngerer Zeit ist der Begriff der Customer Experience (CE) zu einem Schlagwort im Marketing geworden und ebenso ein vorrangiges Managementziel (Lemon und Verhoef 2016). Damit Unternehmen sich in die Rolle ihrer Kunden hineinversetzen, ist eine kundenorientierte Sichtweise erforderlich. Hier dient die Service-dominant logic (Vargo und Lusch 2004) als theoretische Untermauerung, in der Güter nur als Vehikel für den Transport von wertschöpfenden Dienstleistungen an Kunden angesehen werden. Da eine Erfahrung immer subjektiv ist, muss ihre Entfaltung sowohl von der Wahrnehmung des Kunden, als auch von der gelieferten Dienstleistung des Unternehmens abhängen. Somit gestalten Unternehmen und Kunden gemeinsam die CE, jedoch kann das Unternehmen die Dienstleistungen in Hinblick auf eine positive CE gestalten (Patrício et al. 2011). Die Bestandteile der CE werden von Lemon und Verhoef (2016) diskutiert, die CE als „multidimensionales Konstrukt, das sich auf die kognitiven, emotionalen,

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verhaltensbezogenen, sensorischen und sozialen Antworten eines Kunden auf das gesamte Angebot des Unternehmen entlang der Customer Journey bezieht“ (Lemon und Verhoef 2016) definieren. Die Auflistung betont den Einfluss von „weichen“ Faktoren, die schwer zu messen und daher schwer zu managen sind. Da die CE zunehmend zum Hegemon in der Dienstleistungsforschung wird, müssen multidisziplinäre Teams aus Marketing (Business) und IT aufgestellt werden, um die richtigen Ideen einzubringen resp. umzusetzen (Teixeira et al. 2012). Ein Daseinszweck der Information-Systems-Disziplin war schon immer die Zusammenarbeit beider Disziplinen zu erleichtern. Während das Marketing der Haupttreiber von CE ist, wird die Machbarkeit und Realisierung aus technischer Sicht meist ignoriert. In der Literatur findet sich aktuell keine einheitliche Sichtweise auf CE, die beide Perspektiven einbezieht.

4.2.2 Customer Journey CE als Ganzes ist ein komplexes Konstrukt. Ein Ansatz zur Reduzierung dieser Komplexität besteht darin, CE getrennt an direkten oder indirekten Touchpoints zwischen den Kunden und Unternehmen zu modellieren. Diese Idee manifestiert sich im Begriff der „Customer Journey“ (CJ) (oder „customer corridor“ (Meyer und Schwager 2007), „customer decision process“, „purchase journey“ (Lemon und Verhoef 2016)). Eine CJ besteht aus einer Reihe von Touchpoints für den Kunden (Zomerdijk und Voss 2010). Während eingeräumt wird, dass die gesamte CE mehr als die Summe der CE an den jeweiligen Touchpoints (Dhebar 2013) ist, realisiert diese Vereinfachung eine Prozesssicht. Die zeitlogische Abfolge eines Kaufs kann anhand von Theorien der Verbraucherentscheidung (Engel et al. 1978) oder -verhaltens (Howard und Sheth 1969) in aufeinander aufbauende Phasen strukturiert werden. Die Attribution einzelner Touchpoints erhöht den Detaillierungsgrad und verringert die Abstraktion, z.  B. durch Anzeigen des verwendeten Kanals zur Darstellung der Medienbrüche, während die Kundenperspektive beibehalten wird. Durch die Verwendung von Personas (d. h. einer dokumentierten Menge archetypischer Personen, die in Bezug zum Produkt stehen (Saffer 2009)) oder empirischen Daten können sogenannte CJ-Karten (Maps) erstellt werden, um den Ist-Weg eines Kunden zu beschreiben und ihn anschließend zu verbessern. Während dieser Ansatz zur Visualisierung und Kommunikation an Popularität gewinnt, stellt sich die Frage, wie solche Modelle im Detail aufgebaut sein müssen. In der akademischen Sphäre scheint der „Multi-Level Service Design“-Ansatz (Patrício et al. 2011) vielversprechend, jedoch ist CE nicht explizit Teil der Modellierungstechnik. Vorhandene Beispiele aus der grauen Literatur sind nicht fundiert. Den Ansätzen von Praktikern fehlt es an definierter Syntax. Sie können als oberflächlich zusammengefasst werden.

4.2.3 Touchpoints und Kanäle Ein Touchpoint (TP) ähnelt der Ausführung einer Dienstleistung (Bitner et  al. 2008), wenn Interaktionen mit dem Unternehmen in Betracht gezogen werden. Faktoren außerhalb der Kontrolle des Unternehmens prägen jedoch ebenso die CE (Verhoef et al.

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2009) und müssen daher auch einbezogen werden. Es kann unterschieden werden zwischen marken-, partner-, kundeneigenen und externen TPs (Lemon und Verhoef 2016). Um die variierende Bedeutung von TPs in Bezug auf die gesamte CE darzustellen, wurde das Konzept der „Moments of Truth“ (Carbone und Haeckel 1994) geschaffen, damit besonders bedeutende Momente in der CJ identifiziert werden können. TPs gehören zu einem bestimmten Kanal. Neslin et al. (2006) definieren Kanäle als das Medium, über das der Kunde und das Unternehmen interagieren. Die Arbeitsdefinition für diesen Artikel erweitert dieses Verständnis um die Interaktionen zwischen Kunden. Während früher Kunden in einem einzigen Kanal den Entscheidungsprozess des Kaufs durchführten, veränderte sich das Bild im digitalen Zeitalter: Kunden können Informationen über einen Kanal suchen, über einen anderen Kanal kaufen und das Produkt über einen dritten Kanal beziehen (Dholakia et al. 2010; Magnini und Karande 2011). Daher werden TPs nun zunehmend bedeutender als Kanäle (Verhoef et al. 2015), da ein TP den angeforderten Dienst bereitstellt und Kanäle für die Bereitstellung der TPs genutzt werden. Für eine herausragende CE müssen TPs verbunden und integriert werden.

4.3

 ustomer Experience Management Entity-RelationshipC Modell

Aufgrund mehrerer Forschungsstränge, die in getrennten Disziplinen aufkamen, sind unterschiedliche Konzepte entstanden. Während Veröffentlichungen in den Bereichen Marketing, Handel und Dienstleistungsforschung auf mehrere zentrale Begriffe zurückgreifen, sind die Verbindungen zwischen den Bereichen verschwommen. Durch die Analyse dieser Begrifflichkeiten und Bedeutungen wird ein erweitertes Entity-Relationship-Modell (ERM) basierend auf Vossen (2008) erstellt, das in Abb. 4.1 dargestellt ist. Die Erweiterung des klassischen ERMs ermöglicht die Spezialisierung durch das Dreieckselement. Der Einflussgrad der Marketingund technischen Sichtweise sowie deren Schnittpunkt wird in der Abbildung hervorgehoben. Die IS-Perspektive wird als ihre Vereinigung gesehen. Beobachtbare Objekte sind farblich markiert und den theoretischen Konstrukten gegenübergestellt. Die Entitätstypen werden in den folgenden Absätzen hervorgehoben. Das Begünstigen einer besonderen CE muss ein Unternehmensziel sein, um sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen. Per Definition ist eine Erfahrung subjektiv, so dass sie nicht mehrfach referenziert werden kann und jeder CJ eine einmalige Erfahrung hat. Customer Experiences können sich gegenseitig beeinflussen und sind somit verbunden. Eine Customer Journey beinhaltet ein Referenzobjekt, bei dem es sich typischerweise um ein Produkt oder eine Dienstleistung des Unternehmens handelt. Da „customer decision process“ (Lemon und Verhoef 2016) synonym zu CJ verwendet wird, kann eine zeitlogische Reihenfolge angewendet werden, die in verschiedenen aufei­ nanderfolgenden Phasen um den Kauf eines Kunden abgebildet wird. Sowohl die wissenschaftliche als auch die praxisbezogene Literatur bieten eine Vielzahl von Modellen (Dhebar 2013; Puccinelli et al. 2009; Edelmann), die zu mindestens drei Customer Journey-Phasen zusammengefasst werden können: Pre-Sales, Sales, After-­Sales.

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Abb. 4.1  Entity-Relationship-Modell für Customer Experience Management

Ein TP verbindet die theoretischen Überlegungen zur CE mit einem tatsächlichen Ereignis, sodass TPs zwischen der Marketing- und der technischen Sicht liegen. Eine CJ-Phase umfasst TP-Klassen, und eine TP-Klasse ist immer mit einem Kanal verbunden. Aufgrund des Verwendens der Logik von abstrakten Klassen und deren Instanziierungen wird die TP-Klasse als eine abstrakte Interaktionsschnittstelle mit dem Kunden definiert. Die TP-Instanz beschreibt die tatsächliche Berührung mit dem Kunden, befindet sich somit in der CJ und beinhaltet eine Erfahrung. Folglich können TP-Instanzen als chronologische Ereignisse sequenziell betrachtet werden. Ein anschauliches Beispiel ist die Facebook-Seite eines Unternehmens als TP-Klasse mit einem Kundenbeitrag als TP-Instanz. Diese TP-Instanz ist der Nachfolger einer früheren TP-Instanz in der CJ (was zu dem Beitrag auf Facebook geführt hat). Eine TP-Klasse ist auf vier Dimensionen spezialisiert. Erstens können TP-­Klassen kritisch („Moments of Truth“ (MOT)) und unkritisch sein (Carbone und Haeckel 1994). Zweitens können TP-Klassen in vier verschiedene Typen (Marken-, Partner-, Kunden-, Externe-TP) unterteilt werden (Lemon und Verhoef 2016). Straker et  al. (2015) stellen eine Typologie vor, die in den verbleibenden zwei Spezialisierungen des TP-Klassen-Entitätstyps adaptiert wird: Simplex- und Duplex-TPs geben die Richtung der Kommunikation an, während der Zweck jedes TPs entweder funktionaler (mit einem klaren Ziel vom Unternehmen oder Kunden) oder unterhaltender Natur (Freizeit- und soziale Aktivitäten) sein kann.

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Der Kanal, der metaphorisch als Hülle um TPs angesehen werden kann, ist aus technischer Sicht wichtig, da alle TPs innerhalb eines Kanals technologische Merkmale teilen. Diese Merkmale bedingen das Servicedesign und die Probleme bei der Integration. Zudem benötigt das Unternehmen zuerst diese Hülle, um TPs darin zu erstellen. Auf der anderen Seite entscheiden sich die Kunden grundsätzlich für die Nutzung eines Kanals, bevor sie spezielle TPs in Betracht ziehen. Während letztere einem bestimmten Zweck dienen, tun dies Kanäle nicht. Man betrachte bspw. einen Einzelhändler: Erstens wird die Entscheidung getroffen, ob die Facebook-Präsenz des Händlers oder ein lokaler Laden (Kanal) für den Erhalt von Produktinformationen genutzt werden soll. Nach der Auswahl betritt man den Laden und nähert sich dem Serviceschalter oder der entsprechenden Abteilung (TP). Während im Handel Kanäle oft nur Verkaufskanäle umfassen, sollen hier auch Kommunikationskanäle gemeint sein. Das Aufkommen des Internets führte zu neuen, schnell- und kurzlebigen Kanälen, sodass abstrakte Kanaltypen modelliert wurden, um grundlegende Ähnlichkeiten von Kanälen zu erfassen. So ist Facebook als ein Kanal und Social Media als zugehöriger Kanaltyp aufzufassen, zu welchem noch andere Kanäle gehören können. Eine technischere Sichtweise wird durch die nicht-disjunkte Spezialisierung der Kanäle erreicht, welche den Schwerpunkt auf die Nutzung digitaler Technologien legt. Kunden benötigen ein Gerät (z. B. Smartphone) zur Nutzung eines digitalen Kanals, während das Unternehmen ein Informationssystem benötigt, um den Kanal zu bespielen. Da eine Kanalintegration einfacher bei homogenen Systemen hergestellt werden kann, ist das Bespielen mehrerer Kanäle aus einem System wünschenswert. In erster Linie wird die Nützlichkeit des ERMs in einer strukturierten Sicht auf die verschiedenen Begriffe gesehen, die in der Domäne entstanden sind. Eine Instanziierung für ein spezifisches Unternehmen kann verwendet werden, um einen kohärenten Omni-Channel-Management-Ansatz innerhalb einer Strategie zur digitalen Transformation zu definieren. Während das ERM die möglichen Beziehungen zwischen Kanälen und Touchpoints zeigt, werden diese in der Realität selten von Systemen ausgenutzt, da etwa die kanalübergreifende Kundenidentifikation nicht möglich ist. Im Folgenden werden Channel-Management-Ansätze untersucht, um eine ganzheitliche Sicht auf das Omni-Channel-Management zu erhalten.

4.4

Omni-Channel-Verknüpfungskonzept

4.4.1 E  inführung in das Multi-, Cross- und Omni-ChannelManagement Unternehmen führen zunehmend neue Kanäle und TPs ein, auf die von verschiedenen Geräten unabhängig von Zeit und Raum zugegriffen werden kann. In diesem Zusammenhang sind die Channel-Management-Ansätze Multi-, Cross- und Omni-­ Channel entstanden. Die Bedeutung dieser Begriffe überschneidet sich jedoch oft in der wissenschaftlichen Literatur (Beck und Rygl 2015; Verhoef et al. 2015). Aus diesem Grund wird im Folgenden die vorhandene Literatur zur Klärung dieser Begriffe untersucht.

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Händler führen vermehrt verschiedene Kanäle ein, damit der Kunde in jeder CJ-­ Phase einen bevorzugten Kanal auswählen kann. Die verschiedenen Kanäle sind jedoch autonom organisiert und werden getrennt voneinander ohne Überschneidung oder integrierte Ziele verwaltet (Verhoef et  al. 2015; Saghiri et  al. 2017). Multi-­ Channel-­Händler haben meist Silostrukturen und keine Strategie (Straker et  al. 2015; Oh et al. 2012; Herhausen et al. 2015). Laut Beck und Rygl (2015) verkauft ein Multichannel-Händler „Waren oder Dienstleistungen über mehr als einen oder alle verbreiteten Kanäle, wobei der Kunde keine Kanalinteraktion auslösen kann und/oder der Händler die Kanalintegration nicht steuert“ (Beck und Rygl 2015). Beck und Rygl (2015) betrachten Kanalinteraktionen und -integration als charakteristisches Merkmal einer Cross-Channel-Umgebung. Sie erklären, dass ein Cross-Channel-Händler ein Multi-Channel-Händler ist, der die Inte­ gration von mindestens zwei Kanälen steuert oder dessen Kunden die Interaktion zwischen mindestens zwei dieser Kanäle auslösen können. Die Kanalintegration kann als technische Back-Stage-Konnektivität verstanden werden, die den Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Kanälen ermöglicht (z.  B.  Kunden, Preis- und Bestandsdaten). Kanalinteraktion ermöglicht neue Wege durch die CJ über die Kanäle hinweg. Ein Beispiel ist die Möglichkeit, Waren online zu bestellen und offline abzuholen (Beck und Rygl 2015). Da­ rüber hinaus schafft ein Cross-Channel-­Händler betriebswirtschaftliche Syner­ gieeffekte durch gut koordinierte Kanalziele, gut koordiniertes Design und gut koordinierte Bereitstellung. Diese Koordination muss über mehrere Geschäftsfunktionen hinweg geplant werden und resultiert in Vorteile für den Kunden (Roy et  al. 2016; Cao und Li 2015). Um dieses Ziel zu erreichen, müssen Händler Geschäftsfunktionen integrieren und mit externen Partnern zusammenarbeiten (Lemon und Verhoef 2016). Dieser Zustand wird manchmal schon als Omni-Channel (OC) bezeichnet (Vossen 2008). In der Tat ist der Cross-Channel-Ansatz ein fester Bestandteil des OC-Ansatzes (Saghiri et al. 2017). In einem OC-Umfeld verschwinden die Grenzen zwischen den Kanälen jedoch und ein nahtloser Kanalwechsel ist möglich (Verhoef et al. 2015). Dabei liegt der Fokus nicht mehr nur auf den Kanälen, sondern auf den unterschiedlichen TPs innerhalb dieser Kanäle (Verhoef et al. 2015). Inhaltlich versuchen OC-Händler, thematische Kohärenz und Konsistenz zwischen allen TPs herzustellen. Darüber hinaus werden aus technischer Sicht Konnektivität und ­Kontextsensitivität zwischen TPs hergestellt 0. Dadurch werden viele variable und wertschöpfende CJs ermöglicht (Saghiri et al. 2017). Dies erhöht die Bedeutung des CE-Managements über mehrere TPs hinweg (Lemon und Verhoef 2016). In Anlehnung an Beck und Rygl (2015) und Verhoef et al. (2015), wird OC-Handel definiert als: Der Verkauf von Waren oder Dienstleistungen über alle verbreiteten Kanäle, die aus Kundensicht nahtlos miteinander verbunden sind, indem der Händler die volle Interaktion zwischen allen Kanälen ermöglicht und/oder er die Kanalintegration vollständig kontrolliert. Durch das systematische Management von TPs und die Koordination von Prozessen und Technologien über diese hinweg werden CE und die Leistung über alle Kanäle hinweg optimiert.

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4.4.2 Verständnis der Kanalintegration Im Rahmen des Cross- und Omni-Channel-Managements gibt es mehrere Möglichkeiten, wie Kanäle nahtlos miteinander verknüpft werden können. Der Großteil der vorhandenen Literatur diskutiert diese Möglichkeiten unter den Begriffen Multi-, Cross- oder Omni-Channel-Integration. Während die Kanalintegration aus einer Marketing-Perspektive betrachtet werden kann (d. h. thematische Kohärenz und Konsistenz), gibt es auch eine technologische Perspektive (z. B. Konnektivität und Kontextsensitivität von TPs), die die Marketing-Perspektive unterstützt oder ermöglicht (Homburg et al. 2017). Kanalintegration wird daher definiert als: Die Bemühungen eines Unternehmens, seine Marketingaktivitäten über alle Kanäle hinweg zu synchronisieren, um das nahtlose Einkaufserlebnis der Kunden zu optimieren (Cao und Li 2015; Berger et al. 2002), und diese Kanäle funktional zu integrieren, um einen nahtlosen Übergang und eine Austauschbarkeit über die verschiedenen CJ-Phasen hinweg zu gewährleisten (Cao und Li 2015; Jiang et  al. 2015; Yan et al. 2010). Saghiri et al. (2017) fassen sieben Integrationsroutinen zusammen, welche beschreiben, wie Kanäle integriert werden können: Integrierte Werbekampagnen, integrierte Transaktion, integrierte Produktinformationen, integrierte Preisinformationen, integrierte Auftragsabwicklung, integrierte Rücknahmelogistik und integrierter Kundenservice. Durch die Berücksichtigung dieser Integrationsroutinen und die Erhöhung der Sichtbarkeit von Kanalinformationen (d. h. des Datenaustausches) über Kanäle und CJ-Phasen hinweg kann ein Unternehmen seine Kanalinfrastruktur zu einem vollständig integrierten OC-System weiterentwickeln (Saghiri et  al. 2017). Die Kanalintegration kann zu einem stärkeren Umsatzwachstum (Lemon und Verhoef 2016; Cao und Li 2015), einer Steigerung der „wahrgenommenen Qualität des Online-­Kanals“ (Lemon und Verhoef 2016) und der Reduzierung von Service-­Inkonsistenzen (Jiang et al. 2015) führen. Darüber hinaus können durch die Kanalintegration Synergien wie „verbessertes Kundenvertrauen, verbessertes Kundenbewusstsein, Risikoreduzierung und Abdeckung unterschiedlicher Einkaufspräferenzen“ erzielt werden (Wu und Wu 2015). Zudem ermöglicht sie Unternehmen aus operativer Sicht, Kundenkontakte aktiv zu pflegen und durch verstärkte Kundeneinblicke eine ­proaktive CE-Managementstrategie zu entwickeln (Cao und Li 2015; Grewal et al. 2009). Darüber hinaus ermöglichen adaptive digitale TPs neue Formen des digitalen Marketings (Kannan und Li 2017). Beispielsweise können Händler durch die Einführung firmeninitiierter mobiler TPs „maßgeschneiderte, zeit- und ortsabhängige Werbung und Angebote im Laden anbieten“ (Lemon und Verhoef 2016). Unterstützt wird dies durch die gestiegenen Datenintegrations- und Analysefähigkeiten (Cao und Li 2015). Durch die Vernetzung der Kanäle wird es den Wettbewerbern erschwert, das Unternehmen zu imitieren. Sie könnte das Leistungsversprechen an den Kunden steigern und damit den Wettbewerbsdruck verringern (Herhausen et al. 2015; Jiang et al. 2015).

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4.4.3 Ableitung eines Omni-Channel-Verknüpfungskonzeptes Wie bereits im vorherigen Unterkapitel erwähnt, gibt es mehrere Möglichkeiten, wie Kanäle miteinander verknüpft werden können. In einer OC-Umgebung kann der Begriff der Kanalintegration jedoch auf die umfassendere Idee der TP-­Integration ausgedehnt werden (Lemon und Verhoef 2016). Die Digitalisierung von TPs ist ein wichtiger Aspekt, um eine vollständige Kanalintegration zu erreichen. Das Thema der TP-Integration ist jedoch erst kürzlich aufgekommen. Was ist also der Unterschied zwischen Kanal- und TP-Integration? Bei der Untersuchung dieser Begriffe wird deutlich, dass der Begriff Integration in der Multi-, Cross- und Omni-­Channel-­ Literatur ohne ein klares Konzept verwendet wird. Nach der Theorie des Systemdenkens ist Integration die Verbindung von Komponenten innerhalb eines Systems. Andererseits stellt Konnektivität die Verbindung von Komponenten über verschiedene Systeme hinweg dar (Matook und Brown 2016). Abb. 4.2 verdeutlicht diese Idee im Kontext des Channel-Managements. In Multi- und Cross-Channel-Umgebungen können die Kanäle selbst als Systeme betrachtet werden. In einer Multi-Channel-Umgebung gibt es weder Integration noch Konnektivität. Dahingegen sollten Cross-Channel-Integrationen, die in der Literatur diskutiert werden, stattdessen als Channel-Konnektivität bezeichnet werden. Nur wenn die Idee der Kanalintegration auf TPs ausgeweitet wird, sollte die Verbindung dieser innerhalb eines bestimmten Kanals als TP-Integration betrachtet werden. Diese Annahme steht im Einklang mit Homburg et  al. (2017), die erklären, dass die Konnektivität von TPs die funktionale Integration von „mehreren Touchpoints über Online- und Offline-Umgebungen hinweg für die nahtlosen Übergänge zwischen den beiden Systemen“ ist. Wenn sich jedoch einer OC-Umgebung angenähert wird, kann man argumentieren, dass das Konzept der Kanäle nicht mehr existiert, da die Kanalgrenzen verschwinden (Verhoef et al. 2015). In diesem Fall existiert nur ein OC-System, das aus mehreren TPs besteht. Wenn TPs in dieser Umgebung nahtlos miteinander verbunden sind, kann dies als TP- oder OC-­ Integration bezeichnet werden.

Abb. 4.2  Entity-. Multi-, Cross- und Omni-Channel aus systemdenkender Perspektive

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Abb. 4.3 Omni-Channel-Verknüpfungskonzept

Um die Mehrdeutigkeit des Begriffs Integration zu umgehen und eine ganzheitliche Vorstellung davon zu bekommen, wie TPs in einer OC-Umgebung integriert und verbunden werden können, wird im Folgenden das Konzept der OC-­Verknüpfung hergeleitet. Ausgehend von der Idee der horizontalen (d. h. „über die Zeit“ (Richardson)) und vertikalen Integration (d. h. „Kohärenz in jeder Phase“ (Richardson)) und der Analyse der Touchpoints eines der 25 umsatzstärksten Einzelhändler weltweit (Dhiraj 2017) wurden vier verschiedene Formen der OC-Verknüpfung entlang zweier Dimensionen identifiziert. Während die erste sich mit der phasenübergreifenden Integration beschäftigt, beschäftigt sich die zweite mit der bereits erwähnten Cross-Channel-Konnektivität (siehe Abb. 4.3). 1. Kanal- und phaseninterne Integration ist die erste Form der Verknüpfung in einer OC-Umgebung. Diese Art der Integration befasst sich mit TPs aus einem einzigen Kanal, die komplementäre Informationen liefern, aus Prozessperspektive integriert sind und sich der Interaktion mit anderen oder sich selbst historisch in einer bestimmten Phase der CJ bewusst sind. Ein Beispiel ist die Möglichkeit, Produkte aus einem digitalen Kochrezept in einen Online-Einkaufswagen zu legen. Mit einer Smart-Retail-Technologie wird diese Art der Integration auch in einem Offline-Kanal ermöglicht und kann die Organisation des Geschäfts verbessern (Roy et al. 2016; Atzori et al. 2010). Ein Beispiel ist die Verwendung von Beacons und Smartphones, um eine Kontext- oder Ortssensitivität zu ­ermöglichen (Lemon und Verhoef 2016; Inman und Nikolova 2017; Homburg et al. 2017). Daher wird bei dieser Art der Integration mehr Wert auf jeden einzelnen TP gelegt. 2. Kanalinterne und phasenübergreifende Integration ist die zweite Form der OC-Verknüpfung. Saghiri et al. (2017) erklären, dass die Integration zwischen den CJ-Phasen ein reibungsloseres CE durch Kontextbewusstsein gewährleistet, das zwischen den Phasen weitergegeben wird. Diese Art der Integration ist bereits weit verbreitet in Online-Umgebungen, in denen Daten in Nutzerprofilen gespeichert und ausgewertet werden, um z. B. Produktempfehlungen auf Basis früherer Einkäufe abzugeben. Ein weiteres Beispiel ist eine Service-Hotline, die den Kunden berät, eine Bestellung aufgibt und nach dem Eintreffen des

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Produkts einen After-Sales-Support anbietet. Mit Smart-Retail-Technologien könnte diese phasenübergreifende Integration auch auf eine Offline-Umgebung übertragen werden. So könnte z.  B. eine intelligente Regaltechnik eingesetzt werden, um dem Kunden gezielt Angebote auf Basis seiner bisherigen Offline-Einkäufe zu unterbreiten (Inman und Nikolova 2017). 3. Kanalübergreifende und phaseninterne Konnektivität entstehen, wenn TPs verschiedener Kanäle innerhalb einer Phase der CJ in einer Cross-Channel-­ Umgebung miteinander verbunden werden. Hier liefern TPs anderer Kanäle komplementäre Informationen für die gleiche CJ-Phase und sind sich einander bewusst. Darüber hinaus können die Kanäle untereinander austauschbar sein und ermöglichen dafür einen nahtlosen Übergang (Saghiri et al. 2017). Ein Beispiel ist der Einkauf von Waren über eine App und die Abholung in einem lokalen Geschäft (d. h. die Integration der Auftragsabwicklung). 4. Kanal- und phasenübergreifende Konnektivität ist die letzte Form der OC-­ Verknüpfung. Sie kombiniert die letzten beiden Arten der Kopplung. Ein Beispiel ist, dass ein Call-Center-Agent zunächst einen Kunden berät und dann Produkte in seinen Online-Einkaufswagen legt. Der Kunde kann anschließend den Kauf im Online-Shop abschließen. Ein weiteres Beispiel in einer Smart-­Retail-­Umgebung wäre die Bereitstellung von Produktempfehlungen an einem beliebigen Online-TP nach der Interaktion mit einem bestimmten Offline-TP. Das vorgestellte Verknüpfungskonzept ermöglicht nicht nur ein konsistentes Verständnis der Begriffe bei der Digitalisierung und Integration von Touchpoints, sondern liefert auch eine ganzheitliche Sicht auf die technischen Möglichkeiten für die Strategieentwicklung.

4.5

Fazit und Ausblick

Die Forschung auf dem Gebiet des OC-Managements ist erst in den letzten Jahren aufgekommen 0. Das Ziel dieses Artikels war es, einen Beitrag zum Wissensstand zu leisten, indem er den Blick von Marketingkonzepten wegbewegt und das OC-­ Management stattdessen aus einer IS-Perspektive betrachtet, die die Marketing- und IT-Sichtweise kombiniert. Das entwickelte ERM bietet eine solide Grundlage für die zukünftige Forschung, indem es Konstrukte der Domäne inhaltlich und technisch einbettet, die derzeit leichtfertig ohne technischen Bezug genutzt werden. Darüber hinaus erhalten IT und Marketing aufgrund der klaren Differenzierung von TP-Integration und Konnektivität und aufgrund der genaueren Betrachtung der Richtungen, in denen TPs miteinander verknüpft werden können, ein weiteres In­ strument, um ihre Kommunikation zu erleichtern. Weiterführende Forschung sollte die präsentierten Artefakte durch Experteninterviews evaluieren und verfeinern, um so einen Ausgangspunkt für die weitere Forschung zu schaffen. Dem BPM (Business Process Management)- Lebenszyklus (Houy et al. 2010) folgend ist die Entwicklung weiterer IT-Artefakte geplant. Erstens wird

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für die Gestaltung von OC-Diensten eine Modellierungssprache entwickelt, die eine Marketing- und eine technische Perspektive zur Unterstützung der funktionsübergreifenden Kommunikation abdeckt. Zweitens müssen bei genauerer Betrachtung der sozio-technischen Merkmale die Geschäftsanforderungen (z. B. Strategie, Organisationsstruktur, Kultur, Prozesse) analysiert werden, die für die Implementierung (d. h. Modellierung) der OC-Dienste notwendig sind. Darüber hinaus werden die Auswirkungen von digitalisierten TPs auf den Betrieb eines Einzelhändlers untersucht. Auf der Grundlage der Ergebnisse werden konkrete Gestaltungsmöglichkeiten und Instrumente zur Entscheidungsfindung entstehen. Drittens würde die Implementierung eines IT-Artefakts für die Analyse und Präsentation von prozessbezogenen Informationen, die an den verschiedenen TPs gesammelt wurden, die Ausführung der OC-­Dienste unterstützen. Das erfordert die Einbettung von Protokollierungs- und Überwachungsmechanismen in digitalisierte TPs. Schließlich können diese die Überwachung und Optimierung der CJ vorantreiben. Danksagung  Dieser Artikel ist eine Übersetzung von: Heuchert et al. 2018. An IS Perspective on Omni-Channel Management along the Customer Journey: Development of an Entity-­Relationship-­ Model and a Linkage Concept. In Proc. Multikonferenz Wirtschaftsinformatik 2018. Lüneburg, Germany. Er ist Teil des Projektes „RISE_BPM“, welches im Rahmen des Marie-Skłodowska-­ Curie-­Finanzhilfeabkommens Nr. 645751 mit Mitteln aus dem Forschungs- und Innovationsprogramm Horizont 2020 der Europäischen Union gefördert wird.

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Evaluation der organisationalen UX-Gestaltungskompetenz Dominique Winter und Gunnar Stevens

Zusammenfassung

Organisationen wollen Produkte mit guter User Experience herstellen. Durch die Evaluation der organisationalen UX-Gestaltungskompetenz können Organisationen erkennen, wie stark ihre momentane UX-Gestaltungskompetenz ausgeprägt ist und wie die Kompetenz gezielt gesteigert werden kann. Für die Abbildung der aktuellen Kompetenz werden ein Fragebogen zur theoretischen Kompetenz und ein Fragebogen für die Produktevaluation kombiniert. Durch diese Kombination wird die Kompetenz der Organisation aus der Handlungs- und der Ergebnisper­ spektive betrachtet. Für die Erarbeitung von Handlungsfeldern zur Verbesserung der Kompetenz werden qualitative Interviews durchgeführt und mit den Ergebnissen der quantitativen Erhebungen verknüpft. Durch einen anschließenden Ergebnisworkshop erarbeiten sich die Mitglieder der Organisation einen effizienten Weg zur Steigerung der organisationalen UX-Kompetenz. Schlüsselwörter

User Experience · Kompetenz · Evaluation · Organisation · Verfahren · Organisationsentwicklung

Überarbeiteter Beitrag basierend auf Winter und Stevens (2018) Evaluation der organisationalen UX-Gestaltungskompetenz, Tagungsband zur Multikonferenz Wirtschaftsinformatik (MKWI) 2018, Paul Drews, Burkhardt Funk, Peter Niemeyer und Lin Xie (Hrsg.), S. 422. D. Winter (*) Hochschule Emden/Leer, Emden, Deutschland E-Mail: [email protected] G. Stevens Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Sankt Augustin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Robra-Bissantz, C. Lattemann (Hrsg.), Digital Customer Experience, Edition HMD, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1_5

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5.1

D. Winter und G. Stevens

Einleitung

Produktherstellende Organisationen beziehen ihre Existenzberechtigung aus dem Mehrwert, den ihre Produkte den Kunden zur Verfügung stellen. Sehen Kunden einen Mehrwert in der Nutzung eines Produkts, sind sie bereit, Zeit und Geld aufzuwenden. Die Hersteller benötigen das Geld um den Fortbestand oder gar das Wachstum der Organisation zu ermöglichen. Erfüllen mehrere Organisationen mit ihren Produkten die gleichen Bedürfnisse der Kunden, so stehen diese in einem direkten Wettbewerb. Die notwendigen Ressourcen zum Fortbestehen der Organisationen werden durch die Kunden aufgeteilt. Einige Kunden bevorzugen das Produkt der einen Organisation, während andere Kunden das Produkt einer anderen Organisation bevorzugen. Der Kunde ist in seiner Produktauswahl kein rein rationales Wesen, denn die Auswahl eines Produkts erfolgt nicht ausschließlich über eine Kosten-/Nutzen-Betrachtung. Dies wird umso offensichtlicher, wenn der funktionale Mehrwert verschiedener Produkte unterscheidungsarm ist. In einem solchen Fall sind Emotionen für die Produktselektion von hoher Bedeutung. Emotionen können durch viele Eigenschaften der Produkte beeinflusst werden. Die visuelle Gestaltung eines Produkts, die Aufmachung seiner Verpackung oder die Werbung wirken beispielsweise auf die Emotionen des Kunden ein. Für interaktive Produkte ist die User Experience (UX) ein wichtiges Mittel, um die emotionale Beziehung zwischen Kunde und Produkt zu verbessern. Ruft ein Produkt bei Anwendern eine positive User Experience hervor und ist das Produkt nicht Ergebnis eines willkürlichen Gestaltungsprozesses, so kann von einer UX-bezogenen Produktgestaltungskompetenz der Organisation ausgegangen werden (Winter et al. 2017a). Es muss umso mehr von einer organisationalen UX-Gestaltungskompetenz ausgegangen werden, wenn Organisationen wiederholt Produkte mit positiver User Experience erzeugen. Was in einigen Arbeiten anklingt (Tretter et  al. 2017; Gray et  al. 2015; Gray 2014; Mishra und Shah 2009), aber noch nicht systematisch betrachtet wurde, ist die Frage nach einem strukturierten Evaluationsverfahren, dass sowohl Handlungsals auch Ergebnisqualität der UX-Gestaltungskompetenz berücksichtigt. In diesem Kapitel wird ein Evaluationsverfahren der UX-Gestaltungskompetenz vorgestellt, das zur Betrachtung der Handlungs- und Ergebnisqualität qualitative und quantitative Methoden kombiniert. Gleichzeitig bekommen Organisationen durch das Evaluationsverfahren Handlungsfelder aufgezeigt, die zur gezielten Weiterentwicklung ihrer UX-Gestaltungskompetenz genutzt werden können.

5.2

Organisationale UX-Gestaltungskompetenz

Eine begriffliche Näherung an das Konzept der organisationalen Kompetenz lässt sich über den Umweg der individuellen Kompetenz vornehmen. Individuelle Kompetenz ist die dem Individuum zugeschriebene „situationsübergreifende Handlungs- und Problemlösefähigkeit“ (Wilkens et  al. 2006). Eine solche situationsübergreifende

5  Evaluation der organisationalen UX-Gestaltungskompetenz

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Handlungs- und Problemlösefähigkeit findet sich auch bei Organisationen, wo die organisationale Kompetenz als kollektive Ausprägung der Handlungs- und Problemlösefähigkeit angesehen wird. Nach Barthel und Roth (2011) ist die organisationale Kompetenz „das kollektive Handlungspotenzial, das durch die Koordination von Ressourcen und durch interne und externe Kooperation zur Realisierung der Organisationsziele und -strategien beiträgt“. Baitsch (1998) hingegen beschreibt die Kompetenzen von Organisationen „als die Qualität der Steuerung der organisationalen Selbstdefinition und des organisationalen Wissens.“, wodurch der Fokus der Untersuchung zwar ebenfalls auf die Handlung gerichtet, aber um eine koordinierende Funktion erweitert wird. Dies deckt sich mit Cyert und March (2006) sowie March und Olsen (1976), die organisationale Kompetenzen als Ergebnis vielschichtiger sozialer Interaktionsprozesse sehen. Diese sozialen Interaktionsprozesse verdichten sich zu kollektiven Handlungsmustern im Sinne von Prozessen. Improvisationen aufgrund einer komplexen, neuartigen Aufgabenstellung können wegen fehlender Musterbildung explizit nicht als Kompetenz betrachtet werden (Eberl und Schreyögg 2015). Die Handlungs- und Problemlösefähigkeit auf der Ebene der Organisation manifestiert sich erst durch konkretes Verhalten (Rastetter 2006) und ein aus der Handlung resultierenden erfolgreichen Ergebnis (Gherardi und Nicolin 2002). Für die organisationale Kompetenz lassen sich daher eine Handlungsperspektive und eine Ergebnisperspektive einnehmen. Bezugnehmend auf die Anwendung der situationsübergreifenden Handlungs- und Problemlösefähigkeit gilt es nach Eberl und Schreyögg (2015) darauf zu achten, dass die organisationale Kompetenz nur auf den Erfolg einer bestimmten Problemdomäne bzw. eines diesbezüglichen Handlungsbereichs beschränkt ist. Im Folgenden wird daher die UX-Gestaltungskompetenz einer Organisation als Handlungsbereich betrachtet. Die UX-Gestaltungskompetenz basiert auf der Fähigkeit der Organisation Produkte mit positiver User Experience zu erzeugen. Das Konzept der User Experience beschreibt „die Wahrnehmungen und Reaktionen einer Person, die aus der tatsächlichen und/oder der erwarteten Benutzung eines Produkts, eines Systems oder einer Dienstleistung resultieren“ (DIN EN ISO 2011). Das Konzept erweitert dadurch den klassischen Fokus der benutzerorientierten Entwicklung um die zeitliche Betrachtung (erwartete und erinnerte Nutzungserlebnisse). Zusätzlich ergänzt das Konzept der User Experience die klassischen Kriterien der Benutzbarkeit um weitere Faktoren (Winter et al. 2015, 2017b), die zusammengenommen ein umfassenderes Bild des Nutzungserlebnisses ergeben. Desmet und Pohlmeyer (2013) und Hassenzahl (2001) beschreiben einen positivistisch-­psychologischen Ansatz der User Experience, der auf den theoretischen Grundlagen der positiven Psychologie und psychologischen Bedürfnistheorien beruht. Hassenzahl (2001, 2003) unterscheidet zwischen pragmatischen und hedonischen Qualitäten von Produkten, die zusammengenommen die UX beschreiben. Die pragmatischen Qualitäten tragen dazu bei, dass Bedürfnis nach schnellem und einfachem Arbeiten zu befriedigen. Demgegenüber befriedigen die hedonischen Qualitäten weitere Grundbedürfnisse des Menschen (z. B. Stimulation oder Identifikation). Hassenzahl (2001) hat in empirischen Studien gezeigt, dass beide Qualitäten unabhängige Dimensionen der UX beschrieben.

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D. Winter und G. Stevens

Im Feld der positivistisch-psychologischen UX-Forschung wurden Fragebögen entwickelt, um die pragmatischen und hedonischen Qualitäten eines Produkts quantitativ zu erfassen. In der Auswertung der Fragebögen wird ein skalarer Wert ermittelt, der die Ausprägung der UX repräsentiert.

5.3

Evaluation der UX-Gestaltungskompetenz

Der Ablauf der Evaluation teilt sich nach Stockmann und Meyer (2014) in die Phasen Planung, Durchführung und Verwertung (siehe Abb. 5.1). Ergebnis der Planung ist die Bestimmung und Eingrenzung des Evaluationsvorhabens. Vom Evaluationsziel, der Erhebung der UX-Gestaltungskompetenz, aus, ist der Evaluationsgegenstand die Produktentwicklung der Organisation mit ihrer Befähigung zur Entwicklung von Produkten mit positivem Nutzungserlebnis. Während der Planung müssen die Beteiligten der Produktentwicklung identifiziert und einbezogen werden. Gleichzeitig können notwendige Ressourcen (Arbeitszeit, Räume, Material, EDV, etc.) verfügbar gemacht werden, um die Datenerhebungen und Auswertungen durchzuführen. Eine Beschreibung des Evaluationsvorhabens wird verfasst und kommuniziert. Der Ablauf der Evaluation wird vom Evaluatoren mit den Beteiligten gemeinsam geplant. Während der Durchführung werden notwendige Daten erhoben und ausgewertet. Die Datenerhebung teilt sich in die drei Aktivitäten Mitarbeiterbefragung (Abschn. 5.3.1), Nutzerbefragung (Abschn. 5.3.2) und Interviews (Abschn. 5.3.3).

Abb. 5.1  Ablauf der Evaluation

5  Evaluation der organisationalen UX-Gestaltungskompetenz

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Während mittels einer Mitarbeiterbefragung und einer Nutzerbefragung die aktuelle Ausprägung der UX-Gestaltungskompetenz erhoben wird, ermitteln Interviews mögliche Handlungsfelder für deren Ausbau. Die drei Aktivitäten Mitarbeiterbefragung, Nutzerbefragung und Interviews können gleichzeitig stattfinden, da sie sich organisatorisch nicht störend beeinflussen. Zur Verwertung werden die erhobenen Daten aufbereitet und ausgewertet. Ein Evaluationsbericht wird von einem Evaluator erstellt und in einem Ergebnisworkshop mit den Beteiligten der Produktentwicklung diskutiert (Abschn. 5.4).

5.3.1 Mitarbeiterbefragung Basierend auf dem Kompetenzmodell von Wilkens et al. (2006) stellt Rieser (2011) einen Fragebogen zur Messung der organisationalen Kompetenz mit den Dimensionen Komplexitätsbewältigung, Reflexionsfähigkeit, Kombinationsfähigkeit und Kooperationsfähigkeit bereit (siehe Tab.  5.1). Der Fragebogen erhebt die handlungsbezogene organisationale Kompetenz des untersuchten Teilsystems. Für die Erhebung der organisationalen UX-Gestaltungskompetenz wurde der Fragebogen von Rieser (2011) angepasst, damit die UX-Gestaltungskompetenz fokussiert untersucht wird. Eine Anpassung der Fragen ist möglich, da stets von einer „Einheit“ gesprochen wird. Zur Messung der UX-Gestaltungskompetenz wird das Teilsystem der „Produktentwicklung“ aus der Gesamtorganisation herausgelöst und als Teilorganisation untersucht. Die Teilorganisation bildet die „Einheit“. Darüber hinaus wird der thematische Schwerpunkt auf die User Experience gelegt. Aus einem generellen „Umgang mit Komplexität“ wird der „Umgang mit der Komplexität des Nutzungserlebnisses“ (siehe Tab. 5.1, Item 1). Andere Items (z. B. Item 6: Nutzung negativen Feedbacks) bleiben in ihrem allgemeinen Charakter bestehen, da eine spezifische Ausrichtung auf einen UX-Bezug nicht notwendig ist. Eine allgemeine Aussage schließt einen Bezug der UX-Kompetenz mit ein. Neben der Anpassung der Items wird ein Einführungstext verwendet, der den Befragten darüber informiert, dass als Produktentwicklung die Gemeinschaft aller an der Produktentwicklung beteiligten Mitglieder der Organisation zu verstehen ist. Sofern aufgrund der Anzahl der Beteiligten der Produktentwicklung eine Vollerhebung möglich ist, sollte diese durchgeführt werden. Hierbei bietet sich eine Online-­Mitarbeiterbefragung an, da diese im Vergleich zu Offline-Studien häufig bessere Datenqualitäten durch ehrlicheres Antwortverhalten und geringere Effekte sozialer Erwünschtheit aufweisen (Thielsch und Weltzin 2013).

5.3.2 Nutzerbefragung Aus der ergebnisorientierten Perspektive der UX-Gestaltungskompetenz ist die Überprüfung des Handlungsergebnisses, also die UX der Produkte, zu ermitteln. Basierend auf dem positivistisch-psychologischen Verständnis der UX wurde unter anderem der User Experience Questionnaire (UEQ) (Laugwitz et  al. 2008)

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D. Winter und G. Stevens

Tab. 5.1  Itemset zur Erfassung der organisationalen UX-Kompetenz (angelehnt an (Rieser 2011)) Nr. Item Dimension: Komplexitätsbewältigung 1 Insgesamt ist unsere Produktentwicklung sehr gut darin, mit der Komplexität des Nutzungserlebnisses umzugehen. 2 Unsere Produktentwicklung hat UX-bezogene Ziele, aus denen sich Prioritäten der Aufgaben ableiten lassen. 3 In unserer Produktentwicklung sind die UX-Verantwortlichkeiten klar geregelt. 4 Unsere Produktentwicklung ist sehr gut darin, UX-bezogene Informationen auszutauschen. Dimension: Reflexionsfähigkeit 5 Insgesamt ist unsere Produktentwicklung sehr gut darin, aus kritischem Hinterfragen unserer Arbeit zu lernen. 6 In unserer Produktentwicklung können wir negatives Feedback aus der Abteilungsumwelt gut nutzen, um uns zu verbessern. 7 In unserer Produktentwicklung haben wir stets ein klares Bild über den aktuellen Stand hinsichtlich der Erfüllung unserer UX-Ziele. 8 Innerhalb unserer Produktentwicklung gehen wir offen mit Fehlern um. Dimension: Kombinationsfähigkeit 9 In unserer Produktentwicklung werden die Fähigkeiten der Mitarbeiter gezielt weiterentwickelt. 10 Unsere Produktentwicklung versteht es die individuellen Stärken der Teammitglieder zu nutzen. 11 Die Ressourcen unserer Produktentwicklung (Zeit, Geld etc.) werden effektiv und flexibel anhand aktueller Bedürfnisse aufgeteilt. 12 Unsere Produktentwicklung setzt häufig Kreativitätstechniken ein, um bei UX-bezogenen Problemstellungen neue Lösungsansätze zu entwickeln. Dimension: Kooperationsfähigkeit 13 Unsere Produktentwicklung kann sich gut auf andere Akteure (Personen, Gruppen) einstellen und mit diesen zusammenarbeiten. 14 Insgesamt zeichnet sich unsere Produktentwicklung durch ein ausgeprägtes Kooperationsvermögen aus. 15 Es fällt unserer Produktentwicklung leicht, bei Schwierigkeiten andere um Unterstützung zu bitten. 16 In unserer Produktentwicklung wird sehr kollegial zusammengearbeitet.

entwickelt, ein langjährig etablierter Fragebogen mit den Skalen Attraktivität, Durchschaubarkeit, Steuerbarkeit, Stimulation, Originalität und Effizienz. Der UEQ ist in sehr vielen Sprachen verfügbar (siehe ueq-online.org) und bietet neben einem Benchmark (Schrepp et al. 2017a) eine Kurzversion UEQ-S (Schrepp et al. 2017b) mit 8 Items (siehe Abb. 5.2). Als alternative Fragebögen stehen neben dem UEQ unter anderem der AttrakDiff (Hassenzahl et al. 2003) und der meCUE (Minge und Riedel 2013) zur Verfügung. Der AttrakDiff misst die UX durch die vier Skalen zur Messung der pragmatischen Qualität, der hedonischen Qualität Stimulation, der hedonischen Qualität der Identität und der Attraktivität. Die vier Skalen werden jeweils durch 7 bipolare, siebenstufige Items erfasst, so dass der Fragebogen insgesamt 28 Items umfasst.

5  Evaluation der organisationalen UX-Gestaltungskompetenz

75

Abb. 5.2  Items des UEQ-S (Schrepp et al. 2017b)

Der meCUE (Minge und Riedel 2013) zielt auf eine modulare Betrachtung der User Experience. Der Fragebogen arbeitet mit den Modulen zur Wahrnehmung von Produktqualitäten, zum Emotionserleben und zu Konsequenzen, welche vorab von den Autoren deduktiv bestimmt wurden. Der meCUE arbeitet nicht mit einem semantischen Differenzial, sondern mit 32 Aussagen in einer siebenstufigen Likert-­Skala. Für das Ziel der UX-Erhebung für eine Einschätzung der UX-Gestaltungskompetenz empfiehlt sich der Einsatz des UEQ-S aufgrund seiner Kürze und Einfachheit. Der UEQ-S bildet zwei Dimensionen der UX (pragmatische und hedonische Qualität) als Skalen ab. Die geringe Anzahl an Dimensionen erschwert die gezielte Weiterentwicklung der Produkte, da keine differenzierten Erhebungsdaten für Produktweiterentwicklungen genutzt werden können. Für die Beurteilung der UX zum Zweck der Evaluation der UX-Gestaltungskompetenz reicht der UEQ-S jedoch aus und vereinfacht die Datenerhebung durch den geringen Aufwand des Ausfüllens.

5.3.3 Interviews Zur Erhebung von Verbesserungspotenzialen der UX-Gestaltungskompetenz bieten sich halbstandardisierte, explorative Einzelinterviews an. Diese Interviews werden durch einen Interviewleitfaden in Art und Inhalt standardisiert (Bortz und Döring 2009). Für die Interviews wurden Kernfragen festgelegt, die durch die Interviewten direkt oder indirekt zu beantworten sind: • I-Q1: In welcher Art und Weise sind die Interviewten an der Produktentwicklung beteiligt? • I-Q2: Woran machen die Interviewten fest, wie kompetent die Organisation in der Herstellung von Produkten mit positivem Nutzungserlebnis ist? • I-Q3: Woran macht die Organisation fest, ob das Nutzungserlebnis der Produkte gut genug ist? • I-Q4: Was muss sich in der Organisation verändern, damit Produkte mit besserem Nutzungserlebnis entwickelt werden können?

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D. Winter und G. Stevens

Beginnend mit I-Q1 soll sich der Interviewte der eigenen Beteiligung an der Produktgestaltung bewusst werden. Durch I-Q2 soll der Interviewte reflektieren, woran der Erfolg der eigenen Handlung und Problemlösung festgemacht wird. Die Interviewten werden somit zu einer Verbalisierung ihrer individuellen Kriterien geleitet. Diese müssen nicht mit den Kriterien der Organisation übereinstimmen. Zu diesem Zweck regt I-Q3 die Interviewten an, die Perspektive der Organisation einzunehmen. Erkenntnisse aus dieser Frage können informelle Regeln und Bewertungsmaßstäbe aufdecken. Um Potenziale zur Verbesserung der UX-­Gestaltungskompetenz aufzudecken, wird mit I-Q4 nach Möglichkeiten aus Sicht des Interviewten gefragt. Als Teilnehmer der Interviews sind ausreichend Beteiligte der Produktentwicklung aus allen Teilbereichen und Teilaktivitäten zu wählen. Jede Teilaktivität (z. B. Konzeption, Design und Entwicklung) muss vertreten sein, damit in der Auswertung alle Perspektiven innerhalb der Organisation berücksichtigt werden. Für die Verwertung der Interviews sind diese zu transkribieren. Auf umfangreiche Notationssysteme (z.  B. für konversationsanalytischen Auswertungen) kann verzichtet werden, da die Interviews das Ziel haben, Wissen zu teilen (Meuser und Nagel 1991).

5.4

Auswertung

Für die Auswertung der Evaluation werden die Ergebnisse der Mitarbeiter- und der Nutzerbefragung zusammengefasst und um die Ergebnisse der Interviews erweitert. Das Ergebnis der Nutzerbefragung mittels UEQ-S erfolgt als einzelner Wert für die gesamte UX (Schrepp et al. 2017b) und repräsentiert die UX-Gestaltungskompetenz aus Ergebnisperspektive. Die Ergebnisse der Mitarbeiterbefragung können auf Ebene der Dimensionen der Komplexitätsbewältigung, der Reflexionsfähigkeit, der Kombinationsfähigkeit und der Kooperationsfähigkeit als arithmetische Mittel zusammengefasst werden. Dadurch ergeben sich für die Kompetenz aus Handlungsperspektive vier Skalenwerte. Skalenwerte des UEQ-S und der Selbstbewertung sollten um Konfidenzen, Standardabweichungen, etc. erweitert werden, damit Betrachter die Genauigkeit der Antworten beurteilen können. Für eine einfache Vergleichbarkeit der Kompetenz aus Handlungsperspektive (Mitarbeiterbefragung) und der Kompetenz aus Ergebnisperspektive (Nutzerbefragung) ist zwar eine einheitliche Darstellung wünschenswert, führt jedoch durch die unterschiedlichen Skalierungen und Auswertungsformen zu potenziell missverständlichen Darstellungen. Zur Vermeidung von Fehlinterpretationen müssen die Ergebnisse beider quantitativer Erhebungen getrennt voneinander visualisiert werden. Die Ergebnisse des UEQ-S dienen in der Evaluationsauswertung zur Relativierung der Selbsteinschätzung und als Ausgangspunkt für Maßnahmen der Organisationsentwicklung. Die Transkripte der Interviews werden mittels Inhaltsanalyse als zusammenfassende Analyse (Mayring 2015) ausgewertet. Die Transkriptionen werden auf das Wesentliche reduziert, damit die Kernfragen prägnant beantwortet werden.

5  Evaluation der organisationalen UX-Gestaltungskompetenz

77

Abb. 5.3  Beispiel der Auswertung von Handlungsfeldern

Einzelne Aspekte aus den Interviews werden vom Evaluatoren in Cluster zusammengefasst und nach den Kernfragen strukturiert. Aus den Zusammenfassungen der Interviews werden in Vorbereitung eines Ergebnisworkshops Handlungsfelder abgeleitet, die bei der Steigerung der UX-Gestaltungskompetenz unterstützen können. Mögliche Handlungsfelder sind beispielsweise Marktkenntnisse, interne Kommunikation, Priorisieren von Anforderungen und stehen für Problembereiche. Aus den Handlungsfeldern können nach der Evaluation konkrete Maßnahmen abgeleitet werden (z. B. Durchführen von Schulungen). Allen Beteiligten wird vor dem Ergebnisworkshop der Evaluationsbericht zur Verfügung gestellt. Die vorbereitende Beschäftigung mit den Ergebnissen durch die Beteiligten der Produktentwicklung erlaubt einen schnelleren Einstieg in die Diskussion. Im Ergebnisworkshop erarbeiten die Beteiligten der Produktentwicklung eine priorisierte Liste der Handlungsfelder. Die Handlungsfelder werden in einer Matrix (siehe Abb. 5.3) den vier Kompetenzfeldern (Komplexitätsbewältigung, Reflexionsfähigkeit, Kombinationsfähigkeit, Kooperationsfähigkeit) zugeordnet. Dazu stehen die Informationen aus den Interviews zur Verfügung. Handlungsfelder können mehreren oder keinen Kompetenzfeldern zugeordnet sein. Die Zuordnung der Handlungsfelder zu den Kompetenzdimensionen ermöglicht eine Einschätzung der Relevanz. Bei den Kompetenzfeldern wird angegeben, wie stark diese ausgeprägt sind. Niedrig ausgeprägte Kompetenzdimensionen lassen sich gegebenenfalls leichter ausbauen. Daher lohnt hier die Betrachtung der Handlungsfelder besonders.

5.5

Limitationen

Die Evaluation der UX-Gestaltungskompetenz nutzt als Bezugspunkt die vergangene Leistung. Sowohl die Befragung der Mitarbeiter als auch der Nutzer beziehen sich auf vergangene Leistungen (Rastetter 2006). Ob eine Reproduzierbarkeit der Handlungs- und Problemlösefähigkeit in Zukunft weiterhin gegeben ist, kann daher nicht vorhergesagt werden.

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Die Evaluation der UX-Gestaltungskompetenz bezieht sich beim vorgestellten Verfahren allein auf die Produktentwicklung. Evaluatoren müssen darauf achten, alle Beteiligten in die Evaluation einzuschließen. Dies ist in Organisationen nicht immer gegeben. Es ist fraglich, inwieweit sich beispielsweise eine Marketing-­ Abteilung als Teil der Produktentwicklung versteht, obwohl sie wichtige Inhalte zur Ideenfindung und -ausgestaltung beisteuern kann. Sind nicht alle Beteiligten der Produktentwicklung involviert, sind die Ergebnisse verzerrt. Bei der Auswertung der Mitarbeiterbefragung und der Interviews kann es zu Diskrepanzen kommen, wenn bei der Mitarbeiterbefragung zum Beispiel eine sehr niedrige Zustimmung zur Kooperationsfähigkeit ermittelt, aber in den Interviews gerade diese Kompetenzdimension als besonders positiv genannt wird. In solchen Fällen ist eine detailliertere Analyse notwendig. Durch die Ermittlung von Handlungsfeldern aus den Interviews der Mitarbeiter sind die Verbesserungsmöglichkeiten auf die Expertisen der Mitarbeiter beschränkt. Je nach Organisation kann es daher sein, dass kaum Verbesserungspotenziale ermittelt werden können. In solchen Fällen empfiehlt sich eine externe Fachberatung, die neue Handlungsfelder zur Verbesserung der UX-Gestaltungskompetenz einbringen kann. Obwohl aus den Interviews hilfreiche Einsichten in die Organisation erlangt werden können, besteht die Gefahr, dass die Interviewten sozial erwünscht antworten. Durch ihre eigene Beteiligung am Entwicklungsprozess können sie versuchen, sich besser darzustellen. Diese Beschönigung verhindert die Entdeckung notwendiger Handlungsfelder.

5.6

Fazit

Der direkte Nutzen der Evaluation liegt in der Bewertung der aktuellen Ausprägung der UX-Gestaltungskompetenz. Mitarbeiter und Management erhalten ein skalares Maß zur Beurteilung. Regelmäßige Evaluationen können gewollte und ungewollte Veränderungen der Kompetenz anzeigen. Der konzeptionelle Nutzen der Evaluation der UX-Gestaltungskompetenz erschließt sich aus den mittelbaren Evaluationsmaßnahmen und wirkt sich direkt auf die Organisation aus. Durch die Einbindung aller Beteiligten der Produktentwicklung an der Mitarbeiterbefragung werden sich diese als Einheit bewusst und können aktiv an ihrem Zusammenwirken arbeiten. Darüber hinaus verursacht eine Evaluation der UX-Gestaltungskompetenz einen persuasiven Evaluationsnutzen, indem die Beteiligten der Produktentwicklung sich ihrer Wirkung bewusst werden. Die Mitarbeiterbefragung ist ein gestalterischer Eingriff in die Organisation, wodurch die Mitarbeiter an den Belangen der Organisation beteiligt werden (Domsch und Ladwig 2013). Die Ergebnisse der quantitativen Erhebung der aktuellen Ausprägung der UX-Gestaltungskompetenz allein können als Grundlage für ein Monitoring der UX-Gestaltungskompetenz dienen, indem in regelmäßigen Abständen eine erneute Datenerhebung stattfindet. Die Evaluation lässt sich mit einem UX-Controlling

5  Evaluation der organisationalen UX-Gestaltungskompetenz

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(Winter und Bittenbinder 2014) verbinden. Das UX-Controlling erhebt regelmäßig die Ergebnisse des Handelns (UX der Produkte) und stellt sie der Produktentwicklung zur Verfügung. Die Erhebung der Verbesserungspotenziale durch die Interviews hingegen sollte aufgrund des Aufwands in der Datenbeschaffung, Analyse und Aufbereitung nicht Teil eines Monitorings sein. Vielmehr ist es sinnvoll, ausgehend von einer unbefriedigenden Ausprägung der UX-Gestaltungskompetenz, diese punktuell zu wiederholen und passende Entwicklungsmaßnahmen durchzuführen.

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6

Was Unternehmen von der Videospieleplattform Steam für die Gestaltung der Digital Customer Experience lernen können Benjamin Spottke

Zusammenfassung

Die Gestaltung und das erfolgreiche Management einer ganzheitlichen Digital Customer Experience wird für Unternehmen zunehmend wertvoller. Die bekannten Technologieführer, aber insbesondere auch Valve als Betreiber der Videospieleplattform Steam, sind besonders dafür bekannt, digitale Interaktionen zwischen Nutzern, Drittanbietern und weiteren Akteuren erfolgreich zu organisieren. In diesem Beitrag wird die Plattform Steam mit der Fallstudienmethode untersucht. Basierend auf der Analyse werden Handlungsempfehlungen für die Gestaltung der Digital Customer Experience abgeleitet, die für Unternehmen in traditionellen Branchen anwendbar sind. Schwerpunkte der Untersuchung bilden (1) die Orientierung von Services und Serviceportfolio an Kundenbedürfnissen, (2) das Management von Konsumententechnologie und (3) die Entwicklung von Vertrauen und Loyalität durch die Verankerung von Werten und Normen auf einer digitalen Plattform. Die Handlungsempfehlungen werden anschließend in der Automobilbranche, bei TV-Streaming-Anbietern und anhand einer Plattform für Autoreparaturen beispielhaft illustriert. Schlüsselwörter

Digital Customer Experience · Digitale Plattformen · Service Design · Fallstudie · Service Innovation

Überarbeiteter Beitrag basierend auf Spottke (2017) Was Unternehmen von der Videospielindustrie für die Gestaltung der Digital Customer Experience lernen können. HMD – Praxis der Wirtschaftsinformatik Heft 317, 54(5):727–740. B. Spottke (*) Universität St. Gallen, St. Gallen, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Robra-Bissantz, C. Lattemann (Hrsg.), Digital Customer Experience, Edition HMD, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1_6

81

82

6.1

B. Spottke

Einleitung und Motivation

Die Gestaltung und das erfolgreiche Management der digitalen Schnittstelle zum Kunden wird zunehmend wertvoller. Kunden und Nutzer richten viel Zeit und Aufmerksamkeit auf digitale Plattformen und zugrunde liegende Informationssysteme (IS), um ihren Alltag zu organisieren, um digitale Inhalte zu konsumieren und um Bedürfnisse nach Spaß und Freude zu befriedigen. Technologieführer wie Amazon, Apple, Facebook und Google, aber insbesondere auch Valve Corporation (nachfolgend Valve) mit seiner Videospieleplattform Steam setzen ihre digitalen Plattformen erfolgreich ein, um IS-gestützte Interaktionen zwischen Nutzern, Drittanbietern und weiteren Akteuren zu organisieren (Lusch und Nambisan 2015; Goldbach und Benlian 2015). Der Begriff der Digital Customer Experience bezieht sich hierbei auf alle Phasen des Kauf- bzw. Konsumprozesses und bezeichnet die ganzheitliche Erfahrung eines Kunden in den digital gestützten Interaktionen mit einem oder mehreren Anbietern (Verhoef et al. 2009). Obwohl die genannten Unternehmen unterschiedliche Geschäftsmodelle verfolgen, wie die Platzierung von Werbeinhalten, den Verkauf und Verleih von digitalen Produkten und Medien oder das Betreiben von digitalen Marktplätzen, verstehen sie das erfolgreiche Management der Digital Customer Experience als wesentlichen Erfolgstreiber für das eigene Unternehmen (Prahalad und Ramaswamy 2004). Die Gestaltung der Digital Customer Experience wird für Unternehmen in traditionellen Branchen, wie z. B. der Automobil-, Finanz- oder auch Versicherungswirtschaft vor allem aus drei Gründen relevant: Erstens erfolgen Innovationen heute vor allem auf Ebene digitaler Produkte und Services. Deshalb ist es für Unternehmen wichtig, die digitale Kundenerfahrung als integralen Bestandteil von Produkt- und Serviceinnovation zu verstehen. Zweitens werden im Zuge der Digitalisierung Kundeninteraktionen stärker durch den Einsatz von Konsumententechnologie geprägt. Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass sich Kundenerwartungen und -präferenzen und in der Folge auch das Verhalten hin zu digitalen Interaktionen verschiebt. Zum anderen erhöht sich auch die Verfügbarkeit und Durchdringung von Konsumententechnologie im persönlichen Umfeld. Folglich müssen auch etablierte Unternehmen lernen, mit einer Vielzahl von neuen Konsumententechnologie-­Konfigurationen auf Kundenseite umzugehen. Drittens werden vermehrt Drittparteien in die Leistungserbringung und Kundeninteraktion eingebunden. Unternehmen werden zukünftig also häufiger die Digital Customer Experience über ein Leistungserbringungsnetzwerk gestalten müssen anstatt sich lediglich auf die eigene Organisation zu konzentrieren. Die Videospieleindustrie geht mit diesen Herausforderungen seit Jahren erfolgreich um. Die digitale Nutzererfahrung geht über das reine Spielen hinaus und umfasst Aktivitäten wie Strategie-Diskussionen in Foren, Streamen von Spiele-­Sessions auf YouTube und Twitch, Zusammenschluss in e-Sports-Teams und -Vereinen oder auch die Modifikation bestehender Spieleinhalte durch Fans. Videospieler stellen also eine Kundengruppe dar, die sich bewusst und gewünscht in digitalen sozialen Interaktionen engagiert. Weiterhin gelten Videospieler als besonders technologieaffin, nicht zuletzt da Videospiele regelmäßig hohe Anforderungen an die eigene

6  Was Unternehmen von der Videospieleplattform Steam für die Gestaltung …

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Hardware stellen. Vor diesem Hintergrund stellt die Videospieleindustrie ein geeignetes Umfeld für die Untersuchung der Digital Customer Experience dar. Das amerikanische Unternehmen Valve ist in der Videospieleindustrie führend und hat die Distribution von Videospielen mit der Entwicklung der Plattform Steam revolutioniert. Steam ist seit der Gründung im Jahr 2003 zu einer hochprofitablen Community mit über 150 Millionen Spielern herangewachsen (Valve 2016; Forbes 2012). Valve ist nicht nur für seine kundenorientierte Entwicklung der Plattform, sondern auch als ein herausragendes Beispiel für die Gestaltung der Digital Customer Experience in diesem technologisch anspruchsvollen Umfeld bekannt (Wired 2010a). Vor diesem Hintergrund bietet die Untersuchung von Steam reichhaltige Lernmöglichkeiten für Unternehmen. Dieser Artikel analysiert zum einen die unmittelbare Gestaltung der Digital Customer Experience durch Valve. Zum anderen wird aufgezeigt, wie Drittanbieter (z.  B.  Spieleentwickler) mit der Steam-Community zusammengeführt werden, um das Plattformangebot besser auf die Bedürfnisse der Kunden abzustimmen. In diesem Sinn können Unternehmen aus anderen Bereichen von der Videospieleindustrie über die Gestaltung der Digital Customer Experience lernen. Nachfolgend wird zunächst Steam als führende Plattform in der Videospieleindustrie vorgestellt. Nach Erläuterung der methodischen Vorgehensweise werden die sozialen und technischen Gestaltungsebenen digitaler Plattformen, deren Bedeutung für die Digital Customer Experience, sowie konkrete Handlungsempfehlungen vorgestellt. Anschließend wird die Anwendung der Handlungsempfehlungen in drei anderen Branchen beispielhaft diskutiert.

6.2

Steam als führende Plattform der Videospieleindustrie

Seit der Einführung im Jahr 2003 hat sich Steam als weltweit führende Plattform in der Videospieleindustrie etabliert (vgl. Abb. 6.1). Drei Akteure sind für Entwicklung und Betrieb der Plattform von besonderer Bedeutung: Konsumenten von Videospielen (Spieler), Valve als Betreiber der Plattform sowie Spieleentwickler bzw. Herausgeber von Videospielen (Entwickler). Spieler installieren den von Valve bereitgestellten kostenlosen Steam-Client (Client) auf ihren PCs und erhalten dadurch Zugang zum Steam-Store, der Steam-Community und weiteren Plattform-Services. Mit dem Steam-Client können Spieler neue Spiele einkaufen und in einer persönlichen Spielebibliothek verwalten. Darüber hinaus können sie mit dem Client ihre Spiele starten und konfigurieren sowie weitere Community-Funktionen nutzen. Spieleentwickler veröffentlichen ihre Videospiele im Steam Store und können darüber hinaus Valves Application Programming Interfaces (APIs) und Software Development Kits (SDK) nutzen, um in ihren Spielen Community-Funktionen wie Chats oder Matchmaking anzubieten. Valve betreibt die digitale Infrastruktur und legt den institutionellen Rahmen für die involvierten Akteure fest. Valve definiert vor allem Governance-Mechanismen (z. B. Richtlinien, Rollenkonzepte, Autorisierungsverfahren und Standards), legt aber auch Preismodelle und Regeln zum Revenue Sharing fest.

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B. Spottke

Spieler 1 Steam Client

Spieler 2 Steam Client

Spieler n

Entwickler 1 Steam Gaming Platform (Valve Inc.)

Steam Store

Greenlight

Community

Governance

Autom, Patches & Updates

Anti-Cheat

Family Sharing

HW/SW Survey

Steam Client

APls / SDKs

Entwickler 2 APls / SDKs

Entwickler n APls / SDKs

Abb. 6.1  Überblick Steam Gaming Plattform

Steam hat die Gestaltung der Digital Customer Experience in der Videospieleindustrie neu definiert. Über Steam können Entwickler interessierte Spieler einfacher als zuvor aktiv in die Entwicklung neuer Spiele einbinden. Dies ist vor allem Valves konsumentenzentrierter Gestaltung der Digital Customer Experience geschuldet, welche sich konsequent an den Bedürfnissen der Spieler-Community orientiert. Dies führt zu einer hohen Identifikation und Loyalität der Spieler, die ihre Begeisterung für Steam regelmäßig in Diskussionsforen oder Blogs mittteilen. Die Anzahl aktiver Spieler-Accounts hat sich von 15 Millionen Spielern im Jahr 2008 auf über 150 Millionen im Jahr 2016 vervielfacht. Ähnlich hat sich das Angebot der auf Steam verfügbaren Spiele entwickelt. So ist die Anzahl der angebotenen Spiele im Zeitraum vom 2009 bis 2016 von 1000 auf über 12.000 angestiegen (vgl. Abb. 6.2). Beide Kennzahlen spiegeln die erfolgreiche Entwicklung der Steam-Plattform wider und sind nach Aussage von Gabe Newell, Gründer und Geschäftsführer von Valve, direkt auf die Einführung von neuen Features und Services der Plattform zurückzuführen (Wired 2010b). Weiterhin wurde festgestellt, dass Valve die Akzeptanz und den Erfolg neuer Funktionen in Bezug auf die Digital Customer Experience regelmässig misst und bewertet. Valve gestaltet also die Digital Customer Experience auf Steam durch Services und Features. Diese sind Gegenstand der vorliegenden Untersuchung und werden nachfolgend zusammengefasst.

6.3

Datenerhebung und Analyse

Die Zielsetzung der Arbeit besteht in der Identifikation, Strukturierung und Generalisierung von Gestaltungsaspekten der Digital Customer Experience in der Videospieleindustrie. Die vorgestellten Ergebnisse basieren auf einer Analyse der Videospieleplattform Steam. Datenerhebung und Analyse folgen der Einzelfallstudienmethodik nach Yin (2013). Im Rahmen der Datenerhebung wurde die Entwicklung von Steam zwischen 2003 und 2016, d. h. die Implementierung von Features und Services sowie

6  Was Unternehmen von der Videospieleplattform Steam für die Gestaltung … Entwicklung aktive Accounts und verfügbare Spiele auf Steam

14000

180 160

# Verfügbare Spiele # Aktive Accounts

10000

140 120

8000

100

6000

80 60

4000

40

2000 0

ACCOUNTS IN MIO.

12000

SPIELE IN TSD.

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20 

















0

Abb. 6.2  Entwicklung von aktiven Accounts und verfügbaren Spielen auf Steam

die Entwicklung von Nutzerzahlen erfasst. Zudem wurden öffentlich zugängliche ­Unternehmensinformationen erhoben und Publikationen von Experten in der Spieleindustrie recherchiert. Schliesslich wurde ergänzend der Steam-Client installiert und einzelne Features untersucht. Die Analyse der Gestaltung digitaler Plattformen für die Kundeninteraktion folgt der sozio-technischen Systemtheorie welche sowohl eine technische als auch eine soziale Perspektive auf Steam ermöglicht. In der sozio-technischen Systemtheorie werden neben den beteiligten Akteuren (z. B. Spieler, Entwickler und Valve) auch die bereitgestellten Services, die eingesetzten Technologien sowie die handlungsleitenden sozialen Strukturen, z. B. Werte und Normen, berücksichtigt (Bostrom und Heinen 1977). Aus der Synthese der zugrunde liegenden wissenschaftlichen Literatur ergeben sich drei Gestaltungebenen und deren Kernfragen (Bostrom und Heinen 1977; Lyytinen und Newman 2008), die nachfolgend eingeführt und in Bezug auf die Digital Customer Experience vorgestellt werden. Auf Basis dieses theoretischen Rahmens werden anschließend die Ergebnisse der Analyse von Steam präsentiert.

6.4

 estaltungsebenen digitaler Plattformen und ihre G Bedeutung für die Digital Customer Experience bei Steam

6.4.1 Gestaltung von Services und Serviceportfolio Die Ebene der Services bezieht sich auf die Festlegung des Serviceportfolios sowie die Ausgestaltung der angebotenen Services. Diese Entscheidungen haben unmittelbaren Einfluss auf die Digital Customer Experience und sollten so erfolgen, dass

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B. Spottke

die unterschiedlichen, vielseitigen und veränderlichen Kundenbedürfnisse erfüllt werden. Dementsprechend sind Kernfragen dieser Gestaltungsebene: F1: Welche digitalen Produkte und Services sollen auf einer Plattform angeboten werden? F2: Wie sollen digitale Produkte und Services ausgestaltet werden? In Bezug auf die Digital Customer Experience von Videospielern besteht eine Schwierigkeit in der Zusammenstellung eines attraktiven Spieleportfolios. Eine weitere Herausforderung besteht darin, Spiele so zu entwickeln, dass Spieler eine positive digitale Erfahrung beim Spielen erleben (z. B. durch soziale Anerkennung oder Freude am Spiel). Dem Paradigma der kundenorientierten Gestaltung der Digital Customer Experience folgend hat Valve hierzu Steam Greenlight implementiert. Mit Greenlight können Entwickler Konzepte, Ideen und Vorversionen von Spielen vorstellen und zum Ausprobieren verfügbar machen. Auf diese Weise gewinnen Entwickler Feedback von der Zielgruppe, z. B. durch In-Game Analytics und Spieler-Kommentare, das in der weiteren Ausgestaltung eines Spiels berücksichtigt wird. Beispielsweise enthielt eine Vorversion des Titels „Left 4 Dead – Episode Two“ detaillierte Reportingfunktionalitäten um das Gameplay, d.  h. einen wesentlichen Teil der Digital Customer Experience, besser zu verstehen und beobachtete Probleme bereits während der Spieleentwicklung zu berücksichtigen. Weiterhin wurde mit der Einführung von Greenlight die manuelle und aufwendige Zusammenstellung des Spielekataloges durch Valve durch einen kollektiven Auswahlprozess ersetzt. Spieler konnten nun für die Veröffentlichung eines Spiels stimmen und dadurch direkten Einfluss auf das Angebot der Steam-Plattform nehmen. Für Entscheider, die mit der Gestaltung der Digital Customer Experience auf Plattformen betraut sind, ergeben sich mehrere Implikationen für die Gestaltung von Services und des Serviceportfolios. Erstens sollten Kunden durch intelligente Mechanismen in die Festlegung des Serviceportfolios eingebunden werden. Hierdurch kann sichergestellt werden, dass sich das Serviceportfolio an tatsächlichen Kundenbedürfnissen orientiert. Zweitens sollten Servicedesign und -entwicklungsprozesse konkrete Kundenpräferenzen erfassen und durch geeignete ­Feedbackmechanismen eine kundenzentrierte Serviceentwicklung ermöglichen. Zum Beispiel ist es wichtig zu erfassen auf welche Weise bereitgestellte Services oder bestimmte Features tatsächlich genutzt werden, um die Digital Customer Experience in ­nachfolgenden Entwicklungsphasen näher an den Bedürfnissen bzw. der konkreten Nutzung zu orientieren. Drittens verdeutlicht die Implementierung von Steam Greenlight eine wichtige Aufgabe des Plattformanbieters. Dieser fokussiert im Fallbeispiel auf die Bereitstellung von Mechanismen, welche den Austausch zwischen Konsumenten und Drittparteien fördern, um die Digital Customer Experience sowohl auf Ebene einzelner Services (Spiele), als auch der Plattformnutzung im Allgemeinen (Steam-Plattform) am Kundenbedürfnis zu ­orientieren.

6  Was Unternehmen von der Videospieleplattform Steam für die Gestaltung …

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6.4.2 Gestaltung der Technologie Technologie ist ein Enabler für digitale Kundeninteraktionen. Gestaltungsgegenstand der Technologieebene sind deshalb die Hardware- und Softwarekomponenten von Endkunden, des Plattformbetreibers oder von Drittparteien, sofern sie für die Erbringung der angebotenen Services erforderlich sind. Diese Sicht auf Technologie ist für die Digital Customer Experience relevant, da das Zusammenspiel der IT Infrastruktur eines Anbieters mit vielen unterschiedlichen Konsumententechnologie-Konfigurationen ermöglicht werden muss. Vor diesem Hintergrund sind Kernfragen der technologischen Gestaltungsebene: F3: Wie kann Transparenz über die eingesetzte Konsumententechnologie erhöht werden? F4: Welche Mechanismen sind geeignet, um eine Plattform für eine Vielzahl von Konsumententechnologie-Konfigurationen zu öffnen? F5: Wie kann Kompatibilität und Anpassungsfähigkeit der beteiligten technologischen Komponenten – auch langfristig – sichergestellt werden? Bei Videospielen zeigt sich diese Problematik, wenn Kompatibilität mit und zwischen hochgradig individualisierten PC-Konfigurationen von Spielern sichergestellt sein muss, damit diese digital interagieren können. Dies gilt zum einen für die Videospiele-­Software selbst, zum anderen ist in Multiplayer-Spielen meist eine digitale Infrastruktur erforderlich, um Spiele zwischen unterschiedlichen Spielern zu koordinieren oder um bestimmte Dienste zentral bereit zu stellen. Dies erfolgt entweder durch einen Plattformbetreiber oder durch Drittparteien und wirft neben der Frage der Kompatibilität auch die Frage der Anpassungsfähigkeit auf sich wandelnde technologische Rahmenbedingungen auf. Im Kontext von Steam beinhaltet Technologie auf Seite von Valve die Frontendund Backend-Plattform-Infrastruktur für den Betrieb von Steam. Die Konsumententechnologie der Spieler beinhaltet u. a. den Steam-Client, Videospiele, sowie PCs mit Betriebssystem und Netzwerkinfrastruktur. Valve hat drei Mechanismen bzw. Maßnahmen im Client implementiert, um Anpassungsfähigkeit und Kompatibilität der genannten technologischen Komponenten sicherzustellen: Automatisierte Patches und Updates, die Hardware und Software Survey sowie Client-Software für verschiedene Betriebssysteme. Der Client ermöglicht das voll automatisierte Patchen und Updaten per Steam von auf dem PC installierten Spielen. Mit E ­ inführung dieser Funktionalität stellt Valve sicher, dass Konsumenten stets die neueste Version eines Spiels auf ihrem PC installiert haben. Darüber hinaus hat Valve eine Hardware und Software Survey im Client implementiert und veröffentlicht eine monatliche Übersicht über eingesetzte Konsumententechnologie (Valve 2016). Hierbei werden detaillierte Informationen beispielsweise zu Betriebssystem, Prozessor, Grafikkarte, Speicher, Monitorauflösung und angeschlossener Hardware sowie Informationen zur Softwarekonfiguration erhoben. Die Teilnahme ist anonym, freiwillig und stellt eine wichtige Brancheninformation in der Videospieleindustrie dar. Die Ergebnisse

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B. Spottke

­ erden nicht nur in Valves Technologieplanung berücksichtigt, sondern informieren w auch Spieler und besonders Entwickler, die ihre Spiele auf eingesetzte Technologien bzw. Trends abstimmen können. Nach der Einführung des Steam-Clients für Windows in 2003 hat Valve die Client Software sukzessive für Mac OS (2010), Linux (2013) und schliesslich auch ein eigenes Linux-basiertes Steam OS veröffentlicht. Durch diese technologische Öffnung der Plattform hat Valve digitale Interaktionsmöglichkeiten mit Kundengruppen erschlossen, die zuvor eine nicht mit Steam kompatible technologische Basis verwendeten. Die Analyse verdeutlicht, wie wichtig die Berücksichtigung von Konsumententechnologie für die Gestaltung digitaler Interaktionen und damit auch der Digital Customer Experience aus Sicht eines Plattformproviders ist. Hieraus folgen mehrere Implikationen für Entscheider: Auf konzeptioneller Ebene sollten Provider Konsumententechnologie als Ressourcen begreifen, die Kunden aktiv in die Servicenutzung einbringen. Aus Sicht des Plattformproviders ist somit sicherzustellen, dass Kunden ihre Technologien vor dem Hintergrund sich wandelnder Kompatibilitätsanforderungen möglichst einfach einbringen können. Auf operativer Ebene gilt es, die Konsumententechnologie-Konfigurationen zu verstehen und wichtige Entwicklungen zu antizipieren. Dementsprechend können Plattformanbieter durch die Implementierung von Monitoring-Mechanismen wie z.  B.  Steams Hardware und Software Survey konkrete Erkenntnisse über die eingesetzte Technologie gewinnen und auch in der eigenen Technologieplanung berücksichtigen. Weiterhin sollten Service- bzw. Plattformanbieter Technologiekomponenten, auf die Kunden im Rahmen der Servicenutzung zurückgreifen und welche im Einflussbereich des Anbieters liegen (z. B. Apps, Websites, Client-Software, ROMs oder auch Endgeräte) so gestalten, dass diese möglichst einfach und kostengünstig an sich wandelnde technologische Rahmenbedingungen angepasst werden können, um digitale Interaktionen langfristig zu ermöglichen.

6.4.3 Gestaltung sozialer Strukturen Soziale Strukturen beschreiben die handlungsleitenden Werte und Normen einschließlich der akzeptierten und erwarteten Verhaltensmuster und stellen damit den institutionalisierten sozialen Rahmen, in dem sich Akteure bewegen. Bei der Beeinflussung sozialer Strukturen geht es im Kern darum, digitale Interaktionen auf einer Plattform so zu gestalten, dass das Verhalten der involvierten Akteure im Einklang mit dem geltenden gemeinsamen Werte- und Normensystem steht (Lyytinen und Newman 2008). Die Verankerung sozialer Strukturen auf einer Plattform ist zentral für die Digital Customer Experience, da geteilte Werte und Normen als Voraussetzung für die Entwicklung von Vertrauen und Loyalität gelten. Zentrale Fragestellungen dieser Gestaltungsebene sind: F6: Wie und mit welchen Instrumenten können Werte und Normen auf einer digitalen Plattform verankert werden? F7: Wie kann ein Anbieter auf emergente Werte und Normen eingehen?

6  Was Unternehmen von der Videospieleplattform Steam für die Gestaltung …

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In vielen Situationen in denen Akteure in Wettbewerbs-, Kooperations-, oder anderen Austauschbeziehungen stehen, z.  B. auch in Videospielen, sind Normen wie „Gleiche Regeln für alle“ oder „Fair Play“ das Fundament für erfolgreiche soziale Interaktionen. Die Vernachlässigung dieser sozialen Ebene führt leicht zu Vertrauensverlust und schließlich zur Ablehnung eines Angebots. Dies gilt nicht nur für Interaktionen zwischen Kunden, sondern besonders auch für Interaktionen zwischen Kunden und einem Anbieter. In der Analyse von Steam sind in diesem Zusammenhang vor allem die Funktionen Anti-Cheat und Family Sharing relevant. Steam bietet Spieleentwicklern Instrumente an, um Spielbetrug (Cheating) zu verhindern. Digitale spielerische Interaktionen werden zwar durch Technologie ermöglicht, sind jedoch stets auch in sozialen Strukturen verankert. Cheating wird typischerweise nicht in Situationen akzeptiert, in denen Konsumenten mit- bzw. gegeneinander spielen. In den Nutzungsbedingungen der Steam-Plattform etabliert Valve den institutionellen Rahmen für die Plattformnutzung und definiert Cheaten allgemein als „Modifikationen am Spiel, deren Ziel es ist, einem Spieler einen Vorteil zu verschaffen“ (Valve 2017). Die konkrete Umsetzung von Fair Play erfolgt durch mehrere Maßnahmen. Erstens erfordert das Mitspielen die Akzeptanz der Steam-Nutzungsbedingungen, durch die sich Spieler verpflichten nicht zu Cheaten oder die Anti-Cheat Software zu manipulieren (Valve 2017). Die Nutzungsbedingungen weisen auch auf mögliche Sanktionen hin, die, je nach Einschätzung des Schweregrades durch Valve, von der zeitlichen Sperrung für ein Spiel bis hin zur permanenten Sperrung eines Spieleraccounts auf der Plattform reichen. Zweitens implementiert Valve technische Funktionen um Cheater zu identifizieren und zu sanktionieren. Hierfür wird zum einen Valves Anti-Cheat-Software auf Spieleservern installiert, zum anderen ist der Anti-Cheat-Client als Komponente der Client-Software auf den PCs der Spieler installiert. Der Anti-Cheat-Client wertet Browsing-Daten und den DNS Cache auf Spieler-PCs aus, um Auffälligkeiten zu identifizieren und im Falle eines Alarms an das Anti-Cheat-Team von Steam zu berichten. Hierzu merkt Valves Gründer und Geschäftsführer Gabe Newell an: „Wir arbeiten wirklich hart daran Euer [Anm.: der Spieler] Vertrauen zu gewinnen und zu behalten“ (Forbes 2014). Drittens können Spieler auch sowohl Cheat-Programme als auch vermutete bzw. nachweisliche Cheater an Steams Anti-Cheat-Team melden, welches solchen Fällen nachgeht. Die Analyse zeigt nicht nur auf, dass die Gestaltung sozialer Strukturen wichtig für Kundenvertrauen in digitalen Interaktionen ist, sondern weist auch auf die Vielseitigkeit der Gestaltungsmöglichkeiten eines Providers hin. Im Fall von Steam werden mehrere Instrumente für die Verankerung geteilter Werte wie Ehrlichkeit und Fairness eingesetzt: Kommunikation und Richtlinien (z. B. Nutzungsbedingungen), technologische Maßnahmen (z. B. Anti-Cheat Software) und schließlich die Community selbst (Selbstkontrolle). Entscheider sollten sich darüber bewusst sein, dass erstens die Verankerung von Werten und Normen grossen Einfluss auf die Digital Customer Experience auf einer Plattform haben kann und zweitens sehr unterschiedliche Maßnahmen dazu in Frage kommen. Ein weiteres Beispiel für die Gestaltung sozialer Strukturen ist die Funktion Family Sharing. Mit Family Sharing können einzelne Spiele oder die gesamte

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B. Spottke

p­ ersönliche Spielesammlung mit Freunden und Familienmitgliedern geteilt werden. Die Begünstigten können damit Spiele des Freundes per Steam-Client auf ihrem eigenen PC nutzen als hätten sie sie selbst gekauft. Wie bei dem physischen Verleih von Spielen können jedoch nicht mehrere Instanzen eines Spieles gleichzeitig genutzt werden. Die Implementierung von Family Sharing ist eine direkte Reaktion auf das geäusserte Kundenbedürfnis Spiele mit Freunden und Familienmitgliedern zu teilen. Bei der Gestaltung sozialer Strukturen sollten Plattformbetreiber aufmerksam auf Kundenbedürfnisse reagieren, die auf bestehende oder aufkommende sozialen Praktiken zurückzuführen sind. Im Beispiel von Family Sharing standen Valves Mitarbeiter in engem Austausch mit der Spieler-Community und konnten so das Bedürfnis, Spiele mit nahestehenden Personen zu teilen, auf der Plattform verankern.

6.4.4 Zusammenfassung der Handlungsempfehlungen Nachfolgend werden die Ergebnisse der Fallstudie sowie die resultierenden Handlungsempfehlungen für Entscheider aus den Abschn. 6.4.1 bis 6.4.3 zusammengefasst.

6.5

I llustration der Handlungsempfehlungen in Automobil-, Unterhaltungs- und Versicherungsbranche

Die Umsetzung der erarbeiteten Handlungsempfehlungen wird nachfolgend anhand von typischen Problemstellungen in drei Branchen beispielhaft diskutiert: Der Automobil-, der Unterhaltungs- und der Versicherungsbranche. Grundsätzlich können die neun Handlungsempfehlungen vollständig in unterschiedliche Anwendungsfelder übertragen werden. Jedes der drei Beispiele zeigt für eine ausgewählte Gestaltungsebene wie auch andere Branchen von den erfolgreichen Praktiken der Videospieleindustrie profitieren können. In der Diskussion werden jeweils die relevanten Handlungsempfehlungen mit den in Tab. 6.1 dargestellten Abkürzungen (H1-H9) referenziert.

6.5.1 Das Auto als digitale Plattform Digitalisierung ist derzeit das zentrale Thema der Automobilindustrie. Nahezu alle großen Hersteller versuchen ihre Fahrzeuge als digitale Plattform zu etablieren, um Kunden neue digitale Services anzubieten die über reine Fahrzeugmobilität hinausgehen. Initiativen wie „Audi Connect“, „BMW Connected Drive“ oder „Mercedes Me“ versprechen unter anderem digitale Services zur Fahrzeugsteuerung, Routenführung, Versicherung, für Notfallsituationen oder zur Unterhaltung. Verglichen mit dem traditionellen Serviceportfolio eines Automobilherstellers wird schnell deutlich, dass die Auswahl und Ausarbeitung der angebotenen Services zu einer wesentlichen Gestaltungsaufgabe wird. Zudem ist es unwahrscheinlich,

6  Was Unternehmen von der Videospieleplattform Steam für die Gestaltung …

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Tab. 6.1  Übersicht der Ergebnisse entlang der Abschnitte Gestaltungsebenen und Fragestellungen Handlungsempfehlungen aus der Fallstudie 4.1 Services und Serviceportfolio Ziel: Services orientieren sich an Kundenbedürfnissen H1: Provider etabliert Mechanismen wie z. B. F1: Welche digitalen Produkte und kollaboratives Filtern und Abstimmungen, um Kunden Services sollen auf einer Plattform in die Definition des Serviceportfolios einzubeziehen. angeboten werden? F2: Wie sollen digitalen Produkte und H2: Kundenpräferenzen und -bedürfnisse werden durch Analyse- und Feedbackmechanismen erfasst Services ausgestaltet werden? und in Servicedesign und Serviceentwicklung berücksichtigt. H3: Provider stellt Mechanismen bereit, um Zusammenarbeit/Austausch von Entwicklern mit Kunden zu fördern, so dass Produkt- und Serviceentwicklung am Kundenbedürfnis orientiert werden kann. Fallstudienbeispiel: Steam Greenlight. 4.2 Technologie Ziel: Technologie ist Enabler für digitale Kundeninteraktionen H4: Provider ergreift Maßnahmen, um bestehende und F3: Wie kann Transparenz über zukünftige Konsumententechnologien zu erfassen und eingesetzte Konsumententechnologie zu verstehen, z. B. durch das Monitoring von Nutzer-/ erhöht werden? Kunden-Clients. F4: Welche Mechanismen sind H5: Provider stellt durch Update-Mechanismen sicher, geeignet, um eine Plattform für eine dass Kunden ihre Technologiekomponenten dauerhaft Vielzahl von in Service-Interaktionen einbringen können. Konsumententechnologie-­ H6: Provider gestaltet Technologiekomponenten wie Konfigurationen zu öffnen? z. B. Client-Software oder Apps so, dass ein großer F5: Wie kann Kompatibilität und Anteil relevanter Konsumententechnologie-­ Anpassungsfähigkeit der beteiligten Konfigurationen kompatibel untereinander bzw. mit technologischen Komponenten der Plattform sind. sichergestellt werden? Fallstudienbeispiel: Automatisierte Patches und Updates, Hardware und Software Survey, Steam Client Software. 4.3 Soziale Strukturen Ziel: Vertrauen und Loyalität durch gemeinsame Werte und Normen H7: Provider versteht die Verankerung von Werten F6: Wie und mit welchen und Normen in der Servicestrategie als ein Instrumenten können Werte und Gestaltungselement der Digital Customer Experience. Normen auf einer digitalen Plattform H8: Provider nutzt verschiedene Instrumente, um verankert werden? Werte und Normen in Serviceinteraktionen zu F7: Wie kann ein Anbieter auf verankern. Hierzu zählen z. B. Richtlinien, emergente Werte und Normen technologisch-analytische Maßnahmen und eingehen? Kontrollmechanismen durch Kunden. H9: Provider verfolgt im digitalen Austausch mit seinen Kunden aufmerksam bestehende und aufkommende soziale Praktiken und erkennt zugrunde liegende Kundenbedürfnisse, um Services danach zu entwickeln. Fallstudienbeispiel: Anti-Cheat Funktionalität, Family Sharing.

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dass traditionelle Unternehmen wie Audi, BMW oder Mercedes die nötigen Entwicklungs- und Produktionskapazitäten besitzen, um alle Services selbst zu entwickeln bzw. anzubieten. Eine sinnvolle Strategie für sie wird es deshalb sein, sich als Plattformanbieter zu etablieren und stark auf die ganzheitliche Gestaltung der Digital Customer Experience zu fokussieren. Automobilhersteller können auf der Gestaltungsebene der Services von der Videospieleindustrie lernen. Entsprechend sollten Kunden aktiv in Auswahl und Ausarbeitung der angebotenen Services eingebunden werden. Denkbar wäre es zum Beispiel, Mechanismen zu implementieren, durch die Hersteller und Drittparteien ihre Services vorstellen und Kunden über die Weiterentwicklung mitbestimmen oder sich als Testnutzer anmelden können (vgl. H1, H2). Darüber hinaus ist die Sammlung und Analyse von Service-Nutzungsdaten ratsam, da diese eine wertvolle Informationsquelle über die tatsächliche Nutzung und damit die Relevanz der angebotenen Services darstellt (H3).

6.5.2 T  V-Streaming auf Smart TV, mobile Geräte und Spielekonsolen TV- und Radioinhalte werden zunehmend digital übertragen und Anbieter wie Zattoo, Amazon oder Netflix haben sich darauf spezialisiert, Inhalte ausschließlich über das Internet zu senden. Der Unterschied zu traditionellem Radio und Fernsehen liegt jedoch nicht nur im Übertragungsmedium, sondern auch in der Vielzahl relevanter Konsumententechnologien wie Smart TVs, mobile Geräte und Spielekonsolen. Hinzu kommen neue Services wie digitales Ausleihen von Medieninhalten oder Video on Demand. Streaming-Anbieter sollten die Gestaltung der Technologieebene als Voraussetzung für digitale Kundeninteraktionen verstehen und besonders Konsumententechnologien als wichtigen Einflussfaktor der Digital Customer Experience erkennen. Die in der Fallstudie identifizierten Handlungsempfehlungen zeigen auf, wie Provider Konsumentenendgeräte beobachten und beeinflussen können und sind auf den Kontext von TV-Streaming unmittelbar anwendbar. Streaming-Anbieter sollten die Architektur ihrer Plattformen, insbesondere Clients und Apps, die auf Konsumentengeräten installiert werden, mit entsprechenden Monitoring-Funktionalitäten ­ausstatten (H4). So sind Informationen wie z. B. Bildschirmauflösung, tatsächliche Datenübertragungsbandbreite und Latenzzeiten, aber auch Modellinformationen oder Betriebssysteme kritisch für die Übertragung von Medieninhalten. Streaming-­ Dienstleister sind nicht nur wandelnden Kundenanforderungen an Services unterworfen, sondern müssen sich auch auf verändernde technische Anforderungen und Möglichkeiten auf Kundenseite einstellen. Ein Beispiel hierfür ist die Veränderung von Bildschirmauflösungen von HD zu Full HD und derzeit 4K.  Serviceanbieter sollten neben der Erfassung also auch entsprechende Funktionalitäten zur Softwareaktualisierung und auch zur Dokumentation von auftretenden Fehlern implementieren, um z. B. Inkompatibilitäten von Service und eingesetzter Technologie zu identifizieren bzw. zu beheben (H5, H6).

6  Was Unternehmen von der Videospieleplattform Steam für die Gestaltung …

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6.5.3 D  ie Plattform eines Versicherungsunternehmens für die Vermittlung von Autoreparaturen Die Kundeninteraktion in der Versicherungsindustrie verschiebt sich von Offlinezu  Onlinekanälen. Dementsprechend sind viele Interaktionen mit Versicherungen heute schon vollständig digital möglich. Darüber hinaus besteht ein hoher Druck auf Versicherungen neue Services zu entwickeln, die über das traditionelle Leistungsangebot hinausgehen. Exemplarisch für diese Entwicklung steht die digitale Plattform einer Versicherung, welche Reparaturen zwischen Autofahrern und Werkstätten vermittelt. Kunden spezifizieren bestimmte Reparatur- oder Wartungsaufgaben und Autowerkstätten können auf dieser Basis ein Angebot für die entsprechende Arbeit erstellen. Kunden können dann eines der Angebote auswählen und die Werkstatt mit der Arbeit beauftragen. Eine wesentliche Herausforderung in dem Kontext ist die Schaffung von Vertrauen in Preisgestaltung und Qualität der zu erbringenden Serviceleistung. Diese sind ex-ante, also vor einer Reparatur, für Kunden kaum oder gar nicht einschätzbar. Dies birgt stets das Risiko für eine negative Kundenerfahrung, z. B. durch höhere als ursprünglich angegebene Kosten, unvorhergesehene Aufwendungen oder schlecht durchgeführte Reparaturen. Eine negative Kundenerfahrung schadet nicht nur dem eigentlichen Serviceerbringer (der Werkstatt), sondern auch der Reputation des Plattformanbieters. Anbieter solcher digitalen Plattformen können aus dem dargestellten Fallbeispiel aus der Spieleindustrie nützliche Erkenntnisse für die Gestaltung sozialer Strukturen gewinnen. Zum einen sollten Anbieter Werte wie Zuverlässigkeit und Transparenz bezogen auf Preis- und Servicequalität als wichtige Gestaltungskomponente in der Servicestrategie definieren (H7). Hierfür bietet sich z. B. ein Bewertungssystem an. Weiterhin sollte der Plattformanbieter mit geeigneten Instrumenten Werte und Normen in den Serviceinteraktionen verankern (H8). Analog zur Anti-Cheat-­ Funktionalität bei Steam wären mögliche Maßnahmen z. B. die Einführung einer Richtlinie, in der sich Werkstätten beispielsweise dazu verpflichten, Kunden keine unverhältnismäßigen oder marktunüblichen Offerten einzugeben. Eine datenorientierte Maßnahme wäre z. B. die Erfassung von Angebotsdaten, insbesondere Preis und Umfang der angebotenen Reparatur und ex-post die Erfassung und Berechnung der Preistreue der Werkstatt. Schließlich ist auch ein System denkbar, mit dem Kunden gebuchte Werkstätten bewerten oder negative Serviceinteraktionen melden können. Darüber hinaus sollte der Plattformanbieter den Austausch mit seinen Kunden in Chats, Telefonaten oder auch Befragungen suchen und aufmerksam für geäußerte Bedürfnisse oder vertrauensverhindernde Funktionalitäten sein, um entsprechende Instrumente der Wertverankerung zielgerichtet implementieren zu können (H9).

6.6

Zusammenfassung und Ausblick

In diesem Artikel wurde ein sozio-technischer Rahmen vorgestellt, mit dem Plattformanbieter drei Gestaltungsebenen der Digital Customer Experience analysieren und planen können. Die Spieleplattform Steam wurde mit der Fallstudienmethode

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B. Spottke

untersucht, sodass Handlungsempfehlungen zur Gestaltung der Digital Customer Experience abgeleitet werden konnten. Die Anwendung der Handlungsempfehlungen wurden anschließend im Kontext von Automobilbranche, TV-Streaming-­ Anbieter und anhand einer Plattform für Autoreparaturen beispielhaft diskutiert. Die Ergebnisse der Arbeit richten sich an verantwortliche Entscheider im IT-­ Service-­Development und IT-Service-Design, IT-Strategen und Business-Architekten, die ihre Informationssysteme und digitalen Plattformen in Hinblick auf die Gestaltung der Digital Customer Experience entwickeln und bewerten wollen. Erstens zeigen die erarbeiteten inhaltlichen Erkenntnisse erprobte Möglichkeiten auf, die Digital Customer Experience erfolgreich zu gestalten. Sie folgen aus der Fallstudie und stellen eine gute Grundlage für die Übertragung in weitere Unternehmenskontexte dar. Zweitens liefern die vorgestellten Gestaltungsebenen einen Rahmen zur Strukturierung. Im Rahmen der Fallstudie hat sich zum Beispiel gezeigt, dass insbesondere die Gestaltung der sozialen Ebene, d.  h. „Werte und Normen“, häufig vernachlässigt wird und größere Aufmerksamkeit erfordert. Das Modell kann die Analyse und Planung der eigenen Digital Customer Experience unterstützen, da es die Aufmerksamkeit des Entscheiders nicht nur auf service- und technologiebezogene Fragestellungen lenkt, sondern auch die Gestaltung digitaler sozialer Interaktionen hinterfragt.

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7

Interaktive Informationsmanagement-­ Tools in Online Shops: Studienergebnisse und Gestaltungsempfehlungen Thomas Groissberger und René Riedl

Zusammenfassung

In Online Shops steht Käufern eine Vielzahl an Produkten mit unterschiedlichen Produkteigenschaften zur Verfügung. Dieses große Informationsangebot kann eine Informationsüberlastung (Information Overload) bewirken, was zu Unzufriedenheit bei den Käufern und zu niedrigeren Abschlussraten führen kann. Abhilfe schaffen Interaktive Informationsmanagement-Tools (IIMT), die es den Käufern ermöglichen, durch Filtern, Sortieren oder Vergleichen das Informationsangebot selbst steuern zu können. IIMT unterstützen dabei verschiedene Entscheidungsstrategien, die Käufer beim Produktkauf in Online Shops anwenden. Zum Beispiel eliminiert ein Käufer, der die Elimination-by-Aspects-Strategie anwendet, Produkte, die gewünschte Grenzwerte beim wichtigsten Attribut nicht erreichen. Sind nach diesem Schritt noch mehrere Produkte in der Auswahl verblieben, wird mit dem zweitwichtigsten Attribut fortgefahren, und zwar solange, bis ein Produkt übrig bleibt. Ein Online Shop mit Filter würde die Anwendung dieser Strategie unterstützen. Wir analysierten die in den 100 umsatzstärksten Online Shops in Nordamerika vorhandenen IIMT. Die Studienergebnisse zeigen, dass Online Shops Entscheidungsstrategien unterstützen, die von Käufern auch häufig angewendet werden. Diese Strategien werden durch einige wenige Tools (Funktionen zum Unveränderter Original-Beitrag Groissberger und Riedl (2017) Interaktive Informationsmanagement-Tools in Online Shops: Studienergebnisse und Gestaltungsempfehlungen, HMD – Praxis der Wirtschaftsinformatik Heft 317, 54(5):757–768. T. Groissberger (*) Division Business Management, Falkultät für Management Fachhochschule Oberösterreich, Steyr, Österreich E-Mail: [email protected] R. Riedl Institut für Wirtschaftsinformatik- Information Engineering Johannes Kepler Universität Linz, Linz, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Robra-Bissantz, C. Lattemann (Hrsg.), Digital Customer Experience, Edition HMD, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1_7

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T. Groissberger und R. Riedl

Filtern, Funktionen zum Sortieren, Produktvergleichsmatrizen) unterstützt. Die Ergebnisse zeigen weiter, dass vor allem bei der Gestaltung der Tools noch Potenziale zur Verbesserung bestehen. Schlüsselwörter

Entscheidungsstrategien · Online Shopping · Interaktive Entscheidungshilfen · Interaktive Informationsmanagement-Tools

7.1

Problembeschreibung

Da beim Online Shopping der Zugang zu Produktinformationen im Vergleich zu traditionellen Absatzkanälen (z.  B.  Einzelhandelsgeschäft) erleichtert wird, steigt auch das Informationsangebot. Dieses zunehmende Angebot birgt jedoch die Gefahr, dass Informationen von potenziellen Käufern im Kaufentscheidungsprozess nicht mehr wirksam verarbeitet werden können. Es entsteht eine Informationsüberlastung (Information Overload), die zu einer geringeren Kundenzufriedenheit führen sowie negative Effekte auf Kaufabschlüsse haben kann. Die Menge an im Kaufentscheidungsprozess benötigten Informationen hängt von objektiven Faktoren (z. B. Art des Produktes wie technische Produkte) und subjektiven Faktoren (z. B. individuelles Informationsbedürfnis des Käufers) ab. Während der objektive Informationsbedarf des Käufers in Online Shops vorhersehbar ist (z. B. Informationen zu Produktdaten sowie Preis, Liefer- und Zahlungsbedingungen), ist hingegen das subjektive Informationsbedürfnis in der Regel nicht zuverlässig prognostizierbar, da dieses Bedürfnis durch personenbezogene Faktoren (z. B. Erfahrung des Käufers mit dem Produkt) und situationsbezogene Faktoren (z.  B.  Zeitdruck) beeinflusst wird, die schwierig vorherzusehen sind. Diese Umstände haben zu einer Integration von Interaktiven Entscheidungshilfen, und hier vor allem von Interaktiven Informationsmanagement-Tools (IIMT), in Online Shops geführt, die Käufer bei der Informationsverarbeitung unterstützen. Interaktive Entscheidungshilfen stellen nach Wang und Benbasat (2009) Entscheidungsunterstützungssysteme in Online Shops dar, mit deren Hilfe die Informationsverarbeitung gesteuert werden kann. Insbesondere IIMT wie Filter- oder Sortierfunktionen helfen den Käufern dabei, explizit mit dem Informationsangebot interagieren zu können (Gupta et al. 2009). Abb. 7.1 zeigt drei Beispiele für in Online Shops weit verbreitete IIMT. Die Auslagerung der Steuerung des Informationsangebotes an die Käufer führt zu einem hohen Maß an Kundenintegration. Das heißt, die Käufer sind aktiv an der Erstellung der Dienstleistung des Online Shops beteiligt (als primäre Dienstleistung wird die Unterstützung der Käufer im gesamten Kaufentscheidungsprozess gesehen). IIMT setzen dabei vor allem in den Phasen „Informationssuche“ und „Bewertung der Alternativen“ im Kaufentscheidungsprozess nach Kotler et al. (2007) an und bieten den Käufern durch Filtern, Sortieren und Vergleichen ein individuelles, auf die Bedürfnisse der Käufer angepasstes Informationsangebot. Dies rückt die Service-dominierte Logik (Vargo und Lusch 2004) in den Fokus von Online Shops und impliziert, dass der Wert für den Käufer nicht erst beim physischen Erhalt der

7  Interaktive Informationsmanagement-Tools in Online Shops: Studienergebnisse …

97

Abb. 7.1  Beispiele für in Online Shops weit verbreitete IIMT. (Quelle: www.cdw.com)

Waren, sondern während des gesamten Nutzungsprozesses und folglich auch bei der digitalen Bereitstellung der Produktinformationen entsteht. Demzufolge ist es ein wesentliches Ziel der Implementierung von IIMT, dass der Käufer eine positive Wahrnehmung zur gesamten Digital Customer Experience hat. Da IIMT zwar in der Praxis weit verbreitet, jedoch kaum erforscht sind, plädierte Pfeiffer (2010) dafür, einen stärkeren Forschungsfokus auf IIMT zu legen. Eine Studie von Pfeiffer (2010) analysierte die nach Google Page Rank am besten platzierten 100 Online Shops und stellte fest, dass vor allem Filter als IIMT angeboten wurden. Seit 2010 wurden IIMT-Prototypen mit unterschiedlichen Funktionen entwickelt (Pfeiffer et al. 2010, 2014), deren Verwendung in der Praxis allerdings noch unzureichend erforscht ist. Um einer Informationsüberlastung entgegen zu wirken und zu einer bestmöglichen Entscheidung zu gelangen, folgen Entscheidungsträger grundsätzlich, und somit auch potenzielle Käufer in Online Shops, einem Prozessablauf und verwenden Entscheidungsstrategien. In der Fachliteratur werden den Strategien bestimmte Charakteristiken zugeordnet. Riedl et  al. (2008) verwenden ein Klassifikationsmodell mit neun Charakteristiken und unterscheiden dabei 13 verschiedene Strategien. Zum Beispiel eliminiert ein Käufer, der die Elimination-by-Aspects-Strategie (EBA) anwendet, Produkte, die gewünschte Grenzwerte beim wichtigsten Attribut nicht erreichen. Sind nach diesem Schritt noch mehrere Produkte in der Auswahl verblieben, wird mit dem zweitwichtigsten Attribut fortgefahren, und zwar solange, bis ein Produkt übrig bleibt. IIMT unterstützen bestimmte von Käufern in Online Shops eingesetzte Entscheidungsstrategien. Ein Online Shop mit Tools zum Filtern unterstützt beispielsweise die Anwendung von EBA. Pfeiffer et al. (2009) analysierten in einer theoretischen Arbeit, welche IIMT für die Unterstützung von bestimmten Entscheidungsstrategien benötigt werden. Ist bekannt, welche Tools in welchen Online Shops implementiert sind, kann daraus abgeleitet werden, welche Entscheidungsstrategien dort von Käufern angewendet werden können. Auf der Basis der beschriebenen Vorarbeiten analysierten wir, welche IIMT in den 100 umsatzstärksten Online Shops in Nordamerika implementiert sind, um damit auch festzustellen, welche Entscheidungsstrategien angewendet werden ­können. Die Ergebnisse zeigen, dass Online Shops Entscheidungsstrategien ­unterstützen,

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T. Groissberger und R. Riedl

die von Käufern auch häufig angewendet werden, beispielsweise EBA; vgl. dazu im Detail Riedl und Brandstätter (2007). Diese Strategien werden nach der aktuellen Analyse durch einige wenige IIMT (Funktionen zum Filtern, Funktionen zum Sortieren, Produktvergleichsmatrizen) unterstützt. Der Einsatz genau dieser IIMT in Online Shops ist daher für die Erzielung hoher Conversion Rates und Umsätze bedeutsam und steht im Fokus dieses Beitrages.

7.2

Interaktive Informationsmanagement-Tools (IIMT)

IIMT unterstützen Käufer in ihrem Entscheidungsprozess in Online Shops. Entscheidungsprozesse im Konsumentenbereich bestehen typischerweise aus zwei grundlegenden Phasen: eine initiale Phase (Screening Phase), in welcher durch Elimination die Anzahl möglicher Produkte auf eine überschaubare Menge reduziert wird. Funktionen zum Filtern (FILTER) und Sortieren (SORT) helfen den Käufern, Produktangebote in Online Shops zu durchsuchen und die Anzahl der Produkte auf eine kleinere Auswahl (Consideration Set) einzuschränken (vgl. Abb. 7.2 – Screening Phase). In einer zweiten Phase (In-depth-comparison Phase) werden die Produkte im Consideration Set einem genaueren Vergleich unterzogen, um so zu einer Entscheidung zu gelangen. Das Übertragen von Produkte von der Screening- in die In-depth-comparison Phase kann beispielsweise durch Aktivieren der Checkbox „Add to compare“ (COMPARE) erfolgen (vgl. Abb. 7.2 – Screening Phase). Der Vergleichsprozess selbst wird durch Produktvergleichsmatrizen unterstützt, welche die Produkte in einer n * m Matrix darstellt (n = Produkt im Consideration Set, z. B. Handy 1, Handy 2, …, Handy n; m = Produkteigenschaft (Attribut), z. B. Preis oder Farbe). Ein Entfernen von Produkten aus der Matrix ist beispielsweise wie in Abb. 7.2 (In-depth-comparison Phase) dargestellt durch Klicken auf den Link mit der Aufschrift REMOVE möglich. Ebenso können Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Produkteigenschaften farblich hervorgehoben werden (HIGHLIGHT).

7.3

Analyse der 100 umsatzstärksten Online Shops

Wir analysierten die 100 umsatzstärksten Online Shops in Nordamerika. Dieser geografische Raum wurde gewählt, da die USA 2015 die weltweit höchsten E-Commerce-­ Umsätze hatten (Digital Market Outlook 2016). Der Umsatz als Reihungskriterium wurde herangezogen, da bekannt ist, dass Unternehmen mit hohem Umsatz die nötigen finanziellen Mittel haben, um IIMT auf deren Internet-­Plattformen zu integrieren und weiterzuentwickeln, wobei technische Entwicklungen (wie ein zunehmendes Angebot an Open-Source-Shop-Systemen mit entsprechenden Features) mehr und mehr dazu führen, dass auch kleine Shop-Betreiber IIMT auf ihren Websites inte­ grieren können. Als Datenquelle wurde die jährlich erscheinende Studie von Internet Retailer (2015) verwendet, welche die 500 u­ msatzstärksten Online Shops listet. Die in den 100 umsatzstärksten Online Shops vorhandenen IIMT wurden im Zeitraum vom 25. März bis 02. April 2016 evaluiert (Desktop-Versionen, da diese mehr

7  Interaktive Informationsmanagement-Tools in Online Shops: Studienergebnisse …

99

Abb. 7.2  Beispiel für Screening Phase und In-depth-comparison Phase mit möglichen IIMT. (Quelle: www.cdw.com)

­ unktionen bieten als Mobile-Versionen – insbesondere in der In-depth-comparison F Phase). Neben der grundsätzlichen Verfügbarkeit von IIMT wurden auch deren konkrete Gestaltung und Funktionalität analysiert.

7.3.1 V  erbreitung von Interaktiven Informationsmanagement-­ Tools in Online Shops Unsere Studie zeigt, dass Filter- und Sortierfunktionen eine hohe Verbreitung haben. In 93 % der Online Shops konnten in der Screening Phase FILTER und in 90 % SORT zum Durchsuchen und zur Eingrenzung auf relevante Produkte genutzt werden. Gründe, warum einige Online Shops keine Tools zum Filtern oder Sortieren implementiert hatten, konnten nicht erkannt werden. Das Auswählen von Produkten für einen direkten Vergleich in Produktvergleichsmatrizen (COMPARE) war hingegen nur in 29 % der Fälle möglich. Die geringe Verbreitung von Produktvergleichsmatrizen stellt auf den ersten Blick einen ernüchternden Befund dar. Hier zeigten sich jedoch starke Branchenunterschiede. Durch Produktvergleichsmatrizen können Produkte mit einer größeren

100

T. Groissberger und R. Riedl

Anzahl an Attributen übersichtlich dargestellt werden. In Online Shops mit Produkten, die wenige Attribute aufweisen (z. B. Bekleidung), ist diese Darstellung weniger relevant als bei Produkten, bei denen oftmals viele Attribute entscheidungsrelevant sind (z.  B. elektronische Produkte). Unsere Studienergebnisse zeigen, dass Produktvergleichsmatrizen vor allem in Online Shops der Branchen „Hardware/ Home Improvements“ und „Computers/Electronics“, also in Branchen mit informationsintensiven Produkten, verfügbar waren (vgl. Abb. 7.3).

7.3.2 G  estaltung von Interaktiven Informationsmanagement-­ Tools in Online Shops 7.3.2.1 Filtern FILTER stellte mit 93 % das am meisten verbreitetste Tool dar. Im Durchschnitt standen 8,9 Attribute zum Filtern zur Verfügung. Die Anzahl der zum Filtern verfügbaren Produktattribute zeigte signifikante Branchenunterschiede. Vor allem Online Shops mit informationsintensiven Produkten (z. B. „Computers/Electronics“) stellten viele Attribute zum Filtern bereit (vgl. Abb. 7.4). Ein bedeutsamer Aspekt bei der Gestaltung von Filtern ist die Vermeidung, dass durch eine Filter-Kombination null Produkte im Set an Alternativen verbleiben. Dies kann beispielsweise durch den Einsatz von dynamischen Filtern (Filter passen sich stetig den verbleibenden Produkten an) verhindert werden. Bei 83  % der Online Shops mit FILTER konnte eine dynamische Anpassung festgestellt werden. Handlungsbedarf besteht bei den 17 % der Online Shops, in denen F ­ ilter-­Kombinationen zu null Produkten führen konnten. Eine Alternative zu dynamischen Filtern stellen Empfehlungssysteme dar, die dem vom Benutzer präferierten Produkt ähnliche Produkte vorschlagen. Eine Möglichkeit, dem Benutzer die Kontrolle über die gesetzten Filter zu geben, stellt CLEAR FILTER dar. Durch CLEAR FILTER können Benutzer gesetzte

Abb. 7.3  Anteil der Online Shops mit Produktvergleichsmatrizen nach Branchen

7  Interaktive Informationsmanagement-Tools in Online Shops: Studienergebnisse …

101

Abb. 7.4  Anzahl an verfügbaren Attributen zum Filtern nach Branchen

Abb. 7.5  Beispiele für FILTER mit CLEAR FILTER und ohne. Im Online Shop von Staples konnten sowohl alle Filter (clear all), einzelne gefilterte Attribute (clear) als auch einzelne Attributs­ ausprägungen (durch Klicken auf das Häkchen) zurückgesetzt werden. Im Online Shop von TigerDirect hingegen konnten Filter nicht zurückgesetzt werden

Filter zurücksetzen. In den untersuchten Online Shops konnten entweder alle Filter, einzelne gefilterte Attribute oder einzelne Attributsausprägungen zurückgesetzt werden. Insgesamt 90  % der Online Shops mit FILTER wiesen explizit CLEAR FILTER auf. Die fehlende Integration bei den verbleibenden 10 % ist zu kritisieren, da Benutzer ihre Eingaben nicht mehr korrigieren können. Abb. 7.5 zeigt je ein Beispiel für eine Filterfunktion in einem Online Shop mit CLEAR FILTER und ohne.

7.3.2.2 Sortieren Um die Produkte eines Consideration Sets reihen zu können, stehen in Online Shops Sortierfunktionen zur Verfügung. Unsere Studienergebnisse zeigen, dass Sortierfunktionen ebenfalls weit verbreitet sind. Grundsätzlich konnten folgende zwei Gestaltungsformen identifiziert werden: Dropdown-Listen und Menüpunkte (vgl. Abb. 7.6). Um bei der Gestaltung als Dropdown-Liste bei einem Attribut die Reihung wählen zu können, muss für jede Reihung ein eigener Punkt in der Liste

102

T. Groissberger und R. Riedl

Abb. 7.6  Sortieren mittels Dropdown-Liste und Menüpunkte

e­ rscheinen. Bei der Gestaltung als Menüpunkte wird die Reihung neben dem Attribut mit einem Pfeil visualisiert. Durch einen erneuten Klick auf das Attribut ändert sich die Reihung. In den untersuchten Online Shops standen zum Sortieren durchschnittlich 4,3 Attribute zur Verfügung. Beachtenswert ist, dass die Online Shops zwar produktspezifische Attribute (durchschnittlich 8,9) zum Filtern zur Verfügung stellten, jedoch nahezu ausschließlich allgemeine Attribute wie „Preis“ oder „Bestseller“ sortierbar waren. Die geringe Anzahl an sortierbaren Attributen ist zu kritisieren, da dies bewirkt, dass einige in der Praxis häufig verwendete Entscheidungsstrategien nur bedingt angewendet werden können. Die Lexikographische Strategie (LEX) wählt beispielsweise das Produkt mit dem besten Wert beim wichtigsten Produktattribut (Riedl et al. 2008). In Online Shops, in denen nur nach allgemeinen Attributen sortiert werden kann, wird die Anwendung von LEX somit nicht unterstützt.

7.3.2.3 Vergleichen Nachdem ein Käufer sein Consideration Set durch Filtern und Sortieren auf eine geringere Anzahl an Produkten eingeschränkt hat, hätte er diese zumindest in 29 der 100 Online Shops mittels Produktvergleichsmatrizen näher vergleichen können. Bei der Gestaltung dieser Matrizen sind die im Folgenden diskutierten Aspekte zu beachten. Grundsätzlich sind Produktvergleiche nur innerhalb einer Produktgruppe sinnvoll, da nur diese in der Regel dieselben Attribute aufweisen. Ein Vergleich von Produkten verschiedener Produktgruppen war jedoch in 59 % der Online Shops möglich. Beispielsweise war im Online Shop der Hayneedle Inc. (www.hayneedle.com) der nicht zweckmäßige Vergleich von Matratzen mit Mixern möglich. Eine bessere Lösung sind eigene Matrizen je Produktgruppe und ein möglicher Wechsel zwischen diesen. In 28 der 29 Online Shops war die Matrix wie in Abb. 7.2 (In-depth-comparison Phase) angeordnet (Produkte als Spalten und Attribute als Zeilen). Im Online Shop der Cabela’s Inc. (www.cabelas.com) erfolgte die Anordnung jedoch umgekehrt (Produkte als Zeilen und Attribute als Spalten). Die zweite Darstellungsform erscheint für Produktvergleichsmatrizen als weniger geeignet, da bei horizontaler Ausrichtung oft nur wenige Attribute am Bildschirm ersichtlich sind, was die Informationsaufnahme durch den Benutzer ungünstig beeinflusst. Ein bedeutsamer Aspekt bei der Gestaltung von Produktmatrizen ist, dass Produkte, nachdem sie zum Vergleich hinzugefügt wurden, durch den Käufer auch

7  Interaktive Informationsmanagement-Tools in Online Shops: Studienergebnisse …

103

­ ieder aus einer Vergleichsmatrix entfernt werden können (REMOVE). Dies war in w 27 der 29 Online Shops mit Produktvergleichsmatrizen möglich. Ein für die Entscheidung hilfreiches Tool in Produktvergleichsmatrizen stellt HIGHLIGHT dar. In lediglich drei der 29 Online Shops mit Produktvergleichsmatrizen konnten Zeilen mit unterschiedlichen Attributsausprägungen farblich hervorgehoben werden. Dadurch können Käufer leichter erfassen, bei welchen Attributen sich Produkte unterscheiden. Die in Abb. 7.2 (In-depth-comparison Phase) gezeigte Produktvergleichsmatrix bietet beispielsweise eine Funktion zum Hervorheben von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. IIMT zum quantitativen Vergleich, welche z. B. Attribute gewichten und Attributsausprägungen bewerten, um in Folge einen gewichteten Gesamtnutzen zu ermitteln, konnten in keinem Online Shop beobachtet werden. Da quantitative Entscheidungsstrategien in der Praxis jedoch kaum Verwendung finden (vgl. Riedl und Brandstätter 2007), ist dieser Befund zwar theoretisch gehaltvoll, jedoch für die Praxis von nachrangiger Relevanz.

7.3.2.4 Zusammenfassende Darstellung der Gestaltungsempfehlungen Da die von Käufern am häufigsten genutzten Entscheidungsstrategien bereits durch Funktionen zum Filtern und Sortieren sowie durch Produktvergleichsmatrizen unterstützt werden, empfehlen wir den Einsatz genau dieser IIMT. Der Nutzen für die Käufer entsteht jedoch erst durch eine nutzerfreundliche Gestaltung dieser Tools. Tab. 7.1 fasst die aus den Studienergebnissen abgeleiteten Gestaltungsempfehlungen zusammen.

7.4

Fazit

Auf der Basis einer Grundlegung und Einführung in die IIMT-Thematik wurden bedeutsame Ergebnisse einer empirischen Studie vorgestellt, in der die 100 umsatzstärksten Online Shops in Nordamerika untersucht wurden. Mit diesem Beitrag sollen einerseits Betreiber von Online Shops und andererseits Entwickler von Online-­ Shop-­ Systemen für ein bislang vor allem im deutschsprachigen Raum wenig beachtetes Thema sensibilisiert werden. Betreiber von Online Shops müssen die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit IIMT und deren positive Effekte auf Kundenzufriedenheit und Kaufabschlüsse erkennen. Diese Effekte können durch den Einsatz von A/B-­ Tests oder multivariaten Tests bestimmt werden. Die bloße Integration der Tools ist dabei nur der erste Schritt. Der Wert für die Käufer entsteht erst durch eine nutzerfreundliche Gestaltung. Beispielsweise ist es wichtig, dass durch die Gestaltung der Filter vermieden wird, dass null Produkte im Consideration Set verbleiben können. In 17 der 100 analysierten Online Shops führten Filter-Kombinationen jedoch dazu, dass null Produkte im Set verblieben. Neben dynamischen Filtern könnten auch Empfehlungssysteme positive Effekte haben. Im stationären Handel würde ein geschulter Schuhverkäufer seinen Kunden im Normalfall auch ein dem gewünschten

104

T. Groissberger und R. Riedl

Tab. 7.1  Empfehlungen zur Gestaltung von IIMT in Online Shops Phase Screening Phase

Zweck Filtern (Abschn. 7.3.2.1)

Sortieren (Abschn. 7.3.2.2)

In-depth-­ comparison Phase

Vergleichen (Abschn. 7.3.2.3)

Gestaltungsempfehlungen • Vermeiden Sie, dass Filter-Kombinationen zu null Produkten im Set an Alternativen führen. • Dies kann durch dynamische Filter (Filter passen sich stetig den verbleibenden Produkten an) verhindert werden. • Eine Alternative stellen Empfehlungssysteme dar, die dem vom Benutzer präferierten Produkt ähnliche Produkte vorschlagen. • Durch den Einsatz von CLEAR FILTER geben Sie den Benutzern die Möglichkeit, gesetzte Filter wieder zurückzusetzen. Geben Sie den Nutzern die Möglichkeit, alle Filter (clear all), einzelne gefilterte Attribute (clear) sowie einzelne Attributsausprägungen zurückzusetzen. • Stellen Sie eine Sortierfunktion zur Verfügung, die entweder als Dropdown-Liste oder durch Menüpunkte gestaltet ist. • Geben Sie den Benutzern auch die Möglichkeit, nach produktspezifischen Attributen zu sortieren (nicht nur nach allgemeinen Attributen wie „Preis“ oder „Bestseller“), damit in der Praxis häufig verwendete Entscheidungsstrategien angewendet werden können. • Produktvergleiche sind nur innerhalb einer Produktgruppe sinnvoll (mit denselben Attributen). Wenn Sie mehrere Produktgruppen anbieten, stellen Sie den Benutzern eigene Matrizen je Produktgruppe mit einem möglichen Wechsel zwischen diesen bereit. • Ordnen Sie die Produktvergleichsmatrix mit den Produkten als Spalten und den Attributen als Zeilen an. • Geben Sie den Benutzern mittels REMOVE die Möglichkeit, Produkte aus der Matrix zu entfernen. • Erlauben Sie den Benutzern das Hervorheben von Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Produkteigenschaften in der Produktvergleichsmatrix mittels HIGHLIGHT.

Schuh ähnliches Modell empfehlen, falls der Schuh in der gewünschten Größe nicht mehr lieferbar ist. Da viele Online-Shop-Betreiber ihre Shops nicht selbst entwickeln, sondern auf bestehende Online-Shop-Systeme (z. B. Magento) zurückgreifen, sind die zur Verfügung stehenden IIMT stark von den Entwicklern dieser Shop-Systeme abhängig. Daher sollten Online-Shop-Entwickler enger mit Online-Shop-Betreiber zusammenarbeiten, um IIMT weiterzuentwickeln, da vor allem die Online-Shop-­Betreiber Daten über das Benutzerverhalten zur Identifikation von Gestaltungspotenzialen haben. Besser entwickelte IIMT können in Folge einen Wettbewerbsvorteil darstellen. Die vorgestellten Studienergebnisse zeigen deutlich, dass selbst die umsatzstärksten Online Shops in Nordamerika, von denen etliche zu den weltweit größten Shops gehören, nach wie vor viele Potenziale aufweisen, die Gestaltung der eingesetzten

7  Interaktive Informationsmanagement-Tools in Online Shops: Studienergebnisse …

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IIMT zu verbessern. Da Käufer in der Praxis vor allem Entscheidungsstrategien anwenden, die bereits durch einige wenige IIMT anwendbar sind (Funktionen zum Filtern, Funktionen zum Sortieren, Produktvergleichsmatrizen), sollten Online-­Shop-­ Betreiber und Online-Shop-Entwickler den Fokus vor allem auf die Optimierung dieser Tools richten. Dass in den 100 untersuchten Online Shops keine Tools zum quantitativen Vergleich angeboten wurden (beispielsweise IIMT, welche Attribute gewichten und Attributsausprägungen bewerten (für eine Übersicht an Tools zum quantitativen Vergleich siehe Pfeiffer et al. (2010) und (2014)), sehen wir als unproblematisch an. Erstens werden quantitative Entscheidungsstrategien in der Praxis kaum angewendet und zweitens sind fast alle untersuchten Online Shops auf Verkäufe an Privatpersonen ausgerichtet, was zur Folge hat, dass hier im Gegensatz zu gewerblichen Käufen Entscheidungen typischerweise nicht gerechtfertigt werden müssen (und eine solche Rechtfertigungsnotwendigkeit geht oft mit quantitativen Vergleichen einher, z. B. durch Anwendung der Nutzwertanalyse). Überhaupt neue Tools zu implementieren, halten wir aktuell für ein weniger relevantes Aufgabengebiet. Ziel aus Sicht der Praxis ist es letztlich, die Digital Customer Experience im Entscheidungs- und Kaufprozess zu verbessern, weil sich dies positiv auf Conversion Rates und Umsätze auswirkt. Online-Shop-Umgebungen bieten dabei ideale Voraussetzungen, um die Wirkungen von Veränderungen von Funktionen und Designelementen unter kontrollierten Bedingungen zu testen (A/B-Tests, multivariate Tests).

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Teil III Konzepte für den stationären Einzelhandel

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Interaktive, digitale Einkaufserlebnisse in Innenstädten Jan H. Betzing, Daniel Beverungen, Jörg Becker, Martin Matzner, Gertrud Schmitz, Christian Bartelheimer, Ingo Berendes, Marina Braun, Andera Gadeib, Moritz von Hoffen und Christian Schallenberg

Zusammenfassung

Kleine und mittelständige Einzelhändler sind durch gestiegene Kundenerwartungen herausgefordert, können aber oftmals nicht mit den digitalen Diensten der Großfilialisten und den Preisen des Online-Handels konkurrieren. Zur Abgrenzung von Konkurrenten legen viele Händler den Fokus auf kundenseitige Einkaufserlebnisse. Digitale Technologien können in die Ladengeschäfte integriert werden, um neue Formen der Interaktion zwischen Händlern und Kunden zu schaffen, die potenziell zu positiven digitalen Einkaufserlebnissen beitragen. Dieser Artikel skizziert einen Gestaltungsansatz einer händlerübergreifenden mobilen Plattform, die der Innenstadt als digitaler Kompagnon zur Seite steht und die Interaktionen zwischen Händlern und Innenstadtbesuchern ermöglicht. Redaktionell überarbeiteter Beitrag von Betzing et al. (2017) Interaktive, digitale Einkaufserlebnisse in Innenstädten, HMD – Praxis der Wirtschaftsinformatik Heft 317, 54(5):659–671. J. H. Betzing (*) · J. Becker Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] D. Beverungen Universität Paderborn, Paderborn, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Matzner Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Nürnberg, Deutschland E-Mail: [email protected] G. Schmitz · M. Braun Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] C. Bartelheimer · I. Berendes Universität Paderborn, Paderborn, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Robra-Bissantz, C. Lattemann (Hrsg.), Digital Customer Experience, Edition HMD, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1_8

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Ein digitaler innerstädtischer Marktplatz kann helfen, ein digitales Einkaufserlebnis zur Stütze des gesellschaftlich geschätzten, aber durch den Online-Handel herausgeforderten, „Einkaufserlebnis Innenstadt“ zu schaffen. Schlüsselwörter

Dienstleistungsgestaltung · Digitales Einkaufserlebnis · Innerstädtischer Marktplatz · KMU im Handel · Ko-Kreation

8.1

Einkaufserlebnisse in Innenstädten im Wandel

Die Attraktivität der Innenstädte wird durch den Mix aus Läden, Restaurants, städtischen und kulturellen Einrichtungen bestimmt (IFH Köln 2017). Dabei haben kleine und mittelständische Händler und Fachgeschäfte das Bild der Innenstädte in Deutschland über Jahrzehnte hinweg geprägt. Der demografische Wandel und der stetige Verlust von Marktanteilen gegenüber Online-Handel und Großfilialisten sind Entwicklungen, welche die zukünftige Ausrichtung des kleinen und mittleren Einzelhandels maßgeblich beeinflussen. Während die durchschnittliche Wachstumsrate des Online-Handels in Deutschland bei 12 % p. a. liegt (IFH Köln 2017), nimmt der Markanteil der traditionellen Fachgeschäfte ab (HDE, 2016). Im Jahr 2016 erzielte der Online-Handel einen Umsatz von 61,24  Mrd. Euro in Deutschland, womit 12,7 % des Einzelhandelsumsatzes auf den Online-Handel entfielen (bevh 2017). In der Vergangenheit konnten sich Fachgeschäfte insbesondere durch persönliche Beratung profilieren. Inzwischen bietet der Online-Kanal vergleichbare Angebote auf einem zumeist niedrigeren Preisniveau. Kunden können Produktinformationen und Preise jederzeit und von jedem Ort über mobile Endgeräte abrufen und vergleichen. Ebenso findet die individuelle Beratung über den Online-Kanal statt: Kunden erhalten zum einen individuelle Empfehlungen und Angebote durch die händlerseitige Analyse kundenbezogener Informationen. Zum anderen interagieren Kunden über digitale Kanäle mit Beratern der Online-Händler sowie über soziale Medien mit anderen Kunden mit ähnlichen Interessen. Am Kundentrend des Research Shoppings zeigt sich ferner, dass Kunden während ihres Informations- und Kaufprozesses nicht auf einen bestimmten Kanal oder Händler angewiesen sind (Gensler et al. 2017). Stattdessen kombinieren sie verschiedene Kanäle miteinander, A. Gadeib Dialego AG, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected] M. von Hoffen Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Schallenberg LANCOM Systems GmbH, Würselen, Deutschland E-Mail: [email protected]

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um von den Vorteilen des Offline- und des Online-Kanals zugleich zu profitieren. Dabei ist es aus Kundensicht irrelevant, ob die Kanäle durch denselben Händler bereitgestellt werden. Beim Showrooming informieren sich die Kunden vor Ort im Ladenlokal über ein Produkt, kaufen dieses aber online. Beim Webrooming gehen die Kunden den entgegengesetzten Weg (Gensler et al. 2017). Diese Beispiele zeigen, wie der Online-Handel und die Nutzung digitaler Technologien das Verhalten und die Erwartungshaltung der Kunden nachhaltig verändert haben. Trotz dieser deutlich veränderten Erwartungshaltung bietet der stationäre Einzelhandel immer noch Vorteile im Sinne einer relativen Attraktivität gegenüber dem Online-Handel, die von den Kunden als Mehrwert wahrgenommen werden. Hierzu zählen bspw. soziale Interaktion, gewöhnlich sofortige Verfügbarkeit der Ware, Datenschutz (Kunde kann anonym bleiben), Unterhaltung (multisensuale Sinnesansprache) und die persönliche Sicherheit (Vor-Ort-Begutachtung) (Heinemann 2011; Schobesberger 2007). Der innerstädtische Einzelhandel muss auf die gestiegene Erwartungshaltung der Kunden reagieren und neuartigen Nutzen für die Kunden stiften (Stein et al. 2017). In diesem Zusammenhang nennt die Literatur die Schaffung von Einkaufserlebnissen als Möglichkeit, um sich vom Wettbewerb abzugrenzen (Leischnig et al. 2012). Da traditionelle Fachgeschäfte häufig nicht mit den Preisen des Online-Handels konkurrieren können, liegt ein strategischer Fokus auf erlebnisbezogene Faktoren nah. Ein Ansatz besteht darin, die durch den Online-Handel geprägten Kundentrends auf Ihre Eignung für den innerstädtischen Einzelhandel zu prüfen, und weitergehende neue Konzepte zu entwickeln, wie digitale Interaktion den innerstädtischen Einzelhandel beleben kann. Digitale Technologien, die bereits Einzug in den Alltag der Kunden gehalten haben, können aufgegriffen werden und in die physische Umgebung der Ladengeschäfte integriert werden, um die Händler-­Kunden-­Schnittstelle zu stärken und darüber digitale Einkaufserlebnisse zu ermöglichen. Dies erfordert die Integration des Online- und Offline-Kanals. Hierbei lassen sich zwei Arten der Integration unterscheiden (Herhausen et  al. 2015): (1) Der Kunde hat im Ladenlokal Zugriff auf das Online-Angebot des Händlers, um Produktinformationen einzusehen und digitale Dienste zu nutzen. (2) Der Kunde kann sich über den Online-Kanal über das physische Geschäft informieren und beispielsweise Öffnungszeiten, Produktverfügbarkeit oder aktuelle Angebote einsehen. Weitere Services umfassen die Abholung online bestellter Ware im Geschäft sowie die Bestellung von Ware im Geschäft zur Lieferung nach Hause (Meier et al. 2017). Der Kunde kombiniert einzelne Kundenkontaktpunkte nach seinen Bedürfnissen entlang des Kaufentscheidungsprozesses beliebig miteinander. Das kundenseitige Einkaufserlebnis erstreckt sich somit über die Grenze zwischen Online- und Offline-­Welt. Großfilialisten greifen diese Kundentrends bereits in Omni-Channel-Strategien auf und integrieren neue digitale Kontaktpunkte wie Smartphone Apps in ihre Geschäftsmodelle. Die Umsetzung und der Betrieb solcher Lösungen sind kostenund ressourcenintensiv und bedürfen technischen Fachwissens. Angesichts abnehmender Marktanteile und fehlender technischer Expertise bedeutet die Umsetzung digitaler Strategien für den kleinen und mittelständischen Einzelhandel eine große

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Herausforderung (Bollweg et al. 2016). Wie kann der einzelne Händler die Vielzahl möglicher digitaler Technologien bewerten, auswählen und einführen, um dem Kunden passgenaue digitale Schnittstellen anzubieten? Es ergibt sich die Annahme, dass das individuelle Fachgeschäft nicht mit dem Online-Handel und den digitalen Initiativen der Großfilialisten konkurrieren kann. Wir sind der Auffassung, dass die kleinen und mittelständischen innerstädtischen Händler, die vielerorts bereits in lokalen Interessengemeinschaften und Verbänden organisiert sind, auch bei der Einführung digitaler Technologien zusammenarbeiten sollten. Eine koordinierte Gestaltung kann digitale Einkaufserlebnisse über die Grenzen des einzelnen Händlers hinweg ermöglichen und sich damit von den Lösungen der Großfilialisten abheben, die auf die jeweilige Kette begrenzt sind. Bestehende händlerübergreifende digitale Initiativen tragen jedoch aus Kundensicht wenig zur Entstehung eines digitalen Einkaufserlebnisses bei, da sie zumeist nur eingeschränkte Funktionalitäten (z. B. digitale Visitenkarten, Coupons, Sonderangebote) anbieten und wenig Interaktion an der Händler-Kunden-Schnittstelle erlauben. Dieser Artikel fokussiert deshalb auf interaktive händlerübergreifende Lösungen, die den Innenstadtbesuchern neuartige digitale Einkaufserlebnisse ermöglichen.

8.2

Digitale Technologien für den Einzelhandel

Dem innerstädtischen Einzelhandel stehen eine Vielzahl neuer Technologien zur Auswahl, um Online- und Offline-Kanäle miteinander zu integrieren und digitale Händler-Kunden-Schnittstellen anzubieten. Digitale Technologien unterstützen dabei verschiedene Arten der Interaktion. Bei der klassischen Person-zu-Person-Beratung kann das Verkaufspersonal beispielsweise mit Tablets oder Smartphones ausgestattet werden, um Produkt- und Kundeninformationen einzusehen und somit eine persönliche und umfassende Beratung zu bieten. Ebenso können Kunden über Selbstbedienungssysteme wie Selbstbedienungskassen oder Shopping-Assistenten im Sinne einer Person-zu-Maschine-Interaktion mit den Geräten im Laden interagieren. Neuartig sind Maschine-zu-Maschine-Interaktionen, bei denen das Endgerät des Kunden mit Geräten des Händlers wie Beacons, NFC-Tags oder W-LAN kommuniziert. Die Einführung digitaler Händler-Kunden-Schnittstellen umfasst nicht nur die für den Kunden sichtbaren IT-Artefakte wie Tablets im Ladenlokal (Front-Stage-Technologien), sondern auch für den Kunden unsichtbare Hintergrunddienste zur Bereitstellung der benötigten Informationen (Back-Stage-Technologien). Abb.  8.1 systematisiert digitale Technologien für den Einzelhandel nach ihrer Sichtbarkeit für den Kunden. Bevor Händler personalisierte digitale Kundenansprachen und Beratungsdienstleistungen anbieten können, müssen Stamm- und Transaktionsdaten wie Produktinformationen und Warenbewegungsdaten mithilfe von Enterprise-Resource-Planning-Systemen (ERP) bzw. Warenwirtschaftssystemen (WWS) erfasst und diese Informationen über Systemgrenzen hinweg integriert werden. Ebenso muss der Händler auf dem Weg zu personalisierten Echtzeitangeboten an allen Kundenkontaktpunkten kanalübergreifend Verhaltensdaten erfassen. Durch die Speicherung

Back-Stage-Technologien

Front-Stage-Technologien

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Digital Signage

OnlineShop

Smartphone

Tablet

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App

QR-Code Elektronisches Preisschild

Mobile Payment

Selbstbedienungssystem

W-LAN

Sichtbarkeitslinie

Loyalitätsprogramm

NFC

WWS / ERPSystem

CRMSystem

Datenanalyse

Beacon

In-StoreTracking

Abb. 8.1  Digitale Technologien im Einzelhandel

von Kundenbeziehungen und Einkaufsverhalten entsteht ein digitales Abbild des Kunden in Customer-Relationship-Management-Systemen (CRM). Zum jetzigen Zeitpunkt verzichten jedoch insbesondere kleine Händler und Fachgeschäfte häufig aus die Nutzung von ERP/WWS- und CRM-Systemen. Die meisten Kunden im Ladengeschäft bleiben so für den Händler anonym, während sich Kunden in Onlineshops und Smartphone-Apps mithilfe eines Kundenkontos leicht identifizieren lassen. Verfahren des In-Store-Tracking erlauben es zwar, Kundenbewegungen aufzuzeichnen und zumindest teilweise einzelnen Kunden zuzuordnen. Die Sammlung personenbezogener Verhaltensdaten setzt jedoch das Einverständnis des Kunden und eine datenschutzkonforme Erfassung, Verarbeitung und eventuelle Löschung der Informationen voraus. Einen beispielhaften Gestaltungsansatz zeigen Wieland et al. (2017) auf, bei dem Kunden im Ladengeschäft mithilfe von Smartphones unter Beachtung des Datenschutzes persönliche Informationen zur Personalisierung an den Händler übermitteln können. Kostenfreie W-LAN-Hotspots in der Innenstadt werden von zwei Dritteln der Kunden erwartet (IFH Köln 2017). Für den Betreiber bietet die Hotspot-Anmeldeseite einen Einstieg zur Identifikation des Kunden und zur Weiterleitung des Kunden auf das eigene digitale Angebot. Darüber hinaus können Kundenfrequenzen und Verweildauer aufgezeichnet werden. So wird das Smartphone des Kunden zu einer zusätzlichen Marketing-Plattform. Das Smartphone bietet jedoch noch weitere Schnittstellen zum Händler. Es kann die Signale von nahegelegenen Bluetooth-Beacons identifizieren und per App gesteuert kontextbezogene Nachrichten anzeigen. Elektronische Preisschilder ermöglichen ferner nicht nur die Umsetzung von Bestpreisgarantien oder automatischen Aktionspreisen für verderbliche Ware, sondern können RFID-Codes anzeigen oder über integrierte NFC-Tags mit den Smartphones der Kunden interagieren. Loyalitätsprogramme bieten eine weitere Möglichkeit, Kundendaten zu erfassen und den Kunden an Kontaktpunkten im Geschäft sowie am Point-of-Sale zu identifizieren.

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Die gesammelten Stamm- und Transaktionsdaten des Kunden werden aus den verschiedenen Kanälen zusammengeführt und in Hintergrundprozessen analysiert. Im Idealfall erhält der Kunde über die Kanäle seiner Wahl individualisierte Ansprachen. Aus Kundensicht stehen hier insbesondere mobile Anwendungen für Smart Devices, großflächige Displays, Interaktion mittels Social Media sowie Selbstbedienungssysteme im Vordergrund. Dem interessierten Leser sei das Verzeichnis digitaler Technologien für den Handel von Willems et al. (2017) empfohlen. Ferner zeigen Meier et al. (2017) die technologischen Entwicklungen und dadurch ermöglichten digitalen Dienste und deren Reifegrad im Einzelhandel umfangreich auf. Die in Abb. 8.1 genannten Technologien können einige Dimensionen eines digitalen Einkaufserlebnisses realisieren. Ungeachtet dessen ergeben sich zwei zentrale Problemstellungen: Zum einen wird die Nutzung der Technologien durch kleine und mittelständische Händler neben den genannten Problemen häufig bereits durch die nur unzureichende Erfassung von Stamm- und Transaktionsdaten sowie die fehlenden organisatorischen Strukturen zur Sammlung von Kundendaten und digitalen Pflege von Kundenbeziehungen verhindert. Zum anderen wird das volle Potenzial dieser Technologien nicht ausgeschöpft, wenn diese nur von den Filialisten in Isolation genutzt werden. Dann entstehen Datensilos innerhalb der einzelnen Ketten, bei denen nur ein unvollständiges Bild des Kunden erfasst werden kann. Auf Innenstadtebene existieren so in verschiedenen Geschäften fragmentarische Informationen über denselben Kunden. Im gleichen Sinne interagieren die Kunden nur mit den Produkten und anderen Kunden eines einzelnen Händlers. Es entsteht eine „Store-Community“, aber keine Gemeinschaft der Innenstadtbesucher. Wir vertreten die Auffassung, dass erst, wenn sich die Händler zusammenschließen und die Technologien gemäß den Möglichkeiten des Einzelnen kombinieren und miteinander im Sinne eines händlerübergreifenden Netzwerks integrieren, eine holistische Datenperspektive auf den lokalen Handel und den Innenstadtbesucher entsteht. Diese bildet die Basis für ein innenstadtweites digitales Einkaufserlebnis, dessen basale Eigenschaften im Folgenden beschrieben werden.

8.3

Digitale Einkaufserlebnisse

Wie dieser Herausgeberband zeigt, sind Einkaufserlebnisse in den letzten Jahren sowohl in der Kundenverhaltensforschung als auch als Bestandteil der unternehmerischen Strategie immer stärker in den Fokus gerückt (Lattemann und Robra-­ Bissantz 2017). Das kundenseitige Einkaufserlebnis (eng. Customer Experience) bezeichnet in Anlehnung an Leischnig et al. (2012) die sensorischen, kognitiven, physischen, affektiven und sozialen Reaktionen eines Kunden auf seine Erfahrungsumwelt, die einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen (Leischnig et al. 2012). Dabei können Einkaufserlebnisse während des Kaufentscheidungsprozesses an allen Kundenkontaktpunkten entstehen, an denen eine Interaktion zwischen Kunde und Händler stattfindet. Aus verschiedenen Interaktionen formt der Kunde dynamisch seine erlebnisbezogenen Erfahrungen, wobei vergangene Interaktionen in die Bewertung zukünftiger Erlebnisse einfließen. Das digitale Einkaufserlebnis

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beschreibt den Teil des Einkaufserlebnisses, der durch die Interaktion mittels digitaler Schnittstellen geschaffen wird. Die in Abb. 8.1 gezeigten Front-Stage-Technologien bieten neuartige Kontaktpunkte zum Kunden, welche bisherige Kaufentscheidungsprozesse komplementieren oder ganz neue Formen der Interaktion ermöglichen. Beispielhaft kann eine innerstädtische Händlergemeinschaft eine gemeinsame Smartphone App bereitstellen, die über aktuelle Trends informiert, regionale Produkte vorstellt und an strategisch interessanten Punkten das Einscannen von Codes zum Abrufen weiterführender Informationen ermöglicht. Es ergibt sich ein digitales Einkaufserlebnis als Wechselspiel zwischen verschiedenen Kanälen. Am Beispiel dieser App lassen sich die Dimensionen des Einkaufserlebnisses (Bruhn und Hadwich 2012) und deren potenzielle Realisation beschreiben. Die sensorische Dimension umfasst Umweltreize, die über die Sinneswahrnehmung auf den Kunden wirken. Zur Gestaltung der App können optische und klangliche Reize genutzt werden, in der physischen Welt stehen darüber hinaus jedoch auch haptische, geschmackliche und olfaktorische Reize als weitere Gestaltungsparameter zur Verfügung. Möchte sich ein Nutzer beispielsweise über regional produzierten Honig informieren, können ihn hochwertige Abbildungen oder Videos auf positive Weise beeinflussen. Ein Video von Bienen, welche über eine Blumenwiese fliegen, kann zudem durch die Erzeugung von Emotionen und Stimmungen die affektive Dimension realisieren. Obendrein kann die multimediale Interaktion das Denken und die Kreativität im Sinne der kognitiven Dimension anregen. Die physische Dimension bezieht sich auf körperliche Aktivitäten als Reaktion auf die Stimuli, beispielsweise das Aufsuchen eines Marktstands zum Kauf des Honigs. Die soziale Dimension bezieht das Umfeld des Kunden mit in die Erfahrung ein und stellt auf ein ausgelöstes Zugehörigkeitsgefühl mit dem Produkt oder anderen Individuen ab. Die bewusste Wahl eines regional produzierten Produkts kann beispielsweise eine Zugehörigkeit mit anderen umweltbewussten Personen auslösen. Ferner könnte der Kunde über die beispielhafte App Erfahrungen mit dem Produkt teilen und umgekehrt durch die Meinung anderer Kunden in seinem Kaufprozess beeinflusst werden. Ob und auf welche Art digitale Kontaktpunkte die Dimensionen des Einkaufserlebnisses realisieren, ist durch eine hohe kundenseitige Subjektivität geprägt und abhängig von verschiedenen Einflussfaktoren. Diese liegen zum Teil außerhalb der Kontrolle des Händlers, wie zum Beispiel der Kontakt zu anderen Kunden, die demografische und kulturelle Zugehörigkeit, die Persönlichkeit und das soziale Umfeld des Kunden (McColl-Kennedy et al. 2015b). Am Beispiel der App zeigt sich, dass der Händler zwar die technische Systemqualität (keine Abstürze) und die Aktualität der Informationen sicherstellen kann, zahlreiche externe Einflussfaktoren aber unkontrollierbar sind. Zum einen muss der Kunde bestimmte technischen Kenntnisse mitbringen und die Bereitschaft aufbringen, diesen Kontaktpunkt anzunehmen. Ohne die Beteiligung des Kunden kann kein Einkaufserlebnis entstehen. Zum anderen kann die Einbindung kundenseitiger Geräte wie Smartphones ein Risiko bedeuten, wenn zum Beispiel die Rechenkapazität nicht zur Nutzung der App ausreicht oder unzureichender mobiler Internetempfang besteht. Diese Probleme können negative Einkaufserlebnisse erzeugen, die der Händler nicht verhindern kann.

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Inwiefern ein händlerseitiges Angebot zur Entstehung eines positiv bewerteten Einkaufserlebnisses beiträgt, wird durch den Einkaufserlebniswert beschrieben, wobei ein hedonistischer, symbolischer und funktionaler Einkaufserlebniswert unterschieden werden (Tynan et  al. 2014). Der hedonistische Einkaufserlebniswert resultiert aus der positiven Bewertung der durch das Erlebnis ausgelösten Gefühle, entstandenen Beziehungen und bewirkten neuartigen Einsichten. Der symbolische Einkaufserlebniswert erfasst die positive Bewertung der durch das Erlebnis ausgelösten sozialen Anerkennung und seiner positiven Folgen für das eigene Selbstbewusstsein. Der funktionale Einkaufserlebniswert entsteht durch die positive Bewertung der funktionalen Konsequenzen des Erlebnisses, wie der umfassenden Lösung eines Problems oder Erhöhung der Qualität einer Leistung. Darüber hinaus spiegelt er sich auch darin wieder, inwieweit das Erlebnis zu einer Realisierung von Effizienzvorteilen geführt hat, da zum Beispiel die für eine Problemlösung notwendige Zeit und kognitive Anstrengungen reduziert werden. Insgesamt beinhaltet der Einkaufserlebniswert somit gleichermaßen hedonistische und utilitaristische Bewertungsgrundlagen. Zudem ist die Wirkung des wahrgenommenen Wertes auf (verschiedene) Verhaltensabsichten inzwischen in zahlreichen Studien bestätigt worden (Graf und Maas 2008) sodass auch ein positiver Einfluss des wahrgenommenen Einkaufserlebniswertes auf weitere ökonomisch relevante Verhaltensabsichten angenommen werden kann. Auf den ersten Blick mag die Bereitstellung digitaler Kontaktpunkte und Interaktionsmöglichkeiten so erscheinen, als ob der Händler ein Erlebnis für den Kunden gestaltet und vorbereitet hat, welches dieser nur abzurufen braucht. Im Sinne der Service-Dominant Logic of Marketing (Vargo und Lusch 2008) ist die händlerseitige Bereitstellung von Interaktionsmöglichkeiten jedoch vielmehr als Nutzenversprechen zu verstehen, welches der Kunde als aktiver Mitgestalter (Ko-Kreator) des Einkaufserlebnisses annehmen kann (Robra-Bissantz und Lattemann 2017). Die Entstehung des kundenseitigen Einkaufserlebnisses ist ein individueller Prozess, der durch den Kontext des Kunden und die Interaktion mit seinem umliegenden Ökosystem geprägt wird (McColl-Kennedy et al. 2015a). Der Kunde nutzt händlerseitige Ressourcen wie eine solche Smartphone-App oder eine individuelle Beratung in Kombination mit eigenen Ressourcen wie dem Smartphone, um das individuelle Einkaufserlebnis im Sinne der Ko-Kreation aktiv zu gestalten. Somit sind digitale Kontaktpunkte als Hilfsmittel zu sehen, durch welches Händler und Kunden miteinander interagieren und durch welche der Händler aktiv an der kundenseitigen Erlebnisgestaltung mitwirken kann. Das digitale Einkaufserlebnis wird somit einerseits durch die Interaktion mit dem Händler und dessen Technologien und anderseits durch vielfältige äußere Einflüsse des persönlichen Umfelds geprägt. Aus Sicht des Händlers bieten digitale Kontaktpunkte aber nicht nur eine Grundlage für die potenzielle Realisierung der verschiedenen Erlebnisdimensionen, sondern bieten zudem neue Ausgangspunkte zur Kontaktanbahnung und Intensivierung des Kundenkontakts. Durch die digitale Präsenz kann der Kunde auf den Händler aufmerksam werden und dann entscheiden, ob und über welchen Kontaktpunkt er mit diesem digital oder in der physischen Welt interagieren möchte. In besonderem Maße relevant ist die beschriebene Erfassung des Kundenkontexts

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Struktur der Innenstädte

Kunden-Sphäre

Händler-Sphäre Ko-Kreation durch Interaktion

E i n k a ufs e r

is l ebn

Digitale Technologien

Abb. 8.2  Betrachtungssphären eines innerstädtischen Marktplatzes als mobile Plattform

und des ­Kundenverhaltens. Hierzu stellen digitale Technologien ein wertvolles Mittel dar, um individuell auf Kundenbedürfnisse einzugehen, das Einkaufserlebnis vor und im Ladengeschäft zu verbessern und insbesondere um Kunden mehr Freiheit bei der Wahl der Kontaktpunkte zu geben. Ferner können mobile Technologien dabei unterstützen, den wahrgenommenen Einkaufserlebniswerts des Kunden–zumindest in Teilen–zu erfassen damit Händler ihre angebotenen Dienste auf Basis dieser Informationen iterativ verbessern können (Durst et al. 2017).

8.4

Der innerstädtische Marktplatz als mobile Plattform

Es ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, die Dimensionen des digitalen Einkaufserlebnisses anzusprechen. Im Folgenden skizzieren wir einen möglichen Gestaltungsansatz einer händler- und kundenübergreifenden mobilen Plattform, die neue digitale Technologien einbindet und die traditionellen Stärken der Fachgeschäfte wie die persönliche Beratung und das Erleben der Produkte vor Ort um neuartige und ergänzende digitale Dienstleistungen erweitert. Diese Plattform steht dem physischen innerstädtischen Marktplatz als digitaler Kompagnon zur Seite. Es ergeben sich drei virtuelle „Sphären der Betrachtung“ (Grönroos und Voima 2013): (1) Die Sphäre der Händler, in welcher durch digitale Technologien Schnittstellen zum Kunden bereitgestellt werden. (2) Die gemeinsame Sphäre, in der Händler und Kunden direkt miteinander interagieren und in Ko-Kreation gemeinsamen Nutzen generieren und (3) die Sphäre der Kunden, in welcher der Händler keinerlei Einfluss auf die kundenseitige Wertschöpfung hat. Der Fokus der Plattform liegt auf der Auswertung der gemeinsamen Sphäre und der Ko-Kreation des Einkaufserlebnisses, denn durch die Interaktion erhält der Händler die Möglichkeit, aktiv zur Entstehung eines positiven kundenseitigen Einkaufserlebniswertes beizutragen. Abb. 8.2 zeigt die Betrachtungssphären.

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Die mobile Plattform sowie die dazugehörige App werden multilateral konzipiert, d. h. es wird die direkte Interaktion zwischen zwei oder mehreren Akteuren ermöglicht, wobei jeder Akteur Mitglied der Plattform sein muss. Die Bereitstellung und der Betrieb der Plattform und App erfolgen durch einen Dritten als Intermediär. Dies könnte z. B. eine lokale Werbegemeinschaft sein, wie sie in vielen Innenstädten gegründet wurde, um den lokalen Einzelhandel zu vernetzen und zu repräsentieren. Kunden bringen ihre Smart Devices und ihren Kontext als Ressourcen in die Wertschöpfung ein, während Händler Stamm- und Transaktionsdaten bereitstellen. Sowohl aus Händler- als auch aus Kundensicht ergeben sich mehrere funktionale Ausbaustufen, abhängig von den technischen Möglichkeiten des Händlers und der Zustimmung des Kunden zur Sammlung verhaltensbezogener Daten. Als Basisfunktionalität stellen Händler manuell Inhalte auf der Plattform ein, d. h. sie pflegen Stammdaten wie Name, Beschreibung, Öffnungszeiten, Adresse, Fotos, Kontaktmöglichkeiten und Aktionsangebote. Ähnlich eines digitalen Stadtführers können sich Kunden mithilfe der App über Geschäfte in ihrer Umgebung informieren, sich zu diesen navigieren lassen, diese bewerten und Kommentare zu den Geschäften und Aktionsangeboten hinterlassen. Hierbei sind die technischen Anforderungen an den Händler niedrig. Dennoch kann bereits ein positiver funktionaler Einkaufserlebniswert geschaffen werden. Es entsteht eine Community der Innenstadtbesucher, bei der sich diese untereinander Empfehlungen aussprechen. Wenn ein Kunde beispielsweise vom regionalen Honig eines Markthändlers begeistert ist, nimmt er ein Foto des Honigs auf und teilt dieses Foto mit der Community. Basierend auf der Idee des Social Sharing teilen Kunden ihre Erfahrungen bildlich in der App, verlinken diese mit Händlern und versehen diese mit Schlagworten. Aus den gesammelten Fotos wird fortlaufend eine virtuelle Pinnwand des direkten innerstädtischen Umfelds erzeugt. Ferner können Kunden über die Plattform Direktnachrichten an die beteiligten Händler verschicken. Als weitere Ausbaustufe binden Händler, die über ERP-Systeme bzw. WWS verfügen, diese über eine Schnittstelle an die Plattform an, um Zugriff auf Artikelund Kundenstammdaten zu schaffen. Kunden können die Produkte über die App einsehen und diese für die kurzfristige Abholung reservieren. Für die Aktualität und Qualität der Artikel- und Händlerinformationen ist trotz der Schnittstellenanbindung der jeweilige Händler verantwortlich. Der Intermediär steht hingegen hauptsächlich als fachlicher und technologischer Berater zur Seite. Er trägt dafür Sorge, den Händlern den Einstieg in die mobile Plattform durch Schulungen und direkte Unterstützung im Problemfall zu erleichtern. Neben der Plattform bietet der Intermediär zudem als hybrides Leistungsbündel vorkonfigurierte Beacons zur Nutzung an. Händler benötigen keine technischen Vorkenntnisse, denn die Beacons müssen nur an strategischen Punkten wie Eingängen oder Aktionsflächen angebracht und der genaue Standort über die Plattform zugewiesen werden. Sobald ein Kunde in den Signalbereich des Beacons eintritt, werden vordefinierte Aktionen in der App ausgelöst. Händler legen hierzu über eine intuitive Oberfläche Interaktionsregeln ­ (Ereignis-­ Bedingung-­ Aktion) nach dem „Wenn dies, tue das“Schema fest. Ereignisse umfassen standortbezogene Faktoren wie das Betreten

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eines bestimmten Bereichs, zeitbezogene Faktoren wie eine bestimmte Tageszeit oder die Aufenthaltsdauer im Geschäft sowie das Scannen von QR-Codes, welche Händler über die Plattform erzeugen können. Im Gegensatz zu Beacons, welche automatisch mit dem Smartphone kommunizieren, muss der Kunde aktiv den jeweiligen QR-Code scannen. Bedingungen steuern die Interaktionsregeln nach kontextuellen Faktoren wie der Wetterlage oder den Präferenzen des Kunden. Aktionen umfassen die allgemeine oder individuelle Ansprache des Kunden per Nachricht sowie die Weiterleitung auf vordefinierte Elemente wie Angebote innerhalb der App. Zudem dient die App als Navigationshilfe. Anhand des GPS-Signals werden Kunden durch die Innenstadt geleitet. Durch Ortung des Beacon-Signals können Kunden auch innerhalb der Geschäfte zu interessanten Punkten geführt werden. Bevor Kunden individuell angesprochen werden können, müssen diese in die Speicherung und Analyse verhaltensbezogener Daten einwilligen. Ohne Freigabe erhält der Kunde nur allgemeine Inhalte aus seiner Umgebung. Andernfalls wird aufgezeichnet, mit welchen Händlern der Kunde interagiert hat und für welche Produkte er sich interessiert. Dazu werden innerhalb der Innenstadt über Beacons und innenstadtweites W-LAN Bewegungsdaten über besuchte Geschäfte und Verweildauern erfasst. Anhand der vergleichenden Analyse des Verhaltens anderer Kunden kann die Relevanz einzelner Händler, Produkte und Angebote für den jeweiligen Kunden identifiziert werden. Somit findet eine für den Kunden unsichtbare, indirekte Interaktion mit anderen Kunden statt. Die Erfassung und Auswertung dieser Daten geschieht im Hintergrund, sodass die analytische Komplexität vor den Kunden und Händlern verborgen bleibt. Die Händler erhalten vereinfachte Kennzahlen wie die kontextuelle Relevanz oder die Wiederbesuchsrate des Kunden, welche sie dazu befähigen, Kundenverhalten zu verstehen und durch Ableitung konkreter Maßnahmen angemessen darauf zu reagieren. Beispielsweise können häufig wiederkehrenden Kunden beim Betreten des Geschäfts individuelle Angebote und Preisnachlässe unterbreitet werden. Ferner können Kunden Willkommensangebote für bisher nicht besuchte aber als relevant ermittelte Geschäfte in der Umgebung unterbreitet werden. Mit der Zeit verbessert sich die Qualität der Verhaltensanalyse durch Informationen darüber, welche individuellen Nachrichten aufgerufen und welche individuellen Angebote tatsächlich eingelöst werden. Zu guter Letzt können Händler kooperativ Cross-Promotionen anlegen. Hierbei werden Kunden, die mit dem einen Händler interagiert haben, Angebote des anderen Händlers unterbreitet und vice versa. Fasst man den Funktionsumfang des digitalen Marktplatzes zusammen, werden sowohl Kunden als auch Händler zu Informationsproduzenten und -konsumenten im Sinne der Ko-Kreation.

8.5

Zusammenfassung und Ausblick

Dieser Beitrag diskutiert ein abstraktes Konzept für einen digitalen Marktplatz, welcher es kleinen und mittelständischen Händlern gemeinsam erlaubt, neue digitale Technologien einzusetzen, um die Kundeninteraktion weiterzuentwickeln. Das Ziel für die Händler: Die Kundenkommunikation soll auf zusätzliche Kanäle ausgedehnt

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und ein unmittelbarer Kundenzugang über digitale Kanäle langfristig gesichert werden. Darüber hinaus ermöglicht die Auswertung kundenbezogener Daten die Identifikation händlerübergreifender Bewegungsströme und Verhaltensweisen, aus denen sich Gestaltungsempfehlungen für Händler und Städteplaner ableiten lassen. Auf dem Weg zur Umsetzung eines solchen digitalen Marktplatzes müssen zahlreiche ökonomische und technologische Fragestellungen untersucht werden. Ökonomische Studien können beleuchten, inwiefern die Ko-Kreation von digitalen Einkaufserlebnissen tatsächlich zu einem hohen kundeseitig wahrgenommenen Einkaufserlebniswert führt. Ferner ist zu analysieren, in welchem Ausmaß der Einkaufserlebniswert weitere ökonomisch relevante Verhaltensabsichten wie Kaufund Zahlungsbereitschaft beeinflusst. Darüber hinaus benötigt der Marktplatz ein Geschäftsmodell zur Deckung der Kosten von Entwicklung und laufendem Betrieb. Neben direkten Gebühren für teilnehmende Händler ergeben sich potenzielle Einnahmequellen aus Beratungs- und Schulungsleistungen sowie den zusätzlichen Zahlungsbereitschaften und dem Verkauf anonymisierter Bewegungsdaten. Aus einer technologischen Perspektive ist eine Bewertung verschiedener Technologiekomponenten und Gestaltungsparameter im Hinblick auf die funktionale Eignung erforderlich. Alternative Komponenten unterscheiden sich hinsichtlich des Funktionsumfangs, der Kosten und der Kompatibilität mit der Gesamtarchitektur. Dieser funktionalen Betrachtung muss eine Kundenakzeptanzanalyse zur Seite gestellt werden. Eine Vernetzungsperspektive würdigt, dass es sich bei dem digitalen Marktplatz um ein hochgradig kooperatives Szenario handelt, welches die Zusammenarbeit vieler lokaler Akteure erfordert. Der Ansatz lebt von der Anzahl der beteiligten Händler und Kunden sowie der Anbindung an eine „innerstädtische Dateninfrastruktur“, welche komplexe Fragen hinsichtlich der Machbarkeit aufwirft. Neben der direkten Unterstützung durch den Intermediär bedarf es zentraler lokaler Ansprechpartner, die durch innerstädtische Organe wie dem Stadtmarketing, Werbegemeinschaften oder Verbände gestellt werden und die Lösung gegenüber Händlern und Kunden vermarkten. Zuletzt ist der digitale Marktplatz nicht in sich abgeschlossen, sondern sollte mit bestehenden Ökosystemen des Handels sowie der Internetwirtschaft vernetzt werden. Trotz vielfältiger Herausforderungen sind wir der Auffassung, dass der digitale innerstädtische Marktplatz realisiert werden und Beiträge dazu leisten kann, ein digitales Einkaufserlebnis zur Stütze der gesellschaftlich geschätzten, aber durch den Online-Handel herausgeforderten, „Einkaufserlebnis Innenstadt“ zu generieren. Danksagung  Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Forschungs- und Entwicklungsprojekts „smartmarket2 – Interaktive Einkaufserlebnisse in Innenstädten durch digitale Dienstleistungen“ (Förderkennzeichen: 02K15A070 bis -074). Das Projekt wird mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Programm „Innovationen für die Produktion, Dienstleistung und Arbeit von morgen“ gefördert und vom Projektträger Karlsruhe (PTKA) betreut, wofür sich die Autoren bedanken.

8  Interaktive, digitale Einkaufserlebnisse in Innenstädten

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Gestaltungsprinzipien für mobile, kontextbezogene Dienste zur Ko-­ Kreation digitaler Einkaufserlebnisse im Einzelhandel Jan H. Betzing, Daniel Beverungen und Jörg Becker

Zusammenfassung

Interaktive Einkaufserlebnisse können positiv zur Wahrnehmung des Einzelhandels aus Sicht der Kunden beitragen und bei konsequentem Management durch Händler deren Wettbewerbsposition gegenüber dem Online-Handel stärken. Das in der Forschung etablierte Konstrukt „Einkaufserlebnis“ im Einzelhandel umfasst verschiedene Determinanten und Moderatoren, vernachlässigt in seiner aktuellen Form jedoch das Transformationspotenzial digitaler und mobiler Technologien, welche neuartige personalisierte und kontextbezogene Dienstleistungen ermöglichen. Dieser Artikel diskutiert Aspekte der bestehenden Einkaufserlebnistheorie vor dem Hintergrund der digitalen Transformation der Kundenschnittstelle und trägt zur Konzeptualisierung digitaler Einkaufserlebnisse bei. Darauf aufbauend werden acht Gestaltungsprinzipien für IT-Artefakte abgeleitet, welche die Ko-Kreation digitaler Einkaufserlebnisse im innerstädtischen Einzelhandel ermöglichen können. Schlüsselwörter

Digitales Einkaufserlebnis · Standortbezogene Dienstleistung · Kontextbezogene Dienstleistung · Ko-Kreation · Innerstätischer Einzelhandel · ­Gestaltungsprinzipien

Aus dem Englischen übersetzter und überarbeiteter Beitrag basierend auf Betzing et  al. (2018) Design Principles for Co-Creating Digital Customer Experience in High Street Retail, Multikonferenz Wirtschaftsinformatik (MKWI 2018), Lüneburg, Deutschland, 2083–2094. J. H. Betzing (*) · J. Becker Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] D. Beverungen Universität Paderborn, Paderborn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Robra-Bissantz, C. Lattemann (Hrsg.), Digital Customer Experience, Edition HMD, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1_9

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9.1

J. H. Betzing et al.

Motivation

Wie im vorherigen Kap. 8 aufgezeigt, steht der innerstädtische Einzelhandel vielerorts vor großen Herausforderungen. Wo Stadtzentren mit ihren Einkaufsstraßen, Märkten und Plätzen über Jahrhunderte hinweg lebendige Orte zum Einkauf, sozialen Austausch, für kulturelle Veranstaltungen und Schaufensterbummel gewesen sind, zeigen sich nicht nur in ländlichen Regionen erste Zeichen einer Erosion dieser etablierten Strukturen (Meier et al. 2017). Der demografische Wandel, die Digitalisierung der Gesellschaft und ein verändertes Einkaufsverhalten der Kunden haben dazu geführt, dass diese sich zunehmend digitalen Vertriebskanälen zuwenden, was zu Umsatzeinbußen insbesondere bei kleinen und mittelständischen Einzelhändlern und Fachgeschäften führt. Eine Studie des Instituts für Handelsforschung Köln prognostiziert für Deutschland, dass bis 2020 mehr als zehn Prozent der Ladengeschäfte geschlossen werden (Eichholz-Klein et al. 2015). Dabei wird für einzelne Städte und Landkreise eine durchschnittliche Abnahme des Umsatzes zwischen 2014 und 2020 von mehr als 30 % prognostiziert. Darüber hinaus greift der Online-Handel den innerstädtischen Einzelhandel nicht mehr nur durch günstigere Preise an. In der Vergangenheit hat der Online-­ Handel insbesondere utilitären Nutzen durch eine durchgehende Verfügbarkeit des Shops, direkte Lieferung bis an die Haustüre sowie vielfältige Zahlungsmöglichkeiten gestiftet. Inzwischen versuchen Online-Händler, die persönliche Beratung und weitere Vorteile des stationären Handels auch digital abzubilden und legen einen Fokus auf die Erfüllung hedonistischer Kundenbedürfnisse (Tynan et  al. 2014). Online-­Modemagazine (z.  B. NET-A-PORTER), der persönliche Video-Chat mit Beratern (z. B. Butlers) und die persönliche Stilberatung (z. B. Stilight) sind nur einige Beispiele, in denen Online-Händler direkt mit Kunden interagieren und digitale Einkaufserlebnisse schaffen. Zudem können Online-Händler ohne großen Aufwand kontextuelle, verhaltensbezogene Informationen über ihre Kunden aufzeichnen und analysieren, um kundenspezifische Empfehlungen oder Angebote auszusprechen (Spann et al. 2013). Im stationären Handel bleibt der Kunde dagegen bisher meist anonym. Heutzutage tragen Kunden beim Besuch der Innenstadt eine Vielzahl intelligenter mobiler Geräte, sogenannter Smart Devices, bei sich. In Verbindung mit weiteren digitalen Technologien, welche wir im vorherigen Kap. 8 vorgestellt haben, ergeben sich auch für stationäre Händler große Potenziale für die Bereitstellung personalisierter Dienstleistungen und die digitale Kundenansprache. Smart Devices sind üblicherweise mit dem Internet verbunden und können mit den Systemen des Händlers vernetzt werden. Über diesen digitalen Kanal können Kunden dem Händler kontextuelle Informationen über ihren Standort, ihre Identität und ihre Präferenzen zur Verfügung stellen, welche dieser in einer Ko-Kreation zur personalisierten Dienstleistungserbringung nutzen kann (Bauer und Spiekermann 2011; Glushko 2016; Wieland et al. 2017). Mobile, kontextbezogene Dienstleistungen können so die Ko-Kreation digitaler Einkaufserlebnisse im Ladengeschäft ermöglichen und für Händler einen Beitrag dazu leisten, die Erwartungen ihrer „digitalen Kunden“ besser zu erfüllen (Brynjolfsson et al. 2013).

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Trotz der immensen Bedeutung für den innerstädtischen Einzelhandel (und zu Teilen auch für den Online-Handel) wird das transformative Potenzial kundenseitiger mobiler Technologien zur Ko-Kreation von Einkaufserlebnissen in bestehenden theoretischen Konstrukten und Modellen nicht hinreichend betrachtet. Die Beiträge dieses Herausgeberbands tragen zu einem gemeinsamen Verständnis von Digital Customer Experience (dem digitalen Einkaufserlebnis) in Theorie und Praxis bei. Während wir im vorangegangenen Kap. 8 einen Gestaltungsansatz beschrieben haben, wie Händler gemeinsam eine digitale Plattform zur Schaffung interaktiver Einkaufserlebnisse in Innenstädten bereitstellen können, leistet dieses Kapitel einen Beitrag zur Aktualisierung der wissenschaftlichen Einkaufserlebnistheorie. Auf Basis des etablierten konzeptuellen Modells zur Entstehung von Einkaufserlebnissen im Einzelhandel von Verhoef et al. (2009) diskutiert und konzeptualisiert dieser Beitrag, wie intelligente mobile Technologien und kontextuelle Informationen über Kunden zur Entstehung digitaler Einkaufserlebnisse beitragen können. Ein weiteres Ziel ist es, Gestaltungsprinzipien für IT-Artefakte abzuleiten, welche die Ko-­Kreation digitaler Einkaufserlebnisse zwischen Händlern und Kunden im innerstätischen Einzelhandel ermöglichen können. Wie auch andere wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit der Identifizierung von Gestaltungsprinzipien beschäftigen, ist dieser Beitrag konzeptioneller Natur (Chaturvedi et al. 2011). Die Autoren dieses und des vorherigen Kapitels sind an dem BMBF-geförderten Verbundforschungsprojekt smartmarket2 beteiligt, welches interdisziplinär Mehrwertdienste und IT-Artefakte zur Stärkung des innerstädtischen Einzelhandels entwickelt. Dem Prozess der Design-Science-Research-Methode folgend (Hevner und Chatterjee 2010; Peffers et al. 2007), greifen wir im Folgenden auf die wissenschaftliche Literatur zurück, um Gestaltungsprinzipien als theoretische Grundlage für die nachgelagerte praxisbegleitende Entwicklung von IT-Artefakten abzuleiten. Diese Prinzipien können Händler und Dienstleister bei der Gestaltung digitaler innerstätischer Dienstleistungen zur Ko-Kreation von Einkaufserlebnissen unterstützen und anleiten.

9.2

Theoretische Grundlagen

Das Konzept Einkaufserlebnis umfasst jegliche sensorische, kognitive, physische, affektive und soziale Reaktion eines Kunden auf seine Erfahrungen mit dem Unternehmen und anderen Akteuren während der sogenannten Customer Journey (Lemon und Verhoef 2016; Leischnig et al. 2012). Verhoef et al. (2009) definieren das Einkaufserlebnis im Einzelhandel als ein mehrdimensionales Konstrukt, welches sie in einem ganzheitlichen konzeptionellen Modell zusammenfassen. Als unabhängige Variablen, die sich auf das Einkaufserlebnis auswirken, werden das soziale Umfeld, die Kundenkontaktpunkte, die Atmosphäre im Geschäft, das Produktsortiment, der Preis, frühere Erfahrungen mit dem Unternehmen sowie das Einkaufserlebnis in anderen Kanälen identifiziert (Verhoef et al. 2009, S 32). Situative Faktoren (z. B. Art des Geschäfts, Standort und Saison) und die kundenindividuelle Einstellung (z. B. hedonistisch oder utilitaristisch) moderieren die Auswirkungen der unabhängigen Variablen auf das individuelle Einkaufserlebnis (Verhoef et al. 2009).

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Obwohl der Terminus Kontext in dem konzeptionellen Modell nicht explizit genannt wird, charakterisieren sowohl Informationen über die situativen Faktoren als auch kundenindividuelle Einstellungen die Situation, in der ein Einkaufserlebnis entsteht. In Anlehnung an Dey und Abowd (1999) bezeichnet der Terminus Kontext „jegliche Information, die zur Charakterisierung der Situation einer Entität verwendet werden kann. Eine Entität ist eine Person, ein Ort oder ein Objekt, welches für die Interaktion zwischen einem Benutzer und einer Anwendung relevant ist. Dies schließt den Benutzer und die Anwendung selbst mit ein“ (Dey und Abowd 1999, S 3, eigene Übersetzung). Folglich können kontextuelle Informationen über Kunden den Einzelhändlern Erkenntnisse liefern, die die Ko-Kreation von personalisierten Einkaufserlebnissen unterstützen (Bauer und Spiekermann 2011). Aus Sicht der Dienstleistungsforschung und der Service-Dominant Logic of Marketing (siehe Kap. 1 dieses Buches) sind kontextuelle Informationen über den Kunden eine Ressource (oder Kompetenz) des Kunden. Es ergibt sich ein Dienstleistungssystem, in dem der Kunde seine eigenen Ressourcen gemeinsam mit den Ressourcen des Händlers nutzt, um in einem Austausch – der Ko-Kreation – Wert zu generieren (Robra-Bissantz und Lattemann 2017; Vargo und Lusch 2017). Konkret kann ein Kunde über Smart Devices einem Händler kontextuelle Informationen bereitstellen, welcher dieser mithilfe weiterer Technologien erfasst und daraufhin die Erbringung seiner Dienstleistungen personalisiert. Die Service­Dominant Logic of Marketing unterscheidet dabei zwei Arten von Werten eines Pro­ dukts oder einer Dienstleistung. Zum einen entsteht ein Nutzwert (value in use), welcher sich über die Customer Journey hinaus durch die langfristige Nutzung des Produkts oder (die Folgen) einer erbrachten Dienstleistung ergibt. Zum anderen entsteht aus der Interaktion des Kunden mit anderen Akteuren ein interaktionsbezogener Wertbeitrag, ein „value in interaction“, welcher maßgeblich zum Einkaufserlebnis beiträgt (Robra-­Bissantz und Lattemann 2017). In Anlehnung an Dey und Abowd (1999) wird ein Dienstleistungssystem als kontextadaptiv verstanden, „wenn es kontextuelle Informationen verwendet, um dem Benutzer relevante Informationen und/oder Dienste zur Verfügung zu stellen“ (Dey und Abowd 1999, S 6, eigene Übersetzung), wobei die Relevanz von den situativen Bedürfnissen des Benutzers abhängt und sich das Dienstleistungssystem an den Kontext der jeweiligen Akteure dynamisch anpasst. Smart Devices der Kunden und zugehörige Informationssysteme der Händler bilden die technologische Grundlage für die Identifizierung und Nutzung kontextueller Informationen, die zur Schaffung eines digitalen Einkaufserlebnisses benötigt werden. Händler können aus einer Vielzahl digitaler Technologien wählen (siehe Kap. 8; Betzing et al. 2018), um kontextuelle Informationen des Kunden im Geschäft und aus anderen Kanälen zu erfassen. Auf Basis dieser Informationen können digitale Dienste in die physische Umgebung des Ladengeschäftes integriert und weiterentwickelt werden, welche bisher ausschließlich dem Online-Handel vorbehalten waren.

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9.3

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 er Einfluss mobiler Technologien auf die Entstehung D digitaler Einkaufserlebnisse im Einzelhandel

Durch die Kombination der Vorteile des Online-Handels (z. B. Produktinformationen, Bewertungen, Empfehlungen) mit denen des stationären Einzelhandels (z. B. sofortige Produktverfügbarkeit, haptische und visuelle Inspektion des Produktangebots, persönliche Beratung) in kontextadaptiven Dienstleistungssystemen entsteht ein neues Verständnis des Einkaufserlebniskonstrukts. Das digitale Einkaufserlebnis sei definiert als diejenige Teilmenge des Einkaufserlebnisses, die durch digitale Kontaktpunkte realisiert wird. Es erstreckt sich entlang aller Kundenkontaktpunkte bei denen digitale und mobile Technologien zum Einsatz kommen (Payne et al. 2008). Im Folgenden greifen wir das konzeptuelle Einkaufserlebnismodell von Verhoef et  al. (2009) auf und reflektieren dieses unter Berücksichtigung der durch mobile Technologien bereitgestellten Interaktionsmöglichkeiten und der erfassbaren kontextuellen Informationen des Kunden. Im Hinblick auf die unabhängigen Variablen und Moderatoren des Einkaufserlebnisses werden acht Beobachtungen festgehalten, wie mobile Technologien und digitale kontextuelle Informationen die Entstehung digitaler Einkaufserlebnisse im Einzelhandel ermöglichen. Somit wird der Begriff des digitalen Einkaufserlebnisses im Einzelhandel durch eine Aktualisierung der vorhandenen Literatur konzeptualisiert (Lemon und Verhoef 2016; Verhoef et al. 2009). Person-zu-Person Interaktionen erzeugen Wert durch zwischenmenschliche Handlungen (Glushko 2016). Filialmitarbeiter, andere Kunden im Ladengeschäft und die eigenen Bezugspersonen (Tauber 1972) bilden das soziale Umfeld,1 in dem das Einkaufserlebnis entsteht (Verhoef et al. 2009). Dieses wird durch die Interaktion des Kunden mit dem Ladenpersonal und anderen Kunden beeinflusst, selbst wenn nicht alle diese Personen physisch im Geschäft anwesend sind, sondern sich zum Beispiel zu Hause (im Hintergrund des Dienstleistungssystems) aufhalten (Payne et al. 2008). Durch mobile Technologien wie Smartphones erreichen Kunden ein viel größeres soziales Umfeld. Zum einen können Kunden im Geschäft online gehen, um auf nutzergenerierte Online-Rezensionen und Online-Communities zuzugreifen (Heinemann und Gaiser 2015). Zum anderen können Kunden per Text-, Sprach- oder Videonachricht auf die Meinung und Empfehlungen ihrer Familie, Freunde und Bekannten zurückgreifen, die während des Einkaufs im stationären Geschäft nicht vor Ort sind. Auch wenn sich Kunden bei ihren Kaufentscheidungen primär von Ihrem eigenen Wertesystem leiten lassen, gehen wir davon aus, dass das Wertesystem der eigenen Bezugsgruppe die Kaufentscheidung subjektiv beeinflussen kann. Mit der Möglichkeit, sich mit Familie und Freunden digital im Geschäft auszutauschen, steigt der Einfluss des sozialen Umfelds. Beispielsweise kann durch die digitale Rückfrage bei Familienmitgliedern, ob man beispielsweise eine Jeans kaufen solle, ein unmittelbarer Effekt auf die Kaufentscheidung ausgelöst werden,

 Unabhängige Variablen und Moderatoren des Einkaufserlebnismodells sind kursiv hervorgehoben.

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welcher über das Gefühl des Kunden hinausgeht, ob der Kauf dieser Jeans mit dem Wertesystem der Familie d’accord ist (oder aber bewusst von diesem abweicht). Zusammenfassend lässt sich erkennen, dass das soziale Umfeld eines Kunden ein entscheidender Faktor für die Entstehung von Einkaufserlebnissen ist (Verhoef et al. 2009) und dass mobile Technologien die Möglichkeit bieten, auch das erweiterte digitale soziale Umfeld eines Kunden in den Kaufprozess mit einzubeziehen. ▶▶

Beobachtung 1.  Mobile Technologien ermöglichen es Kunden, sich mit ihren sozialen Bezugsgruppen und mit Bekannten und Fremden in Online-Communities zu verbinden, auch wenn diese Menschen nicht physisch im selben Ladengeschäft anwesend sind.

Mobile Technologien verändern bestehende und schaffen neue Kundenkontaktpunkte. Insbesondere steigt der Grad der Personalisierung von Interaktionen zwischen Kunden und Händlern (Kowatsch und Maass 2010). Potenziale zur Entstehung kundenseitiger Einkaufserlebnisse ergeben sich unter anderem aus der Identifikation des Kunden und seines Standorts im Geschäft, durch digitale Kundenansprache auch außerhalb des Ladengeschäfts, durch die Erfassung von Kundenverhalten und durch die automatische Interaktion mit händlerseitigen digitalen Technologien im Ladengeschäft (Frontoni et al. 2013; Inman und Nikolova 2017; Ravnik et  al. 2014). Dabei gesammelte kontextbezogene Informationen über den Kunden können mit soziodemografischen Informationen kombiniert werden. Wenn der Kunde über verschiedene Kanäle hinweg identifiziert werden kann, können Informationen über Interaktionen in anderen Kanälen sowie die Einkaufshistorie des Kunden in Hintergrundprozessen ausgewertet werden. Diese Prozesse verwenden Techniken, die auch im Customer-Relationship-Management, in der Datenanalyse und in Empfehlungssystemen zum Einsatz kommen (Kowatsch und Maass 2010; Walter et al. 2012). Kunden können personalisierte Inhalte wie Empfehlungen oder persönliche Sonderangebote direkt auf ihren Smart Devices empfangen. Gleichzeitig kann das Ladenpersonal beispielsweise über Tablets verhaltensbezogene Informationen über die Kunden erhalten und damit ihre Kundenansprache besser auf die Bedürfnisse der einzelnen Kunden abstimmen. Auf der anderen Seite können Kunden Produktbewertungen und Preise online einsehen, ohne dass der Händler Einfluss darauf hat. Dementsprechend müssen die Einzelhändler die unterschiedlichen Einflüsse mobiler Technologien auf das Verhalten der Kunden im Ladengeschäft berücksichtigen. ▶▶

Beobachtung 2.  Mobile Technologien ermöglichen digitalisierte und personalisierte Interaktionen zwischen Kunden und Ladenpersonal, welche durch Datenanalyse in Hintergrundprozessen unterstützt werden.

Digitale Technologien verändern die Atmosphäre im Geschäft. Zum einen können Kunden Aufgaben des Ladenpersonals mithilfe von Smart Devices, Infoterminals und Selbstbedienungskassen selbst übernehmen. Zum anderen können Technologien

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wie digitale Beschilderung automatisch auf identifizierte Kunden reagieren und eine interaktive Sitzung mit dem Kunden und seinen Geräten initiieren (Frontoni et al. 2013; Lazaris und Vrechopoulos 2014). Audio-visuelle Installationen können einzelne Produkte hervorheben und die Kunden bei der Navigation u­ nterstützen. Während der Kundenkontakt primär in den physischen Grenzen des Ladengeschäfts stattfindet, ermöglichen es mobile Technologien den Händlern, ihre Reichweite auf den öffentlichen Raum außerhalb ihrer Geschäfte zu erweitern (Shankar et al. 2016). Mithilfe von standortbezogenen Diensten können Kunden in der Nähe des Geschäfts personalisierte Angebote auf ihren mobilen Endgeräten erhalten, die etwa ihre Loyalität belohnen und sie in die Läden locken. Innerhalb eines Geschäfts können mobile Technologien zudem die physische Umgebung um virtuelle Räume erweitern. ▶▶

Beobachtung 3.  Mobile Technologien ergänzen die physische Umgebung des Ladengeschäfts um virtuelle Umgebungen. Durch standortbezogene Dienste erweitern sich Dienstleistungssysteme in den öffentlichen Raum, jenseits der physischen Grenzen des Ladengeschäfts.

Der Online-Handel profitiert von geringen Grenzkosten für Lagerflächen, wodurch „Long-Tail“-Geschäftsmodelle ermöglicht werden, bei denen das verfügbare Produktsortiment die Auswahl stationärer Geschäfte bei weitem übersteigt (Hinz et al. 2011). Die Kunden schätzen die Produktvielfalt und das umfangreiche Sortiment, können aber im Produktauswahlprozess bei der Wahl zwischen einzelnen Produktalternativen überfordert sein (Hinz et al. 2011). Online-Shops unterstützen Produktfindungs- und Produktauswahlprozesse, indem sie fortschrittliche Suchtechnologien und -empfehlungen bereitstellen. Darüber hinaus bündeln und integrieren Online-Marktplätze wie Amazon oder eBay die Produktangebote vieler Online-­ Händler und erweitern so ihre eigenen Sortimente (Brynjolfsson et al. 2011). Wie im vorherigen Kap.  8 ausgeführt, ermöglichen es digitale Technologien, das Konzept des Online-Marktplatzes auch auf den physischen innerstädtischen Einzelhandel und einzelne Quartiere zu übertragen. Wenn Informationen über die Sortimente lokaler Einzelhändler digital verfügbar sind, können Gruppen lokaler Einzelhändler ihre Bestandsdaten auf digitalen innerstädtischen Marktplätzen zusammenfassen, die als gemeinsamer digitaler Kanal für alle angeschlossenen Geschäfte dienen. So erhalten Kunden in innerstätischen Quartieren Zugang zu einem umfangreichen Sortiment in unmittelbarer räumlicher Nähe. Hierbei werden die Vorteile von Online-Marktplätzen (großes Sortiment, fortschrittliche Suchtechnologien) und stationären Ladengeschäften (sofortige Produktverfügbarkeit, haptische und visuelle Inspektion des Produktsortiments) kombiniert. Auf der Grundlage gemeinsamer Bestandsdaten könnten Einzelhändler sogar Produkte anderer lokaler Einzelhändler auf Provisionsbasis empfehlen und Cross-Selling-Effekte erzeugen. Beispielsweise kann ein Verkäufer einem Kunden zu einem gekauften Anzug passende Schuhe aus einem nahegelegenen Geschäft empfehlen, indem er einen Produktlink auf das Smartphone des Kunden schickt. Darüber hinaus können

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Einzelhändler, die an solche digitalen Marktplätze angeschlossen sind, kombinierte Angebote, sogenannte Cross-Promotions, anbieten. In Bezug auf das vorherige Beispiel könnte der Verkäufer dem Anzugkunden einen digitalen 20  %-Rabattgutschein für Schuhe des kooperierenden nahegelegenen Geschäfts ausgeben. Ferner kann die Frustration der Kunden, welche durch Fehlbestände im Lager und vergriffenen Artikeln entsteht, entschärft werden, wenn Einzelhändler Kunden an nahe gelegene Geschäfte verweisen können, die das gewünschte Produkt auf Lager haben. ­Schließlich können hybride Offline-Online-Angebote wie z.  B. „digitale Regalflächen“ das Problem der begrenzten physischen Regalfläche entschärfen. Das heißt, während im Ladengeschäft die beliebtesten Artikel vorrätig sind, kann der Kunde digital auf ein erweitertes Produktsortiment zugreifen, das in einem entfernten Lagerhaus vorrätig ist (Glushko 2016). Produkte aus diesem erweiterten Sortiment können direkt zum Kunden nach Hause geliefert werden. ▶▶

Beobachtung 4.  Digitale Technologien ermöglichen es Gruppen von Händlern, ihre Sortimente zu übergreifenden Sortimenten in digitalen innerstädtischen Marktplätzen zusammenzufassen. Außerdem können Händler integrierte Offline-­Online-­Sortimente aufbauen.

Stationäre Einzelhändler sehen sich gegenüber dem Online-Handel höheren Kosten für Miete, Personal und Werbung ausgesetzt, wodurch der Online-Handel mit niedrigeren Preisen kalkulieren kann (Hinz et al. 2011). Diesen Preiskampf kann der stationäre Einzelhandel schwerlich gewinnen. Basierend auf mobilen Technologien können Einzelhändler jedoch unterschiedliche Kundensegmente identifizieren und kontextbezogene Informationen auf Ebene des einzelnen Kunden zur Preisdifferenzierung nutzen (z.  B.  Rabatte und personalisierte Angebote für treue Kunden) (Hamka et al. 2014). Beispielsweise misst Foursquare, ein Anbieter standortbasierter Dienste, die Loyalität von Kunden durch „Check-Ins“, d. h. es wird aufgezeichnet, wie oft ein Kunde aktiv einen Ort besucht hat und online auf seinem mobilen Endgerät eingecheckt hat. Ferner können Kunden Platz im Portemonnaie sparen, wenn herkömmliche code- oder funkbasierte Kundenkarten durch ein digitales Äquivalent auf Smart Devices ersetzt werden (Dahlberg et  al. 2015), welche mit NFC-Technologie ausgestattet sind und so die Kunden als Mitglieder des Loyalitätsprogramms identifizieren. ▶▶

Beobachtung 5.  Mobile Technologien ermöglichen eine Preisdifferenzierung innerhalb der Gruppe identifizierter Kunden sowie die Implementierung von Loyalitätsprogrammen auf hoher Detaillierungsebene.

Bei der Auswertung früherer Kontakte mit dem Kunden fällt der stationäre Einzelhandel zum jetzigen Zeitpunkt aus zwei Gründen hinter den Online-Handel zurück. Zum einen werden Kundenkontakte zumeist nicht dokumentiert. Ebenso geben Kunden selten ein mündliches Feedback zu ihren Erfahrungen ab. So wissen die Händler nicht, wie zufrieden die Kunden bei früheren Kontakten mit dem

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Unternehmen gewesen sind und entsprechend fehlt ihnen Wissen über die Qualität ihrer Dienstleistung und ihrer Wertschöpfungsbeiträge für den Kunden. Abgesehen von Händlern, die mithilfe von Loyalitätsprogrammen ihre Kunden identifizieren oder ihre Kunden persönlich kennen, bleiben die Kunden für die meisten stationären Händler anonym (Glushko 2016). Diese Anonymität verhindert es, die bisherigen Einkaufserlebnisse der Kunden zu erkennen und in zukünftigen Kontakten zu berücksichtigen (Lemon und Verhoef 2016; Meyer und Schwager 2007). Mit mobilen Technologien können Einzelhändler Kunden identifizieren und in Hintergrundprozessen mit dessen digitaler Identität und auf Online-Portalen geäußerten Erfahrungen verknüpfen. So können Einzelhändler auf schlechte Kunden­ erfahrungen der Vergangenheit reagieren, ihre Dienstleistungserbringung verbessern, und die Kundenbindung stärken. Darüber hinaus können Händler auch auf Erfahrungen ­zurückgreifen, die ihre Kunden in anderen Geschäften oder mit Online-Händlern gemacht haben. ▶▶

Beobachtung 6.  Mobile Technologien ermöglichen eine gezieltere Pflege der Kundenbindung, basierend auf der Identifizierung von Kunden und der Auswertung ihrer bisherigen Einkaufserlebnisse im stationären Ladengeschäft und im Online-­Handel.

Kunden beschränken sich heutzutage nicht mehr nur auf einen Kanal, sondern wählen im Laufe der Customer Journey mehrere Kanäle zur Interaktion mit einem Händler, d. h. der Kaufprozess erstreckt sich über Online- und Offline-Kanäle und besteht sowohl aus persönlichen als auch rein digitalen Interaktionen mit dem Händler und dessen IT-Systemen (Verhoef et al. 2015). Damit der Händler ein ganzheitliches Bild des Kunden erhält und personalisierte Dienste erbringen kann, ist eine umfassende Integration der Informationsflüsse zwischen den verschiedenen Kanälen notwendig (Meyer und Schwager 2007; Glushko 2016). Es bedarf der konsequenten Identifikation des Kunden an allen Kundenkontaktpunkten und über verschiedene Kanäle hinweg, damit Omni-Channel-Handel im Allgemeinen und die Integration digitaler und mobiler Technologien in bestehende Dienstleistungssysteme des stationären Handels im Besonderen möglich werden. Zwar kann sich der Kunde im persönlichen Kontakt mündlich oder durch Vorzeigen einer Kundenkarte identifizieren, sodass das Ladenpersonal ein eventuell vorhandenes Kundenprofil aufrufen kann. Jedoch benötigt dies ein aktives Zutun des Kunden. Mithilfe mobiler und digitaler Technologien kann beim Betreten des Geschäfts ohne weiteres Zutun eine automatische Maschine-zu-Maschine Kommunikation initiiert werden, bei welcher die IT-Systeme des Händlers automatisch mit den Smart Devices des Kunden kommunizieren (Inman und Nikolova 2017; Shankar et al. 2016). Damit der Kunde persönlich identifiziert werden kann, müssen die Geräte des Kunden mit einem zentralen, durch den Händler oder eine Drittpartei verwalteten Konto verknüpft werden. Beispielsweise kann eine Verknüpfung erfolgen, wenn der Kunde eine mobile App des Händlers auf seinem Smartphone installiert und sich mit seinem Benutzernamen anmeldet. Ein personalisiertes digitales Einkaufserlebnis erfordert die

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Identifikation des Kunden und Integration seiner Informationen über alle Kontaktpunkte hinweg (Lazaris und Vrechopoulos 2014), was mit Hilfe mobiler Technologien möglich wird. Mit Omni-Channel-Strategien (Verhoef et  al. 2015) kann der Online-Kanal das Einkaufen im Ladengeschäft durch digitale Dienste unterstützen. ▶▶

Beobachtung 7.  Mobile Technologien ermöglichen es Einzelhändlern, Kunden an allen Kontaktpunkten zu identifizieren und Omni-Channel-Strategien zu implementieren.

Mit der Verbreitung mobiler Technologien werden situative Faktoren und kundenindividuelle Einstellungen als digitale Kontextinformationen messbar. Zu den kontextuellen Informationen, die durch mobile Technologien erfasst werden können, gehören Informationen über den Träger der Geräte, über die Standorte der Geräte und über die Entfernung der Person/den Geräten zu anderen Personen/Geräten (Bauer und Spiekermann 2011). Mit diesen Daten können Einzelhändler völlig neue datengetriebene Dienstleistungen implementieren. Beispielsweise können kundenseitige Bewegungsdaten analysiert werden, um Laufwege innerhalb des ­Ladengeschäfts aber auch über Händler hinweg zu erkennen. Ferner können auf der Ebene der Innenstadt Rückschlüsse auf Personengruppen und Käufertypen gezogen werden. Eine solche Analyse ist gewöhnlich in physischen Umgebungen nur mit hohem Aufwand (z. B. mittels Personenzählung und Befragung) möglich, während sie im Online-Handel ohne hohe technische Anforderungen seit vielen Jahren eingesetzt wird. Die Nutzung und händlerseitige Analyse kontextueller Informationen ist an die Bereitschaft der Kunden gebunden, ihre Daten anderen Akteuren zur Verfügung zu stellen. Die Literatur zeigt, dass Kunden bei der Abwägung, ob sie private Daten he­ rausgeben, einen schmalen Grat zwischen erwartetem Nutzen durch Mehrwertdienste und Bedenken bezüglich Datenmissbrauchs ziehen (Acquisti et al. 2015). Die seit Mai 2018 gültige EU-Datenschutz-Grundverordnung zielt darauf ab, durch erhöhte Transparenzvorschriften versteckten Datenmissbrauch zu verringern. Sie verpflichtet Dienstanbieter, die Nutzer über den Zweck und die Modalitäten der Verarbeitung personenbezogener Daten zu informieren, bevor die Daten erhoben und verarbeitet werden (Europäische Union 2016). Frühere Untersuchungen haben bestätigt, dass Kunden eher dazu bereit sind, kontextbezogene Informationen zur Verfügung zu stellen, wenn sie umfassend über das Verhalten der App bezüglich der Datenerhebung, -verarbeitung und -weitergabe an Dritte informiert wurden (Schaub et al. 2015). Dementsprechend gilt es, Kunden in einer klaren und eindeutigen Darstellung darüber zu informieren, warum sensible Informationen benötigt werden und welchen Nutzen sie daraus ziehen können, damit diese eine informierte Einwilligung erteilen können. ▶▶

Beobachtung 8.  Unter der Voraussetzung, dass ein hohes Maß an Datensicherheit und Datenschutz eingehalten wird, können mobile Technologien situative Faktoren und kundenindividuelle Einstellungen erfassen, welche Einfluss auf das Einkaufserlebnis haben. Somit können Einzelhändler ihre Dienstleistungen personalisieren und das Verhalten von Kunden und Kundengruppen in Innenstädten analysieren.

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 estaltungsprinzipien für mobile, kontextbezogene G Dienstleistungen zur Ko-Kreation digitaler Einkaufserlebnisse

Zur Stärkung der Wettbewerbsposition des innerstädtischen Einzelhandels sind in den letzten Jahren deutschlandweit Initiativen gestartet worden, welche mithilfe digitaler Mehrwertdienste kundenseitige Einkaufserlebnisse fördern wollen. Die Gestaltung entsprechender Dienstleistungssysteme erfordert die Entwicklung innovativer IT-Artefakte, die die beteiligten Akteure bei der Ko-Kreation von Einkaufserlebnissen unterstützen und selbst digitale Einkaufserlebnisse schaffen. Um Händler und Dienstleister bei der Entwicklung dieser IT-Artefakte zu unterstützen, werden im Folgenden Gestaltungsprinzipien dargelegt, die auf den Beobachtungen des vorhergehenden Abschnittes aufbauen. Gestaltungsprinzipien sind begründete Aussagen oder Regeln, die die Konzeption und Umsetzung von Systemen leiten und Aufschluss darüber geben, wie nützliche und relevante IT-Artefakte entworfen und implementiert werden sollen (Chaturvedi et al. 2011; Hevner und Chatterjee 2010; Peffers et al. 2007). Aufbauend auf dem Konzept eines Dienstleistungssystems (Spohrer et  al. 2009) systematisiert Abb. 9.1 die Gestaltungsprinzipien in einem Schaubild. Durch die Einführung mobiler und stationärer Technologien im Ladengeschäft verändern Händler die bestehenden Kundenkontaktpunkte und schaffen zusätzliche digitale Kontaktpunkte (Beobachtungen 3, 7). Um an diesen Kundenkontaktpunkten personalisierte Dienste anbieten zu können (Beobachtungen 2, 5, 6, 8), sollte jeder Kontaktpunkt (a) den Kunden (automatisch) identifizieren, (b) auf dessen kontextbezogene Informationen zugreifen und (c) den aktuellen Kundenkontakt protokollieren. Es ist davon auszugehen, dass die Kunden denselben Komfort und dieselbe Systemqualität beim Umgang mit digitalen Diensten stationärer Händler erwarten, die sie beim Umgang mit Online-Shops gewohnt sind. So wie ein Online-Shop wiederkehrende Kunden mithilfe von Cookies identifiziert und eine kundenspezifische Ansprache wählt, könnten Kunden beim Betreten eines Ladengeschäfts eine Willkommensnachricht auf ihrem Smartphone erhalten, während der aktuelle Besuch gleichzeitig in einem Hintergrundprozess protokolliert wird. Auf dieser denkbaren Customer Journey kann der Kunde beim Durchstöbern des Ladens zum Beispiel auf Info-Terminals persönliche Empfehlungen lesen. Hat der Kunde seinen Warenkorb gefüllt und geht zur Kasse, erkennt ihn das Kassensystem automatisch und aktualisiert die Einkaufshistorie im Kundendatensatz. Netzwerke von Kunden

Kunde Bereitstellung kontextueller Informationen

Einbettung in und Vernetzung Erstellung und Konsum mit dem personalisierter Inhalte sozialen Umfeld und Dienste

Einzelhändler Identifikation des Kunden, Datenschutz, offene Standards

Sammlung kundenspezifischer Daten und Informationen

Netzwerke von Einzelhändlern

Vernetzung mit anderen Integration von Waren- Händlern in der wirtschaftssystemen mit digitalisierten Innenstadt mobilen Applikationen

Abb. 9.1  Dienstleistungssystem zur Ko-Kreation digitaler Einkaufserlebnisse im innerstädtischen Einzelhandel

134 ▶▶

J. H. Betzing et al.

Gestaltungsprinzip 1.  IT-Artefakte müssen den Kunden an allen digitalen Kontaktpunkten automatisch identifizieren.

Europäische und nationale Datenschutzgesetze verbieten es Unternehmen, personenbezogene Daten ohne vorherige Zustimmung zu erheben und zu verarbeiten. Darüber hinaus können sich Kunden leicht überfordert und ausgeliefert fühlen, wenn digitale Technologien ihre Daten automatisch erfassen. Daher müssen bei der Entwicklung von IT-Artefakten und bei der Gestaltung digitaler Dienste eine angemessene Nutzung personenbezogener Informationen, Transparenz bei der Datenverarbeitung und umfassende Datenschutzpolitik im Vordergrund stehen (Beobachtung 8). ▶▶

Gestaltungsprinzip 2.  IT-Artefakte müssen den nationalen und internationalen Datenschutzgesetzen entsprechen. Sie müssen die Nutzer über die Praktiken der Datenverarbeitung informieren und die Einwilligung der Nutzer einholen. Datenschutzbestimmungen und ethische Standards sind strikt einzuhalten.

Die Vernetzung von Menschen und digitalen Technologien in sozio-technischen Systemen ist eine Voraussetzung zur Entstehung digitaler Einkaufserlebnisse. Durch die hohe Geschwindigkeit des technischen Fortschritts ändern sich die IT-Landschaft der Händler, Kunden und Drittanbieter kontinuierlich. Offene Standards und Protokolle bilden die Grundlage für die Entwicklung von IT-Artefakten, die sich mit anderen kunden- und händlerseitigen IT-Systemen integrieren (Beobachtungen 1, 2, 4, 7). ▶▶

Gestaltungsprinzip 3.  IT-Artefakte sollten offene Standards und Protokolle für die Kommunikation mit externen IT-Systemen und den mobilen Technologien des Kunden nutzen.

Mit der Zustimmung des Kunden (Beobachtung 8) liefern mobile Technologien kontextuelle Informationen über diesen, welche unter anderem den aktuellen Standort, die Bewegungsrichtung, seine Präferenzen und die vergangenen Einkäufe in Offline- oder Online-Kanälen einschließen können (Beobachtungen 3, 6, 7). Im Ladengeschäft installierte Hardware verbindet sich automatisch mit den Geräten des Kunden und tauscht Informationen mit diesen aus. ▶▶

Gestaltungsprinzip 4.  IT-Artefakte müssen als Bindeglied die mobilen

Technologien des Kunden mit den händlerseitigen Anwendungssystemen im Geschäft vernetzen, damit kontextuelle Informationen des Kunden erfasst werden und dieser im Gegenzug personalisierte Informationen erhalten kann.

9  Gestaltungsprinzipien für mobile, kontextbezogene Dienste zur Ko-Kreation …

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Die klassische persönliche Beratung profitiert ebenfalls von kontextuellen Informationen über den Kunden. Das Ladenpersonal benötigt Zugriff auf die gesammelten Daten der sich im Geschäft befindlichen Kunden, um so eine personalisierte Kundenansprache zu bieten (Beobachtungen 2, 6). In ähnlicher Weise ermöglichen Informationen über vergangene Besuche eines Kunden eine individuelle Preisdifferenzierung, zum Beispiel indem Loyalität belohnt wird (Beobachtung 5). ▶▶

Gestaltungsprinzip 5.  IT-Artefakte, die das Ladenpersonal bei der per-

sönlichen Beratung unterstützen, sollten automatisch kontextuelle Informationen über den Kunden präsentieren, falls solche vorhanden sind.

Die Integration verschiedener Anwendungssysteme des Handels mit den mobilen Technologien der Kunden ist eine weitere Voraussetzung zur Entstehung digitaler Einkaufserlebnisse im stationären Einzelhandel. Damit Kunden über digitale Kanäle den Produktkatalog einsehen, Produktverfügbarkeitsprüfungen durchführen, Reservierungen vornehmen, mobile Zahlungsdienste nutzen und auf Augmented-­ Reality-Anwendungen zugreifen können, müssen die kundenseitigen mobilen Technologien Zugriff auf Anwendungssysteme wie Warenwirtschaftssysteme des Händlers erhalten (Beobachtungen 2, 3, 7). ▶▶

Gestaltungsprinzip 6.  IT-Artefakte benötigen Zugriff auf die Anwen-

dungssysteme und Datenbestände der Händler.

Ein digitales Einkaufserlebnis im innerstädtischen Einzelhandel entfaltet erst dann sein volles Potenzial, wenn es über Interaktionen mit einem einzelnen Händler hinaus geht. Durch die Kombination der Bestandsdaten mehrerer Einzelhändler zu einem integrierten innerstädtischen Produktsortiment ergeben sich Cross-Sellingund Cross-Promotion-Potenziale, die Möglichkeit händlerübergreifende digitale Dienste anzubieten, sowie Ansatzpunkte zur Linderung üblicher Schwachstellen des stationären Einzelhandels wie ausverkaufte Produkte (Beobachtungen 2, 4). Vor dem übergeordneten Ziel einer starken und attraktiven Innenstadt, von der alle Händler, Gastronomen und innerstädtischen Dienstleister gleichermaßen profitieren, sollten IT-­Artefakte nicht die kompetitive Position eines einzelnen Unternehmers, sondern die Position der Gemeinschaft der innerstädtischen Unternehmerschaft stärken. Folglich sollten IT-Artefakte, die ein digitales Einkaufserlebnis ermöglichen, die Kollaboration innerstädtischer Akteure unterstützen und gemeinsame Dienstleistungen bereitstellen. ▶▶

Gestaltungsprinzip 7.  IT-Artefakte sollten für Netzwerke von Einzelhändlern entwickelt werden, sodass diese in einer digitalisierten Innenstadt ein nahtloses digitales Einkaufserlebnis schaffen können.

136

J. H. Betzing et al.

Das Einkaufserlebnis wird auch durch das soziale Umfeld des Kunden beeinflusst. Mithilfe mobiler Technologien interagieren Kunden mit ihren Freunden und Bekannten über soziale Netzwerke und mit Fremden über Online-­Bewertungsportale (Beobachtung 1). Auch ohne einzelne Kunden zu identifizieren, bieten diese Daten einen Mehrwert. So kann beispielsweise ein digitaler Einkaufsberater auf bestehenden Online-Rezensionen aufbauen. Wenn Profile in sozialen Medien und Online-­ Bewertungen des Kunden mit dem bei einem Händler vorhandenen Kundenprofil verknüpft werden, können weitere personalisierte Dienstleistungen angeboten werden (Beobachtung 6). ▶▶

9.5

Gestaltungsprinzip 8.  IT-Artefakte sollten das soziale Umfeld des Kunden miteinbeziehen und dabei auch Drittanbieterdienste wie digitale soziale Netzwerke und Online-Bewertungsportale anbinden.

Fazit

Die Verbesserung des Einkaufserlebnisses im innerstädtischen Einzelhandel mithilfe mobiler und digitaler Technologien ist ein notwendiger Schritt für stationäre Händler, um mit dem Online-Handel Schritt zu halten. Wir gehen davon aus, dass der innerstädtische Einzelhandel sich gegenüber dem reinen Online-Handel behaupten kann, indem er Methoden und Werkzeuge des Online-Handels für sich anpasst und nutzbar macht. Dank der Omnipräsenz intelligenter mobiler Technologien können auch stationäre Händler digitale Mehrwertdienste anbieten, welche über das Wertversprechen der Dienste reiner Online-Händler hinausgehen. Dieser Beitrag hat gezeigt, wie sich die Interaktion zwischen Kunden und Händlern durch mobile Technologien verändert, und wie dies unser Verständnis der bestehenden Einkaufserlebnistheorie weiterentwickelt (Lemon und Verhoef 2016; Verhoef et al. 2009). Auf Basis des konzeptuellen Modells von Verhoef et al. (2009) wurden acht Beobachtungen zur Digitalisierung des Einkaufserlebniskonstrukts aufgestellt und diese in Gestaltungsprinzipien überführt, um sie für die Entwicklung konkreter Anwendungssysteme nutzbar zu machen. Im nächsten Schritt unseres Design-Science-Research-Prozesses (Peffers et al. 2007) werden wir die Gestaltungsprinzipien und den im vorherigen Kap. 8 vorgestellten Gestaltungsansatz einer innerstädtischen Plattform aufgreifen und IT-­ Artefakte implementieren und evaluieren, die ein digitales Einkaufserlebnis im innerstädtischen Einzelhandel ermöglichen. Die Zielvorstellung ist eine innerstädtische Plattform, die Händler und Kunden zusammenbringt, aber dabei die Besonderheiten der einzelnen Einkaufsstraßen und innerstädtischen Quartiere berücksichtigt. Dieses sogenannte Ensemble-Artefakt umfasst (1) eine mobile Applikation, mit der Kunden auf die digitale Innenstadt zugreifen können, (2) ein Web-basiertes Verwaltungssystem für Händler, mit dem diese digitale Interaktionen mit ihren Kunden planen, durchführen und auswerten können sowie (3) serverseitige Komponenten

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zur Anbindung von Drittanbietersystemen und zur technischen Administration des Dienstleistungssystems. In einem zyklischen Action-Design-Research-Prozess (Sein et al. 2011) werden alle IT-Artefakte in enger Zusammenarbeit mit Händlern und Kunden in deutschen Innenstädten gestaltet und evaluiert. Danksagung  Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Forschungs- und Entwicklungsprojekts „smartmarket2 – Interaktive Einkaufserlebnisse in Innenstädten durch digitale Dienstleistungen“ (Förderkennzeichen: 02K15A073 bis -074). Das Projekt wird mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Programm „Innovationen für die Produktion, Dienstleistung und Arbeit von morgen“ gefördert und vom Projektträger Karlsruhe (PTKA) betreut, wofür sich die Autoren bedanken.

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Interaktive Customer Experience mit mobilen und öffentlichen Systemen im stationären Handel

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Ellen Wieland, Sarah Hausmann, Frank Lamack und Thomas Schlegel

Zusammenfassung

Während Online-Shopping die Customer Experience beispielsweise mit ­Recommendersystemen weiter optimiert, stecken digitale und interaktive Ansätze für den stationären Handel noch in den Kinderschuhen – verbunden mit entsprechenden Problemen, mit Internethändlern mitzuhalten und Mehrwerte durch den physischen Einkauf ins Feld zu führen. Eigene Mobilgeräte der Nutzer wie Smartphones sowie Public Displays bieten für Läden neue Möglichkeiten, das Einkaufserlebnis auch im stationären Handel mit personalisierten Angeboten digital und medial zu unterstützen. Die Individualisierung erfordert dabei passende persönliche Daten der Nutzer, die sowohl akquiriert als auch geschützt werden müssen. Zudem sind ein Mehrwert und eine hohe Nutzungsrate nur durch einfache und direkt zu erfassende Benutzungsschnittstellen möglich, die für interaktive Systeme  – wie Public Displays  – und integrierte Nutzung von mehreren Geräten – wie Smartphone und stationäres Touch-Display – in Ladengeschäften erst entwickelt werden müssen.

Überarbeiteter Beitrag basierend auf Wieland et al. (2017) Interaktive Customer Experience mit mobilen und öffentlichen Systemen im stationären Handel, HMD – Praxis der Wirtschaftsinformatik Heft 317, 54(5):687–699. E. Wieland (*) Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Hausmann · T. Schlegel Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft, Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] F. Lamack T-Systems Multimedia Solutions GmbH, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Robra-Bissantz, C. Lattemann (Hrsg.), Digital Customer Experience, Edition HMD, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1_10

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E. Wieland et al.

Mit einer Befragung werden Aspekte des Datenschutzes für persönliche Daten und Anforderungen aus der Situation im Ladengeschäft erhoben. Ein Konzept und Prototyp für die Nutzung von persönlichen Mobilgeräten und Public Displays zeigt neue Interaktionsmöglichkeiten bei Kontrolle von sensiblen Informationen für eine digitale und interaktive Customer Experience. Beispielsweise kann die Integration von Mobilgeräten mit interaktiven Displays oder die Erkennung von Kleidungsstücken gestisch eingesetzt werden, d. h. indem Mobilgeräte oder Kleidungsstücke an das Display gehalten, aufgelegt oder anderweitig per Geste in Beziehung gesetzt werden. Eine qualitative Studie zeigt Nutzerfeedback und Praxistauglichkeit sowie Herausforderungen und Möglichkeiten für zukünftige Systeme. Schlüsselwörter

Interaktive Customer Experience · Mobile Geräte · Public Display · Datenschutz · Multi-Touch · Multi-Device

10.1 Motivation und Einführung Der Handel konkurriert seit Jahren immer stärker mit global operierenden Onlinehändlern, bei denen Nutzer nahezu alles bekommen können, inklusive einer bequemen Hauslieferung. Dabei ist es im Onlineshop Standard, das Kundenverhalten zielgenau zu erfassen und zu analysieren und somit personalisierte Angebote automatisiert zu gestalten, da jeder Klick Auskunft über den Kunden, seine Interessen und Wünsche gibt. Eine solche Transparenz ist im stationären Handel aktuell kaum möglich. Zwar lässt sich derzeit erfassen, dass der Kunde die Filiale betreten hat, aber wie er sich im Laden bewegt, wie seine Reaktionen auf Angebote sind oder was sein darüber hinausgehender Bedarf ist, bleibt intransparent. Eine durchgehende Customer Journey und ein Customer Experience Design setzen genau hier an: Die Verknüpfung der Vorteile des stationären Ladens als Point of Experience mit den digitalen Möglichkeiten eines interaktiven Point of Sale ermöglicht eine Art „Augmented“ Customer Journey ähnlich der Mixed Reality in der Visualisierung. Dem Kunden können so über verschiedene Interaktionsmöglichkeiten Mehrwerte, wie sofortige Anpassung des Angebots, eine individuelle Ansprache und damit ein verbessertes Einkaufserlebnis geboten werden. Dem Händler werden Werkzeuge an die Hand gegeben, um den Kunden und sein Verhalten besser zu verstehen und eine langfristige Kundenbindung zu ermöglichen. Die Trennung von Online- und stationärem Handel wird sich aufgrund der neuen Technologien auflösen und den Handel stark verändern. Beide Sphären werden mit den jeweiligen Stärken aus multisensorischem Erlebnisreichtum und Adaptivität an den Kunden miteinander verschmelzen  – und Kunden dort abholen, wo sie sich gerade befinden.

10  Interaktive Customer Experience mit mobilen und öffentlichen Systemen im …

141

Ein wichtiger Schritt ist dabei, mit der vorliegenden Arbeit Kunden passende Sichten auf unterschiedlichen, kontextuell passenden Geräten zu geben, die integriert eine nahtlose Customer Experience ermöglichen und die Stärken der jeweiligen Geräte vor allem im Hinblick auf Interaktion und Privatheit optimal zur Geltung bringen. Personalisierung gelingt im Ladengeschäft heute noch weniger gut. Hier stellt sich die Frage, wie Personalisierung nicht nur online, sondern auch vor Ort und gerade auch durchgängig genutzt werden kann ohne dass stationäre Systeme vom Nutzer befüllt werden müssen, um die Vorteile der Digitalisierung auch im Laden zu nutzen. Gleichzeitig soll die Privatsphäre gewahrt werden, die in der Öffentlichkeit des Ladengeschäfts durch andere Personen tangiert wird. Eine Kombination mit persönlichen Daten und Geräten stellt hier eine Möglichkeit zur Schließung der Lücke dar.

10.2 Verwandte Arbeiten Erste Realisierungen der Verschmelzung der Onlineshops und stationären Geschäften erfolgt aktuell in sogenannten Flagship Stores, die mittels experimentellen In­ stallationen vor allem in Sportartikel- und Bekleidungshandel die Customer Experience der Kunden verbessern wollen. Burberry setzt dabei in erster Linie auf ein System bestehend aus Bildschirmen und Lautsprechern in Kombination mit RFID-Tags (Kletschke 2014). Die Tags aktivieren beim Vorbeigehen die installierten Bildschirme und spielen Videoaufnahmen des Artikels z. B. auf dem Laufsteg ab, um diese gezielt in Szene zu setzen (Williams 2012). Die Umkleidekabinen im Flagship Store von Ralph Lauren sind mit interaktiven Spiegeln ausgestattet (OAK LABS 2016). Über diese kann der Kunde das Licht in der Kabine ändern oder die Verfügbarkeit im Laden abfragen und an einen Verkäufer weiterleiten, damit der entsprechende Artikel in die Umkleide gebracht wird. Zum Abschluss kann der Kunde die Informationen auf sein Handy übertragen. Nike präsentiert eine integrierte Multichannel-Lösung, die dem Kunden die Produkte über unterschiedliche digitale Tools präsentiert und erlebbar macht (Demodern 2015). Im Fokus steht der MultiTouch-Tisch (Table-top), auf dem Fußballschuhe abgestellt werden können, um genauere Informationen zu erhalten oder zwei Artikel miteinander zu vergleichen. Das kostenlose WLAN im Laden in Verbindung mit der Schüttelinteraktion, um Inhalte von den Terminals auf das Smartphone zu übertragen, füllt die Lücke des fehlenden Wissens über das Kundenverhalten in Ladengeschäften. Sport Scheck, ein weiterer Sportartikelladen, bietet ebenfalls interaktive Tools an (Russ 2015). Erste Interaktionsansätze, die zur verbesserten Customer Experience beitragen, zeigen sich im System M-Draw (Rekimoto 1998), bei dem ein Nutzer mittels der Interaktionstechnik Pick&Drop Elemente mit einem digitalen Stift von einem PDA (Personal Digital Assistent) auf ein Whiteboard übertragen kann. Vor dem Teilen auf dem öffentlichen Whiteboard ermöglicht der PDA die Eingabe von Texten, eine private Suche nach Inhalten und eine Datenaufbereitung.

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E. Wieland et al.

Die Kombination und Interaktion eines Tabletops mit einem mobilen Endgerät wurde in (Döring et al. 2010) untersucht. Das mobile Endgerät dient dabei als persönliches Display für die Anzeige von vertraulichen Informationen. Die Interaktion findet sowohl über Multi-Touch-Eingaben auf dem Tabletop, als auch über Smartphone-­Gesten statt. Allerdings fehlt es beim Einsatz dieser Technologien und Interaktionsformen im Hintergrund an Daten und nahtloser Individualisierung mit Datenschutz. Die Smartphones der Kunden dienen beispielsweise lediglich der Informationsmitnahme, anstatt persönliche Informationen und Präferenzen des Kunden auf Wunsch an das System zu übertragen und somit die Experience zu verbessern.

10.3 Studie: Nutzertypen und persönliche Daten Um die Zielgruppe für das zu entwickelnde Interaktionskonzept besser kennenzulernen und zur Ermittlung der Bedürfnisse und Wünsche der Kunden für eine nahtlose „Augmented“ Customer Experience im Ladengeschäft wurden im Rahmen eines nutzerzentrierten Design-Prozesses eine Beobachtung zum Einkaufsverhalten beim Kauf von Bekleidung und dazu ergänzend eine Online-Umfrage durchgeführt. Aus den Ergebnissen der Studie wurden im Anschluss Personas und realistische Szenarien für das Interaktionskonzept abgeleitet. In Form von zwei Beobachtungen im LAGO Shopping Centre in Konstanz für  jeweils eineinhalb Stunden an einem Mittwoch und einem Freitagnachmittag  im Februar 2014 wurden erste Erkenntnisse gewonnen: die Mehrzahl der ­Kunden scheint alleine zum Einkaufen von Bekleidung zu gehen, zur Anprobe wurden oft mehrere Größen des gleichen Kleidungsstückes mitgenommen und die Beratung durch Verkäufer wurde am häufigsten in Anspruch genommen, um Verfügbarkeitsinformationen zu anderen Größen und Farben zu erhalten. Ebenfalls legen die Beobachtungen die Annahme nahe, dass das Einkaufsverhalten zwischen Frauen und Männern deutliche Unterschiede aufweist. Allerdings konnten rein durch die Beobachtungen die Beweggründe der Kunden für ihr Verhalten im Ladengeschäft nicht ermittelt werden. Deshalb wurde auf der Basis der Beobachtungen eine Online-­Umfrage zum Einkaufsverhalten von Bekleidung erstellt. Die Befragung wurde mithilfe eines Google-Formulars online durchgeführt (Google Drive 2018). Der Fragebogen war in fünf Teilbereiche unterteilt: Der erste Teil enthielt Fragen zum Einkaufsablauf, der zweite Teil zum Thema Beratung & Empfehlungen, im dritten Teil wurden Fragen zur Anprobe gestellt, der vierte Teil behandelte die Nutzung von Smartphones beim Einkaufen und der fünfte Teil enthielt Fragen zum Thema Individualisierung. Innerhalb von drei Wochen nahmen 118 Personen an der Online-Umfrage teil, die zwischen 15 und 72 Jahren alt waren.

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Die Auswertung bestätigt die Annahme, dass es deutliche Unterschiede im Einkaufsverhalten von Frauen und Männern gibt: Nach dem Betreten des Ladengeschäfts verschaffen sich zwei Drittel der befragten Frauen zunächst einen Überblick über das Sortiment des Ladengeschäfts, während 59 % der befragten Männer direkt gezielt nach einem bestimmten Produkt suchen. Für den Einkaufsablauf und die unterstützende Anwendung muss es daher sowohl eine Möglichkeit geben „Fundstücke“ digital zu erfassen, als auch zur Erleichterung der gezielten Suche das gesamte Produktsortiment hierfür digital verfügbar sein. Etwa die Hälfte der Befragten geht meistens alleine einkaufen. Wenn Einkaufsbegleiter mit dabei sind, handelt es sich meist um Freunde oder den Partner. Die Beratung erfolgt dabei zu 44  % während der Anprobe. Daraus lässt sich schließen, dass es sich bei der Beratung meist um Hilfe zur Auswahl oder eine Bewertung handelt, ob das Kleidungsstück dem Kunden passt und steht. Aufgrund der Bedeutung der Anprobe im Einkaufsablauf sowie der meist knappen Anzahl an Umkleidekabinen, sollte eine Anwendung zur Unterstützung im Einkaufsablauf Größenempfehlungen geben können, um somit den Aufwand bei der Anprobe der Kleidungsstücke zu reduzieren. Kommt beim Einkaufen ein Smartphone zum Einsatz, wird es meist für ein Foto genutzt (41 %). Jeweils etwa ein Fünftel der Befragten, die ihr Smartphone beim Einkaufen nutzen, gab darüber hinaus an, Preisvergleiche abzurufen oder Empfehlungen über das Smartphone einzuholen. Allerdings gaben nur 30 % der Befragten insgesamt an, ihr Smartphone beim Einkaufen zu nutzen. Eine Implikation für das entwickelte Interaktionskonzept war damit, dass in der Multi-View-Umgebung auch die ausschließliche Interaktion mit einzelnen Displays, also beispielsweise nur dem Public Display, unterstützt werden sollte. Eine individuelle Gestaltung von Kleidungsstücken direkt im Ladengeschäft wird von etwa drei Viertel der Befragten befürwortet. Daran anschließend gaben 88 % der Befragten an, dass sie maßgeschneiderte Kleidung bevorzugen würden, wenn diese nicht teurer wäre als Massenware. Diese hohe Akzeptanz spricht dafür, dass die individuelle Konfiguration im Ladengeschäft sinnvoll ist und von allen Nutzergruppen gleichermaßen verwendet werden würde. Ein Hinweis darauf, dass den Befragten nicht bewusst ist, wie viele sensible Informationen einige Geschäfte schon über sie besitzen, geben folgende Resultate der Umfrage: Einerseits gaben mehr als die Hälfte der Befragten an, Kundenkarten oder Bonus-Programme zu nutzen. Andererseits würden ebenfalls mehr als die Hälfte sensible Daten nicht bedenkenlos zur Verfügung stellen, wie in Abb. 10.1 zu sehen ist. Ein Ziel für das Interaktionskonzept besteht deshalb im Sinne einer nachhaltigen Kundenbindung auf dem deutschen Markt darin, dem Nutzer bewusst zu machen, welche sensiblen Daten er öffentlich verfügbar macht und ihm gleichzeitig die volle Kontrolle darüber zu geben. Wie darüber hinaus aus der Abbildung ersichtlich ist, ist die Bereitschaft zur Weitergabe der Daten, die für eine Individualisierung benötigt werden (Gewicht, Körpermaße, Kleidergröße), schon sehr groß, was zusätzlich den Gedanken der individuellen Konfiguration direkt im Ladengeschäft unterstützt.

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E. Wieland et al.

Abb. 10.1  Bereitschaft von Kunden zur Datenweitergabe

10.4 Realisierung: Information und Interaktion Zur Veranschaulichung und Evaluation einer beispielhaften „Augmented“ Customer Experience wurde eine prototypische Anwendung für Public Displays und mobile Endgeräte konzipiert und realisiert. Der Fokus des entwickelten Konzeptes liegt dabei darauf, dass es für jeden Nutzer zu jeder Zeit im Einkaufsablauf möglich sein soll, selbstständig zu steuern, welche und wie viele sensible Informationen er einsetzen beziehungsweise mit anderen teilen will. Damit soll ein personalisiertes Einkaufserlebnis ermöglicht werden, das durch den Einsatz von verschiedenen Geräten und einer intuitiven Interaktion mit diesen dem Kunden einen Mehrwert zum traditionellen stationären Handel und auch dem Online-Einkauf bietet und ihm gleichzeitig den Freiraum bietet seine Privatsphäre nach seinem Ermessen zu schützen. Da sowohl die mobilen Endgeräte sowie das öffentliche Display Multi-Touch als Eingabe unterstützen, wurde die direkte Interaktion mittels Touch als Haupt-­ Eingabemethode gewählt. Bei der kooperierenden Interaktion zwischen mobilem

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Endgerät und öffentlichem Display erfolgt die Touch-Eingabe mittels des mobilen Endgerätes, also mittels eines Objektes. Es wurde darauf geachtet für die Basis-­ Interaktion bereits etablierte Interaktionsmuster wie zum Beispiel „Single-Tap zum Öffnen oder Selektieren“ zu nutzen (Saffer 2008). Diese Interaktionsmuster haben mittlerweile weite Verbreitung gefunden, was eine benutzerfreundliche und intuitive Interaktion mit der Anwendung fördert.

10.4.1 Informationsdarstellung Die Art der Information bestimmt, ob ein Nutzer will, dass andere Personen Zugang dazu bekommen können oder nicht (Holleis et al. 2007). Große Displays im öffentlichen Raum können von vielen Personen eingesehen werden. Daher ist es von großer Bedeutung wo und wie Informationen darauf angezeigt werden. Um dies entscheiden zu können, wurden Informationskategorien festgelegt: öffentlich, eingeschränkt und sensibel. Unter öffentliche und eingeschränkt zugängliche Informationen fallen Informationen über das Geschäft und dessen Produkte. Sensible Daten umfassen die Eigenschaften des Kunden. Die Visualisierung der Informationen innerhalb der Anwendung soll abhängig vom Grad der Vertraulichkeit sein. Die folgenden Darstellungsmöglichkeiten sollen primär Schutz für sensible Daten bieten. Bei der abstrahierten Anzeige von sensiblen Daten werden die Informationen so visualisiert, dass ihr Informationsgehalt nur mit speziellem Vorwissen erkenntlich wird. Textuelle Informationen können teilweise durch Platzhalter (geschwärzt oder Sternchen) ersetzt werden, wie es bei Kontonummern auf Kundenbelegen üblich ist. Auf visueller Ebene können komplexe Informationen oder Zusammenhänge zwischen Datensätzen abgebildet werden. Eine Technik zum Schutz von sensiblen Daten ist die volle Anzeige in Kombination mit einer Verdeckung der angezeigten Informationen. Unter Verdeckung wird dabei verstanden, dass die direkte Sichtlinie von Zuschauern auf die angezeigten Informationen unterbrochen wird. Ein spezieller Fall der Informationsdarstellung mit Verdeckung ist die Anzeige auf mobilen Endgeräten: Bedingt durch die geringere Größe von mobilen Endgeräten und dadurch, dass sie nicht stationär positioniert sind, kann leicht eine Verdeckung des Displays durch den eigenen Körper erreicht werden. Stationäre Displays können mit Blenden abgedeckt und Techniken wie dynamischer Verdeckung mit Hilfe von Tracking umgebender Personen (deutlich aufwändiger) geschützt werden, wobei hier die User Experience fragwürdig ist.

10.4.2 Exploration des Produktsortiments Am Beginn eines Einkaufs im Ladengeschäft steht oft die Exploration des Produktsortimentes. Diese soll digital unterstützt werden durch ein öffentliches Display. Im Ausgangszustand wird dazu das Produktsortiment in Form von Stapeln von Produkten dargestellt. Wird ein Stapel durch den Nutzer ausgewählt, werden die im

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Stapel enthaltenen Produkte auf dem Display aufgefächert. Der Nutzer kann dann mit Drag- und Pinch-Gesten das Produktsortiment erkunden, Zusatzinformationen zu Produkten abrufen und vergleichen. Darüber hinaus ist es möglich, durch das Platzieren eines physischen Produktes Informationen abzurufen: Wird ein Kleidungsstück auf dem öffentlichen Display abgelegt, wird sein virtuelles Pendant angezeigt. Produktinformationen lassen sich auch direkt auf dem mobilen Endgerät abrufen, während der Nutzer sich durch das Ladengeschäft bewegt. Darüber hinaus befinden sich alle sensiblen Informationen rund um das Kundenprofil des Nutzers ausschließlich auf dem mobilen Endgerät bis sich der Nutzer explizit dazu entscheidet, sie öffentlich zugänglich zu machen. Dabei handelt sich beispielsweise um favorisierte und individuell konfigurierte Produkte.

10.4.3 Produktkonfiguration Will der Nutzer ein Produkt individuell anpassen, kann er beispielsweise eine auf dem mobilen Endgerät gespeicherte Variante zur weiteren Konfiguration auf das öffentliche Display übertragen. Handelt es sich um ein horizontales öffentliches Display, kann das mobile Endgerät dazu auf dem Display abgelegt werden. Ist auf dem mobilen Endgerät eine Detailansicht geöffnet, wird das zugehörige Produkt oder Modell an das öffentliche Display übertragen sobald das mobile Endgerät da­ rauf abgelegt wird (Place2Share (Seifert et al. 2014)). Ist auf dem Smartphone eine Listenansicht geöffnet, müssen alle Produkte, die an das öffentliche Display übertragen werden sollen, explizit vom Nutzer ausgewählt werden (Select&Place2Share (Seifert et al. 2014)). Die aktuell auf dem mobilen Endgerät geöffnete Ansicht bestimmt also, welche Daten an das öffentliche Display übertragen werden und der Nutzer behält die volle Kontrolle über den Umfang der öffentlich gemachten Informationen.

10.4.4 Personalisierte Produktfilterung Durch das Ablegen des Smartphones auf dem öffentlichen Display ergeben sich weitere Anforderungen an die Visualisierung: Zum einen muss eine Repräsentation des Nutzers auf dem öffentlichen Display angezeigt werden. Zum anderen muss die Anzeige auf dem Display des mobilen Endgerätes entsprechend angepasst werden, da das mobile Endgerät durch das Ablegen zu einem Teil des öffentlichen Displays wird. Als Visualisierung des Stellvertreter-Objekts zur Datenübertragung zwischen dem öffentlichen Display und dem mobilen Endgerät wird ein Kreis rund um das Smartphone verwendet, welcher am Rand durch den Namen des Nutzers eindeutig gekennzeichnet ist (siehe Abschn. 10.4.5). So kann jedes Stellvertreter-Objekt einem Nutzer zugeordnet werden. Geschützt werden müssen auf dem mobilen Endgerät alle Daten, die nicht explizit für die Übertragung ausgewählt wurden, beziehungsweise

10  Interaktive Customer Experience mit mobilen und öffentlichen Systemen im …

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Abb. 10.2  Kooperativer Modus des Mobilgeräts zum Schutz von Daten bei Integration in das Public Display

generell alle sensiblen Daten. So werden in Listenansichten alle Produkte, die nicht für die Übertragung ans öffentliche Display ausgewählt wurden, mit einem einfarbigen Overlay versehen, welches den Inhalt des Elements versteckt (siehe Abb. 10.2). Enthält die aktuelle Ansicht auf dem mobilen Endgerät Daten in textueller Form, welche als privat oder sogar vertraulich kategorisiert wurden, wird der Klartext durch Platzhalter ersetzt.

10.4.5 Speicherung der Produktauswahl Will der Nutzer individualisierte Produkte auf dem mobilen Endgerät „mitnehmen“, kommt das kreisförmige Stellvertreter-Objekt zum Einsatz, das den jeweiligen Nutzer repräsentiert und erscheint, sobald der Nutzer sein mobiles Endgerät auf dem öffentlichen Display abgelegt hat (siehe Abb. 10.3). Will der Nutzer nun Daten vom öffentlichen Display auf sein mobiles Endgerät übertragen, genügt es, das Element, welches übertragen werden soll, mittels der Standard-Geste Drag&Drop in den Kreis zu ziehen. Das Verschwinden des Elements signalisiert dem Nutzer eine erfolgreiche Übertragung.

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E. Wieland et al.

Abb. 10.3  Kooperierende Interaktion mit Mobilgerät und Public Display: Produktstapel (oben), Smartphone

Im Laufe der Interaktion mit dem öffentlichen Display werden persönliche Daten vom mobilen Endgerät auf das Display übertragen oder durch die Konfiguration eines Kleidungsstückes neu erzeugt. Daher ist es wichtig, dem Nutzer eine einfache Möglichkeit zu geben, seine persönlichen Daten von dem öffentlichen Display zu entfernen und den Ausgangszustand vor der Interaktion wiederherzustellen. Bei einem horizontalen, liegenden Display erfolgt dies einfach möglich durch das Wegnehmen des Gerätes (Nielsen 1995). Das Beenden der Sitzung soll allerdings erst auf Nachfrage erfolgen, damit eine Interaktion mit anderen Anwendungen auf dem mobilen Endgerät möglich ist, ohne die aktuelle Sitzung beenden zu müssen.

10.5 Evaluation In einer qualitativen Nutzerstudie mit zehn Probanden sollte ermittelt werden, ob die Interaktionen intuitiv sind und inwiefern das entwickelte Konzept zum Schutz sensibler Daten des Nutzers beiträgt und von den Nutzern auch als Schutz wahrgenommen wird. Die Nutzerstudie wurde mit einem Samsung SUR40 (horizontales Display) und dem Samsung Galaxy S4 durchgeführt. Um die Erwartungskonformität der Interaktionen zu überprüfen wurden die Probanden vorab befragt, welche Interaktion sie zum Erreichen der Aufgabe verwenden würden und welche Systemreaktionen sie bei bestimmten Interaktionen mit dem System erwarten würden bevor diese ausgeführt wurden.

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Im Verlauf des Tests wurde klar, dass die Mehrheit der Teilnehmer das Ablegen des Smartphones auf dem öffentlichen Display nicht als Geste interpretierte, um die gerade auf dem Smartphone sichtbaren Daten an das öffentliche Display zu übertragen (Place2Share (Seifert et  al. 2014)), sondern im Gegensatz dazu das Ablegen eher als den Start einer Sitzung. Auf die Frage, wie sie ihre Sitzung am öffentlichen Display beenden würden, antworteten drei Probanden, dass sie dafür einfach ihr Smartphone vom öffentlichen Display entfernen würden. Für die Übertragung von Produkten aus einer Listenansicht schlugen sechs Probanden das Ablegen auf dem Display vor. Acht Probanden erkannten selbstständig, dass eine Auswahl, welche Produkte übertragen werden sollen, über die Checkbox an der rechten, oberen Ecke jedes Produktes in der Liste möglich ist (Select&Place2Share (Seifert et al. 2014)). Um Daten vom öffentlichen Display auf ihr Smartphone übertragen zu können, versuchten neun Probanden direkt ein Produkt in den Kreis um das Smartphone herum zu ziehen, welches das Stellvertreter-Objekt des Nutzers auf dem öffentlichen Display darstellt. Das Verschwinden des Produktes wurde grundsätzlich von den Probanden als Hinweis für eine erfolgreiche Übertragung interpretiert, allerdings hätte sich die Mehrheit der Probanden noch mehr Feedback gewünscht. Die Frage, ob die Probanden ein solches System, wie sie es gerade getestet hatten, in einem Ladengeschäft nutzen würden, bejahten acht Teilnehmer. Allerdings gaben drei Teilnehmer an, dass sie eine fehlerhafte Interaktion am öffentlichen Display als peinlich empfinden würden. Ein Proband würde das öffentliche Display deshalb nur dann benutzen, wenn keine Zuschauer zugegen sind. Ein anderer Proband gab darüber hinaus an, dass er das öffentliche Display nicht benutzen würde, wenn er es mit anderen Nutzern teilen müsste. Des Weiteren würde nur etwa die Hälfte auch sensible Daten einsetzten und dies auch nur dann, wenn der Nutzen groß genug ist. Daher wurde von allen Probanden positiv bewertet, dass die Anwendung auch ohne den Einsatz von sensiblen Daten einen Mehrwert bietet und die Interaktion mit dem öffentlichen Display ebenfalls nicht zwingend notwendig ist. Abschließend kann festgehalten werden, dass die Anwendung trotz einiger Schwächen von den Probanden positiv beurteilt wurde und eine solche Anwendung auch genutzt werden würde.

10.6 Diskussion und Ausblick Aufbauend auf den Befragungsergebnissen zu Nutzung und Nutzertypen sowie persönlichen Daten, konnte ein erster Prototyp entwickelt werden, der Kunden-­ Mehrwerte, insbesondere in Bezug auf die Personalisierung der Customer Experience schafft. Dieser ermöglicht es auch kritische Aspekte des Datenschutzes zu berücksichtigen und weist eine weitgehend intuitive Bedienbarkeit durch natürliche Interaktionsformen auf. Allerdings zeigt sich in der Befragung bereits die gerade in Deutschland ausgeprägte Bewusstheit von Datenschutzthematiken, die konzeptuell wie praktisch adressiert wurde. Speziell bei öffentlichen Systemen kommen allerdings soziale Effekte wesentlich stärker zum Tragen, wie die abschließenden

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­ tudienergebnisse zeigen. Dabei ist die Bereitschaft zum Teilen von sensiblen DaS ten im Laden wesentlich geringer ausgeprägt als dies in themenspezifischen sozialen Onlinenetzwerken der Fall ist. Trotzdem zeigt sich, dass bei entsprechendem Mehrwert eine breite Nutzung erfolgt, die eine Aufwertung und Ergänzung der Customer Experience nahelegt. Dabei zeigt sich auch, dass gerade die Möglichkeit zur Nutzung interaktiver Displays vor Ort sowie die kombinierte Nutzung von Mobilgeräten einen deutlichen Mehrwert gegenüber Einzellösungen bietet. Für eine detaillierte Untersuchung von sozialen Effekten sind Experimente mit noch stärker an Mehrpersonen-­Konstellationen orientierten Szenarien und Aufgabenstellungen notwendig, die auch Verhaltenstypologien von weiteren Personen berücksichtigen. Hierzu gehört der Freundeskreis ebenso wie „Shoulder Surfer“, die unmerklich oder sogar aufdringlich die Interaktion des Nutzers mitverfolgen. Hier werden technische Möglichkeiten eher durch psychologische und soziologische Faktoren limitiert bzw. müssen durch adaptive oder rollen-/situationsbasierte Patterns abgefangen werden. Eine weitergehende Evaluation des Einflusses durch andere Kunden im Laden während der Benutzung des Systems steht damit noch aus. Im Ergebnis führt dies für Customer Experience Systeme für Endkundenprodukte wie Textilien zu in der Interaktionsvielfalt vergleichsweise limitierten Benutzungsschnittstellen bei gleichzeitig nutzbringenden und animierenden Funktionen mit durchdachtem Medien- und Interaktionsdesign. Eine Herausforderung bilden intuitiv einsetzbare Gesten und Interaktionsmuster wie Gerät ablegen, da kaum Lern­ effekte möglich sind und die Interaktionen verlässlich funktionieren müssen. Mit zunehmender Vernetzung werden neue Szenarien möglich, so dass beispielsweise im Internet of Things Kleidungsstücke im Laden die Nutzer erkennen und über Mobilgeräte, Public Displays aber auch andere ubiquitäre Systemkomponenten mit ihnen interagieren können – passend zu den Vorlieben und in nahtloser Integration mit Online-Shopping-Erlebnissen von direkter Lieferung nicht vorrätiger Größen nach Hause bis zur vorbereiteten Customer Journey im Flagship Store anhand des vorangegangenen heimischen Online-Shopping. Dabei werden semantische Systeme passgenaue und inspirierende Shopping-Erlebnisse situativ auch für Gruppen- und Themenshopping ermöglichen. Nutzbare Technologien, zunehmende Nutzerkompetenz und Systemkonvergenz werden neue Horizonte für die Customer Experience über die hier vorgestellten Ansätze hinaus erschließen.

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Spielerisch lockt der Einzelhandel den Kunden – Einfluss von Belohnungen auf die Kanalwahl

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Alina Stein, Linda Eckardt und Susanne Robra-Bissantz

Zusammenfassung

Der stationäre Einzelhandel verliert zunehmend Marktanteile und Umsätze an den Onlinehandel, sowohl durch Etablierung von Pure-Playern (z. B. Amazon) aber auch im Zuge von Multi-Channel Strategien von Händlern. Eine Ursache dafür ist, dass Kunden gerne und oft im Internet Waren einkaufen und deutlich weniger loyal gegenüber Händlern sind. Dies führt zu Einbußen im Umsatz und im schlimmsten Fall zu Händlersterben in den Städten. Eine mögliche Lösung ist eine klug implementierte Multi-Channel Strategie, bei der Kunden durch die Nutzung von mobilen Anwendungen der Händler in stationäre Ladengeschäfte umgeleitet werden. Um die Verbreitung und Verwendung einer solchen Anwendung zu steigern, ist die Implementierung von Gamification ein möglicher Ansatz. Auf Basis des Technologieakzeptanzmodells wurde eine Online-Umfrage durchgeführt, mit dessen Hilfe die Technologieakzeptanz gegenüber einer App mit gamifizierten Inhalten eines fiktiven Händlers getestet wurde. In dieser App erhält der Nutzer nach dem Erledigen kleiner Aufgaben eine Belohnung (Service, geldwerter Vorteil, Rabatt, Geschenk), dessen Einlösung nur im stationären Ladengeschäft möglich ist. Die Ergebnisse der Online-Umfrage haben keine eindeutige Präferenz einer bestimmten Belohnungsform gezeigt, jedoch einen leichten Trend in Richtung Geschenk. In einem anschließenden Laborexperiment wurden die Belohnungsformen Geschenk und Rabatt bevorzugt.

Überarbeiteter Beitrag basierend auf Stein et  al. (2017) Spielerisch lockt der Einzelhandel den Kunden – Einfluss von Belohnungen auf die Kanalwahl, HMD – Praxis der Wirtschaftsinformatik Heft 317, 54(5):700–712. A. Stein (*) · L. Eckardt · S. Robra-Bissantz TU Braunschweig, Braunschweig, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Robra-Bissantz, C. Lattemann (Hrsg.), Digital Customer Experience, Edition HMD, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1_11

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Schlüsselwörter

Stationärer Einzelhandel · Onlinehandel · Gamification App · Technologieakzeptanz · Belohnung

11.1 Motivation und Zielsetzung Die fortschreitende Etablierung des E-Commerce erzeugt für den klassischen, stationären Einzelhandel Probleme. Im Jahr 2015 betrug das Umsatzvolumen des deutschen Onlinehandels 46,90  Mrd.  Euro. Dies stellt eine prozentuale Steigerung des Onlineumsatzes zum Vorjahr von 12 % dar. Im stationären Einzelhandel konnte im selben Zeitraum lediglich eine Umsatzsteigerung von 3 % erreicht werden (bevh 2016). Im Altersbereich von 16 bis 64 Jahren gaben weit mehr als 60 % der Deutschen im Jahr 2016 an, dass sie gerne und eher häufig im Internet Waren einkaufen. Gründe dafür sind vielfältig. Als große Vorteile sehen Nutzer die Preisvergleichsmöglichkeiten, die schnelle Abwicklung, die Liefermöglichkeiten nach Hause und die unkomplizierten Retourmöglichkeiten (Hochhardt 2013). Erste Konsequenzen dieser Entwicklungen sind bereits ersichtlich. So ist vor allem die Logistik des Onlinehandels ein organisatorisch nicht zu vernachlässigender Mehraufwand, ebenso entstehen dadurch erhöhte Mengen an Treibhausgasen. Des Weiteren sorgt der sinkende Umsatz der stationären Händler dafür, dass Mieten für Ladengeschäfte nicht mehr bezahlt werden können und kleine Händler entweder aus Ballungszentren verschwinden oder Insolvenz anmelden müssen. Allerdings ist sowohl für Marken-Ladengeschäfte als auch für Einzelhändler der stationäre Handel äußerst wichtig. Es gibt keine Anonymität, auf Kundenwünsche kann exakt eingegangen werden und zudem spielt der psychologische Effekt der ‚Gesichter‘ zu den Marken für die Konsumenten beim Einkaufen eine große Rolle (Hochhardt 2013). Diese und weitere positive Effekte des stationären Handels fallen im Onlinehandel weg. Vor allem die Altersgruppe der ‚Millenials‘ (Kunden, die zwischen 1980 und 2000 geboren wurden), sind deutlich preissensitiver und in ihrem Kaufverhalten eher illoyal gegenüber dem einzelnen Händler. Zudem nutzt diese Käufergruppe beim Einkaufen in stationären Ladengeschäften verstärkt das Smartphone, um beispielsweise Preise online zu vergleichen oder zum Meinungsaustausch in sozialen Netzwerken. Daher ist es notwendig Maßnahmen zu finden, wie der stationäre Handel gestärkt werden kann und die Kundengruppe der ‚Millenials‘ für die Händler nachhaltig erschlossen werden kann. Eine mögliche Lösung ist eine klug implementierte Multi-Channel-Strategie, bei der Kunden durch die Nutzung von mobilen Anwendungen der Händler in stationäre Ladengeschäfte umgeleitet werden. Um die Verbreitung und Verwendung einer solchen Anwendung zu steigern, ist die Implementierung von Gamification ein möglicher Ansatz. Gamification bezeichnet die Integration von Spielelementen (z.  B.  Ranglisten, Punkte oder Belohnungen) in einen spielfremden Kontext ­(Deterding et al. 2011).

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Eine App mit spielerischen Elementen bietet den Händlern die Möglichkeit über eine weitere Schnittstelle mit den Kunden zu interagieren. Demnach wird ein gemeinsamer Raum geschaffen, in dem Händler und Kunden miteinander interagieren können (Joint Sphere), so dass nach der Service Dominant Logic ein „Value in Interaction“ durch die Gestaltung der „Digital Customer Experience“ entsteht (Robra-­ Bissantz und Lattemann 2017). Der Einsatz von Gamification unterstützt dabei die Interaktion, indem Kunden spielerisch Zusatzinformationen zu Produkten erhalten können und den Anbieter dadurch auf mehreren Ebenen erfahren können. Somit kann Gamification dazu eingesetzt werden E-Commerce nicht nur als online einkaufen zu definieren, sondern kann das bloße Einkaufen sinnvoll ergänzen, da sich der Kunde spielerisch mit dem Anbieter beschäftigt. So kann das Spielelement Belohnung beispielsweise dazu genutzt werden, den Nutzer zu einem tatsächlichen Kauf zu motivieren. Zudem ist es möglich, dass Kunden mit Hilfe von Gamification kanalübergreifend agieren. So könnte zum Beispiel eine Belohnung, die in einer App spielerisch erworben wurde, im stationären Ladengeschäft eingelöst werden. Dadurch kann eine positive Beeinflussung der „Digital Customer Experience“ erfolgen und beim Kunden das Gefühl eines „grenzenlosen“ modernen Anbieters entstehen. Nachfolgend wird daher der Frage nachgegangen, ob eine Shopping-App, durch die Belohnungen spielerisch gewonnen werden können, dazu beitragen kann das Einkaufsverhalten der Kunden so zu beeinflussen, dass diese einen Kanalwechsel vollziehen (vom Onlinehandel in den stationären Einzelhandel). Auf Basis des von Davis (1989) entwickelten und von Venkatesh und Bala (2008) weiterentwickelten Technologieakzeptanzmodells wird dazu eine Online-Umfrage durchgeführt. Mit dessen Hilfe wird die Technologieakzeptanz gegenüber einer App mit spielerischen Inhalten eines fiktiven Händlers getestet. In dieser App erhält der Nutzer nachdem Erledigen kleiner Aufgaben (z. B. Produkte einer bestimmten Farbe zählen) eine Belohnung, dessen Einlösung nur im stationären Ladengeschäft möglich ist. Die Akzeptanz verschiedener Belohnungsformen wird dabei gegeneinander getestet. In einem anschließenden Laborexperiment wird eine App-­Oberfläche des Händlers mit Belohnungen gegen eine Anwendung ohne Gamification getestet.

11.2 Theoretische Grundlagen 11.2.1 Gamification Gamification kann neben anderen Anwendungsgebieten auch im Marketingkontext eingesetzt werden, was vor allem bei jungen Käufersegmenten, die mit Videospielen aufgewachsen sind, positiv wirken kann (Zichermann 2016). Diese Zielgruppe kann durch Spielelemente leichter an Anwendungen, Technologien und Aufgaben herangeführt werden. Außerdem besteht Grund zur Annahme, dass sich junge Käufersegmente durch die Integration von Gamification besser angesprochen fühlen und Interaktionen ausgelöst werden können. Entscheidend für den Erfolg von Gamification ist jedoch, dass es sinnvoll, nachvollziehbar und passend zum Unternehmen

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verwendet wird. Außerdem sollte für den Nutzer eine klar ersichtliche Aufgabe bestehen (Zichermann und Linder 2010). Insbesonders junge Menschen erwarten Gamification im Leben und können dadurch besonders erfolgreich und nachhaltig an Marken beziehungsweise Produkte gebunden werden. Grund hierfür liegt darin, dass Millenials mit Spielen und drastischen technologischen Veränderungen aufgewachsen sind. Daher sind sie dazu geneigt sich schneller zu langweilen. Durch das Spielen bzw. durch das Nutzen von Apps wie Facebook oder Instagram kommt es zu dem neurologischen Phänomen der intrinsischen Verstärkung. Mit jedem positiven Absolvieren einer Aufgabe kommt es im Gehirn zu einem Dopamin- und Testosteronausstoß, durch den Freude empfunden wird. Dieser Mechanismus läuft zum Beispiel ab, wenn ein Facebook-­ Post ein „Like“ eines Freundes erhält, da die implizite Aufgabe des „Likes erhalten“ positiv absolviert wurde. Dieses Erlebnis möchte der Körper immer öfter erleben, so dass auf Dauer das Gehirn so beeinflusst wird, dass der Zustand der Langeweile öfter und auch früher eintritt (Zichermann 2016). Dies bedeutet, dass vor allem Millenials so angesprochen werden sollten, dass sie durch die Ansprache einen Dopaminausstoß erfahren. Zichermann (2016) empfiehlt den Unternehmen dies in den Marketingstrategien zu berücksichtigen, da dadurch eine dauerhafte Kundenbindung aufgebaut werden kann und die Erschließung neuer Kundengruppen möglich ist. Auch ältere Kundengruppen würden laut Zichermann (2016) Gamification nutzen. Anders als Millenials würden sie es jedoch nicht erwarten. Bisherige Studien zeigen, dass das Spielelement Belohnung im Marketingkontext bei Kunden beliebt und akzeptiert ist. Belohnungen können für ein schnelles, nachvollziehbares Feedback sorgen, was die Nutzerfreundlichkeit solcher Anwendungen stark erhöht (Zichermann und Linder 2010). Ein Beispiel für Gamification im Marketing ist das Pizza-Mogul-Spiel des Pizzaherstellers Dominos. In einer App haben die Nutzer die Möglichkeit eine Pizza zu kreieren und für jede verkaufte Pizza eine monetäre Belohnung zu erhalten. Mithilfe des Spiels konnte Dominos eine Umsatzsteigerung generieren und die Kundenbindung positiv beeinflussen. Ein weiteres Beispiel für Gamification im Marketing ist das Miles&More-Programm der Lufthansa. Auch wenn das Miles&More-Programm kein klassisches Beispiel für Gamification ist, da nur ein Spielelement eingebunden ist, soll es hier erwähnt werden, da es bereits lange erfolgreich existiert und genutzt wird. Im Rahmen des 1993 gegründeten Programms erwerben Reisende Meilen für jede Flugbuchung und können diese dann gegen Prämien eintauschen. Das Programm fördert ebenfalls die Kundenloyalität und die Generierung von Umsätzen. Das jährlich wiederkehrende McDonald's Monopoly-Spiel ist ein weiteres Beispiel. In diesem Zeitraum steigen die Umsätze in den USA deutlich und viele Kunden geben an, dass sie extra deshalb McDonald's besuchen. Diese Beispiele zeigen, dass Gamification vom Nutzer positiv aufgenommen werden kann und eine Steigerung der Kundenbindung und Interaktion der Kunden mit der Marke bzw. dem Händler möglich ist. Im Vordergrund steht nicht unbedingt eine Umsatzsteigerung, sondern eine verbesserte Beziehung zwischen Kunden und Unternehmen. Daher könnte Gamification eine geeignete Methode sein, um der zu Beginn beschriebenen Herausforderung entgegenzuwirken.

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11.2.2 Technologieakzeptanz Eine Berücksichtigung der Technologieakzeptanz ist in allen Bereichen, in denen eine neue Technologie eingeführt werden soll, notwendig. Dies bedeutet, dass sowohl in der Arbeit als auch im Freizeitbereich die Technologieakzeptanz der potenziellen Nutzer ermittelt, analysiert und ausgewertet werden sollte. Passiert dies nicht, so ist die erfolgreiche Einführung neuartiger Technologien in Gefahr und das Produkt wird von Nutzern unter Umständen nicht erfolgreich angenommen (Brandenburg und Thielsch 2012). Zur Messung der Technologieakzeptanz existieren verschiedene Modelle. Eines der am häufigsten verwendeten Modelle ist das Technologieakzeptanzmodell (TAM) nach Davis (1989). In Abb.  11.1 ist dieses Modell mit den zugehörigen Konstrukten und Abhängigkeiten dargestellt. Im Kern besteht das Modell aus den Konstrukten Perceived Usefulness (Wahrgenommener Nutzen) sowie Peceived Ease of Use (Wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit), die beide eine Auswirkung auf Attitude towards Using (Einstellung gegenüber Nutzung) haben. Diese Einstellung entscheidet mit dem wahrgenommenen Nutzen über die Behavioral Intention to Use (Nutzungsabsicht). Da die wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit einen direkten Einfluss auf den wahrgenommenen Nutzen hat, besteht auch eine indirekte Abhängigkeit mit der Nutzungsabsicht. Das bedeutet, dass bei positiven Zusammenhängen dieser Konstrukte eine positive Nutzungsabsicht entsteht. Demnach sind Nutzer eher bereit eine neue Technologie zu verwenden (Actual System Use). Im Laufe der Zeit wurde das TAM mehrfach angepasst. So entstand beispielsweise das TAM 3, mit dem es möglich ist Aussagen über die Akzeptanz einer Technologie nicht nur im organisationalen Kontext zu treffen, sondern auch im Bereich der freiwilligen Nutzung einer Technologie (Venkatesh und Bala 2008). Da in diesem Beitrag eine mobile Anwendung mit freiwilliger Nutzung im Fokus steht, wird für die Untersuchung zur Messung der Technologieakzeptanz das TAM 3 herangezogen.

Perceived Usefulness Attitude Toward Using

External Variables

Perceived Ease of Use

Abb. 11.1  Technologieakzeptanzmodell nach Davis (1989)

Behavioral Intention to Use

Actual System Use

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11.3 Empirische Untersuchung 11.3.1 Design der Evaluation In der vorliegenden Evaluation wird die Akzeptanz einer Shopping-App mit Belohnungen, deren Einlösung nur im stationären Einzelhandel möglich ist, untersucht. Dabei wird das Element Belohnung in vier Ausprägungen betrachtet: • Services, die der Nutzer exklusiv in Anspruch nehmen kann (z. B. verlängertes Umtauschrecht oder kostenloses Parken) • Geldwerte Vorteile, die der Nutzer einlösen kann (z. B. Gutschein) • Rabatte • Zusatzgeschenke (z. B. Einlegesohlen beim Kauf von Schuhen) Die Nutzer der Shopping-App erhalten diese Belohnungen für das Lösen einer kleinen Aufgabe (z. B. zählen von grünen Produkten) in einer bestimmten Zeit. Die vier Belohnungsformen wurden gewählt, da sie im Einzelhandel bereits weit verbreitet und dem Kunden bekannt sind. Dadurch sollte die Abstraktion der Untersuchung gering gehalten werden, so dass die Teilnehmer sowohl in der Online-­Umfrage als auch im Laborexperiment möglichst realitätsnah antworten können. Im ersten Schritt der Evaluation erfolgt eine Online-Umfrage, in der eine Kombination aus dem TAM von Davis (1989) und dem TAM 3 von Venkatesh und Bala (2008) hinsichtlich der vier Belohnungsformen in einer Shopping-App abgefragt wird. Das angepasste TAM, welches in dieser Studie verwendet wird, ist in Abb. 11.2 dargestellt. Mithilfe des angepassten TAM soll der Einfluss der Variablen Computer Playfulness (Spielfreude, die durch den Computer bzw. rechnergestützte Anwendungen empfunden wird) sowie Perceived Enjoyment (wahrgenommenes Vergnügen) auf PEOU untersucht werden. Diese Variablen wurden aus dem TAM 3 nach Venkatesh

Abb. 11.2  Angepasstes TAM nach Davis (1989) und Venkatesh und Bala (2008)

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Abb. 11.3  Mock-Up Versionen der Shopping-Apps

und Bala (2008) übernommen. Für die Feststellung der Zustimmung bzw. Ablehnung der Items des TAM wurde in der Online-Umfrage eine 5-stufige Likert Skala verwendet (1 = trifft nicht zu, …, 5 = trifft zu). Nach der Online-Umfrage erfolgt zur Überprüfung der Ergebnisse ein Laborexperiment, in dem zwei Mock-Up Versionen einer Shopping-App eines fiktiven Sportartikelhändlers gegeneinander getestet werden. In Abb. 11.3 sind die zwei Versionen der Shopping-App dargestellt. Eine Version enthält kein Gamification (Screen 1), wohingegen die andere Version Spielelemente (Aufgabe, Belohnung und Zeit) beinhaltet. In der Version mit Gamification müssen die Nutzer, nachdem sie in dem Online-Shop auf ein Produkt geklickt haben (Screen 1), eine Aufgabe (z. B. zählen von grünen Sportartikeln) in einer vorgegebenen Zeit lösen (Screen 2). Die Art der Aufgabe sollte schnell verständlich, in ihrer Grundform bereits bekannt und verhältnismäßig einfach im Mock-Up darstellbar sein. Das Zählen von Produkten einer bestimmten Farbe ist zum einen bekannt durch Katalogwerbung und im Online-Bereich. Zum anderen ist das Zählen als Aufgabe leicht verständlich und im Mock-Up gut darstellbar, da keine bewegten Elemente implementiert werden müssen. Wenn die Aufgabe in der vorgegebenen Zeit richtig gelöst wurde, erhalten die Nutzer eine Belohnung (Screen 3). Dazu wurden die vier Belohnungsformen konkretisiert, so handelt es sich bei den Belohnungen um eine verlängerte Umtauschfrist (Service), 10 Euro Gutschein (geldwerter Vorteil), 15  % Nachlass (Rabatt) und eine Handyhülle für den Sport (zusätzliches Geschenk). Für das Laborexperiment wurde ein Sportartikelhersteller als Beispiel gewählt, da viele Personen bereits Kleidung oder andere Artikel bei einem Online-Shop für Sportartikel bestellt haben und somit ein Vorwissen bezüglich des Produktangebots bestehen sollte. Dies soll eine möglichst wahrheitsgetreue Beantwortung der Fragen ermöglichen.

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Auch im Laborexperiment sollen die Nutzer mithilfe einer 5-stufigen Likert Skala (1 = nicht wahrscheinlich, …, 5 = wahrscheinlich) die Wahrscheinlichkeit der Nutzung solch einer App bewerten.

11.3.2 Ergebnisse der Online-Umfrage zur Akzeptanz Die Online-Umfrage haben n = 180 Teilnehmer ausgefüllt. Nach Reduktion der Bögen um die Teilnehmer, die ihr Smartphone unter einer Stunde am Tag nutzen, konnten noch n = 177 für die Auswertung herangezogen werden. Eine Nutzungsdauer von mindestens einer Stunde am Tag wurde vorausgesetzt, um sicherzustellen, dass die Teilnehmer auch in der Freizeit ein Smartphone verwenden und Erfahrungen im Umgang mit verschiedenen Apps haben. An der Umfrage haben sich 58 % männliche und 42 % weibliche Teilnehmer beteiligt. Das Durchschnittsalter der Umfrageteilnehmer liegt bei 27 Jahren. Im Anschluss an eine Faktorenanalyse zur Identifikation der zu den Konstrukten zugehörigen Items, folgten Regressionsanalysen. Die Ergebnisse für die einzelnen Belohnungsformen sind in Tab. 11.1 zusammengefasst. R2 gibt dabei an, wie hoch der Anteil der Variation der abhängigen Variablen (AV) durch die lineare Regression mit Hilfe der untersuchten unabhängigen Variablen (UV) ist. Je näher der Wert von R2 an eins heranreicht, umso mehr Variationen können durch die unabhängigen Variablen erklärt werden und umso mehr korrelieren die Konstrukte miteinander. Der Regressionskoeffizient β beschreibt, wie stark die jeweiligen beobachteten Variablen für Schwankungen im zu untersuchenden Konstrukt verantwortlich sind und der durchgeführte T-Test dient zur Signifikanzüberprüfung des Regressionskoeffizienten. Ist der β-Wert hoch, so bedeutet dies, dass ein Zusammenhang besteht und die zu untersuchende Variable für Schwankungen des Konstrukts verantwortlich ist. Je niedriger der Wert aus dem T-Test ist, umso zuverlässiger ist das Ergebnis aus der Regressionsanalyse. Aufgrund der Ergebnisse der Online-Umfrage kann keine eindeutige Aussage über die bevorzugte Belohnungsform und des generellen Kanalwechsels von Kunden getroffen werden. Die ermittelten Parameter der linearen Regression sind für alle vier TAMs zu gering, um von tatsächlichen Abhängigkeiten auszugehen. Für keine Belohnungsform konnten signifikante Ergebnisse erzielt werden. Das bedeutet, dass keine systematischen Zusammenhänge bestehen und diese im verwendeten Modell nur zufällig gegeben sind. Die besten Werte hat die Belohnungsform Geschenk erzielt. Allerdings kann dies ebenfalls aufgrund der schlechten Werte der Parameter nicht gedeutet werden.

11.3.3 Ergebnisse des Laborexperiments zur Nutzung An dem Laborexperiment haben n = 20 Personen teilgenommen. Aufgrund dieser kleinen Stichprobe erfolgt die Auswertung des Laborexperiments mithilfe von deskriptiver Statistik in Form von Mittelwerten und Standardabweichungen.

11  Spielerisch lockt der Einzelhandel den Kunden – Einfluss von Belohnungen …

161

Tab. 11.1  Ergebnisse der Regressionsanalysen des TAM für die Belohnungsformen R Belohnung: Service PEOU (AV) mit CP (UV) 0,316 PEOU (AV) mit PE (UV) 0,316 PU (AV) mit PEOU (UV) 0,297 BI (AV) mit PEOU (UV) 0,712 BI (AV) mit PU (UV) 0,712 AU (AV) mit BI (UV) 0,496 Belohnung: geldwerter Vorteil PEOU (AV) mit CP (UV) 0,283 PEOU (AV) mit PE (UV) 0,283 PU (AV) mit PEOU (UV) 0,287 BI (AV) mit PEOU (UV) 0,594 BI (AV) mit PU (UV) 0,594 AU (AV) mit BI (UV) 0,477 Belohnung: Rabatt PEOU (AV) mit CP (UV) 0,295 PEOU (AV) mit PE (UV) 0,295 PU (AV) mit PEOU (UV) 0,143 BI (AV) mit PEOU (UV) 0,767 BI (AV) mit PU (UV) 0,767 AU (AV) mit BI (UV) 0,716 Belohnung: Geschenk PEOU (AV) mit CP (UV) 0,329 PEOU (AV) mit PE (UV) 0,329 PU (AV) mit PEOU (UV) 0,201 BI (AV) mit PEOU (UV) 0,845 BI (AV) mit PU (UV) 0,845 AU (AV) mit BI (UV) 0,746

R2

Β-Wert

T

Sig.

0,100 0,100 0,088 0,507 0,507 0,246

0,252 0,074 0,297 −0,012 0,716 0,496

1,942 0,570 4,120 −0,222 12,841 7,549

0,054 0,569 0,000 0,825 0,000 0,000

0,080 0,080 0,082 0,353 0,353 0,227

0,166 0,126 0,287 0,001 0,594 0,477

1,083 0,824 3,965 0,018 9,326 7,176

0,280 0,411 0,000 0,985 0,000 0,000

0,087 0,087 0,200 0,588 0,588 0,513

−0,090 0,370 0,143 0,058 0,757 0,716

−0,604 2,488 1,912 1,178 15,394 13,566

0,547 0,014 0,057 0,240 0,000 0,000

0,108 0,108 0,041 0,714 0,714 0,556

−0,122 0,435 0,201 0,019 0,841 0,746

−0,731 2,611 2,719 0,469 20,332 14,812

0,466 0,010 0,007 0,640 0,000 0,000

Zunächst sollten die Teilnehmer eine Frage nach der Wahrscheinlichkeit zur Nutzung der jeweiligen App-Version beantworten. Abb. 11.4 zeigt die Ergebnisse. Durchgängig ist eine höhere Bereitschaft zur Verwendung der App-Version mit Gamification erkennbar. Allerdings überlappen sich die Standardabweichungen bei der Belohnungsform Service (verlängertes Umtauschrecht). Das bedeutet, dass beide Gruppen bei dieser Belohnungsform nicht prinzipiell voneinander verschieden sein müssen. Am positivsten wurden die Belohnungsformen Geschenk und Rabatt aufgenommen. Des Weiteren haben die Teilnehmer eine Frage nach der Wahrscheinlichkeit zur Verwendung der App-Version mit Gamification ohne bestehende Kaufabsicht beantwortet. Abb. 11.5 zeigt die entsprechenden Ergebnisse. Wie aus der Abbildung hervorgeht, ist die Wahrscheinlichkeit zur Nutzung dieser App-Version, trotz der Bevorzugung der Version mit Gamification, eher gering, wenn noch keine Kaufabsicht besteht. Dieses Ergebnis ist unabhängig von der Belohnungsform.

162

A. Stein et al.

Wie wahrscheinlich ist die Verwendung der App-Versionen?

5

Nutzungsabsicht

4

3,83

3,67

3,67

3,50

3

2

2,17

2,00

2,17 1,67

1

0

Belohnung 1 (Verlängerte Umtauschfrist)

Belohnung 2 (10 € Gutschein)

Belohnung 3 (15 % Rabatt)

Belohnung 4 (Handyhülle)

Belohnunsgsform Version 1 (ohne Gamification)

Version 2 (mit Gamification)

Nutzungswahrscheinlichkeit

Abb. 11.4  Wahrscheinlichkeit der Nutzung der App-Version (ohne und mit Gamification) Wie wahrscheinlich ist die Verwendung der App-Version mit Gamification ohne bestehende Kaufabsicht?

5 4 3 2 1,17

1,50

1,33

1,33

1 0

Belohnung 1 (Verlängerte Umtauschfrist)

Belohnung 2 (10 € Gutschein)

Belohnung 3 (15 % Rabatt)

Belohnunsgsform

Abb. 11.5  Wahrscheinlichkeit der Nutzung ohne bestehende Kaufabsicht

Belohnung 4 (Handyhülle)

11  Spielerisch lockt der Einzelhandel den Kunden – Einfluss von Belohnungen …

163

11.3.4 Kritische Würdigung der Untersuchung Um die Ergebnisse entsprechend zu bewerten erfolgt eine kritische Würdigung der Untersuchung. Ein möglicher Kritikpunkt der Online-Umfrage besteht in der Auswahl des TAM. Beim TAM handelt es sich um ein relativ einfaches Modell, welches deshalb bereits vielfältig kritisiert wurde. Zudem setzt das TAM eine positive Grundeinstellung der Nutzer voraus, was meist nicht dem natürlichen Verhalten der Menschen entspricht. Grundsätzlich sollte eher von einer negativen Grundeinstellung gegenüber neuen Technologien ausgegangen werden (Leps 2016). Des Weiteren wurden nur die Konstrukte Computer Playfulness (CP) und Perceived Enjoyment (PE) in die Analyse durch das TAM einbezogen. Faktoren, die außerdem noch einen Einfluss aufweisen könnten, wie beispielsweise soziale Faktoren, wurden nicht untersucht. Zudem besteht ein weiterer Kritikpunkt in der Datenerhebung. Da die Daten für vier Belohnungsformen erhoben wurden, mussten die Teilnehmer der Online-­ Umfrage sehr viele ähnliche Fragen beantworten. Dies kann zu Verwirrungen und Komplikationen bei der Beantwortung geführt haben. Bezüglich des Laborexperiments besteht die Frage, ob die Konkretisierung der Belohnungen (z.  B. 10  Euro Gutschein) sinnvoll ausgewählt wurden, denn nur, wenn diese dem Nutzer tatsächlich Nutzen stiften, ist von einer Verwendung der App auszugehen. Da dies jedoch eine subjektive Empfindung ist, können Ergebnisse nur schwer verglichen werden. Des Weiteren muss hinterfragt werden, ob die Mock-Up Oberfläche den realen Verhältnissen einer Shopping-App entspricht und dem Nutzer das gleiche Gefühl, wie eine tatsächliche App, vermitteln konnte.

11.4 Zusammenfassung und Ausblick Insgesamt konnten mithilfe der Untersuchung im vorliegenden Beitrag Erkenntnisse darüber erlangt werden, ob die Verwendung von Gamification in einer Shopping-­App dazu beitragen kann Kunden vom Online-Handel zurück in stationäre Ladengeschäfte zu leiten. Die durchgeführte Online-Umfrage, in der auf Basis des TAMs die Akzeptanz von Nutzern einer Shopping-App mit vier Belohnungsformen (Service, geldwerter Vorteil, Rabatt und Geschenk) abgefragt wurde, zeigte keine signifikanten Ergebnisse. Die Werte der Parameter für die Belohnungsform Geschenk waren noch am besten, jedoch auch nicht signifikant. Insgesamt haben die Ergebnisse des Laborexperiments die Ergebnisse aus der Online-Umfrage bestätigt. Auch im Laborexperiment wurde die Belohnungsform Geschenk bevorzugt. Darüber hinaus erzielte die Belohnungsform Rabatt ebenfalls positive Bewertungen. Die Shopping-App mit Gamification erzielte im Laborexperiment unabhängig von der Belohnungsform bessere Ergebnisse als die Shopping-­ App ohne Gamification. Allerdings wurde ebenfalls deutlich, dass eine Verwendung der App-Version mit Gamification nur dann wahrscheinlich ist, wenn bereits eine Kaufabsicht bei den potenziellen Kunden besteht.

164

A. Stein et al.

Für den stationären Einzelhandel leiten sich aufgrund dieses Beitrags folgende Empfehlungen ab. Gamification in einer Shopping-App, durch dessen Nutzung Belohnungen generiert werden können, kann beim Aufbau von Kundenloyalität unterstützend wirken. Dafür ist es jedoch notwendig, dass Gamification dahingehend implementiert ist, dass beispielsweise die Mitarbeiter Bescheid wissen und entsprechend agieren. Zum Beispiel kann es negative Auswirkungen auf die Akzeptanz der Shopping-App mit Gamification der Kunden haben, wenn die erspielten Belohnungen im stationären Einzelhandel nicht akzeptiert werden. Folglich sollten die Mitarbeiter beim Einsatz solch einer App vorab informiert sein, damit sie entsprechend handeln können. Des Weiteren sollten Belohnungen einen tatsächlichen unmittelbaren Nutzen für die Kunden aufweisen. Dies bedeutet, dass anders als bei anderen Belohnungsprogrammen nicht erst eine bestimmte Anzahl an Punkten gegen eine Belohnung eingetauscht werden kann, sondern eine sofort verfügbare Belohnung erfolgt. Zudem sollte Gamification ein eigener Bestandteil der Multi-Channel Strategie des Unternehmens sein. Eine spätere Integration des Themas führt nicht immer zum Erfolg und kann eventuell nicht tief greifend genug integriert sein. Folglich sollte bereits in der Konzeptionierungsphase der Multi-Channel Prozesse festgelegt werden, ob Gamification eingesetzt wird oder nicht und in welchem Ausmaß. Hierbei ist es wichtig die Kunden nicht vom eigentlichen Ziel (dem Erwerb von Ware) abzulenken, sondern eben jenes Ziel deutlich zu präsentieren. Eine Belohnung in Form eines zusätzlichen Geschenks erscheint nach dieser Studie am aussichtsreichsten aber auch die Belohnung in Form eines Gutscheins wurde positiv bewertet. Im Allgemeinen kann Gamification demnach ein geeignetes Mittel sein, um bestehende Kaufabsichten zu verstärken oder bei Bestandskunden Loyalität zu fördern. Auch die Erschließung neuer Kundengruppen ist möglich. Händlern sollte jedoch bewusst sein, dass der Einsatz von Gamification nicht unbedingt eine positive Beeinflussung des finanziellen Gewinns bedeutet. Allerdings kann Gamification die Kundenbindung, das Markenbewusstsein und die Interaktion mit den Kunden steigern (Zichermann und Linder 2010). Weitere Möglichkeiten zur Forschung bestehen beispielsweise darin zu untersuchen, ob die Akzeptanz einer Shopping-App mit Gamification genauso ausfallen würde wie in der vorliegenden Studie, wenn die Belohnungen auch im Online-­ Handel eingelöst werden können. Betrachtet werden könnte dabei auch, ob die Kunden diese Belohnungen gegebenenfalls dennoch lieber im stationären Einzelhandel einlösen. Hierbei könnten auch noch andere Belohnungsformen in die Betrachtung einbezogen werden. Zudem sollte auf Basis des durchgeführten Laborexperiments im nächsten Schritt ein Feldtest mit einem Unternehmen durchgeführt werden, um das Potenzial von Gamification bezüglich des Kanalwechsels in der Praxis zu untersuchen. Dadurch können weitere Erkenntnisse zu Gamification im Einzelhandel gewonnen werden, die dabei helfen können die Multi-Channel Strategien der Händler positiv zu beeinflussen.

11  Spielerisch lockt der Einzelhandel den Kunden – Einfluss von Belohnungen …

165

Literatur bevh (2016) Interaktiver Handel in Deutschland 2015: Fast jeder achte Euro wird online ausgegeben, Pressemitteilung. http://www.bevh.org/presse/pressemitteilungen/details/ar-tikel/interaktiver-handel-in-deutschland-2015-fast-jeder-achte-euro-wird-online-ausgegeben/. Zugegriffen am 16.01.2017 Brandenburg T, Thielsch MT (2012) Praxis der Wirtschaftspsychologie. Monsenstein und Vannerdat, Münster Davis FD (1989) Perceived usefulness, perceived ease of use, and user acceptance of information technology. MIS Q 13:319–339. https://doi.org/10.2307/249008 Deterding S, Khaled R, Nacke LE (2011) Gamification: toward a definition. In: CHI 2011 workshop, Vancouver Hochhardt R (2013) Stationärer Handel bei vielen Einkaufskriterien im Vorteil. hochhardt & partner. http://www.hochhardt.de/stationarer-handel-bei-vielen-einkaufskriterien-im-vorteil/. Zugegriffen am 30.01.2017 Leps O (2016) Nutzung von Akzeptanz von E-Gouvernment-Fachanwendungen in der öffentlichen Verwaltung. Logos, Berlin Robra-Bissantz S, Lattemann C (2017) 7 rules of attraction. HMD 54:639–658. https://doi. org/10.1365/s40702-017-0354-x Venkatesh V, Bala H (2008) Technology acceptance model 3 and a research agenda on interventions. Decis Sci 39:273–315. https://doi.org/10.1111/j.1540-5915.2008.00192.x Zichermann G (2016) Gabe Zichermann and Gameification at NEA 2016. Youtube. https://www. youtube.com/watch?v=ubIhTwKOJiU. Zugegriffen am 30.10.2016 Zichermann G, Linder J (2010) Game-based marketing. Wiley, Hoboken

Messung der Customer Experience im Ladengeschäft mit Location-based Crowdsourcing und Geofencing

12

Carolin Durst, Janine Hacker und Theresa Berthelmann

Zusammenfassung

Angesichts der zunehmenden Konkurrenz durch Online Shops ist die Schaffung eines ganzheitlichen Kundenerlebnisses (engl. Customer Experience) für stationäre Einzelhandelsunternehmen von besonderer Bedeutung. Hierbei geht es darum, eine positive Wahrnehmung einzelner Einkaufserlebnisse beim Kunden zu erzielen – über die Produkte, den Service und die Atmosphäre im Ladengeschäft. Um dieses Ziel zu erreichen setzen Einzelhandelsunternehmen verstärkt auf innovative Konzepte zur Schaffung eines einzigartigen Kundenerlebnisses. Unklar ist jedoch, wie diese Maßnahmen beim Kunden ankommen und ob sie tatsächlich zu einem positiven Einkaufserlebnis beitragen. Während sich das Kundenverhalten aufgrund einer Vielzahl digitaler Spuren in Online Stores relativ leicht erfassen und analysieren lässt, ist man im stationären Einzelhandel noch immer auf klassische Methoden, wie zum Beispiel Kundenbefragungen im Ladengeschäft, angewiesen. Diese sind jedoch einerseits zeit- und ressourcenintensiv und werden andererseits von Kunden häufig als Belästigung wahrgenommen.

Unveränderter Original-Beitrag Durst et al. (2017) Messung der Customer Experience im Ladengeschäft mit Location-based Crowdsourcing und Geofencing, HMD – Praxis der Wirtschaftsinformatik Heft 317, 54(5):713–726. C. Durst (*) ITONICS GmbH, Nürnberg, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Hacker FAU Erlangen-Nürnberg, Nürnberg, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Berthelmann Statista GmbH, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Robra-Bissantz, C. Lattemann (Hrsg.), Digital Customer Experience, Edition HMD, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1_12

167

168

C. Durst et al.

Dieser Beitrag stellt ein innovatives Konzept mit unterschiedlichen Design-­ Optionen zur Messung der Customer Experience basierend auf Location-based Crowdsourcing in Verbindung mit Geofencing vor, der die genannten Herausforderungen adressiert. Am Fallbeispiel von Streetspotr werden erste Erfahrungen mit den unterschiedlichen Designs erläutert und Handlungsempfehlungen aufgezeigt. Schlüsselwörter

Crowdsourcing · Geofencing · Location-based Crowdsourcing · Customer-Experience-Messung · Ladengeschäft

12.1 H  erausforderungen bei der Messung von Customer Experience im Ladengeschäft Die Schaffung eines ganzheitlichen Kundenerlebnisses ist insbesondere für stationäre Einzelhandelsunternehmen zunehmend von hoher Relevanz. Hierbei geht es darum, eine positive Wahrnehmung einzelner Einkaufserlebnisse beim Kunden zu erreichen – über die Produkte, den Service und die Atmosphäre im Ladengeschäft (Leischnig et al. 2012). Trends wie „Retail Multiplicity“ zielen darauf ab, klassische Einkaufsumgebungen in Erlebnisräume zu verwandeln und mehr zu bieten, als das reine Verkaufen von Produkten und Dienstleistungen. So hat die Fastfood-Kette Burger King beispielsweise in Finnland eine Filiale eröffnet, welche neben der klassischen Speisekarte ein In-Store Spa anbietet. Das Spa verfügt über zwei Saunen, Duschen, Ankleideräume, eine private Lounge und knüpft an Finnlands kulturelle Wertschätzung der Saunen als Raum für soziale Geselligkeit an (O’Hare 2016). Auch der US-Sportartikelhersteller Patagonia entwickelt neue Konzepte, die über ein „herkömmliches“ Einkaufserlebnis hinaus gehen. Hierfür hat Patagonia in New  York City einen Concept Store eröffnet, welcher Meeting-Räume für Non-­ Profit-­ Unternehmen und kostenlose Yoga-Kurse anbietet (Steiner 2015). Diese zwei Beispiele zeigen deutlich, welche Aufwände in die Schaffung eines ganzheitlichen, neuen, innovativen und inspirierenden Kundenerlebnisses fließen. Doch wie empfindet der Kunde das Einkaufserlebnis? Wie kann man den Effekt dieser Konzepte auf das Kundenerlebnis, die sog. Customer Experience messen? Während sich das Kundenverhalten aufgrund einer Vielzahl digitaler Spuren in Online Stores relativ leicht erfassen und analysieren lässt, ist man im stationären Einzelhandel noch immer auf klassische Methoden, wie beispielsweise beobachtende Verfahren oder direkte Kundenbefragungen, angewiesen (Bruhn und Hadwich 2013, S. 25). Diese sind jedoch zeit- und ressourcenintensiv und werden vom Kunden häufig als Belästigung wahrgenommen. Innovative Technologien können die Messung von Customer Experience im Ladengeschäft unterstützen und Unternehmen zu einem ganzheitlicheren Bild über den Kunden verhelfen. In diesem Zusammenhang eröffnen Smartphones durch ihre Internetfunktionalität und die Integration verschiedener Sensoren neue Möglichkeiten

12  Messung der Customer Experience im Ladengeschäft mit Location-based …

169

zur Bearbeitung standortbezogener, sog. Location-based Crowdsourcing-­Aufgaben (Alt et al. 2010). Kunden können auf dem Smartphone anhand von Text, Fotos oder Videos auf einfache Art und Weise dokumentieren, was ihnen beim Einkauf positiv und negativ aufgefallen ist. Als Intermediär bietet der Crowdsourcing-­Anbieter dem Auftraggeber (z.  B. dem Inhaber des Ladengeschäfts) hierbei Zugriff auf einen großen Pool an Crowdworkern und übernimmt die Durchführung, Steuerung und Qualitätssicherung der Befragung. In Verbindung mit Geofencing kann das Mess-Design weiter verfeinert werden. Geofencing ermöglicht die Kennzeichnung (geografischer) Bereiche mit einem virtuellen Zaun (engl. fence) (Schmitz und Tegeder 2015), in welchen bestimmte Aktionen, wie zum Beispiel der Start einer Umfrage auf dem Smartphone, automatisiert ausgelöst werden können. Nun stellt sich die Frage, ob und inwieweit diese innovativen Technologien traditionelle Methoden zur Messung der Customer Experience im Ladengeschäft ergänzen oder sogar ablösen können. Wie lassen sich Geofencing und Location-based Crowdsourcing zur Messung der Customer Experience kombinieren und wie müssen Aufgaben ausgestaltet sein, damit die Kunden sich nicht belästigt fühlen und an den Befragungen teilnehmen? Dieser Beitrag stellt ein Konzept mit unterschiedlichen Design-Optionen zur Messung der Customer Experience unter Verwendung von auf Location-based Crowdsourcing und Geofencing vor, das diese Fragen adressiert. Am Fallbeispiel von Streetspotr1 werden erste Erfahrungen mit den unterschiedlichen Designs erläutert und Handlungsempfehlungen aufgezeigt.

12.2 Customer-Experience-Messung im Ladengeschäft Customer Experience besteht „aus sämtlichen individuellen Wahrnehmungen, Interaktionen sowie der Qualität der angebotenen Leistung […], die ein Kunde während seiner Interaktionen mit dem Unternehmen erfährt“ (Bruhn und Hadwich 2013, S.  10). Die Customer Experience wird durch verschiedene Determinanten, u. a. kundenbezogene, unternehmensbezogene und situative Faktoren, beeinflusst (Bruhn und Hadwich 2013, S. 18 ff.). Die Stellen, an denen ein Kunde mit dem Unternehmen in Kontakt tritt werden als Kontaktpunkte (engl. Customer Touch Points) bezeichnet. Für die Gesamtheit der messbaren Kontaktpunkte des Kunden wird auch der Begriff Customer Journey verwendet (BVDW 2012). Diese umfasst sowohl Kontakte über Marketingkanäle als auch Interaktionen mit dem Verkaufspersonal im Ladengeschäft. Customer Journey Maps werden zur Visualisierung der „Reise des Kunden“ durch ein Online Store oder ein stationäres Geschäft genutzt und dienen als Grundlage zur Customer-­ Journey-­Analyse. Abb. 12.1 zeigt die Phasen einer typischen Customer Journey im stationären Einzelhandelsgeschäft sowie Aspekte und Fragen, die aus Sicht des Unternehmens in den einzelnen Phasen relevant sind. Während Customer Experience die Gesamtheit der Erfahrungen des Kunden mit einem Unternehmen beschreibt, fokussiert sich dieser Artikel auf die Messung der  www.streetspotr.com.

1

Welche Kanāle sind erfolgreich? Wie kann Customer Engagement gesteigert werden?

Ausgewāhlte Schlüsselfragen

Wie leicht finden Kunden das Geschāft? Wie sauber ist der Parkplatz? Wie ist das Erscheinungsbild der Verkāufer?

Weg zum Geschāft, Parkmöglichkeiten, Sauberkeit, Gestaltung des Schaufensters, erste Eindrücke

Ankunft

Außerhalb des Geschäfts

Was sind die ersten Eindrücke des Kunden beim Betreten des Geschāfts? Wie leicht finden Kunden die Produkte? Sind die Verkāufer ansprechbar?

Erste Eindrücke, Verhalten des Verkaufspersonals, Navigation im Laden

Eingangsbereich

Abb. 12.1  Typische Phasen einer Customer Journey (in Anlehnung an Brown (2015))

Werbungüber verschiedene Kanāle (Online, Print, TV), Social Media

Marketing

Beschreibung

Kontaktpunkt

Wahrnehmung vor dem Kauf

Ist die Gestaltung des Geschāfts intuitiv? Wie bewegen sich Kunden im Laden? Wie leicht finden Kunden Hilfe?

Navigation, Gestaltung des Geschāfts, Auffindbarkeit der Produkte, Kontakt mit Verkaufspersonal

Verkaufsfläche

Im Geschäft

Wie lang müssen Kunden warten? Wie unterstützt das Personal beim Bezahlen? Wie kann durch Up-Selling und Cross-Selling der Umsatzgesteigert werden?

Wartezeit, Impulskāufe, Self Checkout, Kontakt mit Kassenpersonal, letzte Eindrücke

Kasse

Wurden die Bedürfnisse des Kunden befriedigt? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Kaufs?

Bedürfnis, Wiederkaufswahrscheinlichkeit

Status

Wie können Kundenbindungund-loyalitāt verbessert werden?

Kundenbindung, Kundenloyalitāt

Erneuter Kauf

Wahrnehmung nach dem Kauf

170 C. Durst et al.

12  Messung der Customer Experience im Ladengeschäft mit Location-based …

171

Customer Experience in den Phasen direkt vor, während und direkt nach dem Einkauf (in Abb. 12.1 farblich hervorgehoben). Hinsichtlich der Customer Experience spielen in diesen Phasen vor allem die Beschaffenheit der Umgebung des Geschäfts, die Gestaltung des Ladens sowie die Verfügbarkeit, das Auftreten, und die Kompetenz des Verkaufspersonals eine wichtige Rolle. Die Messung der Customer Experience kann in diesen Phasen implizit, d. h. durch beobachtende Verfahren, oder durch direkte Interaktion mit dem Kunden erfolgen. So können zum Beispiel quantitative Häufigkeitsabschätzungen vorgenommen werden, um stark frequentierte Einkaufszeiten zu bestimmen und entsprechend eine höhere Anzahl an Mitarbeitern bereitzustellen. Auch kann der Weg des Kunden durch den Laden beobachtet werden, um Rückschlüsse hinsichtlich der Übersichtlichkeit der Verkaufsfläche zu ziehen. Andererseits kommen häufig direkte Kundenbefragungen oder Interviews zum Einsatz, welche genauere Einblicke in Bezug auf „weichere Faktoren“, wie zum Beispiel die Atmosphäre im Laden oder die wahrgenommene Freundlichkeit des Personals, bieten (Bruhn und Hadwich 2013, S. 25). Kundenbefragungen können beim Betreten des Ladens, im Geschäft, beim Verlassen, oder – unter der Bedingung, dass das Unternehmen über die entsprechenden Kontaktdaten verfügt – mit zeitlichem Abstand nach dem Aufenthalt im Laden erfolgen. Durch die Variation des Zeitpunkts der Befragung können unterschiedliche Aspekte untersucht werden: Was gefällt oder missfällt dem Kunden beim Einkauf? Was bewertet er direkt nach dem Einkauf positiv oder negativ? Und an was kann sich der Kunde einen Tag nach dem Einkauf noch erinnern? Direkte Kundenbefragungen bieten umfassende Einblicke in die Customer Experience. Jedoch ist die Durchführung im Ladengeschäft schwierig, da Kunden nach dem Verlassen des Geschäfts häufig keine Zeit haben, an einer Befragung teilzunehmen oder sich durch persönliche Interviewer belästigt fühlen. Um diese Nachteile von direkten Kundenbefragungen auszugleichen und weitere Design-Optionen zu integrieren, setzt das nachfolgend vorgestellte Konzept auf Location-based Crowdsourcing in Verbindung mit Geofencing.

12.3 Location-based Crowdsourcing und Geofencing Die partizipative Generierung von Inhalten (User-Generated Content) und das kollektive Wissen einer großen Anzahl von Nutzern bilden die Grundpfeiler des Web 2.0. Unternehmen greifen die Idee des Wisdom of the Crowds (Surowiecki 2005) im sogenannten Crowdsourcing auf. Dieser von Jeff Howe geprägte Begriff beschreibt die Auslagerung von traditionell innerhalb des Unternehmens ausgeführten Aufgaben an eine unbestimmt große und heterogene Gruppe von Individuen, die sog. Crowd (Howe 2006). Die Crowd bietet für Unternehmen einen schnellen, flexiblen und relativ kostengünstigen Zugriff auf einen großen Wissenspool. Dabei kann die Crowd für die Bearbeitung von kreativen Aufgaben (Ideenwettbewerbe) bis hin zu einfachen Microjobs (Vertaggen von Bildern) eingesetzt werden (Geiger et al. 2013).

172

C. Durst et al.

Allgemein beinhaltet Crowdsourcing drei Kategorien von Akteuren (Schenk und Guittard 2009): (1) Die Individuen, welche die Crowd bilden und ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen (Crowdworker), (2) die Unternehmen, die von den erarbeiteten Ergebnissen profitieren (Auftrag­ geber) (3) und einen Intermediär, der eine Online-Plattform zur Vermittlung der Aufträge zwischen der Crowd und den Unternehmen zur Verfügung stellt. Der Zugriff auf die virtuelle Vermittlungsplattform erfolgt allgemein über ein internetfähiges Mobiltelefon (Smartphone) oder über einen PC.  Hierbei ermöglichen Smartphones neue Arten von standortbezogenen Aufgaben, sogenannte Location-­ based-Crowdsourcing-Aufgaben. Diese Sonderform des Crowdsourcing erfordert die physische Präsenz eines Crowdworkers, um Aufgaben vor Ort, zum Beispiel die Beurteilung einer Produktplatzierung, durchzuführen (Väätäjä et  al. 2011). Zur Bearbeitung dieser Aufgaben stehen verschiedene Optionen zur Verfügung (siehe Tab. 12.1). Zur Bearbeitung von Location-based-Crowdsourcing-Aufgaben installiert ein Crowdworker eine Applikation auf dem Smartphone und legt ein Nutzerkonto auf der Plattform des jeweiligen Intermediärs an. Nach der Anmeldung zeigt der Startbildschirm dann Orte in der Umgebung, an denen Microjobs vorhanden sind. Tab. 12.1  Exemplarische Aufgabenoptionen bei Location-based Crowdsourcing [in Anlehnung an Durst und Utzt (2014)] Aufgabenoption Beispiel Foto Vertriebssteuerung: Fotografiere den „Todesstern“ (Lego Nummer: 10143) und dessen Darstellung/Dekoration/Display im Lego Store. Achte beim Fotografieren darauf, dass das Produkt und dessen Umfeld gut zu sehen sind. Video Kundenfrequenzmessung: Suche einen geeigneten Ort, um die Ladenstraße zu filmen. Achte hierbei darauf, dass das Video deutlich zeigt, wie stark die Auslastung des Einkaufszentrums ist. Text Wettbewerbsanalyse: Beschreibe das allgemeine Ambiente in der Bar, insbesondere Musik, Dekoration und Sitzmöglichkeiten. Multiple Kaufentscheidung: Choice Welches Kriterium hat die Entscheidung des Kunden beim Kauf der Kaffeemaschine am stärksten beeinflusst? Auswahlmöglichkeiten: Preis, Qualität, Image der Marke, Service Single Choice Produktplatzierung: Gibt es spezielle Promotion oder sonstige Hinweise die auf das Produkt aufmerksam machen? (Ja/Nein). Bewertung Produktbewertung: Bewerte das Produkt anhand folgender Kriterien: - Frische (1–5 Sterne) - Geschmack (1–5 Sterne) - Qualität (1–5 Sterne)

12  Messung der Customer Experience im Ladengeschäft mit Location-based …

173

Für die Bearbeitung einer Aufgabe muss sich der Crowdworker in unmittelbarer Nähe der Aufgaben befinden. Nach erfolgreicher Bearbeitung werden Crowdworker monetär oder nicht-monetär entlohnt. Crowdsourcing-Plattformen, wie zum Beispiel Streetspotr, bieten den Unternehmen aktuelle Informationen über den Stand der Ausführung sowie allgemeine Statistiken zu ihren geschalteten Aufgaben. Die Kombination von Geofencing und Location-based Crowdsourcing ermöglicht weitere Design-Optionen mit einer genaueren Zuteilung der Aufgaben auf Basis von räumlichen und zeitlichen Parametern. Generell definiert eine Geofence einen statischen geografischen Bereich, der durch einen virtuellen Zaun abgegrenzt wird. Der Radius dieses Bereichs wird frei definiert und entspricht beispielsweise einem Geschäft. Ein Smartphone kann verfolgen, ob ein Nutzer die Geofence betritt oder verlässt und mithilfe von Geotriggern werden bestimmte Handlungen ausgelöst, sobald ein Smartphone-Besitzer in den gekennzeichneten Bereich eintritt (aktives Geofencing), ihn verlässt (passives Geofencing, siehe Abb. 12.2) oder wenn er eine bestimmte Zeitspanne in diesem Bereich verbracht hat. Push-Benachrichtigungen auf Smartphones zählen zu den Standardaktionen, die über Geotrigger ausgelöst werden (Schmitz und Tegeder 2015). Die Festlegung einer bestimmten Zeitspanne ermöglicht, die Customer Experience während oder unmittelbar nach dem Einkaufserlebnis zu messen oder mit einer gewissen Zeitverzögerung die Erinnerung an das Einkaufserlebnis zu bewerten (siehe Abschn. 12.2). Zudem erlaubt die Kombination aus Location-based Crowdsourcing und Geofencing unterschiedliche Varianten, um Crowdworker auf Aufgaben aufmerksam zu machen. Zum Beispiel kann in Form einer öffentlichen Bekanntmachung auf der Crowdsourcing-Plattform auf die Aufgabe hingewiesen werden. Diese Bekanntmachung enthält die genaue Aufgabenstellung oder einen Hinweis, dass es an diesem Ort etwas zu entdecken gibt. Jedoch bergen diese Bekanntmachungen das Risiko, Kunden zu befragen, die sich üblicherweise nicht in dem Geschäft aufhalten. Um dies zu verhindern, wird oftmals auf die öffentliche Ausschreibung der Aufgabe verzichtet.

Abb. 12.2  Aktives vs. passives Geofencing

174

C. Durst et al.

Geofencing wird aktuell häufig im Retail-Marketing, z.  B. zur Steuerung von Marketingkampagnen, eingesetzt. So hat die amerikanische Kaffeehauskette Starbucks beispielsweise jedem Kunden, der sich einer Filiale auf 100  Meter nähert, einen Coupon als Push-Nachricht auf das jeweilige Smartphone geschickt. Anschließend konnte nachvollzogen werden, wie viele Coupons verteilt und eingelöst wurden und welche Filialen am erfolgreichsten waren (Schmitz und Tegeder 2015).

12.4 C  ustomer-Experience-Messung mittels Location-based Crowdsourcing und Geofencing Im Location-based Crowdsourcing stehen allgemein folgende Design-Parameter zur Verfügung: • Ort: Wo soll eine bestimmte Aufgabe bearbeitet werden? • Aufgabenoptionen: Mit welchen Aufgabenoptionen soll die Aufgabe bearbeitet werden (siehe Tab. 12.1)? • Incentives: Welche monetären und nicht-monetären Anreize sollen für die Aufgabenbearbeitung gesetzt werden? • Laufzeit: Welche Laufzeit (Feldzeit) wird insgesamt für die Studie festgesetzt? • Voraussetzungen: Welche Eigenschaften (z. B. Alter, Geschlecht oder Bildungsniveau) muss ein Crowdworker besitzen, damit er die Aufgabe bearbeiten kann? Durch das Anlegen eines Nutzerkontos auf der Location-based Crowdsourcing-­ Plattform des Intermediärs sind alle Probanden als Crowdworker registriert. Im Rahmen eines Screenings kann somit auf die im Nutzerprofil hinterlegten Informationen zurückgegriffen werden und die gewünschte Zielgruppe für die Befragung festgelegt werden. Zu den Informationen, welche generell im Profil hinterlegt sind, zählen u.  a. soziodemografische Daten, wie Alter, Geschlecht oder Einkommen. Das Profil kann je nach Bedarf mit weiteren Daten angereichert werden. Für die Messung der Customer Experience ist hier zum Beispiel interessant, ob der Proband bestimmte Produkte bevorzugt, gerne in Gruppen einkauft oder sich als introvertiert einstuft (Bruhn und Hadwich 2013, S. 12). Geofencing ergänzt Location-based Crowdsourcing um zusätzliche Design-­ Optionen: • Art der Bekanntmachung: Soll der Ort der Aufgabe öffentlich bekannt gemacht oder auf die Bekanntmachung verzichtet werden? • Geofencing-Typ: Soll eine Aufgabe beim Betreten (aktiv) oder beim Verlassen (passiv) des gekennzeichneten Bereichs zugestellt werden (siehe Abschn. 12.3)? • Zeitintervall: Wie groß soll das Zeitintervall zi zwischen Geotrigger und Zustellung der individuellen Aufgaben sein? Die in Tab.  12.2 dargestellten Design-Optionen bilden ein Kontinuum zwischen aktivem Design (Bekanntmachung und Befragung nach Betreten der Geofence)

12  Messung der Customer Experience im Ladengeschäft mit Location-based …

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Tab. 12.2 Design-Optionen Design 1 2 3 4

Öffentliche Bekanntmachung der Aufgabe Ja Nein Ja Nein

AUFTRAGGEBER

Geofencing-­Typ Aktiv Aktiv Passiv Passiv

Zeitintervall zi zwischen Geotrigger und Zustellung zi nach Betreten der Geofence zi nach Betreten der Geofence zi nach Verlassen der Geofence zi nach Verlassen der Geofence

AUFTRAGNEHMER

INTERMEDIÄR

Konfiguration der Aufgabe Ergebnis

Location-basedCrowdsourcingAufgaben

Bearbeitung der Aufgabe Entgelt

CROWDSOURCING-PLATTFORM

Abb. 12.3  Funktionsweise von Location-based Crowdsourcing bei Streetspotr

und passivem Design (keine Bekanntmachung und Befragung nach dem Verlassen der Geofence). Die Kombination von Location-based Crowdsourcing und Geofencing ermöglicht ein flexibles Design zur Messung der Customer Experience im Ladengeschäft via direkte Befragungen auf dem Smartphone des Kunden. Hierfür werden eines oder mehrere Geschäfte mit einer Geofence gekennzeichnet und durch einen Geo­ trigger ein Fragebogen an den jeweiligen Crowdworker verschickt. Die folgende Fallstudie untersucht die verschiedenen Design-Optionen aus Tab. 12.2 um herauszufinden, wie sich aktive und passive Designs auf die Anzahl der angenommenen, abgebrochenen und vollständig bearbeiteten Aufgaben auswirken.

12.5 Fallstudie mit Streetspotr Das Unternehmen Streetspotr ist ein Crowdsourcing-Intermediär, der Unternehmen die Auslagerung von kleinen ortsabhängigen Aufgaben an Privatpersonen ermöglicht. Der Auftraggeber konfiguriert die Aufgaben über die C ­ rowdsourcing-­Plattform, welche anschließend gegen ein Entgelt über eine mobile Applikation angeboten und bearbeitet werden können (Abb.  12.3). Aktuell hat die Streetspotr-­Crowd über 550.000 Mitglieder (sog. „Streetspotr“) weltweit und ist eine der führenden Plattformen im Bereich Location-based Crowdsourcing (IG Metall 2017). Die nachfolgenden Abschnitte beschreiben das Vorgehen und die Ergebnisse einer Fallstudie, in der Location-Based Crowdsourcing in Kombination mit Geofencing am Hauptbahnhof Nürnberg eingesetzt wurde. Ziel der Studie war es, die Präferenz der Probanden aus der Streetspotr-Crowd hinsichtlich der verschiedenen in Tab. 12.2 genannten Design-Optionen, zum Beispiel in Bezug auf den Geofencing-­ Typ und Zeitpunkt der Zustellung des Fragebogens, zu erfassen.

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C. Durst et al.

Test von Design-Optionen am Hauptbahnhof Nürnberg Allgemeines Setting: Die Location-based Crowdsourcing-Aufgabe am Hauptbahnhof Nürnberg bestand in der Beantwortung eines Fragebogens, der die Aufgabenoptionen Single Choice, Multiple Choice, Foto und Bewertung beinhaltete (Tab. 12.1). Zur Erledigung der Aufgabe war es notwendig, dass die Streetspotr Geofencing, also das Tracken des Smartphones, für eine Jobbenachrichtigung zulassen. Zudem musste sich ein Proband mindestens fünf Minuten innerhalb des Hauptbahnhofs aufgehalten haben, um sich für die Befragung zu qualifizieren. Auf weitere Screening-Optionen, z.  B. auf Basis soziodemografischer Merkmale, wurde verzichtet. Für die Teilnahme erhielt der Crowdworker eine Entlohnung von 1 EUR. Eingesetzte Designs: Die oben vorgestellten vier Basis-Designs (Tab. 12.2) wurden je zwei Wochen am Hauptbahnhof Nürnberg getestet. • Design 1: Die Aufgabe wurde über die Smartphone-App von Streetspotr vorab veröffentlicht. Dies wurde mit einem sog. Pin realisiert, der den Ort auf der Karte anzeigt, wo es etwas zu entdecken gibt (siehe Abb.  12.4, 1. Screen). Die Bekanntmachung enthielt bewusst keine konkreten Informationen zur Aufgabe und Höhe der Incentivierung, um eine Beeinflussung der Probanden vorab zu verhindern. Nach einem Aufenthalt von mindestens fünf Minuten erhielten die Probanden die Befragung über einen Geotrigger (siehe exemplarische Fragen in Abb. 12.4, 2. und 3. Screen). • Design 2: Das 2. Design ist annähernd identisch zu Design 1. Der einzige Unterschied besteht darin, dass bei Design 2 auf eine öffentliche Benachrichtigung der Crowd verzichtet wurde. Es wurden also nur Probanden befragt, die sich zufällig am Hauptbahnhof aufhielten. • Design 3: Wie in Design 1 wurde die Aufgabe in Design 3 mit einem Pin auf der Karte gekennzeichnet. Jedoch erfolgte die Zustellung des Fragebogens erst zwei Stunden nach Verlassen des Hauptbahnhofs. • Design 4: Dieses Design ist wiederum fast identisch mit Design 3. Jedoch wurde die Aufgabe vorab nicht veröffentlicht. Der Fragebogen enthielt allgemeine Fragen zum Aufenthalt der Probanden auf dem Hauptbahnhof. Zudem wurden die Probanden im letzten Abschnitt des ­Fragebogens befragt, welche Zeitverzögerung sie bei der Zustellung des Fragebogens bevorzugen (siehe Abb. 12.4, 4. Screen). Ergebnisse Innerhalb der achtwöchigen Feldzeit wurden von insgesamt 58 begonnenen Bearbeitungen 41 Aufgaben vollständig bearbeitet. Die Bearbeitungsquote beträgt demnach 71 %. Aufgrund der geringen Fallzahl können im Rahmen der Fallstudie keine signifikanten statistischen Ergebnisse erzielt werden, jedoch ergeben sich interessante deskriptive Einblicke. Wie aus Tab. 12.3 ersichtlich, schnitt Design 2 am besten ab. Hier wurden 20 Aufgaben bearbeitet und die Bearbeitungsquote betrug 80 %. Auch zeigen die Annahmequoten, dass die aktiven Designs 1 und 2 eher bearbeitet wurden als die passiven Designs 3 und 4.

Abb. 12.4  Screenshots der Crowdsourcing-Aufgabe

12  Messung der Customer Experience im Ladengeschäft mit Location-based …

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Tab. 12.3  Deskriptive Ergebnisse Total Geofencing-Typ Bearbeitete Aufgaben Vollständig bearbeitete Aufgaben Abgebrochene Aufgaben Bearbeitungsquote

58 41 17 0,71

Design 1 aktiv 17 13 4 0,77

Design 2 aktiv 25 20 5 0,8

Design 3 passiv 6 2 4 0,33

Design 4 passiv 10 6 4 0,6

In Bezug auf die Zeitverzögerung bei der Zustellung des Fragebogens bevorzugten 45 % der Befragten die direkte Zustellung des Fragebogens am Hauptbahnhof und 40 % die Zustellung direkt nach Verlassen des Bahnhofs. Nur je 10 % favorisierten die Zustellung mit einer Verzögerung von wenigen Stunden oder einem Tag.

12.6 Fazit Der stationäre Einzelhandel versucht zunehmend, sich durch innovative Shop-­ Konzepte gegenüber dem (online) Wettbewerb zu differenzieren. Einkaufs- und Erlebniswelt sollen verschmelzen und den Kunden eine einzigartige Customer Experience bieten. Der Effekt dieser innovativen Shop-Konzepte auf das individuelle Kundenerlebnis wird traditionell anhand persönlicher Kundenbefragungen bewertet, die einen hohen manuellen Aufwand verursachen und von Kunden häufig als störend empfunden werden. Das in diesem Beitrag vorgestellte Konzept zur Messung der Customer Experience verzichtet auf persönliche Kundenbefragungen und verwendet stattdessen das Smartphone des Kunden für die Zustellung und Beantwortung eines Fragebogens. Durch die Kombination aus Location-based Crowdsourcing und Geofencing können Fragebögen hierbei gezielt an die gewünschte Zielgruppe versandt werden. Geofencing ermöglicht zusätzlich die zeitliche Steuerung der Zustellung des Fragebogens. Das vorgestellte Konzept umfasst dabei vier unterschiedliche Designs zur Messung der Customer Experience, die anhand einer Fallstudie in Zusammenarbeit mit Streetspotr am Hauptbahnhof in Nürnberg getestet wurden. Über alle Test-Designs hinweg wurde eine Bearbeitungsquote von über 70  % erreicht. Dieser Erfolg zeigt, dass Probanden durchaus bereit sind, ortsbezogene Fragen mit dem Smartphone zu beantworten. Die aktiven Test-Designs wurden von den Crowdworkern eher angenommen als die passiven. In Bezug auf den bevorzugten Zeitpunkt der Zustellung favorisierten 45 % der Befragten die direkte Zustellung des Fragebogens am Hauptbahnhof (aktives Geofencing) und 40 % die Zustellung direkt nach Verlassen des Bahnhofs (passives Geofencing). Womöglich hielt sich die letztere Gruppe anschließend im Zug auf, wo ausreichend Zeit ist, den Fragebogen zu beantworten. Passives Geofencing kann jedoch hilfreich sein, um das Kundenerlebnis im Nachhinein bewerten zu lassen. Die Bereitschaft, Fragebögen mit einer längeren zeitlichen Verzögerung zu beantworten lag laut den Ergebnissen der Fallstudie bei 10 %. Die Gründe hierfür könnten darin liegen, dass sich

12  Messung der Customer Experience im Ladengeschäft mit Location-based …

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die Probanden einen Tag nach dem Aufenthalt auf dem Hauptbahnhof mit der Beantwortung der Fragen überfordert fühlen bzw. das Gefühl haben, keine verlässlichen Antworten mehr geben zu können. Limitationen hinsichtlich der Ergebnisse dieses Beitrags ergeben sich aufgrund des Designs und spezifischen Kontexts der Fallstudie. Zum einen enthält die Stichprobe lediglich Crowdworker, die den sog. „Instant Spot Alert“ Modus aktiviert haben. Durch die Ortung des Smartphones wird mithilfe dieses Modus erkannt, wann sich der Crowdworker in dem gekennzeichneten Bereich befindet bzw. ihn wieder verlässt. Somit kamen für die Fallstudie nicht alle Crowdworker der Streetspotr-­Crowd in Frage, sondern nur diejenigen, welche den Instant Spot Alert aktiviert hatten. Zum anderen ist die Stichprobe der Probanden aufgrund des Test-Settings am Hauptbahnhof Nürnberg sehr heterogen. Kunden besuchen den Bahnhof mit sehr unterschiedlichen Absichten (u. a. Zugfahrt, Einkauf, Essen). Daher lassen sich die Ergebnisse der Fallstudie nur eingeschränkt auf den Einzelhandel übertragen. Es ist jedoch zu vermuten, dass im Einzelhandelsgeschäft sowohl die Zielgruppe als auch die Absichten der Kunden homogener sind und dadurch eine höhere Bereitschaft zur Teilnahme an der Befragung bestehen würde. Die Ergebnisse dieses Beitrags stellen eine Grundlage dar, um die Attraktivität verschiedener Design-Optionen, die auf der Kombination von Location-based Crowdsourcing und Geofencing basieren, zu beurteilen. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass das Konzept zur Messung der Customer Experience verwendet werden kann. Darüber hinaus enthält es eine Reihe von Design-Varianten, welche eine Anpassung an den jeweiligen Kontext vor Ort sowie die Zielgruppe erlaubt. Um bei passiven Designs – also bei der Messung der Customer Experience nach Verlassen des Ladengeschäfts – eine höhere Anzahl von Probanden zu erreichen, eignen sich möglicherweise monetäre Incentives. Generell beeinflusst die monetäre Incentivierung beim Location-based Crowdsourcing die Annahmewahrscheinlichkeit einer Aufgabe und die Time-to-Start  – also die Zeitspanne zwischen der Bekanntmachung der Aufgabe und der Aufnahme der Aufgabe durch einen Crowdworker (Durst und Grottke 2015). In diesem Zusammenhang beschäftigen sich zukünftige Studien mit der Frage, ob höhere monetäre Incentives die Annahmewahrscheinlichkeit passiver Designs erhöhen.

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Digitale Transformation ländlicher Versorgungsstrukturen durch Partizipation der Bevölkerung

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Pascal Meier, Jan Heinrich Beinke und Frank Teuteberg

Zusammenfassung

Das Aufrechterhalten der lokalen Versorgungsinfrastruktur gestaltet sich, insbesondere für die Kommunen im ländlichen Raum, zunehmend schwerer. Durch den Bevölkerungsrückgang in ländlichen, oftmals strukturschwachen Regionen geraten diese in eine Abwärtsspirale: Die Rentabilität privatwirtschaftlicher Angebote wie beispielsweise Dorfläden sinkt durch die abnehmende Kaufkraft, die mit einer rückläufigen Bevölkerungszahl einhergeht. Dadurch folgt oft die Aufgabe der Dorfläden. Es ist festzustellen, dass der alleinige Fokus auf die Versorgung mit Gütern des alltäglichen Bedarfs nicht mehr ausreicht, um ein attraktives Angebot und nachhaltiges Geschäftsmodell sicherzustellen, und weitere Produkte und Dienstleistungen angeboten werden müssen. Die Digitalisierung eröffnet Chancen, diese Erweiterungen des Angebots voranzutreiben. In diesem Beitrag wird ein Dorfladenkonzept vorgestellt, indem der Dorfladen als Versorgungs- und Gesellschaftszentrum fungiert. Die partizipativ entwickelten Artefakte werden im Rahmen einer multi-methodischen Fallstudie in einer Gemeinde in Westniedersachsen im Kontext des vom BMBF-geförderten Demografieprojekts „Dorfgemeinschaft 2.0“ veranschaulicht erprobt. Schlüsselwörter

Nahversorgung im ländlichen Raum · Digitale Transformation · Partizipation im Digitalisierungsprozess · Dorfladenkonzept · Dorfgemeinschaft 2.0 Überarbeiteter Beitrag basierend auf Meier et  al. (2018) „Wat de Buur nich kennt, dat frett he nich!“ – Partizipation der Bevölkerung am Digitalisierungsprozess der Nahversorgung im „ländlichen Raum“, Tagungsband zur Multikonferenz Wirtschaftsinformatik (MKWI) 2018, Paul Drews, Burkhardt Funk, Peter Niemeyer und Lin Xie (Hrsg.), S. 385. P. Meier (*) · J. H. Beinke · F. Teuteberg Fachgebiet Unternehmensrechnung und Wirtschaftsinformatik, Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Robra-Bissantz, C. Lattemann (Hrsg.), Digital Customer Experience, Edition HMD, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1_13

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13.1 Einleitung Mit der Einführung von Amazon Go im US-amerikanischen Seattle betrat der bisher ausschließlich online agierende Versandhändler Amazon im Jahr 2016 neues Terrain und sorgte international für Aufsehen (Amazon 2018). Das bisherige Einkaufserlebnis ändert sich massiv: Beim Betreten des Ladens wird ein QR-Code aus der Smartphone Applikation gescannt und der Nutzer dadurch identifiziert. Durch den Einsatz von Computer Vision und Sensor Fusion werden die vom Kunden aus dem Regal entnommenen Artikel erfasst und beim Verlassen des Ladens wird dessen Konto mit der entsprechenden Summe belastet – ohne den sonst (zeit-)aufwändigen Bezahlprozess in traditionellen Supermärkten. Im Zuge der mittlerweile durch die amerikanische Federal Trade Commission genehmigte Übernahme des weltweit größten Biohändlers Whole Foods für ca. 13,7 Mrd. USD (Breustedt 2017) wird die Strategie Amazons deutlich, auch in den stationären Einzelhandel vorzudringen und diesen nachhaltig (digital) zu transformieren. Der wachsende Einfluss der Digitalisierung bspw. auf bestehende Geschäftsmodelle und Versorgungsstrukturen ist mittlerweile auch in ländlich strukturierten Regionen zu spüren (Meier et al. 2017a). Die Bevölkerung in diesen Regionen ist jedoch – in Relation zur urbanen Bevölkerung  – in vielen Fällen skeptischer hinsichtlich der Akzeptanz neuer Technologien. In der ersten Phase des Forschungsvorhabens über die zukünftige Gestaltung der Nahversorgung mit Lebensmitteln und Gütern des alltäglichen Bedarfs in der Gemeinde Ohne (Westniedersachsen, 600 Einwohner) äußerte eine Bürgerin auf Plattdeutsch: „Wat de Buur nich kennt, dat frett he nich!“.1 Damit spielte die Bürgerin jedoch nicht, wie zunächst vermutet werden kann, auf den Verzehr von Lebensmittel an, sondern auf die mangelnde Akzeptanz und Nutzung neuer (und oftmals unbekannter) Technologien an. Die Gemeinde ist Satellitenstützpunkt im BMBF-­Projekt Dorfgemeinschaft 2.0 (mehr als 5 Mio. Euro Förderung bis 2020; www.dorfgemeinschaft20.de) zur Mensch-Technik-Interaktion und spürt die negativen Auswirkungen des demografischen Wandels. In Digitalisierungsprojekten, insbesondere in ländlichen Regionen, sollte auf die spezifischen, heterogenen Anforderungen und Bedürfnisse der Bevölkerung eingegangen und entsprechende Partizipationsmöglichkeiten angeboten werden, um Hemmnisse und Ängste vor der Digitalisierung und den eingesetzten Technologien abzubauen (Meier et  al. 2017b). Vor diesem Hintergrund adressiert der vorliegende Beitrag folgende Forschungsfrage: FF: Wie kann der Digitalisierungsprozess der Nahversorgung im ländlichen Raum partizipativ gestaltet werden und in ein Konzept überführt werden, das den Bedarfen der Bevölkerung gerecht wird und somit die Nahversorgungsstrukturen langfristig aufrecht erhalten werden?

In Abschnitt zwei wird der Status Quo der Digitalisierung im Kontext der Nahversorgung im ländlichen Raum dargestellt. Darauf aufbauend wird in Abschnitt drei  „Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht!“.

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13  Digitale Transformation ländlicher Versorgungsstrukturen durch Partizipation … 183

gezeigt, dass partizipative Elemente ein essenzieller Erfolgsfaktor für Digitalisierungsprojekte sind; zudem erfolgt die Vorstellung einer Fallstudie, die die partizipative Entwicklung digitaler Nahversorgungsstrukturen in der Gemeinde Ohne (Westniedersachsen, ca. 600 Einwohner) verdeutlicht. Basierend auf diesen Erkenntnissen werden Erfolgsfaktoren für Digitalisierungsprojekte im ländlichen Raum mit besonderem Fokus auf die Versorgungsstruktur diskutiert und Herausforderungen beschrieben (Abschnitt vier). Abschließend werden in Abschnitt fünf die zentralen Ergebnisse diskutiert, Limitationen der Arbeit dargestellt sowie ein Ausblick auf weitere Entwicklungen aufgezeigt.

13.2 A  ktuelle Digitalisierungsprojekte der Nahversorgung im ländlichen Raum Ländliche Regionen stehen vor den Herausforderungen einer alternden und schrumpfenden Gesellschaft. Dies ist die Folge des demografischen Wandels in Verbindung mit der zunehmenden Urbanisierung. Durch die Konsolidierung und Konzentration des Einzelhandels verschlechtern sich in vielen ländlichen Regionen die Nahversorgungsstrukturen, da die Kaufkraft teilweise nicht mehr ausreicht ein privatwirtschaftliches Angebot vor Ort aufrechtzuerhalten (Trebbin et al. 2015). Dies hat zur Folge, dass in manchen Regionen keine lokale Versorgung angeboten werden kann und somit die Bewohner dieser Regionen weite Strecken fahren müssen, um die Versorgung mit Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs sicherzustellen. Diese Situation erfordert, dass neue Versorgungsstrukturen entwickelt werden müssen, damit die Bevölkerung nicht ihr vertrautes Umfeld verlassen muss und unter anderem dadurch den Urbanisierungs- sowie Anonymisierungsprozess und dessen Folgen (z. B. steigende Mieten sowie Isolation und Vereinsamung) weiter verschärft. Eine Lösung für diese Problemstellung kann die Digitalisierung bieten. Durch die Verbesserung von Kommunikation und Informationsübermittlung sowie gleichzeitig automatisierter Erfassung (bspw. von Lagerbeständen) können die Güter bedarfsgerechter als es aktuell der Fall ist angeboten werden. Im Folgenden werden exemplarisch Konzepte wissenschaftlicher Projekte sowie Anwendungsbeispiele aus der Praxis dargestellt und folgenden Kategorien zugeordnet (Meier et al. 2017a): 1. Technologie (eingesetzt von Kunden), 2. Technologie (verbaut im Laden), 3. Logistik und Versand sowie 4. Online Bestellsystem/Präsentation beim Kunden. Als Beispiel für einen Technologieeinsatz beim Kunden ist das „Easy Checkout“ System des Innovative Retail Laboratory (IRL) zu nennen. Dabei werden Produkte im Einkaufswagen vom Kassensystem automatisch erkannt. Anschließend kann der Kunde bargeldlos bspw. mit seinem mobilen Endgerät (NFC Technologie) oder sogar per Fingerabdruck bezahlen.2

 http://www.innovative-retail.de/index.php?id=84.

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Eine im Laden verbaute Technologie stellt beispielsweise ein Selbstbedienungsladen ohne Personaleinsatz dar. Der Kunde hat hier die Möglichkeit, mittels einer App den Laden zu betreten, die benötigten Waren zu scannen und schließlich zu bezahlen.3 Außerdem zeigt das IRL mit der sog. „intelligenten Obstschräge“4 eine Möglichkeit auf, wie die Beratung im Supermarkt auch ohne Personaleinsatz sichergestellt werden kann: Die Obstschräge erkennt automatisch welches Obst auf der Schräge liegt und zeigt spezifische Informationen über das Obst auf Displays an. Auch die Weiterentwicklung der logistischen Prozesse kann die Versorgung im ländlichen Raum verbessern. So beliefert die US-amerikanische Supermarktkette 7-Eleven in einem Pilotprojekt5 ihre Kunden mit einer Drohne. Gerade für ländliche Regionen ist diese Art der Lieferung ein sinnvolles Mittel, um lange Autofahrten, die unter (bspw. altersbedingten) Umständen nicht mehr bewältigt werden können, zu ersetzen. Ein Online-Bestellsystem, verbunden mit einem Lieferservice, kann ebenfalls vorteilhaft für Bewohner ländlicher Regionen sein, da vielen älteren Menschen der Weg zum Einkaufen schwerfällt. Hier ist neben dem Rewe Lieferdienst6 auch der Feldtest des Projektes „KoopAS“7 zu nennen. In diesem Feldtest wird u. a. ein Einkauf via Tablet erprobt, bei dem die Teilnehmer zusätzlich von einer Einkaufshilfe unterstützt werden, welche die bestellten Waren liefert und in der Wohnung einräumt. Die Online-Bestellmöglichkeiten können auch in anderer Form vollzogen werden. So wird eine Bestellung per Chat-Bot vom Online-Lebensmittelhändler „AllyouneedFresh“8 in einem Pilotprojekt bereits angeboten. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es sowohl von Seiten der Forschung als auch in der Praxis eine Vielzahl an Projekten gibt, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Nahversorgung im ländlichen Raum auch in Zukunft zu gewährleisten. Neben den zahlreichen technischen Neuerungen, die zu einer Verbesserung der Versorgungsstruktur beitragen, zeigen jedoch insbesondere die wissenschaftlichen Projekte, dass der Dorfladen auch als sozialer Treffpunkt dient. Folglich dürfen die technischen Neuerungen den sozialen Charakter des Dorfladens nicht zum Erliegen bringen. Um dies zu gewährleisten, ist es besonders wichtig, die Bewohner der ländlichen Regionen am Digitalisierungsprozess der Nahversorgung aktiv teilhaben zu lassen.

3  https://www.onlinehaendler-news.de/handel/internationales/23866-dorfladen-schwedische-digitalisierung-tante-emma-laden.html. 4  http://www.innovative-retail.de/index.php?id=90. 5  https://www.recode.net/2016/12/20/14026396/7-eleven-drone-delivery-flirtey-first-retail-us-reno-nevada. 6  https://www.rewe.de/service/online-einkaufen/. 7  http://koopas.de/?p=178. 8  https://www.allyouneedfresh.de/magazin/einkaufen-per-whatsapp-mit-allyouneedfresh/.

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13.3 P  artizipative Entwicklung digitaler Nahversorgungsstrukturen am Beispiel der Gemeinde Ohne 13.3.1 Partizipativer Anforderungserhebungsprozess Das in Abb.  13.1 dargestellte Vorgehensmodell zur digitalen Transformation von Dorfläden nach (Meier et al. 2017a) dient als Ausgangsbasis für die Konzeption und Durchführung des Forschungsvorhabens. Zu Beginn der Untersuchungen sind Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen (u. a. Wirtschaftsinformatik, Logistik, Betriebswirtschaft) mit der Bürgermeisterin in der Gemeinde vor Ort zu einem Workshop zusammengekommen. Dabei wurde die Zielsetzung abgestimmt und verschiedene Herangehensweisen diskutiert. Es wurde das Ziel gesetzt, eine Umfrage durchzuführen, die die Bereitschaft der Bevölkerung gegenüber bestehenden und sich entwickelnden Technologien im Dorfladenumfeld feststellen soll. Bei dieser Zielsetzung stellt sich das Problem, dass die Bevölkerung die Technologien oftmals nicht kennt bzw. sie sich diese nicht im Kontext vorstellen kann. Deswegen wurde im Rahmen dieses Workshops entschieden, dass die Technologien durch Vignetten den Umfrageteilnehmern nähergebracht werden sollten. Zur Identifizierung der in Frage kommenden Technologien in der Nahversorgung wurde eine Projekt- und Literaturanalyse durchgeführt. Auf diese Weise konnte sichergestellt werden, dass sowohl wissenschaftliche als auch praktische Entwicklungen erfasst werden. Die ermittelten Technologien wurden in einem ersten Pre-Test verwendet. Der Pre-Test diente dazu, die Vignettenstudie für die Anforderungsanalyse anzupassen. Für die Vi­ gnettenstudie wurde ein experimentelles Vignettendesign nach Steiner und Atzmüller (2006) herangezogen. Durch diese Methode kann die komplette Vignettenpopulation auf mehrere Gruppen aufgeteilt werden. Dabei wird jedoch jedem Teilnehmer jede Merkmalsausprägung gleich oft präsentiert. Auf diese Weise kommt es zu keiner Vermischung verschiedener Effekte. Durch den Pre-Test wurden wichtige Erkenntnisse für die finale Umfrage gesammelt. Diese Ergebnisse wurden als Grundlage für eine öffentliche Informationsveranstaltung in der Gemeinde verwendet, bei der zum einen über das Forschungsvorhaben informiert wurde und zum anderen die möglichen Technologien präsentiert wurden. Bei der Präsentation von sehr disruptiven Technologien hat sich eine Ablehnung aus der Bevölkerung gezeigt. Dies wurde zum Anlass genommen, bei der Umfrage eine evolutionäre Entwicklung zu fokussieren, sodass die Bevölkerung nicht von dem Forschungsvorhaben abgeschreckt ist, sondern feststellt, dass auf die Rückmeldungen eingegangen wird. Mit den bisher gesammelten Informationen wurde in zwei weiteren Workshops der Umfragebogen9 konzipiert. Die Teilnehmer bestehend aus Bürgern, Bürgermeister, und Wissenschaftlern aus verschiedenen  Der interessierte Leser kann den Fragebogen unter https://tinyurl.com/l5g8w49 abrufen.

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Abb. 13.1  Vorgehensmodell zur digitalen Transformation eines Dorfladens nach Meier et al. (2017a)

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Disziplinen legten fest in der Umfrage die Faktoren Lieferung, Kontakt zu Personal und Warenerfassung in die Vignettenstudie aufzunehmen. Während es sich bei Lieferung und Kontakt zu Personal um ­Wahrheitswerte mit zwei Ausprägungen handelt, wurde die Warenerfassung in konventionelle Kasse, Selbstkassierung, intelligenter Einkaufswagen und Online unterteilt. Dadurch ergibt sich eine Vignettenpopulation von 16 Vignetten. Um die Abbruchquote bei der Umfrage gering zu halten, wurden die 16 Vignetten auf vier Gruppen aufgeteilt, sodass jede Gruppe lediglich vier Vignetten beantworten muss. Durch die experimentelle Verteilung der Vignetten ist sichergestellt, dass jeder Teilnehmer jede Ausprägung gleich oft bewertet. Neben der Vignettenstudie wurde die Umfrage um zusätzliche Fragen ergänzt. Diese Fragen dienen der weiteren konzeptionellen Planung des Dorfladens. Dazu wurde u. a. gefragt, ob zusätzliche Dienstleistungen (bspw. Wäscheund Reparaturservice sowie Café) angeboten werden sollen. In dem Workshop wurde bei der Erstellung des Fragebogens darauf geachtet, dass die Nutzer den Nutzen der Teilnahme an der Umfrage erkennen. Dafür wurde dem Fragebogen noch ein Anschreiben vorangestellt, welches die Bedeutung der Umfrage und die Beteiligung der Bürger erläutert. Zusätzlich wurden Ansprechpartner (Bürgermeisterin sowie weitere Personen des öffentlichen Lebens) aus der Gemeinde aufgelistet, die bei Fragen kontaktiert werden können. Da der Dorfladen auf die vorliegenden Bedürfnisse der Bürger abgestimmt werden soll, wurden die Teilnahmebarrieren so gering wie möglich gehalten. In der Gemeinde verfügen nicht alle Bürger über einen Internetzugang, sodass die Umfrage papierbasiert durchgeführt wurde und an jeden Haushalt in der Gemeinde mit dem Hinweis verteilt wurde, dass der Umfragebogen stellvertretend für den gesamten Haushalt ausgewertet werden soll. Der Umfrage wurde ein vorfrankierter Rückversandbogen beigefügt und zusätzlich wurden Wahlurnen aufgestellt in denen die ausgefüllten Umfragen abgegeben werden konnten. Bei der Wahl des Zeitraums wurde darauf geachtet, dass dieser nicht in der Ferienzeit lag und in Verbindung mit einem lokalen Fest steht, sodass die Umfrage eine hohe Aufmerksamkeit erfährt. Nach Ablauf dieses Zeitraums wurden die gesammelten Umfragebögen digitalisiert und ausgewertet. Die Ergebnisse (vgl. Abschn. 13.3.2) wurden für die Bevölkerung aufbereitet und im Rahmen einer weiteren Bürgerinformationsveranstaltung präsentiert. Diese Veranstaltung wurde bewusst durchgeführt, damit die Bürger sich einbezogen fühlen und sich in Zukunft weiterhin bereit zeigen, sich im weiteren Prozess zu engagieren. Aufbauend auf den Ergebnissen der Umfrage wurde durch einen externen Berater ein Auftrag zu einer detaillierten Wirtschaftlichkeits- und Standortanalyse vergeben. Durch die externe Vergabe wurde die Unabhängigkeit vom bisherigen Forschungsprozess garantiert und externes Expertenwissen genutzt. Daran anschließend wird aktuell das Konzept mit allen am Forschungsprozess beteiligten Akteuren entwickelt, welches im nächsten Schritt in enger Abstimmung mit der Bevölkerung umgesetzt werden soll. Der Ablauf des durchgeführten Forschungsprozesses wird in Abb. 13.2 zusammenfassend dargestellt.

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Abb. 13.2  Partizipativer Forschungsprozess zur Digitalisierung der Nahversorgung

13.3.2 Ergebnisse und Konzept für die Nahversorgung in Ohne Die durchgeführte Umfrage sowie die dadurch eruierten Bedarfe bilden die Grundlage für die Konzeption des Dorfladens, die durch die synthetisierten Erkenntnisse, unter anderem aus den zahlreichen Workshops, Expertengesprächen und Bürgerinformationsveranstaltungen angereichert wurde. Die Durchführung und die Ergebnisse werden nachfolgend beschrieben und in ein Konzept für die Nahversorgung in Ohne überführt. Die Umfrage wurde an jeden Haushalt in der Gemeinde Ohne verschickt, damit für diese eine bedarfsgerechte Nahversorgung entwickelt werden kann und alle Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit erhalten, an der Gestaltung der Nahversorgung mitzuwirken. Dafür wurden 244 Umfragen in der Gemeinde in die Briefkästen der einzelnen Haushalte verteilt. Auf diese Weise wurde sichergestellt, dass jeder die gleiche Möglichkeit hat an der Umfrage teilzunehmen. Nach einer Teilnahmefrist von drei Wochen hatten 138 Haushalte den Umfragebogen ausgefüllt und in einen Briefkasten oder eine der aufgestellten Wahlurnen eingeworfen. Daraus ­resultiert eine Rücklaufquote ca. 56 %. Ein großer Anteil der Umfragen von 70 %

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wurde von Frauen stellvertretend für den jeweiligen Haushalt beantwortet. Dabei antworteten die Haushalte, dass sie durchschnittlich für 2,97 Personen einkaufen. Unter der Annahme, dass keine Person in mehr als einem Haushalt erfasst wird, wurden annährend zwei Drittel der Bevölkerung in der Umfrage erfasst. Da das zentrale Forschungsvorhaben die Digitalisierung der Nahversorgung darstellt, wurden die Befragten gebeten, anzugeben, welche technischen Endgeräte sie besitzen. Ein hoher Anteil von 92 % besitzt ein eigenes Mobiltelefon, 75 % besitzen einen Computer. Einen Zugriff aufs Internet gaben 80 % der Befragten an. So ist anzunehmen, dass die Bevölkerung die Vignetten, die unter anderem Szenarien mit technikunterstützten Einkäufen beinhalten, verstehen und bewerten konnte. Insgesamt lässt sich bei der Auswertung der Vignetten erkennen, dass die Bevölkerung ihre bisherigen Strukturen mit einem lokalen Dorfladen sehr wertschätzen: Die Vignette, die den bisherigen Einkaufsvorgang beschreibt, wurde am besten bewertet. Dies kann auf die von Samuelson und Zeckhauser (1988) beobachtete Status-­Quo-­ Verzerrung zurückgeführt werden. Die Befragten tendieren zu dem ihnen bekannten Szenario. Daneben lässt sich feststellen, dass der Kontakt zum Personal stark präferiert und von den Kunden wertgeschätzt wird. Zusätzlich kann festgehalten werden, dass das Angebot der Lieferung sich geringfügig auf die Bewertung der Vignetten auswirkt. In Bezug auf die Warenerfassung wird die Bezahlung an der traditionellen Kasse präferiert. Mit einem erkennbaren negativen Einfluss wird die Erfassung mit dem intelligenten Einkaufswagen und der Onlinebestellung bewertet. Den stärksten negativen Einfluss haben die Selbstbedienungsterminals in der durchgeführten Umfrage genommen. Ergänzend zu den Vignetten wurden in der Umfrage zusätzliche Dienstleistungsangebote abgefragt, welche vor Ort angeboten werden könnten. Dabei haben die Bürger vor allem eine Poststation und ein Café als wünschenswert bewertet. Ein Großteil bewertete auch die Anbindung eines Reparaturservices, einer Wäscherei sowie eines Friseurs als positiv. In vielen Fällen wurden die Dienstleistungen entweder sehr positiv oder sehr negativ bewertet. Dies kann damit zusammenhängen, dass ein Teil der Befragten die Aufgaben selbst noch erledigen kann und somit (aktuell) kein Bedarf besteht. Die bereits aufgeführten Bestandteile der Umfrage beschäftigten sich damit, welche Änderungen dem bisherigen Dorfladen hinzugefügt werden können. Um zu ermitteln, wie Digitalisierung den bisherigen Dorfladen verändern kann, wurde erfragt, welche Beteiligungsformen sich die Befragten an dem Dorfladen vorstellen können. Die Auswertung der Befragung hat ergeben, dass 38,5 % bereit sind, sich ehrenamtlich im Dorfladen zu betätigen. Von diesen erklärten sich 15,3 % bereit, fünf oder mehr Stunden zu helfen. Unter die Aufgaben der ehrenamtlichen Tätigkeiten fallen unter anderem: Regale einräumen, Bestellungen liefern, Waren verkaufen und den Dorfladen reinigen. Dieses ehrenamtliche Engagement kann dazu beitragen, dass die Personalkosten reduziert werden können. Zusätzlich sind vor allem Bürger, die sich nicht ehrenamtlich engagieren wollen oder können, bereit, den Laden finanziell in Form von Genossenschaftsanteilen zu unterstützen. Beide Arten der Beteiligung können dazu beitragen, dass die Bevölkerung eine starke Verbindung zu dem Dorfladen entwickelt.

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Abb. 13.3 Dorfladenkonzept

Aufbauend auf den Ergebnissen aus der Umfrage und den Erkenntnissen aus dem gesamten Forschungsprozess (vgl. Abb. 13.2), wurde das in Abb. 13.3 dargestellte Dorfladenkonzept entwickelt. Dabei sind ausschließlich physische Dienstleistungen weiß, Dienstleistungen mit sowohl digitaler als auch physischer Komponente hellblau und ausschließlich digitale Dienstleistungen dunkelblau hinterlegt. Im Folgenden werden die verschiedenen Bestandteile des Konzeptes beschrieben. Durch die Vignetten wurde ermittelt, dass ein Großteil der Bevölkerung die bisherigen Strukturen in Form eines stationären Einzelhandels wertschätzt und auch in Zukunft nutzen möchte. Wie bereits bei der Auswertung der Umfrage angemerkt, kann diese starke Tendenz zum Bekannten auf die Status-Quo-Verzerrung zurückgeführt werden. Kahneman et al. (1991) stellten heraus, dass diese aus der Verlustaversion und dem Besitztumseffekt resultiert. Auf den Anwendungsfall bezogen bedeutet dies, dass die Bevölkerung Angst haben könnte, ihre bestehenden Strukturen zu verlieren und das bisher Bestehende besser bewerten, da sie sie mit diesem vertraut sind. In einer an die Umfrage anschließenden Bürgerinformationsveranstaltung wurden die Ergebnisse der Bevölkerung präsentiert und dabei besonders herausgestellt, dass der gewohnte Einkauf im stationären Dorfladen weiterhin wie gewohnt durchgeführt werden kann und neue technologische Möglichkeiten z­ usätzlich, parallel ergänzt werden sollen, sodass die Bevölkerung sich an die Änderung gewöhnen kann. Die Reaktionen zeigten, dass die Bevölkerung dadurch dem Digitalisierungsprozess aufgeschlossener gegenübersteht.

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Folglich wird darauf geachtet, dass die Digitalisierung der Nahversorgung nicht disruptiv, mit für die Bevölkerung oft schwer kalkulierbaren Folgen, erfolgt, sondern einen evolutionären Charakter besitzt und dabei die Bevölkerung aktiv einbindet, um die (Technologie-)Akzeptanz zu stärken und damit einhergehend die langfristige Sicherstellung der Versorgung sicherzustellen. So nutzt das vorgestellte Dorfladenkonzept bereits verbreitete technische Komponenten, die primär der Kommunikation dienen. In das Konzept wurden rollierende Dienstleistungen inte­ griert. Diese umfassen verschiedene Dienstleistungen wie Wäscherei, Friseur, die an einem bestimmten Wochentag auf einer geteilten Fläche angeboten werden. Um diese Dienstleistungen zu buchen, soll eine Onlinebuchung möglich sein. Zusätzlich kann es bei weiteren Dienstleistungen wie der Reparatur die Notwendigkeit bestehen, im Vorfeld mitzuteilen, welche Ersatzteile benötigt werden. Die Buchungen dieser Dienstleistungen sollen auf der Website erfolgen, über die Bestellungen im Dorfladen aufgegeben werden können (Onlineplattform). Diese Waren können mit dem Kombibus geliefert werden. Dieser verbindet den Personentransport mit Warenlieferungen an Kunden. Auf diese Weise kann eine höhere Auslastung und Effizienz des Busses erreicht werden. Zusätzlich sollen die Angebote des Dorfladens in Versorgungsstrukturen integriert werden. So kann beispielsweise eine Paketstation als Ergänzung des Angebotes vor Ort genutzt werden. Des Weiteren können lokale Anbieter (z. B. Imker, Milchproduzenten) ihre Produkte auf ausgewählten Flächen präsentieren und zum Verkauf anbieten, und somit sowohl für sich selbst die Anzahl potenzieller Kunden erhöhen als auch ein einzigartiges, lokal erzeugtes Angebot für die Kunden darstellen. An den Verkauf von Gütern und der Erbringung von Dienstleistungen soll eine Sharing Economy angegliedert werden. Auf diese Weise können sich die Bürger untereinander helfen indem sie untereinander Güter austauschen oder füreinander Geräte bzw. Lieferungen mitnehmen. Dadurch wird der Dorfladen zu einem Versorgungs- und Gesellschaftszentrum, in dem sich die Bürger in Zeiten der Digitalisierung unter Wahrung traditioneller bzw. vertrauter Werte begegnen, die Möglichkeiten der neuen Technologien nutzen und dabei die Bevölkerung selbst für die Steigerung der Attraktivität des Dorfes sorgen kann.

13.4 Implikationen und Diskussion Der demografische Wandel stellt die Kommunen, insbesondere in ländlichen Regionen, vor große Herausforderungen. Dabei ist die Sicherstellung der Versorgungsinfrastruktur mit Lebensmitteln und Gütern des alltäglichen Bedarfs ein zentraler Faktor für die nachhaltige Attraktivität einer Kommune. Neue Technologien können bei der Sicherstellung unterstützend wirken, sollten jedoch unbedingt die C ­ harakteristika der Bürger10 berücksichtigen und in ein Omni-Channel-Konzept eingebunden werden, um durch höhere Akzeptanz und daraus resultierender Nutzung die Rentabilität steigern zu können. Die in der Gemeinde Ohne durchgeführte Fallstudie zeigt auf,  In der hier präsentierten Fallstudie unter anderem: Relativ alt, weniger technikaffin, hohe Heterogenität geringer Einwohnerzahl. 10

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dass durch die partizipativ gestalte Digitalisierung der Nahversorgungsstrukturen die Versorgung der Menschen in ruralen Regionen – ähnlich wie im urbanen Umfeld – mit Lebensmitteln und Gütern des alltäglichen Bedarfs dauerhaft gesichert bzw. ausgebaut werden kann. Neben der Auswahl der jeweiligen Partizipationsmethode erwies sich in der durchgeführten Fallstudie die kontinuierliche Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern sowie den Unternehmern vor Ort von besonderer Bedeutung für einen erfolgreichen Partizipationsprozess. Diese sollte durch die Nutzung verschiedener Kommunikationskanäle (Präsentationen, lokale und überregionale Presse, Soziale Medien, Publikationen etc.) möglichst viele Bürgerinnen und Bürger in den Prozess einbinden bzw. über aktuelle Entwicklungen informieren. Aufgrund der spezifischen, lokal- und projektabhängigen Herausforderungen sind konkrete, allgemeingültige Handlungsempfehlungen für derartige Projekte schwer zu treffen. Da sich Technologien und die konkreten Bedarfe sowie Anforderungen verändern bzw. sich regional unterscheiden können, sollte die Weiterentwicklung des Versorgungskonzeptes kontinuierlich und partizipativ erfolgen. Von essenzieller Bedeutung ist, die „Befähigung“ der Bürgerinnen und Bürger aktiv und gestaltend an diesem Prozess teilzunehmen, also genau darzulegen, wie das jeweilige Verfahren erfolgt und welches Ziel jeweils verfolgt wird. Partizipationsprozesse in bestimmten Bereichen erfordern Vorwissen, das entweder durch die Selektion der Teilnehmer oder durch entsprechende Informationsveranstaltungen sichergestellt werden kann. Grundlegend sollte jedoch jedem Bürger die Teilnahme an diesen Prozessen offenstehen. Die Teilnahme an derartigen Partizipationsmöglichkeiten kann Beteiligung an anderen gesellschaftlichen Aktivitäten fördern, indem Interesse für gesellschaftliches Engagement (z. B. in Sportvereinen oder sozialen Verbänden) geweckt wird. Das unterstützt auch das langfristige Ziel partizipativer Forschungsmethoden, die Potenziale der Menschen zu aktivieren und zu fördern sowie ihr soziales Umfeld aktiv zu gestalten.

13.5 Fazit und Ausblick Als Limitation dieser Arbeit ist vor allem die Durchführung und Analyse von nur einer Fallstudie als kritisch zu bewerten. Der sehr umfangreiche und aufwändige Forschungsprozess in Verbindung mit der Triangulation diverser Methoden (vgl. Abschn. 13.3) reduziert jedoch mögliche Einschränkungen der Erkenntnisse aus einzelnen Methoden. Daraus ergeben sich weitere Forschungsmöglichkeiten, bspw. im Transfer und der Erweiterung des in diesem Beitrag angewendeten Modells. Des Weiteren kann die Diskussion der Ergebnisse für Digitalisierungsprojekte der ­Nahversorgung im ländlichen Raum als theoretisch und praktisch fundierte Ausgangslage weiterer Forschungsvorhaben genutzt werden. Die noch ausstehende Evaluation (z. B. durch erneute Wirtschaftlichkeitsanalyse, Vergleich der operativen Kennzahlen, Kundenbefragungen, Shadowing, Workshops, Vergleich mit anderen Projekten) wird zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt und daran anschließend der gesamte Prozess der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und so die Wissensbasis angereichert.

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Teil IV Mobil und smart: Wearables, mobile Applikationen, AR/VR

Der Kunde als Dienstleister in der Supply Chain: Akzeptanz und Gebrauchstauglichkeit von SmartGlasses-Systemen im Self-Service

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Sebastian Werning, Lisa Berkemeier, Benedikt Zobel, Ingmar Ickerott und Oliver Thomas

Zusammenfassung

Die Akzeptanz und Gebrauchstauglichkeit Smart-Glasses-basierter Systeme sind essenziell für die erfolgreiche Bereitstellung darauf aufbauender Self-Services. Im Rahmen eines Experiments wurden Gestaltungsprinzipien für die nutzerfreundliche Gestaltung und die damit einhergehende Sicherung der Nutzerakzeptanz eines entsprechenden Systems hergeleitet. Die Untersuchung baut auf den Modellen der Unified Theory of Acceptance and Use of Technology und der System Usability Scale auf. Die Ergebnisse erweitern die Wissensbasis im Bereich von Self-Service-Technologien durch die Umsetzung von Self-Services auf Smart Glasses anhand der Entwicklung und Evaluation eines Prototyps. Darüber hinaus wird ein praktischer Beitrag in der Ableitung konkreter Design-Prinzipien zur Gestaltung eines positiven Nutzungserlebnisses für Smart-Glasses-basierte Self-Service-Systeme geleistet. Eine Bewertung des Einsatzpotenzials erfolgt vor dem Hintergrund verschiedener Anwendungen in der Supply Chain. Schlüsselwörter

Smart Glasses · Akzeptanz · Gebrauchstauglichkeit · Usability · Self-Service · Gestaltungsprinzipien · Supply Chain

Überarbeiteter und erweiterter Beitrag basierend auf Berkemeier et  al. (2017) Der Kunde als Dienstleister: Akzeptanz und Gebrauchstauglichkeit von Smart Glasses im Self-Service, HMD – Praxis der Wirtschaftsinformatik Heft 317, 54(5):781–794. S. Werning (*) · I. Ickerott Hochschule Osnabrück, Lingen, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] L. Berkemeier · B. Zobel · O. Thomas Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Robra-Bissantz, C. Lattemann (Hrsg.), Digital Customer Experience, Edition HMD, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1_14

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14.1 Smart Glasses als Self-Service-Technologie Self-Service-Technologien (SST) beschreiben technische Endgeräte oder technische Kommunikationsmöglichkeiten, durch die deren Benutzer selbstständig Dienstleistungen durchführen können. Damit ermöglichen sie neue Formen der Interaktion zwischen Unternehmen und ihren Kunden und werden somit zu einem kritischen Erfolgsfaktor für langfristige Geschäftsbeziehungen (Meuter et al. 2000). Insbesondere mit der wachsenden Bedeutung von Service-Systemen gewinnen Ansätze zur Integration des Kunden in die Dienstleistungserbringung, so genannte Co-Creation-Ansätze, an Bedeutung. Der Kunde wird selbst zum Dienstleistungsausführer, während das Unternehmen als Dienstleistungserbringer die notwendigen Ressourcen zur Prozessdurchführung bereitstellt und seinen Kunden unterstützt. Entsprechende SST haben somit die Aufgabe, den Kunden zur Dienstleistungsausführung zu befähigen. Auf Grund der freihändigen Bedienung und der kontextadaptiven Informationsversorgung direkt im Sichtfeld des Nutzers sind Smart-­Glasses-­ basierte Assistenzsysteme für informationsintensive Tätigkeiten geeignet, bei denen beide Hände benötigt werden (Niemöller et al. 2016). Smart-Glasses-basierte Assistenzsysteme ermöglichen daher als SST die schrittweise Begleitung, auch von unerfahrenen Anwendern, durch einen Service-Prozess und bieten darüber hinaus integrierte Kommunikationsfunktionen. Auf diese Weise können Experten in konkrete Fragestellungen oder Probleme einbezogen werden, mit denen der Kunde als unerfahrener Dienstleistungsausführer im Self-Service konfrontiert wird. Smart Glasses ermöglichen somit die Bereitstellung von Self-Services in verschiedensten Branchen, wie zum Beispiel in der Logistik, Produktion oder auch dem technischen Kundendienst. Technologie-induzierte Self-Services haben das Potenzial, die Qualität und Effizienz der Dienstleistungserbringung zu steigern, da die Ausführung der Dienstleistung individuell auf den Kunden abgestimmt ist. Self-Service-Technologien bilden die Rahmenbedingungen für die konkrete Ausführung der Dienstleistung durch den Kunden. Damit ist der Erfolg eines Self-Services abhängig von der Bereitschaft des zur Dienstleistung befähigten Kunden das System bzw. die Self-Service-Technologie zu nutzen (Bitner et al. 2002). Die Implementierung von Smart-Glasses-basierten Systemen wird derzeit jedoch kritisch betrachtet, da Einschränkungen hinsichtlich der Gebrauchstauglichkeit (aus dem Englischen: Usability) und der Akzeptanz der umgesetzten Systeme bestehen (Zobel et al. 2016; Niemöller et al. 2017). Smart Glasses stehen dabei insbesondere in Hinblick auf Datenschutz und Privatsphäre der Nutzer als invasive Technologie in der Kritik, was in Akzeptanzproblemen entsprechender Systeme resultiert (Berkemeier et al. 2017). Damit ist die Wahrnehmung der Nutzer bezüglich des Eingriffs der Technologie in den Persönlichkeitsraum ein wichtiges Kriterium zur Akzeptanz und damit verbunden des Erfolgspotenzials für die Implementierung eines Smart-Glasses-basierten Systems. Die Einführung eines Smart-Glasses-basierten Systems zur Ausführung von Self-Services bedarf daher einer ex-ante Betrachtung von sowohl Akzeptanz als auch Gebrauchstauglichkeit. Im vorliegenden Beitrag wird hierzu der Prototyp ­einer Self-Service-Lösung für Smart Glasses hinsichtlich der Akzeptanz, unter

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b­ esonderer Berücksichtigung des Datenschutzes, und der Gebrauchstauglichkeit des Gesamtsystems evaluiert. Unsere Forschung wird dabei von den Fragen geleitet (1) Wie ist die Akzeptanz des Smart-Glasses-basierten Self-Service-Systems?, (2) Wie ist die Gebrauchstauglichkeit des Systems? und (3) Welche Maßnahmen sind notwendig, um die Akzeptanz und Gebrauchstauglichkeit des Systems zu verbessern?. Zur Beantwortung dieser Fragestellungen werden in diesem Kapitel zunächst in Abschn. 14.2 der Prototyp und das Evaluationsexperiment vorgestellt. Anschließend erfolgt die Analyse in Abschn. 14.3 und die daraus resultierenden Implikationen für die Weiterentwicklung des Prototyps und für das Design eines Smart-­ Glasses-­ basierten Self-Service-Systems in Abschn.  14.4. Zur Bewertung des Einsatzpotenzials erfolgt eine Abschätzung der Anwendbarkeit entlang der Supply Chain in Abschn. 14.5. Schließlich werden in Abschn. 14.6 die Ergebnisse diskutiert und ein Ausblick auf weitere Forschungs- und Handlungsfelder im Bereich des Einsatzes von Smart Glasses als SST gegeben.

14.2 Aufbau und Vorgehen der Untersuchung 14.2.1 Aufbau und Aufgabenbeschreibung des Prototyps Smart Glasses sind am Kopf befestigte, meist in einer Brille verbaute Displays, welche die wahrgenommene Realität des Nutzers durch die Einblendung von Informationen erweitern. Auf diese Weise integrieren Smart Glasses die digitale Welt in die Realität des Nutzers. Damit entsprechen Smart Glasses den Charakteristika ­eines Head Mounted Displays (HMD) sowie auch der Augmented Reality. Als Prototyp eines Smart-Glasses-basierten Self-Services wurde eine Android-Applikation für einen Wartungsprozess entwickelt, als Trägersystem kommt die M100 der Firma Vuzix zum Einsatz. Dabei handelt es sich um ein monokulares Endgerät mit einem sogenannten Look-around Display, die Informationen werden somit auf einem abgeschlossenen Display im Sichtfeldrand des Nutzers angezeigt. Das Konzept der Anwendung sieht einen 8-Punkte-Prüfplan vor, um Schäden und fehlerhaft montierte Teile an einem Serviceobjekt zu identifizieren. Dabei soll der Anwender ein manipuliertes Produkt mit dem Sollzustand, welcher auf den Smart Glasses visualisiert wird, vergleichen und dabei eventuelle Abweichungen identifizieren und dokumentieren. Hierzu wird die in der Vuzix M100 eingebaute Kamera verwendet. Erstellte Bilder von Abweichungen, bspw. im Fall von fehlerhaft montierten oder nicht intakten Komponenten, werden dem jeweiligen Prüfschritt zugeordnet. Nach Abschluss des Prüfprotokolls für ein bestimmtes Produkt wird das Bild in ein nachgelagertes System zwecks weiterer Verarbeitung (zum Beispiel für die Initiation eines Reparaturauftrags) übertragen. Für die hier betrachtete Studie wurde als Serviceobjekt die Montage einer hölzernen Lokomotive, die im Regelfall für Logistik-Planspiele verwendet wird, eingesetzt. Diese dient als simple Repräsentation eines komplexen und ggfs. defekten Produktes, wie etwa einer Kaffeemaschine oder eines Rasenmähers, welches initial durch den Kunden gewartet wird. Der Prozess, den der Anwender dabei durchläuft, wird in Abb. 14.1 ­dargestellt.

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Abb. 14.1  Prozessablauf des Prototyps einer Prüfplan Applikation

Für die gesamte Applikation kommen ein einheitliches Design und ein stringenter Aufbau der Nutzeroberfläche zum Einsatz. Informationen und Fragestellungen sowie die Nummer des jeweiligen Prüfschrittes werden oben links im Display angezeigt. Die Darstellung erfolgt primär mit weißer Schrift auf schwarzen Untergrund, um einen hohen Kontrast und somit eine gute Lesbarkeit zu erreichen. Im Prüfprotokoll selbst werden Bilder auf der rechten und der Beschreibungstext auf der linken Seite des Displays angezeigt. Die Interaktion zwischen Anwender und Applikation kann durch die in der Hardware integrierten Knöpfe erfolgen. Die Identifikation des zu überprüfenden Objekts erfolgt durch einen Barcode, der mit der verbauten Kamera der Smart Glasses eingelesen wird. In den im Experiment dargestellten acht Prüfschritten wird anhand einzelner Bilder und einer Beschreibung der Sollzustand dargestellt und der Ist-Zustand der Lokomotive durch den Anwender an den einzelnen Prüfpunkten kontrolliert. Sollten Abweichungen festgestellt werden, so kann der Nutzer die Abweichung mittels eines Knopfdrucks dokumentieren. Nachdem in einem Prüfschritt ein Bild aufgenommen wurde, wird der jeweilige Prüfschritt als fehlerhaft gekennzeichnet und die Schriftfarbe wechselt von weiß zu rot. Der Anwender ist immer in der Lage zwischen den einzelnen Prüfschritten zu wechseln, um so auch zuerst als fehlerhaft erkannte Prüfschritte bei nachträglicher Korrektur wieder als fehlerfrei einzustellen. Dem Test des Prototyps wurde zunächst eine kurze Anleitung für die Navigation der Smart Glasses sowie eine Eingewöhnungsphase von 5 Minuten vorangestellt.

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Nachdem die Probanden sich mit der Technologie vertraut gemacht hatten, wurde der Barcode der Lokomotive eingescannt und der für dieses Serviceobjekt hinterlegte Prüfplan gestartet. Während der Durchführung beobachteten unabhängige Begleiter des Experiments die Probanden und dokumentierten Besonderheiten. Nach Beendigung des Prozesses beantworteten die Probanden einen Fragebogen zur Akzeptanz und Usability des zuvor getesteten Self-Service-Systems. Der Inhalt des Fragebogens wird im Folgenden erläutert.

14.2.2 Untersuchungsdesign Der vorgestellte Prototyp wird hinsichtlich der Akzeptanz und der Gebrauchstauglichkeit evaluiert. Dazu werden jeweils etablierte Fragebögen verwendet, die „Unified Theory of Acceptance and Use of Technology“ (UTAUT) und die „System Usability Scale“ (SUS). Aus den Ergebnissen der Befragung werden Gestaltungsprinzipien für das System-Design abgeleitet. Auf diese Weise wird die Akzeptanz und Gebrauchstauglichkeit im Design eines Smart-Glasses-basierten Systems im Self-Service forciert. Die Erkenntnisse können damit auch zur Optimierung des vorliegenden Prototyps genutzt werden, dieser iterative Entwicklungsprozess wird in Abb.  14.2 dargestellt. Im Folgenden werden die Begriffe Akzeptanz und Gebrauchstauglichkeit und der darauf aufbauende Fragebogen erläutert. Die Akzeptanz von Technologien durch die Nutzer stellt Unternehmen bereits seit der Einführung der ersten Computer bei der Implementierung neuer Technologien und Systeme vor erfolgskritische Herausforderungen. Akzeptanz wird in diesem Sinne als die aktive Annahmeentscheidung des Nutzers oder auch die Nutzungsintention im Vorfeld einer Implementierung aufgefasst. Auf Basis von acht

Abb. 14.2  Evaluation und Weiterentwicklung des Prototyps

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etablierten Akzeptanzmodellen wurde von Venkatesh et al. (2003) eine Akzeptanztheorie abgeleitet, die Unified Theory of Acceptance and Use of Technology, welche empirische und kontextuelle Parallelen zwischen den Modellen aufgreift und somit vereinheitlicht. Das resultierende Modell beinhaltet die vier Faktoren (PE) Erwartete Performanz, (EE) Erwarteter Aufwand, (SI) Sozialer Einfluss und (FC) Rahmenbedingungen. Aus diesen Faktoren geht die (IU) Nutzungsintention des Anwenders hervor, auf die schließlich das tatsächliche Nutzerverhalten folgt (Venkatesh et al. 2003). Zhou (2012) erweitert das Modell um Konstrukte der Informationsprivatheit, um den Eingriff von Technologien (z. B. durch die Verwendung von Standortdiensten), wie auch Smart Glasses, im Rahmen der Privatsphäre des Nutzers abzubilden (Zhou 2012). Damit wird das tatsächliche Nutzerverhalten ebenfalls durch die Faktoren (PC) Datenschutzbedenken, (TR) Vertrauen und (PR) Wahrgenommenes Risiko beeinflusst. Der aus dem erweiterten UTAUT resultierende Fragebogen umfasst insgesamt 29 Fragen, die sich auf acht Faktoren verteilen; die Bewertung erfolgt durch eine siebenstufige Likert-Skala. Die zugehörigen Fragen sind geordnet nach Modellfaktoren und in Tab. 14.A im Anhang abgebildet. Einen weiteren kritischen Erfolgsfaktor für die Implementierung eines Informationssystems stellt dessen Gebrauchstauglichkeit dar. Diese wird vor einer Systemeinführung in einem spezifischen Kontext gemessen, um Aussagen über ein konkretes Produkt innerhalb einer Nutzergruppe und eines spezifischen Einsatzszenarios zu tätigen. Daher können durch klassische Usability-Fragebögen keine Aussagen bezüglich eines Vergleichs unterschiedlicher Systeme oder gar einer gewissen Allgemeingültigkeit gemacht werden. Mit dem Ziel, eine kontextunabhängige, untersuchungsübergreifende Methode zum Messen der Gebrauchstauglichkeit zu entwickeln, wurde von Brooke (1996) mit der System Usability Scale (SUS) ein einfacher und schnell einzusetzender Fragebogen zur quantitativen Analyse entworfen (Brooke 1996). Der Fragebogen setzt dabei auf zehn vordefinierte Fragen, wodurch die davor übliche Konzeption eines kontextspezifischen Fragebogens entfällt. Nichtsdestotrotz können die Fragen an das jeweilige Anwendungsgebiet angepasst werden. Der verwendete Fragebogen ist im Anhang detailliert dargestellt. Die Einstellung der Probanden wurde durch eine siebenstufige Likert-Skala erfasst. Die Auswertung des SUS ergibt einen Wert im Ergebnisraum von 0 bis 100, dabei gelten Werte ab 70 als gut und Werte unterhalb als unterdurchschnittliches Ergebnis (Bangor et al. 2009).

14.3 Auswertung der Akzeptanz und Usability 14.3.1 Stichprobe Die 29 Probanden der Untersuchung sind Studenten der Wirtschaftswissenschaften im fünften Bachelorsemester. Die demografischen Daten der Stichprobe sind weitgehend homogen hinsichtlich des Alters (20 bis 30 Jahre; Median = 24; Mittelwert = 23,41), des Geschlechts (weiblich: n = 4 und männlich: n = 25), der Erfahrung mit Smart Glasses (keine) und der Freiwilligkeit der Nutzung (vollständig freiwillige

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Teilnahme). Aufgrund der Stichprobengröße von 29 Teilnehmern wird eine qualitative Untersuchung auf Basis des UTAUT einer quantitativen Evaluation durch ein Strukturgleichungsmodell vorgezogen. Im Folgenden werden daher die Faktoren durch den Median der jeweiligen Bewertungen analysiert. Dazu werden die Faktoren in drei Kategorien differenziert: (1) Zustimmende Einstellung mit einem Median im Bereich 5 bis 7, (2) Neutrale Einstellung mit einem Median von 4, sowie (3) Ablehnende Einstellung mit einem Median im Bereich 1 bis 3.

14.3.2 Auswertung der Akzeptanz: Unified Theory of Acceptance and Use of Technology Die Probanden zeigen zu den Punkten Erwartete Performanz, Erwarteter Aufwand, Wahrgenommenes Risiko und Vertrauen eine (eher) positive Einstellung. Die Verteilung der Bewertung durch die Probanden für die jeweiligen Faktoren ist in Abb. 14.3 dargestellt. Der erwartete Aufwand wird als gering angesehen. Die Probanden stimmen den Aussagen zur leichten Erlernbarkeit und geringem Aufwand der Nutzung zu (Median = 6). Die Majorität der Probanden hat eine positive Erwartung an die Performanz durch den Einsatz von Smart Glasses im Self-Service und stimmt den Aussagen zur Erwarteten Performanz eher zu (Median = 5). Andererseits wird jedoch auch das Risiko wahrgenommen, dass sensible persönliche Daten durch den Einsatz von Smart Glasses missbraucht werden können (Median = 5). Etwa die Hälfte der Probanden nimmt das Risiko des Kontrollverlustes über die persönlichen Daten wahr. Somit wird durch den Einsatz eines entsprechenden Assistenzsystems eine Performancesteigerung bei geringem Aufwand erwartet.

Abb. 14.3  Erwartete Performanz, Erwarteter Aufwand, Wahrgenommenes Risiko und Vertrauen

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­ ennoch werden Smart Glasses innerhalb der Stichprobe als sicheres und zuverD lässiges Informationssystem wahrgenommen. Die Aussagen zum Faktor Vertrauen werden mit leichter Zustimmung bewertet (Median = 5). Das Vertrauen der Nutzer in den Schutz der Daten ist hinsichtlich des hohen wahrgenommenen Risikos ein kritischer Faktor für Smart-Glasses-basierte Systeme. Der soziale Einfluss und die Rahmenbedingungen der Nutzung werden neutral bewertet (Median = 4). Die Einstellung der Probanden gegenüber dem Einfluss dieser Skalen implizieren, dass es sich nicht um kritische Faktoren für die Nutzungsintention handelt. Damit stehen diese Faktoren zunächst nicht im Fokus der Verbesserungen und damit der Gestaltungsprinzipien für eine Steigerung der Nutzerakzeptanz von Smart-Glasses-basierten Systemen zur Ausführung von Self-Services. Die Bewertung der Datenschutzbedenken und der Nutzungsintention sind in Abb. 14.4 dargestellt. Die Datenschutzbedenken der Probanden sind im kritischen Bereich (Median = 3). Dies ist konsistent mit dem wahrgenommenen Risiko des Kontrollverlusts über die eigenen Daten. Des Weiteren wird die Nutzung des Smart-Glasses-basierten Systems als SST insgesamt eher abgelehnt (Median = 2). Damit liegt in der ex-ante Betrachtung des Systems keine Akzeptanz vor. Somit sind weitere Iterationen in der Systementwicklung zur Steigerung der Akzeptanz erforderlich. Die im Rahmen dieser Untersuchung implizierten Handlungsfelder werden in Form von Design-Prinzipien abgeleitet (vgl. Kap. 4).

14.3.3 Auswertung Gebrauchstauglichkeit: System Usability Scale Für das bewertete Gesamtsystem konnte durch die Verwendung der System Usability Scale ein Wert von 60 ermittelt werden. Da der Grenzwert zwischen einer unterdurchschnittlichen und einer allgemein guten Gebrauchstauglichkeit bei 70 Punkten liegt, wurde die im hier betrachteten System wahrgenommene Usability als unterdurchschnittlich bewertet. Der Median (60 Punkte) und der Grenzwert (70 Punkte) sind in Abb. 14.5 in der Verteilung des SUS-Scores über alle Probanden markiert. Die System Usability Scale erlaubt allerdings nur Aussagen zur allgemeinen Bewertung des Gesamtsystems. Um konkrete Schwachstellen und ggfs. Stärken in der

Abb. 14.4  Datenschutzbedenken und Nutzungsintention

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System Usability Scale

7 6 5 4 3 2 1

40

50

60

70

80

90

0 100

Abb. 14.5  System Usability Scale

Gebrauchstauglichkeit zu identifizieren, sind weitere Usability-Tests n­ otwendig. Erste Implikationen für Optimierungsbedarfe werden daher im Folgenden aus den Beobachtungen der Probanden im Rahmen der Durchführung des Experiments ­abgeleitet.

14.3.4 Kommentare und Beobachtungen Die Beobachtungen der Experimentbegleiter und Kommentare der Probanden selbst konnten zu insgesamt neun Aussagen über das Smart-Glasses-basierte System aggregiert werden. Als Reaktion auf die am Kopf fixierte Hardware haben sich drei Teilnehmer (a) nach der Smart-Glasses-Nutzung die Augen gerieben, sieben Nutzer mussten (b) ein Auge schließen, zehn mussten (c) die Smart Glasses während der Nutzung zurechtrücken, und zwei Teilnehmer (d) setzten die Smart Glasses zwischenzeitlich ab. Bezüglich des Designs der Bedienung haben drei Teilnehmer (e) die Smart Glasses während des Experiments versehentlich ausgeschaltet. Die wiederholten Kommentare in der Untersuchung lassen sich wie folgt zusammenfassen: 15 Teilnehmer (f) haben mehr als einmal während der Aufgabenerfüllung Rückfragen zur Bedienung und Navigation des Prototyps gestellt. Zusätzlich gaben drei Teilnehmer an (g) ein ausführliches Feedback zu vermissen, nachdem ein Schritt der Checkliste fertiggestellt wurde. Acht Teilnehmer nannten Hardware-Limitationen hinsichtlich der Informationsaufnahme durch (h) Probleme, die Informationen am Bildschirmrand lesen zu können und zwei Teilnehmer (i) nannten die Sorge, die Hardware zu beschädigen.

14.4 Resultierende Handlungsfelder Aus den Erkenntnissen des Prototypentests lassen sich die drei Entwicklungsfelder (1) Akzeptanz, (2) Gebrauchstauglichkeit und (3) Prozessführung für die Verbesserung eines Smart-Glasses-basierten Assistenzsystems im Self-Service ableiten.

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Hinsichtlich der Akzeptanz sind (a) ausgeprägte Mechanismen der IT-Sicherheit notwendig, um das Vertrauen der Nutzer zu gewinnen sowie von vornherein eine (b) Sparsamkeit hinsichtlich der persönlichen Daten des Nutzers zu realisieren, um das wahrgenommene Risiko zu verringern. Darüber hinaus ist eine (c) robuste Hardware zu bevorzugen. In Bezug auf die Prozessführung selbst sind zum einen die (d) Komplexität der Prozessschritte dem Kenntnisstand des Dienstleistungsausführers anzupassen und zum anderen (e) Feedbackmechanismen für erfolgreich beendete Aktivitäten zu integrieren. Im Bereich Usability ergibt sich Handlungsbedarf hinsichtlich der Verbesserung des (f) Tragekomforts der Smart Glasses und einer (g) flexiblen Positionierung des Displays. Weiterhin ist die (h) Navigation mittels der an den Smart Glasses angebrachten Knöpfe umständlich und führt häufig zu fehlerhaften Eingaben. Schließlich muss die (i) Lesbarkeit der Informationen auf dem Display verbessert werden. Zwecks Validierung der Handlungsfelder gegenüber anderen Trägersystemen wurde zuvor ein Vergleich aktuell verfügbarer Smart Glasses durchgeführt. Unter Berücksichtigung eines geplanten produktiven Einsatzes direkt beim Kunden werden monokulare Endgeräte mit einem Look-around Display favorisiert. Alternative Produkte, wie die erste Version der Google Glass, weisen gleiche Produkteigenschaften wie die Vuzix M100 auf, waren zum Zeitpunkt des Prototypentests jedoch nicht am Markt verfügbar. Basierend auf den oben dargestellten Auswertungsergebnissen und der Zielsetzung, Dienstleistungen zu dem Kunden zu verschieben und hierdurch Mehrwerte auf Kunden- als auch Anbieter-Seite zu erzeugen, lassen sich konkrete Gestaltungsprinzipien (Design Principles, DP) für die Neu- und Weiterentwicklung von Smart-Glasses-basierten Systemen für den Einsatz im Self-Service ableiten. Insgesamt wurden acht Gestaltungsprinzipien für Smart-Glasses-basierte Systeme im Self-Service abgeleitet, die in Tab. 14.1 dargestellt sind. Die Smart Glasses sollten demnach auch bei längeren Tragezeiten einen hohen Tragekomfort aufweisen (DP1). Weiterhin ist die ggfs. umständliche Steuerung mit den in der Hardware integrierten Tasten durch freihändige Eingabemöglichkeiten wie eine Sprachsteuerung oder andere externe Eingabegeräte zu ergänzen (DP2). Für eine gute Erkennbarkeit der Informationen sollte das Display möglichst flexibel vor dem Auge positioniert werden können (DP3), sowie die entsprechenden Informationen auf dem Display in einer ausreichenden Auflösung sowie einem farblich hohen Kontrast zum Hintergrund dargestellt werden (DP4). Die angezeigten Informationen sollten dabei möglichst minimalistisch und ablenkungsarm gestaltet sein (DP5). Für eine bessere Orientierung innerhalb des Prozesses und der Anwendung sollte auf Benutzereingaben oder Aktivitätsschritte mit einem (haptischen) Feedback reagiert werden (DP6). Zur Förderung des Vertrauens der Nutzer sollten darüber hinaus die für den Prozess notwendigen Daten sicher und vor unberechtigtem Zugriff geschützt gespeichert werden (DP7). Zur weiteren Senkung des gesamten Risikopotenzials sollte das Paradigma Privacy-by-Design von vornherein umgesetzt werden (DP8). Dabei dienen DP1–DP5 einer verbesserten Ergonomie und Informationsaufnahme, während DP6–DP8 eventuelle Risikoaversionen und Nutzungsbedenken verhindern sollen. Darüber hinaus adressieren DP1–DP4 insbesondere die Hardwaregestaltung, während DP5 und DP6 Empfehlungen

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Tab. 14.1  Gestaltungsprinzipien für ein akzeptiertes und gebrauchstaugliches Smart-Glasses-­ basiertes Informationssystem im Self-Service DP DP1

DP2 DP3 DP4 DP5 DP6 DP7 DP8 DP1

Kurzbeschreibung Tragekomfort gewährleisten, z. B. durch ausbalancieren und geringes Gewicht der Brille Einfache und freihändige Steuerung Flexible Positionierung des Displays Hohe Auflösung des Displays Minimalistische Informationsdarstellung Feedback über erfolgreiche Eingaben geben Datensicherheit berücksichtigen Privacy by Design Tragekomfort gewährleisten, z. B. durch ausbalancieren und geringes Gewicht der Brille

Problemfeld Gebrauchstauglichkeit, unzureichender Tragekomfort Gebrauchstauglichkeit, Fehler durch Tastensteuerung, keine freihändige Steuerung Gebrauchstauglichkeit, Schlechte Lesbarkeit Gebrauchstauglichkeit, Schlechte Lesbarkeit Gebrauchstauglichkeit, Informationsüberfluss vermeiden, Akzeptanz, Performanz, Fehlende Bestätigung in der Prozessführung Akzeptanz, Risiko Akzeptanz, Datenschutzbedenken, Vertrauen Gebrauchstauglichkeit, unzureichender Tragekomfort

für die Gestaltung der ­Nutzeroberfläche geben. DP7 und DP8 sind auf Grund der hohen Integration von Hard- und Software umfassend auf das System zu beziehen.

14.5 P  otenziale und Anwendungsmöglichkeiten entlang der Supply Chain Auf Grund weiterhin sinkender Preise und einer steigenden Verfügbarkeit von Produkten, auch für den privaten Sektor, repräsentieren Smart Glasses eine vielversprechende Technologieplattform für die Umsetzung von Self-Services. Unterstützt wird diese Technologie durch die Möglichkeit einer einfachen Entwicklung und Verteilung von Software-Applikationen durch das verwendete Android-Betriebssystem, welches auf einer Vielzahl verschiedener mobiler Endgeräte zum Einsatz kommt und sich dadurch bereits seit längerem am Markt etabliert hat. Im Falle professioneller Lösungen erlaubt die Austauschplattform „Android-Store“ die weitreichende Verteilung der Applikation. Die somit sichergestellte Bereitstellung von Applikationen als auch Verwendung in die regionale IT-Infrastruktur, z. B. für die Einbindung des Kunden in Service- und Wartungsprozesse, ist Grundlage für die Vermutung einer weiträumigen und übergreifenden Verwendbarkeit von Smart Glasses für eine Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten entlang der Supply Chain. Durch die weiterhin voranschreitende Globalisierung, und die somit steigende Fokussierung von produzierenden Unternehmen und Dienstleistern auf ihre jeweiligen Schlüssel-Expertisen, werden die Lieferketten von Produkten stets länger. ­Unter zusätzlicher Berücksichtigung eines steigenden Kostendruckes zur Erhaltung bzw. zum Ausbau der eigenen Marktposition suchen Unternehmen immer neue

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Möglichkeiten, Arbeitsschritte in Form von Dienstleistung an nach- oder vorgelagerte Unternehmen umzulagern, um den eigenen Ertrag weiter zu maximieren. Im besten Fall wird der jeweilige Arbeitsschritt, z.  B. die Montage, an den Kunden verlagert. Kunde kann in diesem Szenario beispielsweise ein Logistikdienstleister sein, der die Endmontage in Form von Value-Added-Service-Dienstleistungen für seinen Auftraggeber erbringt, jedoch ebenfalls der private Endkunde, welcher den Zusammenbau eines vergleichsweise simplen Produktes übernimmt. In beiden Fällen kann die Unterstützung durch den Auftraggeber oder Verkäufer notwendig sein. Hierfür bieten Smart Glasses eine optimale Grundlage zur Einbindung des Kunden mit Hilfe der Bereitstellung von unterstützenden oder steuernden Applikationen. Bei genauerer Betrachtung der heutigen Produktlandschaft ist festzustellen, dass die Anzahl Kundenspezifischer Produkte konsequent steigt. Durch die Verwendung von Produkt-Konfiguratoren ist der Endkunde im Stande, ein spezifisches Produkt zu gestalten. Für Hersteller und involvierte Lieferketten ergibt sich somit ein erhöhter Informationsgehalt je Produkt, welcher von Fertigungsstufe zu Fertigungsstufe stetig steigt. Durch die bereits beschriebene Fokussierung auf Schlüssel-Expertisen werde diese Fertigungsstufen bei unterschiedlichen Unternehmen erbracht und durch Logistikdienstleistungen verbunden. Die Materialflüsse werden somit stetig komplexer was mit steigenden Anforderungen an die Informationsbereitstellung einhergeht. Durch die Verwendung von standardisierten Schnittstellen und Kommunikationsprotokollen repräsentieren Smart Glasses eine potenzielle Lösung für den geforderten unternehmensübergreifenden Austausch von Informationen.

14.6 Diskussion und Ausblick Der vorgestellte Prototyp fokussiert die Bereitstellung von Self-Services auf Smart Glasses. Durch das in diesem Beitrag evaluierte System können Prozessführungen aus verschiedenen Branchen abgebildet werden, die bislang von Experten wie z.  B.  Servicetechnikern ausgeführt werden. Smart Glasses verschieben an dieser Stelle die Serviceausführung auf die Seite des Kunden, der befähigt wird, entsprechende Dienstleistungen selbst auszuführen. Während der aktuelle Prototyp Wartungs- und Prüfprozesse abbildet, ist eine Erweiterung auf darauffolgende Reparatur- oder Instandhaltungsprozesse denkbar. Auf diese Weise können neue Service- und Geschäftsmodelle geschaffen werden. Dazu ist jedoch zunächst eine Verbesserung der Akzeptanz und Gebrauchstauglichkeit des Systems notwendig. Dabei ist der Einsatz konventioneller Akzeptanz- und Usability-Modelle nur begrenzt möglich, da einerseits Hard- und Software durch eine hohe Integration nicht vollständig differenziert untersucht werden können, und da sich andererseits stetig neue Anforderungen durch innovative Technologien in den zu Smart Glasses übergeordneten Bereichen Wearables und Ubiquitous Computing ergeben. Basierend auf den identifizierten Gestaltungsprinzipien wird der vorgestellte Prototyp iterativ weiterentwickelt und evaluiert. Ebenfalls ist eine Validierung des Trägersystems mit dem mittlerweile verfügbaren Nachfolger der Vuzix M100, der Vuzix M300, geplant. Darüber hinaus stehen neben dem Design der Self-Service-Technologie auch

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durch Co-Creation resultierende Restrukturierungen im Bereich des Serviceobjekts und der zu Grunde liegenden Service- und Geschäftsmodelle im Fokus weiterer Untersuchungen. Die basierend auf den Ergebnissen der prototypischen Implementierung prognostizierte Anwendbarkeit von Smart Glasses entlang der Supply Chain ist im Weiteren zu spezifizieren und auf abgrenzbare Anwendungsfälle zu konsolidieren. Die sich ergebenen Einsatzszenarien sind Ansatzpunkte für neue Geschäftsmodelle als auch Ausgangspunkt für die Entwicklung modularer Self-Service-­ Plattformen. Langfristig besteht so die Möglichkeit unternehmensübergreifender Informationsaustauschplattformen zur Bereitstellung von hochgradig kundenspezifischen Self-Services. Danksagung  Dieser Beitrag ist Teil des Projekts Glasshouse, welches vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unter dem FKZ 02K14A090 gefördert wird.

Anhang Tab. 14.A Fragebogen PE PE1 PE2 PE3 PE4 EE EE1 EE2 EE3 EE4 SI SI1 SI2 SI3 SI4 FC FC1 FC2 FC3 FC4

Konstrukt/Frage Erwartete Performanz Ich finde Smart Glasses nützlich für meinen Job. Die Nutzung von Smart Glasses ermöglicht mir, meine Aufgaben schneller zu erledigen. Die Nutzung von Smart Glasses erhöht meine Produktivität. Wenn ich Smart Glasses nutze, erhöhe ich meine Chancen auf eine Gehaltserhöhung. Erwarteter Aufwand Meine Interaktion mit Smart Glasses wäre klar und verständlich. Es wäre einfach für mich mit Smart Glasses fachkundig zu werden. Ich fände Smart Glasses einfach zu benutzen. Es wäre einfach für mich, zu lernen Smart Glasses zu bedienen. Sozialer Einfluss Menschen, die mein Verhalten beeinflussen, würden sagen, dass ich Smart Glasses nutzen sollte. Menschen, die mir wichtig sind, würden sagen, dass ich Smart Glasses nutzen sollte. Die Assistenz in diesem Experiment war hilfreich für die Nutzung des Systems. Im Allgemeinen hat die Organisation dieses Experiments die Nutzung von Smart Glasses unterstützt. Rahmenbedingungen Ich habe die notwendigen Ressourcen (Hard- und Software) zur Nutzung von Smart Glasses. Ich habe das notwendige Wissen zur Nutzung von Smart Glasses. Smart Glasses sind nicht kompatibel mit anderen Systemen (Hard- und Software), die ich nutze. Eine spezielle Person (oder Gruppe) steht bei Systemschwierigkeiten als Assistenz zur Verfügung.

Referenz (Venkatesh et al. 2003)

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PC PC1

PC2 PC3

PC4

TR TR1 TR2 TR3 PR PR1

PR2 PR3

IU IU1 IU2 IU3 SUS SUS1 SUS2 SUS3 SUS4 SUS5 SUS6 SUS7 SUS8 SUS9 SUS10

S. Werning et al. Konstrukt/Frage Datenschutzbedenken Ich habe Bedenken, dass die Informationen, die ich bei der Nutzung von Smart Glasses übertrage, missbraucht werden könnten. Ich habe Bedenken, dass andere Personen durch meine Nutzung von Smart Glasses private Informationen über mich finden können. Ich bin besorgt, was andere Personen mit (persönlichen) Informationen machen können, die ich durch Smart Glasses erfasse. Ich bin besorgt, dass (persönliche) Informationen, die durch Smart Glasses erfasst wurden, für Zwecke verwendet werden, die ich nicht voraussehen konnte. Vertrauen Smart Glasses bieten eine sichere Umgebung um Informationen mit anderen auszutauschen. Smart Glasses sind eine zuverlässige Umgebung zur Ausführung von geschäftlichen Interaktionen. Smart Glasses behandeln persönlich übermittelte Informationen in einer kompetenten Art und Weise. Wahrgenommenes Risiko Das Erfassen von (persönlichen) Informationen (z. B. Kameraoder Tonaufnahmen) mit Smart Glasses würde unerwartete Probleme mit sich bringen. Es wäre riskant persönliche Informationen (z. B. Kamera- oder Tonaufnahmen) mit Smart Glasses zu erfassen. Es besteht ein hohes Verlustpotenzial, wenn ich meine persönlichen Daten (z. B. Kamera- oder Tonaufnahmen) mit Smart Glasses erfasse. Nutzungsintention Ich beabsichtige in den nächsten Monaten Smart Glasses zu nutzen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich Smart Glasses in den kommenden Monaten nutze. Ich plane in den nächsten Monaten Smart Glasses zu nutzen. System Usability Scale Ich kann mir gut vorstellen, das System regelmäßig zu nutzen. Ich empfinde das System als unnötig komplex. Ich empfinde das System als einfach zu nutzen. Ich denke, dass ich technischen Support brauchen würde, um das System zu nutzen. Ich finde, dass die verschiedenen Funktionen des Systems gut integriert sind. Ich finde, dass es im System zu viele Inkonsistenzen gibt. Ich kann mir vorstellen, dass die meisten Leute das System schnell zu beherrschen lernen. Ich empfinde die Bedienung als sehr umständlich. Ich habe mich bei der Nutzung des Systems sehr sicher gefühlt. Ich musste eine Menge Dinge lernen, bevor ich mit dem System arbeiten konnte.

Referenz

(Xu et al. 2009)

(Brooke 1996)

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Augmented Documentation – Technische Innovation in den Praxisalltag implementieren

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Christopher Rechtien und Beke Redlich

Zusammenfassung

Augmented Documentation (AD) bedeutet im Kontext dieses Beitrags die Anwendung von Augmented Reality (AR) im Bereich der Technischen Dokumentation (TD). TD ist ein spezieller Bereich der Informationsaufbereitung und -Begleitung im Business-to-Business Produktmanagement. Die aktuellen Herausforderungen im Rahmen der Digitalisierung und ein zunehmender Innovationsdruck der TD, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln und zu erweitern, fördern die Auseinandersetzung mit zeitgemäßen Technologien wie AR. In diesem Beitrag wird die spezielle Anwendung der AR-Technologie auf den Bereich der TD erläutert und diskutiert. Weiterhin wird ein dezidiertes Innovationsprojekt bezüglich der Implementierung von AD vorgestellt, das anhand von Action Design Research durchgeführt und in dem die darauf aufbauenden Erkenntnisse implementiert wurden. Das AD-Innovationsprojekt ist ein exemplarisches Vorgehen, das wertvolle Erkenntnisse für Wissenschaft und Praxis liefert, die am Ende dieses Beitrags erläutert werden. Schlüsselwörter

Augmented Reality · Technische Dokumentation · Informationsmanagement · B2B · Innovation Unveränderter Original-Beitrag Rechtien und Redlich (2017) Augmented Documentation – Technische Innovation in den Praxisalltag implementieren, HMD – Praxis der Wirtschaftsinformatik, 54(5):769–780. C. Rechtien (*) kothes GmbH, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] B. Redlich Jacobs University Bremen gGmbH, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Robra-Bissantz, C. Lattemann (Hrsg.), Digital Customer Experience, Edition HMD, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1_15

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C. Rechtien und B. Redlich

15.1 Einleitung Virtual Reality und Augmented Reality (AR) sind keine Zukunftstechnologien mehr, sondern im privaten und unternehmerischen Alltag angekommen (Paul 2017; Reimann 2014). AR bietet als neues Medium enormes Potenzial und ermöglicht es, den Arbeitstag und Alltag effizienter und angenehmer zu gestalten. Die Basis von AR ist es Informationen so verfügbar zu machen, dass ein schneller Zugriff und wenig Transferleistung durch die Nutzer notwendig sind. Hieraus bildet sich ein gemeinsamer Informationsraum zwischen Informationsquelle, -aufbereitung und -verwendung  – also intelligente Metadatenkonzepte, die so niederschwellig sind, dass alle Informationen eingefangen werden können, aber doch so komplex sind, dass effiziente Suchstrategien schnell zu Antworten führen. Seit Mitte der 90er-Jahre wird das Konzept der AR angewendet (Azuma 1997). Seit wenigen Jahren ist die AR-Technologie nun so ausgereift, dass sie für praktische Einsatzzwecke im privaten und beruflichen Alltag verwendet werden kann (Jost et al. 2017). Die größten Antriebe hat die AR-Technologie durch tragbare Endgeräte wie Tablets oder Smartphones erhalten, die den Medienkonsum und die ­Erwartungshaltung der Menschen gegenüber Informationen nachhaltig verändert haben. Schnelle Systemhardware, hochauflösende Kameras und diverse Sensoren geben jedem Nutzer hochkomplexe Technik und damit verbunden vielfältige Möglichkeiten der Nutzung an die Hand. Des Weiteren lässt sich vermuten, dass die Weiterentwicklung von tragbaren Endgeräten, wie beispielsweise Smartglasses oder Smartwatches, den Einsatz von AR noch weiter forcieren werden (Gorecky et al. 2017). Spannend wird es, wenn man die Möglichkeiten der AR-Technologie in einem bestimmten Anwendungsbereich betrachtet. Aufgrund dessen befasst sich dieser Beitrag mit der Entwicklung von AR-Technologie aus der Perspektive der Technischen Dokumentation (TD). Hierbei wird der Fokus auf einen bestimmten, im Business-­to-Business (B2B) Bereich verorteten Anwendungsbereich in Form eines Innovationsprojekts übertragen. Damit soll es künftig möglich sein, die normale Maschinendokumentation um AR-Funktionalitäten anzureichern. Dieser Beitrag bildet eine mögliche Herangehensweise sowie eine praktische Entwicklung und Implementierung einer Augmented Documentation (AD) App im B2B-Kontext ab. Das Ziel dieses Beitrags ist es, die kontinuierliche Weiterentwicklung von AR einem spezifischen Anwendungsbereich wie der TD darzulegen und somit ein exemplarisches Vorgehen zur praktischen Implementierung von AR in den Unternehmensalltag zu ermöglichen. In den folgenden Abschnitten präsentieren wir den theoretischen Kontext zur Entwicklung einer AD-Anwendung und erläutern hierfür die Aspekte der TD und AR.  Darauffolgend werden wir die methodische Herangehensweise, die zur ­Entwicklung der AD-App geführt hat, erläutern, das Artefakt vorstellen und ein Resümee aus dem Innovationsprojekt ziehen. Zum Ende dieses Beitrags wird die Implementierung von AR, in diesem Anwendungsfall AD, in einem größeren Rahmen diskutiert, so dass weiterführende Erkenntnisse für den Einsatz von AR im ­B2B-­Bereich präsentiert werden können. Ein Ausblick auf künftige

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­ orschungs- und Praxisprojekte in Bezug auf AR im B2B-Bereich bildet den AbF schluss dieses Beitrags. Da sich dieser Beitrag mit der Entwicklung von Services (AD-App) für bestehende Produkte, in diesem Fall Maschinen und Anlagen, unter Einfluss von neuen Technologien bezieht, wird eine erweiterte Perspektive auf Produkt-Service-­Systeme und Digital Customer Experience aufgezeigt.

15.2 Theoretische Grundlagen Für ein weiterführendes Verständnis der unterschiedlichen Gesichtspunkte des Projekts werden in den folgenden Abschnitten die Aspekte TD, AR und B2B erläutert und in einen Zusammenhang gestellt. Diese theoretische Auseinandersetzung dient als Grundlage, um die einzelnen Ansprüche und Komponenten der AD-App nachvollziehen zu können.

15.2.1 Technische Dokumentation (TD) Die TD wird in diesem Beitrag als Informationsaufbereitung von technischen Sachverhalten und Abläufen definiert. Je nach den Bedürfnissen bestimmter Zielgruppen oder Zielsetzungen unterscheiden sich die Form der Informationsaufbereitung und somit auch die Publikationsart. Beispielhaft für unterschiedliche Publikationsformen in der TD können Gebrauchs- und Betriebsanleitungen, Service- und Reparaturhandbücher sowie interaktive Hilfesysteme genannt werden. Das Endprodukt der TD muss nicht zwingend ein Printmedium sein, sondern kann auch digital zur Verfügung gestellt werden. Die TD ist immer an ein Produkt gekoppelt, das aus Gründen von Nutzerbedürfnissen und rechtlichen Anforderungen von einer Informationsaufbereitung begleitet sein muss (Kothes! Technische Kommunikation GmbH & Co. KG 2017). Der Bereich der TD ist somit ein Mediator zwischen Produktherstellern (oft Maschinen- und Anlagenbau), den Konsumenten und gesetzlichen Richtlinien, die eine TD zur rechtlichen Absicherung aller nutzenden Parteien fordert. Unternehmen, die TD entwickeln, tun dies demzufolge für Produkthersteller, die rechtlich dazu verpflichtet sind, eine TD zum Produkt zur Verfügung zu stellen. Dies versetzt Unternehmen in der TD in einen B2B-Kontext. Die Nutzer der TD können wiederum sowohl Endkunden, wie beispielsweise Käufer von Haushaltsgeräten, oder auch Mitarbeiter in Unternehmen sein, die Geräte oder Maschinen für berufliche Zwecke bedienen. Aufgrund der sich verändernden Nutzung von Medien und Informationsbeschaffung sieht sich der Bereich der TD vor der Herausforderung, das Angebot zeitgemäß durch den Einsatz neuer Technologien anzupassen. Im Rahmen dieses Beitrags wird die Entwicklung eines neuen TD-Ansatzes erläutert, der den Einsatz von AR als Informationsaufbereitungsmedium im Bereich der beruflichen Maschinenbedienung untersucht.

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C. Rechtien und B. Redlich

15.2.2 Der Einsatz von AR im B2B-Bereich Für Privatkunden gibt es schon eine Vielzahl von Apps für Smartphone oder Tablet, die AR nutzen. So kann man sich zu Flugzeugen, die gerade über einen hinwegfliegen, in Echtzeit Informationen wie Fluglinie, Geschwindigkeit, Höhe und Startund Zielflughafen anzeigen lassen, wenn man sich die Flugzeuge auf ihrem Flug durch das Auge der Smartphone-Kamera ansieht. Auch im Bereich der Werbung und der Medien gibt es schon verschiedene AR-Anwendungen. Mit einer App der schwedischen Möbelkaufhauskette Ikea konnten Kunden Möbel aus dem Katalog über das Smartphone virtuell in ihrer Wohnung platzieren. In Unternehmen im B2B-Bereich werden AR-Anwendungen aber bisher nur vereinzelt getestet und noch seltener bereits produktiv verwendet. Ein Beispiel aus diesem Bereich ist sicher Bosch Automotive mit ihrer Common Augmented Reality Platform (CAP). Experten sehen aber schon jetzt ein starkes Wachstumspotenzial. So erwartet die Deutsche Bank in einer Studie von 2015, dass der Weltmarkt für AR von derzeit etwa 500 Millionen Euro auf 7,5 Milliarden Euro im Jahr 2020 anwachsen wird. Im Jahr 2014 schienen es weniger als 10 % der Maschinen- und Anlagenbauer in Deutschland zu sein, die überhaupt mobile Apps in Produktion, Instandhaltung oder Service einsetzten (Heng 2015). Zur Hannover Messe 2017 resümierte Reiner Glatz, Geschäftsführer des Fachverbands Software und Digitalisierung beim Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau e.V. (VDMA): „Virtual Reality und Augmented Reality sind keine Zukunftstechnologien mehr, sondern sind in der praktischen Anwendung angekommen“ (Paul 2017; Reimann 2014). Dieser Einschätzung werden wir mit diesem Beitrag Rechnung tragen und die praktische Implementierung der AD-App vorstellen.

15.3 Methodischer Ansatz Dieser Beitrag zielt darauf ab, aufzuzeigen, wie AR-Technologien für die TD praktisch anwendbar werden und somit ein neuer Service für Hersteller von Maschinen und Anlagen sowie Nutzern entwickelt werden kann. Hierbei gibt es unterschiedliche Herausforderungen: Erstens müssen die technologischen Anforderungen für eine AD-App identifiziert und eine Entwicklung machbar gestaltet werden. Zweitens muss der Inhalt der AD-App, das heißt spezifische Informationen, passgenau aufbereitet werden, was eine neue Anforderung im Tätigkeitsbereich der TD bedeutet. Drittens muss gemeinsam mit den Herstellern und Nutzern ein spürbarer Mehrwert durch einen neuen Service wie den der AD-App entwickelt werden. Für die Erarbeitung einer Problemlösung haben wir die Methode Action Design Research (ADR) gewählt. ADR legt einen Fokus auf Herausforderungen, die in ­einem bestimmten Unternehmensumfeld entstehen und durch Interventionen und entsprechende Evaluationen iterativ zu einer Lösungsfindung führen (Sein et  al. 2011). Weiterhin sieht ADR die Entwicklung und Auswertung eines IT-Artefakts (AD-­App) vor, das diverse Herausforderungen in einer integrierten Lösung anstrebt.

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Um den Herausforderungen zu begegnen, die Anwendbarkeit von AR in der TD zu überprüfen und darauf aufbauend eine Lösung in Form eines IT-Artefakts zu entwickeln, wurde eine Kooperation zwischen mehreren Unternehmen geschlossen. Hierzu zählt das Unternehmen Kothes GmbH, das TD als Kerngeschäft anbietet, und die RE’FLEKT GmbH als Anbieter von AR-Anwendungen. Eine enge Zusammenarbeit zwischen den beiden Unternehmen mit Hilfe eines gemeinsamen Innovationsteams führte zu einer ersten prototypischen Entwicklung einer AD-App. Diese wurde für Evaluations- und Verbesserungszwecke auf der tekom, der größten europäischen Messe für den Fach- und Berufsverband für TD, präsentiert. Das dort gewonnene Feedback durch dezidiertes Fachpublikum ist in die Weiterentwicklung des Prototypen eingeflossen. Weiterhin ist durch die Präsentation des Prototypen ein zusätzlicher Kooperationspartner in den Entwicklungsprozess integriert worden. Hierbei handelt es sich um das Unternehmen SIG Combibloc GmbH, einer der weltweitgrößten Hersteller von Getränkekartons. Somit kann sichergestellt werden, dass die Bedürfnisse der Zielgruppe bei der Entwicklung mit einbezogen werden. Gemeinsam haben die drei Kooperationspartner zur weiterführenden Evaluation des Prototypen einen Workshop durchgeführt, der die Ermittlung von speziellen kundenspezifischen Anforderungen und Funktionen an eine AR-Anwendung und den notwendigen Erstellungsprozess zur Aufgabe hatte. Der Workshop führte zu der Aufnahme eines vierten Kooperationspartners, der DOCUFY GmbH. Das Unternehmen DOCUFY liefert mit der eigenen Anwendung zur Informationserstellung, dem XML-basierten Content-Management-System COSIMA go!, eine Ausgangsbasis zur Weiterentwicklung des Prototypen. Zum Abschluss der Evaluations- und Verfeinerungsphase des Prototypen wurde ein Pilotprojekt initiiert, bei dem eine prototypische Publikationsstrecke aufgebaut wurde (vgl. Abschn. 15.3.2). Der sukzessive Aufbau der Kooperation und die fortlaufende Evaluation sowie Weiterentwicklung des Prototypen folgt den Anforderungen an ADR und führte schlussendlich zu einer exemplarischen Vorgehensweise zur Entwicklung und Implementierung von innovativer Technologie in einem bestimmten Anwendungsfall.

15.3.1 Herausforderungen bei der Entwicklung einer AD-App Das Vorhaben, eine App zu entwickeln, die AR in der TD praktisch anwendbar zu gestalten und einen Nutzen daraus zu generieren, ist mit einigen Herausforderungen verbunden. Die Aufwände für eine prototypische Demo-Anwendung waren zunächst aus zeitlicher und finanzieller Sicht überschaubar. Skaliert man die Aufwände jedoch auf die Dokumentation einer komplexen Maschine, werden Schwachstellen des Prototypen schnell deutlich. Die klassische Betriebsanleitung oder Wartungsdokumentation wird in diesem Kontext lediglich zu einer Grundlage der Anwendung. Wurde die TD dokumentenbasiert erstellt, muss sie für eine AR-­ Anwendung fast komplett neu aufbereitet werden. Hierzu gehören auch die Erstellung von Videos und lagegetreuen Schritt-für-Schritt-Animationen. Zumindest aber muss ein 3D-Modell der Maschine von Spezialisten so aufbereitet werden, dass der Algorithmus einer AR-Anwendung auf Basis des 3D-Modells das reale Objekt im

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Kamerabild erkennt und nachverfolgen kann. Diese Inhalte lassen sich dann mehr oder weniger komfortabel in eine AR-Anwendung einbauen, so dass diese dann künftig mit einer Maschine ausgeliefert werden. Eine noch größere Herausforderung liegt darin, weitere Maschinen in die AR-Anwendung zu integrieren. Bisherige Erkenntnisse zeigen, dass die gesamte AR-Anwendung nahezu neu produziert bzw. programmiert werden muss. Neue Inhalte müssen erstellt, ein neues 3D-Modell muss für das Tracking vorbereitet werden usw. Ob der Mehrwert einer solchen AR-Anwendung diesen erneuten Aufwand rechtfertigt, ist im Einzelfall zu prüfen.

15.3.2 Das Artefakt AD-App Bei der hier zu beschreibenden AD-App handelte es sich um einen gekapselten Prototypen. Alle Daten, die angezeigt werden konnten, waren direkt in der App enthalten und wurden im lokalen Speicher eines Tablets vorgehalten. Um die Funktionen der App vorzuführen, wurde ein Kunststoffwürfel mit Fotos verschiedener Ansichten einer Abfüllmaschine beklebt. Diese Fotos dienen der AR-Anwendung als grafische Marker. Die beschreibenden Inhalte zur Maschine sowie eine lagegetreue und Schritt für Schritt beschriebene Ein- und Ausbauanimation werden, angelehnt an die originale Betriebsanleitung der Maschine, extra aufbereitet und fest in die App integriert. Mit der AD-App ist es möglich, sich die Beschreibungen zu verschiedenen Baugruppen direkt an der Maschine anzeigen zu lassen und von diesen Beschreibungen zu klassischen Handlungsbeschreibungen zu springen. Beispielsweise ist es für eine Handlungsbeschreibung möglich, sich den Wechsel eines Dampffilters Schritt für Schritt am Objekt mithilfe einer lagegetreuen Animation zeigen zu lassen. Auf Grundlage der Evaluations- und Verbesserungszyklen wurde das XML-­ basierte Component-Content-Management-System COSIMA go!, ein Content-­ Management System, als technologische Basis integriert, so dass Inhaltsbausteine – sogenannte Topics  – unabhängig vom Ausgabeformat erstellt, verwaltet und teilautomatisiert zu Publikationen wie Betriebsanleitungen zusammengeführt werden können. Zur intelligenten Steuerung der Topics können diese  – zusätzlich zu obligatorischen Metadaten – mit frei definierbaren Metadaten gekennzeichnet werden. Schematisch wird der hier beschriebene Publikationsprozess Abb. 15.1 gezeigt. Die gewonnenen Informationen werden auf (mobilen) Endgeräten angezeigt, durch den sogenannten TopicPilot, eine mobile Publikationsplattform der DOCUFY GmbH. Der TopicPilot ist eine Content-Delivery-Lösung, in der die Inhalte direkt aus den angeschlossenen Systemen, wie hier COSIMA go!, publiziert werden können. Mit den entsprechenden Zugangsdaten lässt sich der TopicPilot sowohl über den Browser als auch über die App öffnen. Die Inhalte, die angezeigt werden, lassen sich über verschiedene Filterkriterien auswählen. Beispielsweise kann ein QR-Code an einer Maschine angebracht sein, der, über den TopicPilot eingescannt, die Informationen für diese bestimmte Maschine vorfiltert. Zudem können die

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Abb. 15.1  Der Publikationsweg vom Redaktionssystem bis zur AR-Ansicht (eigene Darstellung)

­ erechtigungen für bestimmte Inhalte an den Benutzerlevel gekoppelt werden, soB dass beispielsweise nur Techniker Elektroschaltpläne einsehen oder Ersatzteile bestellen können. Neben einer intelligent aufgebauten Suchfunktion und der klassischen Dokumentstruktur können die Nutzer auch anhand von Facetten die Treffermenge der Topics reduzieren und so schneller zur gewünschten Information navigieren. Facetten sind dabei Metadaten, mit denen die Topics zuvor angereichert wurden. Vergleichbar ist diese Suche mit den Suchmöglichkeiten in Onlineshops wie Amazon: Sucht man hier nach „Grillen“, ergibt sich eine riesige Treffermenge an diversen Produkten. Durch die Auswahl von Kategorien, eben Facetten, kann eingegrenzt werden, was genau gesucht wird – eher „Grillgewürz“, „Rezeptbücher“, „Grillzubehör“ oder ein Grill selbst. Bezogen auf TD sind solche Facetten beispielsweise „Wartungsarbeiten“, „Technische Daten“ oder „Beschreibungen“. Folglich werden bei Auswahl der entsprechenden Facette beispielsweise nur noch Topics angezeigt, die Wartungsarbeiten beschreiben. Wird dann im TopicPilot auf reale Objekte verwiesen, werden diese mithilfe der AR-Plattform RE’FLEKT ONE über das Kamerabild des Tablets an der realen Maschine angezeigt. Das Kamerabild lässt sich ­dabei einfrieren. So lässt sich das Tablet beiseitelegen, damit der Nutzer beide Hände zum Arbeiten frei hat. Zudem hat der Nutzer bei eingefrorenem Kamerabild die Möglichkeit, das 3D-Objekt zu drehen und aus einem anderen, vielleicht nicht direkt zugänglichen Blickwinkel zu erkunden.

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15.3.3 Grundlage zur Implementierung der AD-App Als gemeinsame Sprache zwischen Informationen und 3D-Daten hat Kothes! ein Metadatenkonzept entwickelt, das sich an der Methode der „PI-Klassifizierung“ orientiert. Ein Teil des Konzepts basiert darauf, dass Produkt- und Informationsklassen gebildet werden. In dem entstehenden Informationsraum können dann die Topics verortet werden. Das Topic hat im einfachsten Fall die Metadaten Produktklasse und Informationsklasse. Bei der Produktklasse handelt es sich meist um den hierarchischen Aufbruch eines Teils in seine Einzelteile. So besteht ein Pumpenaggregat vielleicht aus „Antrieb“, „Sensoren“, „Gehäuse“ und „Sicherheitseinrichtungen“. Der „Antrieb“ wiederum besteht aus „Getriebe“ und „Motor“. Bei der Informationsklasse geht es nun darum, Themenkategorien zu finden, die man für die Erfassung des Gegenstands benötigt. Bei einem Pumpenaggregat könnten das „Beschreibungen“ oder „Handlungen“ sein. „Handlungen“ kann man aufgliedern in Themenkategorien wie „Reinigen“, „Bedienen“ oder „Einstellen“. Möchte man nun ermitteln, was dokumentiert werden muss, stellt man eine Klasse auf die X-Achse einer Matrix und die andere Klasse auf die Y-Achse. Nun lassen sich alle Produktklassen mit allen Informationsklassen vergleichen. In der Matrix kennzeichnet man beispielsweise, dass zur Produktklasse „Antrieb“ und zur Informationsklasse „Einstellen“ etwas dokumentiert werden muss. Nun kann ein Topic erstellt werden, das sich genau mit diesen beiden Metadaten identifizieren lässt: „Antrieb“ und „Einstellen“. Basieren nun das Bauteil in den 3D-Daten und ein Metadatum am Topic auf denselben Produktklassen, können die Information und das reale Objekt zu dieser Information miteinander in Beziehung gesetzt werden. Um die praktische Anwendbarkeit von AR für Redakteure zu ermöglich und um einem Informationsrezipienten die Transferleistung von der Information hin zum Objekt zu vereinfachen, muss eine gemeinsame Sprache gefunden werden, die eine Verallgemeinerung der Anwendung ermöglicht. Hierfür bekommt ein Redakteur bei der Erstellung eines Topics die Möglichkeit, Links auf das reale Objekt zu setzen. Das reale Objekt wird bis zur letztlichen Darstellung am Objekt durch das 3D-Modell repräsentiert. Mit diesem Link adressiert der Redakteur die Metadaten. Damit hat der Redakteur verschiedene Möglichkeiten, dem Nutzer der AR-Anwendung Informationen mitzugeben. Schreibt ein Redakteur bei unserem Beispiel mit dem Pumpenaggregat ein Topic zum Einstellen des Antriebs, könnte dieser dem Nutzer der AR-Anwendung zeigen wollen, wo sich der Antrieb befindet. Ein Redakteur kann hierzu einen AR-Link setzen, der auf die Produktklasse „Antrieb“ zeigt. In der Darstellung zeigt später der TopicPilot einen AR-Link. Wird dieser Link gewählt, zeigt RE’FLEKT ONE das gewünschte Bauteil, also den „Antrieb“, am Objekt. So wird es möglich, dass ein Nutzer der AR-Anwendung ohne nennenswerte Transferleistung direkt am Objekt identifizieren kann, worüber er gerade etwas gelesen hat. Ein fehlerhafter Sensor kann so beispielsweise in einem viel geringeren Zeitfenster identifiziert werden, als es mit einem Schaltplan der Fall wäre.

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In einem anderen Topic könnte der Redakteur dem Nutzer der AR-Anwendung zeigen wollen, welche Einstellarbeiten es an den diversen Sensoren im Pumpenaggregat gibt. Als klassische Darstellung könnte dies in einer Tabelle oder Aufzählung mit Referenzen zu den jeweiligen Topics umgesetzt sein. In dem vorliegenden Szenario kann der Redakteur einfach einen Link auf die Produktklasse „Sensoren“ und die Informationsklasse „Einstellen“ setzen. Wird dieser Link dann im TopicPilot aufgerufen, werden dem Nutzer alle Sensoren am Pumpenaggregat angezeigt. Wählt der Nutzer einen bestimmten Sensor an, werden Links zu allen Topics angezeigt, die das Metadatum dieses Sensors und das Metadatum „Einstellen“ tragen. Diese Links werden automatisch gebildet und müssen nicht vom Redakteur extra angelegt oder gepflegt werden. Das Metadatenkonzept als gemeinsame Sprache von Informationen und 3D-­ Daten steht nun fest. Alle Informationen im Redaktionssystem COSIMA go! sind mit den entsprechenden Metadaten ausgezeichnet und können so eindeutig identifiziert und Bauteilen zugeordnet werden. Auch die einzelnen Teile in den 3D-Daten müssen mit dem entsprechenden Metadatum ausgezeichnet sein. Diese 3D-Daten werden dann als eigenständiges Objekt zusammen mit den Informationen im Redaktionssystem abgelegt und verwaltet. Die Informationen und das 3D-Modell werden aus COSIMA go! an einen TopicPilot-­Server publiziert. Via App auf einem mobilen Endgerät oder im Browser seines Rechners kann der Nutzer die Informationen abrufen und schnell zu der ­Information navigieren, die dieser benötigt. Vom mobilen Endgerät aus kann der Nutzer die AR-Links aufrufen. Dabei wird die AD-App aufgerufen. Das für das Tracking benötigte 3D-Modell und die anzuzeigenden Informationen werden der AD-App vom TopicPilot übermittelt. Mit Hilfe der AD-App kann der Nutzer die gewünschten Bauteile direkt am Objekt identifizieren. Wurden entsprechende Links gesetzt, kann der Nutzer zu weiterführenden Informationen gelangen, die ihm direkt im TopicPilot angezeigt werden.

15.4 Testergebnisse Im Ergebnis ermöglicht die AD-App mit integrierter Plattform auf Basis eines ­Metadatenkonzepts, dass Daten in einem adaptierten COSIMA go! geändert und publiziert werden können, die in einer AR-Ansicht auf dem Tablet direkt an einer Maschine angezeigt werden. Wesentliche Vorteile der AD-App sind das Ermöglichen von schnelleren Serviceeinsätzen durch schnell identifizierte Bauteile sowie höhere Erfolge bei Training und Service durch direkten Bezug von der Dokumentation zum Produkt. Die AD-App ermöglicht somit eine Reduzierung von Stillstandzeiten in der Produktion. Aktuell wird daran gearbeitet, die prototypische Publikationsstrecke aus den genannten Systemen für einen der Kooperationspartner für den realen Betrieb zu überführen. Damit soll es künftig möglich sein, die normale Maschinendokumentation um AR-Funktionalitäten anzureichern. Um AR-Funktionen direkt aus dem

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­ edaktionssystem grundsätzlich zu ermöglichen, müssen die Topics und die R 3D-Daten mit möglichst minimalen Aufwänden eine gemeinsame Sprache finden. Erst dann wird es möglich sein, im Redaktionsprozess einen Verweis auf ein O ­ bjekt in der Realität bzw. im 3D-Modell zu setzen.

15.5 Diskussion Sollen dauerhaft AR-Anwendungen produziert werden, braucht es einen eigenen Prozess mit eigenen Ressourcen. Hierbei entstehen Herausforderungen und Veränderungen in unterschiedlichen Bereichen. Aus Sicht der TD müssen bei einer dauerhaften Entwicklung von AR-Anwen­ dungen Informationen entsprechend für einen Anwendungsfall neu recherchiert und aufbereitet sowie Konstruktionsdaten als 3D-Daten bereitgestellt werden. Das präsentierte Innovationsprojekt zur AD-App zeigt ebenso, dass neben einem TD-Anbieter weitere Unternehmen an der Entwicklung beteiligt sein müssen. Hieraus ergibt sich die Herausforderung, dass aus Sicht der TD eine verlässliche Kooperation mit einem Partner gepflegt werden muss, der für die kontinuierliche Entwicklung von 3D-Modellen und Animationen sorgt. Neben dem Entwicklungsaufwand einer AD-App ist auch eine Betreuung der Kunden bei der Nutzung zu organisieren. Hieraus ergibt sich, dass für jeden Anwendungsfall überprüft werden muss, welches beteiligte Unternehmen in welchem Ausmaß die Begleitung der Nutzer übernimmt. In dem Fall, dass ein TD-Unternehmen, anders als im klassischen Aufgabenbereich der TD, auch die Betreuung von Kunden während der Benutzung der AD-App übernimmt, ergibt sich ein neues ­Tätigkeitsfeld. Eine weiterführende Betreuung von Kunden bei der interaktiven ­Benutzung einer AD-App ergibt ein neues Dienstleistungsangebot eines TD-Unternehmens. Aus ökonomischer Perspektive müssen die veränderten Tätigkeitsbereiche zur Entwicklung einer AD-App sowie eine Betreuung der Anwender bei der Nutzung durch den geschaffenen Mehrwert für Hersteller und Kunden getragen werden. Wie die Resonanz auf den Prototypen der AD-App zeigt, ist der Wunsch nach den Möglichkeiten einer AR-Anwendung auf Seiten von Herstellern und Nutzern vorhanden und die ersten groben Akzeptanzkriterien für eine praxisnahe Lösung stehen somit fest. Das Innovationsprojekt und die daraus gewonnenen Erkenntnisse zeigen auf, dass für die künftige Weiterarbeit eine skalierbare AR-Anwendung geschaffen werden muss, die nicht für jede Maschine von nahe null aufgebaut werden muss. Nach Möglichkeit sollten keine neuen Prozesse geschaffen werden müssen, um die Inhalte zu erzeugen. Bestenfalls könnten bestehende Prozesse ergänzt und vorhandene Systeme bzw. Schnittstellen dazu genutzt werden. Aus Sicht der TD ist eine geringe Abhängigkeit von externen Partnern in diesem Prozess erstrebenswert, da die Inhalte so durch eigene Mitarbeiter der Maschinen- und Anlagenhersteller selbst oder durch bereits etablierte Partner erstellt oder aufbereitet werden können. Die Softwarekomponenten für Informationserstellung und Publikation sollten darüber hinaus modular aufgebaut sein und der Funktionsumfang der eigentlichen AR-Anwendung sollte erweiterbar sein.

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15.6 Zusammenfassung und Ausblick In diesem Beitrag haben wir die praktische Implementierung der AR-Technologie im Bereich der TD anhand der Entwicklung einer AD-App präsentiert. Hierfür wurde zunächst eine inhaltliche Grundlage geschaffen, die die Aufgaben der TD sowie ein grundlegendes Verständnis für den Einsatz von AR in einem B2B-Kontext aufzeigt. Weiterhin wurde das Vorgehen des Projekts anhand von ADR präsentiert sowie Herausforderungen und das Artefakt vorgestellt. Die Abschnitte „Diskussion“ (Abschn. 15.4) und „Diskussion“ (Abschn. 15.5) zeigen, dass sowohl das beschriebene Vorgehen als auch das Endprodukt Mehrwert für die Branche, im Sinne der Reduzierung von Stillstandzeiten in der Produktion, sowie für den Nutzer haben. In der Folge sind bereits Weiterentwicklungen in Planung, die die Ausbreitung der Anwendung auch auf weitere Anwendungsfälle ermöglicht. Für den Bereich der TD zeigt sich, dass die Implementierung von neuen Technologien wie AR zu einer Erweiterung des Portfolios für TD-Unternehmen führt, die die bisherigen Produkte, wie beispielsweise eine Bedienungsanleitung, zu einer Basisfunktion machen. Weitere Schritte für die Projektpartner sind die Anbindung und Verknüpfung der anleitenden und beschreibenden Informationen mit den Ersatzteilinformationen in der AD-App. So können Ersatzteile eindeutig an der Maschine identifiziert, für die Bestellung ausgewählt und möglichst auch direkt bestellt werden. Weiter könnten die Daten, die live an einer Maschine entstehen, wie Sensor-, Produktions- und Leistungsdaten, dank AR direkt an der Maschine angezeigt werden. Dies stellt einen weiteren Mehrwert für Kunden und Hersteller dar. AR bietet als neues Medium enormes Potenzial – und die möglichen Szenarien, mit dieser Technologie den Arbeitstag und Alltag effizienter und angenehmer zu gestalten, sind zahlreich. Die Basis dafür, alle Informationen so verfügbar zu machen, dass ein schneller Zugriff möglich und wenig Transferleistung nötig ist, bildet ein gemeinsamer Informationsraum, also intelligente Metadatenkonzepte, die so niederschwellig sind, dass alle Informationen eingefangen werden können – aber doch so komplex, dass effiziente Suchstrategien schnell zu Antworten führen. In einem idealen Szenario braucht es das Suchen, wie wir es heute kennen, vielleicht kaum noch. Die Informationen kommen zum Nutzer, bevor dieser weiß, dass er sie benötigt. Produkte melden von selbst, dass der Nutzer oder der Servicetechniker gefordert ist. Selbstlernende Unterstützungen bei der Fehlersuche empfehlen dann das richtige Vorgehen und die notwendigen Ersatzteile.

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Heng S (2015) Augmented Reality: Bei Spezialanwendungen sollte Deutschland von dynamischem Zukunftsmarkt profitieren können. Deutsche Bank Research, Frankfurt am Main Jost J, Kirks T, Mättig B, Sinsel A, Trapp TU (2017) Der Mensch in der Industrie – Innovative Unterstützung durch Augmented Reality. In: Vogel-Heuser BB (Hrsg) Handbuch Industrie 4.0, Bd 4. Springer, Berlin/Heidelberg, S 153–174 Kothes! Technische Kommunikation GmbH & Co. KG. (2017) Kothes! Das ist Technische Dokumentation. http://www.kothes.de/infopool/das-ist-technische-dokumentation.html. Zugegriffen am 16.06.2017 Paul H (28.04.2017) Maschinenbau geht den Weg der Digitalisierung erfolgreich voran. http:// hannovermesse.vdma.org/viewer/-/v2article/render/21932788. Zugegriffen am 27.09.2018 Reimann (2014) Apps mobilisieren Maschinenbau. VDMA-Nachrichten, Frankfurt am Main Sein MK, Henfridsson O, Purao S, Rossi M, Lindgren R (2011) Action design research. MIS Q 35:37–56

Kundennutzen von VR-basierten 360°-Panoramen für den Erwerb beratungsintensiver Güter und Dienstleistungen: Eine Case Study im Garten- und Landschaftsbau

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Florian Remark, Lisa Berkemeier und Oliver Thomas Zusammenfassung

Virtual Reality (VR) steigert die Teilhabe und Autonomie des Kunden im Kaufprozess von ortsgebundenen und beratungsintensiven Gütern und Dienstleistungen. Im Rahmen einer Case Study wird der Nutzen von Virtual-Reality-Technologien im Garten- und Landschaftsbau untersucht, um zu zeigen, dass mit diesen immersiven Szenarien die Planung eines Projektes unterstützt wird und eine Verbesserung gegenüber konventionellen Präsentationsmedien in der Entscheidungsfindung besteht. Die Anforderungsanalyse, prototypische Implementierung und Evaluation (N = 61) eines VR-Systems, welches die Entscheidungsbasis des Kunden fundamental erweitert, tragen zur Wissensbasis bei. Ein praktischer Beitrag entsteht durch einen unternehmensspezifischen Prototyp, der sowohl branchenintern, als auch -übergreifend einfach auf andere Unternehmen adaptiert werden kann. Schlüsselwörter

Virtual Reality (VR) · Beratungsintensive Dienstleistungen · Case Study Research · 360°-Panorama · Garten- und Landschaftsbau · Vertrieb

Vollständig überarbeiteter und erweiterter Beitrag basierend auf Remark et al. (2018) Kundennutzen von VR-basierten 360° Panoramen für den Erwerb beratungsintensiver Güter und Dienstleistungen: Eine Case Study im Garten- und Landschaftsbau, Tagungsband zur Multikonferenz Wirtschaftsinformatik (MKWI) 2018, Paul Drews, Burkhardt Funk, Peter Niemeyer und Lin Xie (Hrsg.), S. 447. F. Remark (*) · L. Berkemeier · O. Thomas Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Robra-Bissantz, C. Lattemann (Hrsg.), Digital Customer Experience, Edition HMD, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1_16

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16.1 Einleitung Neue Technologien, wie die der Virtual Reality (VR), ermöglichen dem Kunden eine immersive und realistische Visualisierung von Produkten in einem bislang nicht möglichen Grad an Detailierung und Realitätsnähe (Haas und Bowen 2016). Speziell im Vertrieb von komplexen, beratungsintensiven Gütern und Dienstleistungen hat diese Technologie das Potenzial, die Informationsversorgung des Kunden in der Vorkaufsphase zu optimieren und damit implizit den Kundennutzen eines Produktes zu steigern (Walsh und Pawlowski 2002). Der Garten- und Landschaftsbau befasst sich mit dem Planen und Gestalten von Grünflächen und Gärten. Aufgrund der Vielfalt und Individualität der Projekte im Garten- und Landschaftsbau sind die hier erbrachten Leistungen den komplexen und beratungsintensiven Gütern sowie darüber hinaus den ortsgebundenen Dienstleistungen zuzuordnen. Die Erkenntnisse aus dem in dieser Case Study durchgeführten Experteninterview zeigen, dass individuelle Planungen, die fehlende Möglichkeit Produktmuster zu transportieren sowie ein hoher Bedarf an Informationsaustausch zwischen dem ausführenden Garten- und Landschaftsbauunternehmen und dem Kunden charakteristisch für den Vertriebsprozess dieser Branche sind und einen hohen Zeit- und damit einhergehenden Ressourcenaufwand auf beiden Seiten erfordern. Um dem Kunden einen visuellen Eindruck davon zu vermitteln, wie das spätere Endprodukt aussieht, kommen bislang im Wesentlichen aufwändig angefertigte Skizzen oder kostenintensive Grafiken zum Einsatz. Darüber hinaus finden zeitintensive Vor-Ort-Besichtigungen in Referenzgärten, die bereits vom ausführenden Unternehmen erstellt wurden, statt. In anderen Branchen, wie dem Tourismus, konnten im Bereich des Onlinemarketings mit Hilfe von VR-Technologien bereits Verbesserungspotenziale für die Vermarktung von Reisedestinationen nachgewiesen werden (Herstell 2008). Haas und Bowen (2016) identifizieren VR als eine Technologie durch deren Nutzung Verkaufspräsentationen eine deutliche Aufwertung erhalten, ohne dies weiter zu konkretisieren (Haas und Bowen 2016). Walsh und Pawlowski (2002) identifizieren für den Einsatz von VR im E-Commerce eine Forschungslücke und vermuten, dass ausführlichere Informationen, die dem User durch den Einsatz von VR zur Produktvisualisierung im E-Commerce zur Verfügung gestellt werden, dort zu höheren Absatzzahlen, z. B. bei Möbeln, führen können (Walsh und Pawlowski 2002). Im Rahmen einer Case Study wird im Folgenden untersucht, ob eine immersive Produktvisualisierung durch VR-basierte 360° Panoramen das Kauferlebnis verbessert und den Kundennutzen steigert, indem eine Verbesserung der Produktvisualisierung generiert wird. Im Fokus dieser Fallstudie steht die Exploration von zwei Hypothesen: (H1) VR ermöglicht es dem Kunden, sich noch nicht realisierte Projekte besser vorstellen zu können und (H2) VR liefert dem Kunden im Planungsprozess Mehrwerte gegenüber konventionellen Medien. Der zu untersuchende Mehrwert generiert sich dabei aus den zusätzlichen Informationen, die dem Kunden durch eine selbstbestimmte 360°-Ansicht gegenüber konventionellen Medien geboten werden können (Walsh und Pawlowski 2002). Dazu wurde

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zunächst der Vertriebsprozess eines Garten- und Landschaftsbauunternehmens durch ­Experteninterviews aufgenommen und mit der grafischen Spezifikationssprache Business Process Model and Notation (BPMN) modelliert. Aus den so gewonnenen Informationen wurden Einsatzszenarien und Anforderungen an ein VR-basiertes System abgeleitet und in einem Prototyp umgesetzt. Durch eine Befragung von N  =  61 zielgruppenrelevanten Personen konnte schließlich gezeigt werden, dass der Einsatz VR-basierter 360°-Panoramen im Vertrieb den Kundennutzen steigert, indem der Beratungsprozess verkürzt wird. Außerdem wird es dem Kunden ermöglicht, sich unfertige Projekte besser vorstellen zu können. Auf diese Art wird ein Mehrwert gegenüber konventionellen Medien generiert.

16.2 Einordnung in die Wirtschaftsinformatik Der Begriff der Virtual Reality, dt.: virtuelle Realität wird im wissenschaftlichen Diskurs in unterschiedlichsten Ausprägungen definiert (Bruns 2015; Cruz-Neira et al. 1993; Dörner et al. 2013), bezeichnet aber im Kern das Eintauchen in computergenerierte, virtuelle Inhalte, zu deren Gunsten eine Verdrängung der realen Welt erfolgt. Das Phänomen des Eintauchens in die virtuelle Welt wird auch Immersion genannt (Witmer und Singer 1998). VR-Technologien finden aktuell insbesondere in der Spieleindustrie Anwendung, bieten jedoch auch in Bezug auf betriebliche Anwendungen großes Potenzial (Deutsch et al. 2016). Erste Untersuchungen in der Tourismusbranche (Herstell 2008) sowie im E-Commerce (Krasonikolakis und Vrechopoulos 2009) zeigen, dass VR grundsätzlich in der Lage ist, reale Erfahrungen zu simulieren. Walsh und Pawlowski (2002) weisen allerdings auch auf einen großen Forschungsbedarf bezüglich des betrieblichen Einsatzes von VR hin (Walsh und Pawlowski 2002). Gerade die Visualisierung ortsgebundener Waren oder Dienstleistungen und eine damit einhergehende ortsunabhängige Präsentationsmöglichkeit jener Produkte lassen zahlreiche Einsatzpotenziale für VR im vertrieblichen Kontext entstehen (Deutsch et al. 2016; Haas und Bowen 2016). Die Wirtschaftsinformatik als Wissenschaft an der Schnittstelle zwischen Betriebswirtschaft und Informatik (Leimeister 2015) ist dabei prädestiniert für die Erforschung der VR als Schnittstellentechnologie zwischen Mensch, Maschine und IT (Walsh und Pawlowski 2002). VR bietet dem Kunden im Kontext dieser Case Study die Möglichkeit, sich stärker in den Dienstleistungsprozess zu integrieren. Angesichts des Paradigmenwechsels von einer produktzentrierten, hin zu einer dienstleistungsorientierten Perspektive, wird die klassische Konsumentenrolle des Kunden aufgebrochen und eine aktive Rolle des Kunden in der Dienstleistungserbringung ermöglicht (Lusch und Nambisan 2015). VR bietet dem Kunden ein ortsunabhängiges Informationserlebnis in dem er selbst Einfluss auf Art, Umfang und Veränderung der Informationsversorgung nehmen kann. Folglich werden Dienstleistungsanteile im Vertriebs- und Planungsprozess autonom oder teilweise unterstützt durch den Kunden selbst ­erbracht.

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16.3 Beschreibung der Case Study Die Effekte von Virtual Reality Systemen auf den Vertriebsprozess wurden im Rahmen einer Fallstudie nach der von Yin definierten Case Study Research exploriert (Yin 2009). Gegenstand der Untersuchungen waren die Vertriebsprozesse eines mittelständischen Garten- und Landschaftsbauunternehmens, welches hauptsächlich das Privatkundensegment bedient. Der Betrieb beschäftigt insgesamt 14 Mitarbeiter. Der Vertrieb erfolgt zentral durch den Geschäftsführer. Zur Durchführung der Case Study wurden insgesamt sechs Methoden angewendet: Im Rahmen von (i) semistrukturierten Experteninterviews (Myers und Newman 2007) wurden Anforderungen an ein VR-Vertriebssystem und Evaluationen während des Erkenntnisgewinns gesammelt. Der aktuelle Prozess wurde durch eine (ii) Prozessdokumentation erfasst und analysiert (Niemöller et  al. 2017), um geeignete Einsatzszenarien von VR-Lösungen zu identifizieren (vgl. Kap. 4). Die Ergebnisse wurden durch begleitende (iii) Literaturrecherchen mit der Wissensbasis abgeglichen und ggf. erweitert. Im Rahmen einer (iv) prototypischen Implementierung wurden die identifizierten Einsatzszenarien in einem konkreten System abgebildet (vgl. Kap.  5) und schließlich von potenziellen Kunden evaluiert. Dazu wurde ein kurzer (v) Anwendungstest mit einer (vi) Umfrage kombiniert (vgl. Kap. 6). Der Fragebogen gliedert sich in zwei Teile. Zunächst wurden demografische Daten der Probanden erfasst, u. a. Alter und persönliche Erfahrungen als Kunde im Garten- und Landschaftsbau, und anschließend ein Set von je vier Fragen zu den Eingangshypothesen H1 und H2 konstruiert, welche sich aus den zuvor identifizierten Einsatzszenarien von VR im Vertriebsprozess ableiten. Insgesamt wurden 61 Teilnehmer befragt, die Auswertung der Ergebnisse erfolgte im Rahmen einer deskriptiven Statistik und wird in Kap. 6 näher erläutert. Die Diffusion der Ergebnisse erfolgt im Rahmen dieses (vii) wissenschaftlichen Beitrags, sowie durch die (viii) Implementierung im Unternehmen. Eine Einordnung der Methoden in die Forschungsstrategie Case Study Research wird in Abb. 16.1 dargestellt.

Abb. 16.1  Methodischer Rahmen der Case Study

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16.4 Prozessanalyse und Identifikation von Einsatzszenarien 16.4.1 Prozessaufnahme und -dokumentation Um die Einsatzpotenziale von VR im aktuellen Vertriebsprozess des Unternehmens zu identifizieren, wurde zunächst eine umfassende Prozessdokumentation vorgenommen. Dazu wurde auf Basis von Experteninterviews der Standardprozess in der BPMN modelliert und anschließend in erneuten Befragungen evaluiert und iterativ verbessert. Das Vorgehen einer Prozessaufnahme durch persönliche Befragung ermöglicht die Grob- und Detailaufnahme von Geschäftsprozessen (Koch 2011), was für die Identifikation von VR-Einsatzmöglichkeiten in dem zu untersuchenden Vertriebsprozess von zentraler Bedeutung ist. Der Prozess gliedert sich insgesamt in drei Phasen: (1) Anbahnung, (2) Planungsprozess und (3) Vertragsabschluss. Anbahnung. Die erste Kontaktaufnahme erfolgt im Regelfall auf Initiative des Kunden. Sobald der Bedarf nach einem Gartenbauprodukt entstanden ist, führt der Kunde eine Recherche nach geeigneten Unternehmen über verschiedene Medien, insbesondere Internet und Printmedien, auf einschlägigen Messen oder über Erfahrungsberichte im persönlichen Umfeld durch. Anschließend kontaktiert der Kunde den Garten- und Landschaftsbaubetrieb schließlich i. d. R. per Telefon oder Mail, auf einer Gewerbeschau kann eine erste Kontaktaufnahme direkt persönlich vorgenommen werden. Planungsprozess. Nach der initialen Kontaktaufnahme wird zunächst ein Ortstermin beim Kunden vereinbart. Der Garten- und Landschaftsbauunternehmer besichtigt die örtlichen Gegebenheiten und bringt bestehende Vorstellungen und Erwartungen des Kunden in Erfahrung. In diesem Fall findet keine weitere Beratung bezüglich der Realisation des durchzuführenden Projektes statt. Hat der Kunde ungenaue bis gar keine Vorstellungen über das zu fertigende Gewerk, findet eine Beratung des Kunden vor Ort und unter Zuhilfenahme von Materialmustern und Produktkatalogen statt. Anschließend wird ein weiterer, externer Ortstermin in einer Ausstellung oder bei einem Referenzobjekt des Garten- und Landschafsbaubetriebes vereinbart und durchgeführt. Der aktuelle Vertriebsprozess wird mit den identifizierten Einsatzmöglichkeiten für VR-basierte 360° Panoramen in Abb. 16.2 skizziert. Vertragsabschluss. Auf Basis dieser Beratung erstellt der Garten- und Landschaftsbauunternehmer ein Angebot und sendet es dem Kunden zu. Nach Sichtung des Angebots, findet bei Bedarf eine Angebotsbesprechung statt und es werden vom Gartenund Landschaftsbauer Skizzen zum geplanten Projekt angefertigt. Durch das Senden einer Annahmebestätigung des Angebots durch den Kunden, welche beim Gartenund Landschaftsbauunternehmen eingeht, wird der Vertriebsprozess beendet.

16.4.2 Identifikation von Einsatzszenarien und Ableitung der Anforderungen Der Kunde ist im aktuellen Prozess nach einer erfolgreichen Kontaktaufnahme als Inputgeber in einer passiven Rolle und weitestgehend von der Informationsversorgung durch das Unternehmen abhängig. Der Einsatz von VR-basierten

Abb. 16.2  VR-Einsatzpotenzial im Vertriebsprozess

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360°-Panoramen ermöglicht dem Kunden eine selbstbestimmte Teilhabe am Vertriebsprozess. Der Einsatz ist an mehreren Stellen grundsätzlich denkbar. Virtual Reality kann hier als Medium zur visuellen Darstellung immer dann eingesetzt werden, wenn Produkte in einer Rundumansicht dargestellt werden können. Die Visualisierung von Produkten im Garten- und Landschaftsbau ermöglicht die realistische Präsentation gestalterischer Lösungskonzepte, anhand derer der Kunde sich bei der Entscheidungsfindung orientieren kann. VR bietet dem Benutzer dabei im Gegensatz zu anderen Medien die Möglichkeit, den Blickwinkel selbst zu bestimmen und simuliert dem Anwender, sich an einem anderen Ort zu befinden. Daher ist es denkbar, dass VR dem User auch gegenüber konventionellen Medien, z. B. Foto oder Video, einen Zusatznutzen bringt. Bei einem entsprechenden System handelt es sich also sowohl um eine Repräsentationsschicht im Vertriebsprozess des Unternehmens, als auch eine Entscheidungshilfe im Kaufprozess aus Kundenper­ spektive. Eine Grundvoraussetzung, um dieses Ziel zu erfüllen, ist dem Kunden zu ermöglichen, sich mittels VR noch nicht realisierte Gartenbauprojekte vorstellen zu können (zu untersuchen in Forschungshypothese H1). Bezogen auf den betrachteten Prozess eines Garten- und Landschaftsbauunternehmens ergeben sich daher vor allem im Gespräch beim Kunden Möglichkeiten, VR-Technologie zur Visualisierung von Produkten des Garten- und Landschaftsbaus einzusetzen. Der Teilprozess der Planung wird exemplarisch für den betrachten Unternehmensfall in Abb. 16.2 dargestellt sowie die identifizierten Aktivitäten, die durch VR unterstützt oder ersetzt werden können markiert. Unter der Annahme, dass die Betrachtung von 360°-Panoramen den Besuch eines Referenzobjektes des Garten- und Landschaftsbauunternehmers ersetzen kann, entsteht dem Kunden ein zusätzlicher Nutzen durch eine flexible Besichtigung der entsprechenden Objekte. Durch diese (A1) orts- und zeitunabhängige Informationsversorgung kann der Kunde eine höhere Anzahl an Referenzobjekten besichtigen und diese u. a. auch zu unterschiedlichen Jahreszeiten besuchen. Der Unternehmer profitiert von dieser autonomen Informationsbeschaffung des Kunden, da beispielsweise zusätzliche Auswärtstermine durch den Einsatz von VR substituiert werden. Der hierbei erzielte Zeitgewinn sowie die eingesparten Fahrtkosten ergeben bei einer hinreichend großen Anzahl an substituierten Auswärtsterminen eine erhebliche Kostenersparnis für den Garten- und Landschaftsbauunternehmer. VR-basierte 360°-Panoramen bieten dem Kunden bereits in der Anbahnung Vorteile. Bei der initialen Informationsbeschaffung kann der Kunde durch ein (A2) geeignetes browserbasiertes VR-Interface in die Lage versetzt werden, mit einer eigenen VR-Brille Referenzobjekte zu erleben. Hier könnte Virtual Reality an die Stelle von konventionellen Medien, wie Fotos und Videos, zur visuellen Darstellung von Gartengestaltungsbeispielen treten und diese ersetzen oder ergänzen. Der hier entstehende Zusatznutzen wird in Forschungshypothese H2 überprüft. Zentrale Anforderungen an das System sind dabei die (A3) realitätsgenaue Abbildung und eine einfache Handhabung. Der Kunde soll durch (A4) leicht zugängliche Technologie befähigt werden sich eigenständig über die Ausprägungen der Dienstleistungen zu informieren und damit die Planung durch eigene Vorstellungen prägen.

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Bei der Konzeption eines im Vertrieb von Produkten des Garten- und Landschaftsbaus eingesetzten VR-Systems ist besonders die Portabilität ein unverzichtbares Kriterium. Beratungsgespräche mit dem Kunden sowie eine eigenständige Informationsversorgung des Kunden finden bei diesem vor Ort statt, daher ist die (A5) Mobilität eine weitere Anforderung an einen Prototyp.

16.5 Konzeption des Prototyps Die Visualisierung der virtuellen Welt eines VR-Systems kann entweder durch Bildschirme bzw. Projektionsflächen, z.  B.  CAVE Systeme (Cruz-Neira et  al. 1992), oder durch an den Kopf montierte, so genannte Head-Mounted-Displays (HMD) realisiert werden. HMD-Systeme liefern gegenüber anderen Darstellungsformen der VR einen höheren Grad an Immersion und Portabilität (Jerald 2015). Außerdem sind die Anschaffungskosten je nach verwendetem HMD-System vergleichsweise gering (Lutter et  al. 2016). Unter Berücksichtigung der Anforderungen (A1, A4, A5) kommt für die prototypische Umsetzung in dieser Case Study ausschließlich der Entwurf eines HMD-VR-Systems in Frage. Lutter et al. (2016) differenzieren die aktuell am Markt verfügbaren HMD-­Systeme weiter in drei Klassen: Die so genannte Full Feature VR, bei der das Head-­mount als Ausgabegerät für einen PC (z.  B.  HTC Vive, Oculus Rift) oder eine Spielkonsole (z. B. Playstation VR) fungiert, die Mobile VR, bei der ein Smartphone in Kombination mit einem mit 3DOF-Lagesensoren (DOF = Degrees of Freedom) ausgestatteten Head-mount kombiniert wird und gemeinsam eine Recheneinheit bildet sowie die Low-End & DIY VR (DIY = do it yourself), die die gleiche Funktionsart aufweist, bei der allerdings das Smartphone die alleinige Rechenleistung liefert (Lutter et al. 2016). Für die Darstellung von multimedialen, interaktiven 360° Panoramen sind alle drei HMD-Systeme grundsätzlich geeignet. Aufgrund der geringsten Kosten und der Systemoffenheit sowie der damit verbundenen Unabhängigkeit von Herstellern, wird der Prototyp als Low-End & DiY VR-System konfiguriert. Die eingesetzte Software basiert auf HTML5 und kann in jedem aktuellen Browser dargestellt werden, um der Anforderung A5 zu begegnen. Damit ist sichergestellt, dass neben der Hardware auch die Software unabhängig von einzelnen Apps oder Herstellern genutzt werden kann. Der daraus resultierende Prototyp besteht somit aus einem universell verwendbarem Head Mount und einem VR-fähigem Smartphone, welches als Bildschirm fungierend die erstellte, browserbasierte VR-Anwendung ausführt. Zum Umfang gehört außerdem eine (optionale) Anleitung zur Selbstanwendung des Systems. Für eine realitätsgenaue Abbildung (A3), werden 360°-Panoramen eingesetzt. Zur Erstellung der Panoramabilder wurde die Stitching Software PTGui (New House Internet Services B.V. 2017) sowie für die Erstellung des Rundgangs die Software Kolor Panotour Pro (Kolor SAS 2016) verwendet. Zunächst wurden zwei Referenzgärten als 360° Panoramen in multimedialen, virtuellen 360° Rundgänge integriert. Die Auflösung des fotografischen Ausgangsmaterials beträgt 12000  ×  6000 Bildpunkte, was einer Größe von 72 Megapixeln entspricht. Durch Navigationspunkte kann der Nutzer eigenständig durch die Gärten navigieren, ohne Medienbrüche oder

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Abb. 16.3  VR-Prototyp für die virtuelle Besichtigung von Referenzobjekten

externe Eingabegeräte verwenden zu müssen. Ein Ausschnitt aus einer virtuellen Besichtigung eines Referenzobjekts des entwickelten Prototyps wird in Abb. 16.3 dargestellt. Dieser kann beliebig vom Nutzer auf einem VR-­fähigen Smartphone aufgerufen und mit einem beliebigen Head Mount, oder einer kompatiblen VR-Brille betrachtet werden. Der Ablauf eines Rundgangs wird im Rahmen der Evaluation skizziert (vgl. Abschn. 16.6).

16.6 Evaluation 16.6.1 Durchführung des Prototypentests mit anschließender Befragung Die im Test eingesetzte Hardware besteht konkret aus einer Kombination von einem iPhone 6 und einem VR-Headmount im Preissegment bis 30 € der Firma Tepoinn (Amazon EU S.à r.l. 2016). Nach der Begrüßung des zu Befragenden wird dieser kurz über den Ablauf des Prototypentests und die Befragung aufgeklärt. Es wird sichergestellt, dass sich der

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Proband in einer sicheren Umgebung befindet, in der er das VR-Erlebnis sitzend oder stehend erleben kann, ohne dabei Gefahr zu laufen, sich in irgendeiner Form zu verletzen. Außerdem wird der Proband darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit des Auftretens von Cyber-Sickness besteht. Cyber-Sickness ist ein Phänomen, welches bei manchen Menschen auftreten kann, wenn die visuellen Reize, die der Körper über das VR-System in der virtuellen Welt erfährt, nicht mit der physikalischen Realität übereinstimmen (LaViola 2000). Cyber-Sickness kann sich u.  a. durch Schwindel, Übelkeit und Kopfschmerzen bemerkbar machen (LaViola 2000; Rebenitsch und Owen 2016). In Anlehnung an die Herstellerangaben von Oculus (Oculus VR LLC 2017) werden aus physiologischen Gründen, z. B. wegen einer geringeren Distanz zwischen den Pupillen bei Kindern, keine Personen, die jünger als 13 Jahre sind, in die Untersuchungen dieser Studie mit einbezogen. Um die Situation eines Beratungsgesprächs eines Garten- und Landschaftsbauunter-nehmers möglichst realitätsnah zu gestalten, wird als letzte vorbereitende Maßnahme vor dem eigentlichen Einsatz des VR-Systems dem Probanden schließlich noch ein In-formationsschreiben mit einem einleitenden Informationstext gegeben, der das Testszenario kurz beschreibt. Anschließend wird dem Kunden zunächst das bereits eingerichtete, vollfunktionsfähige VR-System gereicht, welches ihm die Rundumansicht eines Referenzgartens präsentiert. In der virtuellen Realität befindet sich der Proband schließlich in einem Garten. Dort sieht er einen Teich mit angegliedertem Steingarten, verschiedene Pflanzungen, eine Natursteinmauer sowie Pflasterungen und eine Sitzecke. Durch die gezielte Frage des Autors, ob der Proband den Gartenteich inklusive Steingarten gefunden habe, wird sichergestellt, dass die Aufmerksamkeit des Probanden u. a. auch auf den für die Beantwortung des späteren Fragebogens wichtigen Gartenteich gelenkt wurde. Es besteht die Möglichkeit, über Navigationspunkte den Standort im Garten zu wechseln. Diese ist optional und kann von den Probanden in Anspruch genommen werden, sofern bei ihnen ein Bedürfnis dazu entsteht. Nachdem der Proband sich nun einen ersten Eindruck über den Garten verschaffen konnte, wird er, nachdem er die Erkundung der virtuellen Umgebung abgeschlossen hat, aufgefordert die VR-Brille wieder abzusetzen. Im direkten Anschluss wird dem zu befragenden Probanden ein zur Überprüfung der Hypothesen konzipierter Fragebogen in Form eines sich auf einem Tablet befindenden Onlinefragebogens vorgelegt, welchen er eigenständig und ohne Hilfe ausfüllt. Grundsätzlich besteht dabei die Möglichkeit einer wiederholten Nutzung des VR-Systems, sofern es dem Probanden bei der Beantwortung des Fragebogens hilft. Nach dem Ausfüllen des Fragebogens endet der gesamte Prozess der Befragung.

16.6.2 Ergebnisanalyse und Überprüfung der Forschungshypothesen Die Prototyp-basierte Befragung dieser Case Study wurde im Zeitraum zwischen dem 02.01.2017 und dem 12.01.2017 durchgeführt. Insgesamt wurden dabei 61 Personen befragt, unter ihnen 37 Männer (60,7  %) und 24 Frauen (39,3  %).

16  Kundennutzen von VR-basierten 360°-Panoramen für den Erwerb …

235

Alle Befragten schlossen die Beantwortung des Fragebogens vollständig ab, sodass sich ein Stichprobenumfang von N = 61 für die weiteren Berechnungen ergibt. Die Altersstruktur der Befragten ist über alle Altersklassen verteilt und weist lediglich einen Schwerpunkt in der Gruppe der 24- bis 28-Jährigen auf. Insgesamt war 49 Teilnehmenden (80,3 %) die Thematik der Virtual Reality grundsätzlich bekannt. Von ihnen nutzten 21 Teilnehmende (42,9  %), denen die Thematik vertraut war, bereits in der Vergangenheit ein VR-System. Zur Überprüfung der Forschungshypothesen H1 und H2, wurden in der sich dem Prototypentest anschließenden fragebogenbasierten Befragung zwei fünffach abgestufte Likert-Skalen implementiert, die mit den Werten 1 (totale Ablehnung) bis 5 (volle Zustimmung) dargestellt wurden. Die Skalen bestanden aus je vier Items, von denen jeweils zwei positiv und zwei negativ formuliert wurden. Negativ formulierte Items wurden umcodiert. Bei der Auswertung ergab sich ein aus den kumulierten Itemwerten resultierender Wertebereich von 4 bis 20, wobei der Wert 4 die absolute Ablehnung und der Wert 20 eine volle Zustimmung zu den Forschungshypothesen repräsentiert. Aufgrund des metrischen Messniveaus in Kombination mit einer anzunehmenden Äquidistanz zwischen den Skalenwerten (Foscht et  al. 2015; Theobald 2017) wurde ein Einordnungsschema entworfen (Abb. 16.4). In dieses Schema werden die kumulierten arithmetischen Item-Mittelwerte der Skalen eingeordnet. Die vier farblich gekennzeichneten Bereiche ergeben sich aus der Addition der Skalenwerte und stellen keine expliziten Grenzen dar. Sie dienen vielmehr der Orientierung bezüglich des Ausmaßes an Zustimmung bzw. Ablehnung. Der resultierende Wert zur Forschungshypothese H1: VR ermöglicht es dem Kunden, sich noch nicht realisierte Projekte besser vorstellen zu können, beträgt 17,328. Bei einem angenommenen Signifikanzniveau 5  % liegt das 95  % Konfidenzintervall des Mittelwertes zwischen 16,606 und 17,984. Da selbst die Untergrenze des Konfidenzintervalls >16 ist und damit im höchsten Zustimmungsbereich des Einordnungsschemas liegt, kann die Forschungshypothese H1 bestätigt werden. Das im Rahmen der Reliabilitätsanaylse berechnete Cronbachs Alpha, als Maß der internen Konsistenz, beträgt 0,715 und übersteigt damit den von Schmitt (1996) geforderten Mindestwert von 0,7. Die Items sind somit hinreichend auf die Hypothese gerichtet. Auch die zweite Forschungshypothese (H2): VR liefert dem Nutzer im Planungsprozess Mehrwerte gegenüber konventionellen Medien, konnte zu einem Signifikanzniveau von 5 % mit einem 95 % Konfidenzintervall zwischen 15,050 und 16,590 bei einem Mittelwert von 15,869 bestätigt werden. Auf eine genügend hohe Reliabilität weist ein Cronbachs Alpha von 0,702 hin. Somit können sowohl H1 als

Abb. 16.4  Einordnungsschema für Skalenwerte

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F. Remark et al.

auch H2 angenommen werden. Der entwickelte Prototyp ist somit eine Unterstützung des Kunden in der Planungsphase und liefert ihm einen zusätzlichen Nutzen zu aktuell genutzten Medien bei der Informationsbeschaffung vor und während des Kaufes.

16.7 Zusammenfassung und Ausblick Im Rahmen eines Case-Study-Forschungsansatzes wurden Einsatzpotenziale von VR-basierten 360° Panoramen im Vertriebsprozess bzw. Kaufprozess aus Kundenperspektive identifiziert. Durch VR-Technologie kann ein zusätzlicher Nutzen für den Kunden generiert werden, indem eine stärkere Integration des Kunden in den Gesamtprozess und eine gesteigerte Flexibilität in der Planungsphase ermöglicht wird. Anhand eines Prototyps wurde gezeigt, dass (H1) VR dem Kunden ermöglicht, sich noch nicht realisierte Projekte besser vorstellen zu können und darüber hinaus (H2) dem Nutzer im Planungsprozess Mehrwerte gegenüber konventionellen Medien bietet. Damit konnte ein zusätzlicher Kundennutzen von VR-­Technologien für die Anschaffung beratungsintensiver, ortsgebundener Güter und Dienstleistungen aufgezeigt werden. Der entstandene Prototyp wurde im Rahmen einer Single Case Study konzipiert, implementiert und evaluiert. Eine Übertragung auf andere Unternehmen innerhalb der Branche, sowie auf Unternehmen anderer Branchen, ist in nachfolgenden Forschungsansätzen zu eruieren, um generelle Aussagen treffen zu können. Der vorgestellte Prototyp trägt durch die Erkenntnisse aus der Anforderungsanalyse und der prototypischen Implementierung zur Gestaltung eines VR-Systems zur Generierung von Kundennutzen im Kaufprozess zur Wissensbasis der Wirtschaftsinformatik bei. Darüber hinaus entsteht ein Nutzen für die Praxis durch ein konkretes System, welches sich aktuell in einem Langzeit-Feldtest des vorgestellten Unternehmens befindet und darüber hinaus für andere Unternehmen adaptiert werden kann. Im Rahmen einer erweiterten Evaluation ist zu analysieren, ob (H3) durch VR-­Anwendungen der Besuch eines Referenzobjekts vollständig ersetzt werden kann und (H4) das System durch die Nutzer tatsächlich im Kaufprozess akzeptiert und genutzt wird. Darüber hinaus wird eine (H5) Optimierung der G ­ ebrauchstauglichkeit des vorgestellten Systems angestrebt. Um den Kundennutzen weiter zu steigern ist eine Weiterentwicklung auf High-End VR-Geräten zu explorieren, um eine individuelle Gestaltung des eigenen Gartens im virtuellen Raum zu ermöglichen.

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Teil V Sozial und kooperativ: Social-Media-­ Strategien, Crowd Sourcing/Crowd Services, Sharing Economy

Markenkonforme Social-Media-Strategie für kleine und mittelgroße Organisationen

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Christian Bauer und Philipp Bensmann

Zusammenfassung

Der digitale Kundenkontakt in den sozialen Medien ist für viele Organisationen ein zentraler Bestandteil der digitalen Markenführung und ein wichtiger Baustein der Digital Customer Experience. Gerade kleine und mittelgroße Organisationen blicken allerdings nach wie vor zum Teil mit großer Skepsis auf die Nutzungsmöglichkeiten von Social Media. Der vorliegende Beitrag beschreibt ein Vorgehensmodell zur Entwicklung einer markenkonformen Social-­Media-­ Strategie, speziell für kleine und mittelgroße Organisationen. Ansätze und Methoden der klassischen Strategieentwicklung sowie dem Marken- und Medienmanagement werden zu einem Baukasten kombiniert, mit dem ausgehend von der Marke der Organisation systematisch eine dazu passende Social-Media-­ Strategie entwickelt und umgesetzt werden kann. Klarer Nutzen, Ressourceneffizienz und einfache Handhabung sind dabei wesentliche Kriterien der Methodenauswahl. Die Anwendung des Modells wird anhand des praktischen Einsatzes bei Viva con Agua de Sankt Pauli e.V. dargestellt, einer Non-Profit-Organisation, die sich für den weltweiten Zugang zu sauberem Trinkwasser einsetzt.

Unveränderter Original-Beitrag Bauer et  al. (2017) Markenkonforme Social-Media-Strategie für kleine und mittelgroße Organisationen, HMD  – Praxis der Wirtschaftsinformatik Heft 317, 54(5):838–850. C. Bauer (*) Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt, Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected] P. Bensmann E.M.P. Merchandising HGmbH, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Robra-Bissantz, C. Lattemann (Hrsg.), Digital Customer Experience, Edition HMD, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1_17

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C. Bauer und P. Bensmann

Schlüsselwörter

Social-Media-Strategie · Markenkonformität · Vorgehensmodell · Kleine und mittelgroße Organisationen · Praxisbeispiel · Viva con Agua de Sankt Pauli e.V.

17.1 H  erausforderungen: Social Media und Markenkommunikation 1,94 Milliarden Menschen weltweit sind Ende März 2017 im sozialen Netzwerk Facebook monatlich aktiv (Facebook 2017). Fast zwei Drittel der Deutschen nutzen Social Media täglich (Frees und Koch 2015). Die Chancen für kleine und mittlere Unternehmen, die in Deutschland 99,6 % der Unternehmen stellen, scheinen enorm zu sein (IfM Bonn 2016). Dennoch blicken viele nach wie vor mit großer Skepsis auf die Nutzungsmöglichkeiten von Social Media. Einer Studie der Universität Liechtenstein zufolge beklagen viele Unternehmen im deutschsprachigen Raum fehlendes Know-how, hohen Zeitaufwand und einen unklaren Nutzen (Hatak und Kraus 2013). Um diese Nutzenpotenziale nachhaltig zu realisieren, sollten Unternehmen eine ihren Anforderungen entsprechende Social-Media-Strategie formulieren. Bislang verzichtet laut Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW), allerdings jedes dritte Unternehmen bis 49 Mitarbeiter völlig darauf (BVDW 2014). Sich alleine auf die traditionellen Massenmedien zu verlassen, erscheint für die professionelle Marketing- und Markenkommunikation von Organisationen jeglicher Art wenig erfolgsversprechend. Seit einigen Jahren werden die einseitigen Informationsflüsse der Massenmedien mit ihrem klassischen Sender-Empfänger-­ Modell im Internet vom wechselseitigen Austausch der Nutzer untereinander abgelöst. Insofern gilt es die Potenziale sämtlicher Medien für den Kommunikationserfolg zu bündeln. Social Media lassen sich mit anderen Formaten, wie z. B. der Mediawerbung, dem Sponsoring oder Public Relations crossmedial vernetzen. Die Ziele, die mit dem Einsatz von Social Media erreicht werden sollen, müssen dabei mit der Gesamtunternehmensstrategie verknüpft und aus ganzheitlicher Marketingperspektive betrachtet werden.

17.2 P  raxisbeispiel: Social Media bei Viva con Agua de Sankt Pauli e.V. Die Hamburger Nonprofit-Organisation Viva con Agua de Sankt Pauli e.V. (kurz Viva con Agua) ist ein gemeinnütziger Verein, der sich selbst als Netzwerk von Menschen und Organisationen beschreibt, das sich für den weltweiten menschenwürdigen Zugang zu sauberem Trinkwasser einsetzt und dies in die Vision „Alle für Wasser! Wasser für alle!“ übersetzt (Viva con Agua 2017a). Bezugsobjekt der Kommunikation ist die Marke Viva con Agua.

17  Markenkonforme Social-Media-Strategie für kleine und mittelgroße Organisationen 243

Viva con Agua macht auf das globale Thema Wasser aufmerksam und führt unkonventionelle Spendenaktionen, wie das Sammeln von Pfandbechern auf Musikfestivals, durch. Die Organisation spricht vor allem eine jüngere Zielgruppe im ­Alter von 18 bis 35 Jahren an und greift dafür neben anderen Kommunikationskanälen seit einigen Jahren auf diverse Social-Media-Plattformen zurück. Marketingleiter von Viva con Agua, Moritz Meier, stellt hierzu fest: „Facebook, Instagram & Co stellen für uns spannende Kommunikationskanäle dar, denn hier können wir unsere Aktionen ohne große Budgets freudvoll kommunizieren und mit unserer sozial engagierten Zielgruppe in einen regen Austausch treten. Wir stehen allerdings vor der Herausforderung, dass die enormen Potenziale von begrenzten fachlichen, personellen und zeitlichen Ressourcen eingeschränkt werden.“ (Gersdorf und Meier 2017) Viva con Agua de Sankt Pauli e.V. arbeitet inklusive des teilweise ehrenamtlich fungierenden Vorstands mit einem festen 20-köpfigen hauptamtlichen Team, welches überwiegend in Hamburg sitzt (Viva con Agua 2017b). Als Netzwerk-­ Organisation fußt die Arbeit von Viva con Agua jedoch sehr stark auf dem ehrenamtlichem Engagement. 2016 engagierten sich rund 12.000 Freiwillige in 57 Städten für die Organisation (Grabbe und Kubsova 2016).

17.3 Vorgehensmodell 17.3.1 Anforderungen Ziel des Vorgehensmodells ist es, ausgehend von der Marke einer Organisation systematisch eine dazu passende Social-Media-Strategie zu entwickeln und umzusetzen. Dazu werden Methoden und Ansätze der klassischen Strategieentwicklung sowie des Marken- und Medienmanagements kombiniert. Bei der Methodenauswahl wurde insbesondere darauf geachtet, dass diese der Nutzerzentrierung sowie der dynamischen Entwicklungen der Social-Media-Plattformen gerecht werden. Etliche Ansätze und Methoden gehen klassisch und einseitig vom Unternehmen als Sender der Botschaften aus. Methoden, die für Social Media relevant sind, müssen jedoch die Bedürfnisse und das Verhalten der Kunden in den Mittelpunkt stellen und die Kommunikation individuell, zumindest jedoch zielgruppengerecht, gestalten. Darüber hinaus müssen die Methoden den organisatorischen Gegebenheiten kleiner und mittelgroßer Organisationen genügen. Mitarbeiter haben hier tendenziell ein weniger ausgeprägtes Methoden- und Fachwissen als in Großunternehmen, so dass Methoden möglichst einfach zu verstehen sein sollten. Zudem stehen kleinere und mittlere Organisationen vor der Herausforderung, dass geringe personelle Ressourcen vorhanden sind und die Anwendung keinen großen Zeitaufwand erfordern darf. Die auszuwählenden Methoden müssen folglich dem Anspruch an einen klaren Nutzen sowie einer hohen Anwendbarkeit in der Praxis gerecht werden (Mack und Vilberger 2016).

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C. Bauer und P. Bensmann

17.3.2 Modellstruktur Das Vorgehensmodell besteht aus einem übergeordneten Managementprozess mit fünf Phasen. Innerhalb des Prozesses wird zwischen einer operativen und einer ­strategischen Ebene unterschieden. Jeder Phase sind Ansätze und Methoden zugeordnet, die als geeignet erachtet werden, die Aufgabe und Zielsetzung der Phase auf strategischer bzw. operativer Ebene zu erfüllen. Insgesamt umfasst das Vorgehensmodell 25 Ansätze und Methoden. Abb. 17.1 gibt einen Überblick. Managementprozess  In Anlehnung an bestehende Modelle aus dem strategischen Management besteht der Prozess aus den Phasen Analyse, Zieldefinition, Strategiebildung, Durchführung und Kontrolle. Der Prozess ist als Kreislauf konzipiert. Die Kontrollphase bildet den Abschluss des Prozesses, welcher aber anschließend durch eine erneute Analyse der nun bestehenden Situation neu beginnen und zu einer Anpassung von Zielsetzung und Strategie führen kann. Die Methoden sind

Abb. 17.1  Vorgehensmodell zur markenkonformen Social-Media-Strategieentwicklung. (Eigene Abbildung)

17  Markenkonforme Social-Media-Strategie für kleine und mittelgroße Organisationen 245

einzelnen Phasen zugeordnet, allerdings bestehen an etlichen Stellen Rückkopplungen und Wechselwirkungen zwischen den Methoden, sowohl innerhalb einer Phase als auch phasenübergreifend. In der Analysephase werden die aktuelle Ist- und die gewünschte Soll-Markenpositionierung der Organisation sowohl intern als auch im Vergleich zum Wettbewerb ermittelt und der aktuelle Social-Media-Auftritt diesbezüglich bewertet. Ziel ist es, die organisationseigenen Potenziale zu identifizieren, um das Fundament für die Zieldefinition und Strategieentwicklung zu legen. Die anschließende Zielphase hat eine Steuerungs-, Motivations-, und Kontrollfunktion. Inhaltlich gilt es, ein Zielsystem aufzubauen, welches die ökonomischen, organisationalen und technischen Determinanten genauso berücksichtigt wie die verschiedenen Hierarchieebenen der Zielformulierung. Methodisch gilt es, die Formulierung der strategischen Ziele und die darauffolgende Maßnahmenplanung mit konkreten, messbaren Ergebnissen zu verbinden. Die Strategiephase stellt den zentralen Prozessabschnitt dar. Hier wird die grundlegende Ausrichtung der Social-Media-Kommunikation vorgegeben. Die Identifikation der relevanten Zielgruppen ist dabei der erste Schritt. Anschließend erfolgt die Definition von Kernbotschaften, die Wahl geeigneter Kanäle und Themen, die Bestimmung von Bildsprache und Tonalität, die Budgetierung und Strukturierung des Redaktionsprozesses sowie die Festlegung weiterer organisatorischer Abläufe. In der Durchführungsphase ist die strategische Ausrichtung mittels geeigneter Methoden in einen konsistenten, operativen Social-Media-Auftritt zu übersetzen, d. h. die Strategie muss auf Maßnahmenebene inhaltlich und technisch implementiert werden. Methodisch sind hier vorrangig Checklisten und Planungstabellen vorhanden, die sich mit der inhaltlichen und visuellen Gestaltung, der Überprüfung der Markenkonsistenz, der identifizierten Erfolgsfaktoren sowie rechtlichen Rahmenbedingungen auseinandersetzen. Der Prozess wird schließlich von der Kontrollphase komplettiert, die als Controlling- und Steuerungsfunktion fungiert. Aufgabe ist es, nicht ausschließlich die Erfolgswirkungen und Zielerreichungsgrade zu kontrollieren, sondern Impulse zur Nachjustierung der Planung und somit zu einem neuen Durchlauf des Gesamtprozesses zu erzeugen. Hierfür sind geeignete Controlling-Werkzeuge zu identifizieren und Konzepte zu entwickeln, die eine rollierende Kontrolle und Steuerung relevanter Kennzahlen auf einen Blick ermöglichen. Strategische und operative Ebene  Eine im Tagesgeschäft gelebte strategisch ausgerichtete Social-Media-Kommunikation erfordert nicht allein das Management auf strategischer Ebene, sondern benötigt eine nachhaltig starke Verbindung zur Operative. Die Methoden der strategischen Ebene (z. B. die Markenpositionierung) werden in größeren, mittel- bis langfristigen Zyklen angewendet und haben auch für andere Instrumente der Markenkommunikation Gültigkeit. Sie dienen der Ausrichtung und Integration der Social-Media-Kommunikation in den kommunikativen Gesamtauftritt der Organisation. Die Methoden der operativen Ebene finden dagegen regelmäßige Anwendung im Tagesgeschäft. Die Zyklen sind kurzfristiger und die Methoden dienen weniger der

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C. Bauer und P. Bensmann

strategischen Ausrichtung als vielmehr der fachlich-operativen Umsetzung. Dazu gehören z. B. die Beachtung technischer Erfolgsfaktoren und Rechtsfragen sowie Werkzeuge für die Organisation des Contents und das operative Erfolgscontrolling. Ebenso sind umsetzungsrelevante Budgetierung- und Prozessmodellierungsaspekte Teil der operativen Ebene.

17.4 Ausgewählte Methoden der strategischen Ebene Das Vorgehensmodell enthält insgesamt 25 verschiedene Ansätze und Methoden. Nicht alle Methoden werden im Rahmen dieses Beitrags vorgestellt. Um dennoch die Zielsetzung des Modells, nämlich die markenkonforme Social-Media-Strategieentwicklung praxisnah und möglichst anschaulich zu vermitteln, werden nachfolgend ausgewählte Methoden der strategischen Ebene in den Phasen Analyse, Zieldefinition und Strategieformulierung detaillierter beschrieben. Wo als besonders geeignet erachtet, werden Beispiele aus der Anwendung bei Viva con Agua ergänzt.

17.4.1 Analysephase Grundlage des Social-Media-Planungsprozesses ist eine spezifische Potenzialanalyse. Die Analysephase befasst sich daher mit der internen und externen Ausgangssituation der Organisation. Anhand von KURS-Methode und Markenidentität werden die internen Stärken und Schwächen aus Markenperspektive beleuchtet und optimiert, während das externe Benchmarking die Positionierung des Wettbewerbs untersucht. Abschließend wird mittels SWOT-Analyse ein Stärken- und Schwächen-­ Fazit der Analyse gezogen. Eine starke Marke besitzt das Potenzial, die Wertschöpfung der Organisation nachhaltig signifikant zu erhöhen. Um diese Potenziale zu realisieren, muss sie jedoch eine hohe Differenzierungskraft aufweisen (Esch 2014). Markenwerte als Grundlage des Markenprofils sollten hierfür möglichst konkret, ursächlich, relevant und spezifisch sein  – und damit auf KURS (Kilian 2012). Die Aufgabe der KURS-Methode ist es, die zu kommunizierende Marke anhand der genannten Anforderungskriterien zu analysieren. Die anschließende Positionierung anhand der differenzierten Markenidentität integriert die durch KURS erarbeiteten Markenwerte und ergänzt weitere Markenkomponenten mit dem Ziel, einen strategischen Handlungsrahmen für die Social-Media-Kommunikation abzuleiten und damit das erwünschte Markenimage bei den externen Zielgruppen zu erzielen. Die Positionierung erfolgt durch die Beschreibung von sechs Markenkomponenten: Vision, Persönlichkeit, Werte, Kernkompetenzen, Leistungen und Herkunft (Burmann und Meffert 2005). Abb.  17.2 zeigt beispielhaft das für Viva con Agua entwickelte Schaubild der Markenidentität als Ergebnis der Methode. Ergänzend zur internen Analyse aus Markenperspektive sieht das Vorgehensmodell vor, das externe Themen- und Wettbewerbsumfeld mithilfe eines Benchmarkings zu analysieren. Ziel ist es, eine Einschätzung über das Social-Media-Kommunikationsverhalten des Wettbewerbsumfelds zu erhalten und Best Practices ausfindig

17  Markenkonforme Social-Media-Strategie für kleine und mittelgroße Organisationen 247

Abb. 17.2  Das Schaubild Markenidentität bei Viva con Agua. (Eigene Darstellung)

zu machen, von denen die eigene Organisation lernen kann. Abschließend werden die Ergebnisse der internen und externen Situationsanalyse in einer SWOT-Matrix zusammengefasst.

17.4.2 Zielphase In der Zielphase gilt es, relevante, übergeordnete Organisations-, Marketing- und Kommunikationsziele zu identifizieren und daraus mithilfe der SMART-Methode konkrete Social-Media-Kommunikationsziele abzuleiten. Die SMART-Methode ist weit verbreitet und bringt einen hohen Anwendungsgrad für die Praxis mit. Ziel der Methode ist es, die Qualität der Zielformulierung anhand der geforderten fünf Kriterien „specific“, „measurable“, „achievable“, „relevant“, „timely“ zu gewährleisten (Lembke 2011). Beispielhafte Social-Media-Ziele sind die Steigerung der Interaktionsrate auf Facebook um 20 % bis zum Jahresende oder die Verkürzung der durchschnittlichen Reaktionszeit auf Nutzerkommentare auf Instagram um 60 Minuten. Die präzise Formulierung von Social-Media-Zielen mithilfe von SMART hat den Vorteil, dass die Maßnahmen messbar überprüft und ggf. angepasst werden können. Dennoch dürfen sie nicht für sich alleine stehen, sondern müssen in eine Zielbeziehung mit übergeordneten Zielen gebracht werden. Das Management interessiert sich langfristig weniger für die Anzahl von Fans, Likes oder Retweets. Interessant ist vielmehr, wie der Beitrag von Social Media zu den Unternehmenszielen aussieht. Für die Verbindung der Social-Media-Kommunikationsziele mit den übergeordneten Zielen des Marketings und der Organisation empfiehlt das ­Vorgehensmodell die zusätzliche Methode der Ziel-Mittel-Hierarchie. Ergebnistyp der Methode ist ein Zielbaum, der die Beziehungen zwischen Zielen auf unterschiedlichen Ebenen darstellt. Zwar werden

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C. Bauer und P. Bensmann

durch das Kriterium „relevant“ der SMART-­Methode schon Bezüge zu übergeordneten Zielen aufgezeigt. Hebelwirkungen, Konflikte und Indifferenzen zwischen einzelnen Zielen werden jedoch erst durch die Ziel-­Mittel-­Hierarchie transparent.

17.4.3 Strategiephase In der Strategiephase wird der mittel- bis langfristige Rahmen für die Operative festgelegt, der verbindliche Schwerpunkte für die Social-Media-Kommunikation formuliert. Diese ergeben sich aus den definierten Zielen und müssen mit der Firmenphilosophie, ihren Werten und der Positionierung übereinstimmen, d. h. aus der Markenidentität resultieren. Methoden der Strategiephase auf der strategischen Ebene des Vorgehensmodells sind Personas zur Zielgruppenbestimmung, Kernbotschaften als kommunikative Leitidee, die Kanalwahl als Spezifizierung der Instrumente sowie die thematische, textliche und visuelle Ausrichtung mittels Content-­ Buckets, Social-Media-Brand-Voice und Moodboard. Das Konzept der Personas bietet die Möglichkeit, die relevante Zielgruppe sehr genau und mit hohem Praxisbezug zu skizzieren. In Softwareentwicklungsprojekten wird die Methode mittlerweile häufig zur Erstellung von Nutzermodellen verwendet. Während klassische Zielgruppendaten für die Anwendung eher anonymen, abstrakten Charakter haben und eine verallgemeinerte Masse an Menschen beschreiben, stellen Personas konkret beschriebene, fiktive Personen in Form eines menschlichen Prototyps aus der Zielgruppe dar. Hahn (2015) empfiehlt die Entwicklung von bis zu vier Personas, um einerseits möglichst detaillierte und anschauliche Zielgruppenbeschreibungen zu erhalten, sowie gleichzeitig eine praxistaugliche und übersichtliche Anzahl zu gewährleisten. Grundlage ist die Zielgruppenanalyse, bspw. auf der Basis bestehender Kunden- und Nutzerdaten aus bereits laufenden Social-Media- und Website-Aktivtäten, Umfragen, persönliche Kundenerfahrungen von Mitarbeitern, Workshops und Marktforschungsaktivitäten (Hahn 2015). Für Viva con Agua wurden insgesamt fünf Personas mit unterschiedlichen persönlichen Profilen, Lebensweisen, Hintergründen und Engagements entwickelt. Abb. 17.3 gibt zwei Beispiele. Im nächsten Schritt gilt es, mit wenigen zentralen Botschaften eine strategische, auf der Markenidentität basierende, inhaltliche Ausrichtung der Social-Media-­ Kommunikationsinhalte herbeizuführen. Statt der Implementierung eines komplexen Aussagensystems wird die Entwicklung weniger, zentraler Kernbotschaften in Form von kurzen, prägnanten und leicht verständlichen „Wir-Aussagen“ empfohlen (Bruhn 2014). Dabei muss insbesondere auf die Zielgruppen-Relevanz geachtet werden, denn letztlich muss das Nutzenversprechen der Botschaften die Bedürfnisse der entwickelten Personas als Rezipienten der Inhalte befriedigen. Beispiele für Kernbotschaften von Viva con Agua sind „Wir wollen spritzig, leichtfüßig und vergnügt kommunizieren, um für unsere Vision zu begeistern!“, „Wir sind stets mit jeder Menge Lebensfreude, Munterkeit, Lockerheit und voller Tatendrang in unserer Mission für sauberes Wasser unterwegs!“ und „Wir können Menschen vernetzen und niedrigschwelliges, soziales und unkonventionelles, kreatives Engagement für jeden ermöglichen!“.

17  Markenkonforme Social-Media-Strategie für kleine und mittelgroße Organisationen 249

Abb. 17.3  Beispiele für Persona-Steckbriefe bei Viva con Agua. (Eigene Darstellung)

Die Ausrichtung der Kommunikationsinhalte geht jedoch über die Formulierung von Kernbotschaften hinaus. Ziel der Methode Content Buckets (Oberdin 2014) ist es, relevante Themeninhalte zu identifizieren, zu kategorisieren und konsistent an der Marke, den Organisationszielen und den Bedürfnissen der Zielgruppen auszurichten, um einen groben Handlungsleitfaden für die Methoden der operativen Content-­Produktion vorzugeben. Zudem soll durch die Bildung von Content Buckets erreicht werden, dass man sich nicht in zu vielen Themen verzettelt, gleichzeitig aber Abwechslungsreichtum und Konsistenz erreicht. Oberdin (2014) empfiehlt in diesem Zusammenhang beispielsweise die Festlegung von fünf bis sechs Content Buckets, lässt je nach Organisationsbedürfnissen aber Spielraum. Neben der kommunikativen Leitidee werden in der Strategiephase auch die zu bespielenden Social-Media-Kanäle festgelegt. Man sollte nicht der Versuchung unterliegen, überstürzt und in blindem Aktionismus auf das jeweilige Trendportal zu springen (Lembke 2011). Es gilt vielmehr die relevanten Kanäle unter Berücksichtigung der Ressourcen und weiterer Kriterien sorgfältig auszuwählen. Mindestkriterien sind, dass die Plattformen aufgrund ihrer Spezifika eine erfolgsversprechende Basis zur Erreichung der gesteckten Social-Media-Ziele bilden und dass die definierten Zielgruppen dort angemessen vertreten sind (Lembke 2011). Die Kanalwahl steht somit in wechselseitiger Verbindung zu der Zielformulierung (SMART und Ziel-Mittel-Hierarchie) und baut auf den entwickelten Personas auf. Darüber hinaus sollten jedoch weitere Kriterien, wie z. B. der Aufwand zur Content-Produktion, die Möglichkeiten zur Nutzung verschiedener Medienformate oder Werbeoptionen

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Abb. 17.4  Polaritätenprofil ausgewählter Social-Media-Kanalalternativen. (Eigene Darstellung)

berücksichtigt werden. Zur Bewertung wird die Bildung eines Polaritätenprofils vorgeschlagen. Abb. 17.4 zeigt das Polaritätenprofil der am besten bewerteten Kanäle bei Viva con Agua. Schließlich bleibt festzulegen, wie der zu produzierende Content nicht nur inhaltlich, sondern auch bildlich und sprachlich konsistent zur Marke und zielgruppengerecht entwickelt werden soll. Hierzu sieht das Vorgehensmodell die Methoden Moodboard und Social-Media-Brand-Voice vor. Das Moodboard ist eine einfache und schnelle Möglichkeit, um Visualisierungsideen auszuprobieren und die strategische Ausrichtung der Bildkommunikation vorzunehmen (Hahn 2015). Eine aufmerksamkeitsintensive und konsistente Bildkommunikation ist deshalb so wichtig, weil schon in Printmedien die durchschnittliche Betrachtungszeit einseitiger Anzeigen unter zwei Sekunden liegt (Kroeber-Riel und Esch 2006). Es ist davon auszugehen, dass dieser Wert in den bildorientierten Social-­ Media-Plattfomen wie z. B. Facebook oder Instagram noch unterschritten wird. Das Moodboard definiert ein visuelles Leitbild, um der Social-Media-­Kommunikation eine grafische und bildliche Richtung zu geben. Die Erstellung einer Moodboard-Collage als Ergebnistyp der Methode kann analog in Print oder digital erfolgen. Auch der Einsatz von Bewegtbild ist denkbar. Abb. 17.5 zeigt das für Viva con Agua entworfene Moodboard zur Abbildung des visuellen Stimmungsgefühls.

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Abb. 17.5  Das visuelle Stimmungsgefühl von Viva con Agua im Moodboard. (Eigene Darstellung, Bildmaterial Viva con Agua de Sankt Pauli e.V.)

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17.5 Zukunftsperspektiven Das Vorgehensmodell wurde bereits bei seiner Entwicklung unmittelbar in der Praxis angewendet und erprobt. Modell und Methoden stellten sich dabei tatsächlich als einfach durchführbar und nutzenstiftend heraus. Zahlreiche Methoden sind seitdem im täglichen Einsatz innerhalb des Viva con Agua Netzwerkes oder fungieren als Kommunikationsleitfaden im Hintergrund. Marketingleiter Moritz Meier konstatiert: „Der Methodenbaukasten hilft uns dabei, mit begrenzten Mitteln eine professionelle, strategische Social-Media-Kommunikation zu gewährleisten.“ Pressesprecherin Claudia Gersdorf ergänzt, „Insbesondere im Hinblick auf die enorme Vielfalt im Viva con Agua Netzwerk unterstützen uns die Methoden, unsere Werte in einer Sprache nach außen zu tragen. Viele ehrenamtliche Aktivisten sind dankbar, diesen Leitfaden für die Kommunikation ihres lokalen Engagements heranziehen zu können.“ (Gersdorf und Meier 2017) Die Entscheidung über die dauerhafte Anwendung seitens Viva con Agua samt einer empirischen Überprüfung der Erfolge steht noch aus. Über die Hamburger Organisation hinaus laufen jedoch bereits weitere Praxiserprobungen des Vorgehensmodells. Auch die Weiterentwicklung des Methoden-Baukastens ist geplant, um den stetig hinzukommenden Möglichkeiten zur kommerziellen Erschließung von Social Media Rechnung zu tragen.

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Systematische Unternehmensentwicklung und Geschäftsmodellinnovation durch die Integration kollektiver Intelligenz

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Oliver Christ, Michael Czarniecki, Lukas Andreas Scherer und Ivo Blohm

Zusammenfassung

Crowdsourcing ermöglicht Unternehmen, die Intelligenz, Problemlösungsfähigkeit und Kreativität großer, weltweit verteilter Menschengruppen zu nutzen. Viele Organisationen nutzen diese Möglichkeiten seit längerem. Insbesondere aufgrund der zunehmenden Vernetzung und Digitalisierung hat sich ein breit gefächertes, ausdifferenziertes Crowdsourcing-Angebot etabliert, das von Unternehmen einfach genutzt werden kann. Während Crowdsourcing sich gut für die Entwicklung neuer Produkt- oder Serviceideen eignet, stoßen die bisherigen Methoden an Grenzen, wenn die Entwicklung der organisatorischen Kernbereiche wie das Geschäftsmodell, die Strategie oder die Kultur des Unternehmens im Fokus der Entwicklung steht. Für die Unterstützung der Unternehmensentwicklung eignen sich länger angelegte, iterative und durch Coaching begleitete Prozesse. Am Beispiel einer innovativen Crowdsourcing-Methode wird ein iteratives Verfahren vorgestellt und mit konventionellen Ansätzen verglichen. Schlüsselwörter

Crowdsourcing · Unternehmensentwicklung · Digitale Transformation Systemisches Management · Digitalisierung · Organisationsentwicklung · Change Management Unveränderter Original-Beitrag Christ et al. (2017) Potentiale und Hindernisse von Crowdsourcing für Unternehmensentwicklung und Geschäftsmodellinnovation  – Ein methodischer Ansatz zur Transformation von Organisationen, HMD – Praxis der Wirtschaftsinformatik, 54(5): 741–756. O. Christ (*) · M. Czarniecki · L. A. Scherer Fachhochschule St. Gallen, St. Gallen, Schweiz E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected] I. Blohm Universität St.Gallen, St. Gallen, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Robra-Bissantz, C. Lattemann (Hrsg.), Digital Customer Experience, Edition HMD, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1_18

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18.1 Einleitung Der Versuch, die potenzielle Intelligenz, Kreativität und Problemlösungskompetenz einer großen, anonymen Menschengruppe zu nutzen und dadurch effizient und wirkungsvoll neue Lösungen zu entwickeln, reicht weit in die Geschichte zurück. Klassische Beispiele sind die Wettbewerbe wissenschaftlicher Akademien zu komplexen gesellschaftlichen oder technischen Aufgaben sowie die Ausschreibung des britischen Parlaments zur Entwicklung eines effektiven Verfahrens zur Bestimmung der Längengrade, dem Longitudinal Act, das zur Erfindung einer entsprechenden Vorrichtung führte und durch ein Preisgeld von 20.000  Pfund motiviert und belohnt wurde (Gassmann 2012). Durch die Entwicklung leistungsfähiger Informationssysteme und insbesondere deren weltweiter Vernetzung auf Basis standardisierter, internetbasierter Protokolle, ergeben sich neue Möglichkeiten, die potenzielle kollektive Intelligenz anonymer Gruppen global zu nutzen und die Ergebnisse der Online-Ausschreibungen direkt in organisatorische Abläufe und Innovationsprozesse von Unternehmen einzubinden. Die einzelnen Aufgaben und Ausschreibungen können mittels Digitalisierung und Automatisierung effizient, skalierbar und flexibel eingesetzt werden und erreichen über webbasierte Plattformen orts- und personenunabhängig prinzipiell alle internetfähigen Nutzer. Ein Beispiel für eine relativ frühe Form der digitalisierten Nutzung kollektiver Intelligenz ist die bereits 1998 vom amerikanischen Pharmaunternehmen Eli Lilly entwickelte offene Innovationsplattform InnoCentive (Blohm et al. 2013; Gassmann 2012). Nach deren Angaben arbeiten mittlerweile mehr als 380.000 Nutzer aus ca. 200 Ländern an Aufträgen unterschiedlicher Organisationen. Es wurden bereits mehr als 62.000 Lösungen eingereicht und über 50 Millionen Dollar Preisgelder an die beteiligten Nutzer ausbezahlt. Mit diesem Artikel soll gezeigt werden, wie die Methode des Crowdsourcing bis in den Kernbereich von Unternehmen (Geschäftsmodell, Strategie, Organisation) vordringen und diesen effektiv transformieren kann. Zu diesem Zweck zeigt der Artikel in Abschn. 18.2 zuerst Potenziale und Grenzen der Nutzung der sogenannten kollektiven Intelligenz für das Innovationsmanagement von Organisationen auf. Abschn.  18.3 analysiert, welche Herausforderungen entstehen, wenn Crowdsourcing für die Entwicklung von Unternehmen eingesetzt werden soll, d. h. es werden spezifische Möglichkeiten und Hindernisse von Crowdsourcing für die Generierung valider Innovationen im Kontext von Geschäftsmodell, Strategie oder Kernstrukturen einer Organisation untersucht. Abschn. 18.4 führt die BeeUp-Methode ein, die in einem gemeinsamen Forschungsprojekt der Universität St. Gallen und Fachhochschule St. Gallen entwickelt wurde. Das Kapitel zeigt auf, wie die im Abschn.  18.3 beschriebenen Herausforderungen bewältigt werden können, ohne auf die Potenziale des Crowdsourcing verzichten zu müssen. Des Weiteren werden in diesem Abschnitt die wichtigsten Unterschiede zwischen dem „klassischen“ und „iterativen“ Crowdsourcing aufgezeigt, welches der BeeUp-Methode zugrunde liegt. Zudem wird der methodische Ansatz anhand von zwei Fallbeispielen ­illustriert.

18  Systematische Unternehmensentwicklung und Geschäftsmodellinnovation …

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18.2 C  rowdsourcing – Potenziale und Grenzen Kollektiver Intelligenz Der Begriff Crowdsourcing ist ein Neologismus, der die beiden Begriffe Crowd und Outsourcing verbindet. Dieser Begriff etablierte sich relativ spät und geht auf einen Artikel aus dem Jahr 2006 von Jeff Howe in der Zeitschrift Wired zurück. Howe beschreibt das Konzept Crowdsourcing als „the act of a company or an institution taking a function once performed by employees and outsourcing it to an undefined (and generally large) network of people in the form of an open call“ (Howe 2006). Wesentliche Bestimmungsmomente des Crowdsourcing sind die Auslagerung von Aufgaben durch eine Organisation an eine unternehmensinterne oder an eine von dieser Organisation unabhängige Gruppe potenziell interessierter Personen mittels eines offenen Aufrufs (Durward et al. 2016). Der Aufruf erfolgt in der Regel über internetbasierte Plattformen, die entweder von Crowdsourcing-Intermediären oder vom Unternehmen selbst bereitgestellt und verwaltet werden. Crowdsourcing-­ Plattformen ermöglichen den auftraggebenden Organisationen eine flexible, skalierbare und effiziente Verteilung von bislang intern organisierten oder im Extremfall bisher noch gar nicht bearbeiteten Aufgaben. Die einzelnen Aufgaben können sich hinsichtlich ihrer Komplexität und ihres Anwendungsbereichs stark voneinander unterscheiden. Die Bandbreite reicht von einfachen Routineaufgaben (z. B. die Nutzung der Captcha-Validierung, die ursprünglich zur Identifikation von menschlichen Nutzern auf Webseiten entwickelt wurde, für die schrittweise Verbesserung der Digitalisierung von Büchern und Zeitungen), über komplexe und ergebnisoffene Aufgaben (wie die Entwicklung neuer Produktideen oder Serviceverbesserungen mittels Plattformen wie InnoCentive oder Atizo) bis hin zu der Auslagerung kreativer Aufgaben (z.  B. die Organisation von Designwettbewerben über Plattformen wie Fotolia oder Crowdspring) an eine anonyme Gruppe (Gassmann 2012; Simula und Ahola 2014). Mittlerweile haben sich zahlreiche Crowdsourcing-Plattformen am Markt etabliert, die unterschiedliche Ziele mit verschiedenen Methoden verfolgen und sehr gezielt die Bedürfnisse heterogener Organisationen und Nutzer adressieren. Es entwickelte sich mit der Zeit ein immer ausdifferenzierteres Marktangebot sowie eine immer verfeinerte Begrifflichkeit und Typisierung der Crowdsourcing-Angebote, -Einsatzbereiche und -Methoden. Eine detaillierte Übersicht über Angebote, Einsatzszenarien, Plattformen und Methoden des Crowdsourcing bieten Durward et  al. (2016) und Gassmann (2012). Viele Unternehmen nutzen Crowdsourcing als Ergänzung oder Alternative zu ihrem intern organisierten Innovationsmanagement, denn gerade in diesem Kontext bieten sich für die auftraggebenden Organisationen Potenziale, die eigene Betriebsblindheit und die meist hochselektive Umweltwahrnehmung zu überwinden und durch eine gezielt erweiterte Außenperspektive zu ergänzen. Im Kontext der Innovationsentwicklung kann Crowdsourcing als Teil des Open Innovation-Ansatzes betrachtet werden (Gassmann 2012). Dies ist ein Konzept, durch das externe Partner einer Organisation, wie z. B. akademische Institutionen, Kunden oder Lieferanten, in den Innovationsprozess eines Unternehmens integriert werden und Produkte, Dienstleistungen oder Prozesse gemeinsam verbessert w ­ erden

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können (Gassmann 2012; Sloane 2011). Die Integration von Kunden und Geschäftspartnern in die Innovationsprozesse ist in vielen Unternehmen schon seit geraumer Zeit fest verankert. Durch die Nutzung von speziellen für die Innovationsentwicklung konzipierten Crowdsourcing-Plattformen bieten sich für Unternehmen nun effiziente und wirkungsvolle Möglichkeiten, den Kreis potenzieller Innovationspartner um branchenfremde Personen zu erweitern und damit die eingeschränkte Perspektive des Unternehmens und dessen Partner zu überwinden.

18.3 C  rowdsourcing für die Geschäftsmodellinnovation und Unternehmensentwicklung In den letzten Jahren stellten Unternehmen neben der Produkt- und Dienstleistungsinnovation verstärkt die Innovation ihres Geschäftsmodells in den Fokus. Unternehmen verbesserten nicht mehr nur ihr Produkt- oder Dienstleistungsangebot durch Innovationen, sondern versuchten die Art, wie sie ihr Geschäft betreiben, d. h. ihr gesamtes Geschäftsmodell, zu erneuern. Ein Geschäftsmodell beschreibt die wesentlichen Funktionen eines Unternehmens und dessen Wertschöpfung (Osterwalder und Pigneur 2011). Die Innovation des Geschäftsmodells hat Auswirkungen auf das gesamte Unternehmen oder einzelner Geschäftsfelder und muss im Sinne der Unternehmensentwicklung die spezifische Ausgangslage sowie aktuelle Umweltfaktoren und Trends berücksichtigen (Bleicher 1980; Blohm et al. 2013; Osterwalder und Pigneur 2011, Osterwalder und Pigneur 2015; Rüegg-Stürm 1989; Rüegg-­ Stürm und Grand 2015). Bleicher (1980) versteht unter Unternehmensentwicklung „… die Evolution eines ökonomisch orientierten sozialen Systems im Spannungsfeld von Forderungen und Möglichkeiten der Um- und Inwelt.“. Entscheidende Einflussfaktoren der Unternehmensentwicklung sind die spezifische Situation des Unternehmens, dessen Umwelt sowie deren Entwicklungsdynamik. Die Betrachtung erhält zusätzlich eine zeitliche Dimension und muss sowohl die gegenwärtige Situation als auch die zukünftige Situation von Organisation und Umwelt ausreichend reflektieren (Bleicher 1980). Eine solide Unternehmensentwicklung identifiziert und analysiert im Rahmen einer immanenten Analyse der spezifischen Unternehmenslage, unter Berücksichtigung der Umweltsituation, die unternehmerische Wirklichkeit, bestehende Spannungsfelder sowie Potenziale und entwickelt systematisch und evidenzbasiert eine neue, der spezifischen Situation angemessene Form, durch die Potenziale aktiviert und Spannungsfelder aufgehoben werden (Bleicher 1980; Rüegg-Stürm 1989; Rüegg-Stürm und Grand 2015). Durch diese, im Vergleich mit der reinen Ideengenerierung für neue Produkte und Dienstleistungen hohe Komplexität, ergeben sich besondere Herausforderungen für die Gestaltung eines wirkungsvollen Crowdsourcing-Modells für die Geschäftsmodellinnovation im Sinne einer Unternehmensentwicklung. In sozialen Systemen – wie z. B. Unternehmen – manifestiert sich oftmals eine hoch selektive Wahrnehmung der Umwelt. Aufgrund ihrer hohen operativen Geschlossenheit und selektiven, komplexitätsreduzierenden Informationsversorgung bilden Unternehmen eine Art organisatorisches Immunsystem, das nur wenige

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I­ nformationen aus der Umwelt organisationsintern in handlungswirksames Wissen übersetzt und zu Veränderungen führt (Blohm et al. 2013; Luhmann 1996; Simon 2014). Dies gilt nicht nur für einzelne Unternehmen, sondern auch für deren Kunden und Lieferanten. Diese selektive Wahrnehmung und das organisatorische Immunsystem sorgen für Stabilität, Kontinuität und Verbindlichkeit. Sie tragen oftmals in hohem Maße zum Erfolg des Unternehmens bei. Im Kontext des Innovationsmanagements ergeben sich durch die operative Geschlossenheit und Selbstreferenz der Organisationen jedoch hohe Risiken. Insbesondere das Verkennen oder das zu späte Erkennen von neuen Geschäftspotenzialen sowie einer verzögerten Reaktion auf Veränderungen in der Umwelt sind hier zu nennen. Diese Risiken können in einem zunehmend globalen Wettbewerbsumfeld mit starker Ausrichtung auf Differenzierung durch Produkt- oder Serviceinnovationen zu geschäftskritischen Situationen führen. Aus organisationaler Sichtweise ergibt sich hier ein Widerspruch: Eine Organisation ordnet sich selbst und reduziert dadurch die Komplexität der Umwelt (Luhmann 1996; Simon 2014). Eine Crowdsourcing (oder generell Open Innovation) nutzende Organisation dagegen erhöht die Variabilität und wird neue Ideen durch das Immunsystem abblocken, wenn der Kern der Organisation betroffen ist. Eine Analogie aus der Biologie soll diese Dichotomie verdeutlichen: Wir lassen auf der Hautoberfläche vielfältige Bakterien zu unserem eigenen Schutz residieren, dringt aber ein Bakterium in eine Zelle des menschlichen Organismus vor, dann wird dieser vom systemeigenen Immunsystem zerstört. Auf eine ähnliche Weise nutzen Unternehmen Crowdsourcing, um Innovationen punktuell umzusetzen. Die geschützten und sehr geschlossenen Bereiche wie Strategie, Organisation und Kultur lassen sich schwer durch die klassischen Formen des Crowdsourcing verändern. Wie müsste also Crowdsourcing gestaltet und organisatorisch eingebettet werden, damit die externe Sicht bis in den Kern der Organisation vordringt und dort ihre Vielfalt ausschöpfen kann ohne auf Widerstände zu stoßen? Dieser Frage wird in den folgenden Ausführungen weiter nachgegangen. Folgende Herausforderungen ergeben sich für die externe Unterstützung der Unternehmensentwicklung durch Crowdsourcing: a) Blockierung neuer Ideen durch das organisatorischen Immunsystem Unternehmen im Sinne sozioökonomischer Systeme bilden ihre Umwelt in der Regel hochselektiv ab und erzeugen und verarbeiten Informationen nach eigenen Regeln und Kriterien (Simon 2007). Die Möglichkeiten der Veränderung, insbesondere ihrer fundamentalen Organisationsweise, sind daher sehr begrenzt. Diese Mechanismen stellen eine wichtige Schutzfunktion dar, durch die Stabilität und Verbindlichkeit ermöglicht werden. Unternehmensentwicklung setzt gerade an dieser Stelle an, d. h. sie versucht aus dem Bestehenden heraus das Potenzial zu erkennen, Entwicklungstendenzen zu verstehen, zu verstärken bzw. abzumildern. Es besteht dadurch eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass gerade Ideen, die das Fundament des Geschäfts und dessen Evolution betreffen, das organisatorische Immunsystem nicht durchdringen und ungeprüft oder nur sehr oberflächlich betrachtet verworfen werden, weil sie die Wirklichkeit des

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­ nternehmens aus Sicht der internen Unternehmensvertreter verkennen und ein U (Schein-)Potenzial ohne Fundament entwickeln. Zudem besteht die Gefahr für die Unternehmen, dass diese aufgrund der selektiven Wahrnehmung, d. h. ihrer Betriebsblindheit, entscheidende Potenziale und Risiken übersehen. Diese He­ rausforderung wird durch die folgenden drei Herausforderungen, die den Faktor Zeit, Information und Expertise adressieren noch verstärkt. b) Zu wenig Zeit für Koevolutionen Die valide und im Unternehmen akzeptable Entwicklung eines angemessenen neuen Geschäftsmodells lässt sich nicht mit einem punktuell gesteuerten, anonymen Aufruf realisieren. Sie benötigt mehr Zeit und gleichzeitig eine engere Kopplung der Akteure als die Entwicklung von Produkt- oder Serviceideen durch Crowdsourcing. Im Gegensatz zu den für die Lösung einfacher Routine­ aufgaben oder für die Entwicklung von Produktideen oftmals passsenden anonymen Massenausschreibungen erfordert der sensitive und komplexe Bereich der Unternehmensentwicklung eine gezielte Kopplung zwischen Unternehmen und Crowdsourcing-Nutzern, um deren Koevolution zu stimulieren. Dies wird durch die traditionellen Ansätze nicht abgedeckt. c) Unzureichende Informationen aufgrund von deren Vertraulichkeit Eine solide Analyse des Geschäftsmodells eines Unternehmens erfordert die Kenntnis der internen Ausgangslage im Verhältnis zu Anforderungen und Möglichkeiten der Umwelt des Unternehmens. Die meisten Unternehmen möchten diese Details nicht offenlegen und ihre Veränderungspläne nicht transparent machen. Unternehmen werden sich entweder ganz zurückhalten und die Möglichkeit der kollektiven Intelligenz für die (Weiter-)entwicklung ihres Geschäftsmodells nicht nutzen oder nur unzureichende Informationen bereitstellen. Sie gehen damit das Risiko ein, dass mittels Crowdsourcing lediglich nutzlose Ideen ohne Umsetzungspotenzial generiert werden. d ) Fehlende Expertise aufgrund der strikten Entkopplung der Crowd vom ­Unternehmen Die Entwicklung eines neuen Geschäftsmodells erfordert Kenntnisse der spezifischen Unternehmenssituation, die nicht einfach im Rahmen eines isolierten, von der Unternehmung losgelösten Problemlösungs- oder Kreativitätsprozesses aufgebaut bzw. simuliert werden können. Zur fundierten und wirkungsvollen Innovation des Geschäftsmodells brauchen die das Unternehmen analysierenden Personen ausreichendes Wissen über die Ausgangslage und die spezifischen Umweltfaktoren, die nicht einfach ohne Unterstützung durch Experten, in der Regel erfahrene Mitarbeiter des Unternehmens, aufgebaut werden können. Es besteht die Gefahr, dass viele nutzlose Ideen ohne Wirklichkeitsbezug für das Unternehmen erzeugt werden und diese lediglich Zeit und Kosten absorbieren. Durch die oben genannten Herausforderungen des traditionellen Crowdsourcing, wird aus Unternehmenssicht das Problem des „Innovator’s Dilemma“ berührt. Wie von Clayton Christensen in seinem Buch „The Innovator’s Dilemma“ (Christensen 2003) vorgestellt, stehen etablierte Organisationen vor dem Problem, dass sie neue und potenziell „disruptive“ Marktteilnehmer nicht ernst nehmen und als potenzielle

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Konkurrenz erkennen. Ein Unternehmen mit einem innovativen aber unausgereiften Produkt ist auf den ersten Blick keine ernst zu nehmende Konkurrenz für eine auf Exzellenz ausgerichtete Organisation. Das Problem disruptiver Innovationen besteht nicht darin, dass eine Technologie aus heiterem Himmel fällt und ganze Industrien „disruptiert“, sondern dass interne Innovatoren es vielfach innerhalb ihrer Organisation nicht schaffen, eine unausgereifte Lösung in ihre bereits auf Exzellenz ausgerichtete und nach hochselektiven und standardisierten Operationen agierende Organisation zu integrieren (Christensen 2003; Christensen et al. 2008; Christensen und Raynor 2017). Weil potenziell disruptive Unternehmen vorerst sehr schlechte Leistung gemäß Industriestandards bieten und deshalb nur Nischen besetzen, in denen Qualität eine untergeordnete Rolle spielt, zieht sich die etablierte Unternehmung aus den aus ihrer Sicht sowieso unrentablen Nischen zurück, was dem Disruptor einen Brückenkopf bietet. Wenn sich aber der Disruptor weiterentwickelt hat, dann ist es für die etablierte Unternehmung häufig zu spät, eine geeignete strategische, strukturelle oder kulturelle Antwort zu geben. Eine vergleichbare Problemlage ergibt sich beim Einsatz von Crowdsourcing zur Innovierung des organisatorischen Nukleus. Durch Crowdsourcing generierte Ideen sind oftmals nicht ausgereift und vielfach wenig durchdacht, was in vielen Einsatzbereichen kein Problem darstellt. Deshalb funktioniert Crowdsourcing gut, wo es Produktinnovation, technisches Scouting oder Designfragen betrifft. Die externen Ideen können in solchen Fällen in die ausgereiften Innovationsprozesse der Organisation aufgenommen werden und durch diese Prozesse verfeinert und zur Marktreife entwickelt werden. Jedoch konnten bisher die Wirkungsmechanismen des Crowdsourcing nicht in den Kern der Organisation vorstoßen. Ein Lösungsansatz ist, analog zum Prozess der „disruptiven Innovation“, wie von Christensen auch ursprünglich verstanden, den auf den Kern ausgerichteten durch Crowdsourcing generierten Lösungen ein „Brückenkopf“ zur Verfügung zu stellen, um die organisatorische Anschlussfähigkeit zu sichern. Auf diesem Brückenkopf können die Lösungen durch einen Iterativmechanismus in ihrer Reife entwickelt werden und zu einem späteren Zeitpunkt in den Kern der Organisation vorstoßen. Im folgenden Abschnitt wird anhand der an der Universität und Fachhochschule St. Gallen entwickelten Methode BeeUp ein möglicher Ansatz für die Überwindung der Grenzen traditioneller Crowdsourcingverfahren und des effizienten und wirkungsvollen Einsatzes von Crowdsourcing zur Unterstützung der Geschäftsmodellinnovation und Unternehmensentwicklung vorgestellt.

18.4 Die BeeUp-Methode BeeUp ist eine crowdsourcing-basierte Innovationsmethode für die Entwicklung von Unternehmen. Ziel ist es, dass Unternehmen Wachstumspotenziale in einer sich ändernden Umwelt so auszunutzen können, damit diese (a) zur bestehenden Kernkompetenz passen, (b) out-of-the box generiert werden und (c) Talente zur Implementierung identifiziert und systematisch aufgebaut werden. Dazu wird in einem ersten Schritt die Kernkompetenz des untersuchten Unternehmens oder Geschäftsbereichs

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analysiert. Aufbauend auf dieser Analyse werden von BeeUp-Mitarbeitern anonymisierte Fallstudien entwickelt, die den unternehmerischen Rahmen sowie bestehende Spannungsfelder beschreiben. Die Fallstudien werden im nächsten Schritt auf der Online-Plattform von BeeUp (www.beeup.com) veröffentlicht und dort einer Gruppe (Crowd) zur Bearbeitung angeboten. Die Motivation der Crowd erfolgt in der Regel durch Weiterbildungsanreize aufgrund der zu bearbeitenden praxisnahen Aufgabenstellungen in einem realistischen Umfeld. Im Folgenden werden die einzelnen Schritte der Methode (s. Abb. 18.1) vorgestellt und auf ihre Eignung für den Einsatz im Bereich der Unternehmensentwicklung überprüft. Schritt 1: Explikation der Aufgabe Das Problem oder die Aufgabe stammt von der Unternehmung. In diesem Schritt ist es wichtig, das Problem richtig zu formulieren. Die Herausforderung besteht, zum Kern des Problems vorzustoßen. Häufig sind oberflächlich formulierte Beschreibungen von Spannungsfeldern Symptome eines tiefer liegenden Problembereichs. Die Erfahrung hat gezeigt, dass schlecht definierte Problemstellungen bzw. Aufgaben nicht zu einer zufriedenstellenden Lösung führen. Schritt 2: Gestaltung der Aufgabe Der Kern der Methode ist die über die Online-Plattform zur Verfügung gestellte Fallstudie, welche der Ausgangspunkt des iterativen Crowdsourcing ist. Sie umschreibt die Kernkompetenz, das zu lösende Problem, bestehende Spannungsfelder und gibt auch die Kultur der Organisation wider. Eine Fallstudie beinhaltet zu wenig Information zur Lösungsentwicklung, aber ausreichend Informationen, damit ein BeeUp-Team mit der Situationsanalyse beginnen kann. Die Fallstudie enthält in anonymisierter Form das Problem und gibt den kulturellen Kontext der ­Organisation

Abb. 18.1  Der BeeUp-Prozess in Überblick

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wider. Die Informationen, welche in der Fallstudie vorhanden sind, genügen jedoch nicht, um die Fallstudie zu lösen. Sie dienen lediglich dazu, einen iterativen Bearbeitungsprozess mit der Crowd starten zu können. Neben dem Problem wird die Fallstudie auch mit Incentivierungselementen angereichert. Auf BeeUp erfolgt die Incentivierung über kostenlose Bildungsanreize. Diese bestehen vor allem aus sogenannten Badges, welche zu erlernende Kompetenzen repräsentieren. Zum Beispiel repräsentiert der Business Model Canvas Badge die gleichnamige Methode von Osterwalder und Pigneur (2011). Will ein Nutzer Geschäftsmodellinnovation lernen, dann löst er oder sie eine Fallstudie und verdient sich dabei einen entsprechenden Badge, der seine Erfahrung mit dieser Methode belegt. Schritt 3: Bildung von BeeUp-Teams Die Nutzer organisieren sich in sogenannten BeeUp-Teams entlang einer Fallstudie. Alle Teams zusammengenommen formen die spezifische Crowd zur Lösung einer Fallstudie. Der den Bee-Up-Prozess unterstützende Coach verfolgt die Diskussionen und Lösungsansätze und kann dem ganzen Team gezielt Feedback geben. Jedes BeeUpTeam akzeptiert ein Non Disclosure Agreement (NDA). Im NDA verpflichtet sich das Team, die Informationen vom Coach oder der Unternehmung geheim zu halten. Schritt 4: Iteration zwischen Crowd, Unternehmung und BeeUp Die Teams erhalten nach dem ersten Beitrag Feedback zu ihrer Lösung. Je besser die Vorschläge des Teams, desto mehr investiert BeeUp in die Aus- und Weiterbildung des jeweiligen Teams über iterierende Coaching-Runden. Sobald die Qualität ein hohes Niveau erreicht hat, wird die Lösung der Unternehmung vorgestellt, so dass Teams zusätzliches Feedback erhalten können. Im Rahmen des BeeUp-­ Prozesses wurden folgende Reifegrade für Lösungen definiert: • Erste explorative Vorschläge aufbauend auf dem verifizierten Verständnis der Unternehmung. • Generierung von vielen aber nicht-implementierbaren Ideen zur Lösung des Problems. • Auswahl von wenigen Ideen mit Hilfe des die Unternehmung kennenden Coaches, welche zur Implementierung vorbereitet werden. • Methodisch saubere Vorstellung der wenigen Ideen und Vorbereitung einer argumentativen und fakten-basierten Argumentationslinie, um sich gegen frühzeitige Gegenargumente der Unternehmung zu wehren. • Aufnehmen und Einarbeiten des Feedbacks der Unternehmung in die Lösung. Damit kann die Unternehmung anspruchsvolle Lösungen in die selbst reife Organisation integrieren. Schritt 5: Auswahl der Lösungen durch die Unternehmen Im letzten Schritt der Methode wählt die Unternehmung ein oder mehrere Teams oder nur die Lösungen ohne Teams aus. Typischerweise ist die Unternehmung ­neben der generierten Lösung auch sehr am Team, das die präferierte Lösung

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g­ eneriert hat, interessiert. So entstehen mit BeeUp gleichzeitig neue Möglichkeiten für das Personalmanagement: Die Teams bewerben sich nicht bei einer Organisation, sondern bilden die Organisation der Zukunft. Damit integriert die Unternehmung zukünftig gebrauchte Talente in die heutige Organisation ein. Damit formen die externen Teams direkt die Kultur der Organisation. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Integration der in einer separierten Umgebung entwickelten und gereiften Lösung in die Organisation. Schritt 6: Beurteilung der Lösungen und Zertifizierung Auch wenn ein Team nicht erfolgreich war, wird jede Lösung begutachtet und mit Feedback versehen. Das ist die der Crowd versprochene Anreizfunktion. Die Software misst die Aktivität jedes Users und inwiefern er oder sie fähig ist, sich mit anderen zu vernetzen. Für die Erstellung von Teams erhalten die Nutzer Punkte. So hat zum Beispiel ein Team einmal Segler in das Team eingeladen, nachdem das Team bei der Evaluation eines neuen Geschäftsmodells „Segler“ als neues Kundensegment selektiert hat. Diese Punkte fließen in das Zertifikat ein, welches nach dem Abschluss eines Falles von jedem Nutzer geladen werden kann. Das Zertifikat bescheinigt die Fähigkeiten eines Nutzers, (a) sich im Internet problemorientiert zu vernetzten, (b) betriebswirtschaftliche Probleme mit Hilfe von anerkannten Methoden zu lösen sowie (c) dessen autodidaktische Fähigkeiten. Die Evaluation hat außerdem einen Einfluss auf die fachlichen Kompetenzpunkte, die in den oben erwähnten Badges beschrieben wurden. Die vorgestellten Schritte der BeeUp Methode lösen die im vorhergehenden Abschnitt genannten Probleme wie in Tab. 18.1 dargestellt.

18.5 Konventionelles versus iteratives Crowdsourcing Konventionelles Crowdsourcing ist sinnvoll, wenn es darum geht, neue Ideen für Bereiche zu generieren, die keine Notwendigkeit von strategischen Neuausrichtungen des Unternehmens erfordern, z. B. zusätzliche Eigenschaften eines Mobiltelefons. Die Änderung dieser Eigenschaften bedeutet keine strategische Neuausrichtung und auch wenig unternehmensspezifisches Wissen. Die BeeUp-Methode setzt im Gegensatz hierzu wesentlich früher im Innovationsprozess an. Sie analysiert das Geschäftsmodell einer Unternehmung und entwirft Möglichkeiten, dieses nachhaltig zu verändern. Die Crowd nimmt gewissermaßen die Rolle der Geschäftsleitung ein. Für solche Fragestellungen wird Crowdsourcing normalerweise nicht eingesetzt, zumal heikle Informationen und der notwendige kulturelle Rahmen von entscheidender Bedeutung in der Entscheidungsfindung sind. Im Rahmen der BeeUp-Methode werden diese Probleme mit einem Iterationsmechanismus gelöst, der im Folgenden genauer beschrieben werden soll: Schlägt ein BeeUp-Team eine Lösung vor, wird dies dem Coach sofort mitgeteilt. Der Coach kann die Lösungsvarianten vergleichen und so auf jede Änderung

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Tab. 18.1  Aufhebung der Herausforderungen der crowdsourcing-gestützten Unternehmensentwicklung durch die BeeUp Methode Herausforderungen Blockierung neuer Ideen durch das organisatorischen Immunsystem Zu wenig Zeit für Koevolutionen

Unzureichende Informationen aufgrund von deren Vertraulichkeit

Fehlende Expertise aufgrund der strikten Entkopplung der Crowd vom Unternehmen

Lösungsansatz durch die BeeUp-Methode Schritt 4: Die Crowd und das Unternehmen nähern sich durch den Iterationsmechanismus an. Schritt 3: Nur BeeUp-Teams, die sich engagieren, werden durch Coaching unterstützt. Schritt 4: Der Iterationsmechanismus erlaubt den Teams, eine reife Lösung zu entwickeln. Schritt 1: Die Inhalte sind geheim und tangieren die Vertraulichkeit nicht. Schritt 2: Vertrauliche Informationen sind in Fallstudien nicht vorhanden. Schritt 3: Jedes BeeUp-Team unterzeichnet eine NDA. Schritt 4: Vertrauliche Informationen werden zielorientiert, dispergiert und juristisch geschützt an einzelne BeeUp-­ Teams abgegeben. Schritt 5: Streng geheime Informationen werden nur mit erfolgreichen BeeUp-Teams ausgetauscht. Schritt 1: Übertragen des bewussten und unbewussten Wissens mit Relevanz zur Problemlösung der Organisation an den Coach. Schritt 4: Während der Coach die Crowd mit den wichtigsten Informationen unterstützt, hat dieser ebenfalls Zugriff auf Zusatzinformationen seitens der Unternehmung. Schritt 5: Spätestens wenn das erfolgreiche Team mit der Implementierung beauftragt wird, wird auf die Anonymität verzichtet.

zeitnah Feedback geben (vgl. Abb.  18.2). Durch diese Iterationen wächst der ­Informationsgehalt der erfolgreichen BeeUp-Teams, aber auch Reife und Qualität der Lösung. Der Coach sieht auf den ersten Blick, welche Gedanken sich das Team seit der letzten Feedbackrunde gemacht hat. Auf diese kann der Coach nun mit neuem Feed­ back reagieren. Das Feedback hilft der Gruppe, ihre Lösung auf die nächste Reifestufe zu bringen. Konventionelles Crowdsourcing dagegen geht nicht über einige wenige Iterationen hinaus. Im Normalfall werden einmal eingereichte Lösungen gar nicht überarbeitet. Die BeeUp-Methode sieht viele Iterationen vor, wobei aber die Lösungsmenge mit zunehmenden Iterationen reduziert wird, was Abb.  18.3 verdeutlicht. In diesem Beispiel haben nur drei Teams eine hohe Anzahl von Iterationen und von diesen drei haben wiederum nur zwei Teams mit zusätzlichen Informationen des Coaches die Lösung zur Reife gebracht und die Unternehmung auch namentlich kennen gelernt. In diesen Fällen haben die Teams 1 und 2 eine gute Lösung erarbeitet. Team 3 hat trotz vieler Iterationen den Sprung nicht geschafft und wurde vom Coach

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O. Christ et al.

Abb. 18.2  Aus einer (in Bearbeitung) Lösung eines BeeUp-Teams. Grün sind die neuen Felder markiert, auf die der Coach reagieren kann

Abb. 18.3  Die Entwicklung der BeeUp-Teams

kritisch-­konstruktiv jeweils abgeblockt. Team 1 und 2 erhalten in der Regel die Möglichkeit, ihre Lösungen vor der Geschäftsleitung zu präsentieren. Die Unterschiede zwischen der iterativen Crowdsourcingmethode zu anderen konventionellen Crowdsourcingverfahren lassen sich anhand der Tab. 18.2 zusammenfassen.

18  Systematische Unternehmensentwicklung und Geschäftsmodellinnovation …

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Tab. 18.2  Vergleich Konventionelles und Iteratives Crowdsourcing Incentivierung Aufgabenstellung Anzahl Betreuung der Crowd

Konventionell Finanzielle und nicht-finanzielle Anreize Kurze Beschreibung eines Problems Große Anzahl von nicht implementierbaren Lösungen Peer-Coaching durch Crowd

Iterativ Aus- und Weiterbildung Fallstudie, in der absichtlich wichtige Informationen zurückgehalten werden Kleine Anzahl von weit entwickelten Lösungen Intensives Coaching durch Experten

Anhand von zwei Fallbeispielen aus unterschiedlichen Anwendungsbereichen soll die Praxisrelevanz und der Nutzen der iterativen Crowdsourcing-Methode für die Unternehmensentwicklung illustriert werden

18.6 Zwei Fallbeispiele Pharmabranche (Strategie) Bei dem betrachteten Unternehmen handelt es sich um ein Unternehmen mit Kernkompetenz in der Distribution von pharmazeutischen Produkten. Hauptkunden sind Apotheken und Drogerien. Gemäß Problemstellung sollten die Hauptkunden umgangen und mit digitalen Methoden direkt erreicht werden. Das Geschäftsmodell der Pharma-Unternehmung sollte auf die digitale Zukunft vorbereitet werden. Insgesamt wurde der Fall von fünf Teams mit je fünf Teammitgliedern mit Ingenieurshintergrund und von auf diverse Teams verteilten (circa 16 Jahre alten) Schülern in der Primärausbildung verteilt. Während des Iterationsprozesses mit den Teams war die größte Herausforderung bei den Ingenieursteams, den Fokus auf den Kundennutzen zu legen. Die Ingenieursteams konzentrierten sich zunächst zu sehr auf das technisch Mögliche. Als die Lösung bereits eine hohe Reife erreicht hat, bestand das Problem dabei, die juristischen Gegebenheiten des Kunden in die Lösung zu integrieren. Das am Ende erfolgreiche BeeUp-Team bestand vornehmlich aus Ingenieuren. Der Teamsprecher und Leiter des BeeUp Teams war ein Ingenieur in der betrieblichen Weiterbildung. Mit der Pharmaindustrie hatte er bis zu diesem Zeitpunkt keine Berührungspunkte. Die Implementierung erfolgt nun in Kombination mit einer Doktorarbeit. Um zu verhindern, dass das „Immunsystem“ der bestehenden Struktur die neue Strategie im Keim verunmöglicht, wird die zukünftige Struktur der Unternehmung außerhalb der heutigen Struktur implementiert. Auch bei der Schülergruppe war es die Aufgabe des Coaches, die zunächst sehr unkonventionellen und teilweise unrealistischen Ideen in implementierbare Bahnen zu lenken. Ein zweites Problem bestand darin, die Lösungen so zu strukturieren, dass sie zum Endkunden auch kommunizierbar sind. Schlussendlich konnte ein Team (aus 15 bis 16-jährigen Frauen bestehend) die Geschäftsleitung mit einem sehr innovativen und die digitalen Medien nutzenden Marketingkonzept für die Zielgruppe „junge Frauen“ überzeugen. Die persönliche Betroffenheit der Gruppe war ein hoher

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Vorteil in der Lösungsentwicklung. Während die ganze Unternehmung auf den Verkauf der Produkte für Drogerien und Apotheken abgestimmt war, konnten mittels der neuen Strategie neue Kundengruppen (Endverbraucher, „junge Frauen“) angesprochen werden, so dass auf lange Frist die Absatzvermittler umgangen werden können. Dadurch eröffnen sich für die Pharmaunternehmung neue Geschäftsmodelle. Luft- und Raumfahrt (Marketing) Eine in der Luft- und Raumfahrt tätige Unternehmung suchte ein neues, leistungsfähiges B2B-Marketingkonzept. Die Unternehmung stand vor dem Problem, dass wichtige potenzielle Kunden weltweit nach Lösungen suchen, welche die von der Unternehmung angebotene Industriedienstleistung betreffen, dieses den potenziellen Kunden aber nicht immer bewusst sind. Das Ziel des Projektes war, dass Ingenieure in Entscheidungspositionen im wichtigen Moment an die Unternehmung denken sollen und diese um ein Angebot bitten. Ein BeeUp-Team bestehend aus Betriebswirten in der Ausbildung entwickelte darauf eine innovative Inbound Marketing Strategie mit Internet-of-Things Unterstützung, welche eine größere Differenzierung verspricht als die übliche digitale Marketingstrategie wie z. B. Search Engine Optimization und Blog-Schreiben. Die Iteration zwischen Team, Coach und BeeUp verlief wie folgt: Zu Beginn war das Team aufgrund der Komplexität des Falles überfordert und wusste nicht, wie es den Lösungsprozess angehen sollte. Das erfolgreiche Team signalisierte jedoch seine Bereitschaft, einen wertvollen Beitrag in der Problemlösung zu leisten. Auf Basis von Hilfestellungen durch den Coach entwickelte das Team die Visualisierung des Problems, welches aus der Überwindung von drei Barrieren bestand: Der Ort des Ingenieurs (potenziellen Kundens), die Identifikation der Zeit der Entscheidungsfindung beim Ingenieur und die Identifikation der relevanten Hierarchieposition in der Kunden-Organisation. Erst aufbauend auf der eigenen Visualisierung war das Team im Stande, für die einzelnen Teilprobleme Lösungen zu entwickeln und diese Lösungen in einer Synthese zu integrieren. Heute arbeitet das Team für die Unternehmung und ist mit der Implementierung betraut.

18.7 Zusammenfassung Crowdsourcing bietet Unternehmen effiziente und effektive Möglichkeiten, die kollektive Intelligenz interner oder externer Gruppen für ihr Innovationsmanagement zu nutzen. Auf Basis digitaler Crowdsourcing-Plattformen können die Ausschreibungen skalierbar und weltweit verteilt organisiert und in die Innovationsprozesse der Organisationen integriert werden. Konventionelles Crowdsourcing sendet in der Regel eine strukturierte Anfrage an eine ausgewählte oder vorab unbekannte Gruppe potenzieller Ideengeber, lässt bewusst viele Ideen außerhalb der Organisation generieren und entscheidet nach Ablauf der Ausschreibungsfrist über die weitere Nutzung der Ideen. Dieses konventionelle Verfahren eignet sich sehr gut für die Entwicklung von neuen Produkt- oder Serviceideen, stößt jedoch an Grenzen, wenn das Ziel die Transformation des unternehmerischen Kerns ist und dessen Geschäftsmodell, die Strategie oder organisatorische Strukturen betrifft. Die externen Ideen für diese Bereiche

18  Systematische Unternehmensentwicklung und Geschäftsmodellinnovation …

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sind in der Regel zu wenig ausgereift, um die komplexen Strukturen der Unternehmen zu verändern. Zum einen will die Organisation nicht alle für die Lösung relevanten Informationen einer anonymen Crowd zur Verfügung stellen und zum anderen werden selbst objektiv erfolgreiche Lösungen aufgrund des organisatorischen Immunsystems abgeblockt, ohne systematisch geprüft und weiterentwickelt zu werden. Um die Potenziale des Crowdsourcing auch in diesem Bereich zu nutzen, haben die Autoren einen methodischen Ansatz entwickelt, der diese Schwächen systematisch überwindet. Die externe Lösungsfindung wird über einen längeren Zeitraum und in einer Iteration zwischen Crowd, dem die Methode anwendenden Coach und der zu innovierenden Unternehmung begleitet, bis die Lösung immer enger an den Kern des Unternehmens herangeführt wird. So erreichen die Lösungen eine höhere Reife und sind im Stande, dem organisationalen Immunsystem Stirn zu bieten.

Literatur Bleicher K (1980) Unternehmensentwicklung und organisatorische Gestaltung. Arbeitsbuch zu Unternehmensentwicklung und organisatorische Gestaltung (Grundwissen der Ökonomik). Fischer, Stuttgart Blohm I, Leimeister J, Krcmar H (2013) Crowdsourcing. How to benefit from (too) many great ideas. MIS Q Exec 12(4):199–211 Christensen C (2003) The innovator’s dilemma. When new technologies cause great firms to fail. Harvard Business School Press, Boston Christensen C, Raynor M (2017) The innovator’s solution. Warum manche Unternehmen erfolgreicher wachsen als andere, 1. Aufl. Vahlen, München Christensen C, Johnson C, Horn M (2008) Disrupting class. How disruptive innovation will change the way the world learns. McGraw-Hill, New York Durward D, Blohm I, Leimeister J (2016) Crowd work. Business & information systems engineering. BISE 58(4):281–286 Gassmann O (2012) Crowdsourcing – Innovationsmanagement mit Schwarmintelligenz. – Inter-­ aktiv Ideen finden – Kollektives Wissen effektiv nutzen – Mit Fallbeispielen und Checklisten. Hanser, München Howe J (2006) The rise of crowdsourcing. Wired Magazine, 14.06.2006 Luhmann N (1996) Soziale Systeme. Grundlagen einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp, Frankfurt am Main Osterwalder A, Pigneur Y (2011) Business Model Generation. Ein Handbuch für Visionäre, Spielveränderer und Herausforderer. Campus, Frankfurt am Main Osterwalder A, Pigneur Y (2015) Value Proposition Design. Entwickeln Sie Produkte und Services, die Ihre Kunden wirklich wollen. Campus, Frankfurt am Main Rüegg-Stürm J (1989) Unternehmensentwicklung im Spannungsfeld von Komplexität und Ethik. Eine permanente Herausforderung für ein ganzheitliches Management, Veröffentlichungen der Hochschule St. Gallen für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften. Schriftenreihe Betriebswirtschaft, Bd 15. Haupt, Bern Rüegg-Stürm J, Grand S (2015) Das St. Galler Management-Modell, 2., vollst. überarb. u. grundlegend weiterentwickelte Aufl. Haupt, Bern Simon F (2007) Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus, 2. Aufl. Carl-Auer, ­Heidelberg Simon F (2014) Einführung in die (System-)Theorie der Beratung (Carl-Auer Compact). Carl-­ Auer, Heidelberg Simula H, Ahola T (2014) A network perspective on idea and innovation crowdsourcing in industrial firms. Ind Mark Manag 43(3):400–408 Sloane P (Hrsg) (2011) A guide to open innovation and crowdsourcing. Expert tips and advice, 1. Aufl. Kogan Page, London

Digitale Wertschöpfung durch Crowd Services: Neue Formen des Kundensupports am Beispiel Mila und Swisscom

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Volkmar Mrass und Christoph Peters

Zusammenfassung

Die digitale Transformation verändert gegenwärtig die Art und Weise, wie Arbeit erbracht und organisiert wird. Zwei Trends sind dabei besonders signifikant: Die „Plattform-Ökonomie“, mit Crowdworking-Plattformen als einer ‚Spielart‘, und die „Sharing-Economy“. In diesem Beitrag zeigen wir am Beispiel der Crowd­ working-Plattform Mila und ihres Kunden und 51-prozentigen Eigentümers Swisscom AG, wie Unternehmen die Crowd für Wertschöpfung einsetzen, ihren Kundensupport ausbauen und damit Vorteile für alle Beteiligten generieren können. Die Plattform Mila verbindet in einem neuartigen Ansatz das Paradigma der Crowd, insbesondere die Nutzung einer Vielzahl von Leistungserbringern, mit den Prinzipien der Sharing-Economy, vor allem dem Einbezug der Kunden als Produzenten von Dienstleistungen. Basierend auf Experten-Tiefen-­Interviews mit Verantwortlichen von Mila und Swisscom analysieren wir in diesem Beitrag dieses neuartige Arbeitssystem und leiten Handlungsempfehlungen für Unternehmen ab. Schlüsselwörter

Crowdworking-Plattformen · Crowd Services · Kundensupport · Plattform-Ökonomie · Sharing Economy Vollständig überarbeiteter und erweiterter Beitrag basierend auf Mrass und Peters (2018) Digitale Wertschöpfung durch Crowd Services: Neue Formen des Kundensupports am Beispiel Mila und Swisscom, Tagungsband zur Multikonferenz Wirtschaftsinformatik (MKWI) 2018, Paul Drews, Burkhardt Funk, Peter Niemeyer und Lin Xie (Hrsg.), S. 448. V. Mrass (*) Universität Kassel, Kassel, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Peters Universität St. Gallen, St. Gallen, Schweiz Universität Kassel, Kassel, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Robra-Bissantz, C. Lattemann (Hrsg.), Digital Customer Experience, Edition HMD, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1_19

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V. Mrass und C. Peters

19.1 Einführung Die Digitalisierung verursacht gegenwärtig tief greifende Veränderungen auf allen Ebenen. Neben Auswirkungen auf Individuen und deren Freizeit verändert sie auch die Art und Weise, wie Arbeit erbracht wird. Organisationen wie Unternehmen passen gegenwärtig ihre Strategien an, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Digitale Technologien sind dabei wichtige Treiber der Transformation der Arbeitswelt sowie von Produktivität und Wachstum (Brynjolfsson und McAfee 2011). Eine große Anzahl innovativer, digitaler neuer Geschäftsmodelle der letzten Jahre basiert dabei auf dem Plattformprinzip, häufig ist auch von „Plattformökonomie“ die Rede. Eine „Spielart“ hiervon sind Crowdworking-Plattformen: Internetbasierte Plattformen, auf denen bezahlte Arbeiten mittels eines offenen Aufrufs an eine größere Anzahl an potenziellen Bearbeitern („Crowd“) ausgeschrieben werden; diese Plattformen übernehmen als Intermediäre dabei die Abwicklung, Koordination und Steuerung. Gerade für Ökonomien, die historisch eine starke industrielle Basis haben – wie das bei Deutschland als größter Volkswirtschaft Europas und viertgrößter Volkswirtschaft der Welt der Fall ist – gilt es, sich rechtzeitig auf diese Entwicklung einzustellen, um nicht weiter Boden gegenüber im Bereich plattformbasierter Geschäftsmodelle führenden Nationen wie den USA zu verlieren. Die Wettbewerbsfähigkeit ganzer Länder hängt davon ab, wie erfolgreich sie dieser Entwicklung begegnen können (Mrass et al. 2017a). Ausgehend von der Erkenntnis, dass auf technologischen Entwicklungen basierende neue Geschäftsmodelle langfristig nicht verhindert werden können  – „was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert“ (Kollmann und Schmidt 2016) – ist ein erster wichtiger Schritt hierzu eine intensive Untersuchung und ein tiefes Verständnis der Funktionsweise solcher Crowdworking-Plattformen. Die Anzahl der Unternehmen, die sich solcher Crowdworking-­Plattformen zur Aufgabenerledigung bedienen, wächst, die Art der Arbeiten, die hierdurch erledigt werden können, ebenfalls (Mrass und Peters 2017). Gut ein Jahrzehnt nach der Einführung und Prägung des Begriffes durch Jeff Howe im Jahr 2006 kann heute eine Vielzahl an Tätigkeiten entlang der Wertschöpfungskette eines Unternehmens mit Hilfe der „Crowd“ abgewickelt werden (Mrass und Peters 2017). Ein im deutschsprachigen Raum neuartiger Bereich in diesem Leistungsportfolio ist der der Crowd Services für den Kundensupport. Unternehmen bedienen sich dabei mittels Crowdworking-Plattformen als Intermediären einer Vielzahl an Bearbeitern, um Beratungs- und Vertriebsleistungen rund um ihre Produkte erbringen zu lassen. Dabei kommt es nicht zwingend zu einer „Kannibalisierung“ existierender Arbeit; es entstehen vielmehr neue Serviceangebote, die sich den Prinzipien der Sharing-Economy bedienen und für die betreffenden Unternehmen und ihre Kunden zusätzlichen Mehrwert schaffen. Ein interessantes Beispiel einer solchen Plattform ist Mila (www. mila.com) mit Sitz in Zürich sowie einem Deutschland-­Standort in Berlin. Das Unternehmen Mila bietet seinen Kunden – vornehmlich aus der Elektronik, Energieversorgungs- und Telekommunikationsbranche – Services mit Schwerpunkt auf technischer Unterstützung durch seine Crowd, insbesondere seiner sogenannten „Friends“. Bei diesen handelt es sich um technikaffine Individuen, die sich mit Produkten des jeweiligen Kundenunternehmens gut auskennen, dieses im Rahmen

19  Digitale Wertschöpfung durch Crowd Services: Neue Formen des …

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e­ iner Prüfung durch Mila nachgewiesen haben und zumeist in ihrer Freizeit eine Art „technische Nachbarschaftshilfe“ erbringen. Die Crowd der Mila Friends lässt sich nach der Zielgruppe des beauftragenden Unternehmens in weitere Sub-­Communities einteilen. Anhand einer solchen, den Swisscom Friends der Crowdworking-Platt­ form Mila, gehen wir in diesem Beitrag auf eine neue Form des Kundensupports von Unternehmen wie diesem führenden Schweizer Telekommunikationsanbieter und die daraus ableitbaren Handlungsempfehlungen näher ein. Unsere Einblicke und Erkenntnisse hierzu resultieren neben Gesprächen mit Experten aus Unternehmen (u. a. im Rahmen eines Workshops am 21. März 2017 in München) und Verbänden (u. a. zweier großer deutscher Gewerkschaften im Rahmen eines gemeinsamen Projektes), Beiträgen aus öffentlich zugänglichen Quellen (Presseberichten und -mitteilungen, u.  a. von der Nachrichtenagentur Reuters), Brancheninformationen (u. a. von TechCrunch) und dem Internet-Auftritt von Mila nicht zuletzt aus intensiven, ein- bis eineinhalbstündigen Tiefen-Interviews mit Verantwortlichen von Mila und Swisscom: So am 27. Januar 2017 mit Mila-CEO Christian Viatte (telefonisch) und am 14. Februar 2017 mit dem Swisscom-Head of Customer Field Service (und damit Chef von rund 1450 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern) Francesco Castelletti (vor Ort bei Swisscom in Bern). Die Interviews wurden mittels eines semi-strukturierten Interview-Leitfadens geführt, der genügend Raum dafür ließ, bei Bedarf weitere Nachfragen zu stellen. Die Interviews wurden mit Einverständnis der Interviewten aufgezeichnet, anschließend transkribiert und ausgewertet. Da es sich hierbei um ein neuartiges Phänomen handelt, lag unser zentrales Erkenntnisinteresse darin, mittels der Case Study Methode (Yin 2014) explorativ zu untersuchen, wie Mila als Crowdworking-Plattform das Angebot des Kundensupports von Swisscom erweitert, dieses Arbeitssystem (Surowiecki 2004) inklusive der Rollenverteilung zwischen Mila und Swisscom zu analysieren und basierend darauf erste Handlungsempfehlungen für Unternehmen abzuleiten. Die zentrale Forschungsfrage lautet dementsprechend: „Wie erweitert die Crowd Service-Plattform Mila den Support für die Privatkunden von Swisscom und welche ersten Handlungsempfehlungen lassen sich daraus für Unternehmen ableiten?“ Dieser Beitrag hat folgenden weiteren Verlauf: Nach dieser Einführung (Abschn. 19.1) wird die Crowd Service-Plattform Mila inklusive deren Zusammenspiel mit Swisscom vorgestellt (Abschn.  19.2). Es folgt eine Analyse dieses Arbeitssystems (Abschn. 19.3) und die Darstellung der Vor- und Nachteile solcher Crowd Services (Abschn. 19.4). Schließlich werden konkrete Handlungsempfehlungen für Unternehmen abgeleitet und Schlussfolgerungen für die Zukunft gezogen (Abschn. 19.5).

19.2 Neue Formen des Kundensupports Bei Mila handelt es sich um eine relativ ‚junge‘ Crowdworking-Plattform, die im Jahr 2013 als Spin-off des Softwareherstellers Coresystems in der Schweiz gegründet und im Jahr 2014 auch in Deutschland gestartet ist. Das Unternehmen verfügt über eine rund 4000-köpfige Crowd (in der Mehrzahl in der Freizeit tätige Friends, in der Schweiz aber auch hauptberuflich tätige Profis), die etwa 4000 Serviceaufträge pro

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Monat bearbeitet und in 150 Städten aktiv ist. Mila selbst hat 26 eigene Mitarbeiter, die sich auf die Standorte Zürich (Sitz) und Berlin verteilen. Ende 2015 übernahm das Schweizer Telekommunikationsunternehmen Swisscom AG die Mehrheit an Mila. Mila vermittelt technik-affine Mitglieder der Crowd an Endkunden, die bei der Einrichtung ihrer Technik selbst nicht weiterkommen, ein technisches Problem haben oder schlichtweg nicht die notwendige Zeit aufbringen wollen, um sich damit zu beschäftigen. Der persönliche Kontakt zwischen diesen Friends von Mila und den Kunden der Plattform beziehungsweise der Unternehmen wird online vermittelt, dabei wird auf zeitliche Flexibilität hohen Wert gelegt. Die Reaktionszeit ist gering, gemäß Mila werden über 40 Prozent der Aufträge innerhalb einer Minute angenommen. Innerhalb von 10 Minuten sind es 70 Prozent, innerhalb einer Stunde über 90 Prozent und nach drei Stunden sind 98 Prozent der Aufträge verteilt. Eine Service-Anfrage eines Kunden wird an die geografisch relevante Crowd der Mila Friends in der Nähe (in der Regel in einem Umkreis von 30 Kilometern) ausgeschrieben, was eine zeitnahe Anreise und damit verbunden geringere Kosten ermöglicht. Derjenige Crowd Worker (Friend), der den Job zuerst annimmt, führt ihn auch aus. Neben dem Zugang per PC gibt es seit Februar 2017 auch eine neue App für Smartphones mit integriertem Service-Bot und On-­Demand-­Funktion, die eine Buchung von Services zu einem vom Kunden bestimmten Wunschtermin inklusive der Möglichkeit, „sofort“ (i. d. R. 10 bis 60 Minuten) technische Unterstützung zu erhalten, beinhaltet. Der Schwerpunkt der Services liegt im Bereich der Installation, der Problembehebung oder Produkterläuterung zu TV-Geräten, Computern und Notebooks, Internet/Netzwerken, mobilen Endgeräten, Audio/Hifi oder SmartHome-Anwendungen. Mila nennt für den jeweiligen Service Orientierungspreise, die Vereinbarung des endgültigen Preises erfolgt jedoch direkt zwischen dem Mila Friend und dem Kunden und kann davon abweichen. Weitere Leistungen sind in Abstimmung zwischen den beiden Vertragsparteien ebenfalls möglich. Die Buchung, Abwicklung und Steuerung der jeweiligen Services erfolgt über die Mila-Plattform als Intermediär und Vermittler zwischen der Crowd und den Kunden. Der geografische Schwerpunkt der erbrachten Services liegt gegenwärtig in der Schweiz und Deutschland. Swisscom nutzt Mila als zusätzlichen Kanal zum eigenen Kundensupport sowie dem Point of Sale (POS) für die Erbringung von Services rund um die Produkte. Je nach Anlass und Ziel wird dabei zwischen den jeweiligen Vertriebskanälen der passende Service empfohlen: Erweist sich beispielsweise ein Problem vor Ort als zu komplex und nicht durch Mila Friends zu beheben, wird auf den regulären Swisscom Kundendienst verwiesen. Umgekehrt sind die Swisscom Friends in das Serviceangebot des Unternehmens als ein Zugangskanal integriert.

19.3 Analyse des Arbeitssystems Das Zusammenspiel der Beteiligten auf Seiten der Crowdworking-Plattform Mila, deren Crowd, Swisscom sowie deren Endkunden lässt sich gut als Arbeitssystem anhand Alter‘s Work System Frameworks (Alter 2013) analysieren.

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­ udem lässt sich am Beispiel Mila und ihres Kunden (und zugleich 51-prozentiZ gen Eigentümers) Swisscom gut aufzeigen, wie Unternehmen heute das Prinzip der „Wisdom of Crowds“ (Surowiecki 2004) nutzen können, um ihren Kundensupport auszubauen. Und dabei zugleich dem Trend der On-Demand-Economy, die je nach Bedarf kurzfristig zu erbringende Services erfordert, sowie der Sharing-Economy, die Kunden zugleich zu Konsumenten und Produzenten („Prosumenten“) macht und ungenutzte Ressourcen teilt, zu begegnen. Für die Kunden von Swisscom erfolgt durch die Bereitstellung der in Abschn. 19.2 vorgestellten Beauftragungsmöglichkeiten über die Internetauftritte von Mila und Swisscom sowie über die Mobile App eine Erweiterung ihres Supports. Sie erhalten damit weitere Kommunikationskanäle und digitale Zugangsmöglichkeiten zum Unternehmen. Das Unternehmen Swisscom gewinnt auf Grund dieses Angebotes auch insbesondere junge, technikaffine Kundengruppen hinzu, die die Abwicklung von Services über digitale Kanäle auch bereits aus anderen Lebensbereichen kennen. Zugleich bedeutet dieses erweiterte digitale Angebot auch für die Teil-Kundengruppe der Swisscom Friends eine Erweiterung ihrer Rolle, da diese nun neben ihrer Funktion als Konsumenten der Produkte und Services von Swisscom gleichzeitig auch zu Mitwirkenden am Leistungserstellungsprozess werden. Letzterer wird für die Swisscom Friends ebenfalls digital über die Crowdworking-Plattform Mila koordiniert. Auf Basis einer Analyse des Arbeitssystems („Work System“) der Crowdworking-­ Plattform Mila mittels des Work System Frameworks von (Alter 2013, S 78) ermitteln wir im Folgenden nun Vor- und Nachteile der Nutzung solcher Crowd Services. Wir wählen dieses Framework und die dahinterliegende Work System Theorie von Alter (2013) als Instrumente, da beide eine sehr gute Basis für die Analyse des Zusammenspiels zwischen Teilnehmenden (vor allem Mila Friends, teilweise aber auch die Kunden), Information (beispielsweise das Wissen über Swisscom-­ Produkte) und Technologien (beispielsweise die Mila Mobile App) zur Durchführung der Prozesse und Aktivitäten (beispielsweise Installation, Problembehebung und Produktberatung) bieten. Das Work System Framework ermöglicht insbesondere auch die Analyse von soziotechnischen Systemen wie demjenigen, in das Mila und Swisscom eingebunden sind. Um die Analyse zu strukturieren, führen wir diese und die Ermittlung der Vorund Nachteile entlang der internen Kernelemente des Work System Frameworks Prozesse und Aktivitäten, Teilnehmende, Information und Technologien durch (Infrastruktur, Strategien und Umwelt bilden die für jedes Unternehmen bestehenden Rahmenbedingungen und sich nicht Teil des Work Systems). Sowie zusätzlich auch entlang der in diesem Fall ebenfalls innerhalb des Work Systems befindlichen Kunden (da Kunden hier gleichzeitig auch Teilnehmende sind, die bei der Service-­ Erbringung mitwirken und die Services erst im Zusammenspiel zwischen Crowd und Kunden Gestalt annehmen) und Produkte & Services (siehe Abb.  19.1). ­Basierend auf den ermittelten Vor- und Nachteilen und zusätzlich unseren in Gesprächen mit Experten (Abb.  19.1) gewonnenen Erkenntnissen leiten wir im Anschluss daran konkrete Handlungsempfehlungen für Unternehmen ab.

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Abb. 19.1  Darstellung des Arbeitssystems/Work Systems (fett markierter Bereich) von Mila und dem Kunden Swisscom in Anlehnung an Alter’s Work System Frameworks. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Alter 2013, S. 78. Dieser Beitrag basiert auf einem (unveröffentlichten) Paper, das für Track 8 der Multikonferenz Wirtschaftsinformatik (MKWI) 2018 angenommen wurde)

19.4 Crowd Kundensupport: Vor- und Nachteile der Nutzung Der Ausbau des Kundensupports mittels Crowd Services und Intermediären wie der Crowdworking-Plattform Mila birgt für Unternehmen Vor- und Nachteile, die hier nun stichpunktartig dargestellt und entlang der Elemente des Arbeitssystems/Work System Frameworks gegliedert und erläutert werden. Kunden. An der Spitze des Work System Frameworks und im Mittelpunkt der Anstrengungen von Unternehmen stehen die Kunden. Die Kunden von Swisscom erhalten auf Grund der großen Anzahl an möglichen Bearbeitern aus der Mila-­ Crowd und der Tatsache, dass diese auch abends und an Wochenenden zur Verfügung stehen, kurzfristig Unterstützung. In der Regel wird ein Auftrag  – siehe Abschn.  19.2  – spätestens innerhalb von 3 Stunden angenommen. Mittels der Smartphone-App besteht zudem die Möglichkeit der Buchung von kurzfristigen Services, bei denen eine technische Unterstützung innerhalb von 10 bis 60 Minuten erfolgt. Ein wesentlicher Vorteil für die Kunden im Vergleich zu von internen Mitarbeitern erbrachten Services ist also die Geschwindigkeit der Service-Erbringung. Swisscom kann seinen Kunden mittels der Crowd Services auch zu Zeiten anbieten, die außerhalb der regulären Kundendienstzeiten liegen. Aus der Tatsache, dass die Mila Friends in der Regel aus kurzer Entfernung anreisen und diese Services meist nebenher in ihrer Freizeit erbringen, resultiert ein weiterer Vorteil für die Kunden

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von Swisscom: Im Vergleich zu den durch interne Mitarbeiter von Swisscom erbrachten Services sind die Kosten in diesem Fall für sie deutlich geringer. Neben diesen Vorteilen, die Unternehmen ihren Kunden bieten können, beinhaltet der Einsatz der Crowd auch Nachteile: Die Einheitlichkeit des Auftritts beim Kunden – Stichwort „Corporate Identity“ – lässt sich für Unternehmen mit eigenen Beschäftigten in der Regel besser gewährleisten als mit einer relativ heterogeneren externen Crowd. Interne Mitarbeiter sind zudem mit der Kultur und Vorgehensweise eines Unternehmens besser vertraut als externe Crowd Worker und können damit vor Ort beim Kunden stärker im Sinne des Unternehmens handeln. Produkte & Services. Zentrales Ergebnis der Anstrengungen und Tätigkeiten von Unternehmen sind Produkte und Services. Swisscom augmentiert mittels der Mila Crowd, die über ein hohes technisches Wissen verfügt, die bisherigen Services rund um Produkte wie Internet, Smartphones, Tablets, TV oder Wearables. Das Unternehmen verfügt mittels Mila Friends über einen weiteren digitalen Zugangskanal, über den Services rund um diese Produkte beauftragt werden können. Wie oben bereits geschildert, sind die Kosten für diese Services geringer als bei der Leistung durch interne Mitarbeiter. Damit ist dieses Angebot nach Angabe der Verantwortlichen von Mila und Swisscom auch für Kunden attraktiv, die nicht bereit sind, für diese Art von Services die regulär anfallenden Preise zu bezahlen. Gerade für Tätigkeiten, die – durch die hauptamtlichen Beschäftigten eines Unternehmens erbracht – relativ aufwändig und teuer wären und daher von Kunden eher gemieden werden, wird eine bestehende Lücke im Service-Angebot geschlossen. Swisscom als Unternehmen mit Wurzeln in der Schweiz kann zudem durch Einbindung der Crowd auch Services für seine Produkte in Ländern anbieten, in denen es nicht oder nur in sehr geringem Umfang vertreten ist und damit die Präsenz seiner Marke erhöhen. Das Angebot einer neuen Kundenschnittstelle, über die Serviceaufträge rund um die Produkte getätigt werden können, und die geografische Ausweitung des Vertriebsgebietes sind also weitere Vorteile für Unternehmen bei der Nutzung dieses Modells. Auf der anderen Seite werden Crowd Worker/Friends, obwohl keine Angestellten des Unternehmens, sondern selbstständig tätig, bei der Erbringung der Services dennoch oft als Unternehmensrepräsentanten wahrgenommen. Das kann sich insbesondere bei Fehlern bei der Erbringung der Services, mangelnder Kompetenz oder Unfreundlichkeit der Crowd Worker negativ auf die Kundenzufriedenheit und damit die Marke und das Unternehmen auswirken. Das Unternehmen hat hierauf jedoch gleichzeitig nur begrenzte Einfluss- und Steuerungsmöglichkeiten. Die Erbringung der Services durch externe Crowds kann außerdem zu einem Verlust an potenziellem Umsatz für das jeweilige Unternehmen führen. Das gilt insbesondere, wenn es sich nicht um Services handelt, die weitgehend komplementär sind, weil es zu den regulären Preisen und Konditionen des Kundendienstes des jeweiligen Unternehmens keinen Bedarf/Markt gäbe. Wenn es sich also um Services handelt, die der Kunde auch von internen Mitarbeitern des Unternehmens beziehen könnte, entgeht dem Unternehmen ein Teil des potenziellen Umsatzes. Prozesse & Aktivitäten. Die Erbringung der Leistungen eines Unternehmens ist mit Prozessen und Aktivitäten verbunden, für deren zustande kommen wiederum

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Teilnehmende, Informationen und Technologien notwendig sind. Im Kontext dieser Prozesse und Aktivitäten ist bezogen auf Mila festzustellen, dass ein vermittelter „Friend“ auf Grund der durch die Plattform gesteuerten Auswahl nach räumlicher Nähe zum Kunden lange Anfahrtswege vermeidet. Dies erhöht die Effizienz und Schnelligkeit der Leistungserbringung. Gleichzeitig erfolgt eine passgenauere Konzentration auf die jeweiligen lokalen Gegebenheiten. Daraus lässt sich der Vorteil ableiten, dass Unternehmen ihre Prozesse und Aktivitäten zur Erbringung von Services durch Einbindung der Crowd beschleunigen, effizienter gestalten und zielgerichteter auf die Erfordernisse des Marktes und lokale Erfordernisse ausrichten können. Andererseits sind die Kontinuität und Verfügbarkeit einer gut qualifizierten Crowd für die Abwicklung der Prozesse und Aktivitäten essenziell. Crowdworking-­ Plattformen als Intermediäre können diese aber nicht garantieren. In Zeiten, in denen die Crowd beispielsweise durch den Einsatz für andere Unternehmen stark gefordert ist, mag die Arbeit für das eigene Unternehmen leiden. Auch der umgekehrte Fall, dass sich Mitglieder der Crowd abwenden, da nicht genügend Aufträge eingehen, und ihre Arbeitskraft lieber anderen Crowdworking-Plattformen und den sie beauftragenden Unternehmen zur Verfügung stellen, ist möglich. Teilnehmende. Bei Teilnehmenden handelt es sich um Personen (oder auch Maschinen), welche die Arbeit innerhalb eines Arbeitssystems erbringen. Neben den Kunden von Swisscom, die an der Erbringung der Services mitwirken und daher zu den Teilnehmenden gehören, sind das hier insbesondere die Mila Friends. Diese sind selbstständig tätig und nicht bei Mila oder Swisscom angestellt. Für die Mila Friends fallen also auf Seiten von Mila und Swisscom keine Löhne oder Sozialabgaben an, da deren Bezahlung (und damit indirekt auch die darin enthaltene Provision für die Vermittlungsplattform) von den Kunden übernommen wird. Daraus lässt sich der Vorteil für Unternehmen ableiten, durch Einbindung einer Crowd über eine Vermittlungsplattform Services rund um ihre Produkte anbieten zu können, für die keine Bezahlung in Form von Löhnen oder Sozialabgaben anfällt, da diese direkt von den Kunden übernommen wird. Gleichzeitig kann dem Unternehmen dabei – wie bereits dargestellt – auch potenzieller Umsatz entgehen. Hinzu kommt, dass das Kompetenzniveau solcher Individuen  – obwohl dieses durch die Crowdworking-Plattform im Vorfeld geprüft wird – in der Regel dennoch deutlich heterogener ist als dasjenige der nach einheitlichen Kriterien und Standards geschulten eigenen Beschäftigten. Der Einfluss auf und die Kontrolle über eigene Beschäftigte ist nicht zuletzt auf Grund des Direktionsrechts deutlich höher, ebenso die Sanktionierungs-Möglichkeiten bei Fehlverhalten. Auch kann der Einsatz externer Crowds zu Verunsicherung bei den internen Mitarbeitern bis hin zu im schlimmsten Fall Jobverlustängsten/inneren Kündigungen führen. Information. Für das Erstellen von Produkten oder die Erbringung von Services werden Informationen genutzt. Im Fall der Swisscom Friends von Mila werden beispielsweise gute Kenntnisse der Produkte benötigt. Die Swisscom Friends von Mila sind meist selbst Kunden von Swisscom, haben sich also oft auch privat freiwillig für das jeweilige Produkt entschieden. Daraus lässt sich für Unternehmen folgender Vorteil ableiten: Der Einsatz solcher Crowds, die die Produkte des Unternehmens

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selbst nutzen, ohne dafür beispielsweise auf Grund der Tätigkeit als interne Mitarbeiter eine gewisse „Verpflichtung“ zu haben, bringt ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit bei der Kommunikation von Informationen/Empfehlungen für das Unternehmen mit sich. Die Mitglieder der Crowd sind damit gute und sehr glaubwürdige Markenbotschafter. Trotz dieses hohen Maßes an Glaubwürdigkeit verfügen externe Crowd Worker im Durchschnitt nicht über die gleichen Informationsquellen wie interne Mitarbeiter und damit oft auch nicht über gleich gute Kenntnisse der Produkte eines Unternehmens. Dieses kann sich negativ auf die Qualität der durch diese Crowd Worker im Auftrag des Unternehmens erbrachten Services und damit auf den Geschäftserfolg des Unternehmens auswirken. Technologien. In der heutigen Arbeitswelt bilden Technologien meist die Basis für die Abwicklung von Prozessen und Aktivitäten. In diesem Fall sind das beispielsweise die Internetauftritte von Swisscom und Mila, über die Kunden Leistungen beauftragen können, oder die mobile Mila-App. Gemäß Einschätzung von Swisscom wird die Bedeutung digitaler Kanäle wie der über die Plattform Mila langfristig im Vergleich zu Call Centern oder physischen Point of Sale (POS)-Kanälen vor Ort deutlich zunehmen. Mittels Mila kann Swisscom zudem eine Beschleunigung der Bearbeitung von Anfragen erreichen, da nun deutlich mehr potenzielle Bearbeiter zur Verfügung stehen und eine effiziente zentrale Steuerung der durch die Crowd erbrachten Services stattfindet. Daraus lässt sich der Vorteil ableiten, dass Unternehmen durch die Nutzung von auf Basis von Plattform-Technologien erbrachten Services Vorteile im Bereich der Beschleunigung der Abwicklung und der Effizienz der Steuerung des Arbeitssystems erzielen können. Je nach Kundengruppe, Produkt und Unternehmen kann eine Abwicklung und Steuerung der Services durch solche Technologien aber auch nur die zweitbeste Lösung sein. So ist beispielsweise gerade bei technischen Unterstützungsleistungen wie bei Mila und Swisscom davon auszugehen, dass diese auch von vielen Kunden beauftragt werden, die weniger technikaffin sind (z. B. ältere Kunden). Gerade für diese Zielgruppe ist fraglich, ob beispielsweise die Beauftragung von Services per App der beste Zugangskanal ist.

19.5 Fazit und Diskussion Die in diesem Beitrag erfolgte Exploration und Analyse der im deutschsprachigen Raum neuartigen Crowd Services-Plattform Mila und des Zusammenspieles mit deren Kunden und Eigentümer Swisscom AG liefert interessante Einblicke, die die Vor- und Nachteile dieses Modells sichtbar machen. Auf Basis dieser Vor- und Nachteile leiten wir nun im Folgenden aus unserer Sicht besonders essenzielle, konkrete Handlungsempfehlungen für Unternehmen, die Crowdworking-Plattform für die Vermittlung von Crowd Services nutzen möchten, ab: Frühzeitig über den Einsatz von Crowd Services entscheiden. Die Anzahl der Unternehmen, die Crowdworking-Plattformen nutzt, steigt. Und gleichzeitig auch der dabei erzielte Umsatz: Die in Deutschland mit Sitz oder einem (physischen)

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Standort vertretenen Crowdworking-Plattformen konnten ihren Umsatz im Jahr 2016 im Vergleich zum Vorjahr im Durchschnitt um rund 90 Prozent erhöhen (Mrass und Peters 2017). Das Prinzip der Erbringung von über Crowdworking-­Plattformen beauftragten Services „von Kunden für Kunden“ scheint auf Grund der oben skizzierten Vorteile aktuell auch im deutschsprachigen Raum Zulauf zu bekommen: So hat am 17. Januar 2017 die Plattform „iAdvize“ mit Hauptsitz im französischen Nantes den Launch ihrer neuen Service-Plattform „ibbü“ (www.ibbu.com/de) für Deutschland bekannt gegeben, die Crowd Services für verschiedene Branchen vermittelt. Hält dieser Trend an und wollen immer mehr Unternehmen solche Crowd Services nutzen, dann kommt es nach Einschätzung der Autoren dieses Beitrages mittelfristig zu einer Knappheit an verfügbaren Crowd Workern. Es gilt daher für Unternehmen, frühzeitig über den Einsatz von Crowd Services zu entscheiden. Bei einer Entscheidung für einen solchen Einsatz kann eine ‚First-Mover-Advantage‘ gegenüber Mitwettbewerbern erzielt sowie frühzeitig eine eigene Crowd aufgebaut und an sich gebunden werden. Neue Kundenschnittstellen in die bisherigen Kanäle integrieren. Ist die Entscheidung gefallen, Crowd Services zu nutzen, gilt es, diese im Sinne einer effizienten Multikanalstrategie in die Gesamtheit der Vertriebskanäle des Unternehmens wie Apps, Call Center, Internet-Auftritt, Ladengeschäfte, u. v. m., sinnvoll zu inte­ grieren. Für das Beispiel Swisscom haben wir in den obigen Abschnitten gezeigt, dass durch die Nutzung der Crowdworking-Plattform Mila weitere digitale Kundenzugangswege entstehen und sind auf die daraus resultierenden Vorteile eingegangen. Ein Grund für das erfolgreiche Zusammenspiel von Mila und Swisscom ist, dass je nach Bedarf verschiedene Kanäle und Beauftragungsmöglichkeiten für Services verfügbar sind (Mrass und Peters 2017). So besteht beispielsweise auf dem Internet-Auftritt für Privatkunden von Swisscom die Möglichkeit, per Link direkt auf den Internet-Auftritt von Mila zu gehen und dort dann Services über Swisscom Friends zu beauftragen. Ein weiterer digitaler Zugangsweg resultiert aus der neuen Mila Mobile App. Eine enge Integration der verschiedenen („analogen“ und digitalen) Zugangswege hat zudem das Potenzial, den erwähnten Nachteil im Bereich „Corporate Identity“, der aus einem nicht als einheitlich wahrgenommenen Auftritt beim Kunden resultiert, zu begrenzen. Externe mit internen Crowds (eigenen Mitarbeitern) eng verzahnen. Bei der Darstellung der Nachteile haben wir deutlich gemacht, dass durch den Einsatz externer Crowds in bereits bestehenden Vertriebsgebieten eine Verunsicherung der internen Mitarbeiter bis hin zu Jobverlustängsten stattfinden kann. Durch eine enge Verzahnung der externen Crowd Worker mit den internen Mitarbeitern eines Unternehmens können solche Verunsicherungen reduziert oder sogar weitgehend vermieden werden (Mrass et  al. 2018b). Insbesondere wenn deutlich wird, dass diese Crowd schwerpunktmäßig komplementäre Services bietet und bestehende Servicelücken im Angebot des Unternehmens schließt. Unternehmen sollten also Möglichkeiten einer engen Verzahnung externer und interner Crowds prüfen und damit ihre internen Mitarbeiter ‚abholen‘. Kontinuierlich in die Motivation der Crowd investieren. Die Erkenntnisse der Autoren dieses Beitrages im Rahmen ihrer allgemeinen Forschung zu Crowdworking-­

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Plattformen (siehe u. a. Mrass und Peters 2017; Mrass et al. 2018a, b) zeigen eine große Herausforderung für diese Intermediäre: Eine engagierte, gut qualifizierte und hoch motivierte Crowd kontinuierlich zu gewährleisten und diese langfristig an sich zu binden. Ebenso wie Unternehmen Crowd Worker „on demand“ beauftragen können und für sie dabei im Gegensatz zu internen Mitarbeitern keine Fixkosten verbunden sind, können sich umgekehrt auch Crowd Worker ohne allzu große Wechselkosten (vom Verlust der auf einer Crowdworking-Plattform gewonnenen Reputation abgesehen) einer anderen Plattform beziehungsweise auf der gleichen Plattform den Aufträgen anderer Unternehmen zuwenden. Zu berücksichtigen ist zudem, dass eine große Anzahl an Crowd Workern auf den jeweiligen Plattformen inaktiv ist. Maßnahmen wie Prämien für besonders gute Beratungen, Reputationsmechanismen wie beispielsweise Sterne-Klassifizierungssysteme, die vorzeitige Bereitstellung neuer Produkte vor Markteinführung zu Testzwecken oder Umsatzbeteiligungen können helfen, die Loyalität der Crowd und ihre Motivation für die Erbringung von Services für das jeweilige Unternehmen zu erhalten oder zu steigern (Mrass et al. 2018a). Die Crowd für eine Erweiterung des Vertriebsgebietes nutzen. Anhand des Beispiels Mila lässt sich zeigen, dass Unternehmen das eigene Vertriebsgebiet durch den Einsatz von Crowd Services schnell und kostengünstig erweitern können. Und dass Unternehmen damit auch in Regionen, in denen sie bisher nicht oder nur wenig präsent sind, mittels der Crowd Services erbringen lassen und den Vertrieb ihrer Produkte auch außerhalb des bisherigen Geschäftsgebietes unterstützen können. Insbesondere wenn die Strategie eines Unternehmens eine Expansion in kurzer Zeit vorsieht, sind Crowd Services damit eine kostengünstige und schnell implementierbare Alternative zum oft langwierigen und mühsamen Aufbau eines eigenen internen Vertriebs. Vor allem auch um erst einmal zu testen, wie die Produkte und Services in neuen potenziellen Vertriebsregionen ankommen, ist ein schneller Rollout von Services mittels des Einsatzes von Crowds gut geeignet. Gleichzeitig kann ebenso bei Bedarf ein zeitnaher kostengünstiger „Rollback“ erfolgen, wenn die Erfahrungen darauf hindeuten, dass die jeweilige Region für die eigenen Produkte und Services nicht Erfolg versprechend ist. In diesem Beitrag haben wir anhand des Beispiels der Crowdworking-Plattform Mila und ihres Kunden Swisscom gezeigt, dass Crowd Services eine gute Ergänzung und Erweiterung des bestehenden Service-Angebotes eines Unternehmens darstellen können. Sie liegen im Trend der Plattform- und der Sharing-Economy und tragen der Tatsache Rechnung, dass Kunden einerseits immer öfter zu Produzenten von Services werden und andererseits bedarfsgerechte Services ‚auf Knopfdruck‘ erwarten. Crowd Services bieten zudem Chancen, den aus abnehmender Kundenloyalität und schnellen Wechseln zu anderen Anbietern entstehenden ­ Herausforderungen zu begegnen. Gleichwohl es Maßnahmen bedarf, um potenziellen Nachteilen entgegenzuwirken, können aus dem Einsatz von Crowd Services erhebliche Vorteile in den Bereichen Effizienz, Geschwindigkeit, Kosten, Reichweite und Glaubwürdigkeit resultieren. Das Beispiel Mila (die durchschnittliche Bewertung beträgt nach Unternehmensangaben 4,8 von 5 möglichen Punkten und 92 Prozent der Kunden würden wieder beauftragen) zeigt zudem, dass die ­Zufriedenheit der Kunden auch bei Einsatz solcher

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Crowd Services sehr hoch sein kann. Der Trend der Nutzung der Crowd durch Unternehmen wird auch in Zukunft anhalten und sich auch auf immer komplexere Arbeit ausdehnen (Mrass et al. 2017b). Die obigen Punkte stellen erste wichtige konkrete Handlungsempfehlungen für Unternehmen dar, die ihren Kundensupport verbessern, Wertschöpfung erhöhen und aus der Nutzung von Crowd Services mögliche Wettbewerbsvorteile generieren wollen. Crowdworking-Plattformen für die Erbringung von Supportleistungen der Art „von Kunden für Kunden“ bieten erhebliches Potenzial, das für verschiedene Arten von Arbeit innerhalb diverser Branchen genutzt werden kann. Unternehmen, die potenziell von dem Einsatz solcher Crowd Services profitieren können und sich diesem Trend zu lange verschließen, riskieren nach Überzeugung der Autoren dieses Beitrages im Wettbewerb langfristig zurückzufallen. Danksagung  Dieser Beitrag entstand im Rahmen des seitens des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projektes „Herausforderung Cloud und Crowd – Neue Organisationskonzepte für Dienstleistungen nachhaltig gestalten“ (Förderkennzeichen: 02K14A071, Projektträger: PTKA/Projektträger Karlsruhe).

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Nachhaltiger IKT-Konsum durch Sharing Economy? Eine multimethodische Analyse

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Rikka Wittstock, Danielle Warnecke und Frank Teuteberg

Zusammenfassung

In diesem Beitrag wird mittels einer multimethodischen Analyse untersucht, ob und inwieweit die Sharing Economy ein geeignetes Konzept zur Reduzierung der Umweltauswirkungen des Konsums mobiler Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) darstellen kann. Hierzu wird zunächst anhand einer systematischen Literaturanalyse eruiert, durch welche Mechanismen die gemeinschaftliche Nutzung von Gebrauchsgütern zur Reduzierung der Umweltbelastung beiträgt. Die Bereitschaft der Konsumenten zur gemeinschaftlichen Nutzung mobiler IKT wird durch eine quantitative Erhebung (n = 329) ermittelt, während die Marktpotenziale Sharing Economy basierter Geschäftsmodelle durch Expertenbefragung erhoben werden. Der Beitrag kommt zu dem Schluss, dass sich Sharing-Economy-Geschäftsmodelle insbesondere für hochpreisige, kurzzeitig genutzte mobile IKT eignen. Schlüsselwörter

Sharing Economy · Nachhaltigkeit · Informations- und Kommunikationstechnologie · Multimethodenansatz

Vollständig neuer Original-Beitrag. R. Wittstock (*) · D. Warnecke · F. Teuteberg Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Robra-Bissantz, C. Lattemann (Hrsg.), Digital Customer Experience, Edition HMD, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1_20

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R. Wittstock et al.

20.1 Einleitung Mobile Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), d. h. mobile Endgeräte, die Informationen digital übertragen, verarbeiten und speichern können (BMZ 2013), finden sich in nahezu allen Lebensbereichen wieder und stellen eine wesentliche Grundlage für Innovationen und effizientes Wirtschaften dar. Aus ökologischer Perspektive jedoch erzeugt der Konsum von mobiler IKT erhebliche Probleme in allen Phasen des Produktlebenszyklus, z.  B. durch Rohstoffextraktion während der Herstellung (Ali 2014), Energieverbrauch und damit Beitrag zum Klimawandel in der Nutzungsphase (Elliot 2007; Malmodin et al. 2010) sowie schädliche Emissionen, Grundwasserbelastung und mangelndes Recycling am Ende des Produktlebenszyklus (Elliot 2007; Tanskanen 2013; Secretariat of the Basel Convention 2011). Lösungsansätze für derartige Umweltprobleme werden intensiv verfolgt und haben in den vergangenen Jahren bereits zu erheblichen Verbesserungen in Bezug auf Energieverbrauch, Schadstoffbelastung und Recyclingverfahren der IKT-Produkte geführt (Elliot 2007; Tanskanen 2013; Secretariat of the Basel Convention 2011). Die bedeutendste Herausforderung bei der Reduzierung der Umweltbelastungen sind jedoch stetig kürzer werdende Innovationszyklen, die eine rapide sinkende Nutzungsdauer und steigende Verkaufszahlen zur Folge haben und so die oben genannten Umwelteffekte erheblich verstärken (Suckling und Lee 2015). Vorwiegend technisch orientierte Lösungsansätze erweisen sich hier als wirkungslos; stattdessen werden zunehmend Strategien zur Nutzungsintensivierung bzw. Nutzungsdauerverlängerung diskutiert. Produkt-Service-Systeme (PSS), zu denen auch Geschäftsmodelle der „Sharing Economy“ und andere eigentumsersetzende Dienstleistungen zählen, gelten als wesentliche Strategie für einen nachhaltigen Konsum von Gebrauchsgütern. Während in produktorientierten Geschäftsmodellen ein Anreiz zur stetigen Absatzsteigerung besteht, verbleibt hier der Besitz des Produkts beim jeweiligen Anbieter. Dieser hat somit ein wesentliches Interesse daran, seine Produkte langlebig und materialeffizient zu gestalten, sie möglichst intensiv zu nutzen und am Ende des Produktlebens weiter zu verwerten (Suckling und Lee 2015; Beuren et al. 2013; Tukker 2015). Ein zentrales Argument ist zudem die prognostizierte Werteverlagerung der Konsumenten von einem besitzorientierten hin zu einem nutzungsorientierten Wertesystem (Martin 2016). Während Angebote der Sharing Economy für andere Gebrauchsgüter, wie Fahrzeuge (z. B. car2go, Blablacar) oder Textilien (z. B. Kleiderkreisel) bereits etabliert sind, handelt es sich bei der gemeinschaftlichen Nutzung von mobiler IKT um ein relativ junges Phänomen. In Deutschland vertretene Anbieter sowohl im business-­ to-­consumer (z. B. Grover, pad4rent) als auch im peer-to-peer Bereich (z. B. Fairleihen) sind beispielsweise alle innerhalb der letzten 5 Jahre an den Markt gegangen (Grover 2016; Fairleihen 2016; Pad4Rent 2016). Der Erfolg derartiger Angebote zur gemeinschaftlichen Nutzung von mobiler IKT, sowohl im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit als auch auf die zu erwartenden Umweltauswirkungen, ist bisher ­ungeklärt und wird im Wesentlichen davon abhängen, wie eine Wertegenerierung für die Nutzer gestaltet wird.

20  Nachhaltiger IKT-Konsum durch Sharing Economy? Eine multimethodische Analyse 285

Abb. 20.1  Darstellung des Forschungsprozesses

Ziel dieses Beitrags ist es daher, zu untersuchen, ob die Sharing Economy ein geeignetes Konzept zur Reduzierung der Umweltauswirkungen des Konsums mobiler IKT darstellen kann, indem die folgenden drei Forschungsziele adressiert werden (vgl. Abb. 20.1): 1. Durch welche Mechanismen kann die gemeinschaftliche Nutzung von Ge brauchsgütern zur Reduzierung der Umweltbelastung beitragen? 2. Besteht aus Sicht der Konsumenten eine Bereitschaft zur gemeinschaftlichen Nutzung mobiler IKT? 3. Welche Marktpotenziale bieten sich für Sharing-Economy-Geschäftsmodelle im Bereich mobiler IKT? Dieser Beitrag ist in fünf Abschnitte unterteilt. Zunächst wird im zweiten Abschnitt die Forschungsmethodik erläutert. Anschließend werden im dritten Abschnitt die Ergebnisse der einzelnen Forschungsansätze dargelegt, gefolgt von Synthese und Diskussion der Ergebnisse im Hinblick auf die drei Forschungsziele. Abschnitt vier schließt mit dem Fazit.

20.2 Forschungsmethodik 20.2.1 Forschungsprozess Ausgehend von der Forschungsfrage wird ein multi-methodischer Ansatz verfolgt, der aus sechs aufeinanderfolgenden Schritten besteht und in Abb. 20.1 dargestellt ist. Die gewählte Verknüpfung von Literaturanalyse, quantitativer und qualitativer Erhebung ermöglicht es, die oben genannten Fokusbereiche der Forschungsfrage gezielt zu beleuchten. Auf diese Weise kann ein umfassenderes Verständnis des Forschungsgegenstands erreicht werden (Morse 2003; Teddlie und Tashakkori 2011).

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20.2.2 Literaturanalyse Die systematische Literaturanalyse nach Webster und Watson (2002) sowie von Brocke et al. (2009) hat zum Ziel, den Stand der Forschung zu Umwelteffekten der Sharing Economy im Gebrauchsgüterbereich zu ermitteln. Hierzu wurde eine Literatursuche mit den Schlüsselbegriffen „Sharing Economy“ und „Nachhaltigkeit“ sowie Synonymen beider Ausdrücke in Titel, Abstract und Schlüsselwörtern der Datenbanken ScienceDirect, Web of Science, Business Source Complete, EconLit, GreenFILE und AISeL durchgeführt. Um eine hohe wissenschaftliche Qualität sicherzustellen, beschränkt sich die Literaturrecherche auf Artikel wissenschaftlicher Journals und Konferenzen. Eine zeitliche Eingrenzung wurde nicht vorgenommen. Die vollständige Suchphrase lautete: („Sharing Economy“ OR „Share Economy“ OR „Collaborative Consumption“ OR „Product Service System“) AND (sustainab* OR ecolog* OR environment* OR „Life Cycle Assessment“ OR emission OR waste OR material OR energy OR water) Die Literaturrecherche ergab 478 Treffer bei mehrfacher Zählung von Duplikaten. Zunächst wurden Titel und Abstract der Literatur auf Relevanz untersucht. Als Auswahlkriterium galt hierbei, dass der inhaltliche Fokus der Veröffentlichung auf der Untersuchung von Nachhaltigkeitseffekten der Sharing Economy im Konsumgüterbereich liegen sollte. Hierdurch ergaben sich 48 potenziell relevante Artikel, die nach Untersuchung des vollständigen Texts auf 12 relevante Publikationen reduziert werden konnten.

20.2.3 Quantitative Erhebung Ziel der quantitativen Erhebung ist es, die Einstellung und Bereitschaft der Konsumenten zur gemeinschaftlichen Nutzung von mobiler IKT zu untersuchen. Um ein Produkt zu wählen welches von möglichst vielen Befragten genutzt wird und auf das die zu Beginn beschriebenen umweltbelastenden Merkmale (geringe Nutzungsdauer, kurze Innovationszyklen und ubiquitäre Verbreitung) zutreffen, wurde der Fokus der Erhebung auf das Smartphone gelegt. Da die Bereitschaft zur gemeinschaftlichen Nutzung von IKT-Produkten bisher nicht untersucht wurde, existieren keine validierten Erhebungsdesigns, auf die zurückgegriffen werden konnte. Ausgehend von der Forschungsfrage folgte die Erstellung daher dem in Abb. 20.2 dargestellten Prozess. Im ersten Teil der Erhebung werden zunächst soziodemografische Aspekte, eigene Nutzung mobiler IKT und Kenntnisse von Sharing-Economy-Plattformen ermittelt. Der zweite Teil fragt Einstellungen der Auskunftspersonen zur gemeinschaftlichen Nutzung mobiler IKT ab und misst diese anhand von fünfstufigen Likert-Skalen. Vor Bereitstellung der Umfrage wurde ein Pretest durchgeführt, bei dem vier Wissenschaftler Anregungen zu Formulierung und Inhalt der Fragen gaben. Die Empfehlungen wurden konsolidiert und vor Einladung der Auskunftspersonen in die Erhebung integriert.

Abb. 20.2  Erstellung und Auswertung der qualitativen und quantitativen Erhebung

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Die Erhebung wurde im Januar 2016 online über die Plattform der SSI Web mit 470 Studierenden der Wirtschaftsinformatik (1. Semester) der Universität Osnabrück durchgeführt. Obwohl die Auswahl von Studierenden als Auskunftspersonen kritisch hinterfragt werden sollte, bildet diese Personengruppe in Bezug auf die hier untersuchte Fragestellung ein sinnvolles Sample, da Internetnutzer im Alter bis 25 Jahre eine der wichtigsten Zielgruppen der Sharing Economy darstellen und sich die Angebote zur gemeinschaftlichen Nutzung von mobiler IKT explizit an technikaffine Menschen richten, die flexiblen Zugang zu neuen Technologien schätzen (Hilker 2017; Elsaesser 2017). Nach Eliminierung unvollständiger Datensätze konnten 329 Datensätze in die Auswertung einfließen.

20.2.4 Experteninterviews Um zu ermitteln, welche Marktpotenziale sich für Sharing-Economy-Geschäftsmodelle im Bereich der mobilen IKT bieten, wurden Experteninterviews durchgeführt. Die Interviews folgten der semi-strukturierten Erhebungsmethode mittels Leitfadens (Hopf 1978; Gläser und Laudel 2010) und wurden anhand des in Abb. 20.2 dargestellten Prozesses entwickelt und ausgewertet. Zusätzlich zur themenbezogenen Expertise wurde das Prinzip der minimal kontrastierenden Stichprobe berücksichtigt und die Ansprechpartner entsprechend des Forschungsziels aus ähnlichen Bereichen gewählt (Meuser und Nagel 2010). Es wurden Anfragen an elf deutsche Anbieter von Sharing Economy Plattformen gestellt, die in den Bereichen Teilen, Mieten, Tauschen oder Wiederverkaufen von Konsumgütern anzusiedeln sind und mobile IKT als Teil ihres Produktspektrums anbieten. Dabei wurden sowohl reine Nutzerplattformen als auch Unternehmensplattformen berücksichtigt. Vier der Anfragen wurden beantwortet und zwei folgten unserer Einladung zu einem Experteninterview. Um diese ökonomische Sichtweise entsprechend zu erweitern, wurden außerdem zwei weitere Experten aus der Marktund Konsumforschung befragt. Die Interviews umfassten zwischen 33 und 39 Minuten. In einem einleitenden Teil wurden Qualifikation, Branchenkenntnisse und Unternehmensspezifika erhoben, gefolgt von Kenntnissen und Bewertung der Sharing Economy im Allgemeinen sowie im Speziellen bezüglich mobiler IKT. Die zeitlich-perspektivische Ausrichtung erfolgte sowohl auf Berufserfahrungen bis heute, aktueller Unternehmenspraxis und einer Einschätzung zukünftiger Trendentwicklungen in der Sharing Economy. Um Informationsverlusten vorzubeugen, wurden die Interviews aufgezeichnet, transkribiert und softwaregestützt ausgewertet. Für die qualitative Inhaltsanalyse wurden zunächst Kategorien gebildet, die sich an den Forschungsfragen orientieren. Die Informationen, die Antworten der Interviewten, wurden dann zusammengefasst und diesen Kategorien entsprechend zugeordnet und interpretiert.

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20.3 Ergebnisse 20.3.1 Literaturanalyse Insgesamt konnten 12 Beiträge identifiziert werden, die Umwelt- bzw. Nachhaltigkeitseffekte der gemeinschaftlichen Nutzung von Gebrauchsgütern betrachten. Diese sind in Tab. 20.1 zusammengefasst und lassen sich in vier übergeordnete Themenfelder einteilen, die im Folgenden analysiert werden sollen. Tab. 20.1  Ergebnisse der Literaturanalyse Mechanismen Verlängerung der Produktlebensdauer

Verlängerte Produktlebensdauer (nicht spezifiziert)

Ökologisch effizientere Produkte Wartung und Instandhaltung

Nutzungsinten­ sivierung

Gleichzeitige Verwendung durch mehrere Nutzer Wiederverwendung

Paradigmen­wechsel

Anreiz für nachhaltigeres Verhalten von Anbieter/Nutzer Geringerer Produktbestand notwendig Verbesserte Kostentransparenz

Negative Umwelteffekte

Wahl eines effektiveren Produkts Verlagerung von privatem Produktbesitz zur Nutzung öffentlich zugänglicher Produkte Stärkere Abnutzung durch intensive Nutzung Verringerte Produktlebensdauer durch unsachgemäße Nutzung Reboundeffekte (zusätzl. Nutzung) Zusätzlicher Transport Übermäßige Nachfrage nach Second Hand Produkten

Quellen Hirschl et al. (2003), Tukker (2004), Tasaki et al. (2006), Doualle et al. (2015), Schanes et al. (2016) Schanes et al. (2016), Firnkorn und Müller (2015) Hirschl et al. (2003), Tukker (2004, 2006), Schanes et al. (2016), Mont (2002) Tukker (2004, 2015), Schanes et al. (2016) Hirschl et al. (2003), Tasaki et al. (2006) Tukker (2004, 2015), Martin (2016), Doualle et al. (2015), Mont (2002), Halme et al. (2004) Schanes et al. (2016), Firnkorn und Müller (2015), Halme et al. (2004) Tukker (2004), Schanes et al. (2016) Tukker und Tischner (2006) Martin (2016), Firnkorn und Müller (2015), Lee et al. (2012) Tukker (2004, 2015), Hirschl et al. (2003), Mont (2002), Tukker und Tischner (2006) Tukker (2004, 2015), Tukker und Tischner (2006) Hirschl et al. (2003), Doualle et al. (2015), Firnkorn und Müller (2015) Halme et al. (2004) Tasaki et al. (2006)

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Verlängerung der Produktlebensdauer  Im Hinblick auf die zuvor beschriebenen Umweltproblematiken des IKT-Konsums, die durch die geringe Nutzungsdauer und stetig kürzer werdende Innovationszyklen verstärkt werden, sind insbesondere die in der Literatur beschriebenen Effekte der Produktlebensdauerverlängerung von Bedeutung. So gehen bspw. Mont (2002), Hirschl et al. (2003), Tukker (2004), Tukker und Tischner (2006) und Schanes et al. (2016) von verstärkten Wartungs- und Instandhaltungsbemühungen der Anbieter aus, die eine verlängerte Lebensdauer der Produkte zur Folge haben. Tasaki et al. (2006) dagegen sehen Potenziale zur Verlängerung der Nutzungsdauer vor allem in der Wiederverwendung von Elektronikgeräten, wie dies in Lease- bzw. Mietsystemen gegeben ist. Nutzungsintensivierung  Ebenso sehen Hirschl et al. (2003), Tukker (2004, 2015), Tukker und Tischner (2006), und Schanes et  al. (2016) Potenziale für eine Nutzungsintensivierung, indem Produkte von mehreren Nutzern gleichzeitig oder im Wechsel verwendet werden. Dies führt nicht nur dazu, dass insgesamt weniger Produkte hergestellt werden müssen, sondern hat durch die vollständige Auslastung auch Energie- und Ressourceneinsparungen in der Nutzungsphase zur Folge (Tukker 2004). Paradigmenwechsel  Die weitreichendsten Auswirkungen lassen sich jedoch ­einem potenziellen Paradigmenwechsel zuordnen, der einen Wertewandel von einem konsumorientierten Lebensstil hin zu einem nutzungsorientierten Wertesystem beschreibt. So gehen bspw. Lee et al. (2012), Firnkorn und Müller (2015) und Martin (2016), von einer Abnahme des Produktbesitzes durch die verstärkte Nutzung öffentlich zugänglicher Güter aus. Mont (2002), Halme et  al. (2004), Tukker (2004, 2015), Doualle et al. (2015) und Martin (2016) erklären außerdem, dass vom Phänomen der Sharing Economy an sich ein Anreiz für nachhaltigeres Verhalten von Nutzern wie auch Anbietern ausgeht, da diese Teil einer kulturellen Bewegung hin zu einer gerechteren Güterverteilung und ökologisch orientierten Lebensweise ist. Initiativen der Sharing Economy können diese Zielsetzungen unterstützen, indem sie durch hohe Kostentransparenz den Zugang aller Mitglieder der Gesellschaft auch zu hochpreisigen Produkten erleichtern, durch die intensivere Nutzung jedoch die insgesamt benötigte Menge an Produkten verringert wird (Martin 2016). Negative Umwelteffekte  Gleichzeitig besteht jedoch auch das Potenzial für eine Verstärkung der Umweltbelastung durch die gemeinschaftliche Nutzung von Gebrauchsgütern. Dies ist insbesondere der Fall, wenn sogenannte Reboundeffekte zu einer Verstärkung der Nachfrage und damit zusätzlichen Produktnutzung führen (Firnkorn und Müller 2015). Durch den Versand von Produkten kann es außerdem zu zusätzlichen Transportwegen und entsprechenden Emissionen kommen (Halme et  al. 2004). Trotz der verstärkten Wartung durch Anbieter kann die intensivere Nutzung zudem zu einer Verkürzung der Produktlebensdauer führen, wenn Nutzer ­unsachgemäß mit den Produkten umgehen (Tukker 2004, 2015). Zudem kann eine Verlängerung der Lebensdauer bei Gütern, die vor allem in der Nutzungsphase

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Umweltbelastungen hervorrufen und daher von einem Austausch durch effizientere Modelle profitieren, negative Umweltauswirkungen zur Folge haben (Hirschl et al. 2003).

20.3.2 Quantitative Erhebung Die soziodemografische Zusammensetzung des Samples sowie dessen Kenntnisse zu den Themen Nutzung mobiler IKT und Sharing Economy sind in Tab. 20.2 zusammengefasst. Die Bekanntheit der abgefragten Sharing-Economy-Plattformen, die mobile IKT anbieten, ist mit 1 % bis 7 % sowohl im peer-to-peer (Fairleihen, Leihdirwas) als auch im business-to-consumer Bereich (fonlos, Grover) sehr gering; die Nutzung dieser Plattformen fällt mit maximal 3 % (Leihdirwas) noch geringer aus. Diese Ergebnisse werden durch die erhobenen Einstellungen der Auskunftspersonen zur gemeinschaftlichen Nutzung mobiler IKT bestärkt (vgl. Abb. 20.3). Die Bereitschaft zur gemeinschaftlichen Nutzung von Smartphones ist gering; ein Großteil der Auskunftspersonen kann sich nicht vorstellen, ein Smartphone zu mieten oder zu leihen und zieht den alleinigen Besitz vor. Diese Einstellung wird weiter bestärkt durch die Tatsache, dass die Befragten herkömmliche Kaufangebote als attraktiver bewerten als Mietserviceangebote. Auch das eigene Smartphone auf peer-to-peer Plattformen zum Verleih anzubieten, können sich nur 11,9 % der Auskunftspersonen vorstellen. Tab. 20.2  Ergebnisse der quantitativen Erhebung (n = 329) Abgefragter Aspekt Demo­ Alter grafie Geschlecht Mobile IKT

Sharing Economy

Nutzung mobiler IKT Durch­ schnittliche Nutzungs­ dauer mobiler IKT Begriff „Sharing Economy“ Fairleihen Leihdirwas fonlos Grover

Verteilung des Samples 17–20 Jahre 63 % weiblich 36 % Smartphone Mobiltelefon 100 % 12 %

21–24 Jahre 33 % männlich 64 % Laptop Netbook 91 % 4 %

25–29 Jahre 4 %

Tablet 44 %

Andere 6 %

Smartphone 4,5 Jahre

Laptop 5 Jahre

Tablet 1 Jahr

Andere < 0,5 J.

Mobiltelefon 2,5 Jahre

Netbook < 0,5 J.

Bekannt: 26 %

Unbekannt: 74 %

Bekannt: 4 % Bekannt: 7 % Bekannt: 1 % Bekannt: 1 %

Nutzung: 1 % Nutzung: 3 % Nutzung: 0 % Nutzung: 0 %

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Abb. 20.3  Einstellungen der Befragten zum Geschäftsmodell der Smartphone-Vermietung

20.3.3 Experteninterviews Erlösmodelle  Peer-to-peer Plattformen (z. B. Fairleihen) sind in der Regel für die Nutzer kostenlos, sodass der Plattformbetreiber als Intermediär auf andere Erlösmodelle wie z. B. Werbung auf der Webseite zurückgreifen muss, um ökonomische Nachhaltigkeit für sich zu gewährleisten. Auch Quersubventionierungen der Konsumenten im Sinne eines mehrseitigen Marktmodells durch Gebühren für gewerbliche Anbieter sind möglich. In wenigen Fällen werden diese Portale durch Spenden finanziert und agieren tatsächlich nicht profitorientiert. Diese Anbieter fokussieren soziale und ökologisch nachhaltige Aspekte und arbeiten auf Basis der Selbstkostendeckung. Kostenpflichtige Mietgeschäfte im Bereich mobile IKT werden z. B. durch Mediamarkt und Grover angeboten. Unternehmensziel und Hauptmotivation dieser Geschäftsmodelle ist nach wie vor ökonomischer Erfolg. Angebotsstruktur der Vermietung mobiler IKT  Der neue Ansatz, auch hochpreisige IKT nicht nur zum Weiterverkauf anzubieten, sondern diese zu leihen und ggf. zu tauschen ist durch erste Pioniere (Grover, Fairleihen) bereits realisiert worden. Es werden Laptops, Tablets und Smartphones verliehen oder vermietet. Experte 1 fasst dies mit „Es handelt sich um kein neues Konzept (…). Das ist ein Mietgeschäft, nur der Bereich Unterhaltungselektronik für Endverbraucher ist neu.“ zusammen. Der Anteil mobiler Geräte liegt nach Erfahrung der befragten Experten bei etwa 50 Prozent. Die Zeitspanne reicht dabei von wenigen Tagen bis mehreren Monaten und wird entsprechend zwischen Anbieter und Konsument vereinbart. Als Zielgruppe werden von den interviewten Personen überwiegend junge Erwachsene im Alter von 20–35 Jahren mit durchschnittlicher Kaufkraft genannt. Die Beweggründe sind laut Experte 3 dabei ganz unterschiedlich „eher zu realisierende Preise spielen eine Rolle. (…) Trendbewusstsein oder nur kurzzeitige Anwendungen“.

20  Nachhaltiger IKT-Konsum durch Sharing Economy? Eine multimethodische Analyse 293

So kann ein Hochleistungslaptop für die Dauer eines Projektes wie z. B. Simulation größerer Datenmengen oder aufwendige Bildverarbeitung rein zweckgebunden kurzfristig zu einem günstigeren Preis gemietet und genutzt werden, ohne das Gerät kaufen zu müssen. Zugang zu Neugeräten  „Natürlich werden auch hier aus Konsumentensicht in erster Linie Kosten gespart.“ stellt Experte 1 seine Sicht dar. Jedoch wird auch der Bedarf nach Neugeräten am Markt reduziert, weil einige Geräte für mehr Nutzer verfügbar gemacht werden. Neben der zweckgebundenen Verwendung kann auch starkes Trendbewusstsein als Beweggrund identifiziert werden. Neugeräte werden oftmals innerhalb von weniger als sechs Monaten durch ein Nachfolgemodell überholt und sind dann für besonders affine Nutzer nicht mehr interessant. Durch das Mietgeschäft kann hier ein flexibler Gerätewechsel vollzogen werden, ohne den Neupreis zahlen zu müssen und das Altgerät steht für weniger trendbewusste Nutzer weiterhin zur Verfügung. Auch Testphasen werden als Entscheidungsgrund für die zeitweise Nutzung eines Gerätes angegeben. Durch Miet- und Tauschgeschäfte können hochpreisige Technikprodukte risikofrei getestet werden und somit die spätere Kaufentscheidung beeinflussen.

20.4 Synthese und Diskussion Im Hinblick auf das Forschungsziel lässt sich feststellen, dass das Potenzial von Sharing Economy Geschäftsmodellen zur Reduzierung der Umweltauswirkungen von mobiler IKT von einer Reihe von Faktoren abhängt. Wie die quantitative Erhebung zeigte, ist die Bereitschaft zur gemeinschaftlichen Nutzung mobiler IKT bei den hier befragten Auskunftspersonen gering. Diese Feststellung wird durch die Erkenntnisse der Experteninterviews bestätigt. Die Bereitschaft zum Leihen bzw. Mieten von mobiler IKT wird im Wesentlichen von drei Faktoren bestimmt: der Angebotsattraktivität, dem ökologischen Bewusstsein und dem Verwendungszweck des Konsumenten. Das hier untersuchte Modell der gemeinschaftlichen Nutzung mobiler IKT eignet sich daher vor allem für hochpreisige, spezialisierte Geräte, die intensiv jedoch kurzzeitig genutzt werden und dem Konsumenten einen flexiblen Wechsel zu einem Nachfolgemodell ermöglichen (vgl. Abb. 20.4). Um einen adäquaten Anreiz zum Verzicht auf Eigentum zu schaffen, sollte das Marktangebot dem Konsumenten somit weiterhin einen Preisvorteil gegenüber dem Produktkauf bieten. Eine wesentliche Voraussetzung für die Durchsetzung von Sharing-Economy-Plattformen im Bereich mobile IKT ist zudem die verbesserte Bekanntheit derartiger Angebote. Die Umweltauswirkungen einer weiteren Durchsetzung hängen von den konkret angebotenen Produkten ab. Zwar lassen sich erhebliche Potenziale für eine ökologischere Nutzung von mobiler IKT, insbesondere durch Nutzungsintensivierung, Lebensdauerverlängerung und die damit verbundene Reduktion des notwendigen Produktbestands ableiten, jedoch sind negative Umwelteinflüsse durch Reboundeffekte, zusätzliche Transportwege und Weiternutzung ineffizienter Geräte zu beachten.

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Abb. 20.4 Ergebnissynthese

20.5 Fazit In diesem Beitrag wurde untersucht, ob sich durch zur Sharing Economy zählende Angebote die mit dem Konsum mobiler IKT verbundenen Umweltauswirkungen reduzieren lassen. Es konnte gezeigt werden, dass sich durch die gemeinschaftliche Nutzung von Gebrauchsgütern erhebliche Potenziale für einen weniger umweltbelastenden Konsum ergeben. Jedoch hängen die tatsächlich realisierbaren Umweltauswirkungen maßgeblich vom jeweiligen Produkt und sich ergebenden Reboundeffekten ab. Zudem ergab eine quantitative Erhebung, dass die Bereitschaft der Konsumenten zur geteilten Nutzung von mobiler IKT gering ist. Das hier untersuchte Geschäftsmodell eignet sich vor allem für hochpreisige, kurzfristig oder projektgebunden genutzte mobile IKT. Eine zukünftige Durchsetzung wird davon abhängen ob es gelingt, die Bekanntheit derartiger Angebote zu stärken und einen Nutzen für die Konsumenten in Form von Wechselflexibilität und Preisvorteil zu generieren. Danksagung  Die Autoren bedanken sich bei Anja Machnis für ihren Beitrag zum Forschungsprozess. Diese Arbeit ist Teil des Projekts „Nachhaltiger Konsum von Informations- und Kommunikationstechnologie in der digitalen Gesellschaft – Dialog und Transformation durch offene Innovation“. Das Projekt wird vom Ministerium für Wissenschaft und Kultur des Landes Niedersachsen und der VolkswagenStiftung aus Landesmitteln des Niedersächsischen Vorab gefördert (Projektnummer VWZN3037).

20  Nachhaltiger IKT-Konsum durch Sharing Economy? Eine multimethodische Analyse 295

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Stichwortverzeichnis

A Akzeptanz 198, 201, 202, 204, 206 Anbietersicht 35 Augmented Reality (AR) 214, 216 B B2B (Business-to-Business) 40, 41, 43, 44, 47, 214, 216, 223 C Case 226–228 Study Research 228 Crowd Services 272, 273, 275, 276, 279, 280 Crowdsourcing 171, 175, 177, 256–258, 260, 262, 264, 267, 268 Location-based 169, 171–175, 178 Crowdworking-Plattform 272, 278–280, 282 Customer Experience Management 54, 57, 58 -Experience-Messung 169, 174 D Datenschutz 142, 149, 198, 199 Dienstleistung kontextbezogene 124, 133 Digital Customer Experience 82–85, 87–89, 91, 93, 94 E Einkaufserlebnis, digitales 111, 112, 114, 116, 131, 135, 136 Einzelhandel innerstädtischer 124, 125, 129, 133, 135 stationärer 178

Entity-Relationship-Modell (ERM) 55, 57 Erfolgsfaktor, kritischer 26, 28, 29, 32, 34–36 Evaluation 70, 72, 75–78 F Fallstudie 90–92, 94, 175, 176, 178, 179 G Gamification App 154–155 Gebrauchstauglichkeit 198, 201, 202, 204, 205, 207, 208 Geofencing 169, 171, 173, 174, 176, 178 Gerät, mobiles 92 Gestaltungsprinzip 125, 133–136, 201, 204, 206–208 I Informationsmanagement 95 Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) 284, 294 Interaktive Customer Experience 139 K KMU 40, 43–45, 47 im Handel 110, 112, 114 Ko-Kreation 116, 117, 119, 124, 125, 133 Kompetenz 70, 71, 73, 76–78 Kundensupport 272, 273, 275, 276 M Marktplatz, innerstädtischer 117 Multi-Touch 142, 144

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Robra-Bissantz, C. Lattemann (Hrsg.), Digital Customer Experience, Edition HMD, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22542-1

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298 N Nachhaltigkeit 286, 292 Nahversorgung im ländlichen Raum 182–184, 192 O Omni-Channel 40, 41, 47, 50 Omni-Channel-Management 59, 61 Onlinehandel 154–155 Organisation 70, 71, 73, 75–76, 78 klein und mittelgroße 241 P Partizipation im Digitalisierungsprozess 182, 192 Plattform, digitale 82, 90, 93, 125 Praxisbeispiel 242 Public Display 143, 144, 147, 150

Stichwortverzeichnis Sharing Economy 284, 286, 288, 290, 291 Smart Glass 198, 200, 202, 205–208 Service 26, 28, 29, 32, 33, 35, 36 Smart-Service-Einführung 27 Smart-Service-Implementierung 27, 35 Social-Media-Strategie 241, 243 Supply Chain 199, 207, 209

T Technische Dokumentation (TD) 215 Technologieakzeptanz 155, 157 Telekommunikation 40–42, 44, 45, 47 Transformation, digitale 268

R Regeln zur Digitalisierung 4, 8, 9, 11, 14, 16, 18, 19

U Unternehmensentwicklung 258, 259, 261, 262, 267 Usability 198, 201, 202, 204, 205 User Experience (UX) 70, 71, 73, 75

S Self-Service 198, 201, 203, 204 Service Design 56 Dominant Logic 4, 6, 8, 11

V Virtual Reality (VR) 226–228, 231 Vorgehensmodell 243, 244, 246 VR (Virtual Reality) 226–228, 231

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