Die Rechtsabteilung

Rechtsabteilungen in Unternehmen bieten Ein- und Umsteigern aus den rechts- und steuerberatenden Berufen ein attraktives Tätigkeitsfeld. Das Werk erläutert den Weg zum Syndikus sowie den Aufbau einer Rechts- und Steuerabteilung im Unternehmen, gewährt Einblicke in die Rechtsabteilungen bestimmter Branchen und beschreibt deren berufs- und standesrechtliche Hintergründe. Neu in der 3. aktualisierten Auflage: das Spannungsfeld des Loss Adjusters und der Syndikusanwalt im inhabergeführten Mittelstand.

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Tobias Lenz Hrsg.

Die Rechtsabteilung Der Syndikus und Steuerberater im Unternehmen 3. Auflage

Die Rechtsabteilung

Tobias Lenz (Hrsg.)

Die Rechtsabteilung Der Syndikus und Steuerberater im ­Unternehmen 3., aktualisierte und erweiterte Auflage

Herausgeber Tobias Lenz Köln, Deutschland

ISBN 978-3-658-21914-7 ISBN 978-3-658-21915-4  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-21915-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2012, 2015, 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichenund Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort zur dritten Auflage

Seit dem Erscheinen der Vorauflage sind etwa drei Jahre vergangen. In dieser Zeit hat es zahlreiche gesetzliche Änderungen gegeben. Auch neue Themen beschäftigen den Unternehmensjuristen. An „Legal Technology“ führt – so ist vielfach zu hören – kein Weg mehr vorbei. Rechtsabteilungen sind gefordert, Strategien zu entwickeln, um den Anschluss für das Unternehmen nicht gänzlich zu verpassen. Auch die Anforderungen der EU-DSGVO fordern Unternehmensjuristen bis aufs „Blut“, der Countdown zählt, auch wenn von Seiten der Behördenvertreter noch eine gewisse „Schonzeit“ erklärt wird. Seit gut zwei Jahren läuft die Vorbereitungsphase; kaum ein Gesetz der letzten Jahre hatte massivere Auswirkungen für Unternehmen. Zudem plant die EU eine „Verbandsklage zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher“, welche über die in Deutschland im Entwurf vorliegende Musterfeststellungsklage, die die Regierungskoalition auf den Weg bringen will, weit hinausgeht. Die klagebefugten Verbände stehen in den Startblöcken. Daneben wird auch die „künstliche Intelligenz“ vielfach postuliert. Der Unternehmensjurist steht im Spannungsfeld von Recht und Technik. Das Wirtschaftsrecht erlebt eine neue Facette auch beim „Cybercrime“. Diskussionen folgen in rechtlicher Hinsicht zur „Ethik der Robotik“. Großverfahren wegen Compliance-Themen beherrschen die Öffentlichkeit. Die dritte Auflage will – wie bisher – den bereits erfahrenen Unternehmensjuristen ansprechen, aber auch dem Berufseinsteiger – in gewohnter Qualität – Orientierung geben. Namhafte Unternehmensjuristen haben auch jetzt wieder aus ihrer alltäglichen Praxis Berichte verfasst und ihr tagtägliches Umfeld umfassend geschildert. Neu gewonnen werden konnten der Chefjustiziar der GEZE GmbH, Herr Popp, mit dem Thema „Der Syndikus-Anwalt im inhabergeführten Mittelstand – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und Herr Stefan Bönning, Rechtsanwalt und Loss Adjuster bei Crawford & Company, mit dem Thema „Loss Adjuster bei einem internationalen Schadensdienstleister – ein Spannungsfeld“. Mein besonderer Dank gilt Frau Rechtsanwältin Sandra Ott aus Köln, die unermüdlich die Koordination mit den Autoren übernommen und die redaktionellen Beiträge in mühevoller Arbeit zusammengestellt und revidiert hat. In gleicher Weise gilt mein

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Vorwort zur dritten Auflage

Dank Frau Anna Pietras und Frau Catarina Gomes de Almeida für die wertvolle Lektorats- und Verlagstätigkeit. Über Anregungen und weiterführende Hinweise würden sich Herausgeber und Verlag – wie auch in der Vergangenheit – freuen, gerne unter meiner Email-Adresse: [email protected]. Köln im Mai 2018

Der Herausgeber Tobias Lenz

Vorwort zur zweiten Auflage

Im Brennpunkt für Unternehmensjuristen steht – für jeden einzelnen persönlich – die seit geraumer Zeit diskutierte Frage, ob Syndikusanwälte künftig grundsätzlich nicht mehr von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit werden. Durch drei Urteile des Bundessozialgerichts vom 3.4.2014 (B 5 RE 13/14 R; B 5 RE 9/14 R; B 5RE 3/14 R; Medieninformation Nr. 9/14 des BSG vom 3.4.2014) ist nunmehr eine grundlegende Weichenstellung zu Lasten der Unternehmensjuristen getroffen worden. Nach Ansicht des 5. Senats könne nämlich derjenige, der eine weisungsgebundene Tätigkeit ausübe, nicht Rechtsanwalt sein (vgl. dazu u. a. den ausführlichen Terminsbericht des BSG Nr. 14/14 vom 4.4.2014, u. a. abgedruckt in BRAK-Mitteilungen 3/2014, 128 ff.). Die Entscheidungen haben in der Fachwelt, aber auch in der breiten Öffentlichkeit für Furore gesorgt. Das BSG geriet massiv in die Kritik, naturgemäß vor allem von den Verbänden der Unternehmensjuristen, aber ebenso von zahlreichen Rechtsanwaltskammern und schließlich auch von der Bundesrechtsanwaltskammer. Der Deutsche Anwaltverein hat vier Tage nach der Verkündung der Urteile die Organisationen der Anwaltschaft, der Unternehmensjuristen und Vertreter der Versorgungswerke sowie die großen deutschen Wirtschaftsverbände an einen Tisch gebracht, um die Konsequenzen der Entscheidungen des BSG zu beraten. Der Gesetzgeber – so der grundlegende Tenor – sei nunmehr gefordert. Aus dem Kreise der Unternehmensjuristen ist eine Petition „zur Befreiung von der Beitragspflicht für Syndikusanwälte“ Mitte Mai 2014 auf den Weg gebracht worden. Bezogen auf den Terminsbericht zeigt sich, dass bei der Heranziehung des § 6 SGB VI eine klare Linie tatsächlich gar nicht erkennbar ist und die Entscheidungen sogar neue Fragen aufwerfen, statt die diskutierten zu beantworten, schon explizit was das Berufsbild selbst, aber auch den viel zitierten Vertrauensschutz angeht. Es ist mit dem rechtsstaatlichen Prinzip nicht vereinbar, von Vertrauensschutz zu sprechen, den Kerninhalt dann aber nicht ausreichend zu beachten. Ich würde mir wünschen, dass der Gesetzgeber alsbald einen ausgewogenen Beitrag zur Beendigung des leidvollen und von Unsicherheit für Unternehmensjuristen geprägten Weges leisten wird. Die Sympathie, für eine weitgehende Befreiungsmöglichkeit von der gesetzlichen Rentenversicherung auch für VII

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Vorwort zur zweiten Auflage

Unternehmensjuristen zu plädieren, mag man mir – als selbständig tätigem Anwalt im Versorgungswerk – verzeihen. Ungeachtet dieser, die meisten Unternehmensjuristen ganz persönlich und unter Umständen einschneidend treffenden Thematik, nimmt die alltäglich von Unternehmensjuristen zu bewältigende Themenpallette ständig zu. Dies hat – zumindest ­mitursächlich – auch zu einer Erweiterung des Umfanges in der zweiten Auflage – kursierend um „typische Inhouse-Themen“ – geführt: Herr Dr. Hirschmann (HX Holding GmbH/GEA Heat Exchangers GmbH) betrachtet die „Organisatorischen Herausforderungen der Rechtsabteilung“ und berücksichtigt dabei die Aspekte der strategischen Ausrichtung und Konzeptionierung; Herr Kauss von der Stiebel Eltron GmbH & Co. KG widmet sich einem nahezu alle Juristen auf ihrem Weg interessierenden Thema „Vom Kollegen zum Vorgesetzten“. Herr Dr. Wagener (Chefsyndikus und Leiter des Zentralen Rechtsservice der Audi AG), der sich bekanntlich schon seit Jahren auch unter anderem mit der „Nachwuchsarbeit in der Rechtsabteilung“ befasst und dabei – begleitet von viel Lob in der Öffentlichkeit – äußerst bemerkenswerte Akzente gesetzt hat, beschreibt seine Erfahrungen. Trotz dieser Ergänzungen und Neuerungen sind die Besonderheiten des Werkes erhalten geblieben. Noch einmal möchte ich alle Leserinnen und Leser ermuntern, mir Anregungen und/oder etwaige Kritiken unter meiner E-Mail-Adresse [email protected] zu übersenden. Köln im August 2014

Der Herausgeber Tobias Lenz

Vorwort zur ersten Auflage

Das vorliegende Werk will sowohl dem bereits erfahrenen Unternehmensjuristen ein Mehr an Sicherheit geben, als auch dem Berufseinsteiger eine Orientierungshilfe. Es dient einerseits der praktischen Vertiefung gewonnener theoretischer Erkenntnisse und soll auf der anderen Seite als Praxisleitfaden verstanden werden, als dass namhafte Unternehmensjuristen aus ihrer alltäglichen Praxis Berichte verfasst haben, die dem Leser ein konkretes Bild über die jeweiligen Tätigkeiten des Juristen in verschiedenen Unternehmen, in der Rechtsabteilung und auch in einzelnen Fachgebieten geben können. Darüber hinaus werden die materiellen Teile – weitgehend von Spezialisten und externen Beratern verfasst – als „Einstiegslektüre“ aus Praktikersicht dargestellt, und um zahlreiche Vertiefungshinweise und Anmerkungen ergänzt, sodass ein schneller, orientierender Einstieg in das jeweilige Fachgebiet möglich erscheint. Wenn es gelingt, mit diesem Werk sowohl dem Berufseinsteiger als Unternehmensjuristen als auch dem bereits gestandenen Justitiar und/oder auch dem Leiter der einen oder anderen Rechtsabteilung als Leitfaden zu dienen, die Praxis besser zu meistern, hätte das Buch seinen Zweck erfüllt. Über Anregungen und weiterführende Hinweise würden sich Herausgeber und Verlag sehr freuen. Köln im August 2011

Der Herausgeber Tobias Lenz

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Inhaltsverzeichnis

Teil I  Allgemeiner 1

Der Syndikusrechtsanwalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Volker Römermann

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Aufgabenfelder des Syndikus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Mark Wilke

Teil II  Besonderer 3

Legal Management. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Carsten Reimann

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Der Syndikusanwalt im inhabergeführten Mittelstand – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Anselm Popp

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Loss Adjuster bei einem internationalen Schadendienstleister – ein Spannungsfeld. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Stefan Bönning

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Der Syndikus bei Unternehmungen des Maschinenbaus . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Edmund Schaich

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Der Syndikus im vertriebsfokussierten Konzern – Ein Handbrevier . . . . . . 109 Matthias Hickmann

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Die ausgelagerte Rechtsabteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Maximilian Dorndorf

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Die Stabsstelle Recht der Deutschen Sporthochschule Köln. . . . . . . . . . . . . 167 Michael Krannich

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Inhaltsverzeichnis

10 Organisatorische Herausforderungen der Rechtsabteilung: Aspekte der strategischen Ausrichtung und Konzeptionierung. . . . . . . . . . . 183 Christoph Hirschmann 11 Vom Kollegen zum Vorgesetzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Thomas Kauss 12 Ausbildung und Berufseinstieg als Syndikus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Martin Wagener und Jörg Fiebiger 13 Arbeitsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Andrea Panzer-Heemeier 14 Kartellrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Christian Burholt und Jan Hensmann 15 Vertragsgestaltung und Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Tobias Lenz 16 Prozessführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Carsten Laschet 17 Versicherungsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Mike Weitzel 18 IT-Recht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Maximilian Dorndorf 19 Gesellschaftsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Volker Römermann Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445

Mitarbeiterverzeichnis

Stefan Bönning  Köln, Deutschland [email protected] Dr. Christian Burholt Baker & McKenzie Partnerschaft von Rechtsanwälten, Wirtschafts­prüfern und Steuerberatern mbB, Berlin, Deutschland [email protected] Dr. Maximilian Dorndorf  Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Essen, Deutschland [email protected] Jörg Fiebiger  AUDI AG Zentraler Rechtsservice I/GG-41, Ingolstadt, Deutschland [email protected] Dr. Jan Hensmann  Berlin, Deutschland [email protected] Dr. Matthias Hickmann  Vorwerk & Co. KG, Wuppertal, Deutschland [email protected] Dr. Christoph Hirschmann  Düsseldorf, Deutschland [email protected] Thomas Kauss Leiter der Rechtsabteilung, STIEBEL ELTRON GMBH & CO. KG, Holzminden, Deutschland [email protected] Michael Krannich Dezernat für Rechts- Studierenden- und Prüfungsangelegenheiten Deutsche Sporthochschule Köln, Köln, Deutschland [email protected] Carsten Laschet  Friedrich Graf von Westphalen & Partner MbB Rechtsanwälte, Köln, Deutschland [email protected]

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Mitarbeiterverzeichnis

Prof. Dr. Tobias Lenz  Friedrich Graf von Westphalen & Partner MbB Rechtsanwälte, Köln, Deutschland [email protected] Dr. Andrea Panzer-Heemeier  ARQIS Rechtsanwälte, Düsseldorf, Deutschland [email protected] Anselm Popp  Justiziar GEZE GmbH, Leonberg, Deutschland [email protected] Dr. Carsten Reimann  Xenion Legal GmbH & Co. KG, Frankfurt am Main, ­Deutschland [email protected] Prof. Dr. Volker Römermann  Römermann Rechtsanwälte AG, Hannover, Deutschland Volker.Römermann@römermann.com Edmund Schaich  Festo AG & Co. KG, Esslingen, Deutschland [email protected] Dr. Martin Wagener  AUDI AG Zentraler Rechtsservice I/GG, Ingolstadt, Deutschland [email protected] Mike Weitzel Friedrich Graf von Westphalen & Partner MbB Rechtsanwälte, Köln, Deutschland [email protected] Dr. Mark Wilke  Friedberg, Deutschland [email protected]

Teil I Allgemeiner

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Der Syndikusrechtsanwalt Volker Römermann

1.1 Entwicklung zum Syndikusrechtsanwalt Das Berufsbild des Syndikusanwalts wurde entscheidend nach dem Ersten Weltkrieg geprägt. Viele Unternehmen, Banken und Verbände hatten den Wunsch, Rechtsabteilungen zu gründen und Juristen in ständig abhängige Beschäftigungsverhältnisse zu übernehmen.1 Durch das Gesetz vom 20.12.1934 wurde in die Rechtsanwaltsordnung von 1878 eine Klausel eingefügt, welche dem Syndikusanwalt die Vertretung seines Dienstherren vor Gerichten verbot. Hierdurch sollte den – kraft Weisungsrechts bestehenden – Gefahren für die anwaltliche Unabhängigkeit begegnet werden. Nachdem in den Besatzungszonen die Syndikusanwälte unterschiedlich anerkannt oder abgelehnt wurden, wurde 1959 in die BRAO das prozessuale Vertretungsverbot aufgenommen. In der amtlichen Begründung heißt es, dass die Zulassung nicht mehr in Zweifel gezogen werde und dass es nur noch darum gehen könne, die Grenzen zwischen dem Dienstverhältnis des Syndikus und der anwaltlichen Tätigkeit zu ziehen.2 Durch die Neuregelung des Berufsrechts wurde im Jahre 1994 das Verbot weiter ausgedehnt, so dass nunmehr nicht mehr verlangt wurde, dass der Syndikus seine Arbeitszeit und -kraft dem Dienstherren überwiegend zur Verfügung stellte. Diese Ansicht wurde durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt: Hiernach ist ein in ständiger 1Römermann/Zimmermann, in: Römermann, BeckOK BORA, Stand: 1.10.2014, § 46 Rn. 1; Hartung, in: Hartung, Berufs- und Fachanwaltsordnung, 5. Aufl. 2012, § 46 Rn. 1. 2BT-Drs. III/120, S. 97.

V. Römermann (*)  Römermann Rechtsanwälte AG, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 T. Lenz (Hrsg.), Die Rechtsabteilung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21915-4_1

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Abhängigkeit ausgeübter Zweitberuf mit der Stellung eines Rechtsanwalts nur noch dann unvereinbar, wenn die Ausübung des Anwaltsberufs faktisch unmöglich ist.3 Das Recht des Syndikusanwalts wurde durch das seit dem 01.01.2016 geltenden Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Syndikusanwälte4 reformiert. Anlass für die Novelle war eine Reihe von Entscheidungen des Bundessozialgerichts aus dem Jahre 2014, wonach Syndikusanwälte eine Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zugunsten einer Versorgung in den berufsständischen Versorgungswerken nicht möglich sei.5 Dies wurde mit der fehlenden Möglichkeit der anwaltlichen Berufsausübung in der äußeren Form der abhängigen Beschäftigung begründet. Ungeachtet der im Einzelfall arbeitsvertraglich eröffneten Möglichkeiten, auch gegenüber dem Arbeitgeber sachlich selbständig und eigenverantwortlich zu handeln, sei allein die Eingliederung in die von dieser vorgegebenen Arbeitsorganisation mit dem Berufsbild des Rechtsanwalts unvereinbar. Ziel des Gesetzes war es daher, die Stellung des Syndikusanwalts neu zu regeln, insbesondere aber im Hinblick auf das Befreiungsrecht weitgehend den bisherigen Status quo aufrecht zu erhalten.6 Regelungen zur Ausübung des Anwaltsberufes als Syndikusrechtsanwalt sind nunmehr insbesondere in den §§ 46 ff. BRAO aufgeführt. Auch das BVerfG hat in seinem Beschluss v. 19.7.2016 (1 BvR 2584/147) die Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung des BSG nicht zur Entscheidung angenommen. Begründet wird dies damit, dass nach § 93a Abs. 2 lit. a BVerfGG nach der zuvor angeführten gesetzlichen Neuregelung einer Verfassungsbeschwerde keine grundsätzliche Bedeutung mehr zukomme, selbst wenn die verfassungsrechtlichen Fragen noch nicht abschließend geklärt seien.

1.2 Begriff und Bedeutung des Syndikusanwalts 3

Der Begriff des Syndikusrechtsanwalts als besondere Form der Ausübung des einheitlichen Berufs des Rechtsanwalts wird auf Basis des in den  ­ §§  1 bis 3 BRAO zugrunde gelegten Berufsbilds des Rechtsanwalts tätigkeitsbezogen definiert, um ihn von anderen juristischen Dienstleistungen im Angestelltenverhältnis (insbes. als angestellter Unternehmensjurist, der nicht anwaltlich tätig ist) abzugrenzen und berufsrechtlich klarzustellen, dass die Zulassung eines Syndikusrechtsanwalts zur Rechtsanwaltskammer sich auf die jeweils von ihm ausgeübte Syndikustätigkeit bezieht

3BVerfG,

Beschl. v. 4.11.1992, 1 BvR 79/85, NJW 1993, 317. I 2015, 2517 ff. 5BSG, Urteile v. 3.4.2014, B 5 RE 9/14 R, B 5 RE 3/14 R, B 5 RE 13/14 R; NJW 2014, 2743. 6Gesetzesentwurf BT-Drs. 18/5201, 2. 7NZA 2016, 1069. 4BGBl.

1  Der Syndikusrechtsanwalt

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und er iSd § 6 Abs. 1 Nr. 1 BRAO „wegen“ dieser Syndikustätigkeit Mitglied einer berufsständischen Versorgungseinrichtung ist.8 § 46 Abs. 1 BRAO definiert zunächst den „angestellten Rechtsanwalt“: Rechtsanwälte dürfen danach ihren Beruf als Angestellte solcher Arbeitgeber ausüben, die als Rechtsanwälte, Patentanwälte oder rechts- oder patentanwaltliche Berufsausübungsgesellschaften tätig sind. Absatz beschäftigt sich mit dem „Syndikusrechtsanwalt“: Angestellte anderer als der in Absatz 1 genannten Personen oder Gesellschaften üben ihren Beruf als Rechtsanwalt aus, sofern sie im Rahmen ihres Arbeitsverhältnisses für ihren Arbeitgeber anwaltlich tätig sind (Syndikusrechtsanwälte). Der Syndikusrechtsanwalt bedarf zur Ausübung seiner Tätigkeit nach Satz 1 der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft nach § 46a BRAO. Das anwaltliche Berufsrecht bildet für den Syndikusanwalt einen weiten Rechte- und Pflichtenkreis ab. Zwar wäre es aus Gründen der Kenntnis der internen Strukturen und einer Integration in die wesentlichen Abläufe für die Unternehmen wünschenswert, wenn der Syndikusanwalt einen weitergehenden Kreis seiner Rechte erhält.9 Insoweit müsste lediglich sichergestellt werden, dass der Syndikusanwalt seine Arbeit tatsächlich frei von Interessenkollisionen und unabhängig ausführen kann. In einem solchen Fall unterscheidet den Syndikusanwalt nichts von dem „normalen“ Rechtsanwalt, welcher in der Praxis auch externen Einflüssen seiner Mandanten oder vorgesetzten Anwälten (bspw. dem Kanzleiinhaber) ausgesetzt ist. Der Blick in andere Länder zeigt, dass das Modell des Syndikusanwalts eine spezielle deutsche Figur ist. In den meisten anderen Ländern wird der Syndikusanwalt als Unternehmensjurist (company lawyer oder inhouse counsel) bezeichnet. In Ländern wie Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, den Niederlanden und Schweden ist die Zulassung von Unternehmensjuristen zur Anwaltschaft ausgeschlossen. Hier haben sie sich zu einer gemeinsamen Interessenvertretung in eine eigene Berufsorganisation zusammengeschlossen.10 In Ländern wie Norwegen, Großbritannien, Griechenland, Portugal und Spanien können Unternehmensjuristen hingegen zur Anwaltschaft zugelassen werden.11 Zur Gleichbehandlung der Unternehmensjuristen durch die europäischen Gerichte verweisen wir auf die Ausführungen unter F.

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1.3 Zulassung als Syndikusrechtsanwalt § 46 Abs. 2 BRAO legaldefiniert den Begriff des Syndikusrechtsanwalts. Die Regelung verdeutlicht, dass der Syndikusrechtsanwalt für seinen nichtanwaltlichen Arbeitgeber anwaltlich tätig wird. Dessen Tätigkeit wird durch die Definitionen der Absätze

8BT-Drs.

18/5201, 19. Henssler, in: Henssler/Prütting, Bundesrechtsanwaltsordnung, 4. Aufl. 2014, § 46 Rn. 50. 10Henssler RdA 1999, 38, 41. 11Kolvenbach AnwBl. 1987, 211. 9Vgl.

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drei bis fünf näher konkretisiert. Hierbei wird an § 3 BRAO und an die von der DRV e­ntwickelten „Vier-Kriterien-Theorie“ angeknüpft, wobei letzterer an die Voraussetzungen und die Terminologie des Berufsrechts sowie des Arbeitsrechts angepasst wurde.12 Kernelemente des Berufs des Rechtsanwaltes dessen Eigenverantwortlichkeit und die fachliche Unabhängigkeit. Diese Begriffe sollen hervorheben, dass der sinnige Rechtsanwalt fachlich weisungsfrei und in eigener Verantwortung handelt und im Rahmen der Rechtsberatung und Rechtsvertretung in erster Linie der Pflichten der BRAO unterworfen ist und die Arbeit rechtlichen Weisungsbefugnisse des Arbeitgebers dahinter zurückstehen.13 Der bei einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft angestellte Rechtsanwalt, der Mandanten seines Arbeitgebers rechtlich berät, übt eine anwaltliche Tätigkeit aus und ist von der DRV zu befreien, wenn sein Arbeitsvertrag die unabhängige und weisungsfreie Wahrnehmung der ihm als Berufsträger übertragenen Mandate gewährleistet.14 Gleiches gilt für die Tätigkeit eines Volljuristen als Schadenssachbearbeiter für Großschäden und damit Aufsichtsperson über nachgeordnete Sachbearbeiter. Für die Tätigkeit im öffentlichen Dienst ist dies umstritten.15

1.3.1 Zulassungsvoraussetzungen 6

Nach § 46a Abs. 1 BRAO ist die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft als Syndikusrechtsanwalt auf Antrag zu erteilen, wenn (1) die allgemeinen Zulassungsvoraussetzungen zum Beruf des Rechtsanwalts gem. § 4 BRAO erfüllt sind, (2) kein Zulassungsversagungsgrund nach § 7 BRAO vorliegt und (3) die Tätigkeit den Anforderungen des § 46 Abs. 2 bis 5 BRAO entspricht. Die Zulassung nach S. 1 kann für mehrere Anstellungsverhältnisse erteilt werden. Über die Zulassung als Syndikusrechtsanwalt entscheidet die örtlich zuständige Rechtsanwaltskammer nach Anhörung des Trägers der Rentenversicherung. Dem Antrag auf Zulassung ist eine Ausfertigung oder eine öffentlich beglaubigte Abschrift des Arbeitsvertrags oder der Arbeitsverträge beizufügen. Die Rechtsanwaltskammer kann zudem die Vorlage weiterer Nachweise verlangen.16 Ein Bewerber, der die Zulassungsvoraussetzungen des Absatzes 1 erfüllt, hat einen Anspruch auf Zulassung. Da der Syndikusrechtsanwalt kein eigenständiger Beruf ist, sondern eine Form der Berufsausübung des einheitlichen Rechtsanwaltsberufs, knüpft die Zulassungsregelung an die §§ 4 BRAO und 7 an BRAO. § 4 BRAO bestimmt, dass zur Rechtsanwaltschaft nur zugelassen werden kann, wer die Befähigung zum Richteramt nach dem Deutschen Richtergesetz erlangt hat oder die Eingliederungsvoraussetzungen

12Römermann/Günther, 13BT-Drs.

BeckOK BRAO, Stand; 1.9.2017, § 46 Rn. 11.

18/5201, 26. BRAK-Mitt. 4/2017, 185. 15AGH Rheinland-Pfalz BRAK-Mitt. 4/2017, 192; HessAGH BRAK-Mitt. 4/2017, 193. 16Römermann/Günther NZA 2016, 71, 74. 14BSG

1  Der Syndikusrechtsanwalt

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nach dem Gesetz über die Tätigkeit europäischer Rechtsanwälte in Deutschland v. 9.3.200017 erfüllt oder die Eignungsprüfung nach diesem Gesetz bestanden hat. Ein Rechtsanwalt, der den persönlichen Anforderungen des Berufs nicht genügt, gefährdet die Rechtspflege und die Interessen des Rechtsuchenden. Die Zulassung wird daher nicht nur vom Nachweis der vorgeschriebenen Ausbildung, sondern auch davon abhängig gemacht, dass in der Person des Antragstellers kein Versagungsgrund gem. § 7 BRAO (bspw. aufgrund einer unvereinbaren Tätigkeit oder eines Vermögensverfalles) vorliegt.18 u Beraterhinweis  Die Zulassung ist nach § 7 Nr. 8 BRAO zu verweigern, wenn die antragstellende Person eine Tätigkeit ausübt, die mit dem Beruf des Rechtsanwalts, insbesondere seiner Stellung als unabhängiges Organ der Rechtspflege nicht vereinbar ist oder das Vertrauen in seine Unabhängigkeit gefährden kann.

§ 46a Abs. 2 S. 3 BRAO regelt, dass auch dem Träger der Rentenversicherung gegen die Zulassungsentscheidung der Rechtsanwaltskammer wie dem Antragsteller Rechtsschutz gem. § 112a Abs. 1 und 2 BRAO vor den dort genannten Gerichten zusteht. Zuständigkeit und Verfahren richten sich dabei nach den §§ 112b ff. BRAO. Dem Träger der Rentenversicherung steht nach dem Entwurf auf Grund der in § 46a Abs. 2 S. 4 BRAO vorgesehenen Bindungswirkung der Zulassungsentscheidung eine Klagebefugnis zu. Diese folgt bereits daraus, dass mit der gesetzlich angeordneten Bindungswirkung für ein Tatbestandselement des Befreiungstatbestandes (§ 6 Abs. 1 S. 1 SGB VI) der sachliche Zuständigkeitsbereich des Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung berührt ist. Er ist insoweit beschwert, als die getroffene Zulassungsentscheidung im Umfang der Bindungswirkung unmittelbar Auswirkungen auf die Befreiungsentscheidung und damit die Rentenversicherungspflicht hat Da die Zulassung als Syndikusrechtsanwalt an die ausgeübte Tätigkeit anknüpft, sieht § 46a Abs. 3 S. 1 BRAO vor, dass dem Antrag auf Zulassung eine Ausfertigung oder eine öffentlich beglaubigte Abschrift des Arbeitsvertrags beizufügen ist. Dies hindert den Antragsteller im Grundsatz nicht daran, für die Zulassung irrelevante personenbezogene Angaben aus Gründen des Datenschutzes stellenweise zu schwärzen, solange er seiner Nachweispflicht genügt. Der Arbeitsvertrag bildet die wesentliche Grundlage, anhand derer das Vorliegen einer anwaltlichen Tätigkeit geprüft wird.19 u Beraterhinweis  Für die Prüfung des Zulassungsantrages ist die in dem Antrag vorgesehene Tätigkeitsbeschreibung von zentraler Bedeutung. Die tatsächliche Tätigkeit muss in den Einzelheiten konkret, individualisiert und

17BGBl.

I 182. 18/5201, 31. 19BT-Drs. 18/5201, 34. 18BT-Drs.

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in den einzelnen Aufgaben und Tätigkeitsfeldern so umfassend beschrieben sein, dass die Rechtsanwaltskammer, als auch die Rentenversicherung sich ein präzises Bild von der tatsächlich ausgeübten Tätigkeit verschaffen können. Eine eher pauschale oder allgemeine, am Gesetzeswortlaut orientierte Tätigkeitsbeschreibung reicht nicht aus. Wegen des konstitutiven Merkmals der „fachlichen Unabhängigkeit“ ist zu schildern, auf welche Vereinbarungen sich die Vertretungsbefugnis nach außen gründet und wie diese auch intern ausgestaltet ist. Die Erteilung von Prokura oder Handlungsvollmacht ist nicht erforderlich, reicht aber in der Regel aus. Die prägenden Merkmale der Tätigkeit als Syndikusrechtsanwalt müssen auch vertraglich vereinbart und gewährleistet sein; die Rechtsanwaltskammer benötigt für die Prüfung eine entsprechende schriftliche Dokumentation, d.h. in der Regel einen an die neue Gesetzeslage angepassten Arbeitsvertrag.

1.3.2 Zulassungsverfahren 8

§ 46a Abs. 4 BRAO regelt, dass das Zulassungsverfahren sich – wie für Rechtsanwälte auch – nach den §§ 10–12a BRAO richtet. Es gibt für Syndikusrechtsanwälte zwei Ausnahmen: Abweichend von § 12 Abs. 2 BRAO ist der Nachweis des Abschlusses einer Berufshaftpflichtversicherung oder die Vorlage einer vorläufigen Deckungszusage nicht erforderlich und die Tätigkeit ist abweichend von § 12 Abs. 4 BRAO unter der Berufsbezeichnung „Rechtsanwältin (Syndikusrechtsanwältin)” oder „Rechtsanwalt (Syndikusrechtsanwalt)” auszuüben.  Absatz  4  wurde durch das Gesetz zur Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie und zur Änderungen weitere Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufe v. 12.5.201720 ergänzt: Mit der Neuregelung in § 46 Abs. 4 Nr. 2 BRAO soll sichergestellt werden, dass Syndikusrechtsanwälten aus einer etwaigen Verzögerung des berufsrechtlichen Zulassungsverfahrens keine Nachteile im Hinblick auf die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht entstehen. Nach alter Rechtslage konnte es dazu kommen, dass für einen Übergangszeitraum zwischen der Aufnahme einer neuen oder geänderten Tätigkeit als Syndikusrechtsanwalt und dem Wirksamwerden der Zulassungsentscheidung Beiträge zur Rentenversicherung zu zahlen sind, die gegebenenfalls später nicht oder nur bei einer Aufstockung mit freiwilligen Beiträgen zu Leistungsansprüchen aus der Rentenversicherung führen. Mit der Neuregelung soll einer solchen, aus Sicht der Betroffenen in aller Regel überflüssig erscheinenden temporären Beitragszahlung zur Rentenversicherung vorgebeugt werden. Dies erfolgt auch mit Rücksicht darauf, dass Betroffene – selbst bei frühzeitiger Antragstellung – die

20BGBl.

I 1121 ff.

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Dauer des Zulassungsverfahrens weder vorhersehen noch beeinflussen können und Tätigkeitsänderungen in der beruflichen Praxis mitunter kurzfristig erfolgen. Dies wurde nunmehr abgeschafft.

1.3.3 Erlöschen und Änderung der Zulassung Die Zulassung zum Syndikusrechtsanwalt erlischt ebenso wie beim Rechtsanwalt nach § 13 BRAO, der wie folgt lautet: „Die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft erlischt, wenn durch ein rechtskräftiges Urt. auf Ausschließung aus der Rechtsanwaltschaft erkannt ist oder wenn die Rücknahme oder der Widerruf der Zulassung bestandskräftig geworden ist“. Für die Rücknahme und den Widerruf der Zulassung gelten nach § 46b Abs. 2 S. 1 BRAO die allgemeinen Vorschriften für Rechtsanwälte (§§ 14, 15 BRAO). Ergänzend gilt, dass die Zulassung als Syndikusrechtsanwalt ganz oder teilweise zu widerrufen ist, soweit die arbeitsvertragliche Gestaltung eines Arbeitsverhältnisses oder die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit nicht mehr den Anforderungen des § 46 Absatz 2 bis 5 entspricht. § 46a Absatz 2 gilt entsprechend. Dieser Satz 2 des § 46b Abs. 2 BRAO trägt damit dem Umstand Rechnung, dass die Zulassung als Syndikusrechtsanwalt tätigkeitbezogen erfolgt und die Zulassung folglich zu widerrufen ist, wenn die von dem Syndikusrechtsanwalt im Rahmen seines Anstellungsverhältnisses ausgeübte Tätigkeit nicht mehr den Anforderungen des § 46 Abs. 2 bis 5 BRAO entspricht. Durch den Begriff „soweit“ wird deutlich, dass bei einer Zulassung, die sich auf mehrere Anstellungsverhältnisse bezieht, auch ein teilweiser Widerruf der Zulassung erfolgen kann, wenn die Tätigkeit in einem der Beschäftigungsverhältnisse nicht mehr den Anforderungen des § 46 Abs. 2 bis 5 BRAO entspricht.21 Werden im Rahmen eines einheitlichen Anstellungsverhältnisses auch nichtanwaltliche Aufgaben in nur geringem Umfang wahrgenommen, erfolgt kein Widerruf der Zulassung, solange die anwaltliche Tätigkeit das Beschäftigungsverhältnis ganz eindeutig prägt. Die mit der Durchführung der Sozialversicherung betrauten Behörden ist auch bei der Entscheidung über die Rücknahme oder den Widerruf der Zulassung anzuhören. Die Zulassung erlischt jedoch nicht ipso iure, sondern bedarf einer Entscheidung der zuständigen Rechtsanwaltskammer.22 Damit die Kammer ihrer Prüfungspflicht nachkommen kann, muss der Syndikusrechtsanwalt nach § 46b Abs. 4 BRAO dem Kammervorstand oder einem beauftragten Mitglied des Vorstands jede tätigkeitsbezogene Änderung des Arbeitsvertrags, dazu gehört auch die Aufnahme eines neuen Arbeitsverhältnisses und jede wesentliche Änderung der Tätigkeit innerhalb des Arbeitsverhältnisses anzeigen. Hilfreich ist es, wenn bereits der Arbeitsvertrag flexibel gestaltet ist und

21BT-Drs.

18/5201, 35.

22Henssler/Deckenbrock DB

2016, 215, 219.

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damit einhergehend die Kammer bereits bei der Zulassung ein (möglichst umfassendes) Aufgabenfeld geprüft hat.23

1.4 Tätigkeit der Syndikusrechtsanwälte 10 § 46 Abs. 2 und 3 BRAO regeln Folgendes: (3) Eine anwaltliche Tätigkeit im Sinne des Absatzes 2 Satz 1 liegt vor, wenn das Arbeitsverhältnis durch folgende fachlich unabhängig und eigenverantwortlich auszuübende Tätigkeiten sowie durch folgende Merkmale geprägt ist: 1. die Prüfung von Rechtsfragen, einschließlich der Aufklärung des Sachverhalts, sowie das Erarbeiten und Bewerten von Lösungsmöglichkeiten, 2. die Erteilung von Rechtsrat, 3. die Ausrichtung der Tätigkeit auf die Gestaltung von Rechtsverhältnissen, insbesondere durch das selbständige Führen von Verhandlungen, oder auf die Verwirklichung von Rechten und 4. die Befugnis, nach außen verantwortlich aufzutreten. (4) Eine fachlich unabhängige Tätigkeit im Sinne des Absatzes 3 übt nicht aus, wer sich an Weisungen zu halten hat, die eine eigenständige Analyse der Rechtslage und eine einzelfallorientierte Rechtsberatung ausschließen. Die fachliche Unabhängigkeit der Berufsausübung des Syndikusrechtsanwalts ist vertraglich und tatsächlich zu ge­währleisten.

1.4.1 Tätigkeit 11 Syndikusrechtsanwalt ist, wer kumulativ vier berufskennzeichnende Elemente in sich vereinigt: (1) Er analysiert die Rechtslage. Das könnte als Internum gedacht sein, wollte man es sinnvoll vom zweiten Kriterium abgrenzen, der Beratung. So verhält es sich indes ausweislich der Entwurfsbegründung nicht.24 Danach soll auch das Aufzeigen von „Handlungsoptionen“, von „Lösungsalternativen und deren Bewertung in rechtlicher, tatsächlicher und wirtschaftlicher Hinsicht“ noch zur Analyse gehören, als „Vorbereitungshandlung zur Erteilung eines Rechtsrats“. (2) Der Syndikusrechtsanwalt berät rechtlich, (3) er gestaltet und (4) er hat die Befugnis, nach außen verantwortlich aufzutreten. Die Kriterien sind wesentlich schärfer, als die Tätigkeit eines Rechtsanwalts; dieser wird häufig die vier Kriterien gar nicht erfüllen.25

23Offermann-Burckart NJW

2016, 113, 117. 18/5201, 28. 25Römermann/Günther NZA 2016, 71, 72. 24BT-Drs.

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1.4.1.1 Kumulative Kriterien Die Rechtsberatung (Nr. 1) umfasst die in § 46 BRAO genannten Elemente der 12 unabhängigen Analyse des Sachverhalts und der Prüfung von Rechtsfragen, des fachlich unabhängigen Erarbeitens und Bewertens rechtlicher Lösungsmöglichkeiten und das fachlich unabhängige Erteilen von Rechtsrat. Elemente der Rechtsvertretung werden in § 46 Abs. 3 Nr. 3 und Nr. 4 BRAO genannt. Absatz 3 Nr. 1 bezieht sich auf die Pflicht des Rechtsanwalts, den Sachverhalt zu dem er beratend tätig werden soll, möglichst genau zu klären, die Rechtslage zu prüfen und Handlungsoptionen aufzuzeigen sowie zu bewerten. Die Pflicht des Rechtsanwalts zur vollständigen Beratung setzt zunächst voraus, dass er durch Befragen seines Auftraggebers die Punkte klärt, auf die es für die rechtliche Beurteilung ankommen kann. Der Rechtsanwalt darf sich nicht mit der rechtlichen Würdigung des ihm vorgetragenen Sachverhalts begnügen, sondern muss sich bemühen, durch Befragung des Rechtsuchenden ein möglichst vollständiges und objektives Bild der Sachlage zu gewinnen.26 Die Prüfung von Rechtsfragen umfasst die Analyse der Gesetzeslage, der Verwaltungspraxis und der höchstrichterlichen Rspr. und ihrer Bedeutung für den Sachverhalt, auf den sich die rechtliche Beratung beziehen soll. Das Aufzeigen verschiedener Lösungsalternativen und deren Bewertung in rechtlicher, tatsächlicher und wirtschaftlicher Hinsicht dienen dazu, dem Mandanten eine Entscheidung zu ermöglichen. Es handelt sich hierbei um die Vorbereitungshandlung zur Erteilung eines Rechtsrats. 1.4.1.2 Unabhängigkeit Dass eine persönliche Unabhängigkeit beim abhängig Beschäftigten nicht vor- 13 liegen kann, hat der Gesetzgeber offenbar erkannt, deswegen beschränkt er sich auf die Anordnung einer „fachlichen“ Unabhängigkeit. Fachliche Unabhängigkeit des Angestellten ist offenbar eine Art „Unabhängigkeit in der Abhängigkeit“. Abgrenzungsfragen sind bei dieser in sich widersprüchlichen Konstellation vorprogrammiert.27 Da § 46c Abs. 1 BRAO auf die Regelungen der Rechtsanwälte (und damit der BRAO) auch für Syndici Bezug nimmt, somit § 1 BRAO umfasst, hat der Hinweis auf die Anforderung der Unabhängigkeit nur wiederholenden Charakter. Bei Personen, die ein Anstellungsverhältnis zu anwaltlichen Arbeitgebern eingegangen sind, findet sich ein derartiger Bezug nicht. Hintergrund dieser Differenzierung ist ausweislich der Entwurfsbegründung, dass der anwaltliche Arbeitgeber die Unabhängigkeit kenne, der nichtanwaltliche aber nicht.28 Das liest sich zunächst einleuchtend, wer indes vom gesetzesignoranten Arbeitgeber ausgeht, wird von ihm auch keine Kenntnis des § 46c BRAO erwarten dürfen. Unzutreffend wäre jedenfalls nach dem Verständnis der Entwurfsbegründung eine Interpretation e contrario, wonach Angestellte von

26vgl.

BGH NJW 1961, 601, 602. 2016, 71, 72. 28BT-Drs. 18/5201, 18. 27Römermann/Günther NZA

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­echtsanwälten keine „Unabhängigkeit“ genössen. Compliance-Regeln, „die keine R unmittelbaren fachlichen Bezüge aufweisen“, schließen nach der Entwurfsbegründung die Zulassung als Syndikus nicht aus (S. 28). Das wird an anderer Stelle der Begründung näher erläutert (S. 29): Richtliniengebundene Schadensachbearbeitung bei einer Versicherung sei ausgeschlossen, die Befolgung der Compliance-Regeln aber nicht. Regelungen, die keine Weisungen innerhalb des Arbeitsverhältnisses sind und an die auch der Arbeitgeber gebunden ist, berühren die fachliche Unabhängigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Tätigkeit des Syndikusrechtsanwalts, unabhängig von Dichte und Detailliertheit dieser Regelungen, nicht.29 Damit hat der BGH dem sog. „Schadenanwalt“ die Stellung als Syndikusrechtsanwalt zugebilligt.

1.4.1.3 Eigenverantwortlichkeit 14 Neben der „Unabhängigkeit“ fordert das Gesetz die „eigenverantwortliche“ Tätigkeit. „In eigener Verantwortung“ soll ein Syndikusrechtsanwalt handeln, heißt es; und auch das ist ebenso banal wie missverständlich.30 Im Verhältnis zu seinem Arbeitgeber hat jeder Arbeitnehmer Fehler zu verantworten, im Verhältnis des Arbeitgebers zu dessen Mandanten oder Geschäftspartnern hingegen zeichnet lediglich der Arbeitgeber verantwortlich, nicht der Arbeitnehmer, zu welchem der Dritte schließlich gar keine Vertragsbeziehung unterhält. Eine Verantwortlichkeit im Haftungssinne kommt dort lediglich bei Delikt in Betracht, auch das kein Spezifikum des Anstellungsverhältnisses. Wer für ein genaueres Verständnis der „Eigenverantwortlichkeit“ nach Parallelen sucht, scheint in § 59f Abs. 1 BRAO fündig zu werden. Dort ist von der „verantwortlichen“ Führung die Rede, was bei Dienst- und Anstellungsverhältnissen allemal mehr Sinn ergibt als das sich selbst bestätigende „eigenverantwortlich“. Bei § 59f Abs. 1 BRAO ist zwar keine natürliche Auslegung möglich, weil eine GmbH strukturell verantwortliche (vgl. § 43 GmbHG) und jedenfalls rechtlich keine „unverantwortlichen“ Geschäftsführer kennt. Aber es gibt immerhin BGH-Rechtsprechung in Anlehnung an eine Entwurfsbegründung und danach soll „verantwortlich“ so viel bedeuten wie „allein vertretungsbefugt“.31 Ann der Eigenverantwortlichkeit fehlt es, wenn der Syndikusrechtsanwalt über keinen Tätigkeitsbereich verfügt, in welchem er ohne Rücksprache mit anderen und ohne „Wenn und Aber“ verbindlich für seinen Arbeitgeber entscheiden kann.32 Auch die Arbeitnehmer in der Personalabteilung können als Syndikusrechtsanwälte zugelassen werden, wenn sie einen überwiegenden Teil anwaltliche Tätigkeiten ausüben (hier: 70 %).33 Auch die mit der anwaltlichen Arbeit direkt zusammenhängenden organisatorischen Tätigkeiten

29BGH

NZG 2017, 1238.

30Römermann/Günther NZA

2016, 71, 74. 2012,  94; dazu näher Römermann  GmbHR 2012,  64; Entwurfsbegründung BT-Drs. 13/9820, 15. 32AGH BW vom 21.9.2017, AGH 17/2016. 33AGH NRW Urt. V. 10.2.23017, 1 AGH 20/16. 31BGH  GmbHR

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(bspw. Personalführung oder Organisation in der Rechtsabteilung) muss berücksichtigt werden.34

1.4.2 Weisungen § 46 Abs. 4 S. 1 BRAO konkretisiert den Begriff der fachlich unabhängigen Tätig- 15 keit mithilfe einer Negativabgrenzung; nicht fachlich unabhängig sei, wer sich an Weisungen zu halten hat, die eine eigenständige Analyse der Rechtslage und eine einzelfallorientierte Rechtsberatung ausschließen. Dabei ist die fachliche Unabhängigkeit nach § 6 Abs. 4 S. 2 BRAO vertraglich und tatsächlich zu gewährleisten, die Unabhängigkeit muss also nicht nur Gegenstand der arbeitsvertraglichen Vereinbarung sein, sondern auch – was sich in der Praxis für die Kammer nur schwer kontrollieren lässt – tatsächlich iRd Anstellungsverhältnisses gelebt werden.35 Der Syndikusrechtsanwalt soll ausweislich der Entwurfsbegründung Weisungen des Arbeitgebers „aus fachlichen oder berufsrechtlichen Gründen“ ablehnen können, „ohne dass hieran arbeitsrechtliche Konsequenzen geknüpft werden“ dürften (S. 29). Der persönlich abhängige Arbeitnehmer wird im Ergebnis deutlich freier gestellt als es der „freie“ Rechtsanwalt im Verhältnis zu seinem Mandanten je wäre. Das Verbot arbeitsrechtlicher Konsequenzen liest sich nett, wird in der Realität aber nur dort durchzusetzen sein, wo ein Arbeitgeber etwaige Veränderungen der Arbeitsbedingungen gerade mit der Unbotmäßigkeit des Syndikus begründet – und wer wird sich schon diese Blöße geben? Das Arbeitsrecht ist nicht nur seit Geltung des AGG dafür bekannt, dass echte und offizielle Begründungen häufig krass voneinander abweichen. Überraschend ist, dass die fachliche Unabhängigkeit des Anwalts „vertraglich und tatsächlich“ zu gewährleisten sei. Warum es dann noch eines Vertrages bedarf, wenn es ohnehin auf die „Tatsachen“ ankommen soll, erschließt sich im Grunde nicht. Für die vertragliche Fixierung genügt es jedoch, wenn das Unternehmen als Arbeitgeber und der Unternehmensjurist Einigkeit erzielen, dass die ursprüngliche Weisungsgebundenheit aus dem Arbeitsvertrag für die Zukunft in rechtlicher Hinsicht durch eine fachliche Unabhängigkeit ersetzt wird.36 Es genügt eine Klausel im Arbeitsvertrag, wonach die Weisungsfreiheit in allen Angelegenheiten, die eine eigenständige Analyse der Rechtslage und eine einzelfallorientierte Rechtsberatung gewährleisten; der beschreibende Teil der Tätigkeit (hier: „Prüfung von Rechtsfragen, einschließlich der Aufklärung des Sachverhaltes sowie das Erarbeiten und Bewerten von Lösungsmöglichkeiten“) ist dabei unbeachtlich.37

34AGH

BW, Urt. V. 26.6.2017, AGH 16/2016. 18/5201, 29; Henssler/Deckenbrock DB 2016, 215, 217. 36AGH NRW BRAK-Mitt. 1/2017, 47; AGH NRW BRAK-Mitt. 1/2017, 49. 37AGH NRW BeckRS 2017, 102243. 35BT-Drs.

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1.4.3 Beratung und Vertretung 16 Nach § 46 Abs. 5 S. 1 BRAO beschränkt sich die Befugnis des Syndikusrechtsanwalts zur Beratung und Vertretung auf die Rechtsangelegenheiten des Arbeitgebers. Der Syndikusrechtsanwalt ist anders als der niedergelassene Anwalt nicht der „berufene (…) Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten“ (vgl. § 3 Abs. 1 BRAO), sondern ein „Anwalt sui generis“.38 Die Beschränkung auf die Tätigkeit des Syndikusrechtsanwalts für seinen Arbeitgeber in dessen Rechtsangelegenheiten sei erforderlich, um eine Gefährdung der anwaltlichen Unabhängigkeit durch das Einwirken fremder wirtschaftlicher Interessen zu verhindern (Fremdkapitalverbot).39 § 46 Abs. 5 S. 2 BRAO konkretisiert den Begriff der Rechtsangelegenheiten des Arbeitgebers. Daraus folgt, dass auch derjenige als Syndikusrechtsanwalt nach § 46 Abs. 2 BRAO tätig wird, der seine Arbeitskraft dazu verwendet, um im Rahmen eines Anstellungsverhältnisses zu einem Verband Rechtsrat an dessen Mitglieder bzw. im Falle eines Dachverbands an die Mitglieder der Mitgliedsverbände in deren Rechtsangelegenheiten zu erteilen (Verbandssyndikusrechtsanwalt). Dies gilt allerdings nur dann, wenn dabei dieselben Bedingungen der Eigenverantwortlichkeit wie gegenüber dem Arbeitgeber zur Anwendung kommen40 § 46 Abs. 5 S. 2 Nr. 1 BRAO regelt klarstellend, dass die eigenen Rechtsangelegenheiten des Arbeitgebers auch die Rechtsangelegenheiten innerhalb verbundener Unternehmen nach § 15 AktG umfassen. Der Begriff der verbundenen Unternehmen wird in § 15 AktG legal definiert. Verbundene Unternehmen sind danach rechtlich selbständige Unternehmen, die im Verhältnis zueinander in Mehrheitsbesitz stehenden Unternehmen und mit Mehrheit beteiligte Unternehmen (§16 AktG), abhängige und herrschende Unternehmen (§ 17 AktG), Konzernunternehmen (§ 18 AktG), wechselseitig beteiligte Unternehmen (§ 19 AktG) oder Vertragsteile eines Unternehmensvertrags (§§ 291, 292 AktG). In Ergänzung des § 2 Abs. 3 Nr. 6 RDG ist nunmehr auch in § 46 Abs. 2 Nr. 2 BRAO klargestellt, dass einem Syndikusrechtsanwalt auch die konzernweite Rechtsberatung möglich ist. Zulässig ist in bestimmten Fällen auch die Tätigkeit gegenüber Dritten, soweit der nichtanwaltliche Arbeitgeber selbst nach dem RDG entsprechende Kompetenzen besitzt.41 Die Tätigkeit eines anwaltlichen Geschäftsführers einer Insolvenzverwalter GmbH fällt nicht darunter.42

38Offermann-Burckart NJW 39BT-Drs.

2016, 113, 117.

18/5201, S. 30. 18/5201, 30. 41Römermann in: BeckOK RDG, Stand: 1.10.2017, § 2 Rn. 141. 42Hess. AGH Urt. V. 13.3.2017, 1 AGH 9/16. 40BT-Drs.

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1.5 Berufsrechtliche Pflichten (§ 46c BRAO) 1.5.1 Allgemeine Berufspflichten § 46c BRAO benennt die geltenden Vorschiften für den Syndikusrechtsanwalt. Die 17 Norm gliedert sich in einen deklaratorischen und einen konstitutiven Regelungsteil. Der deklaratorische Absatz 1 stellt klar, dass die für Rechtsanwälte geltenden gesetzlichen Vorschriften im Grundsatz in gleicher Weise auf Syndikusrechtsanwälte Anwendung finden. In Ausnahme zu diesem Grundsatz enthalten die konstitutiven Absätze 2 bis 5 abweichende Sonderregelungen und Modifikationen. Absatz 3 schließt die Anwendung einzelner berufsrechtlicher Vorschriften auf die Tätigkeit von Syndikusrechtsanwälten aus. Hintergrund dieser Regelung ist, dass der Syndikusrechtsanwalt in dieser Eigenschaft allein für seinen jeweiligen Arbeitgeber auf Grundlage des mit diesem geschlossenen Dienstvertrags tätig wird.43 Als unpassend erweisen sich daher berufsrechtliche Vorschriften, die an das Bild eines am freien Markt tätigen Rechtsanwalts, der Dienstleistungen für die Allgemeinheit erbringt, anknüpfen; bspw. Pflichten iRd Zustandekommens des Anwaltsvertrags (§ 44 BRAO), die Pflicht zur Übernahme von Prozessvertretungen (§§ 48, 49 BRAO) oder die Führung von Handakten (§ 50 Abs. 2und 3 BRAO).44 Auch Syndikusrechtsanwälte müssen nach  §  27 BRAO  eine „Kanzlei“ unterhalten, wobei die regelmäßige Arbeitsstätte als Kanzlei gilt (Abs. 4 S. 1). Besondere Anforderungen an die räumliche und organisatorische Beschaffenheit der Arbeitsstätte folgen nach der Gesetzesbegründung daraus nicht.45 Die schwammigen Vorgaben des § 5 BORA, nach denen ein Anwalt die für seine Berufsausübung erforderlichen sachlichen, personellen und organisatorischen Voraussetzungen vorzuhalten hat, gelten für den Syndikusrechtsanwalt damit nicht.46 § 46c Abs. 5 BRAO enthält Sonderregelungen für die Eintragung von Syndikusrechtsanwälten in das elektronische Rechtsanwaltsverzeichnis. Da nach dem Entwurf die BRAO künftig zwei Arten von Anwaltszulassungen kennt, sieht S. 1 vor, dass Syndikusrechtsanwälte im elektronischen Rechtsanwaltsverzeichnis explizit als solche geführt werden. Auf diese Weise ist für einen nach Rechtsrat suchenden Bürger erkennbar, welcher Rechtsanwalt ausschließlich als Syndikusrechtsanwalt zugelassen und damit nicht gegenüber jedermann zur Rechtsberatung befugt ist und demzufolge insbes. auch keine Beratungshilfe leistet.

43BT-Drs.

18/5201, 37. geändert durch Gesetz zur Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie und zur Änderungen weitere Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufe v. 12.5.2017, BGBl. I 1121 ff. 45BT-Drs. 18/5201, 39. 46Henssler/Deckenbrock DB 2016, 215, 221. 44Zuletzt

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1.5.2 Vertretung 18 Der Syndikusrechtsanwalt soll seinen Arbeitgeber in einem gewissen Rahmen vertreten dürfen. Nach § 46c Abs. 2 BRAO dürfen Syndikusrechtsanwälte ihren Arbeitgeber nicht vertreten (1) vor den Landgerichten, Oberlandesgerichten und dem Bundesgerichtshof in zivilrechtlichen Verfahren und Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit, sofern die Parteien oder die Beteiligten sich durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen müssen oder vorgesehen ist, dass ein Schriftsatz von einem Rechtsanwalt unterzeichnet sein muss, und (2) vor den in § 11 Abs. 4 S. 1 ArbGG genannten Gerichten (LAG und BAG), es sei denn, der Arbeitgeber ist ein vertretungsbefugter Bevollmächtigter iSd § 11 Abs. 4 S. 2 ArbGG. In Straf- oder Bußgeldverfahren, die sich gegen den Arbeitgeber oder dessen Mitarbeiter richten, dürfen Syndikusrechtsanwälte nicht als deren Verteidiger oder Vertreter tätig werden; dies gilt, wenn Gegenstand des Straf- oder Bußgeldverfahrens ein unternehmensbezogener Tatvorwurf ist, auch in Bezug auf eine Tätigkeit als Rechtsanwalt. Damit ändert sich zunächst nichts an der bisherigen Regelung. Allerdings ist die Vertretung des Arbeitsgebers durch den Syndikusrechtsanwalt in verwaltungs-, finanzund sozialrechtlichen Verfahren nunmehr – im Umkehrschluss – erlaubt. Das RVG soll – so die Entwurfsbegründung47 – jedoch nicht anwendbar sein, weil das Vergütungssystem des RVG auf eine selbstständige Tätigkeit des niedergelassenen Rechtsanwalts abstellt, der Syndikusrechtsanwalt hingegen für seine Tätigkeit im Anstellungsverhältnis bezahlt wird. Das Verbot der Gebührenunterschreitung des § 49b Abs. 1 BRAO gilt dann auch nicht, da dies nach dem Wortlaut des Gesetzes auf die RVG-Vergütung abstellt.48

1.6 Gesetzliche Rentenversicherung/Versorgungswerk 19 Syndikusrechtsanwälte können nach § 46 BRAO bei der örtlich zuständigen Rechtsanwaltskammer ihre Zulassung zur Rechtsanwaltschaft beantragen. Nach § 46 Abs. 1 BRAO gelten für sie die für Rechtsanwälte geltenden Vorschriften, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist.

1.6.1 Befreiung von der DRV 20 Zu den demnach anzuwendenden Vorschriften gehört auch § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI, wonach Rechtsanwälte, wenn und solange sie Pflichtmitglieder der Versorgungswerke sind, auf Antrag von der gesetzlichen Rentenversicherung zu befreien sind. Die eigentliche Befreiungsvorschrift des § 6 SGB VI bleibt unverändert. Auch die Befreiung für

47BT-Drs.

18/5201, 21.

48Römermann/Günther NZA

2016, 71, 74.

1  Der Syndikusrechtsanwalt

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die Tätigkeit als Syndikusrechtsanwalt ist nur auf Antrag möglich. Die Befreiung wirkt auf den Zeitpunkt der Aufnahme der Beschäftigung zurück, wenn der Antrag binnen einer Frist von drei Monaten nach Aufnahme der Tätigkeit gestellt wird und zu diesem Zeitpunkt die Befreiungsvoraussetzungen vorliegen; wird diese Frist versäumt, wirkt die Befreiung ab Antragseingang.49 § 46a Abs. 2 S. 4 BRAO stellt klar, dass die DRV bei ihrer Entscheidung über die Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 6 Abs. 1 S.1 Nr. 1 und Abs. 3 SGB VI an die bestandskräftige Entscheidung der Rechtsanwaltskammer gebunden ist.

1.6.2 Rückwirkung Nach § 231 Abs. 4 SGB VI können Mitglieder von berufsständischen Versorgungsein- 21 richtungen, die nur deshalb Pflichtmitglied einer berufsständischen Versorgungseinrichtung sind, weil eine für ihre Berufsgruppe am 31.12.1994 bestehende Verpflichtung zur Mitgliedschaft in der berufsständischen Versorgungseinrichtung nach dem 31.12.1994 auf diejenigen Angehörigen der Berufsgruppe erstreckt worden ist, die einen gesetzlich vorgeschriebenen Vorbereitungs- oder Anwärterdienst ableisten, bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen nach § 6 Abs. 1 SGB VI von der Versicherungspflicht befreit werden. Nach Absatz 4b der Norm wirkt eine Befreiung von der Versicherungspflicht als Syndikusrechtsanwalt oder Syndikuspatentanwalt nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI, die unter Berücksichtigung der Bundesrechtsanwaltsordnung in der ab dem 01.01.2016 geltenden Fassung oder der Patentanwaltsordnung in der ab dem 01.01.2016 geltenden Fassung erteilt wurde, auf Antrag vom Beginn derjenigen Beschäftigung an, für die die Befreiung von der Versicherungspflicht erteilt wird. Sie wirkt − nach Satz 2 − auch vom Beginn davorliegender Beschäftigungen an, wenn während dieser Beschäftigungen eine Pflichtmitgliedschaft in einem berufsständischen Versorgungswerk bestand. Die Befreiung nach den Sätzen 1 und 2 wirkt frühestens ab dem 01.04.2014. Die Befreiung wirkt jedoch − nach Satz 4 − auch für Zeiten vor dem 01.04.2014, wenn für diese Zeiten einkommensbezogene Pflichtbeiträge an ein berufsständisches Versorgungswerk gezahlt wurden. Aktueller Streitpunkt zwischen den zugelassenen Syndikusrechtsanwälten und der DRV ist derzeit, was unter „einkommensbezogene Pflichtbeiträge an ein berufsständisches Versorgungswerk gezahlt“ verstanden wird. Hierzu hat das BVerfG50 anschaulich ausgeführt:

49Schafhausen AnwBl. 50Beschl. v.

2016, 116. 22.7.2016 − 1 BvR 2534/14, NZS 2016, 825.

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V. Römermann Nach der von der Kammer eingeholten Stellungnahme der Beschwerdeführerin ist kein Grund dafür erkennbar, dass sie nicht in der Lage sein könnte, die Voraussetzungen des § 231 Abs.4b Satz 4 SGB VI darzulegen, zumal sie sich im Ausgangsverfahren stets auf den Standpunkt gestellt hat, gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI von der Versicherungspflicht befreit zu sein. Dem steht nicht entgegen, dass sie lediglich die nach § 30 Abs. 3 der Satzung des Versorgungswerks der Rechtsanwälte im Lande Nordrhein-Westfalen vom 16. Juli 1985 (JMBl 1985, S. 172) geschuldeten Mindestbeiträge in Höhe von 10 % des Regelpflichtbeitrags gezahlt hat, weil es sich auch dabei um einkommensbezogene Pflichtbeiträge im Sinne von § 231 Abs. 4b S. 4 SGB VI handelt (vgl. Hartmann/Horn, AnwBl Online 2016, S. 255 ; Schafhausen, a. a. O., Rn. 59; ders., AnwBl Online 2016, S. 175 ; vgl. auch Wein/Walter, BB 2016, S. 245).

Dem hat sich das Sozialgericht Berlin51 angeschlossen: „Nach § 231 Abs. 4b S. 2 SGB VI wirkt die rückwirkende Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung auch vom Beginn davorliegender Beschäftigungen an, wenn während dieser Beschäftigung eine Pflichtmitgliedschaft in einem berufsständischen Versorgungswerk bestand. Dieser Regelung ist zu entnehmen, dass die rückwirkende Befreiung auch für bereits beendete Arbeitsverhältnisse gelten soll, soweit eine Pflichtmitgliedschaft in einem berufsständischen Versorgungswerk bestand. 3. Der Umstand, dass lediglich Mindestbeiträge in das Versorgungswerk eingezahlt wurden, steht einem Antrag auf rückwirkende Befreiung von der Versicherungspflicht nicht entgegen. Denn auch dabei handelt es sich um einkommensbezogene Pflichtbeiträge im Sinne von § 231 Abs. 4b S. 4 SGB VI“. Zudem spiegelt diese Ansicht die einhellige Meinung im Schrifttum wieder.52

1.7 Syndikusrechtsanwalt und Strafrecht 22 Als Folge der BGH-Rspr. zur sog. „Doppelberufstheorie“ soll sich der Syndikus für seine Tätigkeit im Rahmen eines Dienstverhältnisses nicht auf die typischen anwaltlichen Privilegien wie die straf- und zivilprozessualen Zeugnisverweigerungsrechte aus § 53 Abs. l Nr. 3 StPO und § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO berufen können. Dies gilt ebenfalls für das Beschlagnahmeprivileg des § 97 StPO. Der Beschlagnahme unterliegen grundsätzlich nach § 97 Abs. 1 Nr. 2 StPO solche Aufzeichnungen nicht, welche die in § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 1–3b StPO genannten Personen über die ihnen vom Beschuldigten anvertrauten Mitteilungen oder über andere Umstände gemacht haben, auf die sich das Zeugnisverweigerungsrecht erstreckt. Hieraus folgt, dass bei im Gewahrsam eines Syndikusrechtsanwalts aufgefundenen Unterlagen nur dann Beschlagnahmefreiheit besteht, wenn er mit typischen ­anwaltlichen

51Urt.

v. 11.01.2017 - S 11 R 645/16, BeckRS 2017, 100268. in: Kilger/Offermann-Burckart/Schafhausen/Schuster, Das neue Syndikusrecht, 2016, § 3 Rn. 59; Hartmann/Horn, AnwBl. 2016, 255, 257; Schaffhausen, AnwBl. 2016, 175, 176. 52Schaffhausen

1  Der Syndikusrechtsanwalt

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Aufgaben befasst ist. Demnach gilt lediglich das Beschlagnahmeprivileg nicht für ­Unterlagen, die der Jurist als Rechtsanwalt zur Erbringung von anwaltlichen Leistungen gegenüber Dritten erstellt hat. Soweit der Syndikusrechtsanwalt für sein Unternehmen tätig wird (bspw. als Leiter der Rechtsabteilung), handelt es sich nicht um eine Anwaltstätigkeit, welche zu einer Beschlagnahmefreiheit führt.53 In einem solchen Fall fehlt es an einer weisungsfreien Stellung als Organ der 23 Rechtspflege. Nur soweit der Syndikusrechtsanwalt neben seiner Einbindung in ein bestimmtes Unternehmen auch für außenstehende Dritte tätig wird, erfüllt er das Regelbild des zeugnisverweigerungsberechtigten Anwalts. Diese Differenzierung wird auch in § 46 Abs. 1 und 2 BRAO vorgenommen. Sofern demnach die beschlagnahmten Unterlagen sich zumindest auch im Mitgewahrsam vom Syndikusrechtsanwalt befinden und von diesem nicht in seiner anwaltlichen Funktion selbst übergeben wurden, unterliegen sie keiner Beschlagnahmefreiheit. Das EuG hat in einem Urt. aus dem Jahr 200754 im Fall Akzo Nobel entschieden, dass die Kommunikation zwischen Syndikusanwälten und ihrem nichtanwaltlichen Arbeitgeber nicht der Verschwiegenheit und der Beschlagnahmefreiheit unterfalle. Behörden dürfen somit weiterhin Zugriff auf Unterlagen von Rechtsabteilungen nehmen. Hierzu hat der EuGH im Jahre 201055 nachgelegt und den EuG darin bestätigt, dass der Schutz der Vertraulichkeit für die Kommunikation mit einem Rechtsanwalt sich nicht auf den unternehmens- oder konzerninternen Schriftwechsel mit Syndikusanwälten erstrecke, da aufgrund des Beschäftigungsverhältnisses keine Unabhängigkeit bestehe. Der EuGH versagt hierdurch den Syndikusanwälten das legal privilege, also den Schutz der Kommunikation zwischen Unternehmen und Syndikusanwalt. Begründet hat der EuGH seine Entscheidung mit dem Argument, dass bei einem Syndikusanwalt nicht denselben Grad an Unabhängigkeit von seinem Arbeitgeber wie bei einem externen Anwalt vorläge. Insoweit kann der Syndikusanwalt die Strategie seines Arbeitgebers nicht ignorieren und deshalb ist es ihm weniger möglich, etwaige Spannungen zwischen dem Berufsrecht und den Arbeitgeberinteressen auszuräumen. Erst wenn der Schriftwechsel im Zusammenhang mit der Ausübung des Rechts des Mandanten auf Verteidigung steht und es sich um Schriftwechsel handelt, welcher mit einem unabhängigen und nicht durch Dienstvertrag an den Auftraggeber gebundenen Rechtsanwalt geführt wird, kann von einer Beschlagnahmefreiheit ausgegangen werden. An dieser Rechtslage hat sich auch durch das neue Syndikusrecht nicht geändert.56 Überwiegend anerkannt ist jedoch, dass auch der Syndikusrechtsanwalt bei der Tätigkeit für ihren Arbeitgeber als Rechtsanwälte tätig werden können und dann grundsätzlich ein Zeugnisverweigerungsrecht hat.

53LG

Bonn NStZ 2007, 604. 2007, 70724; Dahns NJW-Spezial 2007, 526. 55NJW 2010, 3557. 56Kilger/Offermann-Burckart/Schafhausen/Schuster, Das neue Syndikusrecht, § 2 Rn. 148, 150. 54EuG BeckRS

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V. Römermann

u Beraterhinweis  Die im Gewahrsam eines Syndikusrechtsanwalts aufgefundenen Unterlagen unterliegen nur dann der Beschlagnahmefreiheit, wenn er mit typischen anwaltlichen Aufgaben befasst ist. Demnach gilt lediglich das Beschlagnahmeprivileg nicht für Unterlagen, die der Jurist als Rechtsanwalt zur Erbringung von anwaltlichen Leistungen gegenüber Dritten erstellt hat. Soweit der Syndikusrechtsanwalt für sein Unternehmen tätig wird (bspw. als Leiter der Rechtsabteilung), handelt es sich nicht um eine Anwaltstätigkeit, welche zu einer Beschlagnahmefreiheit führt

Das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Syndikusrechtsanwälte und zur Änderung der Finanzgerichtsordnung v. 21.12.2015 (BGBl. I 2517) hat nunmehr auch § 53 der StPO geändert, wonach für Syndikusrechtsanwälte das Zeugnisverweigerungsrecht nicht hinsichtlich dessen gilt, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekanntgeworden ist.

1.8 Syndikusrechtsanwalt und Fachanwaltschaft 24 Wer Fachanwalt werden will, muss gem. § 43c Abs. 1 BRAO besondere theoretische Kenntnisse und praktische Erfahrungen nachweisen. Einzelheiten zu den damit verbundenen Anforderungen finden sich insbes. in den §§ 4–6 FAO. Der Erwerb besonderer theoretischer Kenntnisse setzt nach § 4 Abs. 1 FAO in der Regel voraus, dass der Antragsteller an einem auf die Fachanwaltsbezeichnung vorbereitenden anwaltsspezifischen Lehrgang teilgenommen hat. Zudem muss der Antragsteller nach § 5 FAO besondere praktische Kenntnisse vorweisen. Jahrelang wurde in diesem Zusammenhang diskutiert, ob die Tätigkeit eines Rechtsanwalts als Syndikusanwalt bei der Verleihung eines Fachanwaltstitels berücksichtigt werden durfte. Die frühere Rspr. lehnte eine Einbeziehung der von einem Syndikusanwalt im Rahmen seines Dienstverhältnisses für den Dienstherrn bearbeiteten Fälle für die Fachanwaltsbezeichnung kategorisch ab, unter Verweis auf den Wortlaut des § 5 FAO aF.57 Der BGH ging nach dem Wortlaut davon aus, dass nach § 5 FAO aF eine „selbstständige“ Bearbeitung bei dem Syndikusanwalt nicht vorläge, weil er seine Tätigkeit weisungsgebunden ausführe. Erstmals im Jahre 2001 erkannte sodann der BGH auch solche Fälle zur Darlegung der praktischen Erfahrung an, die als Syndikusanwalt eines Unternehmens bearbeitet wurden, so dass diese bei den für den Fachanwaltstitel relevanten Fällen mitzuzählen sein könnten.58 Dies galt zumindest in Ergänzung zu Fällen, welche der Syndikusanwalt in seiner Funktion als Rechtsanwalt im Nebenberuf betreute. Somit erkannte der BGH nunmehr an, dass der Syndikusanwalt jedenfalls in Ausnahmefällen auch

57BGH, NJW 58BGH, NJW

2000, 1645. 2001, 3130 mAnm Römermann.

1  Der Syndikusrechtsanwalt

21

e­ igenverantwortlich und weisungsfrei – einem selbstständigen Anwalt gleich – arbeite. Mit Wirkung zum 1.1.2003 wurde der Wortlaut des § 5 FAO geändert, seither ist auf die „persönliche und weisungsfreie“ Bearbeitung abzustellen.59 Bereits in seiner ersten Entscheidung nach Inkrafttreten der neuen Formulierung bekräftigte der BGH allerdings seine Rechtsprechungslinie, wonach die im Anstellungsverhältnis wahrgenommenen Mandate allein nicht genügen könnten; erforderlich seien neben dem Wirken im Hintergrund auch die Anfertigung von Schriftsätzen und der Auftritt bei Gericht.60 Nach der Rspr. des BGH muss ein Syndikus stets auch Fälle nachweisen, die in 25 erheblichem Umfang der selbstständigen anwaltlichen Tätigkeit entstammen. Eine konkrete Grenze zur Bemessung der erforderlichen Zahlen lässt das Gericht (bewusst) offen. Im zu entscheidenden Fall reichten zwölf Fälle, die in selbstständiger anwaltlicher Tätigkeit bearbeitet wurden, nicht aus, da sie lediglich 17,5 % der erforderlichen Fallzahl von 80 (zum Versicherungsrecht) ausmachten. Dieser Mittelweg ist jedoch nicht überzeugend. Fälle, die (mangels Weisungsunabhängigkeit) eigentlich nach der Auffassung des BGH zur Doppelberufstheorie nicht anerkannt werden können (da sie der Tätigkeit als Syndikus zuzuordnen sind), können auf einmal doch anerkannt werden, wenn der Antragsteller daneben andere Fälle bearbeitet hat.61 Unter welchen Voraussetzungen es bei im Angestelltenverhältnis oder in freier Mitarbeit tätigen Rechtsanwälten am Merkmal der „Weisungsfreiheit“ fehlen kann, hält der BGH nach wie vor offen.62 Anlass zu Zweifeln an der Weisungsfreiheit würden bspw. nach Auffassung des BGH dann bestehen, wenn der angestellte oder in freier Mitarbeit tätige Rechtsanwalt nach strikten Vorgaben sowie unter strikter Anleitung und Ergebniskontrolle zu arbeiten hätte, mithin ihm keinerlei eigener Entscheidungsspielraum zustünde. Bewegung kam in diese Diskussion, als im Jahre 2012 der für die Fachanwaltschaft zuständige Ausschuss 1 der Satzungsversammlung sich mit diesem erneut befasste. Das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Syndikusanwälte und zur Änderung der Finanzgerichtsordnung v. 21.12.201563 hat nunmehr festgelegt, dass aufgrund der gesetzlichen Regelung, dass Syndikusrechtsanwälte anwaltlich tätig sind, praktische Erfahrungen aus der Syndikusrechtsanwaltstätigkeit bei der Verleihung einer Fachanwaltsbezeichnung und bei der Zulassung europäischer Rechtsanwälte nunmehr berücksichtigt werden können.

59Offermann-Burckart

in: Henssler/Prütting, BRAO, 4. Aufl. 2014, § 5 FAO Rn. 4. 2007, 599; BGH NJW 2010, 377 mAnm Römermann. 61Römermann/Günther, BeckOK BRAO, Stand: 1.9.2017, § 46 Rn. 30. 62BGH AnwBl 2012, 91. 63BGBl. I 2517; BT-Drs. 18/5201, 21. 60BGH NJW

22

V. Römermann

Literatur Feuerich, Wilhelm E./Weyland, Dag (Hrsg.), Bundesrechtsanwaltsordnung, Kommentar, 8. Auflage 2012 Gaier, Reinhard/Wolf, Christian/Göcken, Stephan, Anwaltliches Berufsrecht, 1. Auflage 2010 Grunewald, Barbara/Römermann, Volker (Hrsg.), Rechtsdienstleistungsgesetz, Kommentar, 1. Auflage 2008 Hartung, Wolfgang (Hrsg.), Berufs- und Fachanwaltsordnung, Kommentar, 5. Auflage 2012 Henssler, Martin/Prütting, Hanns (Hrsg.), Bundesrechtsanwaltsordnung, Kommentar, 4. Auflage 2014 Meyer-Goßner, Lutz (Begr.), Strafprozessordnung, Kommentar, 51. Auflage 2008 Michalski, Lutz/Römermann, Volker, PartGG, Kommentar zum Partnerschaftsgesellschaftsgesetz, 4. Auflage 2014 Prütting, Hanns/Hommerich, Christoph, Das Berufsbild des Syndikusanwalts, Bd. 26 der Schriftenreihe des Institutes für Anwaltsrecht an der Universität zu Köln, 1998 Römermann, Volker (Hrsg.) BeckOK BORA, 1. Auflage 2013 sowie 2. Auflage 2013 Römermann, Volker/Hartung, Wolfgang, Anwaltliches Berufsrecht, 2. Auflage 2008

2

Aufgabenfelder des Syndikus Mark Wilke

2.1 Einleitung Rechtsabteilungen sind in ihrer Organisation ebenso vielfältig, wie es die Unternehmen sind, die eine Rechtsabteilung beschäftigen. Ausgehend von der abstrakten Funktion einer Rechtsabteilung, einem Unternehmen in allen anfallenden operativen und administrativen Rechtsfragen entweder durch kompetente Inhouse-Beratung, oder aber der maßvollen Beauftragung und Lenkung externer rechtlicher Beratung zur Verfügung zu stehen, sind ihre konkreten Aufgaben unternehmensabhängig. Es liegt insoweit auf der Hand, dass die fachlichen Syndikus-Aufgaben hauptsächlich von der Geschäftstätigkeit des Unternehmens beeinflusst werden. Ein Syndikus in einem pharmazeutischen Unternehmen hat hinsichtlich der zu bearbeitenden Rechtsgebiete andere Aufgabenfelder, als z. B. ein Syndikus im Maschinenbau. Aber selbst innerhalb einer Branche gleicht keine Rechtsabteilung der anderen. So variieren Rechtsabteilungen insbesondere in Abhängigkeit von der Größe des Unternehmens, seiner Organisation, seinem Auftreten am Markt, seiner Streitanfälligkeit und nicht zuletzt den für die Rechtsabteilung zur Verfügung gestellten finanziellen Mitteln. Hinzu kommen Einflüsse durch Personen, die auf die Organisation einer Rechtsabteilung einwirken, wie etwa durch die Unternehmensleitung, der Rechtsabteilungsleiter und häufig auch die Mitarbeiter in der Rechtsabteilung. Um die Aufgabenfelder des Syndikus losgelöst von unternehmensindividuellen Faktoren zu beschreiben, bietet es sich an, zum einen die mögliche abteilungsinterne Verteilung der Aufgaben, zum anderen aber auch die Positionierung innerhalb des Unternehmens zu

M. Wilke (*)  Friedberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 T. Lenz (Hrsg.), Die Rechtsabteilung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21915-4_2

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M. Wilke

beleuchten. Nachfolgend soll daher zunächst über den Aufbau von Rechtsabteilungen mit Betonung der abteilungsinternen Sichtweise gesprochen werden (vgl. Gliederungspunkt B), ohne dabei aber die Wechselwirkung mit Einflussfaktoren aus dem Unternehmen zu vernachlässigen. Sodann wird die Positionierung der Rechtsabteilung im Unternehmen, mithin also die rechtsabteilungsexterne Sichtweise zur Anbindung im Unternehmen und zum Standing behandelt (vgl. Gliederungspunkt C). Abschließend werden grundlegende wirtschaftliche Fragen im Zusammenhang mit der Organisation einer Rechtsabteilung dargestellt (vgl. Gliederungspunkt D), die aufgrund möglicher Aufbauvarianten und externer Einflussfaktoren abstrakt bleiben wird. Die nachfolgende Betrachtung zu den Aufgabenfeldern des Syndikus fokussiert somit die Organisation von Rechtsabteilungen sowie die sich hieraus ergebenden Einflüsse auf die Tätigkeit des Syndikus. Sie erfolgt in einer Gemengelage von unterschiedlichen objektiven und subjektiven Einflussfaktoren, weshalb keine Beschreibung einer Prototyp-Rechtsabteilung erfolgen kann, da eine solche nicht existiert. Vielmehr werden die Aufgabenfelder weitestgehend abstrakt behandelt und vor dem Hintergrund subjektiver Erfahrungen des Verfassers als Syndikus im Maschinen- und Anlagenbau sowie in der Automobilzulieferindustrie bewertet. Dies vorausgeschickt bedarf es noch einer definitorischen Klarstellung. Syndikusanwälte sind als Rechtsanwalt zugelassene Volljuristen, die aufgrund eines Dienstoder ähnlichen Vertrages gegen feste Vergütung für ein Unternehmen als ständige Rechtsberater tätig sind1 . Unternehmensjuristen sind hingegen Juristen, die nicht notwendigerweise Volljurist oder Syndikus sein müssen. Eine Rechtsabteilung ist nun eine abgegrenzte Organisationseinheit, in der Juristen rechtliche Fragestellungen bearbeiten. In Anlehnung an die Tatsache, dass eine Zulassung von Unternehmensjuristen zur Anwaltschaft in vielen Rechtsordnungen nicht möglich ist2 und die unter dem Begriff „Syndikus“ in Deutschland reflektierten Fragen international unter dem Begriff „Unternehmensjurist“ (zu neudeutsch: „inhouse counsel“) diskutiert werden3 , ist durch eine wechselnde Bezeichnung als Syndikus oder Unternehmensjurist keine sachliche Differenzierung beabsichtigt. Dennoch und unabhängig von den sozialversicherungsrechtlichen Konsequenzen wird aber nachfolgend gelegentlich zwischen Juristen mit schwerpunktmäßiger juristischer Tätigkeit (als Ein-Mann-Rechtsabteilung oder als Mitglied in einer größeren Rechtsabteilung) und Juristen mit Sachbearbeitertätigkeit, bei denen eine juristische Fallbearbeitung lediglich untergeordnete Rolle spielt, differenziert. Diese Differenzierung erscheint notwendig, da die organisatorische Anforderungen abhängig vom Aufgabenbereich variieren.

1Brockhaus

„Syndikus“. Die Rechtsstellung der Syndikusanwälte in der Europäischen Gemeinschaft, AnwBl 1987, S. 211 ff. 3Henssler/Prütting, Bundesrechtsanwaltsordnung, 2010, § 46 BRAO, Rn: 53. 2Kolvenbach,

2  Aufgabenfelder des Syndikus

25

2.2 Aufbau(en) einer Rechtsabteilung Es liegt auf der Hand, dass sich nicht jedes Unternehmen eine Rechtsabteilung leisten kann – selbst wenn in den meisten Unternehmen rechtlicher Beratungsbedarf besteht. Kleine oder kleinere mittelständische Unternehmen greifen in den anfallenden Rechtsfragen auf externe Rechtsanwälte und Berater, Informationen aus Fachverbänden und nicht zuletzt auf das rechtliche Wissen ihrer nichtjuristischen Mitarbeiter zurück und verzichten insoweit häufig auf einen Unternehmensjuristen. Je nachdem, wie realistisch nichtjuristischen Mitarbeiter ihre eigenen juristischen Fähigkeiten oder dem juristischem Beratungsbedarf einschätzen, sind Unternehmen z. B. mehr oder weniger „compliant“, Verträge mehr oder weniger risikoreich und Gewährleistungsaufwendungen höher oder niedriger.

3

2.2.1 Grundüberlegungen zur Errichtung einer Rechtsabteilung Mit steigender Unternehmensgröße und zunehmender Organisationstiefe stellt sich über kurz oder lang die Frage, ob die „Grenzkosten“ für die Beschäftigung von Unternehmensjuristen überschritten sind4. Unternehmen sind v. a. mit Blick auf das Vertragswesen gut darin beraten, möglichst frühzeitig auf Basis einer Kosten-Nutzen-Analyse zu ermitteln, ob externe oder interne juristische Betreuung vorzugswürdig und kostengünstiger ist. Hierbei sind aber nicht lediglich die Kosten für externe Rechtsanwälte zu berücksichtigen. Vielmehr ist auf einer breiten Faktengrundlage aufzusetzen, da Syndikusanwälte in erster Linie Problemvermeider sind und Unternehmen darin unterstützen, ihre wirtschaftlichen Ziele in rechtlich zulässiger Weise ohne unnötige Streitigkeiten zu erreichen5, mithin eine Arbeit leisten, die sich einer zahlenmäßigen Bewertung entzieht. Neben den vermiedenen Rechtsberatungskosten sind bei einer Kosten-­Nutzen-Analyse daher auch die nicht unmittelbar mit der Tätigkeit eines Juristen in Verbindung gebrachten Gewährleistungskonten, Kulanzaufwendungen6 und die Auftrags-/­ Projektkalkulationen zu betrachten. Unternehmensjuristen können aufgrund einer starken „Durchdringung“ des Unternehmens und aufgrund niedriger Hürden in der Kontaktaufnahme für die nicht juristischen Mitarbeiter auf breiter Basis bei der Reduzierung von Rechtsrisiken unterstützen. Letztendlich spiegelt sich der Wert juristisch sauberer operativer Tätigkeit darin wieder, dass die vom Unternehmen zu tragenden Kosten und zu erbringenden Leistungen rechtssicher vorhersehbar sind und hierdurch die Entstehung von vermeidbaren Streitigkeiten verhindert wird.

4Neumann,

Hausanwalt oder Rechtsabteilung? AnwBl 1987, S. 404. Das Berufsbild des unternehmensangehörigen Wirtschaftsjuristen (Syndikus), JuS 1983, S. 565 (566); Neumann, Hausanwalt oder Rechtsabteilung? AnwBl 1987, S. 404 (407). 6Vgl. dazu Lenz, Die Kulanzleistung des Versicherers, 1993, S. 1 ff. 5Götz,

4

26

M. Wilke

Ein Unternehmensjurist kann somit nicht nur an den harten Zahlen von durch Insourcing verminderten externen Rechtsberatungskosten gemessen werden, sondern wird durch das ständige zur Verfügung stellen von Rechtsrat auch zu einer allgemeinen Verbesserung des unternehmerischen Handelns beitragen. Es ist daher angebracht, bei einer Entscheidung über die Anstellung von Unternehmensjuristen neben ihrer Dienstleistungsfunktion auch ihren gestaltenden Einfluss auf den Unternehmenserfolg zu berücksichtigen7.

2.2.2 Juristische Sachbearbeiter 5

Sollte im Unternehmen die Entscheidung zugunsten eines ersten Unternehmensjuristen fallen, hat dieser anfänglich meist ein breites Spektrum von juristischen und nichtjuristischen Aufgaben zu bewältigen. So ist es üblich, dass zunächst ein Jurist beschäftigt wird, der sich den vordergründig relevanten Rechtsfragen widmet und daneben andere, operative oder administrative Aufgaben übernimmt. Auch wenn dieser Jurist kein Syndikus im sozialversicherungsrechtlichen Sinne ist und aufgrund anderweitiger organisatorischer Einbindung nicht als Rechtsabteilung bezeichnet werden kann, spielt er in seiner rechtsberatenden Funktion dennoch eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Derartige Juristen leisten insbesondere in Personalabteilungen, Steuerabteilungen oder Versicherungsgesellschaften einen wertvollen Beitrag zum Unternehmenserfolg8. Hinsichtlich des Personalbereiches liegt es beispielsweise auf der Hand, dass ein juristisch vorgebildeter Sachbearbeiter neben der Bearbeitung alltäglicher Vorfälle auch erkennt, ob und wann ein Rechtsbezug gegeben ist9 und entsprechend reagieren oder den notwendigen Rat einholen kann. Aber auch mit Blick auf das Vertragswesen scheint es, als ob mit steigender Unternehmensgröße und einem gewissen Maß an schlechten Erfahrungen die Bereitschaft wächst, die nötigen finanziellen Mittel zur Optimierung aufzuwenden. So dürfte im Regelfall eine grundsätzliche Revision des Vertragswesens die vordringliche Aufgabe eines (ersten) Juristen in einem Unternehmen sein10. Insoweit sind in den aktuellen Tageszeitungen häufig Stellenanzeigen für „Vertragsjuristen“, „Commercial Projectmanager“ oder „Claim Manager“ mit juristischer Ausbildung zu finden, denen neben kaufmännischen Tätigkeiten die Erkennung und Bearbeitung juristischer Fragen zugewiesen wird.

7Otto,

Henning & Company, Der Rechtsabteilungs-Report 2009, S. 42 f. Das Berufsbild des unternehmensangehörigen Wirtschaftsjuristen (Syndikus), JuS 1983, S. 565 (567) 9Neumann, Hausanwalt oder Rechtsabteilung? AnwBl 1987, S. 404 (407). 10Götz, Das Berufsbild des unternehmensangehörigen Wirtschaftsjuristen (Syndikus), JuS 1983, S. 565 (566). 8Götz,

2  Aufgabenfelder des Syndikus

27

Ganz anders als bei der Tätigkeit in einer Kanzlei wird von Unternehmensjuristen in Sachbearbeiterfunktion weniger eine „Arbeit am juristischen Fall“ verlangt, sondern die Erledigung einer Vielzahl verschiedenster Aufgaben, zu denen auch und gerade ein Arbeiten an Grundlagen der Juristerei gehört11. Dennoch führen die einem Unternehmensjuristen mit wirtschafts- oder vertragsrechtlichem Schwerpunkt zugewiesenen Aufgaben der präventiven Rechtsberatung dazu, dass dieser – bei ordnungsgemäßer Aufgabenerfüllung – nach und nach in seiner Bedeutung für das Unternehmen wächst. Die bei Ausführung seiner Aufgaben stets notwendige Interaktion mit den verschiedenen Fachabteilungen des Unternehmens führt nicht allein zur Verbesserung der Handhabung von Rechtsvorgängen, sondern auch zur einer Steigerung der Sensibilität von Technikern, Kaufleuten und des Managements für rechtliche Fragen und hilft, diesen die Berührungsängste mit Juristen oder juristischen Fragestellungen zu nehmen12. Auf der juristischen Seite wird ein fundiertes Verständnis für die Produkte und unternehmensinternen Abläufe geschaffen, was wiederum seinem Ansehen im Unternehmen zuträglich ist. Die Vernetzung mit den unterschiedlichen Fachabteilungen kann letztlich dazu führen, dass nach und nach immer mehr Fragen mit Rechtsbezug an den Unternehmensjuristen herangetragen werden und auf diesem Weg – sofern vom Juristen und der Unternehmensleitung gewollt – früher oder später die Möglichkeit besteht, nichtjuristische Aufgaben beiseite zu legen und eine kleine Rechtsabteilung mit eigenständiger organisatorischer Anbindung aufzubauen. Hier wie überall gilt, dass Fleiß, Ausdauer und Leistungsbereitschaft gepaart mit Aufgeschlossenheit, Flexibilität und Kommunikationstalent notwendige Begleiter einer erfolgreichen Karriere sind13.

6

2.2.3 Die kleine Rechtsabteilung Unabhängig von den rechtlichen Beratungsfeldern und – im Falle mehrerer Juristen – von der Arbeitsverteilung unter den Mitgliedern der Rechtsabteilung, sind einige Grundvoraussetzungen sauberer juristischer Arbeit abzusichern, wobei etliche Parallelen zu einer Anwaltskanzlei festgestellt werden können.

11Hingegen sind die juristischen Hochreck-Disziplinen wie im Gesellschafts-, Kapitalmarktoder Steuerrecht nicht Aufgabe von Sachbearbeitern und gelegentlich selbst größeren Rechtsabteilungen aufgrund mangelnder Spezialisierung verwehrt, vgl. insoweit z. B. Horst, Outsourcing von Rechtsabteilungen, BB 1995, S. 1096 ff. 12Neumann, Hausanwalt oder Rechtsabteilung? AnwBl 1987, S. 404 (407). 13Stachow, Unternehmesjurist, 3/2013, S. 64 ff.

7

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2.2.3.1 Das Rechtsabteilungs-Büro 8

9

Wie das Wort „Rechtsabteilung“ bereits indiziert, ist für eine gewisse organisatorische und physische Eigenständigkeit zu sorgen. Aufgrund der häufig vorliegenden Vertraulichkeit der zu bearbeitenden Materie bedarf es eines eigenen Büros für die Rechtsabteilung. Es ist davon abzuraten, den Syndikus unmittelbarer in anderen Fachabteilungen zu platzieren, da andernfalls Informationen, die Einfluss auf den Ruf oder den Wert des Unternehmens haben, kaum geheim gehalten werden können (z. B. in Telefonaten). Das Rechtsabteilungs-Büro ist angemessen mit den nötigen Einrichtungsgegenständen und Arbeitsmitteln auszustatten. Hierzu zählt insbesondere die notwendige DV-technische Hard- und Software. Zur Steigerung der Effizienz und Senkung des Budgets für Literatur empfiehlt sich häufig der Erwerb von Lizenzen für juristische Datenbanken und ggf. sogar für Kanzlei- oder Dokumentenmanagementsoftware14. Außerdem ist durch entsprechende organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass ein- und ausgehende Post systematisch erfasst wird, Unterlagen und insbesondere Verträge systematisch und auffindbar abgelegt werden und eine möglichst jederzeitige (vertrauliche) Erreichbarkeit des Syndikus sichergestellt wird15. Hiefür empfiehlt sich im Falle ausreichender finanzieller Mittel die Einrichtung eines Sekretariates. Bei kleinerem Budget könnte anstelle eines Sekretariats auch über den Einsatz von Diktier- oder Spracherkennungssoftware nachgedacht werden, wobei insoweit aber mit einer erheblichen Einschränkung der Leistungsfähigkeit der Rechtsabteilung zu rechnen ist, da Sekretariatsaufgaben vom Syndikus selbst wahrzunehmen wären und hierfür wertvolle Zeit für juristische Arbeit verloren geht. Mit einer derartigen Bindung von Ressourcen für nichtjuristische Aufgaben haben in wirtschaftlich angespannten Zeiten leider immer mehr Syndizi zu kämpfen und der Trend zur Reduzierung von Sekretariatskräften scheint auch in Zukunft anzuhalten. Da dennoch mit einer weiter steigender Arbeitsbelastung zu rechnen ist, die in vielen Fällen nicht durch mehr Personal kompensiert wird, ist der Arbeitsaufwand durch entsprechende Mehrarbeit oder andere organisatorische Maßnahmen zur Effizienzgewinnung zu kompensieren16.

2.2.3.2 Fachliche Aufgaben der Rechtsabteilung und deren Verteilung Grundsätzlich sollten in der Rechtsabteilung alle anfallenden Rechtsfragen auflaufen, um eine rechtskonforme Unternehmenstätigkeit „aus einem Guss“ sicherzustellen. Sobald dies nicht der Fall ist und die Gefahr besteht, dass Unternehmen in Teilbereichen ohne Rechtsrat agieren, steigen die juristischen Risiken oder gar die Gefahr von Complianceverstößen. Zudem ist eine derartige Situation für die Rechtsabteilung nicht nur unbefriedigend, sondern auch mit persönlichen Risiken belastet, da sich die Mitarbeiter

14vgl.

hierzu ausführlich Zander, Unternehmensjurist, 4/2014, S. 16 ff. Corporate Compliance, 2. Auflage, 2010, § 15, Rn: 14 ff. 16Otto, Henning & Company, Der Rechtsabteilungs-Report 2009, S. 112 f. 15Hauschka,

2  Aufgabenfelder des Syndikus

29

der Rechtsabteilung davor schützen müssen, mit Sachverhalten assoziiert zu werden, in die sie nicht involviert waren. In der Vergangenheit lagen die Schwerpunkte der Arbeit in Rechtsabteilungen im Vertrags- und Gesellschaftsrecht. Aufgrund geänderter gesetzlicher Anforderungen und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen hat die Bedeutung von Corporate Governance Fragen erheblich zugenommen. Daneben übernehmen moderne Rechtsabteilungen in erheblichem Umfang Beratungsleistungen bei M&A Vorgängen, der Gestaltung, Verhandlung und dem rechtlichen Management von Verträgen, in Fragen des Aktien-, Gesellschafts- und Kapitalmarktrechts sowie im Kartell- und Wettbewerbsrecht17. In einer kleinen Rechtsabteilung ist daher mit der Tatsache umzugehen, dass verschiedenste Themen zu bearbeiten sind, die aufgrund der ständig zunehmenden rechtlichen Komplexität nur durch graduelle Spezialisierung auf die Kernaufgaben und im Übrigen durch Outsourcing sinnvoll bearbeitet werden können. Der Leiter der zu errichtenden, kleinen Rechtsabteilung wird aufgrund seiner Stellung vornehmlich mit den grundlegenden und von der Unternehmensführung als besonders wichtig erachteten Fragen beauftragt werden, wie z. B. mit großvolumigen und komplizierten Verträgen, Grundsatzfragen des Gesellschaftsrechts oder Compliance-Aufgaben. Daneben sollte für den Fall, dass es weitere Mitarbeiter gibt, eine sinnvolle Verteilung der weiteren, zu erledigenden Aufgaben vorgenommen werden. Es liegt zwar in der Natur der Sache, dass dem Rechtsabteilungsleiter das Recht zukommt, Aufgaben zu delegieren und Verantwortlichkeiten festzulegen. Anders als in Kanzleien ist es aber die Regel, dass auch die nicht leitenden Syndizi von Anfang an in hoher Eigenverantwortung tätig sind18 und nur selten eine Zuarbeit an den Leiter der Rechtsabteilung oder das Arbeiten in Teams von Juristen gefragt ist. Diese Tatsache ist nicht zuletzt begrenzten Budgets geschuldet, die maximale Effizienz von jedem Einzelnen erfordern19. Dementsprechend bietet es sich für den Rechtsabteilungsleiter an, eine Aufteilung 10 der zu erledigenden juristischen Aufgaben unter den Mitarbeitern vorzunehmen, um so vertieftes Fachwissen aufzubauen, Rechtsfälle im Unternehmen zu halten und auf diese Weise die Bedeutung der Rechtsabteilung zu steigern. So können – entgegen der Behauptung, Spezialwissen sei in einer Rechtsabteilung regelmäßig aufgrund einer zu geringen „Fallzahl“ nicht aufzubauen20 – auch Unternehmensjuristen vertiefte Spezialkompetenzen erwerben und hierdurch eine zentrale Bedeutung im Unternehmen erlangen. Dies ist nicht zuletzt dadurch bedingt, dass in Abhängigkeit von der Unternehmenstätigkeit eine Häufung branchenspezifischer Fragen auftaucht, wie z. B. arzneimittelrechtliche Fragen in der Pharmaindustrie, produktsicherheits- und haftungsrechtliche Fragen im

17Otto,

Henning & Company, Der Rechtsabteilungs-Report 2009, S. 38 f., 76 f. Das Berufsbild des unternehmensangehörigen Wirtschaftsjuristen (Syndikus), JuS 1983, S. 565 (567); Sammet, Hohe Ansprüche an Hausjuristen, FAZ.NET, 2009. 19Schwung, Anforderungsprofil des Unternehmensjuristen, AnwBl 1996, S. 182 (187). 20Horst, Outsourcing von Rechtsabteilungen, BB 1995, S. 1096 (1097). 18Götz,

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Maschinen- und Anlagenbau, lebensmittelrechtliche Fragen bei Nahrungsmittelherstellern usw.21. Dennoch wird (außer in großen Rechtsabteilungen) eine Verteilung der Zuständigkeit allein nach juristischen Fachgebieten im Regelfall nicht in Frage kommen, weil derart sachlich bezogene Aufgabenverteilungen nicht dem Bedürfnis der Entscheidungsträger im Unternehmen nach einem ständigen Ansprechpartner entsprechen. Üblicher ist vielmehr eine Verteilung der Aufgaben nach Geschäftsbereich oder Produkten und einer zusätzlichen Übertragung einzelnen Rechtsgebieten als weitere Zuständigkeit22. Bedingt durch fachliche und zeitliche Zwänge werden daher gerade von kleinen Rechtsabteilungen viele Fragen an externe Kanzleien delegiert. Um insoweit eine sachgerechte und kosteneffiziente Bearbeitung der anfallenden Rechtsfragen zu ermöglichen, sind die zu erwartenden Anfragen an die Rechtsabteilung jährlich zu ermitteln. An dem so ermittelten Beratungsbedarf ist sodann die personelle Ausstattung der Rechtsabteilung zu orientieren und im Übrigen eine Outsourcing Strategie festzulegen. Um schließlich eine zügige und kompetente Verteilung der rechtsabteilungsinternen Aufgaben zu ermöglichen, bietet sich eine schriftliche Festlegung der Aufgaben und Kompetenzen der einzelnen Syndizi an. Daher ist bereits in einer kleinen Rechtsabteilung eine stringente Aufgabenverteilung anhand von Zuständigkeitsbeschreibungen z. B. nach den zu beratenden Unternehmenseinheiten oder zu bearbeitenden Rechtsgebieten angebracht. Dennoch bleibt zu erwarten, dass trotz einer Aufgabenverteilung weiterhin eine große Vielzahl von Fachbereichen von den wenigen Syndizi einer kleinen Rechtsabteilung abzudecken ist23 und in kleinen Rechtsabteilungen der Generalist dem Spezialisten vorzuziehen ist.

2.2.4 Größere Rechtsabteilungen 11 In Ergänzung zu den Aufbau-Fragen, die sich in kleinen Rechtsabteilungen stellen, steigt in größeren Unternehmen mit größerer Rechtsabteilung der Organisationsbedarf. Die Anzahl der zu führenden Anwälte wächst und mit ihnen die Anzahl von Sekretariatsmitarbeitern, Praktikanten, Referendaren und ggf. Paralegals, also besonders qualifizierten Bürokräften oder juristisch ausgebildeten Hilfskräften mit nur einem Staatsexamen, die standardisierte, einfach zu bearbeitende Rechtsvorgänge anstelle der Syndizi erledigen können. Auch wenn es statistische Erhebungen zur durchschnittlichen Anzahl von juristischen Beratern der Rechtsabteilung in Abhängigkeit von Unternehmensbranche, Umsatz und

21Neumann,

Hausanwalt oder Rechtsabteilung? AnwBl, 1987, S. 404 (407). Das Berufsbild des unternehmensangehörigen Wirtschaftsjuristen (Syndikus), JuS 1983, S. 565 (567). 23Sammet, Hohe Ansprüche an Hausjuristen, FAZ.NET, 2009. 22Götz,

2  Aufgabenfelder des Syndikus

31

Mitarbeiterzahl gibt, verbietet sich ein pauschales Herangehen an die Personalausstattung. Der Personalbedarf ist vielmehr unternehmensindividuell zu ermitteln und wird nicht zuletzt durch das zur Verfügung gestellte Budget bestimmt. Als Grundtendenz kann jedoch festgestellt werden, dass deutsche Rechtsabteilungen sowohl im Hinblick auf die beschäftigten Juristen als auch im Hinblick auf Unterstützungsfunktionen wie Sekretariat oder Paralegals im Vergleich zu US-Rechtsabteilungen personell dünn ausgestattet sind24. Vor dem Hintergrund einer wachsenden Internationalisierung und „Anglo-Amerkanisierung“ der Tätigkeit der Rechtsabteilung sollte kritisch hinterfragt werden, ob deutsche Unternehmen durch eine derartige Budgetpolitik ggf. an der falschen Stelle sparen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf den deutlichen Kostenvorteil interner vor externe Rechtsberatung25. Mit einer steigenden Anzahl von Mitarbeitern steigen auch die Anforderungen an 12 eine fachlich und persönlich angemessene Personalführung durch den Leiter der Rechtsabteilung. Große Teams können regelmäßig nicht mehr vom General Counsel allein geleitet werden, weshalb es nötig wird, die Rechtsabteilung hierarchisch weiter zu untergliedern und (eine) weitere Führungsebene(n) einzuziehen. Sollten z. B. vertragliche und gesellschaftsrechtliche Fragen derart am Umfang gewinnen, dass neben je einem vertrags- und gesellschaftsrechtlichen Senior Counsel weitere Mitarbeiter in diesen Rechtsbereichen beschäftigt werden können, bietet es sich für Rechtsabteilungsleiter an, einen Teil der Fach- und Personalverantwortung auf weitere Schultern zu verteilen. Abgesehen von der Verteilung von Verantwortung kann auf diese Weise den berechtigten Beförderungs- und Weiterentwicklungsbestrebungen, einem Bedürfnis nach Diversifizierung des Einkommens der langjährigen Rechtsabteilungsmitarbeiter und der durch die interne Mandantschaft geforderten „Rangstellung“ der juristischen Ansprechpartner entsprochen werden26. So führen General Counsel in deutschen Großunternehmen überwiegend bis zu fünf, nur selten mehr juristische Mitarbeiter. Hingegen verfügen die meisten Großunternehmen über zwei bis drei Hierarchieebenen27. Aber selbst dann bleiben ­ Rechtsabteilungen – im Vergleich zu Kanzleien – in ihrem hierarchischen Aufbau flach und die Berichtswege kurz28. Größere Rechtsabteilungen bieten aber dennoch genügend Raum, ihren Mitarbeitern eine Spezialisierung und Beförderung zu ermöglichen.

24Otto, 25Für

Henning & Company, Der Rechtsabteilungs-Report 2009, S. 69.

Syndizi wurde in Großunternehmen ein durchschnittlicher Stundensatz von € 148 einschließlich Sekretariat, Gehilfen und Assistenz, aber ohne externe Rechtsberatungskosten ermittelt, wohingegen in diesen Großunternehmen externe Kanzleien mit einem Stundensatz von durchschnittlich € 323 zu Buche schlagen, vgl. Otto, Henning & Company, Der Rechtsabteilungs-Report 2009, S. 102 ff und S. 146 f. 26Götz, Das Berufsbild des unternehmensangehörigen Wirtschaftsjuristen (Syndikus), JuS 1983, S. 565 (567). 27Otto, Henning & Company, Der Rechtsabteilungs-Report 2009, S. 90 f. 28vgl. z. B. Götz, Das Berufsbild des unternehmensangehörigen Wirtschaftsjuristen (Syndikus), JuS 1983, S. 565 (567), Sammet, Hohe Ansprüche an Hausjuristen, FAZ.NET, 2009.

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2.3 Organisation im Unternehmen/Standing 13 Nachdem oben über verschiedene Varianten des internen Aufbaus einer Rechtsabteilung gesprochen wurde, der jeweils wiederum durch den Aufbau und die Organisation des Unternehmens beeinflusst ist, soll nachfolgend darüber gesprochen werden, welche Position die Rechtsabteilung innerhalb des Unternehmens hat. Insoweit handelt es sich einerseits um die Frage, wie die Rechtsabteilung innerhalb des Unternehmens positioniert ist, andererseits aber auch darum, welchen Einfluss und welches Ansehen die Rechtsabteilung im Unternehmen genießt.

2.3.1 Eingliederung in die Unternehmensorganisation 14 Für den Leiter der Rechtsabteilung spielt die Frage der Anbindung an die Geschäftsleitung eine entscheidende Rolle, da nur eine Positionierung nahe der „Machtzentrale“ des Unternehmens eine Beteiligung an den wesentlichen Unternehmensvorgängen sicherstellt. Optimal ist insoweit, wenn der Leiter der Rechtsabteilung selbst Mitglied der Geschäftsleitung ist und z. B. als Chief Legal Officer zum frühst möglichen Zeitpunkt in Entscheidungen involviert ist. Leider wurden Juristen aber immer mehr aus dem Top-Management zugunsten anderer (insbesondere betriebswirtschaftlicher) Fachrichtungen verdrängt29 und nehmen heute selten die Position von „allseits zu verwendenden Verwaltungsexperten“, sondern eher die Stellung hoch spezialisierter Berater ein30. Unabhängig von dieser aus Sicht eines Juristen bedauernswerten Entwicklung bleibt aber die Feststellung, dass nur eine Anbindung an das Top-Management gewährleistet, dass der Unternehmenserfolg durch gestaltenden Einfluss des Chefsyndikus zu einem möglichsten frühen Zeitpunkt der Entscheidungsfindung optimal gefördert wird. Daher ist jedenfalls eine Einbindung auf der zweiten Hierarchiestufe geboten. Die meisten Rechtsabteilungen sind daher als Stabsfunktion dem CEO zugeordnet. Daneben spielt eine Zuordnung zum CFO oder anderen Vorstandsressort nur eine untergeordnete Rolle31. Zusätzlich zur Anbindung der Rechtsabteilung an die Spitze des Unternehmens ist auch die Verteilung der Kompetenzen der Rechtsabteilung auf weitere Unternehmens-/ Konzernbereiche zu klären.

29Kroll,

Deutscher AnwaltSpiegel, 2009, 13. Ausgabe, S. 17 ff. Juristen in der Wirtschaft, 1990, S. 68 ff. 31vgl. zur Anbindung im Unternehmen Otto, Henning & Company, Der Rechtsabteilungs-Report 2009, S. 51. 30Hartmann,

2  Aufgabenfelder des Syndikus

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2.3.1.1 Zentrale Rechtsabteilungen Für den Leiter der Rechtsabteilung und die Unternehmensführung hat ein zentraler Auf- 15 bau, also eine Bündelung der juristischen Kompetenz in räumlicher und organisatorischer Nähe zur Unternehmens-/Konzernleitung, den Vorteil der erleichterten Führung und einer größeren Nähe zum Zwecke des Informationsaustausches32. Insbesondere monozentrisch gesteuerte und verwaltete Konzerne tendieren dazu, auch die Rechtsabteilung als organisatorische Einheit zu zentralisieren und in der Konzernmutter oder der Holding anzusiedeln. Dies bietet den Vorteil, dass auch bei den Tochterunternehmen einem einheitlichen juristischen Leitbild gefolgt wird und insbesondere für einzugliedernde Neuakquisitionen von Tochterunternehmen ein Anschluss an ein bestehendes juristisches Konzept erleichtert wird. Ob und inwieweit eine derartige Zentralisierung der juristischen Kompetenz im Hinblick auf das operativen Geschäft sinnvoll und gewünscht ist, hängt hauptsächlich von der Vielfältigkeit der angeschlossenen Konzernunternehmen und der zu bedienenden Märkte ab. Sofern die Konzernunternehmen eine vergleichbare Geschäftstätigkeit ausüben, bietet sich eine Angleichung der juristischen Herangehensweise vor allem mit Blick auf die Vertragsgestaltung aus Gründen größerer Synergie an33. Aber auch aus Gründen der Stärkung der Angebots- oder Nachfragemacht ist häufig ein einheitlicher Auftritt geboten. Schließlich können durch diese Art der zentralen Organisation aber auch weitgehend einheitliche Gesellschaftsverträge, Satzungen sowie Unternehmensverträge gewährleistet werden. In zentralisierten Rechtsabteilungen wird zumeist eine nach einheitlichen Maßstäben zusammengesetzte und geführte Belegschaft tätig und kann so dem Willen der maßgebenden Entscheidungsgröße (sei dies die Unternehmensleitung oder der Rechtsabteilungsleiter) effektiv Nachdruck verleihen. 2.3.1.2 Dezentrale Rechtsabteilungen Alternativ zum Aufbau einer klassischen, zentralisierten Rechtsabteilung kann es sich 16 gelegentlich als sinnvoll erweisen, die Juristen eines Unternehmens dezentral zu organisieren. Derartige dezentrale Organisationsformen reichen von einer bloßen physischen Verteilung der Mitglieder der Rechtsabteilung auf verschiedene Unternehmenseinheiten bei Aufrechterhaltung der disziplinarischen Anbindung an die verbleibende, zentrale Kern-Rechtsabteilung, über eine in Matrix-Organisationen übliche Einbindung in verschiedene Berichtswege bis hin zur einer organisatorischen und disziplinarischen Selbständigkeit einzelner „Unterrechtsabteilungen“.Üblicherweise verbleiben Fachbereiche mit starkem Bezug zur Konzernmutter, wie Gesellschafts-, Steuer- oder Kapitalmarktrecht, in der zentralen Rechtsabteilung, während dezentrale Unterrechtsabteilungen (zumindest bei einem rein nationalen Fokus) vornehmlich das operative Geschäft steuern34.

32Hauschka,

Corporate Compliance, 2. Auflage, 2010, § 15, Rn: 22. z. B. sollten in einer Konzerntochter Haftungskonzepte frei gestaltet werden können, wenn unter dem Mantel einer einheitlichen Versicherungsdeckung erprobte und bewährte Vorgaben aus zentralen Unternehmenseinheiten zu erwarten sind? 34Schwung, Anforderungsprofil des Unternehmensjuristen, AnwBl 1996, S. 182. 33Warum

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Eine dezentrale Organisation bietet den Vorteil kürzerer Wege zu den jeweils zu betreuenden Unternehmenseinheiten und somit größere „Mandantennähe“ und Servicequalität35. Als Kehrseite wird die Lenkung der Syndizi in Unterrechtsabteilungen zur Herausforderung für den Rechtsabteilungsleiter. Je weiter sich die einzelnen Tochterunternehmen in ihrer Geschäftstätigkeit voneinander und von der Konzernmutter unterscheiden, umso weniger gestattet eine einzelfallgerechte Dienstleistung der Unternehmensjuristen eine Vereinheitlichung der Rechtsberatungstätigkeit. Sollte in diesen Fällen dennoch von der zentralen Rechtsabteilung Einfluss auf das gesamte operative Geschäft genommen werden, so sind die Syndizi, die Tochtergesellschaften betreuen, zu einem besonderen Spagat zwischen zentralen Vorgaben und operativen Erfordernissen aufgefordert. Ähnliche Herausforderungen stellen sich auch in internationalen Konzernen. Aus 17 Sicht der Konzernmutter ist es wünschenswert, auch an den verschiedenen Standorten des Unternehmens mit einheitlichen Standards zu agieren. Nationale Besonderheiten des Rechtssystems erfordern aber eine differenzierte Herangehensweise. So lassen sich kaum weltweit gültige gesellschaftsrechtliche Standards etablieren, ohne in Konflikt mit der einen oder anderen Rechtsordnung zu geraten. Letztendlich sind auch hier Größe und Gewicht der jeweiligen Tochtergesellschaft maßgeblich bei der Frage, wie viel Autonomie gewährt werden wird und wie stark die jeweilige nationale Rechtsabteilung aufgestellt ist. Tendenziell scheint eine Organisation in dezentralen Rechtsabteilungen ohne enge organisatorische und disziplinarische Anbindung an die zentrale Kern-Rechtsabteilung auf dem Vormarsch zu sein, obwohl sich die schwächere Führung nachweislich negativ auf die Kosten auswirkt36.

2.3.2 Juristische Durchdringung des Unternehmens 18 Juristen erkennen regelmäßig sehr schnell, dass beinahe jeder Vorgang innerhalb eines Unternehmens irgendeinen Rechtsbezug aufweist. Anderen Fachrichtungen fällt diese Erkenntnis erfahrungsgemäß nicht so leicht. Für den Leiter der Rechtsabteilung stellt sich daher die Frage, wie sichergestellt ist, dass juristische Sachverhalte zur Kenntnis der Rechtsabteilung gelangen. Auf der einen Seite sind die klassischen, auf den Bestand des Unternehmens bezogenen, nicht operativen Rechtsbereiche zu bearbeiten, wie z. B. Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht oder M&A. Ein Großteil der insoweit zu bearbeitenden Sachverhalte entsteht auf Ebene der Geschäftsführung oder im Zuständigkeitsbereich von leitenden Führungskräften, die grundsätzlich durch ihre Ausbildung und Erfahrung in

35Hauschka, 36Otto,

Corporate Compliance, 2. Auflage, 2010, § 15, Rn: 22. Henning & Company, Der Rechtsabteilungs-Report 2009, S. 52 ff, 57.

2  Aufgabenfelder des Syndikus

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der Lage sein sollten, rechtlichen Beratungsbedarf zu identifizieren und Unterstützung durch die Rechtsabteilung zu suchen. Indes ist ein entsprechender Informationsfluss nicht abgesichert. Erst recht kann bei den vielfältigen operativen Tätigkeiten von der Arbeitsebene in Unternehmen nicht erwartet werden, dass angesichts der starken Verrechtlichung der Unternehmenstätigkeit (mit einer stetigen Flut neuer Rechtsvorschriften, der Europäisierung des nationalen Rechts und einem immer stärker werdenden Einfluss des anglo-amerikanischen Rechts37) immer zur richtigen Zeit oder überhaupt der notwendige juristische Rat eingeholt wird. Im Zuge der ohnehin notwendigen internen Regelsetzung (durch Verfahrens- 19 anweisungen oder Richtlinien), die auch der Vermeidung von Haftung auf Ebene der Geschäftsführung dient, bietet es sich daher an, die Einschaltung der Rechtsabteilung durch entsprechende interne Regelungen abzusichern. Daher haben viele Unternehmen durch eine „Richtlinie Recht“ die strukturierte Beteiligung der Rechtsabteilung sichergestellt38. Da eine derartige Richtlinie – um den Rahmen nicht zu sprengen – abstrakt bleiben muss, bietet es sich für komplexe Abläufe zudem an, die Beteiligung der Rechtsabteilung in Ablaufdiagrammen oder Verfahrensanweisungen eines vorhandenen QS-Systems niederzulegen. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass rechtliche Beratung in die jeweiligen Entscheidungsprozesse der zuständigen Abteilungen – wie z. B. die juristische Betreuung von Produkten über ihren gesamten Lebenszyklus von der Entwicklung, über die Produktion, den Vertrieb, bis zur Abwicklung von Gewährleistungs- und Produkthaftungsansprüchen39 – sichergestellt ist. Entgegen der weit verbreiteten Auffassung, dass Compliance als klassische Aufgabe von Juristen zu einer Stärkung ihrer Stellung beitragen wird40, scheint sich mittlerweile die Einsicht zu verbreiten, dass Juristen gerade in den stark technisch durchdrungenen Compliancebelangen wie etwa dem Datenschutz und der Informationssicherheit überfordert sind. Vor allem aber behindert die Zuweisung der (alleinigen) Complicance-Verantwortung an die Rechtsabteilung die tägliche Arbeit mit operativen Abteilungen, die gerne unter dem Verdacht von Compliance-Konflikten stehen41. Vor diesem Hintergrund scheit es angebracht, den Compliance Officer allenfalls als eine der Rechtsabteilung untergeordnete Facette rechtlicher Tätigkeit zu organisieren, besser jedoch eine von der Rechtsabteilung unabhängige Compliance-Organisation aufzubauen42.

37vgl. hierzu Schwung, Think Global – Welche Anforderungen werden an den Syndikusanwalt im Zeitalter der Globalisierung gestellt? BB 2007, S. 2419. 38Otto, Henning & Company, Der Rechtsabteilungs-Report 2009, S. 62 f. 39Schwung, Think Global – Welche Anforderungen werden an den Syndikusanwalt im Zeitalter der Globalisierung gestellt? BB 2007, S. 2419 (2422). 40Hauschka, Corporate Compliance, 2010, S. 404. 41Kroll, Deutscher AnwaltSpiegel, 2009, 13. Ausgabe, S. 17 ff. 42Görling/Inderst/Bannenberg, Compliance, 2010, S. 100 f.

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2.3.3 Standing 20 Ein wesentlicher Indikator zum Standing innerhalb des Unternehmens ist die dem Unternehmensjuristen zugeordnete hierarchische Stellung. Es liegt auf der Hand, dass ein Jurist mit einer Sachbearbeiterfunktion ohne umfängliche Entscheidungsbefugnis und niedrigem hierarchischen Rang im Zweifel eher ersetzbar und somit auch weniger bedeutsam innerhalb des Unternehmens ist. Sobald ein Jurist aber im standesrechtlichen Sinne als Syndikus beschäftigt wird und er auf Basis seines fachlichen Wissens Einfluss auf die Gestaltung des Geschäftes erhält, wächst seine Bedeutung. Dem Leiter der Rechtsabteilung und ggf. einer weiteren hierarchischen Führungsebene kommt daher regelmäßig der Status als leitende Führungskraft zu. Im Zuge der weiter oben bereits angesprochenen Verdrängung von Juristen aus dem Management sind heute aber auch außertarifliche Juristen in nicht leitender Stellung oder tariflich beschäftigte Syndizi anzutreffen. Juristen haben – zumindest auf breiter Basis – an hierarchischer Stellung im Unternehmen verloren43. Dies ist angesichts der Tatsache, dass Syndizi im Vergleich zu anderen Fachrichtungen wohl die meisten Schnittstellen zu anderen Fachbereichen im Unternehmen haben, zu bedauern. Insbesondere in Fällen, in denen juristischer Rat nicht gerne gehört wird, schwächt eine hierarchisch niedrige Positionierung die „Schlagkraft“ von rechtlichen Argumenten. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Verrechtlichung ist dies nicht im Interesse des Unternehmens, letztlich aber wohl breit angelegten Sparbemühungen geschuldet. Ein weiterer Indikator zum Standing innerhalb des Unternehmens sind die dem Syndikus übertragenen Aufgaben. Auszugehen ist insoweit von der Funktion des Syndikus, Recht und Gesetz innerhalb des Unternehmens zu vertreten, mithin dem Unternehmen durch Ratsrat und Rechtsgestaltung rechtlich optimierte Vorgehensweisen aufzuzeigen sowie die rechtlichen Grenzen des unternehmerischen Handels abzustecken. Regelmäßig wird ihm auf Basis seiner fachlichen Einschätzung die Möglichkeit gegeben ist, unternehmerische Entscheidungen aktiv mit zu gestalten. Es verwundert daher nicht, dass die überwiegende Anzahl der Leiter von Rechtsabteilungen großer Unternehmen ihren Abteilungen die Rolle als Mitgestalter des Unternehmenserfolges zuschreiben44. Durch proaktives Einbringen der vorhandenen Kenntnisse und Erfahrungen sowie einer Ausrichtung der Rechtsabteilung an der Entwicklung des operativen Geschäfts hat es die Rechtsabteilung in der Hand, ein geschätzter Ansprechpartner im Unternehmen zu sein45. Dennoch haben Juristen immer wieder damit zu kämpfen, dass ihr Rat im ­letzten Moment oder gar zu spät eingeholt wird, und sie nur noch als „Feuerwehr“ mit dem

43Hartmann,

Juristen in der Wirtschaft, 1990, S. 37, 63 ff. Henning & Company, Der Rechtsabteilungs-Report 2009, S. 43. 45Wiercks, Unternehmensjurist, 02/2013, 16 ff. 44Otto,

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„Bekämpfen unnötiger Brände“ beschäftigt sind46. Fest steht, dass diese Art der Einbindung dem Unternehmensinteresse nicht optimal dient. Darüber hinaus kann diese Tatsache aber Anlass zu Spekulationen geben, ob dies möglicherweise ein Ausdruck fehlender Wertschätzung ist. Gelegentlich entsteht nämlich der Eindruck, dass Syndizi die Rolle des „Geschäftsverhinderers“ angedichtet wird, weil sich z. B. Vertriebsabteilungen durch die Beachtung von durch die Rechtsabteilung vorgegebenen oder von diesen in Verhandlungen vertretenen Haftungs- und Gewährleistungsregelungen in ihren Umsatzbemühungen behindert sehen. Auch von Seiten des Managements werden gelegentlich ohne juristischen Rat Vorentscheidungen getroffen, sei es, um sensible Informationen zu schützen, oder weil man glaubt, nicht auf Rat angewiesen zu sein47. Letztlich verspürt ein Syndikus aber in der täglichen Arbeit eine überwiegend große 21 Wertschätzung, da er Hüter eines Wissens ist, dass anderen Fachrichtungen nur schwer zugänglich ist.

2.4 Wirtschaftliche Rahmenbedingungen Rechtsabteilungen bzw. Unternehmensjuristen verursachen Kosten und sind – wie oben 22 zur Kosten-Nutzen-Analyse bereits angesprochen – erst ab einer gewissen Unternehmensgröße und ab einem gewissen Rechtsberatungsbedarf sinnvoll. Da Syndizi aber – wie in Fußnote 22 dargelegt – pro Arbeitsstunde lediglich 40 % der Kosten verursachen, die durchschnittlich für externe Anwälte aufzuwenden wären, ist ein Syndikus bereits bei einer Auslastung von > 40 % rentabel48. Der Aufbau einer Rechtsabteilung schafft daher bei entsprechender Auslastung bezifferbare Vorteile durch ersparte Aufwendungen für eine Beratung durch externe Rechtsanwälte. Zudem wurde erläutert, dass sich insoweit kein vollständige, den tatsächlichen Wert der Rechtsabteilung bzw. des Unternehmensjuristen beschreibende Zahlengrundlage ermitteln lassen wird, weil viele der von einem Juristen im Unternehmen geleisteten Beiträge der Risikovermeidung49 gelten und daher ohne Kenntnis der andernfalls entstandenen Schäden nicht zu beziffern sind (wie z. B. gesenkte Kulanzoder Gewährleistungsaufwendungen oder gar vermiedene Streitigkeiten). Insoweit sei insbesondere der Beitrag von Unternehmensjuristen zur juristischen Fortbildung anderer, nichtjuristischer Mitarbeiter und die hierdurch vergrößerte Rechtssicherheit im operativen Geschäft genannt. Da sowohl die Kosten als auch der Nutzen sehr individuelle Faktoren sind, die beispielsweise von der Größe der Rechtsabteilung, den übernommenen Aufgaben und zu unterstützenden Unternehmenszielen, der Streitanfälligkeit des Unternehmens, dem

46vgl.

hierzu auch Hartmann, Juristen in der Wirtschaft, 1990, S. 44; Reimann, Deutscher AnwaltSpiegel 2010, 15. Ausgabe, S. 15. 47vgl. zum Ganzen Hartmann, Juristen in der Wirtschaft, 1990, S. 44 f. 48Otto, Henning & Company, Der Rechtsabteilungs-Report 2009, S. 146. 49Neumann, AnwBl 1987, S. 407.

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bestehenden Versicherungsschutz usw. abhängen50, kann die betriebswirtschaftliche Seite der Rechtsabteilung nur kursorisch dargestellt werden. Eine unternehmensindividuelle Betrachtung, ggf. mithilfe einer Unternehmensberatung, scheint für Unternehmen angezeigt. Die Errichtung einer Rechtsabteilung ist meistens davon begleitet, dieser eine eigene Kostenstelle zuzuweisen und Budget festzulegen. Auf der Kostenstelle der Rechtsabteilung bündeln sich verschiedenste Aufwendungen. So ist z. B. das Personal zu bezahlen (Syndizi, Paralegals und Sekretariat), deren Büroausstattung abzuschreiben (wie z. B. Computer, Schreibtische usw.), für ausreichend Fortbildung und Literatur zu sorgen oder Reisen zu zahlen. Außerdem sind externe Rechtsanwälte, Notare und Berater zu bezahlen, Gerichtskosten und Auslagen zu erstatten und Bewirtungen durchzuführen. Schließlich wird als Umlage eine Beteiligung an Räumlichkeiten, Wasser, Strom usw. fällig. Abgesehen von den kaum beeinflussbaren Kosten wie z. B. letztgenannten Umlagen, sind Rechtsabteilungen insbesondere in wirtschaftlich schwierigen Zeiten einer strikten unternehmensinternen Kostenkontrolle unterworfen. Durch die Begrenzung von Budgets oder die Verankerung von Sparzielen in persönlichen Zielvereinbarungen ist unter anderem eine Begrenzung von Personalaufwendungen, eine Reduzierung von Fortbildungs- und Literaturaufwendungen, die Senkung von Reisekosten oder ein sparsamer Umgang mit externen Kanzleien gefordert51, was aus Gründen der Nachvollziehbarkeit eine Verbuchung von „rechtsbezogenen“ Aufwendungen auf eine Kostenstelle nötig macht. Nur bei juristischen Sachbearbeitern ist es ausnahmsweise sinnvoll, diese auf Kostenstellen von nicht juristischen Abteilungen zu verbuchen, da die durch Sachbearbeiter verursachten Kosten in einem überschaubare Rahmen bleiben und ein Kostenkontrolle möglich bleibt. Letztendlich zielt eine Bündelung von internen Rechtsberatungskosten aber auch 23 darauf, unternehmensintern eine sinnvolle Verteilung der anfallenden Kosten zu ermöglichen, da sie als Verwaltungsgemeinkosten angemessen als Zuschlag auf die zu vertreibenden Produkte zu verrechnen sind52. Dementsprechend werden Rechtsabteilungen als Verursacher von Verwaltungsgemeinkosten traditionell als Cost-Center, also als Bündelung aller für interne Rechtsberatung anfallenden Verwaltungsgemeinkosten verstanden. Auch in Konzernen erfolgt regelmäßig eine Verrechnung von Kosten der Rechtsabteilung auf die Konzerngesellschaften. So wird häufig über einen Schlüssel zur Umlage (wie z. B. nach Umsatz oder Mitarbeiterzahl) eine Verteilung der durch die Rechtsabteilung verursachten Verwaltungsgemeinkosten auf Tochterunternehmen vorgenommen.

50Horst,

Outsourcing von Rechtsabteilungen, BB 1995, S. 1096 (1099). z. B. Otto, Henning & Company, Pressemitteilung Nr. 1/2009. 52Plinke/Rese, Industrielle Kostenrechnung, 7. Auflage, 2006, S. 90. 51vgl.

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Da derartige Schlüssel aber stets nur Näherungswerte sein können, wird verstärkt eine verursachungsgerechte Umlage gefordert53. Kosten für die Tätigkeit von Syndikusanwälten können gut in zeitlicher Hinsicht erfasst und bewertet werden und legen daher eine Zeiterfassung und eine Umlage der Kosten für interne Rechtsberatung entsprechend der erfassten Zeiten nahe. Die Art der Verrechnung führt letztlich dazu, dass die Rechtsabteilung – wie eine externe Kanzlei – einen Überblick über ihre Einnahmen erhält und so zumindest theoretisch auf Grundlage einer Einnahmen-Überschussrechnung ermittelt werden kann, wie profitabel sie arbeitet. Rechtsabteilungen können daher als Profit-Center, also als wirtschaftliches Unternehmen innerhalb des Unternehmens geführt werden. Als Profit-Center wird die Rechtsabteilung naturgemäß angehalten, neben ihrer Beratungsaufgabe Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkte im Auge zu behalten und ihren wirtschaftlichen Nutzen zu steigern54. So ermöglicht die Ausgestaltung als Profit-Center eine Überprüfung, welche Zeiten – zumindest auf dem Papier – in die Fallbearbeitung gesteckt wurden und wie viel „Verwaltungsaufwand“ im Übrigen zu verrechnen ist. Letztlich dürfte der Kostendruck, der aus einer Ausgestaltung der Rechtsabteilung 24 als Profit-Center resultiert, aber eher negative Auswirkungen auf die Beratungsleistung haben55 und dazu führen, dass die Einbeziehung der Rechtsabteilung in Projekte und operative Aufgaben zur Schonung der belasteten Kostenstelle auf ein Minimum beschränkt wird. Eine in jeder Hinsicht verursachungsgerechte und zeitnahe Verteilung von Kosten der Rechtsabteilung dürfte daher nicht in jedem Fall für eine optimale Rechtsberatung sorgen. Zudem nähert eine Ausgestaltung als Profit-­ Center die Rechtsabteilung externen Kanzleien an und leitet über zur Frage, ob eine noch vor einigen Jahren vielfach gerühmte Kostenoptimierung durch Outsourcing erfolgen kann. Aus (wirtschaftlich nachvollziehbarer) Sicht einiger externer Berater lassen sich sicherlich viele Argumente dafür finden, dass Rechtsabteilungen – z. B. aufgrund einer behaupteten, unzureichenden Spezialisierung oder einer angeblich zu geringen Produktivitätsrate – lediglich als schlankes Team von Rechtsmanagern juristisch ein­ fache Sachverhalte bearbeiten sollten und im Übrigen externen Beratern zur Sach­ verhaltaufbereitung und Zuarbeit dienen könnten56. Insoweit wird aber verkannt, dass auch Rechtsabteilungen den Aufbau von fundierten Fachkenntnissen ermöglichen57 – wenn nicht als singuläre Aufgabe, dann jedenfalls als ein Teilgebiet in einem ansonsten z. B. aus operativen Tätigkeiten geprägten Aufgabenfeld – und häufig intern

53Otto,

Henning & Company, Der Rechtsabteilungs-Report 2009, S. 110 f. Heeseler, Verrechnung von Rechtsberatungskosten in der Unternehmenspraxis, BC 2006, S. 193 (194). 55Hauschka, Corporate Compliance, 2. Auflage, 2010, § 15, Rn: 23. 56Horst, Outsourcing von Rechtsabteilungen, BB 1995, S 1096 ff. 57vgl. insoweit nur den Anteil von Unternehmensjuristen, die auf dem Fortbildungsmarkt als Referenten zu Spezialmaterien zu finden sind; vgl. auch Sammer in FAZ.NET, Rechtsabteilungen – Hohe Ansprüche an Hausjuristen. 54vgl.

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und vorgerichtlich Spezialgebiete abdecken können. Durch die Betrachtung als ­Profit-Center (oder in gedanklicher Fortsetzung als outgesourcte Rechtsabteilung) wird aber insbesondere der herausgehobene Wert der Rechtsabteilung durch ihre Nähe zum operativen Geschäft und als Kommunikationsfaktor im Unternehmen beeinträchtigt. Es dürfte somit kaum möglich sein, allgemeingültige Aussagen dazu zu treffen, wie eine Rechtsabteilung intern ihre Kosten verrechnen sollte oder gar ein Outsourcing anzustreben ist, da immer persönliche und unternehmensindividuelle Rahmenbedingungen ausschlaggebend sind. Dementsprechend erfolgt in vielen Unternehmen eine differenzierte Verrechnung von Rechtsberatungskosten, wie z. B. eine verursachungsgerechte Umlage von externen Kosten und eine Budgetierung der internen Rechtsabteilungskosten58. Schließlich ist zu beachten, dass durch eine Rechtsabteilung keine Reduzierung 25 der Rechtsberatungskosten auf null geschehen wird, da weiterhin eine Vertretung in Gerichts- und Schiedsverfahren durch externe Rechtsanwälte notwendig bleiben wird und gelegentlich Rechtsbereiche zu bearbeiten sein werden, für die in der Rechtsabteilung kein Fachmann zur Verfügung steht oder eine Absicherung durch externen Rat notwendig ist. Dennoch ist die Beschäftigung einer Rechtsabteilung auch an der Schnittstelle zu externen Kanzleien von Nutzen, da durch Legal Management die Kosten für externe Juristen erheblich reduziert werden können. So wirkt die Rechtsabteilung als originäre Aufgabe bei der Auswahl der richtigen externen Berater mit, was aufgrund der fachlichen Ausrichtung von Syndizi besser bewerkstelligt werden kann, als durch andere Unternehmensmitarbeiter. Ein beträchtlicher Anteil von großen Rechtsabteilungen hat zudem ihre „Make-or-buy-Strategie“ in einer Richtlinie zur Auswahl und Mandatierung externer Rechtsanwälte niedergelegt59 und somit durch Standardisierung die Voraussetzungen für eine sachgerechte und kostenschonende Beauftragung von Rechtsanwälten geschaffen. Darüber hinaus trennt ein Syndikus relevante Sachverhaltsinformationen von nicht relevanten und kann auf diese Weise verhindern, dass diese Tätigkeit durch teurere externe Juristen übernommen werden muss60. Schließlich besteht eine wesentliche Aufgabe von Syndizi darin, die Kosten für nicht vermeidbare externe Beauftragungen durch effizientes Kostenmanagement möglichst niedrig zu halten. Bei der in Kontinentaleuropa noch vorherrschenden Vergütung nach Stundensätzen61 werden zunehmend Kostenvorteile durch Rahmenvereinbarungen mit externen Kanzleien62 geschaffen,

58Otto,

Henning & Company, Der Rechtsabteilungs-Report 2009, S. 110 f. Henning & Company, Der Rechtsabteilungs-Report 2009, S. 128 f. 60vgl. insoweit Schwung, AnwBl 96, 182, 184, der zu Recht darauf hinweist, dass die Beurteilung von weniger relevanten Fragestellungen nicht durch deshalb zu unnötigen externe Kosten führt, weil ein Rechtsanwalt standesrechtlich zu einer umfassenden Beratung verpflichtet ist, sondern natürlich auch finanziell an einer umfassenden Beratung interessiert ist. 61Reimann, Deutscher AnwaltSpiegel 2010, 19. Ausgabe, S. 17. 62Otto, Henning & Company, Der Rechtsabteilungs-Report 2009, S. 130 f. 59Otto,

2  Aufgabenfelder des Syndikus

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aber auch andere Vergütungsmodelle in Betracht gezogen, wie etwa die Vereinbarung von Pauschalhonoraren oder ein sog. „Value-Billing“, also die Bezahlung von Rechtsanwälten nach dem Wertbeitrag, den diese für ihren Auftraggeber leisten63. Letztlich bleibt festzuhalten, dass sich auch in Zukunft und in Anbetracht eines erheblichen Kostendrucks, dem sich Rechtsabteilungen ausgesetzt sehen, eine fortschreitendes Kostenbewusstsein zu intensiven Anstrengungen mit dem Ziel der Senkung interner und externer Rechtsberatungskosten beiträgt64 und eine weitere Leistungssteigerung erfordern wird. Hierin ist aber nicht nur die Gefahr zu erblicken, dass die Arbeit in der Rechtsabteilung unter erhöhtem wirtschaftlichen Druck, in noch stärker durchstrukturierten Arbeitsabläufen und einer fortschreitenden Qualitätssicherung auszuführen ist. Vielmehr bieten die aktuellen Entwicklungen auch die Chance der Erkenntnis, dass sich Syndizi fachlich und wirtschaftlich nicht vor einem Vergleich mit externen Rechtsanwälten scheuen müssen. Für Juristen mit betriebswirtschaftlichen und technischen Interessen bieten Rechts- 26 abteilungen daher – im Vergleich zu Kanzleien oder der Tätigkeit im öffentlichen Dienst – attraktive alternative Beschäftigungsmöglichkeiten, die Managementaufgaben mit fundierter juristischer Arbeit verbinden und zudem die Möglichkeit zum Aufstieg in Führungspositionen bei interessanten Unternehmen eröffnen.

Literatur Görling, Helmut/Inderst, Cornelia/Bannenberg, Britta, Compliance, 1. Auflage 2010 Hartmann, Michael, Juristen in der Wirtschaft, 1990 Hauschka, Christoph E., Corporate Compliance, 2. Auflage 2010 Henning, Michael, Der Rechtsabteilungs-Report, 2009 Henssler, Martin/Prütting, Hanns (Hrsg.), Bundesrechtsanwaltsordnung, Kommentar, 3. Auflage 2010 Lenz, Tobias, Die Kulanzleistung des Versicherers, Diss., Köln 1993 Plinke, Wulff/Rese, Mario, Industrielle Kostenrechnung, 7. Auflage 2006

63vgl.

insoweit Reimann, Deutscher AnwaltSpiegel 2010, 19. Ausgabe, S. 17. Juve, Kanzleiumsätze 2009/2010, Seite 124.

64Jatzkowski,

Teil II Besonderer

3

Legal Management Carsten Reimann

Wie lässt sich eine Rechtsabteilung am sinnvollsten managen. Diese Thematik beschäftigt mich, seit ich 2005 über ein Reorganisierungsmandat die Seiten wechselte und zum ersten Mal im Unternehmen selbst tätig wurde. Aus dem Projektauftrag des „Legal Project Manager“ wurde schnell die größere Aufgabe, von Null auf eine interne Rechtsabteilung aufzubauen, welche eine Vertriebsgesellschaft im Automobilbereich in den Märkten Deutschland, Österreich und der Schweiz rechtlich betreut und zugleich übergreifende europaweite Projekte effizient umsetzen kann. Mit Xenion Legal unterstützen wir seit 2012 in Deutschland und der Schweiz Unternehmen dabei, ihre Rechtsberatung effizient(er) zu organisieren, und entwickeln hierbei auch selbst neue Ansätze und Lösungen. Die Schnittstelle zwischen Recht und Management ist noch ein eher wenig beachtetes Randgebiet. Dies ändert sich jedoch mehr und mehr. Kanzleien beschäftigen auch in D-A-CH Chief Operative Officer und stellen Nicht-Juristen mit Management-Kompetenz ein, um die Leitung der Sozietät zu unterstützen. Auch in Unternehmen trifft man nunmehr häufiger auf das Berufsbild des Chief Legal Officer, welcher dem General Counsel zur Seite steht. Die Frage nach dem guten Design einer unternehmensinternen Rechtsabteilung brachte mich seither ins Gespräch mit vielen Kolleginnen und Kollegen, die selbst vor der Aufgabe stehen, eine „inhouse legal function“ zu führen.1 Einige Erfahrungen habe

1Für

hilfreiche Anregungen danke ich zahlreichen Kolleginnen und Kollegen, insbesondere Dr. RitaLenz, Helge Köhlbrandt, Béatrice Kroll und Martin Fabisch.

C. Reimann (*)  Xenion Legal GmbH, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Lenz (Hrsg.), Die Rechtsabteilung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21915-4_3

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1

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C. Reimann

ich noch während meiner Inhouse-Zeit in einer Beitragsreihe im Deutschen AnwaltSpiegel veröffentlicht.2 Das vorliegende Kapitel ist nunmehr auf dem Stand von März 2018 und berücksichtigt neben meinen eigenen Praxiserfahrungen die Erkenntnisse aus mehreren Beratungsprojekten mit DAX 30 und anderen Unternehmen in Deutschland.

3.1 Einleitung 2

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Was ist Legal Management? In Bezug auf Anwaltskanzleien gibt ein anerkannter US Autor die Antwort: „Ein Mythos“.3 Da sich Juristen von Natur aus lieber selbständig unter ihresgleichen bewegen, sei der Versuch eines hierarchischen Managements von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Als Einzelkämpfer ausgebildet, scheint der klassische Jurist auch alleine mit sich selbst sehr zufrieden. Sämtliche Versuche, ihn in Organisationen einzubinden oder gar zu „managen“, haben es insofern schwer. Den ausführlichsten Ansatz im deutschsprachigen Raum hat meines Wissens Professor Leo Staub in St. Gallen geliefert. In seinem Buch beleuchtet er zahlreiche Facetten eines „Legal Management“, welches Recht als Leitungsaufgabe und Führungsfunktion in Unternehmen begreift.4 Folgendes Schaubild zeigt die verschiedenen Elemente des Legal Management. (Abb. 1) Mich selbst inspirieren aus der Management-Literatur die beiden Versuche, die Leitung eines Unternehmens mit einem Orchester5 oder einem Jazzensembles6 zu vergleichen. Mit Blick auf die Welt der Chormusik verstehe ich Legal Management daher als die Kunst, als Jurist im Unternehmen (Mehr-)Wert zu schaffen. Im Kern meint Legal Management die Aufgabe, das Unternehmen zu angemessenen Kostenbeim Erreichen seiner wirtschaftlichen Ziele fachlich kompetent zu unterstützen.7 Vor welchen Herausforderungen steht ein General Counsel oder Leiter einer Rechtsabteilung heute? Welches sind die schwierigsten Aufgaben? Die meisten Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich spreche, berichten von einer ähnlichen Ausgangssituation. Budgets bleiben gleich oder werden reduziert. Zugleich steigt die Komplexität. Projektarbeit, Compliance-Themen, Wunsch nach internen Schulungen in mehreren Fachgebieten.

2Siehe

Deutscher AnwaltSpiegel 2010, Ausgaben 15, 17, 19 und 24, im Volltext abrufbar unter http://www.deutscheranwaltspiegel.de. 3Wesemann, The first great myth of legal management is that it exists, 2004. 4Staub, Legal Management, 2. Aufl. 2006. 5Gansch, Vom Solo zur Sinfonie – was Unternehmen von Orchestern lernen können, 2014. 6Stephan, Improvisationsfähigkeit, Kreativität und Offenheit als Herausforderungen innovativer Unternehmen – Jazz als Referenzkonzept für das Innovationsmanagement?, 2009; siehe auch Blondé/de Frahan, A law firm is a jazz band, Top Legal International. 7Vgl. Deutscher AnwaltSpiegel vom 28. Juli 2010, Ausgabe 15.

3  Legal Management

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Teil einer kundenorientierten Wertschöpfungskette

Teil einer effizienten Checks and Balances Systems

Legal Management Legal Controlling

Kundenabhängig und subjektiv mit Blick auf steigenden Umsatz.

Legal Services

Zusammenspiel

Compliacne Services

Legal Engineering

Unabhängig und objektiv mit Blick auf den Aktienkurs und das Aktionärsinteresse allgemein.

Abb. 1  Elemente des Legal Management, nach Taisch 2009. (Quelle: Autor; nach Henley, 2007a: 32)

Anforderungen an die Abteilung sinken nicht, sondern nehmen eher zu. Neben dem juristischen Fachwissen und Kommunikationsgeschick werden dabei immer stärker Fähigkeiten wie professionelle Projektleitung oder Finanzoptimierung gefragt. Dabei haben die wenigsten Kolleginnen und Kollegen neben ihrem rechtswissenschaft­lichen Studium eine professionelle Ausbildung im Management absolviert. Schließlich gilt es, bei der jährlichen Budgetdiskussion rechtfertigen zu können, welchen Mehrwert die Rechtsabteilung dem Unternehmen bringt. Was also tun?

3.2 Was Unternehmen brauchen Je nach Größe des Unternehmens und Produktportfolio variieren auch die Bereiche, in denen juristische Begleitung sinnvoll ist. Generell lassen sich laufende Dienste (operativer Bereich) und Projektberatung (transaktions-/reorganisationsbezogener Bereich) unterscheiden.8 Die Kunst liegt nun darin, zunächst den jeweiligen Bedarf und seine Schwankungen möglichst genau zu verstehen (Bedarfsanalyse).

8Manche

Autoren gehen noch einen Schritt weiter und wollen unter dem Begriff „Legal Management“ oder „strategisches Rechtsmanagement“ die grundsätzliche Rolle von Recht im Unternehmen hinterfragen und allgemein darüber nachdenken, wie Recht zum nachhaltigen Unternehmenserfolg beitragen kann, vgl. Poepping/Deister, Deutscher AnwaltSpiegel, Ausgabe 1/2011.

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C. Reimann

Dann folgt das entsprechende Design. Hierbei sind interne Organisation, Prozesse und Zusammenspiel mit Lieferanten (externen Anwaltsfirmen) zu strukturieren. Im Ergebnis werden dabei bestimmte Beratungsleistungen an interne Anwälte vergeben ebenso wie die Qualitätskontrolle externer Kollegen. Wann instruiere ich extern, wie präzise bin ich fachlich in der Lage, das Arbeitsprodukt zu beurteilen und zu „veredeln“, wann kann ich mich nur darauf beschränken, den Aufwand des externen Arbeitsprodukts auf Schlüssigkeit und Kosten zu kontrollieren? Ziel des Designs ist es, das Unternehmen zu optimalen Kosten beim Erreichen seiner wirtschaftlichen Ziele fachlich kompetent zu unterstützen. Juristischer Input kann dabei Business ermöglichen (Verträge, behördliche Anmeldungen bei Transaktionsvorhaben etc.) oder Kosten vermeiden (Compliance, Beschränken von Risiken). Legal Management ist die Disziplin, das oben definierte Ziel zu erreichen. Es hat ein Auge auf die juristische Fachwelt sowie das andere Auge auf die internen Unternehmensabläufe. Hier steht und fällt das „Standing“ der internen Rechtsabteilung nicht nur mit deren Fachkompetenz, sondern auch damit, inwiefern die hauptverantwortlichen Inhouse-Anwälte neben ihren Kolleginnen und Kollegen im klassischen Management überzeugen. Idealiter wird der interne Jurist als „trusted business advisor“ proaktiv tätig. Als strategischer Berater steht er dem Business als Sparringspartner zur Verfügung. Den Krankenwagen ins nächste Spital zu fahren ist eine von Unternehmen gern an ihre Rechtsabteilungen vergebene Aufgabe, um Schaden zu minimieren. Besseren Wert schafft der Jurist jedoch, wenn es ihm gelingt, bereits oben am Rand der Klippe einen Zaun aufzustellen.

3.3 Was Unternehmen bekommen 6 7

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Die Realität sieht meiner Erfahrung nach oftmals anders aus. Sie lässt sich anhand der folgenden (in ihrer Zuspitzung vielleicht provokanten) drei Thesen beschreiben. Je schlechter das Legal Management, desto höher die Kosten für Rechtsberatung. Fehler im Design führen zu falsch verorteten Aufgaben und damit zu vermeidbaren Mehrkosten. Beispiel: eine externe Kanzlei bearbeitet zu hohen Stundensätzen ständig anfallende Routinefälle in einem bestimmten Fachgebiet. Die allmähliche Spezialisierung eines internen Anwaltskollegen und/oder ein Schulungsangebot für die entsprechende Fachabteilung im Unternehmen liefert langfristig denselben juristischen Input zu besseren Konditionen. Wird dieser Zusammenhang nicht gesehen und unterbleibt die entsprechende Management-Entscheidung, erhält das Unternehmen eine ineffiziente Leistung, obwohl deren juristisch fachliche Qualität stimmen mag. Je schlechter das Legal Management, desto höher die Fluktuation in der Rechtsabteilung. Unzureichende Bedarfsanalyse und damit suboptimales Design hat zur Konsequenz, dass gute Kolleginnen und Kollegen die Rechtsabteilung verlassen. Weiß ich dagegen genau, welche Beratungsgebiete in welchem Umfang anzubieten sind, kann ich entsprechende

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interne Spezialisierungen fördern. Verstehe ich neben der fachlichen Dimension auch noch den Management-Aspekt, lassen sich Positionen wie Legal Project Manager, Legal Controller oder Legal Coordinator schaffen. Die hierzu jeweils erforderliche begleitende Ausbildung im Projektmanagement, Finanzwesen oder IT-Bereich kann durchaus motivieren und sich lohnen, d. h. karrierefördernd auswirken. Je schlechter das Legal Management, desto größer die Abhängigkeit von externen Kanzleien. Das Geschäft mit der Marke und das Geschäft mit der Angst sind insbesondere bei großen Transaktionen oder behördlichen Untersuchungen bekannt. Aber auch im operativen Geschäft lässt sich feststellen: Je besser qualifiziert der juristische Inhouse-Manager, desto weniger ist er auf den Rat einer bestimmten externen Anwaltskanzlei angewiesen. Hat sich der interne Anwalt darüber hinaus mit seiner Rechtsabteilung durch eigene Kompetenz das Vertrauen des Vorstands erarbeitet, kann er ohne Rücksichtnahme „aus politischen Gründen“ im Einzelfall entscheiden, wie er den Chor von internen und externen Juristen am besten nutzt. Damit wird der Weg frei zu einer transparenten Auswahl der Lieferanten nach Marktkriterien. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit.

9

3.4 Qualitätsmanagement Qualitätskontrolle ist eine zentrale Säule des Legal Management.9 Wie aber lässt sich die 10 Qualität rechtlicher Dienst­leistungen messen und beurteilen? Nur wer auf diese Frage eine Antwort weiß, kann dann Maßnahmen ergreifen, um die Qualität zu sichern oder zu steigern. In der Fachliteratur gibt es viele Ansätze, den Begriff Qualitätsmanagement näher zu umschreiben.10 Für die Praxis empfiehlt sich meiner Erfahrung nach folgende vereinfachte Definition. Qualität meint ein dank guter Prozesse im Ergebnis hochwertiges Produkt, das Kundenzufriedenheit schafft. Management meint ein geplantes (d. h. nicht nur zufälliges) Ergebnis, welches durch systematisches Arbeiten und Führung erreicht wird. Was bedeutet dies nun konkret für die Rechtsabteilung eines Unternehmens? Hochwertiges Produkt: zur „inneren Qualität“ gehören etwa die gute juristische Qualifikation, regelmäßige Fortbildungen, Fachspezialisierung, hochwertige Schriftsätze, Gutachten und Vertragsentwürfe. Prozess und Kundenzufriedenheit: daneben basiert die „äußere Qualität“ auf Eigenschaften des beratenden Juristen wie Schnelligkeit, Zuverlässigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Effizienz, Nützlichkeit und Preis-Leistung-Angemessenheit.

9Siehe

auch Deutscher AnwaltSpiegel vom 28. Juli 2010, Ausgabe 15, Seite 16. etwa Geiger/Kotte, Handbuch Qualität, 5. Aufl., 2007; Graebig, Wörterbuch Qualitätsmanagement, 3. Aufl., 2017; Hill, Wege zum Qualitätsmanagement, 3. Aufl., 2017; Schlüter/ Dunkhorst, ISO 9001:2000– Qualitätsmanagement praxisgerecht einführen und weiterentwickeln, 2003; Zollondz, Grundlagen Qualitätsmanagement, 3. Aufl., 2011. 10Vgl.

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3.4.1 Juristische Qualität 11 Unter Kolleginnen und Kollegen ist insbesondere in Deutschland heftig diskutiert worden, inwiefern sich die rechtliche Beratung an den Grundsätzen der allgemeinen Qualitätskontrolle messen lassen muss. Nach traditioneller Ansicht versteht sich der Rechtsanwalt – sei er nun als Syndikus primär für interne Mandanten oder als externer Wirtschaftsanwalt tätig – als Experte und „Künstler“.11 Seine Ausbildung befähigt ihn, bislang unbekannte Einzelfälle strukturiert aufzubereiten und einzuordnen. Dies setzt oftmals Kreativität voraus, zumal jeder zu beurteilenden Lebenssachverhalt anders ist. Hinzu kommt der standesrechtliche Gedanke, als Organ der Rechtspflege „mehr“ als ein gewöhnlicher Anbieter von Dienstleistungen zu sein. Gerade in Hinblick auf die Compliance-Seite verstehen sich daher Rechtsabteilungen zunehmend als „Legal“ oder „Legal Function“ anstelle wie früher Anbieter von „Legal Services“.12 In jüngerer Zeit setzt sich dagegen vermehrt die Auffassung durch, dass auch juristische Dienstleister allgemeinen Managementprinzipien unterliegen. So erbringt die Juristin ihre Leistung nicht im freien Raum, sondern im Rahmen komplexer Unternehmensprozesse. Dabei ist sie Teil einer Wertschöpfungskette. Ergibt beispielsweise die Sachverhaltsanalyse, dass eine bestimmte Fragestellung nach ausländischer Rechtsordnung zu beurteilen ist, so wird die Anwältin regelmäßig eine in der ausländischen Jurisdiktion ausgebildete Kollegin zurate ziehen. Die Instruktion dieser Kollegin sowie die Einbeziehung des durch sie erhaltenen Ergebnisses in das abschließende Beratungsprodukt – gegebenenfalls nach entsprechender „Veredelung“ – sind nichts anderes als Zwischenschritte einer klassischen Zuliefererkette. Ähnlich gestaltet sich der Prozess, wenn Teilfragen aus Rechtsgebieten auftauchen, welche besonderes Spezialwissen erfordern, über welches die federführende An­wältin selbst nicht verfügt. 12 Vor diesem Hintergrund leuchtet ein, dass an juristische Qualität höhere Anforderungen zu stellen sind als nur „richtiger Rechtsrat“. Dass der Anwalt auf Basis der gültigen Gesetze und Vorschriften berät und seine Empfehlungen und Schriftsätze frei von logischen Fehlern sein sollten, versteht sich von selbst. Dies meint das erste (objektive) Element obiger Definition, das „hochwertige Produkt“. Hinzu kommt aber als zweites (subjektives) Element die Kundenzufriedenheit. Wie sieht es zum Beispiel aus mit Reaktionszeiten, transparenter Fallbearbeitung oder (bei externen Anwälten) flexiblen wertbasierten Vergütungsmodellen jenseits der Stundensätze? Diese äußeren Faktoren nimmt der Mandant oftmals sogar stärker wahr als die tatsächliche objektiv-fachliche Güte. Welcher General Counsel, es sei denn er ist gerade auf diesem Gebiet Spezialist, vermag schon zu beurteilen, ob ein kartellrechtlicher Schriftsatz den aktuellen Stand der Entscheidungspraxis wirklich optimal berücksichtigt?

11Reimann/Born, 12Dieser

Berlin.

TÜV-geprüfte Unternehmensjuristen, BB 2009 M 16, Heft 22 (25. Mai). Trend war bereits überwiegende Meinung auf den Unternehmensjuristentagen 2014 in

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3.4.2 Qualitätsmanagementsystem (QMS) QM beruht auf dem Gedanken des ständigen Wandels zum Besseren (jap. Kaizen 改善). 13 Einfach gesagt: was gut funktioniert, wird kontinuierlich Schritt für Schritt perfektioniert und dabei ggf. angepasst. Dies gilt auch für die Rechtsabteilung. Zentrale Aufgaben sind das Erfassen von juristischen Anfragen und deren Prioritäten sowie das Mandatieren und Steuern externer Anwälte in Rechtsstreitigkeiten, Transaktionen oder behördlichen Untersuchungen. Ein QMS hilft dabei, diese Prozesse möglichst fehlerfrei abzuwickeln, und verspricht eine Reihe von harten Effekten. Art und Umfang interner Kundenanfragen und deren juristischer Beratungsumfang werden mess- und darstellbar. Dadurch lassen sich Personalressourcen oder bestimmte Schulungsmaßnahmen besser planen. Die Position der Rechtsabteilung im Unternehmen verbessert sich. Man verwendet dieselben Tools wie andere Abteilungen und begegnet damit dem „Business“ auf Augenhöhe. Schließlich lässt sich QMS auch auf die Lieferanten erstrecken. Kanzleien werden transparent geführt und in das interne Dokumentationssystem integriert.13 Die Vorteile gegenüber Benchmarking liegen auf der Hand. Während BenchmarkStudien nur sagen, wie eine Rechtsabteilung in Bezug auf „den Durschnitt“ steht, erlaubt QM die eigene Exzellenz fortlaufend zu steigern. In Deutschland wurden bereits Ansätze nach DIN 9001 und Six Sigma erfolgreich erprobt. Experten wie Professor Staub von der Universität St. Gallen sind überzeugt, dass eine saubere Prozessarchitektur, die eine gewisse Standardisierung der Arbeitsabläufe mit sich bringt, erheblich zur organisatorischen Reife einer Rechtsabteilung beitragen kann.14 Neben dem Effizienzgewinn dürften aber vor allem mögliche Kosteneinsparungen QMS für Unternehmensanwälte interessant machen. Dank immer besserer IT-Lösungen wird sich in Zukunft auch der Aufwand zunehmend verringern, ein an den jeweiligen Unternehmensprozessen ausgerichtetes QMS einzuführen.15 Durch ein QMS kann die Rechtsabteilung schließlich nicht nur ihr internes Standing verbessern, sondern auch unternehmensweiten internen Audits gut vorbereitet entgegentreten. Beim Qualitätsmanagement geht es um eine nachvollziehbare Systematik der Dienst- 14 leistung, deren klarer Fokus auf der Kundenzufriedenheit liegen sollte.16 Der hierbei erreichte Standard kann beispielsweise durch die Zertifizierung bestätigt werden. In jedem Fall ist wichtig, dass die dokumentierten Prozesse auch tatsächlich im Alltag 13Reimann/Born,

Fn. 11, Heft 23 (2. Juni). zum Standard“, Fn. 14, 70. 15Viele der 2018 erhältlichen Legal Tech Programme haben bereits standardisierte Workflows eingebaut. Software sollte allerdings erst dann angeschafft werden, wenn die internen Prozesse klar dokumentiert sind bzw. ein entsprechender agiler Mindset beim Anwaltsteam gegeben ist. 16Im Detail kann man bei externen Anwaltsleistungen noch nach den direkten (Inhouse-Anwälte) und indirekten Kunden („Endkunden“ im Business des Unternehmens) unterscheiden. Regelmäßig fließen die Rückmeldungen dieser Business-Endkunden aber in die Bewertung der InhouseAnwälte mit ein. 14„Mut

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umgesetzt und andauernd angewandt werden. Der Nutzen eines QMS liegt in der Steigerung der äußeren Qualität der juristischen Dienstleistung, d. h. in der Optimierung der Aufbau- und Ablauforganisation. Insgesamt verbessert ein QMS in Rechtsabteilungen die Produktivität der rechtlichen Dienstleistungen für das Unternehmen. Risiken können reduziert und die Arbeit der Rechtsabteilung kann effizienter werden. Dies ermöglicht regelmäßig Kostensenkungen durch Einsparung interner oder externer Ressourcen. Bei gleich bleibenden Ressourcen (Zahl der Inhouse-Juristen, Budget für externe Rechtsberatung) lässt sich der Umfang qualifizierter rechtlicher Beratung für das Unternehmen steigern oder die Arbeitsbelastung der einzelnen Juristen senken.

3.5 Kostenmanagement 15 Neben der Qualitätssicherung bildet der Umgang mit dem Budget eine weitere Säule des Legal Management. Gemäß ihrer Hauptaufgabe soll die Rechtsabteilung das Unternehmen zu optimalen Kosten beim Erreichen seiner wirtschaftlichen Ziele fachlich kompetent unterstützen. Im Tagesgeschäft umfasst Kostenmanagement insofern alle Tätigkeiten, die darauf abzielen, wirtschaftsrechtliche Beratung und Durch­setzung der Interessen des Unternehmens zu angemessenem Preis zur Verfügung zu stellen. Soweit die Theorie. Wieweit ist die Unternehmenspraxis hiervon entfernt? Welche aktuellen Trends lassen sich hier beobachten?

3.5.1 Zentrale Faktoren und Trends 16 Unter dem Titel „The client’s revolution“ beschreibt eine englische Studie, wie sich nach der Wirtschaftskrise zentrale Parameter im Machtverhältnis zwischen großen Wirtschaftskanzleien als Anbieter und Rechtsabteilungen als Einkäufer von juristischen Beratungsleistungen verschoben haben.17 Im Mittelpunkt steht hierbei die an Bedeutung zugenommene Position des General Counsel. Noch stärker als bisher nimmt dieser die Rolle eines Seniorberaters des Managements ein, oftmals ist er selbst unmittelbar in Gremien des Top Management oder den Aufsichtsrat eingebunden. Zu den rein rechtlichen kommen Aufgaben der strategischen Beratung, Risikobewertung und Compliance („Ethikchampion“). Damit ändert sich auch die Rolle der Rechtsabteilung. Konnte man in der Vergangenheit ihre Existenzberechtigung etwa noch damit begründen, dass die internen Juristen grundsätzlich „preiswerter“ seien als externe Anwälte, greift dieses Argument schon deshalb nicht mehr, da intern und extern unterschiedliche Leistungen erbracht werden.

17Eversheds,

Law Firm’s of the 21st Century, report on the post-legal sector, 2010.

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Die Rechtsabteilung wird mehr und mehr als Business Unit gesehen anstatt wie früher 17 als bloße Support-Funktion. In wirtschaftlich angespannten Zeiten demonstriert sie ihren Wert dadurch, indem sie Kosten für externe Rechtsberatung minimiert, rechtliche Probleme schnell und kostenwirksam löst, interne rechtliche Expertise für das Unternehmen aufbaut sowie hilft, rechtlich sanktionierbare Risiken zu verringern. Vor der Finanzkrise stand noch im Vordergrund, das rechtlich bestmögliche Ergebnis für das Unternehmen zu erreichen, „koste es was es wolle“. Diese Trends finden sich auch sehr anschaulich empirisch belegt in einer Studie aus März 2010, bei der 200 Corporate Counsel in Australien befragt wurden.18 Meiner Erfahrung nach gibt es zum allgemein zitierten neuen Kostenbewusstsein allerdings noch einige Ausnahmen. Wenn dem Unternehmen oder Einzelpersonen aufgrund von Rechtsverstößen Sanktionen wie große Bußgelder drohen („Geschäft mit der Angst“) oder sich die internen Juristen aus politischen Gründen absichern möchten („Geschäft mit der Marke“), spielt Geld – auch in Hinblick auf das vermeintliche Ausmaß der drohenden Gefahr – eher eine untergeordnete Rolle. Aber auch hier setzt sich zunehmend ein neues Commodity-Denken durch. In vielen Fällen genügt eben auch „ein guter Kartellrechtler“.

3.5.2 Wert eingekaufter Legal Services Der aufgewertete Status des General Counsel bewirkt auch einen geänderten Blick- 18 winkel bei der Bewertung der somit eingekauften rechtlichen Beratungsleistung. In Kontinentaleuropa zwar (noch) überwiegend praktiziert, ist die Honorarabrechnung nach Stundensätzen in Großbritannien stark in den Hintergrund getreten und nur noch ein Arrangement unter vielen. Der große Trend geht dagegen hin zum „Value Billing“, also der Bewertung eingekaufter Legal Services nach deren Business Output für das Unternehmen unabhängig von der Anzahl an Stunden, die der externe Anwalt hierfür aufgewendet hat. „Value Billing“ ist nicht zu verwechseln mit der Rückkehr zur Abrechnung nach Streitwert. Maßgeblich ist vielmehr der Wertbeitrag, den der juristische Rat für das Geschäft des beratenen Unternehmens liefert. Um diesen Wert zu ermitteln, ist es hilfreich, die Prozesse des Unternehmens und die mit ihnen verbundenen Wertschöpfungsfaktoren möglichst gut zu kennen. Dies aber kann der Inhouse-Anwalt bei gutem Legal Management leisten. Die richtige IT kann hier helfen, einmal erkannte und vereinbarte Arrangements sauber und mit wenig Aufwand umzusetzen.

18Deloitte,

Forensic Corporate Counsel Survey 2010, 3rd edition, 2010.

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3.5.3 Vom Cost Center zum Profit Center? 19 Angesichts der oben beschriebenen Trends fragt sich, inwiefern die Rechtsabteilung über die bloße Kostenstelle hinaus einen weiteren Schritt in Richtung Business Unit oder sogar Profit Center gehen kann. Die Deutsche Bahn rühmt sich beispielsweise damit, eine profitable Rechtsabteilung zu unterhalten, die systematisch Gelder aus Kartellschäden eintreibt. Warum sollte sich dieser Gedanke nicht auch auf andere Bereiche jenseits des juristischen Kerngeschäfts übertragen lassen? Längst hat sich unter CEOs herumgesprochen, dass ein gutes Inhouse-Team durchaus einen konkreten Wettbewerbsvorteil bedeuten kann. Ermöglichen oder Absichern von Geschäft durch rechtliche Lösungen sind hier mögliche Betätigungsfelder ebenso wie Beschaffen von Finanzierungsmitteln durch genaue Kenntnis von einschlägigen Förderprogrammen und Verhandlungsgeschick in entsprechenden Unternehmenskonsortien. Kostenmanagement ist ein heißes Thema. Es geht um Geld. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat hier offenbar einen Paradigmenwechsel herbeigeführt. Abgesehen von großen Gefahrsituationen für das Unternehmen schaut man bei den Kosten für Rechtsberatung genauer hin. Interne Anwälte als grundsätzlich kostengünstiger und damit Insourcing generell als Kostensparmaßnahme zu verstehen, greift aber zu kurz. Ein gutes Inhouse-Team kann, eben weil es inhouse und damit näher an den Unternehmensprozessen arbeitet, operativ und strategisch anders beraten als externe Anwälte.19 Die Gehälter der internen Anwälte werden allerdings, ebenso wie die Honorare der externen Kollegen, regelmäßig aus Unternehmenssicht als bloße Kosten verstanden, die es möglichst gering zu halten gilt. Wer aber eine solche Diskussion mit dem CFO nur reaktiv unter dem Schlagwort „Kosten“ führt, kann daher meines Erachtens nur verlieren. Erfolgversprechender erscheint der Ansatz aufzuzeigen, inwiefern die Rechtsabteilung bereits als Business Unit oder zumindest direkt eingebunden in die Aktivitäten bestimmter Business Units agiert.

3.6 Management externer Kanzleien 20 Das professionelle Niveau muss stimmen, aber auch die Gagen sollten ins Gesamtbudget passen. Die Auswahl trifft dabei der Chorleiter, Dirigent oder Leiter Recht. Er ist für die künstlerische Leistung verantwortlich. Wie aber kaufe ich für mein Unternehmen optimal Rechtsdienstleistungen ein? Hier ist regelmäßig der Inhouse-Anwalt zunächst für

19So

gibt es eine Reihe von Aufgaben im Unternehmen, die von einem externen Anwalt, eben weil er extern ist, nicht in gleicher Weise wie von Inhouse-Juristen erfüllt werden können. Der interne Berater „spricht die Sprache“ des relevanten Geschäfts, manchmal auch deren „Jargon“ bis hin zur Baseball-lastigen Powerpoint-Kultur amerikanischer Unternehmen.

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die Auswahl geeigneter externer Rechtsberater verantwortlich und anschließend für die Qualitätskontrolle.20

3.6.1 Die Qual der Wahl Am Anfang war der väterliche Freund. Ein Typ Jurist, der dem Geschäftsführer stets zum 21 Geburtstag gratulierte. Zu Weihnachten überreichte er dem loyalen Mandanten gerne einen Christstollen. Am liebsten sprach man über die Kinder und allgemeine Fragen des Geschäfts. Vertrauter, Weggefährte und akademischer Maître. Bei so viel „persönlicher Chemie“ fühlt sich der Mandant gleich richtig behaglich. Warum auch juristische Qualität und Preis-Leistungs-Angemessenheit mit anderen Anwälten vergleichen? Über Honorarrechnungen redet man unter Freunden ungern, man bezahlt sie einfach. Mittlerweile hat sich das Bild gewandelt. Geburtstage werden immer noch gerne gemeinsam begangen. Anstelle des Christstollens gibt es andere Annehmlichkeiten: Seminare für und mit Mandanten, organisiert von Sozietäten, eigens geschaffenen „Studienvereinigungen“ oder professionellen „Business-Development-Agenturen“ und neuerdings sogar einem Legal Tech Verein. Ähnlich beliebt sind Webinars als Low-BudgetVariante, Kontaktpflege bei Kunst und Kultur oder ein gelegentlicher Secondee als „Freebee“, wenn nur das große Mandat im Hause bleibt. Man ist kreativer geworden. Und als umworbener potentieller Mandant anspruchsvoller. Eine Konstante bleibt jedoch: 80–90 % der Anwaltsdienstleistungen werden aufgrund 22 von Empfehlungen vergeben. Dies wird oftmals mit dem Slogan beschrieben, Rechtsberatung sei „a people business“. Nun liegt es in der Natur der Sache, dass Empfehlungen stets subjektiv sind und auf persönlichen Erfahrungen einzelner Kolleginnen, Kollegen und Mandanten beruhen. Ein Blick in Handbücher wie das von JUVE, dem Pionier der Markttransparenz im deutschen Anwaltsmarkt, oder „Kanzleimonitoren“, die angeblich eher auf Empfehlungen von Unternehmenskunden beruhen, mag zunächst helfen. Der Ratsuchende erfährt so schon einmal, dass es zu verschiedenen Rechtsgebieten viele Anwälte gibt, die in der Vergangenheit zur Zufriedenheit bestimmter Mandanten an relevanten Materien gearbeitet haben. Verlässt man sich ausschließlich auf solche Rankings, kann man aber schnell danebengreifen. Auch wenn ich es ungern zugebe, ist es mir selbst im Einzelfall schon passiert. In Zukunft werde ich mich daher in jedem Fall im Kollegenkreis umhören, bevor ich einen bislang unbekannten externen Anwalt auswähle. Aber wie viele Kolleginnen und Kollegen soll ich fragen? Insbesondere, wenn es schnell gehen soll und mein Netzwerk

20Zur

durchschnittlichen „Reife“ einer Rechtsabteilung gehört es, dass zu 95–100 % externe Rechtsdienstleistungen nur über sie als „Gatekeeper“ vergeben werden. Trifft dies nicht zu, hat sich der General Counsel oder Leiter Recht ernsthafte Gedanken über seine Stellung und sein Ansehen im Unternehmen zu machen.

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an befreundeten Peers überschaubar ist, während die Zahl einschlägiger Interessenorganisationen wiederum sehr groß ist? 23 Hier kann der Pitch helfen. In der Basisversion oftmals auch als Beauty-Contest bezeichnet, stellen sich beim Pitch verschiedene Sozietäten persönlich vor. Kanzleibroschüren, PowerPoints, Kennzahlen zum Verhältnis von Partnern und Associates, errungene Erfolge sowie natürlich Preise und Konditionen – über all dies kann man sprechen. Die De-Luxe-Version sieht einen kleinen Testfall vor, den die Bewerber dann jeweils lösen müssen. Der Sieger dieses Concours erhält das Mandat. Bereits die Vorbereitung eines solchen Wettkampfs, ganz zu schweigen von seiner Durchführung, sind allerdings extrem aufwendig. Und zwar für alle Beteiligten, sowohl für die Unternehmen als auch für die Sozietäten. Also bleibe ich doch lieber gleich bei der Basisversion. Größere Unternehmen haben bei offenen Ausschreibungen das Problem, dass die Bekanntheit ihrer Marke „deep pockets“ vermuten lässt, was in den Angeboten zum Ausdruck kommt.

3.6.2 Wie gut ist mein Anwalt? 24 Habe ich den Auswahlprozess erfolgreich abgeschlossen, bleibt die zweite Frage. Wie bewerte ich die eingekaufte rechtliche Beratungsleistung und stelle deren Qualität dauerhaft sicher? Regelmäßig arbeiten externer und interner Anwalt gemeinsam an bestimmten Sachverhalten. Reaktionsverhalten im kommunikativen Umgang, Verwertbarkeit von Schriftsätzen oder aber formale Unzulänglichkeiten sowie für die Leistungen in Rechnung gestellte Honorare lassen sich dabei noch relativ einfach erfassen. Schwieriger sieht es aus mit inhaltlichen Details, wenn ich mich in bestimmten Rechtsgebieten oder ausländischen Rechtsordnungen als Generalist auf einen Spezialisten verlassen muss. Hier bleibt mir manchmal nichts anderes übrig, als Arbeitsergebnisse auf Schlüssigkeit und Kostenaufwand hin zu überprüfen. Bei größeren Unternehmen kommt die Herausforderung hinzu, beim Arbeiten mit einem Panel unterschiedlicher Sozietäten sicherzustellen, dass die einzelnen Anwälte jeweils von den relevanten Inhouse-Kontakten regelmäßig und nach einheitlichen Kriterien bewertet werden. Das somit gewonnene Feedback hat schließlich nur dann einen Wert, wenn es systematisch ausgewertet wird und im Ergebnis auch in zukünftige Managemententscheidungen einfließt. „Performance-Tracking“ mit direkten Konsequenzen für die Mandatsvergabe oder Zusammensetzung von Panels wird in Reinkultur derzeit meines Wissens selten betrieben. In der Praxis bestimmen oftmals der eigenen Beurteilung entzogene Faktoren oder sonstige qualitätsfremde „politische Gründe“ den Einkaufsprozess. Ein bekanntes Unternehmen möchte sich beispielsweise damit schmücken, in wichtigen Märkten von den größten oder „renommiertesten“ Kanzleien beraten zu werden. Oder man möchte nur von „Partnern“ beraten werden, selbst wenn heutzutage auch angestellte Rechtsanwälte extern diesen Titel tragen und je nach Sozietät allein die Bezeichnung als Partner weder über die Haftungssituation noch die genaue Seniorität Aufschluss gibt.

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3.6.3 Wo bleibt der Wettbewerb? Rechtsberatung ist eine Dienstleistung wie jede andere auch. Wir Anwälte unterscheiden 25 uns hier nicht von Architekten oder Ärzten. Gute Leistungen werden im Wettbewerb ermittelt. Dennoch müssen derzeit Architektenaufträge europaweit ausgeschrieben werden und Rechtsanwaltsleistungen nicht. Bei öffentlichen Aufträgen stellt sich hier die Frage nach dem wirtschaftlichen Umgang mit Steuergeldern. In der Privatwirtschaft schädigt suboptimaler Einkauf von externen Anwaltsleistungen die Unternehmen, ihre Aktionäre oder sonstige Eigner. Noch deutlicher formuliert es der Vergaberechtsexperte Dr. Christian Braun: „Wenn man Wettbewerb will, muss man sich auch dem Wettbewerb stellen. Vergabeverfahren würden dazu führen, dass Stundensätze sinken und die Qualität steigt.“21 Aber selbst wenn, wie in der privaten Wirtschaft üblich, die Unternehmen ihre Anwälte freiwillig engagieren, erscheint auch in diesem Fall der Auswahlprozess aufgrund fehlender Markttransparenz noch relativ unbeholfen – insbesondere im Gegensatz zu anderen, mit viel Raffinesse und Marktkenntnis eingekauften Premiumprodukten. In bestimmten Fällen können hier Auktionen den Einkaufserfolg optimieren. Erfolgreiche Referenzbeispiele gibt es insbesondere aus England und den Niederlanden.

3.7 Fazit und Ausblick Auch die Unternehmensrechtsabteilung ist ein „Business“. Als solches ist sie nach 26 betriebswirtschaftlichen Grundsätzen zu führen. Hierzu gehören Strategie, Einkauf, Personal, Qualitätssicherung und Finanzen. Für die Generation der jetzigen Berufsträger ist dies teilweise noch Neuland. Der Wandel lässt sich aber nicht aufhalten. Wir Juristen müssen uns fortbilden. Ausbildung im Management steht für zukünftige General Counsel auf dem Pflichtprogramm. Aktuelle Tendenzen insbesondere im IT-Bereich ermöglichen schon bald neue Formen der Rechtsberatung.22 Externe und interne Rechtsberater werden hierbei komplementär tätig. Die Grenzen verschwimmen immer mehr. Richard Susskind nennt dies das Zusammenlaufen zweierlei „Grids“, das der externen Wirtschaftskanzlei und jenes des Unternehmens. Bereits heute wird selbst unternehmensintern juristische Beratung zunehmend nicht mehr vor Ort, sondern „virtuell“ per E-mail oder Dataroom erbracht. Videokonferenz und „Skype“-artige Internetkommunikation relativieren geographische Grenzen. In multinationalen Unternehmen gehört der Austausch zwischen Europa, USA und Asien zum Tagesgeschäft. Begrenzende Faktoren sind lediglich Sprachen und Zeitzonen.

21Braun, Muss der Staat anwaltliche Beratungsleistungen europaweit ausschreiben?, Handelsblatt vom 29. Juli 2010, Seite 61. 22Hierzu auch Wagner, Legal Tech und Legal Robots in Unternehmen und den diese beratenden Kanzleien, BB 2017, 898.

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Der Einkauf juristischer Dienstleistungen ist ein wichtiger Aspekt des Legal Manage- 27 ments. Durch Modularisierung und alternatives Sourcing lässt sich zunehmend kreativ und vielseitig mit juristischen Ressourcen umgehen.23 Schließlich können wir aber auch angesichts zunehmender Komplexität, neuer Management-Ideen und IT-Tools optimistisch sein. Das beste Instrumentarium hilft nichts ohne die Menschen dahinter. Und wir sind nun mal zum Glück nicht 100 % rational gestrickt. Ein kleines bisschen Intuition und Improvisation macht den Faktor Mensch aus. So wie der gute Chorleiter zugleich Führungspersönlichkeit und Manager ist, braucht die Rechtsabteilung auch juristische Künstler.24

Literatur Gansch, Christian, Vom Solo zur Sinfonie: Was Unternehmen von Orchestern lernen können, Neuausgabe 2014 Geiger, Walter/Kotte, Willi, Handbuch Qualität, 5. Auflage 2007 Graebig, Klaus, Wörterbuch Qualitätsmanagement, 3. Auflage 2017 Hill, Hermann, Wege zum Qualitätsmanagement, 3. Auflage 2017 Schlüter, Sylvia/Dunkhorst, Peter, ISO 9001:2000– Qualitätsmanagement praxisgerecht einführen und weiterentwickeln, 2003 Staub, Leo, Legal Management, 2. Auflage 2006 Stephan, Michael, Improvisationsfähigkeit, Kreativität und Offenheit als Herausforderung innovativer Unternehmen: Jazz als Referenzkonzept für das Innovationsmanagement?, Discussion papers on strategy and innovation, Phillips-Universität Marburg, 2009 Wesemann, Edward H., The First Great Myth of Legal Management is that it exists: Tough Issues for Law Firm Managing Partners and Administrators, 2004 Zollondz, Hans-Dieter, Grundlagen Qualitätsmanagement, 3. Auflage 2011

23Reimann,

Legal Sourcing – Rechtsberatung gut einkaufen, NJW 10/2014, Seite 14. auch Godin, The Icarus Deception, 2012, und die Legal Art Gallery auf www.xenionlaw. com mit einer Hommage an das vorliegende Buch (Objekt 65). 24Siehe

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Der Syndikusanwalt im inhabergeführten Mittelstand – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit Anselm Popp

4.1 Auftakt: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit Was hat die aufklärerische Losung von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – die im 17. Jahrhundert aufkam und gedanklich fest mit der Französischen Revolution1 ver­ bunden ist – mit der Tätigkeit einer Syndikusanwältin/eines Syndikusanwalts2 im inhabergeführten Mittelstand zu tun? Nun, das aufklärerische Ideal beinhaltet beispielsweise, dass die den  Fortschritt behindernden Strukturen mittels rationalen Denkens zu überwinden sind, um neues Wissen zu implementieren.3 Genau so kann man auch die Aufgabe des Syndikusanwalts im inhabergeführten Mittelstand charakterisieren, der nicht „nur“ Anwalt und juristischer Berater ist, sondern und insbesondere auch Mitarbeiter des Unternehmen. Er ist viel intensiver mit den Produkten und Unternehmensabläufen, den Vorgesetzten und Kollegen sowie den Unternehmenszielen und –Werten vertraut, als dies bei externen Anwälten der Fall ist. Die Arbeit des Syndikusanwalt im inhabergeführten Mittelstand ist geprägt von Freiheit, der Freiheit sich selbstbestimmt und unabhängig den rechtlichen Risikothemen anzunehmen und einzubringen, um so die beste Lösung für das Unternehmen zu gewährleisten.

11789−1799. 2Nachfolgend

„Syndikusanwalt“ oder „Justiziar“; aufgrund besserer Lesbarkeit wird im Weiteren nur die männliche Schreibweise verwendet. 3de.wikipedia.org/wiki/Aufklärung, 14. Mai 2018. A. Popp ()  Justiziar GEZE Gmbh, Leonberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Lenz (Hrsg.), Die Rechtsabteilung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21915-4_4

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Dabei spielt die Gleichheit eine außerordentlich große Rolle, in dem Sinne, dass er sowohl mit Vorgesetzten als auch mit Kollegen auf Augenhöhe diskutiert und entscheidet. Und letztlich – und dies gilt ganz besonders im inhabergeführten Mittelstand – die gemeinsamen Ziele auf Basis der selben Werte verfolgen, um so den Zusammenhalt zu stärken, sprich: Brüderlichkeit. Was dies im Einzelnen heißt und wie das Zusammenspiel funktioniert, wird nun näher erläutert:

4.2 Von Freiheit 3

Die Freiheit als Syndikusrechtsanwalt wird im Sinne des Berufsrechts in § 46 BRAO beschrieben als „… fachlich unabhängig und eigenverantwortlich auszuübende Tätigkeiten …“, geprägt von Merkmalen wie der „… Prüfung von Rechtsfragen, einschließlich der Aufklärung des Sachverhalts, sowie das Erarbeiten und Bewerten von Lösungsmöglichkeiten, … Erteilung von Rechtsrat …“ etc. In der Praxis spielt dabei neben der unabhängigen, eigenverantwortlichen Tätigkeit auch die eigene Schwerpunktsetzung und –Ausgestaltung der Unternehmensthemen sowie die intensive Beschäftigung mit den eigenen Abläufen und Produkten eine entscheidende Rolle.

4.2.1 Der Generalist 4

5

Auch wenn die Abgrenzung und das Tätigkeitsfeld für Justiziare im inhabergeführten Mittelstand ganz unterschiedlich sind, so gilt, dass grundsätzlich eine generalistische Arbeitsweise erforderlich ist, sprich: man bearbeitet eine Vielzahl an Themengebieten. Das heißt dennoch nicht, dass der Justiziar nicht über eine sehr hohe Fachkompetenz in einigen Bereichen verfügt (beziehungsweise diese aufbaut); im Gegenteil ist die Bandbreite und Verschiedenartigkeit der Anfragen und Fälle in aller Regel jedoch größer, als dies bei Anwälten in größeren Fachkanzleien der Fall ist. Entsprechend ist ein Syndikusanwalt dabei gut beraten, bei den Themengebieten selbst diese eigenen Schwerpunkte zu setzen. So kann er aufgrund gründlicher Einarbeitung, intensiver Betreuung sowie entsprechender Fortbildung einen guten Spezialisierungsgrad erreichen. Bei den Themengebieten findet man – je nach Unternehmensgröße und vorheriger Besetzung – entweder 1. ein quasi weißes Blatt, was die freie Bearbeitung und Einbringung eigener Kenntnisse und Ideen ermöglicht, 2. ein rechtliches Flickwerk aus den vergangenen Jahren/Jahrzehnten, das überprüft, überarbeitet und geordnet werden will oder 3. ein durchdekliniertes formularhaftes Regelwerk, welches nur bei besonderen Änderungen angepasst werden muss. Insbesondere bei den Punkten 1. und 2. besteht die Freiheit, sich gestalterisch einzubringen und dabei – selbstverständlich unter Berücksichtigung der

4  Der Syndikusanwalt im inhabergeführten Mittelstand …

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Bedürfnisse und des Risikos für das Unternehmen sowie gegebenenfalls in Abstimmung mit der Geschäftsleitung – selbst Schwerpunkte zu setzen. Dennoch ist auch die Fähigkeit, sich schnell und flexibel auf Anforderungsänderungen einzustellen und zu reagieren, unabdingbar. Denn eine hundertprozentige Planbarkeit der Arbeit und Anfragen gibt es nicht. Schnell passiert es, dass ein neues Themengebiet hinzukommt, das bisher nicht gefragt oder bekannt war. Man denke da beispielsweise an eine überraschende Durchsuchung seitens Staatsanwaltschaft aufgrund eines Produkthaftungsfalls oder der Kartellbehörde wegen eines vermuteten Verstoß (sogenannte Dawn Raids4), die einen hoffentlich nicht völlig unvorbereitet begegnen5, aber bei denen dann mit einmal straf- und/oder kartellrechtliche Aspekte in den Vordergrund treten.

4.2.2 Der Lehrende Zur Freiheit gehört auch, selbst zu bestimmen, wie Themen ausgestaltet werden und wie man sich diesen nähert. Als Justiziar kommt es dabei darauf an, den gesamten Prozess zu sehen und die vor- und nachgelagerten Schnittstellen im Blick zu haben und ganzheitlich zu denken. Besonders im weiten Bereich Gefahrprävention bietet sich eine Vielzahl an Möglichkeiten an, die betroffenen Mitarbeiter hierauf aufmerksam zu machen und zu sensibilisieren. Dies passiert klassisch im direkten persönlichen Kontakt oder in Schulungen. Für beides empfiehlt es sich, diese konkret auf die Zielgruppe abzustimmen und mit vielen (lebhaften) Beispielen anzureichern, so dass sie bestenfalls sogar als unterhaltsam und lehrreich wahrgenommen werden. Darüber hinaus können aber auch beispielsweise kurze Mailings, Aushänge oder Artikel in vorhandenen unternehmensinternen Plattformen wie zum Beispiel der Mitarbeiterzeitschrift oder IT-basierten Unternehmensseiten (WiKis o. ä.) für die Sensibilisierung oder Wissensvermittlung genutzt werden. Vielleicht sind darüber hinaus auch Kurzübersichten mit „Dos & Donʼts“ zu einem bestimmten Thema eine weitere interessante Alternative? Hier können Justiziare durchaus von den Vertriebs- und Marketing-Kollegen lernen, die die Klaviatur der Themengestaltung für ihre Zwecke breit bespielen. Wo diese Alternativen besonders sinnvoll und effizient sein können, verdeutlicht der Blick zu Niederlassungen und Tochterunternehmen. Diese sind weit weg und die Anbindung ist teilweise schwierig. Dennoch gilt es auch sie im Blick zu behalten.

4Wörtliche Übersetzung: Morgendämmerung – gemeint sind jedoch Durchsuchungen, die aufgrund des häufig frühen Startzeitpunkts so benannt wurden. 5Abstrakte Vorbereitung und Hinzuziehung externer Spezialisten durchaus dringend empfohlen – einige Kanzleien bieten hierfür Trainings an, sogenannte „Mock Dawn Raids“.

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4.2.3 Der Kenner des Unternehmens 8

Um die Vorteile, die ein Syndikusanwalt gegenüber einem externen hat, voll ausschöpfen zu können, ist die Einarbeitung in Strukturen, Prozesse und Produkte von höchster Bedeutung. Das heißt, dass die selbstbestimmte Ausgestaltung der Themen im Rahmen der Beratungstätigkeiten nur sinnvoll ausgeübt werden können, wenn neben der ordentlichen Rechtskenntnis auch die Kenntnis von Unternehmen und Produkten vorhanden ist, sprich: wie laufen die Prozesse im Unternehmen? Um was für Produkte handelt es sich? Und welche Technik steckt dahinter? 9 Fatal wäre es, wenn man von den technischen Gegebenheiten keine Kenntnis hat. Dabei geht es nicht um die jede Kleinst-Serie einer Produktausführung, die Beschaffenheit jeder einzelnen Schraube oder die Viskosität des eingesetzten Öls – aber das grundsätzliche Verständnis sollte vorhanden sein. Interne Abläufe und technische Aspekte sind das täglich Brot im Gespräch mit den Fachabteilungen und deren Kenntnis wird – häufig ganz klar seitens der Geschäftsleitung kommuniziert – so auch erwartet. Denn gerade der inhabergeführte Mittelstand weiß: sämtliche Berater berufen sich stets auf den Grundsatz, dass das Beratungsergebnis selbstverständlich nur so gut und genau sein kann, wie die vorab gegebenen Informationen. Und schon wird die tiefe Kenntnis der Abläufe und Produkte im Unternehmen nicht zum Selbstzweck, sondern zur Holschuld des Syndikusanwalts, der damit manchmal entscheidende Informationslücken schließen kann. 10 Dabei darf dies auch als weitere Freiheit verstanden werden. Denn der Syndikusanwalt hat hier den Vorteil, dass er – abseits von Billing-hours der Rechtsanwaltskollegen in den Kanzleien – die Zeit hat, sich entsprechend detailreicher ins Unternehmen einzuarbeiten und sich mehr mit den Produkten auseinanderzusetzen. Die so gewonnene Detailkenntnis hilft durchaus regelmäßig bei der Argumentation in juristischen Auseinandersetzungen und macht sich dann auch wieder bezahlt.

4.3 Von Gleichheit 11 Als Syndikusanwalt hat man im inhabergeführten Mittelstand häufig eine Sonderstellung. Nicht selten ist man der einzige „Rechtsgelehrte“ im Unternehmen. Dabei ist es dann nicht unüblich, dass der Vorgesetzte – als CEO, CFO oder ähnliches – keinen formal-juristischen Hintergrund hat. Ebenso ist dies bei den Kollegen aus den verschiedenen Fachabteilungen nicht anders. Dennoch ist es Aufgabe des Justiziars klar zu kommunizieren, dass man im Unternehmen als Jurist einer unter Gleichen ist. Jemand der sich ebenso für die anderen einsetzt, jemand der das Unternehmen ebenso vorabringen will, wie die weiteren Leistungsträger. Dabei begegnen dem Justiziar zum Teil die immer noch bestehenden Berührungsängste 12 gegenüber der Spezies „Anwalt“. Ähnlich wie die „Halbgötter in Weiß“ in der Medizin, wird ein Syndikusanwalt häufig als unnahbar charakterisiert. Besonders ausgeprägt ist dieses Phänomen, wenn im betreffenden mittelständischen Unternehmen zuvor noch kein

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Jurist tätig war – man sozusagen als erster startet. Dann wird auch schnell offensichtlich, dass unterschiedliche Bereiche und Abteilungen sehr unterschiedlich auf die Ankunft und Zusammenarbeit mit dem Justiziar reagieren. Einige fürchten sofort, dass man ihnen zu sehr auf die Finger schaut beziehungsweise in die Arbeit funkt – am besten noch, ohne etwas vom Markt zu verstehen. Nicht selten haftet dem Justiziar der Ruf an, Bedenkenträger zu sein und Geschäft zu verhindern. Und das steht eben im Widerspruch zur Gleichheit. Andere freuen sich wiederrum, dass nun ein direkter Ansprechpartner im Haus ist, mit dem man Themen besprechen kann, die bisher Risikobehaftet waren und zu denen man jetzt keine vage Vermutung, sondern eine stichhaltige Aussage erhält. Ist die Tätigkeit von Syndikusanwälten im Haus bereits etabliert, ist es für viele leich- 13 ter, so sie denn von den Vorteilen der Zusammenarbeit überzeugt sind. Auch kommen so einige für sich zur Einschätzung, dass man Arbeit auf zusätzliche Schultern verteilen kann, was wieder Chancen eröffnet, sich als einer unter Gleichen zu profilieren. Das Gefühl von Gleichheit entsteht also, wenn man konkrete Hilfe bietet, die verständlich verpackt ist, verbunden mit vertrauensvoller Zusammenarbeit auf persönlicher Ebene.

4.3.1 Der Kommunikative Entsprechend wichtig ist also die Kommunikation auf Augenhöhe – sowohl mit der 14 Geschäftsleitung, den Bereichs- und Abteilungsleitern sowie den sonstigen Ansprechpartnern. Doch wie geht das bei Rechtsthemen, wenn das Gegenüber eben kein Jurist ist? Wie bereits angedeutet, ist es in jedem Fall erforderlich, dass man bei Anfragen Stellung bezieht. Denn den Fragestellern ist nicht mit einem „neutralen“ Gutachten geholfen, das mit vielen Konjunktiven und vagen Formulierungen angereichert ist. Vielmehr sind diese ein häufiger Grund, weshalb die Zusammenarbeit mit Juristen allgemein nicht als hilfreich angesehen wird. Will heißen: es die Erwartungshaltung des Anfragenden, dass sein Problem ernst genommen wird und er bezüglich einer Problemlösung unterstützt wird. Dies lediglich aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und nur vage etwas anzudeuten, ist eben keine Hilfe. Stattdessen enthält eine hilfreiche Antwort auch eine konkrete praxistaugliche Handlungsempfehlung aus juristischer Sicht oder zumindest eine eindeutige Richtung. Ob diese dann befolgt wird oder beispielsweise aus wirtschaftlichen Gründen einem anderen Handeln Vorrang gegeben wird, steht auf einem anderen Blatt. Aber dann gibt es immer noch die Möglichkeit, das Thema zu eskalieren und auf höherer Ebenen – eben der Geschäftsleitung – eine Klärung herbeizuführen, wenn ein hohes Risiko für das Unternehmen besteht, von dem diese wissen sollte. Die Chancen, dass der eigene Rat befolgt wird, steigen jedoch, wenn hierzu eine schlüs- 15 sige Begründung gegeben wird. Auch wenn es banal klingen mag, kommen dem Wörtchen „weil“ mit entsprechender Begründung besondere Bedeutung zu. Derartig angeschlossene Begründungen eröffnen dem Anfragenden die Möglichkeit, die Empfehlung nachzuvollziehen und die Position und Gedanken des Syndikusanwalts zu verinnerlichen.

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Dabei belegen Studien, dass die Menschen generell Weil-Süchtig6 sind. Selbst eine Begründung mit redundanten Informationen wie beispielsweise „ich konnte ihre Anfrage noch nicht bearbeiten, weil ich mit anderen Themen beschäftigt war“, befriedigt den Adressaten mehr, als wenn das „weil“ weggelassen worden wäre. Letztlich bedeutet Kommunikation auf Augenhöhe aber auch, dass die Sprache verständlich sein muss. So ist das sogenannte „Juristendeutsch“ – das Argumentieren mit möglichst vielen Fachvokabeln und Fremdwörtern – zu vermeiden. Zwar können das beispielsweise Ingenieure oder ITler mit ihren Technik-Ausdrücken ebenso gut, aber das hilft an dieser Stelle nicht weiter. Denn wie heißt es so schön: Keine Gleichbehandlung im Unrecht. Zum Argumentieren auf Augenhöhe ist die gemeinsame Sprache unabdingbar und auch hierüber wird Zusammengehörigkeit ausgedrückt. Ich denk, ich sollte Sie warnen, sollte Ihnen meine Aussagen zu klar gewesen sein, dann müssen Sie mich missverstanden haben. (Alan Greenspan7)

4.3.2 Der Vertraute 16 Unnahbarkeit des Ansprechpartners und eine anonyme Rechtsabteilung sind weitere Vorurteile, die der Wahrnehmung als einer unter Gleichen entgegenstehen. Entsprechend sollte man sich schnell im Unternehmen ein Netzwerk aufbauen, gleichzeitig aber auch zusehen, dass die Bekanntheit mit einer positiven Wahrnehmung verbunden ist. Bekanntheit ist der erste Schritt. Ohne dass man bei seinen relevanten Ansprechpartnern in den Fachabteilungen sowie den Entscheidern im Unternehmen bekannt ist, wird es keine Zusammenarbeit geben. Es kommt also auf das Netzwerken an, wobei es von enormer Bedeutung ist, im Unternehmen präsent zu sein und nicht nur im eigenen Büro zu sitzen. Die Betriebskantine ist beispielsweise ein idealer Ort der Begegnung. So kann es durchaus passieren, dass auch in der Mittagspause juristische Themen mit Entscheidern aus Fachabteilungen diskutiert werden oder bezüglich des Sachstands zu einer spezifischen Fragestellung nachgehakt wird. Eben weil man sich gerade zufällig trifft. Zeigt man dabei ein offenes Ohr und nimmt sich Zeit für den oder die Anfragenden, 17 ist dies für alle Seiten förderlich. In vertrauensvoller Atmosphäre erhält man teilweise selbst wichtige weiterführende Informationen oder man erfährt, worum es dem anderen bei der Fragestellung wirklich geht. Und ein positiver Nebeneffekt ist: es wirkt sich positiv auf die Vertrauensbasis aus. Häufig sogar mehr als die schnelle Bearbeitung von E-Mails oder die guten Erreichbarkeit per Telefon. Denn dies heißt letztendlich nur, dass man fleißig und zuverlässig ist. Hierbei geht es nicht nur um Fakten, sondern einen Basis,

6Rolf

Dobelli, Die Kunst des klugen Handelns, Warum schlechte Gründe oft ausreichen – Begründungsrechtfertigung, Seite 5−7. 7Alan Greenspan (* 6. März 1926, New York), US-Wirtschaftswissenschaftler, vom 11. August 1987 bis 31. Januar 2006 Vorsitzender der US-Notenbank (Federal Reserve Systems).

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auf der man vertrauensvoll zusammenarbeiten kann und die Tatsache, dass man im Justiziar einen Ansprechpartner hat, der einem auf unsicherem Terrain Sicherheit bieten kann.

4.3.3 Der Partner der Geschäftsführung Auch wenn die Geschäftsführung im inhabergeführten Mittelstand, wie oben geschrieben, 18 häufig nicht aus Juristen besteht, so zeigten sich bei der Zusammenarbeit bezüglich der Gleichheit doch einige Besonderheiten im Verhältnis zu den anderen Kollegen. Da der Syndikusanwalt meist sehr direkt an die Geschäftsführung angegliedert – und damit am Zentrum der Macht. Indem kein Instanzenzug zu den Entscheidern besteht, wird das eigene Wirken, die Art und Weise sowie der Umfang, wie man sich einbringt, direkt gesehen. Dadurch hat man häufig die Möglichkeiten, sich und seine Ideen unmittelbar einzubringen und in gewissen Umfang das Unternehmen mitzugestalten. Wobei man sich nichts vormachen sollte: das Mitgestalten führt nicht immer oder 19 unmittelbar zu der gewollten Entscheidung. Denn der Justiziar entscheidet nicht. Dies behält sich gerade im inhabergeführten Mittelstand die Geschäftsführung vor. Und da gibt es – anders als bei Konzernen mit Fremdgeschäftsführern – auch persönliche und familiäre Motive, die eng mit den Unternehmensinteressen verbunden sind und in die Entscheidungen hineinspielen. Darüber hinaus ist der inhabergeführte Mittelstand klassischer Weise weniger auf schnelle Erfolge aus, sondern vielmehr auf Langfristige8. Insofern muss man auch damit leben können, dass – trotz intensiver Auseinandersetzung, ausführlicher Analyse oder vermeintlich hervorragender Ideen – Wider der Empfehlung gehandelt wird. Die Zusammenarbeit kann insofern ambivalent sein. Der Syndikusanwalt muss aber grundsätzlich in der Lage sein, mit Nachdruck auf bestehende Gefahren oder potenziell negative Konsequenzen hinzuweisen. Tatsachen hören nicht auf zu existieren, nur weil sie ignoriert werden. (Aldous Huxley9)

4.4 Von Brüderlichkeit Im Business-Umfeld des inhabergeführten Mittelstands von heute gilt die Überlebens- 20 strategie aus der frühesten Menschheitsgeschichte: umgeben von Gefahren kann nur erfolgreich sein, wer in einer Gruppe zusammen ist, bei der man sich aufeinander verlassen kann und füreinander einsteht. Auch wenn sich die Gefahren und Bedürfnisse von damals gewandelt haben, so beruht die Brüderlichkeit im inhabergeführten Mittelstand eben noch heute auf dem Verfolgen von Zielen auf Basis von denselben Werten,

8Hermann 9Aldous

Simon, Die heimlichen Gewinner (Hidden Campions), Seite 32. Leonard Huxley (26. Juli 1894–22. November 1963), britischer Schriftsteller.

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gemeinsam mit einer eingeschworenen Gemeinschaft, in der jeder seinen Beitrag zum erfolgreichen Fortbestehen leistet. In diesem Zusammenhang spricht Michael E. Porter im Buch „Streit um Werte“ von einer „Wirtschaftskultur“, die er als „Summe der Überzeugungen, Einstellungen und Werte“ definiert, „die die wirtschaftlichen Aktivitäten von Individuen, Organisationen und anderen Institutionen lenken.“10

4.4.1 Der Wertegetriebene 21 Anders als in so manchem Großkonzern, bei dem Ziele und Werte innerhalb der Hierarchieebenen unterschiedlich ausgelegt werden oder nicht mehr allen klar sind sowie die Verbundenheit zu und der Zusammenhalt unter den Mitarbeitern nur noch in Imagebroschüren zu finden sind, geht der inhabergeführte Mittelstand einen anderen Weg. Der betriebswirtschaftliche Nutzen ist eben nicht das einzige Entscheidungskriterium, so dass strategische Entscheidungen bezüglich Organisation, Struktur oder Personal auch anders begründet werden. Auch und gerade diese Einstellung führt dazu, dass der inhabergeführte Mittelstand weithin als beständiger und verlässlicher Arbeitgeber gesehen wird. Wie bei jedem im Unternehmen ist es auch die Aufgabe des Syndikusanwalts das vorgegebene Ziel zu verfolgen. Dies erfolgt idealer Weise unter Zugrundelegung des jeweiligen vorhandenen Wertesystems und der Unternehmensstrategie.

4.4.2 Der Verwurzelte 22 Ein weiterer Ausdruck der Brüderlichkeit ist im inhabergeführten Mittelstand auch die regionale Verwurzelung. Diese Verbundenheit zur Region findet sich selbst dort, wo das Unternehmen global tätig ist. So ist der Stammsitz nicht ein Standort von vielen, vielmehr wird damit ein Zeichen für ein Gemeinschaft und Zugehörigkeit gesetzt. Gleichzeitig wird durch lokales Engagement Verantwortung für die Region übernommen und ausgedrückt11. Übertragen auf den Syndikusanwalt bedeutet dies auch, dass lokale Präsenz ein wich23 tiger Aspekt ist. Denn – so der Gedanke – eine Region beziehungsweise die regionale Herkunft prägt die Personen auch im Unternehmensumfeld. So wird bei Einstellungen teilweise durchaus (gleiche Qualifikation und Eignung natürlich vorausgesetzt) einem regionalen Bewerber der Vorzug vor anderen gegeben beziehungsweise häufig auf die Umzugsbereitschaft in die Region des Unternehmens abgestellt. Vergleichbares gilt ­beispielsweise auch für Berater und ähnliche. Bei der Zusammenarbeit mit externen

10Michael

E. Porter, Streit um Werte, Seite 37. Simon, Die heimlichen Gewinner (Hidden Campions), Seite 173.

11Hermann

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Anwälten (und anderen Dritten) wird den Regionalen gerne der Vorzug gegeben. Somit gilt auch hier: sich spontan und kurzfristig treffen zu können, um persönlich einige Punkte zu klären, schafft Verbindung.

4.5 Die Arbeitsbereiche des Syndikusanwalts Der Reiz als Justiziar im inhabergeführten Mittelstand tätig zu sein – gerade auch mit einer 24 kleinen Rechtlichen Einheit – liegt mit Sicherheit auch bei den spannenden Aufgaben, die aus allen Bereichen des Wirtschaftsrechts (und darüber hinaus) kommen können. Einige Aufgabenschwerpunkte sollen hier genannt werden. Dabei erhebt die Aufzählung selbsterklärend keinen Anspruch auf Vollständigkeit und uneingeschränkter Übertragbarkeit, schärft jedoch das bisher gezeichnete Bild.

4.5.1 Vertrags- und AGB-Recht Zu den als klassisch zu bezeichnenden Aufgaben eines Justiziars im inhabergeführten 25 Mittelstand gehört das Themenfeld des Vertrags- und AGB-Rechts. Hier begegnet dem Justiziar eine Fülle an Verträgen und Vertragsarten, die von Agenturvertrag, Bürgschaft, über Kanban- und Rahmenliefervertrag, bis hin zu gewerblichen Mietvertrag oder IT-Support-Vertrag reichen. Bei AGB ist die Vielfalt nicht weniger groß. Sie reicht von allgemeinen Einkaufsbedingungen mit diversen Zusatzbedingungen, zu Service- oder Vertriebs-AGB. Bereits zu Beginn der Bearbeitung eines Vertrags, sollte man berücksichtigen, aus 26 welcher Position heraus man hieran beteiligt ist – als der große Partner oder der Kleine, als Einkäufer oder Vertriebler. Eine hundertprozentige Gleichberechtigung zwischen den Vertragspartner gibt es bei der Verhandlung so gut wie nie. Denn selbst bei gleichen Bedingungen für beide Seiten, können diese von der einen Partei gegebenenfalls schwieriger erfüllt werden beziehungsweise stellen für diese ein größeres Risiko dar. So wird beispielsweise häufig ein Kündigungsrecht für den Fall von Liquiditätsproblemen im Vertrag festgelegt, wobei beiden Partnern in der Regel klar ist, dass das Insolvenzrisiko unterschiedlich verteilt ist. Entsprechend kann man also als der große und mächtigere Vertragspartner durch- 27 aus den sich aus dieser Position heraus ergebenden Gestaltungsspielraum zu seinem Vorteil nutzen. Ist man hingegen aus Vertragssicht der eher kleinere Partner, so gilt es unter Umständen mehr Negatives zu akzeptieren – manchmal auch bis zur eigenen absoluten Schmerzgrenze. In nahezu jeder Branche, von Automobil-, über Bau- und Maschinenbau-Brachen bis hin zu den Medien oder der ITK-Branche, gibt es dabei Vertrags-Diktate, mit denen man sich konfrontiert sieht, eben weil ein Partner mächtiger ist. Diese Macht hat jedoch nicht immer etwas mit schierer Größe zu tun. Teilweise sind Single-Source-Anbieter trotz oder aufgrund ihrer Nische besonders mächtig. Man denke

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beispielsweise an den Zuliefererstreit zwischen Volkswagen und zwei Unternehmen der Prevent-Gruppe, durch welchen die Bänder in Wolfsburg zeitweise stillstanden12. Darüber hinaus macht es einen Unterschied für die Vertragsbearbeitung, auf welcher Seite des Schreibtischs man sitzt. Sprich: Ist man aus Sicht des Einkaufs für einen Vertrag verantwortlich, werden grundsätzlich die Interessen durch die Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs nach deutschem Recht ordentlich geschützt. Gerade was die Thema Gewährleistung und Haftung angeht, ist eine hinreichende Absicherung vorhanden. Aus Sicht des Vertriebs hingegen kann man durchaus versuchen, die Absicherung im Rahmen des Möglichen und Zulässigen einzuschränken. Erstellt man das Vertragswerk dann selbst beziehungsweise hat man einen Standard, 28 kann man die für das eigenen Unternehmen relevanten Punkte bereits vorgeben, so dass sich häufig schon dadurch ein gewisser Vorteil ergibt. Insofern empfiehlt es sich, Zeit in die Erstellung von eigenen Vertragsstandards zu investieren, regelmäßig zu überprüft und auf dem aktuellen Stand zu halten. Eine Besonderheit ist bei der Erstellung jedoch zu beachten: typischer Weise nutzt der inhabergeführte Mittelstand seine Stellung nicht bis aufs letzte aus, da die Kunden- und Lieferantenbindung wichtiger ist, als kurzfristige Gewinne13. Bei der Prüfung einer Vertragsvorlage der anderen Partei ist nicht nur auf die darin beschriebenen Risiken hinzuweisen und diese gegebenenfalls entsprechend abzuändern, sondern vielmehr sind auch die eigenen relevanten Punkte, die sich noch nicht wiederfinden, zu ergänzen.

4.5.2 Zertifikate und Produkthaftung 29 Der inhabergeführte Mittelstand in Deutschland ist nach wie vor innovationsstark. Folglich gehören zur Aufgabe des Syndikusanwalts auch die Risikobetrachtung und -absicherung aus dem Bereich Entwicklung/Produktentwicklung. Für den Bereich Entwicklung liegen dabei die Tätigkeitsschwerpunkte des Justiziars in der Zulässigkeit von Zertifikaten und Zulassungen sowie in der Produkthaftung. Beide Themengebiete sind gerade bei international tätigen Mittelständlern nicht nur nach den deutschen Vorschriften zu beurteilen, sondern eben auch nach den weiteren einschlägigen Landesvorschriften. 30 Erfordern die hergestellten Produkte für den Vertrieb einer Zertifizierung oder Zulassung, so sind diese einzuholen und zu überwachen. Insofern können spätere Änderungen des Produkts, zum Beispiel im Rahmen der Produktpflege, Auswirkungen auf die erlangten Zertifikate haben. Nach deutschem Verständnis muss hierbei der Hersteller fachmännisch beurteilen, ob die Änderung wesentlich ist oder nicht. Bei unwesentlichen

12Beispielhaft: 13Hermann

„Fauler Kompromiss im Lieferstreit“, handelsblatt.com, 24. August 2016. Simon, Die heimlichen Gewinner (Hidden Campions), Seite 92.

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Änderungen gelten die Zertifikate und Zulassungen weiterhin, bei wesentlichen muss das betroffene Produkt neu geprüft werden. Kommt die jeweilige Fachabteilung, gegebenenfalls unter Hinzuziehung des Justiziars, bei der Beurteilung zu dem Ergebnis, dass eine neue Prüfung erforderlich ist, kann dies Auswirkungen auf den nationalen und internationalen Vertrieb haben. Entweder muss also mit dem Zertifizierungsprozess für das geänderte Produkt frühzeitig begonnen werden oder aber, das Produkt muss ohne Änderungen weitvertrieben werden, bis die Neuzertifizierung beendet ist, damit der Vertrieb des Produkts ohne gültiges Zertifikat nicht zur rechtlichen Problemen führt. Es gehört zur die Aufgabe des Justiziars, die Mitarbeiter im Bereich Produktentwicklung regelmäßig zu Schulen, da diese sich häufig aufgrund ihrer Ausbildung mit dem Sachverhalte und den Auswirkungen nicht auseinander gesetzt haben. Die Produkthaftung ist der zweite bedeutende Themenblock im Bereich Entwicklung. 31 Diese untergliedern sich in die vertragliche Produkthaftung, die deliktische Produkthaftung und die Haftung nach dem Produkthaftungsgesetz, sowie die strafrechtlich relevante Betrachtung. Die Aufgabe des Justiziars ist es hier, die in der Entwicklung tätigen Mitarbeiter, auf potenzielle Rechtsrisiken zu Sensibilisieren und selbstverständlich gegebenenfalls auftretende Produkthaftungsfälle zu bearbeiten. Bei den Schulungen werden die Teilnehmern aus der Entwicklung regelmäßig von der 32 Tatsache überrascht, dass die Haftung nach dem Produkthaftungsgesetz verschuldensunabhängig erfolgt und ohne vertragliche Beziehung möglich ist. Die Überraschung ist umso größer, da sie sich häufig zuvor das Verständnis vom vertraglichen Verschulden und der Rückabwicklung innerhalb der Vertragskette angeeignet hatten. Darüber hinaus sind vielen Mitarbeitern zwar die Konstruktions- und Produktionspflichten des Herstellers klar, nicht aber die weitreichende Bedeutung der Instruktionspflicht. Diese gewinnt gerade in Bezug auf das internationale Geschäft noch mal an Bedeutung. Gleiches gilt für die Produktbeobachtungspflicht. So ist erstaunlich, dass Inhalt und Konsequenzen des Hondafalls14, der als Klassiker im Jura-Studium bezeichnet werden kann, noch nicht großflächig im inhabergeführten Mittelstand angekommen sind. Abschließend ist zu erwähnen, dass bereits bei der Vertragsgestaltung die potenziell 33 drohenden Haftungsaspekte bezüglich Zulieferteilen, wie darauf beruhende Rückrufkosten etc., berücksichtigt werden sollten und sich in den eigenen Vertragsstandards widerfinden. So kann im Schadensfall auch die vertragliche Regelung gegenüber dem Zulieferer als weitere Grundlage des Vorgehens genutzt werden. Qualität bedeutet, dass der Kunde und nicht die Ware zurückkommt. (Hermann Tietz15)

14Hondafall,

BGH, Urteil 9. Dezember 1986 (Az.: VI ZR 65/86). Tietz (29. April 1837–3. Mai 1907), deutscher Kaufmann, Begründer und Namensgeber der Kaufhauskette „Hertie“. 15Hermann

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4.5.3 Wettbewerbsrecht 34 Das Wettbewerbsrecht gliedert sich in die Bereiche Unlauterer Wettbewerb (in Deutschland: Gesetzt gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG)) sowie das Kartellrecht (in Deutschland: Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWG); im europäischen Kontext: Vertrag über die Arbeitsweise der europäischen Union (AEUV)). Beide Bereiche können – je nach Positionierung, Branche und Struktur des Mittelständischen Unternehmens sowie der Stellenausgestaltung – für den Justiziar relevant werden. 35 Stellt man im Bereich des UWG Wettbewerbsverstöße des Marktbegleiters fest, sollte man sich genau überlegen, ob eine Auseinandersetzung sinnvoll und gewünscht ist. Denn schon die außergerichtliche Streitbeilegung bindet viel Ressourcen und kostet Zeit. Schlägt diese dann auch noch fehl und kommt es zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung, wird es noch aufwendiger und es kommt der Unsicherheitsfaktor der falschen richterlichen Beurteilung hinzu, da diese in aller Regel keinen fachlichen Hintergrund haben. Da es darüber hinaus häufig schwierig ist, seinen Schaden aus dem UWG-Verstoß geltend zu machen beziehungsweise den so erzielten Gewinn bei der Gegenseite abschöpfen zu lassen, liegt der Nutzen zumeist nur beim Verbot einer unzulässigen Maßnahme. 36 Möchte man dennoch gegen eine unzulässige Maßnahme eines Marktbegleiters vorgehen und hierbei die zeitlichen Vorteile des einstweiligen Rechtsschutzes nutzen, ist ein unternehmensinterner Prozess zu installieren, der Sorge dafür trägt, dass die nötigen Informationen für ein erfolgreiches Einschreiten beziehungsweise die Beurteilung eines solchen Schrittes, zeitnah beim Entscheider sind. Denn es ist ja meist nicht der Syndikusanwalt, der zuerst den Wettbewerbsverstoß des Marktbegleiters feststellt, vielmehr sind es in der Regel Außendienst, Vertrieb oder Service. Entsprechend sind die in den relevanten Abteilungen tätigen Mitarbeiter darauf zu sensibilisieren, dass die Informationen schnell an die richtigen Stellen gelangen und nicht auf Umwegen ins Unternehmen geschickt werden. Ebenso verhält es sich bei der Abwehr von geltend gemachten UWG-Ansprüchen. 37 Auch hier erfordert es einen Prozess zur schnellen gezielten Weiterleitung der Unterlagen und Informationen – unabhängig davon, wo im Unternehmen der Vorgang einging. Besonders beachtlich sind die vom Gesetzgeber zugelassenen, teilweise sehr kurzbemessenen, Reaktionszeiten, innerhalb derer man ein zeit- und kostenintensives weiteres Vorgehen verhindern kann. Daneben kann das Marketing bereits präventiv insofern sensibilisiert und geschult werden, dass Beanstandungen bereits vorab nahezu ausgeschlossen sind. Oder man entscheidet sich dafür, dass Kommunikationsmaßnahmen vor Veröffentlichung überprüft werden. 38 Prävention durch ständige Sensibilisierung von Mitarbeitern ist auch im Kartellbereich elementar wichtig. Denn sobald der inhabergeführte Mittelständler eine kartellrechtlich relevante Marktposition inne hat, ist Vorsicht geboten, um Schaden und immense Kosten vom Unternehmen abzuwenden. Was erlaubt ist und was nicht, muss jedem im Unternehmen klar sein. Dafür braucht es eindeutige und verständliche Vorgaben, beispielsweise

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beim Zusammentreffen mit Mitarbeitern von Marktbegleitern oder zum Verhalten im Rahmen der Verbandsarbeit. Ein paar Fakten zum Kartellrecht: Das Bundeskartellamt verhängte in den ver- 39 gangenen zehn Jahren stets Bußgelder im dreistelligen Millionenbereich gegen Unternehmen, denen ein Kartellrechtsverstoß zur Last gelegt wurde (mit der Rekordsumme von mehr als 1,1 Mrd. EUR in 2014)16. Kaum eine Branche ist von Kartellrechtsverstößen verschont geblieben – Aufzüge, Bier, Möbel, Süßwaren, Wurst, Zucker etc. – die Liste ließe sich noch deutlich länger fortführen17. Auch ein Mini-Kartell, bestehend aus zwei Teilnehmern, wurde aufgrund einer Selbstanzeige eines der beteiligten Unternehmen entdeckt. Auch dieses profitierte von der Bonusregelung seitens der Behörde, wonach der Kronzeuge in einem Kartellverfahren kein Bußgeld zu zahlen hat18. Über das Bußgeld hinaus können auch seitens der geschädigten Unternehmen Schadensersatzforderungen gegen die Kartellanten geltend gemacht werden. So beschäftigt die Deutsche Bahn diesbezüglich eine eigene Abteilung von Juristen, um gegen Schädiger vorzugehen. Idealer Weise erfährt man also nicht erst aufgrund der Ermittlungen der Behörde von einem Vorfall.

4.5.4 Compliance Hat man sich früher den „ehrbaren Kaufmann“ als Vertragspartner gewünscht, so lässt 40 man sich heute von diesem bestätigen, dass er compliant ist, sprich: dass er sich an die geltenden Gesetzte, Normen und Richtlinien hält sowie an seine selbstauferlegten Regeln. Der inhabergeführte Mittelstand stellt hohe Anforderungen an seine Partner, er erwartet die gleichen Standards, ähnliche Werte etc.19 Die potenziellen Compliance-Risiken liegen nahezu in jedem Unternehmensbereich, 41 für deren Bearbeitung sich eine eigene Berufsgruppe (Compliance Manager) entwickelt hat. Im inhabergeführten Mittelstand ist diese Position jedoch regelmäßig nicht eigens besetzt. Dennoch. Wie tragisch sich die Nichtbeachtung von Compliance auswirken kann, zeigt jedoch der Fall „Neubürger“. In dem Gerichtsverfahren wurde gerichtsseitig festgestellt, dass der damalige Siemens Finanzvorstand von einem korrupten Verhalten innerhalb des Konzerns „hätte kennen müssen“, was zu seiner Verurteilung führte. Dieser nahm sich in der Folge das Leben20.

16de.statista.com: Höhe der vom Bundeskartellamt verhängten Bußgelder von 1993 bis 2016 (in Millionen Euro). 17Siehe: bundeskartellamt.de, Bußgeldentscheidung in Entscheidungsdatenbank. 18Beispielshaft: „Webasto entgeht hoher Kartellstrafe“, lto.de, 23. Juni 2015. 19Hermann Simon, Die heimlichen Gewinner (Hidden Campions), Seite 153. 20Beispielshaft: „Tod eines Managers“, zeit.de, 18. Juni 2015.

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Nicht erst seit dem ist Compliance für (nahezu) jedes Unternehmen wichtig und es gehört zur Aufgabe eines Syndikusanwalts hierauf hinzuweisen, Überzeugungsarbeit für die Bedeutung von Compliance zu leisten und sich diesem – idealer Weise – federführend anzunehmen. Er muss die Mitarbeiter sensibilisieren, denn präventive Maßnahmen sind der Aufklärung von Fällen in jedem Fall vorzuziehen. Kommt es dennoch zu einem Verstoß, so ist dieser juristisch zu beurteilen, aufzuklären und zu dokumentieren. 42 Spätestens wenn der inhabergeführte Mittelständler Geschäfte mit Großkonzernen macht, muss er sich dem Thema Compliance annehmen. Gerade Großkonzerne verlangen immer häufiger die schriftliche Erklärung, dass man bestimmte Compliance-Regeln einhält beziehungsweise deren Vorgaben akzeptiert. Die Erklärung reicht dann von der Einhaltung des Diskriminierungsverbots, über die Zahlung des Mindestlohns und der Verpflichtung zum Datenschutz, bis hin zur der Beachtung der einschlägigen Umweltstandards sowie der Verurteilung von korrupten Verhalten etc. Entsprechend ist ein Unternehmen gut beraten, selbst einen „Code of Conduct“ mit ebensolchen Regeln zu erstellen, und selbstverständlich auch zu leben, um bei Bedarf nachzuweisen, dass das eigene Verhalten compliant ist.

Literatur Dobelli, Rolf, Die Kunst des klugen Handelns, 11. Auflage 2012 Harrison, Lawrence E. und Huntington, Samuel P., Streit um Werte, Erstausgabe 2002 Simon, Hermann, Die heimlichen Gewinner: Die Erfolgsstrategien unbekannter Weltmarktführer (Hidden Champion), 5. Auflage 1998

5

Loss Adjuster bei einem internationalen Schadendienstleister – ein Spannungsfeld Stefan Bönning

5.1 Einführung Ein Loss Adjuster oder auch Claims Adjuster ist i. d. R. als dienstleistender Schadenregulierer im Namen eines Versicherungsunternehmens tätig. Hierbei übernimmt er definierte Aufgaben der Schadenbearbeitung, insbesondere die Ermittlung der Schadenhöhe. Seine Tätigkeit ist eine Mischung aus innendienstlicher und außendienstlicher Aufgabenerfüllung, wie sie ansonsten durch Außenregulierer der Versicherungsunternehmen wahrgenommen werden. Die Einschaltung von Loss Adjustern ist in Großbritannien, Irland und den USA deutlich weiter verbreitet als in den kontinentaleuropäischen Ländern. Diese internationale Erwartung macht es aber gerade unabdingbar, ein solches Konstrukt auch in Deutschland zu implementieren. Gerade internationale, aber auch immer mehr lokale Versicherer erwarten einen Dienstleister, der ansonsten hausintern abgebildete Dienstleistungen abdeckt. Gründe hierfür sind nicht zuletzt die Flexibilität des Dienstleisters und natürlich auch die Relation zwischen festen und flexiblen Kosten. Dabei wird der Begriff „Ermittlung der Schadenhöhe“ möglichst weit gefasst. Dieser reicht über die reine Tatsachenermittlung zum eigentlichen Schadenhergang über die kostenmäßige Bestimmung des Schadens vor Ort und ggf. dessen Regulierung durch Aushandeln einer Abfindung bis hin zur Prüfung von Deckung und Haftung unter juristischen Gesichtspunkten. Dabei ist der Auftraggeber stets „Herr des Verfahrens“. Das bedeutet, er bestimmt, welche Dienstleistung erbracht wird und wie sie kommuniziert werden soll. Dennoch ist stets zu betonen, dass der Loss Adjuster im Grundsatz eine unabhängige und objektive Instanz ist, die den Kunden wertfrei beraten soll.

S. Bönning (*)  Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Lenz (Hrsg.), Die Rechtsabteilung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21915-4_5

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Dies soll natürlich in angemessener Qualität und Geschwindigkeit geschehen und selbstverständlich in einem Kostenrahmen, der das „outsourcing“ der Tätigkeit im Verhältnis zu der Bearbeitung „in house“ betriebswirtschaftlich sinnvoll erscheinen lässt. Aus diesem Anspruch an die Tätigkeit des Loss Adjusters ergeben sich Spannungsfelder, die im Folgenden beleuchtet werden sollen. Sie sind, wie vieles im Leben, Fluch und Segen zugleich…

5.2 Spannungsfelder 4

Rechtsdienstleistungsgesetz vs. Schadenregulierung Zunächst ist ganz generell die Frage zu beantworten, wie die Tätigkeit eines Juristen als Loss Adjuster vor dem Hintergrund des Rechtsdienstleistungsgesetzes zu bewerten ist. Neben Anwälten dürfen schadenregulierende Tätigkeiten mit juristischem Inhalt nur solche Personen erbringen, die nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) dazu die Erlaubnis haben. Ein einschneidendes Urteil zu diesem Themenkreis war das unlängst ergangene sog. Maklerurteil (BGH I ZR 107/14 vom 14.01.2016). Hier hatte der BGH Maklern im Grundsatz untersagt, im Auftrag des Versicherers Kleinschäden zum Zeitwert zu regulieren. Argumentiert wurde damit, dass diese Regulierungstätigkeit nicht als Nebenleistung i. S. d. § 5 RGD zu sehen sei und ferner die Gefahr einer Interessenkollision zwischen Makler und beauftragendem Versicherer bestünde.

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Genau in diesen Punkten unterscheidet sich jedoch die Dienstleistung eines Loss Adjusters. In aller Regel bildet der juristische Aspekt der Tätigkeit nur eine untergeordnete Nebenleistung zu der eigentlichen technischen Sachverhaltsermittlung der Gutachter. Damit grenzt sie sich maßgeblich von der Tätigkeit des Anwaltes ab. Ferner geht es bei der Tätigkeit des Schadenregulierers mehrheitlich um die Abwicklung organisatorischer Vorgänge als um die rechtliche Bewertung. Die Wertschöpfung der Tätigkeit eines Schadensregulierungsunternehmens liegt in der Kommunikation mit der versicherten Person und dem Versicherer, dem Sammeln von Informationen sowie der Vorbereitung einer Entscheidung, nicht hingegen in der rechtlichen Bewertung des Sachverhalts. Das Berufsbild des Schadensregulierungsunternehmens ist auch vom Versicherungsvertragsgesetz (VVG) anerkannt, das sich in §  126 mit Schadensabwicklungsunternehmen auseinandersetzt. Zudem geht auch der EuGH davon aus, dass die Schadensregulierung ein eigenständiger Berufszweig ist. Denn nach der Definition des EuGH besteht die Schadensregulierung darin, „einer Versicherungsgesellschaft umfassende, genaue und vollständige Informationen zur Verfügung zu stellen, die es ihr erlauben, eine Entscheidung über die Gewährung und gegebenenfalls die Höhe von Schadensersatzleistungen zu treffen, wobei die endgültige Entscheidung über die Zahlung stets Sache des Versicherers ist.“ (EuGH Urteil vom 09.06.1977, Az. 90/76 Rn. 5).

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5  Loss Adjuster bei einem internationalen Schadendienstleister …

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Im Übrigen kann ohnehin bezweifelt werden, inwiefern der Schutzzweck des RDG als Verbraucherschutzgesetz durch einen Loss Adjuster überhaupt tangiert werden kann. Eine Anwendung des RDG auf das Verhältnis zwischen Schadensregulierern und Versicherern ist nicht erforderlich, weil die Regelungsinteressen des RDG nicht betroffen sind. Denn nach § 1 Abs. 1 S. 2 RDG schützt das RDG insbesondere die Rechtssuchenden vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungen. Insofern kann das Gesetz als Verbraucherschutzgesetz angesehen werden. Damit ist es aber nicht erforderlich, dass das Gesetz auf Konstellation angewendet wird, in denen eine Rechtsabteilung eines großen Unternehmens, das durch einen Syndikusanwalt vertreten ist, rechtlichen Beistand sucht. Vor diesem Hintergrund bestehen wohl keine Bedenken hinsichtlich des Umfangs der in einem Loss Adjusting Unternehmen durch Juristen erbrachten Servicedienstleistungen.

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Juristische vs. Technische Berufe So sehr die Zusammenarbeit mit der technischen 8 Abteilung für den Juristen zum einen unter Erlaubnisgesichtspunkten notwendig (siehe oben) und zum Erkenntnisgewinn unabdingbar ist, so konfliktreich kann er auch sein. Merkt man im frühen Stadium des Anwaltsdaseins, dass der Mandant der größte Feind des Anwaltes sein kann und unter der Masse der Mandanten diejenigen mit Lehrberufen ganz besonders herausstechen, so erkennt man, dass der Ingenieur, egal aus welcher Fachrichtung er oder sie kommt, diesen in nichts nachstehen. Technische Sachverständige, die grundsätzlich ihren Tag damit verbringen, alleine 9 durch die Region zu fahren und Schäden aufzunehmen, um diese Beobachtungen dann in Berichte zu verpacken, entwickeln im Laufe ihrer Berufstätigkeit Eigenarten, mit denen ein Jurist erst einmal klar kommen muss. Da ist zunächst die völlig unterschiedliche Anwendung der deutschen Sprache. Auch wenn in der Kommunikation dieselben Worte benutzt werden, haben sie bei Juristen und Technikern oft eine ganz andere Bedeutung. Ein Jurist neigt von Natur aus dazu, vage zu sein mit Satzfüllern wie „in der Regel“, „üblicherweise“ oder dem Klassiker „es kommt darauf an“. Für Juristen gibt es selten ein weiß oder schwarz, meistens nur Nuancen von Grau. Für den Techniker steht dagegen ein Sachverhalt fest, es gibt nur a oder b, nichts 10 dazwischen. Auf Diskussionen lässt er sich nicht gerne ein und verbreitet dabei gerne schon einmal einen Hauch von Arroganz (nicht dass das Juristen nicht auch schaffen würden). Die Berichte, die sie dann aber für Versicherer schreiben und auf die sich natürlich auch ein beratender Juist beim Loss Adjuster verlassen muss, sind dann oft doch vage, um den Kunden, sprich den Versicherer nicht gegenüber dem Anspruchsteller oder Versicherungsnehmer zu präjudizieren. Das erschwert natürlich die Einordnung eines Sachverhaltes, der unter juristischen Aspekten geprüft werden soll. Alles in allem ist aber auch der Ingenieur bisweilen von der Expertise des Juristen 11 abhängig, so dass ein Gleichgewicht der Macht entsteht, was die Höhenflüge der Techniker etwas bremst. Insofern können beide Disziplinen auch bei einem Loss Adjuster in fruchtbarer Eintracht leben, wenn beide bereit sind, dem jeweils anderen sein spezielles Spielfeld zu überlassen.

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12 Routine vs. Change Dienstleisterlos ist es, immer mit neuen Ideen am Markt seine Position zu behaupten und wenn möglich auszubauen. Das Motto „Stillstand ist Tod“ trifft hier in besonderem Maße zu. Wer heute noch in der klassischen Haftpflichtschadenbearbeitung sitzt, kann morgen schon einen Run-Off eines Versicherers organisieren, ein Aktenaudit für eine Due Dilligence Prüfung im Bereich Personengroßschaden machen, sich mit der Reaktion auf Cyber Scenarien befassen, die Versicherer immer mehr als ihr Spielfeld entdecken, oder sich an einen externen Kunden ausgeliehen sehen, um an einem anderen Ort für eine gewisse Zeit für ihn tätig zu sein (natürlich auch in einem Gebiet, in dem ihm die Routine fehlt). Mit dem klassischen (wenn auch vermutlich überholten) Bild eines Versicherungsmitarbeiters hat das nicht mehr viel zu tun. Wenn man dies nun auch noch auf ein international tätiges Unternehmen repliziert, mit all seinen sprachlichen und kulturellen Gegebenheiten, fällt es nicht schwer sich vorzustellen, dass für Routine wenig Platz bleibt. Für den Juristen, der entweder frisch von der Uni oder aus dem 2. Staatsexamen 13 kommt, bedeutet dies vor allem erst einmal ein Sprung ins kalte Wasser. Insofern also nichts anderes, als wäre er oder sie Angestellte(r) einer Kanzlei oder einem anderen Wirtschaftsunternehmen. Allerdings wird in anderen Bereichen in der Regel darauf Wert gelegt, dass sich der junge Mitarbeiter in einer gewissen Ausrichtung spezialisieren kann. Diesen Luxus kann sich ein im stetigen Wandel befindlicher Loss Adusting Dienstleister nur sehr begrenzt leisten. Hier zahlt man das Versprechen an die Kunden, stets flexibel zu sein und für fast jede denkbare Anfrage eine Lösung zu bieten, mit einem gewissen Generalismus. Es ist faktisch nicht realisierbar (bzw. bezahlbar), zu jeder teilweise sehr spezialisierten Anfrage stets einen Spezialisten in Petto zu haben. Die Alternative wäre, nur zu den Themenkreisen Aufträge anzunehmen, zu denen 14 spezialisiertes Personal vorhanden ist. Das würde aber den oben beschriebenen Tod bedeuten. Flexibilität ist insofern eine der unabdingbaren Voraussetzungen für einen Juristen bei einem Loss Adjusting Dienstleister. Diese muss allerdings gepaart sein mit dem Talent, zum einen strukturiert aber vor allem priorisierend zu arbeiten. Das ist ein hehres Ziel, vor allem in Kombination. Es soll schon Tage gegeben haben, die allein damit verbracht wurden, strukturiert und flexibel Prioritätenlisten zu aktualisieren, ohne eigentlich Arbeit erledigt zu haben. Das bringt uns zu dem nächsten Spannungsfeld. 15 Kundenerwartung vs. Machbarkeit Für den Dienstleister ist natürlich der Kunde König. Hätte ein Dienstleister nur einen Kunden wäre damit die Sache erledigt. Nun ist das eine unvorstellbare Vision. Aus der Vielzahl von Kundenverträgen, die in der Regel mit einem so genannten Service Level Agreement unterfüttert sind, das die Regeln der Zusammenarbeit festlegt, insbesondere auch in Bezug auf Reaktionszeiten, ergibt sich naturgemäß eine Verschiebung der Hierarchien im Verhältnis der Könige untereinander. 16 Der Schadenbearbeitende Jurist hat jedem Kunden das Gefühl zu geben (zumindest in dem Moment) der einzige König zu sein. Dabei kommt es nicht darauf an, welche

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Wünsche der König äußert. Nur in Extremfällen kann einem König ein Wunsch abgeschlagen werden. Auch darf den einzelnen Königen nie der Eindruck vermittelt werden, sie seien eventuell nur B-, C-, oder D-König. Faktisch wird dies in einem ausgelasteten Loss Adjusting Unternehmen aber immer so sein und in der Regel wird die Kategorisierung anhand der Umsatzzahlen, die man mit dem jeweiligen König macht, bemessen. Ein Unternehmen, das sich den Luxus erlauben kann, diese Unterscheidung nicht durchzuführen, kann meines Erachtens nicht profitabel arbeiten. Ungeachtet dieser Tatsache, ist es aber Aufgabe des Loss Adjusters, stets im 17 Moment den Eindruck zu vermitteln, alle anderen außer dem aktuellen Gesprächs- oder Korrespondenzpartner seien die nachgeordneten Könige. Dies ist ein Talent, das nicht jeder hat und selbst denjenigen mit Talent gelingt es nicht immer. Für den Juristen, vor allem im Haftpflichtbereich, kommt zu dem Kunden natürlich auch noch immer die Auseinandersetzung mit dem Anspruchsteller hinzu. Dieser meldet sich naturgemäß immer dann, wenn es ihm nicht schnell genug geht oder er einfach mit der Regulierung nicht einverstanden ist. Das bedeutet weiteres Konfliktpotenzial. Wie oben bereits erwähnt, ist der Loss Adjuster, obwohl Auftragnehmer eines Kunden, zur objektiven Prüfung eines Sachverhalts angehalten. Bei den technischen Disziplinen im Unternehmen mag dies noch durchaus machbar sein. Ein Brandschaden ist entweder durch Fremdeinwirkung oder durch einen internen Defekt entstanden, ein Wasserschaden entweder durch fehlerhaften Anschluss eines Schlauches oder mangelhafte Verpressung bei Herstellung im Werk. Bei Juristen ist das bisweilen anders gelagert. Nicht um sonst heißt es, dass man fünf 18 verschiedene Ansichten zu einem Thema von nur 3 Juristen bekommt. Gerade in Haftungsfragen zeigt sich das in Nuancen immer wieder. Und hier kommt die Regulierungsphilosophie des Auftraggebers in Spiel. Manche Auftraggeber sind der Auffassung, man könne durch großzügige Regulierung Kosten für Rechtstreitigkeiten vermeiden, andere sagen, dass durch restriktives Regulierungsverhalten Anspruchsteller abgeschreckt werden und von der Forderung Abstand nehmen werden. Beide haben Recht. Je nachdem wie der Kunde das Auftragsverhältnis zu dem Loss Adjusting Dienstleister definiert, wird er Vorgaben machen, wie er sich die Herangehensweise an die Anspruchsteller wünscht. Da beide vorgenannten Auslegungen von Regulierung durchaus ihre Berechtigung haben (solange sie natürlich im Bereich des rechtlich vertretbaren bleiben) wird sich der Jurist trotz anderer Auffassung im Einzelfall, keine eigene Meinung erlauben dürfen. Lokale vs. Internationale Erwartung Ein besonders Spannungsfeld bieten in einem 19 international tätigen Loss Adjusting Unternehmen die verschiedenen Kultur- und Rechtskreise. Der hiesige Jurist wird in der Ausbildung in der Regel nur am Rande mit internationalen Rechtskonstellationen in Berührung gekommen seien, ebenso wie er selten ausländischen Personen die Eigenarten des deutschen Rechtssystems hat erläutern müssen. Dasselbe gilt in gleichem Maße auch für die Auftraggeber. Oft genug fallen die lokalen Kunden aus allen Wolken, wenn sie gezwungen sind, z. B. in Spanien oder

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Frankreich Gerichtsverfahren zu führen und sehen, wie unterschiedlich gerade auch das Gerichtsprozedere dort ist. 20 Hier obliegt es dem Juristen, sich mit dem ausländischen Kollegen ins Einvernehmen zu setzen und dem lokalen Auftraggeber die notwendigen Schritte verständlich zu machen. Nicht anders gestaltet sich die Situation in der entgegengesetzten Richtung. Ausländische Kollegen sind oft völlig überfordert mit der Dauer der deutschen Gerichtsverfahren. 21 Auch Haftungs- und Beweislastthematiken sind den Kollegen aus anderen Rechtskreisen oft schwer zu vermitteln. Aber nicht nur im rein juristischen Bereich kann es zu unterschiedlichen Ansichten zu der zu erbringenden Dienstleistung kommen. Auch der Begriff des Loss Adjusting als solcher wird in verschiedenen Ländern unterschiedlich gelebt. In den „Ursprungsländern“ des Loss Adjusting“ wird ein erheblich geringerer Schwerpunkt auf die juristische Sicht des Sachverhalts gelegt. Dort ist man viel mehr „nur“ technische Assistenz des Versicherers, der die Entscheidung zu Haftung und Deckung trifft. Insofern wird des Öfteren überhaupt mit Verwunderung reagiert, wenn man hier auf Juristen trifft. Andrerseits ist die Aufgabe des Juristen auch bei einem Loss Adjuster in Deutschland primär der Ratschlag an den Auftraggeber als die tatsächliche Regulierung. Nur in eng gestecktem Rahmen werden Kunden bereit sein, dem Dienstleister einen Schadentopf zur Verfügung zu stellen, aus dem er ohne Rücksprache im Einzelnen Regulierungszahlungen vornehmen kann. 22 Geschwindigkeit vs. Qualität  Wie geht noch der Witz, bei dem Fritzchen gefragt wird, wie viel 2 +  2 sind und er wie aus der Pistole geschossen sagt“ 5“. Auf seinen Fehler angesprochen sagt er, ja vielleicht falsch aber verdammt schnell. Ganz so, wie in dem Witz, gestaltet sich die Wahrheit im Loss Adjusting natürlich nicht, aber es gibt schon eine gewisse Spannung zwischen Qualität und Geschwindigkeit. Dieses Thema beherrscht die Diskussion schon seit langem. Wenn beides in Ausnahmefällen in Kombination nicht erreicht werden kann, was ist dann wichtiger? Will der Kunde lieber einen kurzen schnellen Abriss über das Geschehen, bzw. eine oberflächliche Vorabeinschätzung zu den juristischen Themen, auch wenn diese mangels Vorliegen aller Fakten nur bruchstückhaft sein kann oder wartet man mit seinem Bericht, bis alle Fakten auf dem Tisch liegen, um dann eine ausgefeilte und abschließende Einschätzung abzugeben, auch wenn dies seine Zeit dauert? Das Problem ist, dass oft genug der Kunde hierzu selbst keine Meinung hat, es dann gerne dem Dienstleister im Einzelfall überlässt, wie er sich entscheidet. 23 Der Vorteil einer kurzen ersten Information liegt auf der Hand. Der Kunde bekommt einen ersten Überblick über den Sachverhalt und kann ggf. selbst oder nach Rücksprache mit dem Versicherungsnehmer bereits eine erste Einschätzung vornehmen und ggf. schon schadenmindernde Maßnahmen einleiten. Allerdings birgt im Umkehrschluss eine frühe

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Berichterstattung auch die Gefahr, dass deren Inhalt für bare Münze bzw. die letzte Wahrheit gehalten wird, die sich natürlich im Verlauf der Ermittlungen noch maßgeblich ändern kann. Dann bereits getroffene Folgeentscheidungen können ggf. nicht mehr korrigiert werden und führen schlimmstenfalls zu einer Schadenweiterung. Die Argumentation lässt sich naturgemäß auch in die andere Richtung führen. War- 24 tet man mit dem Erstbericht zu lange, können sich im Hintergrund unbeobachtet schadenerhöhende Szenarien abspielen. So können bereits Anwälte beauftragt worden sein oder sonstige Folgeschäden entstehen, ich denke z. B. an den Bereich der Betriebsunterbrechung. Auch hier obliegt es dem Gespür und dem Geschick des Loss Adjusters, sich indem einzelnen Schaden für die richtige Strategie zu entscheiden. Im Zweifel hilft oft schon Anruf bei dem Auftraggeber, um die Sache zu besprechen und die Folgeschritte abzuklären. Manpower vs. Technik  Effizienz ist für den Schadendienstleister das A und O. Das Ziel 25 ist es, die perfekte Mischung aus gut und umfangreich ausgebildetem Personal und einer reibungslosen IT/Technik Infrastruktur zu schaffen. Schon dieser Spruch vom Werbepalkat lässt erahnen, dass die praktische Umsetzung dieses Ziels eine Mammutaufgabe ist. Die Kunden erwarten natürlich zum einen eine sehr persönliche Betreuung, je nach Zuschnitt des Schadenportfolios auch gerne 24/7. Darüber hinaus soll die Dienstleistung natürlich auf den einzelnen Kunden individuell zugeschnitten und standardisiert sein. Erreichbarkeit und Transparenz aber auch Bezahlbarkeit stehen ebenfalls ganz oben auf der Wunschliste. Es versteht sich von selbst, dass den sich widersprechenden Polen hier natürlich 26 Grenzen gesetzt sind. Diese werden gerne auch von den Kunden selbst gesetzt, denn in der Regel wird der Schadendienstleister gerade wegen seiner technischen Innovation im Verhältnis zum Kunden selbst gebucht. Der Dienstleister kann in diesen Fällen aber auch immer nur so innovativ sein, wie der Kunde es zulässt. Auch wird ein Kunde in der Regel nicht bereit sein, für die Dienste eines Loss Adjusters mehr Geld auszugeben als er intern für eigene Mitarbeiter zahlen muss. Der Dienstleister wiederum kommt um zumindest marktübliche Gehälter auch nicht herum, wenn er qualifiziertes Personal bereitstellen möchte. Insofern steht und fällt alles mit der bestmöglichen Ausnutzung aller vorhandenen Ressourcen. Mit diesem Spagat ist auch ein Jurist konfrontiert. Er wird sich seinem Tätigkeits- 27 feld entsprechend auf die Aufarbeitung der juristischen Problemstellungen konzentrieren können, während „Störgeräusche“, wie übermäßige Administration, Aktenführung, Schreibarbeiten und sonstiges im Idealfall von ihm fern gehalten werden. Ihm wird herzu die möglichst neueste IT zur Verfügung stehen, inklusive je nach Kunden unterschiedliche Schadensysteme. Dies können sowohl die des Dienstleisters als auch die des Kunden sein.

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28 Gebühren vs. Kosten  Grund für die eben zum Thema IT erwähnte Effizienz ist natürlich nicht nur die Frage des Kundenservice, sondern auch diejenige der Gebührenund Kostenstruktur. Die juristische Tätigkeit bei einem Loss Adjusting Dienstleister wird in der Regel entweder auf Basis einer Einmalgebühr pro Akte (flat fee) oder auf Stundensatz bezahlt. Wie auch dem technischen Sachverständigen wird dem Juristen auferlegt einen Umsatz aus diesen Gebühren zu generieren, der einem gewissen Quotienten seiner eigenen Kosten entspricht. Schließlich gilt es, neben den eigenen Lohn- und sonstigen Kosten auch diejenigen Kosten zu decken, die z. B. durch Nichtumsatzträger im Unternehmen verursacht werden. Darüber hinaus gilt es natürlich ganz allgemein einen Gewinn zu erwirtschaften. Dies bedingt zum einen, die Gebührenstruktur so zu gestalten, dass sie für den Kunden noch attraktiv ist, andererseits die Kostenstruktur im Auge zu haben und unnötige Ausgaben zu vermeiden. 29 Auch wenn diese ein allgemeines Thema aller wirtschaftlich denkender Unternehmen ist, prägt es doch auch die Tätigkeit des als Juristen tätigen Mitarbeiters beim Loss Adjuster. Unter der Prämisse, dass es nicht an Aufträgen mangelt, um den Arbeitstag sinnvoll auszufüllen, findet in der Priorisierung der Arbeit bewusst oder unbewusst doch statt. Teilweise unterscheiden sich die mit dem einzelnen Kunden ausgehandelten Stundensatz derart, dass zur Erreichung des Umsatzzieles bevorzugt diejenigen Kunden bedient werden, die bereit sind, einen höheren Stundensatz zu zahlen. Da die Umsatzziele in der Regel so gesetzt sind, dass sie immer ein Stück oberhalb des Realistischen sind, bleibt eine Drucksituation nicht aus und führt ab und an auch zu einer Ungleichbehandlung der Kunden (siehe auch Punkt 3.d). Dies gilt es natürlich zu vermeiden. Regulativ sind hier eine mit Augenmaß und im Bestfall auf Augenhöhe geführte Verhandlungen mit den Kunden als auch im internen die angemessene Umsatzvorgabe an die Belegschaft. Paart man dies mit der oben beschriebenen IT- und Support Infrastruktur steht einer win-win Situation für alle Beteiligten (fast) nichts mehr im Weg.

5.3 Zusammenfassung und Ausblick 30 Die Tätigkeit des Juristen bei einem Loss Adjuster ist vor allem eins nicht – langweilig. Man wird aufgrund der Innovationsnotwendigkeit eines dienstleistenden Unternehmens sehr regelmäßig mit neuen, oft spannenden Herausforderungen konfrontiert. Dies umso mehr, wenn es sich um ein internationales Unternehmen handelt, das nicht nur den eigenen Tellerrand vor Augen hat, sondern quasi auch von außen gefüttert wird. Das bedeutet auch, dass man fachlich sehr bald das Umfeld dessen, was man im Studium oder Referendariat erlernt hat, verlässt und sich zumindest oberflächlich immer neu spezialisiert. Die interdisziplinäre Arbeit mit Außenregulierern und Sachverständigen öffnet einem auch ansonsten technisch nicht sonderlich affinen Juristen die Augen für Neues und hilft, auch technische Sachverhalte zu durchschauen. Englisch als fließende Fremdsprache ist fast unerlässlich, da es zumindest in internationalen Unternehmen

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Firmensprache ist und auch die Kollegen aus Ländern mit Englisch als Muttersprache eine gewisse Erwartungshaltung diesbezüglich haben. Sicherlich gibt es Berufsbilder, die aufgrund geringeren finanziellen Drucks weniger 31 belastend sind. Kollegen, deren Berufsbild in das eines Postfilialbeamten vor 30 Jahren passt, ist die Tätigkeit ganz sicher nicht ans Herzu zu legen. Auch der Ausblick in die Zukunft lässt durchaus hoffen, dass externe Loss Adjuster sich weiter auf dem Markt etablieren werden. Solange es gelingt, für Versicherer maßgeschneiderte Dienstleistungen anzubieten, die den eigenen an Effizienz überlegen und trotzdem hinsichtlich der Kosten attraktiv sind, werden Loss Adjuster und damit auch deren Juristen auch in Zukunft ein Teil der Schadenwertschöpfungskette sein.

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Der Syndikus bei Unternehmungen des Maschinenbaus Edmund Schaich

6.1 Allgemeine Einführung/Begrifflichkeiten/Vorwort Auch wenn die Begrifflichkeiten hinlänglich bekannt und geläufig sind, lohnt es sich 1 im Hinblick auf den Arbeitstitel dieses Abschnitts sich kurz mit den Definitionen zu beschäftigen. Denn der Verfasser erlaubt sich zu behaupten, dass hier wie in keinem anderen Wirtschaftszweig die Aussage „zwei Welten treffen aufeinander“ gilt; denn es handelt sich um die Welt der Juristen einerseits und um die Welt der Techniker/­ Ingenieure andererseits. Ein Syndikus (auch Syndikusanwalt oder Firmenanwalt; weibliche Form Syn- 2 dika) ist ein bei einem Amts-/Landgericht von der zuständigen Rechtsanwaltskammer zugelassener Rechtsanwalt der aufgrund eines ständigen Dienst- oder ähnlichen Beschäftigungsverhältnisses seine Arbeitszeit und -kraft einem nichtanwaltlichen Arbeitgeber (z. B. einem Unternehmen, Verband oder Stiftung zur Verfügung stellt. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist eine leitende oder gehobene Position mit der Stellung als Syndikus in der sogenannten Zweitberufsentscheidung1 grundsätzlich nicht erforderlich. IdR wird ein/e Syndikus/Snydika entsprechend seiner beruflichen Bezeichnung und Qualifikation in der/den Rechtsabteilungen seines Arbeitgebers arbeiten, wobei Juristen häufig auch in anderen Positionen in einem Unternehmen beschäftigt sind, dann aber nach Auffassung des Verfassers auch nicht die Bezeichnung Syndikus/Syndika verdienen. D. h. der Syndikus/die Syndika betreut in einer Abteilung oder in einem Referat 1de.Wikipedia.org.

E. Schaich (*)  Festo AG & Co. KG, Esslingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Lenz (Hrsg.), Die Rechtsabteilung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21915-4_6

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die rechtlichen Fragestellungen des Unternehmen, wobei – worauf noch näher einzugehen sein wird – die Rechtsabteilung idealer Weise als Stabstelle direkt der Geschäftsleitung zugeordnet ist, was erst recht für den Maschinenbau gilt. Warum? Hier gilt es nun zum besseren Verständnis obiger „Zwei-Welten-Theorie“ sich auch mit dem Wesen des Maschinenbaus im Sinne einer Kurzdarstellung und/oder -definition zu beschäftigen. Der Maschinenbau ist ein klassischer Zweig der Industrie, ja noch plakativer gesprochen, eine klassische Ingenieursdisziplin. Dieses Arbeitsgebiet enthält die Konstruktion und die Produktion von Maschinen. Als Industriezweig entstand der Maschinenbau aus dem Handwerk der Metallbearbeitung durch Schmiede und Schlosser, als Ingenieurdisziplin nach modernem Verständnis durch systematischen wissenschaftlichen Bezug auf die klassische Physik, insbesondere die klassische Mechanik.2 Der Maschinenbau umfasst dabei u. a. folgende Themengebiete: Mechanik, Konstruktionslehre, Maschinen, Maschinenelemente, Fertigungs- und Montagetechnik, Werkstofftechnik, Automatisierungstechnik, Mess-, Steuerungs- und Regelungstechnik, Adaptronik und Mechatronik (Mechanik, Elektronik, Informatik), Erfahrenstechnik, Instandhaltungstechnik, Fluidtechnik, Logistik, Kenngrößen und Kennwerte, sowie verwandte Themen. Dabei sind Grundlagenfächer, die am Anfang des Maschinenbaustudiums vermittelt werden, sind die naturwissenschaftlichen Fächer Mathematik, Physik, Chemie, technische Thermodynamik, technische Mechanik, Elektrotechnik und Strömungsmechanik/Fluidmechanik und die technischen Grundlagenfächer Informatik, Werkstoffkunde/Werkstoffwissenschaften, Produktions- und Fertigungstechnik, Konstruktionstechnik, Maschinenelemente und Mess- und Regelungstechnik.3 Diesem umfassenden Spektrum an Technik, die wir in allen Lebensbereichen, sei es im privaten, im beruflichen, im sozialen oder Freizeitbereich wiederfinden, kann der Syndikus „nur“ sein juristisches Wissen entgegensetzen. Dies führt dann häufig dazu, dass jede euphorische technische Idee, die „Bremser“ und „Bedenkenträger“ aus der juristischen Fakultät im Keim ersticken. Syndikus und Maschinenbau, also diese 2 Welten, ist deshalb ein Konfliktpotential immanent, das seines Gleichen sucht, zumal die Praxis und die über Jahre hinweg gesammelte Erfahrung des Verfassers zeigt, insbesondere Anfang der 80-iger Jahre als die Beschäftigung von Syndizi in Unternehmen, erst recht nicht im Maschinenbau, noch überhaupt nicht verbreitet war, die andere Fakultät, nämlich der Ingenieur, Techniker und Facharbeiter, sich in den wenigsten Fällen rechtlichen Rat im Zusammenhang mit Ihrer Tätigkeit und Aufgabenstellunghäufig bei Anwälten suchten, sonst sich selbst behalfen und sich dabei auf juristischem Glatteis bewegten. Der Verfasser kann aus eigener Erfahrung bestätigen, dass sich diese anfängliche Erfahrung, Einschätzung und dieses Bild deutlich gewandelt hat und inzwischen

2de.Wikipedia.org. 3de.Wikipedia.org.

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von einer „friedlichen“ ja synergetischen Koexistenz beider Fakultäten in einem Unternehmen des Maschinenbaus gesprochen werden kann. Beigetragen dazu hat zum einen sicher die größere Aufmerksamkeit und das Verständnis der technischen Fakultät für die Arbeit der Juristen aufgrund von in den Medien berichteten Großereignissen im Zusammenhang mit dem technischen Versagen von Industrieprodukten (z. B. Zugunglück Enschede). Sicher aber auch die Sensibilisierung für juristische Themen im Zusammenhang mit der Ingenieur-, Techniker- und Facharbeiterausbildung, sowie – und das kann als wesentlicher Anteil betrachtet werden – die Bereitschaft der Unternehmen des Maschinenbaus, die Existenz, die Notwendigkeit und Wichtigkeit der juristischen Fakultät für ihr geschäftliches Handeln zu akzeptieren und sich präventiv auf mit rechtlichen Fragestellungen auseinander zu setzen. Dabei haben die Unternehmen im Laufe der letzten 25–30 Jahre erkannt, aber auch erfahren müssen, dass sie sich mit Innovationen nicht nur auf dem Gebiet der gewerblichen Schutzrechte auseinander zu setzen haben um ihre Kreativität zu schützen, sondern auch mit Themen wie Produkthaftung, dem Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen sowie überhaupt mit gesetzlichen Vorgaben im Hinblick auf das Modewort „Compliance“ auseinander zu setzen haben. Damit haben wir bereits einen kleinen Ausschnitt der Rechtsgebiete angesprochen, welche die Aufgabenstellung und Tätigkeit des Syndikus in einem Unternehmen des Maschinenbaus Lassen Sie uns aber die Anforderungen und das Tätigkeitsumfeld des Syndikus nachfolgend aufarbeiten.

6.2 Erwartung und Anspruch an den Syndikus 6.2.1 Erwartungen Es gab (und gibt sie auch heute noch) Groß-Konzerne die schon in den frühen 60-iger Jahren bereit waren, große Rechtsabteilungen als Stabsstellen zu unterhalten und diese mit Syndizi zu besetzen. Das galt jedoch nicht für den mittelständigen Maschinenbau. Hier galt eher „kein“ oder allenfalls „klein“ und möglichst „fein“. Dies hat anfänglich sicher auch dazu geführt, dass die arbeitsvertragliche Verpflichtung eines Syndikus auch ein wenig Alibifunktion hatte. Im scheinbaren Widerspruch dazu, hat das Unternehmen jedoch „überjuristische“ Fähigkeiten dieses Syndikus erwartet. Er sollte zwar nicht Besserwisser, aber Alleswisser und Alleskönner sein, gerade in kleinen Rechtsabteilungen, insbesondere wenn dieser Syndikus als sog. „one-man-show“ agierte, respektive sein Wissen einbringen sollte. Hinzu kam aber auch, dass die Juristen/Syndizi als Verhinderer galten. Das bedeutete für den Syndikus, er musste sich im Rahmen seiner arbeitsvertraglichen Verpflichtung nicht nur mit klassischen juristischen Themen beschäftigen, sondern auch Überzeugungsarbeit in allen Abteilungen des Unternehmens, sei es in der Entwicklung, der Beschaffung, der Konstruktion, dem Einkauf, dem Vertrieb, insbesondere auch aber auch in der Geschäftsleitungsebene leisten. Überzeugungsarbeit im Sinne eines verlässlichen

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„Geschäftspartners“, der bereit ist an einer gemeinsamen Zielerreichung für und im Sinne des Unternehmens mitzuwirken, dabei jedoch die rechtlichen Grenzen aufzuzeigen und für deren Einhaltung zu sorgen, d. h. „Compliance from beginning“, ohne das „juristische Unwort“ der letzten Jahre allzu sehr zu strapazieren. Früher wie heute lautete die selbstverständliche Erwartung, auf jede Frage eine juristische Antwort zu finden. Von der arbeitsrechtlichen über die wettbewerbsrechtliche, zivil- und produkthaftungsrechtliche Frage sollten Antworten parat sein. Insbesondere an Einzelkämpfer und kleine Rechtsabteilungen (2–3 Juristen) waren deshalb hohe Anforderungen und Ansprüche gestellt. Im Laufe der Jahre hat sich zwar die Erwartungshaltung nicht wesentlich gewandelt, aber die Erwartung an die Struktur der Aufgabenbewältigung. Dies hat allerdings auch mit den kontinuierlich steigenden Anforderungen zu tun. Denken Sie an die Vielzahl von Gesetzen, Normen, EU-Verordnungen und -Richtlinien. Dabei geht das Unternehmen zu Recht davon aus, dass der Hausjurist für das Unternehmen relevante Neuerungen ständig beobachtet und ggf. beratend präventiv darauf reagiert. D. h. die Erwartung ist nicht mehr nur „schauen Sie sich mal diesen Vertrag an“, sondern aufgrund dieser Gesetzes- und Normenflut und dem dadurch gestiegenen Informations- und Beratungsdruck wird mehr und mehr ein Rechtsmanagement und damit eine effiziente juristische Unterstützung erwartet. Allerdings wird dabei – wie Kollegen berichten – oftmals kein Unterschied gemacht, ob es sich um einen Einzelkämpfer, um kleinere oder größere Rechtsabteilungen handelt. Dies führt dazu, dass in kleineren Rechtsabteilungen eher der Generalist, in größeren Rechtsabteilungen der Spezialist agiert.

6.2.2 Anspruch 5

Mit diesen Erwartungen, hat sich sowohl der Einzel-Syndikus-Anwalt als auch die größere Rechtsabteilung auseinander zu setzen. Dies führt für den Syndikus dazu, sich die Frage zu stellen, welche Ansprüche habe ich selbst an mich, meine Tätigkeit, die Stelle und/oder Abteilung. Akzeptiere ich, dass ich/wir Generalist/en bin/sind und bleibe/n, oder mich/wir – abhängig vom Geschäftsfeld in welchem sich das Unternehmen bewegt – um das daraus für das juristische Arbeitsfeld resultierenden Rahmen als Spezialist ­kümmere. Insbesondere in Unternehmen des Maschinenbaus findet sich entweder der Einzelkämpfer oder eine (idR) mit 2–3 Juristen/Syndizi besetzte Rechtsabteilung. Die Frage nach der Anspruchshaltung führt zunächst dazu, sich damit auseinander zu setzen, wie versteht der Syndikus in diesem Umfeld seinen Auftrag. Nach Auffassung des Unterzeichners soll der Syndikus – egal ob Einzelkämpfer oder in eine mit mehreren Syndizi besetzten Abteilung – in erster Linie Dienstleister sein. Allerdings kann diese Dienstleistung, erst recht nicht bei einem Einzelkämpfer, nicht für alles gelten. In jedem Fall haben sich die Beteiligten bewusst zu machen, was kann und will der Rechtsdienst leisten. Soll ausschließlich das Kerngebiet das sich aus dem jeweiligen geschäftlichen

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Umfeld des Unternehmens generiert betreut werden, oder auch darüber hinaus mich auf juristische Themen einstellen die nur gelegentlich aufschlagen. Gleichgültig wie diese Ausrichtung aussieht. In jedem Fall – allerdings kann aus eigener Erfahrung berichtet werden dass dies harte und lange Überzeugungsarbeit abverlangt – sollte der Syndikus/die Rechtsabteilung erste Anlaufstelle in allen rechtlichen Fragen des Unternehmens sein, und zwar sowohl für die verschiedenen Departments im Unternehmen als auch für die Geschäftsleitung. Dies schließt natürlich nicht aus, ja führt geradezu zu der Notwendigkeit, sich in manchen, insbesondere diffizilen Fragen oder bei juristischen Fragestellungen mit Auslandsbezug externe Unterstützung einzuholen. Wie und in welchem Umfang ist abhängig von der konkreten Geschäftstätigkeit und der jeweils konkreten Fragestellung. Eine Frage des Budgets sollte es nicht sein! Klar ist, dass der Anspruch des Syndikus allerdings nicht lauten kann, das Geschäft nur nach extern zu verteilen, wenngleich er sich insbesondere bei international ausgerichteten Unternehmen mit einem starken Export-Focus eines internationalen Netzwerkes von Anwälten bedienen sollte, um die im jeweiligen Exportland oder Niederlassungsland einer Tochtergesellschaft evtl. auftauchende, rechtliche Fragen zu managen. Aber immer kann die Beiziehung externer juristischer Unterstützung nur Add-on erfolgen.

6.3 Syndikus (Inhouse-Jurist) Ja oder Nein Eines ist klar, das Unternehmen wird in der Regel danach streben, möglichst die eierlegende Wollmilchsau einzustellen und zu beschäftigen, wenn es sich schon für einen Syndikus entscheidet. Diese gibt es jedoch bekanntlich nicht. Also müssen sachliche Erwägungen herhalten. Generell ist die grundsätzliche Entscheidung für einen Syndikus jedoch die Abwägung zwischen Erwartung und Anspruch. Es gibt im Umfeld des Maschinenbaus allerdings auch Unternehmen, die nach wie vor ohne Rechtsabteilung im eigentlichen Sinne, d. h. ohne Inhouse-Jurist/Syndikus agieren. In einzelnen Unternehmen gibt es auch die Lösung des „temporären“ Syndikus, der ähnlich einem Betriebsarzt zeitlich festgelegt, idR an festen Tagen vor Ort im Unternehmen „arbeitet“, ansonsten jedoch „unabhängiger“ Anwalt entweder allein oder in einer größeren Kanzlei tätig ist. Kostengesichtspunkte sind in diesem Beispiel sicher die treibende Kraft für solche Lösungen. Andererseits fühlen sich Unternehmen mit externen Beratern gut bedient und sehen keine Notwendigkeit für den Inhouse-Counsel. Die zuvor angesprochenen sachlichen Erwägungen sind – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – u. a. Verantwortlichkeiten zu delegieren. Der juristische Part wird auf eigene Juristen verantwortlich übertragen, die dann persönlich für ihre Arbeit einstehen. Der wichtigste Grund ist m. E. allerdings die Unternehmensnähe. Der Inhouse-Jurist kennt die Vorgänge im Unternehmen, er kennt die Branche, die Strategie, die Abläufe, viel wichtiger aber die Produkte und sonstigen Leistungen des und im Unternehmen und somit die spezifischen Bedürfnisse an Beratungsinhalt und -umfang am besten, hat die

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permanente Nähe zu den operativen Mitarbeitern aus Einkauf und Vertrieb, und kann somit jeweils eine maßgeschneiderte Einzelfall-Lösung erarbeiten. Selbst in juristischen Bereichen in welchen er sich externe Unterstützung einholt, spielt er eine wichtige Rolle. Denn wer besser hat im Rahmen eines rechtlich zu beurteilenden unternehmerischen Vorgangs die Sensibilität zu beurteilen, welche Informationen, welche Unterlagen und welches ggf. spezielle technische Hintergrundwissen von Notwendigkeit ist, um den konkreten Fall zu beurteilen. Denn insbesondere in Unternehmen des Maschinenbaus, in welchen die technischen Fragestellungen überwiegen, reichen fundierte Rechtskenntnisse allein nicht aus, da idR eine rechtlich vertretbare aber auch pragmatische Lösung erwartet wird. Dies erfordert ein Gefühl für zielorientierte Lösungen, für die spezifischen Anforderungen und Erwartungen und verlangt somit eine kooperative und teamorientierte Einstellung. Ich wage zu behaupten, dass diese Attribute trotz allem Verständnis für und aller Bemühungen durch und von externe/n Kollegen/innen nicht erfüllt werden können. Somit ist es für den Verfasser keine Frage, sich als Unternehmen des Maschinenbaus für einen Syndikus, respektive eine Inhouse-Rechtsabteilung zu entscheiden. Hilfreich für eine erfolgreiche Tätigkeit, insbesondere aber allgemeine Akzeptanz im Unternehmen sind für einen Syndikus vor diesem Hintergrund die Eigenschaft, den Spagat zwischen pragmatischen und rechtlich zulässigen Lösungen zu finden. Den Syndikus unterstützt dabei die Einstellung und Erkenntnis, nicht nur Jurist, sondern auch im Einzelfall Kaufmann zu sein, nicht nur Mahner sondern jemand zu sein, der aktiv, pragmatische Lösungen unter einer angemessenen Chance-Risiken-Abwägung erarbeitet. Darüber hinaus sollte er die Fähigkeit besitzen, rechtliche Vorgänge nicht zu „akademisieren“, eine Rechtsfrage verständlich zu beantworten. Außerdem sollte er nicht nur im Interesse der ratsuchenden Mitarbeiter des Unternehmens sondern im Interesse des Unternehmens selbst, bereits sein und seine Aufgabe auch darin zu sehen, die Mitarbeiter an seinem Wissen in verständlicher Form für deren Tätigkeit teilhaben zu lassen, sprich Mitarbeiter/Kollegen aus den Fachabteilungen für ihre tägliche Tätigkeit in rechtlichen Fragen, wie z. B. Vertragsrecht, Produkthaftungsrecht, Recht der Mängelhaftung etc. zu schulen, d. h. auch eine gewissen didaktische Fähigkeit darf vorausgesetzt werden. Vorstehende einleitende Worte und Ausführungen fordern nun geradezu heraus, nachfolgende im Einzelnen die facettenreiche Tätigkeit des Syndikus im Maschinenbau näher zu beleuchten.

6.4 Klassische Tätigkeitsgebiete des Syndikus im Maschinenbau 6.4.1 Produkthaftung 8

Eines der klassischen und mit an erster Stelle zu nennenden juristischen Themenstellungen die den Syndikus im Maschinenbau beschäftigt, ist die Produkthaftung.

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In einem international ausgerichteten Unternehmen mit einer Vielzahl von ausländischen Vertriebsgesellschaften, muss sich der Syndikus zum einen mit der lokalen Gesetzgebung bzgl. der Produkthaftung vertraut machen, andererseits muss er sich sowohl mit dem Einfluss der Europäischen Richtlinien, wie z. B. der/den Produkthaftungsrichtlinie(n), der/den Maschinen-Richtlinien, dem Geräte- und Produktsicherheitsgesetz, sonstigen nationalen Gesetzen und Vorschriften, aber in Einzelfällen auch mit nationalen Vorschriften der Ländern in welche die Maschinen oder Teilprodukte für diese Maschinen geliefert oder dort produziert werden, auseinandersetzen. Darüber hinaus hat er sich insoweit mit einschlägigen Normen zu beschäftigen. Einfluss auf seine Tätigkeit, deren Art und Umfang der Beschäftigung mit diesem Thema haben in diesem Zusammenhang die eigenen Ansprüche die sich ein Unternehmen selbst im Hinblick auf Zertifizierungen stellt (z. B. ISO-Zertifizierung oder die VDA-Zertifizierung) stellt. Natürlich erfordert dies vertiefte Kenntnisse des materiellen Produkthaftungsrechts, zumindest national, idealer Weise, zumindest in seinen Grundzügen, auch international, sowie im jeweils anhängendenMangelhaftungsrecht als Teil der (vertraglichen) Produkthaftung. In einem technisch geprägten Unternehmen wie dem Maschinenbau hat der Syndikus mit diesem Thema mehr oder weniger den „Zugang“ zu Ingenieuren, Technikern und Fachkräften. Ein Thema, welches sowohl den Konstrukteur, den Entwickler, den Einkäufer, den Mitarbeiter aus der Qualitätssicherung als auch den Vertriebsmann in gleicher Weise interessiert. Sofern das Unternehmen (freiwillig, oder unfreiwillig im Hinblick auf die Zielbranche „Automobil-Industrie) VDA4 zertifiziert ist, hängt die Latte noch etwas höher und die Zielgruppe derjenigen welche Kenntnisse von der Produkthaftung haben sollten potenziert sich um ein Vielfaches. Denn insbesondere bis zu den im Jahre 2005 geänderten VDA-Richtlinien in 6.1, relevant für ein VDA zertifiziertes und/oder zu zertifizierendes (Zuliefer-)Unternehmen „Kenntnisse über die Grundsätze der Produkthaftung müssen bei Mitarbeitern, im Unternehmen, besonders beim Führungspersonal, entsprechend ihrer Tätigkeit in angepasster Form vorhanden sein“.5 Als Anhaltspunkte für diese Kenntnis wurden u. a. definiert 1) Nachweise über Information und Qualifikation von Verantwortlichen 2) Rechtsberatung intern/extern 3) Produkthaftpflichtversicherung 4) Beobachtung der Wissenschaft und Technik.6 Bereits daran ist erkennbar, dass das Thema Produkthaftung in einem Unternehmen des Maschinenbaus, insbesondere eines solchen welches Produktionsmaschinen und/ oder Komponenten für solche Maschinen herstellt und liefert, eine bedeutende Rolle spielt. Dementsprechend hat dieses Thema in der Arbeit des Syndikus einen entsprechenden Stellenwert. Daraus resultiert die Frage, wie kann der Syndikus/der Inhouse-Jurist diesem „Stellenwert“ gerecht werden? 4Verband

der Automobilindustrie e. V. in der Automobil-Industrie. 6Qualitätsmanagement in der Automobil-Industrie 5Qualitätsmanagement

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Zunächst muss – wie bereits oben erwähnt – davon ausgegangen werden können, dass sich der Syndikus in einem Unternehmen des Maschinenbaus einschlägige und fundierte Kenntnisse auf dem Gebiet der Produkthaftung verschafft, aneignet oder per se mitbringt. Die Anforderung an ihn lautet, diese Kenntnisse im Unternehmen sachgerecht zu platzieren und soweit aufgrund obiger Ausführung notwendig oder nach eigener Überzeugung erforderlich entsprechend zu „infiltrieren“. Grundsätzlich wird dies aber über einen allgemeinen Überblick über das Produkthaftungsrecht nicht hinausgehen können, wobei die größte Herausforderung ist, die nicht einfache Rechtsmaterie des Produkthaftungsrecht in seinen unterschiedlichen Ansätzen (vertragliche, deliktische Produkthaftung) in verständliche Information zu übersetzen. Einzusteigen hat er mit konzeptionellen Überlegungen wie, in welcher Weise, in welcher (hierarchischen) Tiefe, in welchem Zeitfenster sowie mit welcher Methode und – unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Medien – er an die Bewältigung dieser Herausforderung herangeht. Nach Klärung der Struktur und Abschluss der konzeptionellen Überlegungen, hat er, abgestimmt wiederum auf die jeweilige Zielgruppe (Bereiche/Abteilungen) im Unternehmen, an dem Inhalt und der Informationsnotwendigkeit zu arbeiten. Dabei ist es allerdings nicht ausgeschlossen, dass auch hier gilt „one fits all“. Dies insbesondere dann, wenn es um die Vermittlung von Grundkenntnissen, wie es z. B. die oben erwähnte VDA-Zertifizierung erfordert. Darauf aufbauend wird es allerdings ergänzend notwendig sein, in Einzelfällen, d. h. für einzelne Gruppen in Unternehmen (z. B. Konstrukteure, Entwickler, Vertrieb) vertiefende Informationen vorzuhalten und zu vermitteln. Hierbei haben sich zwei Methoden bewährt, einmal ein web-based-training, sowie Vortragsschulungen/Workshops. Im Rahmen des web-based-training wurde auf der Intranet Plattform des Unternehmens ein Trainingstool installiert, von welchem die betreffenden Mitarbeiter aus den technischen Bereichen verpflichtend Gebrauch zu machen haben. Die Teilnahme wird „registriert“, nicht teilnehmende Mitarbeiter erinnert und von Zeit zu zur Teilnahme aufgefordert/angehalten. Vermittelt werden im Rahmen dieses web-based-trainings ausschließlich Grundkenntnisse, ohne die Behandlung/Bearbeitung von Fallbeispielen. Hierbei geht es in erster Linie um die Erläuterung und Definition von Begrifflichkeiten die im Rahmen der Produkthaftung eine Rolle spielen. Also die Erläuterung/Beschreibung was beinhaltet z. B. die vertragliche Produkthaftung, die deliktische Produkthaftung sowie die „Fehlerhaftung“ nach dem Produkthaftungsgesetz. Welche Haftungsadressaten es gibt, nämlich dass nicht nur ein Haftungsadressat aus einem Vertragsverhältnis resultiert, sondern der Haftungsadressat auch jemand sein kann, der am unmittelbaren Vertragsverhältnis nicht teilnimmt (Hinweis: diese Erkenntnis/diese Information ist für die Techniker/Ingenieure (Nichtjuristen) die am meisten überraschende Information, da bei dieser Berufsgruppe – so die Erfahrung – nicht vorstellbar war/ist, dass nicht nur der Vertragspartner des Unternehmens oder über eine „Vertragskette“ durchgereichte Ansprüche an den Vertragspartner eines Unternehmens, sondern auch ein Dritter (eben im Rahmen der

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deliktischen Produkthaftung oder der Fehlerhaftung nach dem Produkthaftungsgesetz) direkt Ansprüche an unser Unternehmen herantragen könnte. Weiter wird erläutert und beschrieben welche Rechtsgüter geschützt sind, welche Art von Schäden im Rahmen der Produkthaftung und auf welcher Grundlage der drei verschiedenen Haftungssysteme ersetzt werden. Speziell für die Konstrukteure, Ingenieure, Entwickler, Produktionsverantwortliche, Einkäufer und Vertriebsleute (insbesondere auch Servicepersonal) ist mit einem solchen web-based-training jedoch nur der Anfang gemacht. Diese Zielgruppe ist/wird in sog. Präsenzschulungen geschult und eingehender mit der Materie „Produkthaftung“ vertraut gemacht. Dabei wird intensiv, im Hinblick auf die Verantwortlichkeit als Teil des Fehlerbegriffs auf die Bereiche des Konstruktions-, Entwicklungs-, Produktions- und Informationsfehlers, sowie dem Thema Produktbeobachtung eingegangen. Die theoretische Darstellung der Produkthaftung wird an Hand von praxisnahen Beispielen, klassischen Beispielen aus der Rechtsprechung zur Produzentenhaftung (wie z. B. den Schubstrebenfall) sowie an Hand aktuellerer Schadenereignisse (wie z. B. den Zugunglücksfall Enschede, Pflegebettenfall etc.) vertieft behandelt. Über durchgeführte Schulungsmaßnahmen sind entsprechende Teilnehmerlisten geführt, da u. a. für die Auditierung im Rahmen des VDA Zertifikats dienlich sind. Die Schulungsmaßnahmen werden in Abständen von längstens 2 Jahren wiederholt und ggf. durch aktuellere Entwicklung in der Rechtsprechung ergänzt/erweitert. Empfehlenswert ist dass der Syndikus eine Produkthaftungsbroschüre – so in unserem Fall – erarbeitet, die den betreffenden Mitarbeitern – neben einem Handout im Rahmen von Präsenzschulungen – in Form eines kleinformatigen Nachschlagheftes an die Hand gegeben wird. Zusammenfassend und abschließend zu dem Thema Produkthaftung ist zu beto- 10 nen, dass in einem Industrie-Unternehmen wie dem des Maschinenbaus und/oder dessen Zulieferindustrie, das Thema Produkthaftung eine bedeutende Rolle spielt. Die Behandlung dieses Themas in einem solchen Unternehmen ist auch für den Haftpflichtversicherer von Interesse, insbesondere die Darstellung wie mit dem Thema Produkthaftung operativ umgegangen wird, aber auch die Darstellung des Beschaffungs-, Qualitäts- und Produktionsprozesses, bis zum Warenausgang. Ziel des Unternehmens ist ja die Vermeidung von Produkthaftungsfällen, was sich bekannter Maßen auf die Prämienfindung auswirkt. Hier kann und sollte der Syndikus sowohl für die Mitarbeiter aus der Versicherungsabteilung des Unternehmens als auch für den Versicherer selbst, verlässlicher Ansprechpartner sein.

6.4.2 Nationales/Internationales Vertragsmanagement Ein weiteres, nicht weniger wichtiges Thema, mit welchem sich der Syndikus in 11 einem Maschinenbauunternehmen konfrontiert sieht, ist das Thema der Behandlung (Bearbeitung, Erstellung, Prüfung etc.) von Verträgen. Es kann unterstellt werden, dass

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eine der Hauptbeschäftigungen der Syndizi in einem Unternehmen des Maschinenbaus, auch in der Erarbeitung, Ausarbeitung und Prüfung von Verträgen, und zwar mit nationaler als auch internationaler Ausrichtung besteht. Im Falle eines Einzelkämpfers und/ oder kleineren Einheiten ist insoweit eine Spezialisierung auf einzelne Rechtsgebiete nicht möglich, so dass sich die Beschäftigung mit Verträgen auf solche aus allen möglichen Rechtsgebieten bezieht. Schwerpunkte liegen allerdings sicher im Bereich von Beschaffungsverträgen, Qualitätssicherungsvereinbarungen, Geheimhaltungsvereinbarungen, Entwicklungsverträgen – aktiv/passiv – insbesondere aber Vertriebsverträgen, alle genannten Bereich auch international. Damit ist der Syndikus sowohl als Einzelkämpfer als auch in einer kleinere Einheit mit mindestens 50 % seiner Tätigkeit beschäftigt, Tendenz eher höher. Betrachtet man dabei Unternehmen (insbesondere exportierende Unternehmen) mit globaler/internationaler Ausrichtung, d. h. mit mehreren Auslandsgesellschaften die z. B. als Vertriebsgesellschaften in den Absatz/den Vertrieb des Unternehmens eingegliedert ist, wird der Syndikus nicht umhinkommen, sich auch mit globalen, grenzüberschreitenden Verträgen zu beschäftigen und damit auch das internationale (Privat) Recht (EGBGB), hier insbesondere die §§ 27 ff. des EGBGB, das UN-Kaufrecht, die INCOTERMS (in ihrer jeweils aktuellen Fassung – aktuell 2010 –) im Auge zu haben. Damit wird er idR für die alltäglichen, gleichartigen Fragestellungen sensibilisiert sein und diese abdecken können, nicht jedoch schwierigere und umfangreichere Sachverhalte und/oder Vertragsfragen. Hierzu wird er, gleichgültig ob als Einzelkämpfer oder im Team, sich eines Netzwerkes von externen Kollegen/International operierenden Kanzleien bedienen müssen. Der Syndikus kommt vor diesem Hintergrund nicht umhin, sich über Prozesse im Zusammenhang mit Verträgen Gedanken zu machen, und zwar in Form eines Vertragsmanagement-Systems, ausgestaltet als Verfahrensanweisungen verbunden mit einer Unterschriftenregelung. Wesentlicher Inhalt eines solchen Verfahrensmanagements sollte sein, die Regelung des Umgangs mit Standardverträgen und sog. Individual-Verträgen. Hierzu sind in der Verfahrensanweisung „Vertragsmanagement“ Abläufe darzustellen und zwar getrennt danach ob es sich um die Erstellung/die Verwendung von Standardverträgen und/oder die Erstellung/die Verwendung und die Unterstützung im Zusammenhang mit dem Abschluss von Individualverträgen geht. Lassen Sie uns die vorstehend angerissenen Punkte nachstehend im Einzelnen näher beleuchten.

6.4.2.1 Vertragsbearbeitung 12 Wie schon erwähnt, ein wesentlicher Teil der Aufgabe des Syndikus in einem Unternehmen des Maschinenbaus, wird einerseits das Erstellen/das Ausarbeiten von Verträgen für die operativen Abteilungen/Bereiche des Unternehmens, andererseits das

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Prüfen/Kommentieren und Begutachten externer Vertragsdokumente sein. Um den Aufwand insoweit zu reduzieren, wird er für gleichgelagerte Sachveralte StandardVerträge erarbeiten. Solche Standard-Verträge wurden im Unternehmen des Verfassers für den Einkauf in Form von Rahmen-Einkaufs-Verträgen, ergänzt durch sog. Dienstleistungs-Verträge, Betriebsmittelvereinbarungen, EDI-Verträge, Kanban-Verträge, Konsignationslager-Verträge, Prüfverzichtsvereinbarungen, jeweils in Abstimmung mit den Fachabteilungen unter Berücksichtigung der Erfahrungen aus der Einkaufspraxis der betreffenden Mitarbeiter erarbeitet. Für den Vertrieb wurden solche Standard-Verträge in Form von Rahmen-Lieferverträgen, Produkt-Auslauf-Vereinbarungen, Sub-LieferantenVerträge, sog. Konzern-Verträge, Abnahme-Vereinbarungen, Vereinbarungen zu Eigentumsvorbehaltsrechten erstellt. Darüber hinaus wurden für den Bereich Entwicklung, IT sowie die Qualitäts-Sicherung entsprechende Standard-Verträge erarbeitet. Die Inhalte der einzelnen Verträge sollen nachstehend zum besseren Verständnis kurz umrissen werden: 6.4.2.1.1 Rahmen-Einkaufsvertrag Regelungsinhalt  Festlegung eines definierten Produktspektrums, Festschreibung 13 der Bezugspreise für einen bestimmten Zeitraum unter Annahme einer bestimmten Abnahme-menge (ohne entsprechende Verpflichtung), Ersatzteil-Versorgung sowie die üblichen Vertragspunkte wie Mangelhaftung, Verzugsregelungen, Haftungsregelungen, Verjährung etc. 6.4.2.1.2 Dienstleistungs-Vertrag Regelungsinhalt  Ein Dritter (Dienstleister) unterhält für das Unternehmen ein 14 Konsignationslager und übernimmt als Dienstleister, Wareneingangsfunktionen, Lagerfunktionen, sowie Warenausgangsfunktionen/Anliefervorbereitung von Produkten, die von Lieferanten in das Konsignationslager geliefert wurden, 6.4.2.1.3 Betriebsmittel-Vereinbarungen Regelungsinhalt  Das Unternehmen stellt dem Lieferanten (leihweise) die in einer 15 Betriebsmittelliste aufgeführten Werkzeuge, Maschinen oder Anlagen, als „Betriebsmittel“ bezeichnet, zur Herstellung von Produkten ausschließlich für das Unternehmen zur Verfügung. Geregelt wird die Unterhalts- und Ersetzungspflicht für etwaige Werkzeuge, die Eigentums- und Besitzverhältnisse daran, sowie die Rückgabeszenarien.

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6.4.2.1.4 EDI-Vertrag (Vereinbarung über den elektronischen Datenaustausch) 16 Regelungsinhalt  Mit einer solchen Vereinbarung sollen die Rechte und Pflichten von Vertragspartners des Unternehmens bei der Abwicklung von Transaktionen mit Hilfe des elektronischen Datenaustausches (EDI-Verfahren) geregelt werden, und zwar u. a. soll sie die Datensicherheit, insbesondere die Echtheit der Herkunft und die Unversehrtheit der übermittelten Daten in Rahmen des hier vereinbarten EDI-Verfahrens gewährleisten, wozu jeder der Vertragspartner entsprechende organisatorische und technische Vorbereitungen zu treffen hat und entsprechende Maßnahmen/technische Medien zu installieren hat. 6.4.2.1.5 Kanban-Vertrag/Konsignationslager-Vertrag 17 Regelungsinhalt  Aufgrund der weitestgehend Regelungsidentität, werden beide zusammengefasst. Regelungsinhalte in beiden Fällen ist die Lieferung von zuvor in einer Anlage spezifizierten Produkte an ein für das Unternehmen betriebenes Lager, mit oder ohne Wareneingangs-Prüfungsverpflichtung, der späteren Bereitstellung der Produkte beim/im Unternehmen nach Abrufen, sowie insbesondere auch die Bestands-­ Überwachung mit Hinweisverpflichtung der Nachorder erreicht das Lager einen bestimmten, zuvor vereinbarten Mindestbestand. In diesem Zusammenhang spielen Eigentums-Regelungen, Gefahrtragungsregeln, Versicherungsabreden, Sicherungsabreden etc. eine nicht unwesentliche Rolle, ersteres insbesondere unter dem Blickwinkel der Insolvenz des Betreibers des Lagers. 6.4.2.1.6 Prüfverzichtsvereinbarungen 18 Regelungsinhalt  In Ergänzung von etwaigen Qualitätssicherungsvereinbarungen werden für bestimmte Produkte weitergehende Wareneingangs-Prüfverzichte, soweit zulässig, individuell festgelegt. 6.4.2.1.7 Rahmen-Liefervertrag 19 Regelungsinhalt  Festlegung eines definierten Produktspektrums, Festschreibung der Lieferpreise für einen bestimmten Zeitraum unter Annahme einer bestimmten Liefermenge (ohne entsprechende Abnahme-Verpflichtung), Ersatzteil-Versorgung sowie die üblichen Vertragspunkte wie Mangelhaftung, Verzugsregelungen, Haftungsregelungen, Verjährung etc. Anwendungsbereich  National sowie international unter Einbeziehung sowohl der Tochtergesellschaften des Unternehmens als auch des/der Kunden.

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6.4.2.1.8 Produkt-Auslauf-Vereinbarungen Regelungsinhalt  Gegenstand einer solchen Vereinbarung ist die Regelung/Festlegung 20 von Bedingungen bei vom Unternehmen beabsichtigten Produktabkündigungen und dem damit verbundenen Prozess des Produktauslaufs. Eine Produktabkündigung liegt dann vor, wenn das Unternehmen ein Produkt als Auslaufteil/-produkt angekündigt/ kennzeichnet. Verbunden ist die Vereinbarung mit einer Last-Call-Regelung, Ersatzmöglichkeit durch ein Folgeprodukt sofern es den Grundsätzen von „Form, Fit und Function“ entspricht und ggf. anderweitige Preisstellungen, da nicht mehr als Serienprodukt geführt. 6.4.2.1.9 Sub-Lieferanten-Vertrag Regelungsinhalt  Insbesondere Konzern-Großkunden bedienen sich häufig sog. Ver- 21 längerten Werkbänken. Aus logistischen Gründen wird auch die Beschaffungskette z. B. für Beistellungen verlagert. Regelungsinhalt eines sog. Sub-Lieferanten-Vertrages welches das Unternehmen standardmäßig einsetzt, ist deshalb eine Regelung zwischen eigentlichem Endkunden, dem Zulieferer des Endkunden und dem Unternehmen, welches die Produkte des Unternehmens benötigt, aber die Beschaffung für sein Endprodukt durch seinen Zulieferer vornehmen lässt. Somit wird dem Unternehmen ein Kunde an sich „aufgezwungen“, weshalb insoweit Regelungsinhalt u. a. die Belieferung selbst, die absolute Vertraulichkeit bezgl. der Preisstellung ist, die Bestellmöglichkeit des Sub-­ Lieferanten zu den zwischen Endkunden und Unternehmen vereinbarten Sonderkonditionen nur auf die Produkte für den Endkunden des Unternehmens beschränkt wird, sowie eine etwaige Ausfallhaftung des Endkunden (Konzerns/Großkunden) für den Fall dass der bestellende Sub-Unterlieferant seine Rechnungen gegenüber dem Unternehmen nicht bezahlt. 6.4.2.1.10 Abnahme-Vereinbarung Regelungsinhalt  Hier geht es nicht um die Abnahme im Sinne der werkvertraglichen 22 Vorschriften, sondern um die Festlegung einer zuvor vereinbarten Abnahmemenge der betreffenden Produkte (idR in einer Anlage festgeschrieben) über einen bestimmten Zeitraum, Festlegung entsprechender Los-/Abrufmengen, Regelungen von Szenarien wenn innerhalb des festgelegten Zeitraums die vereinbarte Menge nicht abgenommen ist etc. Grund und Ziel einer solchen Vereinbarung ist die bessere Planbarkeit im Beschaffungsund Absatzprozess des Unternehmens einerseits, sowie die Verlässlichkeit der Belieferung und idR günstigere Konditionen für den Kunden des Unternehmens andererseits.

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6.4.2.1.11 Geheimhaltungs-Vereinbarungen 23 Regelungsinhalt  Im Vorfeld von Vertragsbeziehungen, ggf. zu regeln auch innerhalb von sog. „Letter of intent“ oder „MOI’s“, werden zur Evaulierung, u. a. im Zusammenhang mit Innovationen/Entwicklungen Kenntnisse/Forschungsergebnisse ausgetauscht, die im Sinne des gewerblichen Schutzes als „neu“ einzustufen sind. Solche Informationen/Kenntnisse sind natürlich streng vertraulich zu behandeln und bedürfen eines besonderen Schutzes, weshalb das Unternehmen insoweit Geheimhaltungsvereinbarungen einsetzt, mit konkret festgelegten Zeiträumen, ggf. Vertragstrafeversprechen und anderen dienlichen Regelungen. 6.4.2.1.12 Entwicklungs-/Beratungs-/Kooperationsvertrag 24 Regelungsinhalt  Hier geht es idR um Rahmenvereinbarungen zum Einkauf externer Entwicklungs-/Dienstleistsungen. Wesentlicher Inhalt ist die Regelung der Nutzungsrechte an den Arbeits-/Entwicklungsergebnissen, die Abnahme- und Zahlungsmodalitäten, wobei die einzelnen Aufträge durch sog. Leistungsscheine, in welche das Projekt und die konkrete Vergütung spezifiziert bzw. festgelegt werden. Vorstehende Vertragsbeispiele sind nur ein Auszug der im Unternehmen des Verfassers ausgearbeiteten und erstellten Standard-Verträge. Sinn und Zweck verständlicher Weise ist die Bewältigung der in einer Vielzahl vorkommenden gleichartig gelagerten Geschäftsprozesse, als Instrument des Syndikus als one-man-Show oder als Teammitglied einer kleineren Einheit, und zwar unter Berücksichtigung dessen, dass sich damit die Arbeit des Syndikus nicht erschöpfend darstellt. Denn neben diesen sog. Standardprozessen gilt es individuelle, neu zu gestaltende oder von externen Vertrags-/ Kooperationspartnern vorgelegte Vertragsdokumente zu prüfen, zu begutachten und zu kommentieren. 25 6.4.2.2 Prozesse/Abläufe gem. Vertragsmanagement Die oben auszugsweise dargestellten Standard-Verträge stehen den einzelnen Unternehmensbereichen entsprechend ihrer Aufgabe in einer Vertragsdatenbank (hierzu siehe Kap. x.x) schreibgeschützt auf der Intranet-Plattform des Unternehmens zur Verfügung. Eintragungen sind durch die Fachbereiche nur an bestimmten, rechtlich unkritischen Stellen wie z. B. Bezeichnung des Vertragspartners, Menge, Preise, Datum u. Unterschrift möglich. Der Prozess/das Vertragsmanagement sieht kurz skizziert vor, dass die Bereiche 26 im Rahmen ihrer geschäftlichen Aktivitäten in erster Linie auf der Grundlage dieser Standard-Verträge ihre geschäftlichen Aktivitäten wahrzunehmen haben. Lediglich dann, wenn der künftige Vertragspartner Einwendungen/Änderungswünsche in einzelnen Fällen hat, wird der Syndikus/die Rechtsabteilung mit dem StandardVertragswerk respektive den sich darauf beziehenden Änderungswünschen/Einwendung konfrontiert. Ansonsten läuft der Abschluss und die Abwicklung auf der Grundlage

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dieser Standard-Verträge ohne weitere Unterstützung und ohne weiteres Eingreifen durch den Syndikus. Der Syndikus/die Rechtsabteilung bekommt den Abschluss/die Verwendung eines Standard-Vertrags nur anhand der späteren Übermittlung des Vertragsdokuments (sowohl digitalisiert als auch in Original) an den Syndikus/die Rechtsabteilung mit. Dort erfolgt, ebenfalls in der Verfahrensanweisung „Vertragsmanagement“ dargestellt, die Archivierung in der bereits oben erwähnten Vertragsdatenbank. Im Zusammenhang mit dem Abschluss individuell zu erstellender oder von extern (künftigen Vertragspartnern) zur Prüfung, Begutachtung und zur Kommentierung vorgelegter Verträge, ist die betreffende Fachabteilung entsprechend der Regelung des Vertragsmanagements verpflichtet, zwingend den Syndikus zur Unterstützung beizuziehen. Dieser entscheidet ob sich seine Unterstützung auf interne Kommentierung und/oder Hinweise beschränken kann oder ob eine aktive Beteiligung an Vertragsgesprächen unter Beteiligung des Pendants auf Seiten des Vertragspartners erfolgen sollte. Geht es um die Erarbeitung/Prüfung/Begutachtung oder ggf. persönliche Unterstützung des Syndikus im Zusammenhang mit dem Abschluss von Verträgen, so unterstützt der Syndikus durch direkte Teilnahme an Vertragsgesprächen mit dem potentiell künftigen Vertragspartner. Dies erfolgt idR durch „face to face“ Besprechungen entweder beim Kunden oder im eigenen Hause, was im ersteren Fall natürlich auch eine Reisebereitschaft des Syndikus (Kontinental wie Interkontinental) voraussetzt. In Einzelfällen gestattet die neue Medienwelt aber auch web-Konferenzen, Video-Konferenzen etc. Der hauptsächliche Focus anlässlich solcher Vertragsvorbereitungen, Diskussionen, Begutachtungen und letztlich innerhalb der eigentlichen Vertragsverhandlungen liegt bei den Knackpunkten wie Schadenersatz- und Haftungsregelungen (Produkthaftung, Vertragshaftung, positive Vertragsverletzungen einschließlich Verzug), Freistellungsvereinbarungen, Mängelhaftung/„Garantien“ einschließlich Verjährungsthema, Liefer- und Gefahrenübergangregelungen (INCOTERMS ), Eigentumsvorbehaltsrechte, die Einbeziehung/Geltung Allgemeiner Geschäftsbedingungen sowie Einstandspflichten für den Bestand und die Rechtefreiheit gegenüber Dritten in Bezug Gewerbliche Schutzrechte. Die Erfahrung zeigt, dass die Diskussion solcher Punkte umso schwieriger ist, je eher das Gegenüber (wenn Nichtjurist – was nicht nur gelegentlich vorkommt – weil man auf der Gegenseite die „Bremser“ aus der Rechtsabteilung nicht dabei haben will –) von sich überzeugt ist, mit entsprechendem juristisch angelerntem Halbwissen, auf gleichem Level wie der Syndikus diskutieren zu können. In den meisten Fällen ist dies zum Scheitern verurteilt und wenig zielführend, da die Vertragsvorlage dann letztlich doch beim Pendant des Syndikus auf Seiten des potentiell künftigen Vertragspartners landet. Bestätigen kann der Verfasser aus Erfahrung weiter, dass bei einer Diskussion/ Vertragsverhandlung auf Augenhöhe (Syndikus/Syndikus) das Verständnis für die Notwendigkeit entsprechender Regelungen zu den oben genannten Knackpunkten und die Bereitschaft zur Akzeptanz entsprechender Regelungen deutlich höher ist. Dies nur als Randbemerkung. Abgeschlossene Verträge werden dann entsprechend des Vertragsmanagement bereichsweise archiviert. Die entsprechende Regelung sieht vor, dass abgeschlossene

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Verträge nach den Geschäftsbereichen archiviert werden, wobei die im Ressort verantwortlichen Führungskräfte darüber entscheiden, welche Mitarbeiter letztlich Zugriff und Einsicht auf diese Verträge haben. Dies ist in der Regel der sog. Vertrags-Owner, d. h. derjenige der aus der entsprechenden Fachabteilung Ansprechpartner des Vertragspartners war, dessen Mitarbeiter oder die entsprechende Gruppe. Dies ist strukturiert nach Bereichen im Vertrieb, im Einkauf, im IT-Bereich, in der Logistic, Entwicklung, Konstruktion etc., wobei z. B. Mitarbeiter des Einkaufs keine Einsicht und Zugriffsrechte auf Verträge des Vertriebs haben und umgekehrt. Umfassende Einsichts- und Zugriffsrechte hat selbstverständlich der Syndikus bzw. alle Mitarbeiter in der Rechtsabteilung, die Geschäftsleitung sowie die leitenden Angestellten. Eingeschränkt und differenziert geregelt ist dies nur im Bereich gesellschaftsrechtlicher Fragestellungen und Dokumente. Was national gilt, gilt aber auch international. So sind auch die Auslands27 gesellschaften des Unternehmens in einen solchen Prozess im Rahmen des sog. Internationalen Vertragsmanagements einbezogen. Die Schritte hin zu einem solchen international ausgerollten Vertragsmanagement sind ähnlich wie bei der lokalen Umsetzung. Die internen Bereiche sind eben die jeweiligen rechtlich selbständigen Auslandsgesellschaften. Die Umsetzung gestaltet sich jedoch schwieriger, insbesondere in einem historisch „gewachsen“ Unternehmen/System in welchem idR bereits persönliche Kontakte (z. B. mit externen Beratern/Anwälten) der Verantwortlichen bestehen und der Syndikus auf differente Rechtssituationen trifft. Wie sollte der Syndikus hier vorgehen? Das Unternehmen hat bestimmte Vorstellungen und Vorgaben in Bezug auf sein Risikomanagement sowie in Bezug auf die Abwicklung seiner Geschäfte. Hierzu gehören auch Risikobetrachtungen unter dem juristischen Blickwinkel. Dabei geht es natürlich nicht um die selbstverständliche Einhaltung von Gesetzen an sich, sondern um die rechtliche Absicherung von Haftungsrisiken im Zusammenhang mit seinen geschäftlichen Aktivitäten, d. h. um Überlegungen welche Regelungen möchte ich in Bezug auf meine Gewährleistungspflichten haben, kann und will ich sich darauf beziehende Verjährungsfristen haben, dann in welchem Umfang möchte ich haften, kann und will ich ggf. Haftungshöchstgrenzen festlegen. Weiter geht es um die üblichen Fragen von Transportrisiken. Wie stelle ich mich zu Vertragsstrafen und/oder Verzugsschaden. Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt der Überlegungen. Diese münden in eine (rechtliche) Risikopolicy die das Unternehmen versucht weltweit in seinem Konzern zu implementieren. Damit dies gewährleistet ist und insbesondere im Rahmen von Vertragsabschlüssen einheitlich umgesetzt wird, ist der Syndikus gefordert. Im Unternehmen des Verfassers wurde deshalb im Rahmen des sog. Internationalen Vertragsmanagements – ebenfalls in Form einer Verfahrensanweisung – geregelt, dass diese vorgenannten rechtlichen Punkte weltweit zu beachten sind, ergänzt durch die Festlegung „unter Beachtung der jeweiligen lokalen Gesetzgebung und Rechtsprechung“. Was bedeutete dies? Das Internationale Vertragsmanagement zwingt zu einem entsprechenden „Legal-Network“. Diese „LegalNetwork“ beinhaltet die Selektion von Kooperationen mit externen Juristen/Beratern

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vor Ort im jeweiligen Land, oder – sofern ausreichend und sinnvoll – für eine Region, wie z. B. Asien und/oder Süd-Amerika. Mit diesen Beraten wird die Unternehmensphilosophie, nämlich dieses Risikopolicy besprochen, Standard-Verträge mit ihnen erstellt oder von ihnen gegenprüft um die rechtlichen Vorgaben bzgl. obig genannter Regelungspunkte diskutiert mit dem Auftrag, ob oder in welcher Form diese Vorgaben lokal umgesetzt werden können. Daraus erarbeitete Vertrags-Dokumente werden für die betreffende Landesgesellschaft ebenfalls in der zentral geführten Vertragsdatenbank vorgehalten und sind zwingend von den Landesgesellschaften einzusetzen. Sofern – gleich wie bei der nationalen Lösung – keine Einwendungen und/oder Änderungswünsche des künftigen Vertragspartners erfolgen, braucht die Rechtsabteilung/der Syndikus nicht erneut kontaktiert werden. Nur im Falle von Einwendungen und/oder Änderungswünschen ist auch hier die betreffende Landesgesellschaft verpflichtet, entweder Kontakt mit dem lokalen Berater oder mit dem Syndikus Kontakt aufzunehmen. In der Regel wird hier zwischen Syndikus und externem Berater stets eine Informationsaustausch bzw. gegenseitige Unterstützung erfolgen, um der Landesgesellschaft zur Lösung zu verhelfen. Bei individuell auszuhandelnden und zu diskutierenden Verträgen erfolgt dies in der Regel mit Unterstützung sowohl des Syndikus als auch des externen Beraters vor Ort erfolgen. Im Übrigen gelten dann dieselben Regelungen wie beim nationalen Vertragsmanagement auch für die Archivierung und die Zugriffsrechte/-möglichkeiten (Siehe Ausführungen hierzu oben unter a). Zusammenfassend lässt sich die Tätigkeit des Syndikus auch insoweit als herausfordernd, verantwortungsvoll und mit notwendiger Flexibilität karakterisieren; herausfordernd die Erstellung einer vertragsrechtlichen Risiko-Policy, verantwortungsvoll deren Umsetzung national wie international, international abzustimmen mit externen, lokalen Beratern, flexibel im Sinne des ständigen Informations- und Gedankenaustausches, Überzeugungsarbeit in den Gesellschaften unter Berücksichtigung unterschiedlicher Kulturen und Vorstellungen mit entsprechender Reisebereitschaft.

6.4.3 Compliance Selbstverständlich ist der Syndikus in einem Unternehmen des Maschinenbaus auch 28 in die Thematik „Compliance“ involviert. In einem Unternehmen des Maschinenbaus hat dieser inzwischen wohl schon abgedroschene Begriff zwei wichtige Aspekte welche den Umgang damit prägen. Ein Aspekt ist die Unternehmensstruktur des Unternehmens selbst, d. h. handelt es sich um einen weltweit operierenden auf Aktienbasis finanzierten Konzern oder um ein unabhängiges Familienunternehmen auf nicht Aktienbasis finanzierter Struktur. Der andere Aspekt ist das Geschäftsfeld und die Bearbeitung des relevanten Marktes selbst, in welchem das Unternehmen unterwegs ist. Unbestritten ist sicherlich, in beiden Fällen muss das Thema „Compliance“ einen hohen Stellenwert haben und in beiden Fällen ist die Einhaltung gesetzlicher, satzungsmäßiger, individueller und ethischer

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Vorgaben/Regeln (Code of Business/Conduct, Do’s + Don’ts) und einer Corperate Governance mehr als eine Selbstverständlichkeit. In beiden Fällen ist es Sache des Syndikus, die Unternehmensleitung aber auch die Mitarbeiter aller Ebenen einmal von der Notwendigkeit eines sachgerecht und zielgerichteten Compliance-Managements zu überzeugen, und zweitens davon zu überzeugen, sich auch ernsthaft zu deren Umsetzung und Einhaltung der Gesetze, Vorschriften und Richtlinien zu bekennen. Anlässlich einer Präsentation habe ich Compliance als nichts anderes als die Einhaltung der zehn Gebote, soweit sie für unternehmerisches Handeln von ihren Grundaussagen her passen, genannt. Unsere gesamten ethischen und sozialverantwortlichen Wertvorstellungen basieren, bzw. sollten basieren, auf diesen Vorgaben, ohne jetzt hier zu sehr dem Klerus zusprechen zu wollen.

6.4.3.1 Ansatz/Umsetzung 29 Hauptaufgabe des Syndikus im Zusammenhang mit Compliance ist zunächst, die Visualisierung einschlägiger Rechtsvorschriften, um die Überzeugung in der Führung des Unternehmens herzustellen, dass eine entsprechende Notwendigkeit hierzu besteht, insbesondere dass die Verantwortung insoweit bei der Unternehmensleitung liegt. Dies ist zunächst deshalb schwierig, weil es an sich keine einzelne Norm/kein einzelnes Gesetz gibt, welches als Grundlage für ein Compliance-Management herhalten kann. Der Syndikus hat deshalb unmissverständlich klarzustellen und herauszuarbeiten, dass sich „Compliance“ aus einer Vielzahl von Rechtsvorschriften, nämlich der Organisationspflichten der Unternehmensführung ergibt. Für die Implementierung durch die Unternehmensleitung sind hier u. a. folgende rechtliche Ansätze zu nennen: • Gesellschaftsrechtliche Grundpflichten der Unternehmensleitung wie „Pflicht, unter eigener Verantwortung die Gesellschaft zu leiten“ (§ 76 l AktG); die „Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters“ (§ 93 l AktG) anzuwenden (ähnlich § 43 l GmbHG) sowie 91 ll AktG (Früherkennung/Überwachung von Risiken); • §§ 9, 30, 130 OWiG erzwingen „Aufsichtsmaßnahmen…‚ die erforderlich sind, um in dem Betrieb oder Unternehmen Zuwiderhandlungen gegen Pflichten zu verhindern, … deren Verletzung mit Strafe … bedroht ist“; • Sarbanes Oxley Act (SOX) 2002 • 4.1.4 DCGK (Deutscher Corporate Governance Kodex) Hinzu kommen dann die Allgemeinen Gesetze wie das Straf-, Arbeits-, Außenwirtschafts-, Kartell-, Insolvenzrecht, Produktsicherheitsrecht etc. …). Im Sinne des Legal Compliance sind hier beispielhaft zu nennen: • § 299 StGB/§ 299 Abs. 3 StGB – Korruption denkbar in Verkauf/Export sowie Einkauf/Import • Bestechung/Bestechlichkeit im geschäftlichen VerkehrBedeutung insbesondere wegen Strafbarkeit von Auslandstaten, z. B. in Auslandstöchter sitzen deutsche Manager in der Geschäftsführung

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• §§ 331–334 StGB – Vorteilsnahme/Bestechlichkeit seitens Amtsträgern • EU-Bestechungsgesetz vom 22.9.1998 – Art. 2 § 1 – Ausdehnung auf EG Beamte und Amtsträger anderer EU-Mitgliedsstaaten • Internationales Bestechungsgesetz (in Kraft seit 15.2.1999), erstreckt Strafbarkeit auf Amtsträger fremder Nationen/internationaler Organisationen • u. a. Die Erfahrung hat gezeigt, dass bereits die Darstellung dieser „wenigen“ einschlägigen Gesetze für den Syndikus ein gutes Handwerkszeug ist, um in technischen, eher von Ingenieuren geführten Unternehmen die Meinung auf der Skala „Compliance Management nicht notwendig/Ablehnung“ auf „Dringend notwendig“ hochschnellen lässt. In der Regel tut sich der Syndikus aber damit den wenigsten Gefallen, denn die Konsequenz daraus ist klar, er der die „10 Gebote“ so propagiert kann sich ab diesem Augenblick „Moses“ der Compliance nennen. Denn was folgt, ist die Umsetzung und Transformation ins Unternehmen, womit – was liegt näher – der Syndikus verantwortlich betraut wird. Eine verantwortungsvolle Aufgabe die er dann gern und bereitwillig annimmt, wenn er über mehrjährige Berufserfahrung und Mitarbeit in dem Unternehmen verfügt und darauf zurückblicken kann. Denn nicht nur das Vertrauen der Unternehmensführung spielt hier eine gewichtige Rolle, sondern auch das Vertrauen bei den Mitarbeitern, d. h. im Kollegenkreis. Von Vorteil sind nämlich sicherlich umfassende Kenntnisse über das Unternehmen selbst sowie eine bisher vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Verantwortungsträgern in den einzelnen Geschäftsbereichen (BusinessUnits), einschließlich einer Anerkennung in den Auslandsgesellschaften bei den lokalen Entscheidungsträgern, idR Geschäftsführer und/oder Vertriebsmanager. Ein wichtiges Tool um die entsprechenden Grundlagen seitens der Unternehmensleitung für die Implementierung zu schaffen ist zunächst das klare, eindeutige, unmissverständliche und ernsthafte Komitment der Unternehmensführung in Form der Corperate Governance und des unternehmensinternen „Code of Conduct“. Daran hat sich die Implementierung auszurichten. Unter Berücksichtigung aktueller Rechtsprechung und Erfahrungswissen und Erkenntnissen, ggf. auch aus Benchmark-Prozessen und Erfahrungsaustauch mit Kollegen der Branche, wird der darin involvierte Syndikus maßgeblich bei der Ausarbeitung und Ausformulierung des „Code of Conduct“ unterstützen. Einfließen werden auch praktische und pragmatische Erwägungen aus Einkauf und Vertrieb (in der Regel die kritischen Schnittstellen in einem vertriebsorientierten Maschinenbauunternehmen), wobei der Orientierungsrahmen ausschließlich die gesetzlichen Vorgaben sein können und dürfen.

6.4.3.2 Implementierung Der zweite wichtige Schritt ist die Implementierung der Grundsätze/Aussagen (zu organi- 30 satorischen Maßnahmen siehe unten c) im Unternehmen. Dabei geht es nicht um eine Art „ärztliche Verordnung“, sondern um eine Überzeugungsbildung und Verwurzelung von Werten und Vorstellungen in den Köpfen der Mitarbeiter, soweit nicht ohnehin vorhanden.

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Denn eines ist auch klar, ein erfolgreiches Unternehmen hat sich diesen Erfolg nur durch die Seriosität und Verlässlichkeit seiner Mitarbeiter erarbeitet, die sich an „Selbstverständlichkeiten“ (Compliance ist nach meiner Überzeugung die Befolgung und Beachtung von Selbstverständlichkeiten) orientiert haben. Im Grunde genommen geht es um die „juristische“ Verfestigung und Überzeugung von potentiell „schwarzen Schafen“. Hier ist deshalb auch der Psychologe im Syndikus gefragt und gefordert, wenn es um die Transplantation und Transformation von Werten und Vorstellungen geht. Zunächst muss der Mitarbeiter erkennen und erfahren können, dass es das Unternehmen, d. h. die Führung des Unternehmens, ernst meint. Lippenbekenntnisse oder die Einstellung „nice to have“ helfen da wenig. Ist diese Hürde geschafft, geht es an die eigentliche Arbeit. Als Handwerkzeuge haben sich bewährt Präsenzschulungen, allgemeine Informationsveranstaltungen, e-Learning (web-based-trainings), ähnlich der Vorgehensweise bei dem Thema „Produkthaftung“ (Siehe oben unter Kap. D 1.) Unterstützende Kommunikations-Medien für die Publikation der Compliance/Verhaltensmaßnahmen sind z. B. auch das unternehmensinterne Intranet, Broschüren wie Mitarbeiterzeitschriften, Vorgaben für Führungskräfte für Mitarbeitergespräche, (z. B. im Rahmen von Leistungsvereinbarungen, jährliche Führungsgespräche). Hinsichtlich des Kommunikations-Medium „Schulungen“ seien ergänzend folgende Stichwort erwähnt  E-Learning – Pflichtteilnahme – (Basiswissen, Bewusstseinsbildung, Erinnerung), insbesondere für Mitarbeiter/Führungskräfte in Schlüsselpositionen. (Vorteile: Erreichbarkeit und Kontrolle der Anzahl der Teilnehmer, automatische Mahnfunktion; Zeitliche Flexibilität des Mitarbeiters, Einheitlichkeit des Inhalts weltweit; natürlich unter Beteiligung des Betriebsrates soweit vorhanden und – lokal – notwendig) Face-to-Face Training (Seminare, Präsentationen) (Vorteile: Komplexere Themen können besser dargestellt werden, Diskussionen ermöglichen größere Praxisnähe, Lerneffekte für Trainer, Fragen können direkt beantwortet werden, Überzeugungskraft) Einbettung in allgemeine Ausbildung; z. B. Seminare für neue Mitarbeiter, im Rahmen von Managementtrainings, Führungskräfteschulung etc. Geeignet für die Bereitschaft das Thema ernst zu nehmen, sind auch Publikationen von Verletzungsfällen, mit der gleichzeitigen Darstellung von Konsequenzen für derartige Verstöße im eigenen Unternehmen. Für die externe Kommunikation hat der Syndikus der mit der Compliance Thematik beaufschlagt ist, erst recht die verantwortungsvolle Aufgabe, das „wording“ für den Code of Conduct zur Darstellung auf der Homepage des Unternehmens sorgfältig zu gestalten, entsprechende Broschüren mit auszuarbeiten und sich auch am jährlichen Compliance Bericht redaktionell zu beteiligen. Eine solche externe Kommunikation ist nach diesseitiger Auffassung ein „Muß“, denn es bewirkt u. a. eine „Selbstbindung“, da sich das Unternehmen im Zweifel daran messen lassen muss. Außerdem dient es zur

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Positionierung und Vertrauensbildung gegenüber Geschäftspartnern. Insoweit ist, seit das Thema Compliance in aller Munde ist, die Forderung nach einer „vertraglichen“ Verpflichtung zur Akzeptanz und Anerkennung externer Compliance Bedingungen von Geschäftspartnern – hauptsächlich von US-Amerikanischen Konzernen – mit ein Grund sich auf diese Weise zu positionieren um „fremde“ „Codes of Conduct“ abzulehnen und/ oder zu vermeiden, sich mit oftmals mehrseitigen Dokumenten, ja gar Büchern, im Rahmen von Vertragsprüfungen zu beschäftigen.

6.4.3.3 Organisatorische Maßnahmen/Einordnung In einem Unternehmen des Maschinenbaus sollte der Syndikus auch durchaus bereit 31 sein, sich dieses Themas und der Verantwortung insoweit zu stellen, d. h. eine maßgebliche Rolle dabei spielen und auch die Notwendigkeit, das Thema im juristischen Bereich (Syndikus/Rechtsabteilung) organisatorisch zu positionieren, herausstellen. Als Begründung und Argumentationshilfen mögen folgende Aussagen hilfreich sein: • Ein Patentrezept für eine Compliance-Standard-Organisation/Position gibt es nicht!! Sie wird immer „Unternehmens-Spezifisch“ sein! • In jedem Fall muss es eine zentrale Compliance-Stelle/Compliance-Officer, wobei der Verfasser die Auffassung vertritt, dass die Aufgabe – sofern nicht eigene riesige Compliance-Organisation geschaffen werden – der Syndikus/die Rechtsabteilung am besten geeignet ist! Warum? • Compliance Risiken sind immer/stets (zuerst) Rechtsrisiken, die interne Juristen als Erste erkennen • Ein Syndikus/die Rechtsabteilung kann die Gefahr aus Rechtsrisiken dem Ausmaß nach am besten bewerten und präventiv handeln/Maßnahmen vorschlagen (vorbeugen statt heilen) • Folgen von Compliance-Verstößen treffen die In-House-Juristen ohnehin (lieber an der Prävention arbeiten als an der Verfolgung und Sanktionierung von Taten/Strafverteidigung der Organe …) • Außerdem: Kennt die betrieblichen Abläufe, Personen, Verantwortliche sowohl durch interne als auch externe Informationen (von Dritten angezeigte Verstöße schlagen auch in der RA auf)7 Davon ausgehend hat der Syndikus selbst dafür zu sorgen, dass eine ausdrückliche und klare Verantwortungszuweisung sowohl innerhalb der Unternehmensführung (Vorstand/Geschäftsleitung) als auch top-down zum Syndikus (i. S. des Compliance

7Sinngemäß

für die verantwortliche Einbindung Rechtsabteilung: Lampert in § 9 Compliance-­ Organisation, Corporate Compliance, Dr. Christoph Hauschka, erschienen im Beck-Verlag 2007.

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Officers) selbst erfolgt. Zusammengefasst treffen den Syndikus dann folgende wesentlichen Aufgaben: • die Auswahl von sog. Compliance-Beauftragten im Unternehmen (so jedenfalls im Unternehmens des Verfassers) und formaljuristisch saubere Verantwortungsübertragung an dezentrale Compliance-Beauftragte im In- und Ausland; • Erstellung eines Schulungskonzepts für Mitarbeiter, einschließlich Management und Führungskräfte (E-Learning, Präsenzschulung); • Zusammenarbeit mit den dezentralen Compliance-Beauftragten (Identifikation von dezentralen Gefahrenbereichen und Konzeptentwicklung für dezentrale ComplianceAktivitäten); • Erarbeitung eines Konzepts zur Steuerung des Informationsflusses (d. h. Umsetzung der Vorgaben unter b) – siehe oben –). • Stichprobenartige Auditierung der Einhaltung von Compliance, in Abstimmung/mit Unterstützung der Revision und Risk-Management; • Begleitung von Personalentscheidung bei aufgedeckten Verstößen; • Externe Kommunikation mit Behörden etc. (in Abstimmung mit CC) im Falle von „extern wirkenden“ Verstößen (Kartellrecht, Umweltrecht, Produktrückrufe etc.) Auch wenn oben davon gesprochen wurde, dass es kein Patentrezept für eine Compliance-Struktur und Compliance-Organisation gibt, so sind die obigen Ausführungen zumindest als Denkanstöße und Ansätze gedacht, wie in einem mittelständigen Unternehmen des Maschinenbaus das Thema „Compliance“ sachgerecht behandelt werden kann. Der Syndikus kann diese verantwortungsvolle Aufgabe nicht allein bewältigen, weshalb die Einbindung vertrauensvoller „Compliance-Beauftragter“ und deren Vorbereitung darauf durch Schulungen eine wesentliche Aufgabe sein wird. Nach der Implementierung, die mindestens einen Zeitraum von 6 Monaten bis zu einem Jahr in Anspruch nimmt/nehmen wird, ist eine permanente Kommunikation und sind regelmäßige Teamsitzungen unabdingbar. Ebenso unabdingbar ist die Zusammenarbeit mit der Revision um effektiv die Einhaltung der „10 Gebote“ (so meine These), die nach meiner Überzeugung die ethische Grundlage für ein ernsthaft gewolltes Compliance Management sind, überprüfen zu können und ggf. Sanktionen wirksam.

6.4.4 Claims Management 32 Eine weitere wichtige Aufgabe des Syndikus in einem Unternehmen des Maschinenbaus ist die Prüfung von und die Auseinandersetzung mit Ansprüchen mit denen sich das Unternehmen von Zeit zu Zeit konfrontiert sieht. Hierzu wurde der nachstehend aufgezeigte Workflow in Abstimmung mit den Fachabteilungen entwickelt. Lassen Sie mich hierauf überblicksweise zunächst verweisen. Ansatz und Anlass der Ausarbeitung und Implementierung eines solchen Workflows als Aufgabe des Syndikus in Zusammenarbeit mit dem Risk-Management, als

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­ erfahrensanweisung verbindlich im Unternehmen dokumentiert, war die Vermeidung V des unkoordinierten Umfangs mit z. B. Reklamationen, Regressansprüchen auch gegenüber Lieferanten sowie Schadensvorfälle mit produkthaftungsrechtlicher und versicherungstechnischer Relevanz. Die Koordination und systematische Bearbeitung und Abwicklung von Ansprüchen, insbesondere Ansprüche die gegen das Unternehmen gerichtet sind, hat insbesondere im Zusammenhang mit technischen Reklamationen, einen wichtigen Aspekt, nämlich den der Produktbeobachtung. Daneben auch den versicherungstechnischen Aspekt, den Versicherer nicht durch eine Anhäufung von irrelevanten Schadensmeldungen zu „verunsichern“, was ja wiederum Prämienrelevanz hat, zumal in der Regel entsprechende Selbstbehalte in Haftpflichtversicherungen vereinbart sind oder werden. Der Aspekt der Produktbeobachtung, und selbstverständlich bei eingetretenen Schadensfällen daraus etwa abzuleitende Maßnahmen, werden dadurch berücksichtigt, dass egal in welchem Bereich eine Reklamation oder ein Schadenersatzanspruch aufschlägt, sei es bei der Technik, sei es im Vertrieb, sei es in der Versicherungsabteilung, etc. der Betreffende oder die betreffende Fachabteilung verpflichtend den Syndikus/ die Rechtsabteilung zu involvieren hat, welche/r dann entsprechend des Workflow den Vorgang systematisch behandelt, abarbeitet und abwickelt. Zu diesem frühen Zeitpunkt entscheidet der Syndikus über seine weitere Beteiligung/Unterstützung selbst, z. B. bei Schadensgrößen unter einem festgelegten Sockelbetrag (Geringfügigkeitsgrenze). In jedem Fall aber sorgt er dafür, dass die Fachabteilungen wie Konstruktion, Produktion, Qualitätssicherung, Versuch etc. involviert werden um eine sachgerechte technische Beurteilung sicher zu stellen, ob aus diesem Vorgang weitere Maßnahmen für das betreffende Produkt zu treffen sind. Im Zusammenhang mit größeren Schadensfällen/Ansprüchen (Abhängig von der jeweiligen Unternehmensgröße) wird sich die Abwicklung nicht in der schlichten Begleitung des Prozesses gem. Workflow, d. h. „aus der Ferne“ und/oder interner Prüfung der Anspruchsgrundlagen und Schadensliquidierung erschöpfen. Hier ist dann der Anwalt im Syndikus gefragt. Ähnlich wie im Rahmen von externen Vertragsgesprächen, wird der Syndikus auch hier eine Unterstützung bei Verhandlungen mit dem Anspruchssteller, der Haftpflichtversicherung, Behörden etc. durch persönliche Anwesenheit leisten müssen, insbesondere dann, wenn er mit entsprechenden Entscheidungsvollmachten ausgestattet ist. Ggf. wird er sich in Einzelfällen die vorherige Zustimmung der Unternehmensleitung gesondert einholen, je nach Bedeutung des Sachverhalts für das Unternehmen, auch im Hinblick auf eine etwaige Kundenbeziehung. Somit hat er auch in diesem Zusammenhang sensible Kräfte einzusetzen, zwar hat er klar und unmissverständlich die rechtliche Seite und die Position und Interessen des Unternehmens zu vertreten, aber dazu gehört im Hinblick auf die Interessen des Unternehmens u. U. auch ganz entscheidend die Wahrung der Kundenbeziehung in Fällen, in denen Reklamationen bei VIP-Kunden auftreten. Insoweit ist in jedem Fall Fingerspitzengefühl unerlässlich. In solchen Fällen sind dann auch keine akademisch, juristischen sondern pragmatische Lösungen gefragt; dies wird – wie die Erfahrung zeigt – eher einem berufserfahrenen, langjährig tätigen Syndikus gelingen als einem Newcomer.

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6.4.5 Sonstiges/Allgemeines 33 Natürlich stellen die obig dargestellten Aufgaben nicht die gesamte Aufgabenstellung und Tätigkeit des Syndikus/der Syndizi erschöpfend dar. Aber allein die Darstellung dieses Teils seiner Tätigkeiten zeigt jedoch, dass der Jurist in einem Unternehmen des Maschinenbaus mehr als nur beschäftigt ist. Sein Arbeitspensum wird sich nicht an einer tariflichen Arbeitszeit orientieren können und dürfen; dessen muss er sich bewusst sein. Denn neben diesen Hauptthemen werden im Unternehmen des Verfassers auch mit ­Themen wie • Datenschutz, • Arbeitssicherheit, • IT-Lizenzmanagement, Urheber-, Patent- und Markenrecht, • Verwaltungsrechtsfragen (Zulassungen, Baumaßnahmen etc.), • Werksicherheit (z. B. Einweisung von Sicherheitspersonal in Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit Sicherheitsaufgaben), • Ggf. strafrechtliche Themen (im Zusammenhang mit Compliance, Umwelt etc.), • Zoll- und Exportrechtliche Fragen, • Arbeitsrechtliche Fragestellungen • M & A (sporadisch, allenfalls zur Belieferungssicherung) • u. u. u. aktiv unterstützt. Eine ausführlichere, inhaltliche Darstellung würde zwar den Arbeitstitel sinnvoll ergänzen, aber auch sprengen. Es ist deshalb auch sicherlich alles andere als eine Selbstdarstellung „toller – auch 34 weiblicher – Hechte“, aber ich denke, die unter obigen Kapiteln erfolgte ausführliche Darstellung der Schwerpunkttätigkeit sowie der Nennung der sonstigen „Randbereiche“ der juristischen Tätigkeit zeigen deutlich, dass Vielseitigkeit des Syndikus eines der wichtigsten Attribute ist. Im Unternehmen wird zwar erwartet, dass der Syndikus der juristische „Alleskönner“ ist, allerdings ist Vielseitigkeit nicht im Sinne, er kann und weiß alles; nein, Vielseitigkeit im Sinne von Entwicklung eines Gespürs in alle „juristischen“ Himmelsrichtungen und Ehrlichkeit zu sich selbst, anlässlich einer konkreten Fragestellung dir richtige Entscheidung zu treffen, nämlich „make“ or „buy“. Gerade zum „Buy“ ist ihm dann auch wiederum das bereits oben in Kap. 2.2 b) beschriebene „Legal Network“ hilfreich. Denn betrachte ich die Historie und die Entwicklung der Rechtsabteilung/meiner Tätigkeit, so ist festzustellen, dass die Anforderungen, insbesondere in den letzten 10–15 Jahren deutlich gewachsen sind. Vom „AbsolutionsJuristen“ – (Motto: schau’n Sie mal kurz drüber) hat sich die Aufgabe/Tätigkeit zu einer integrativen, auch strategisch orientierten und mehr präventiven Unterstützung und Beratung der Unternehmensführung aber auch der Mitarbeiter jeder Hierarchiestufe entwickelt. Hier hat die technische Entwicklung insbesondere die Art der

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Kommunikationsmedien wesentlich dazu beigetragen. Zum einen macht die Quantität, zum anderen aber das Tempo zu schaffen. Zu immer mehr Rechtsfragen, werden immer schneller Antworten erwartet. Beispiele wie, „ein 50-ig seitiger US amerikanischer Vertrag morgens per e-mail übermittelt, am Nachmittag bereits nach der Bewertung und „Absolution“ nachgefragt“, sind keine Seltenheit, allerdings gleichwohl Einzel-FallAusnahmen. Aber allein daran wird deutlich, dass teilweise noch die verantwortungsvolle Arbeit des Inhouse-Juristen auch noch unterschätzt wird. Hilfreich ist stets, auch in diesen Einzelfällen, sachgerechte Gelassenheit und Kompetenz. Arroganz ist völlig unangebracht. Denn in unserem Unternehmen verstehen sich die Unternehmensjuristen als Partner und Dienstleister, ausgestattet und gepaart mit Sozialkompetenz und einem Gespür der Priorisierung. Stundensätze, interne Verrechnung sind „Fremdwörter“, da sie nach diesseitiger Auffassung der Verpflichtung der Unternehmensmitarbeiter sich der juristischen Abteilung im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeit zu bedienen, zuwider laufen würde. Dies führt zur Freiheit der Fachbereiche auf der einen Seite – ich kann mich jederzeit ohne dass ich auf mein Budget achten muss – an die Rechtsabteilung wenden und muss nicht selbst als „Hobby-Jurist“ mit einem unguten Gefühl die Angelegenheit abwicklen, zu Zwängen, nämlich hohem Geschäftsanfall, auf der anderen Seite, den Juristen. Aber gerade dies macht den Reiz für den Juristen aus, da keine Vorselektion der Fragestellungen erfolgt und zu auch noch so kuriosen rechtlichen Fragen führt. Das Motto muss lauten und lautet: je Anfrage wird ernst genommen, jede Frage wird sachgerecht behandelt, jede Frage wird medial wie auch immer beantwortet. Denn auch hier gilt, ein über Jahre hinweg erworbenes Vertrauen kann im Einzelfall innerhalb kürzester Zeit zumindest angekratzt, aber auch schnell verloren gehen. Hier besteht die Freiheit dann darin, der Priorisierung, aber auch der Kommunikation. Wir haben uns angewöhnt, Durchlaufzeiten sollten sie in Einzelfällen die übliche Bearbeitungszeit die von einem „Mandanten“ erwartet wird, deutlich überschritten werden, dies in einem „Bestätigungsmail“ zu kommunizieren und sinngemäß mitzuteilen, dass der Vorgang zur Kenntnis genommen wurde, im Moment aber wegen der Arbeitsbelastung erst dann und dann beantwortet werden kann. Der „Kunde“ weiß woran er ist, uns sieht auch im Hinblick auf das Zeitmanagement die Kompetenz der Juristen. Lassen Sie mich in vor dem Hintergrund des zuletzt ausgeführten mit dem Sprichwort schließen das auch, oder gerade auch für die Juristen/Syndizi in Maschinenbauunternehmen gilt: Es allen „Recht“ getan, ist eine Kunst die niemand kann!! Aber der Versuch ist es allemal wert!!!

Literatur Hauschka, Christoph E. (Hrsg.), Corporate Compliance, 2. Auflage 2010

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Der Syndikus im vertriebsfokussierten Konzern – Ein Handbrevier Matthias Hickmann

7.1 Juristen und Vertriebsmitarbeiter – Cats meet Dogs 7.1.1 Auftakt Wohl kaum zwei Berufsgruppen könnten gegensätzlicher „ticken“ als Juristen und Vertriebsprofis. Auf den Punkt gebracht: Juristen sind Pessimisten, Vertriebsleute sind Optimisten. Lawyers are from Mars, Sales People are from Venus.1 Gerade diese Gegensätzlichkeit ist es aber auch, die den besonderen Reiz ausmacht, als Jurist in einem stark vertriebsorientierten Unternehmen zu arbeiten. Denn die gute Nachricht ist: Im Zusammenspiel können beide, Juristen und Vertriebskollegen, nicht nur eine perfekte Symbiose bilden und so einen besonders hohen Wertschöpfungsbeitrag für ihr Unternehmen leisten – sie können auch überraschend viel voneinander lernen und eine Menge Spaß miteinander haben. Mehr vielleicht als in der Konstellation „Jurist mit IT-Fachmann“ oder „Jurist mit Finanzexperte“. Jedenfalls oft. Oder zumindest manchmal. Vergegenwärtigen wir uns aber zunächst die Ausgangssituation:

1Frei

angelehnt an Gray, John: Men are from Mars, Women are from Venus. 1. Aufl., New York: HarperCollinsPublishers 1992.

M. Hickmann (*)  Vorwerk & Co. KG, Wuppertal, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Lenz (Hrsg.), Die Rechtsabteilung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21915-4_7

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7.1.2 Warum Juristen und Vertriebsmitarbeiter so unterschiedlich ticken 2

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7.1.2.1 Der Jurist: Die Katze kann das Mausen nicht lassen In der Ausbildung über Jahre hinweg darauf getrimmt, potentielle Risiko-, Problem- und Konfliktfelder zu identifizieren und die schlimmsten Worst-Case-Szenarien in ihrer ganzen Bandbreite durchzuspielen, gedanklich, in Worten und schriftlich, ist des Juristen Brot. Und in der Tat: Die außergewöhnlichsten Lebenssachverhalte und Fallbeispiele sind es, die dem angehenden Juristen auf Schritt und Tritt präsentiert werden. Soweit diese nicht der Phantasie der Professoren und dem Reich der Fiktion entsprunge Professoren und dem Reich der Fiktion entsprungen sind, sind es auch unter den realen Sachverhalten der höchstinstanzlichen Urteile stets diejenigen mit den bemerkenswertesten Negativabweichungen vom normalen menschlichen Verhalten und mit den unwahrscheinlichsten Verkettungen unglücklicher Kausalverläufe, an denen der angehende Jurist sich permanent übt. Und so etwas bleibt auf Dauer nicht ohne Wirkung auf das Denken.2 Irgendwann ist der junge Jurist dann so weit zu glauben. Zum Beispiel, es gehöre tatsächlich zu den normalen Vorkommnissen im Leben, dass man als Autofahrer 1.) fahrlässig einen Unfall verursacht, 2.) dadurch einen Geldtransporter zum mehrfachen Überschlagen bringt, 3.) dieser kopfüber im Straßengraben liegenbleibt, 4.) aus dem schmalen Spalt der Fahrertür, flach am Boden liegend, sich verletzt die Wachleute heraus zwängen, 5.) sodann aus diesem Transporter unter ungeklärten Umständen3 ungesehen eine viertel Million Euro entwendet wird, und schließlich 6.) die eigene Kfz-Haftpflichtversicherung auf Ersatz des gestohlenen Geldes verklagt wird; was man jedoch alles nicht mehr mitbekommt, weil man 7.) unfallbedingt dahingeschieden ist.4 Dazu führt der Bundesgerichtshof aus, die Verursachung des Gelddiebstahls sei dem Autofahrer jedenfalls dann noch zurechenbar, wenn das Geld noch am Unfallort gestohlen worden sein sollte. Nicht etwa teilte der BGH die Einschätzung, dass ein solches Abhandenkommen „durch ein völlig ungewöhnliches und unsachgemäßes Verhalten einer anderen Person ausgelöst worden“ sei, dessen Auswirkungen dem Erstschädiger nicht mehr zugerechnet werden könnten.5

2Zum

Thema, wie bei Juristen die tägliche Befassung mit Problemen auf das allgemeine Denken abfärben kann: Von Hirschhausen, Eckart: Glück kommt selten allein. 3. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2009, S. 65. 3Entweder noch an der Unfallstelle, bei der polizeilich überwachten Abschleppaktion oder auf dem bewachten Polizeihof. 4So geschehen im „Geldtransporter-Fall“, BGH NJW 1997, 865 f. 5BGH NJW a. a. O., S. 866.

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Was lernt der Jurastudent also schon in den ersten Semestern? Nichts ist unmöglich! Als Autofahrer, der einen Unfall verursacht, hat man durchaus damit zu rechnen, dass andere Zeitgenossen sich trotz eines Toten und zweier Verletzter am Unfallort im schmutzigen Graben flach am Boden durch einen Türspalt in das auf dem Kopf liegende Wrack eines Geldtransporters robben, drinnen die Elektronik des Schutzgitters austricksen, mit zwei sperrigen Koffern wieder heraus robben, und ohne dabei gesehen zu werden, verschwinden könnten. Denn, so der BGH dazu: „Ein solcher Ablauf ist auch nicht ungewöhnlich“.6 Wem das obige Beispiel aus dem zivilrechtlichen Schadensersatzrecht zur Veranschaulichung dessen nicht ausreicht, was Juristen alles durchnehmen (oder besser: durchmachen) müssen, der werfe einen Blick auf die Sachverhalte im Strafrecht. Dort tun sich wahre Abgründe auf. Abstrus, aber wahr bspw. folgender „Klassiker“7: Den Angeklagten H. und P. gelang es, den mit ihnen in einem „neurotischen Beziehungsgeflecht“ zusammenlebenden Mitangeklagten R., einen Polizeibeamten, durch schauspielerische Tricks, Vorspiegeln hellseherischer Fähigkeiten und die Vornahme mystischer Kulthandlungen von der Existenz des „Katzenkönigs“ zu überzeugen, der seit Jahrtausenden das Böse verkörpere und die Welt bedrohe. R. glaubte sich schließlich auserkoren, den Kampf gegen den Katzenkönig aufzunehmen. In diesem Zuge brachte die H. den R. (neben diversen anderen unsinnigen Dingen) dazu – unter Vorspiegelung, der Katzenkönig verlange ein Menschenopfer und vernichte ansonsten die Menschheit – einen Mordanschlag auf die Ehefrau ihres Ex-Freundes zu verüben, auf welche sie eifersüchtig war. Der von R. daraufhin in echter Gewissensnot, vermeintlich nur so die Menschheit retten zu können, ausgeführte Versuch, das Opfer mit einem Fahrtenmesser zu erstechen, missglückte letztlich. Vergegenwärtigt man sich dann noch weitere Sachverhalte, denen der Jurastudent im Laufe seiner Ausbildung begegnet, wie bspw. den tatsächlich vorgekommenen „SiriusFall“8, wird klar, warum Juristen irgendwann so weit sind, stets und überall mit allem zu rechnen. In jenem Fall gelang es dem Angeklagten, eine junge Frau glauben zu machen, er sei ein Außerirdischer vom Planeten Sirius. Unter dem Versprechen, durch eine (kostenpflichtige) spirituelle Weiterentwicklung könne sie nach ihrem Tode auf einem anderen Himmelskörper weiterleben, nahm er der Frau im ersten Schritt 30.000 DM ab und verbrauchte das Geld für eigene Zwecke. Später dann überzeugte er die Frau davon, dass am Genfer See ein neuer Körper für sie bereitstünde, in welchem sie sich sofort wiederfinden könnte, wenn sie sich nur von ihrem alten Körper trennen würde. Mit dem Argument, auch in ihrem neuen Leben benötige sie jedoch Geld, brachte der Täter die Frau dazu, zuvor noch eine Lebensversicherung über 500.000 DM abzuschließen, selbstredend zu seinen Gunsten. Sodann verleitete er sie dazu, aus ihrem alten

6BGH

a. a. O., S. 866. „Katzenkönig-Fall“, BGH NJW 1989, 912 ff. 8BGH NJW 1983, 2579 f. 7Sog.

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Körper zu scheiden. Als die Frau zu diesem Behufe den eingeschalteten Haartrockner in ihre Badewanne fallen ließ, spürte sie jedoch aus technischen Gründen nur ein Kribbeln. Nach seinem Kontrollanruf, und überrascht davon, dass sie noch lebte, instruierte der Täter die Frau sodann über drei Stunden lang hinweg in etwa zehn Telefonanrufen mit Anweisungen zur Fortführung des Versuchs, gab aber schließlich auf. Sie sehen: Die Unglaublichkeiten sind hier dicht an dicht aneinandergereiht (wieso versagt der Fön in der Wanne?!). Immerhin: Neben versuchten Mordes und anderer Tatbestände wurde der Angeklagte im „Sirius“-Fall auch wegen Verstoßes gegen das Heilpraktikergesetz seiner gerechten Strafe zugeführt. Im Referendariat geht es dann mit abgründigen Einblicken weiter. Insbesondere in der Staatsanwalts-Station bekommt der juristische Berufsanfänger eine gehörige „Erdung“ mit der Realität, diesmal in Form echter Live-Fälle. Da stiehlt dann bspw. ein Altkleider-Sammelunternehmen dem anderen die von den Anwohnern gefüllten Kleidersäcke vor der Nase weg (Frage: Diebstahl oder nicht, da herrenlos?), da bricht ein Amateurdieb in die Tiefgarage eines Mehrparteienhauses ein und schlägt ein halbes Dutzend Autoscheiben zu Bruch, nur um ein paar wertlose Arbeitshandschuhe und eine gebrauchte Autobatterie zu erbeuten (geht es noch dümmer?)9 und dererlei mehr. Mit den Mitstreitern von der Polizei auf Nachtstreife zu fahren, verschafft den Referendaren dann nochmals einen gesteigerten Einblick in die hässliche Realität; von dem auch hartgesottenen Leuten nahe gehenden Besuch im gerichtsmedizinischen Institut ganz zu schweigen. Ein Studienkollege und guter Freund, den es in das Strafverteidigerfach zog und der dort heute sehr erfolgreich arbeitet, bestätigt ebenfalls, dass die Bandbreite dessen, was da draußen alles los ist, durchaus Anlass gibt, nur mit einem gewissen Maß an gesunden Vorbehalten auf seine Mitmenschen zuzugehen. Denn selbst, wo man bisher noch das Idyll wähnte, auf dem platten Land: Organisiertes illegales Glücksspiel in den Hinterzimmern! Früher assoziierte man ja auch mit der Bezeichnung „Sauerland-Gruppe“10 noch ahnungslos eine Clique von Kegelbrüdern auf ihrem Wochenend-Ausflug oder einen lokalen Wanderverein. Der Jurist lernt bzw. sieht also: Die Realität ist, was Unwahrscheinliches anbelangt, durch nichts zu überbieten. Wie es die selbsternannten Philosophen der Popmusik schon vor einem Vierteljahrhundert auf den Punkt brachten: „Das Böse ist immer und überall.“11 Kein Wunder also, dass Juristen im Laufe der Jahre ein, sagen wir einmal, „interessant gewichtetes“ Bild von der Welt entwickeln; und ein vielleicht nicht ganz repräsentatives. Alles in allem sind sie grundsätzlich lieber erst einmal auf der Hut. Ein

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der Fälle, die dem Autor gleich zu Anfang der Staatsanwaltschafts-Station auf den Tisch kamen. 10Siehe dazu OLG Düsseldorf, Urt. v. 04.03.2010 – III-6 Sts 11/08 u. III-6Sts 15/8. 11Spitzer, Thomas, Erste Allgemeine Verunsicherung (EAV): Ba-Ba-Banküberfall. EMI Columbia 1985.

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Mediziner fasste diese Denke der Juristen einmal treffend in vier Worten zusammen: „Wo ist der Haken?“12 In der Tat: In der Regel agieren sie eher zurückhaltend und sind nicht ganz leicht aus der Reserve zu locken. In ihrer vorsichtigen, kritisch-distanzierten und stets abwägenden Art sowie mit ihren Aktionsweisen, die für Berufsfremde nicht immer vorausberechenbar anmuten, gleichen Juristen damit Katzen. Dabei bewegen sie sich stets äußerst elegant und geschmeidig – ebenfalls wie ihre felinen Pendants. Tendenziell entziehen sie sich auch geschickt allzu ungestümen Annäherungsversuchen, sofern es ihnen nötig erscheint. Beim Versuch, ihnen vorschnell inhaltliche Zusagen oder Zugeständnisse abzuringen, können sie wahlweise vollkommen auf stur schalten und ihr Gegenüber komplett ignorieren oder eindrucksvoll fauchen und die Krallen ausfahren. Wer Katzen hält, weiß, was ich meine. Wenn es gut läuft, schnurren sie durchaus auch einmal zufrieden und vernehmbar. Niemals aber würden sie sich zu spontanen Begeisterungsstürmen hinreißen lassen. Jedenfalls nicht während der Arbeitszeit. Was mich direkt zur zweiten Gruppe bringt, ihren Mitstreitern im Vertrieb.

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7.1.2.2 Der Vertriebsprofi: Der beste Freund des Menschen Vertriebsprofis sind, ganz im Gegensatz zu ihren Kollegen in den Rechtsabteilungen, durch unerschütterlichen Optimismus geprägt. Das ist auch gut so. Denn sie müssen vor allem eines: Verkaufen. Und dafür sind „positive vibrations“ unerlässlich. Warum fällt es den Vertriebskollegen aber (scheinbar) so leicht, nicht über „Was wäre, wenn“-Probleme nachzugrübeln? Ganz einfach: Die Negativ-Lehrbeispiele, die Fälle der Verkettung unglücklicher Umstände und Absonderlichkeiten menschlichen Verhaltens bleiben den Vertriebsprofis im Rahmen ihrer Ausbildung zum allergrößten Teil erspart. Jedenfalls sind sie nicht Schwerpunkt der kaufmännischen Ausbildung oder der BWL- oder VWL- Lehrpläne. Und auch später, im Berufsleben, sind die Vertriebsmitarbeiter nicht hauptberuflich mit Fehlerabwicklungen oder Nach- und Aufräumarbeiten konfrontiert, sollten sich solche Risiken realisieren. Diese werden in erster Linie vom Kundendienst, der Qualitätssicherung, der Produktion, der Inkassoabteilung, der Versicherungsabteilung oder, wenn es ganz unerfreulich oder teuer zu werden droht, eben von den Juristen abgewickelt. Womit vielleicht auch schon ein großer Teil der Gründe für die grundsätzlich positive Grundhaltung der Kollegen im Vertrieb erklärt wäre: Sie sind, im Gegensatz zu Juristen, einfach unvorbelasteter; denn sie wissen nichts vom „Katzenkönig“-Fall und anderen Absonderlichkeiten, und sie waren in der Regel auch noch nie zu Besuch in der Gerichtsmedizin. Des weiteren mutmaßen einige Kenner, sie verdienten mehr als ihre Kollegen aus den anderen Bereichen, erhielten hohe Boni, würden mit exotischen Incentives hofiert, feierten wilde Motivations-Partys und sogar ihre Budgetanträge würden vom Vorstand mit

12Von

Hirschhausen (o. Fußn. 2), S. 65.

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leichterer Hand durchgewunken als die der anderen Abteilungen. Dies scheint nicht ganz ausgeschlossen, denkt man einmal darüber nach, dass die Vertriebsprofis ihr besonderes Verkaufstalent außer zur Kundenakquise möglicherweise auch für solche Ziele zweckentfremden könnten. 10 Vertriebsmitarbeiter gehen mithin optimistisch-freudestrahlend durch das Leben, und in dieser Verfassung dann auch auf ihre Verhandlungspartner zu. Sie sind dabei stets auf die gute Stimmung ihres Gegenübers bedacht, geben herzliche, joviale Laute von sich, agieren durchaus auch körperlich (bspw. auf die Schulter klopfend) und gleichen damit der Wesensart des Hundes. Insbesondere die ansteckende Fröhlichkeit und Begeisterungsfähigkeit, welche zu entfalten sie imstande sind, kombiniert mit dem ­positiven Feedback, welches sie regelmäßig geben, weisen eindeutig in das Reich der Caniden und nicht der Felinen.13 Und in der Tat, wie beim Hund scheint auch die Fähigkeit zur Empathie bei den Mitstreitern aus dem Vertrieb tendenziell stärker ausgeprägt zu sein, als dies bei den „Katzen“-Juristen für gewöhnlich der Fall ist (welchen man ja sogar gelegentlich vorwirft, sie hätten Freude daran, mit ihrer Beute zu spielen). Jedenfalls bringen Menschen aus dem Vertrieb ihr Mitgefühl oft offen zum Ausdruck. So bleibt den dortigen Kollegen bspw. nicht lange verborgen, dass Juristen sich im Grunde genommen einen wesentlichen Teil ihrer langen Arbeitszeiten mit Fällen und Aufgaben herumschlagen müssen, die negativ vorbelastet sind – Risiken managen; Konfliktfälle diskutieren, vermeiden, lösen; Schäden verhindern oder minimieren; Rechtsstreite führen; Konkurrenten abmahnen. Was einen unserer Vertriebsmanager einmal zu der mitfühlenden Geste veranlasste, mich zum Gala-Abend seiner Verkaufsorganisation einzuladen und mir sinngemäß dazu zu sagen: „Du hast ja immer nur so negatives Zeugs als Arbeit – da hast Du dann wenigstens auch einmal etwas Schönes.“ Man sieht: Treffend erkannt und einfühlsam nahegebracht. Wer würde da nicht schnurren?

7.1.3 Wenn Vertriebsleute und Juristen aufeinandertreffen 11 Seine extensiv trainierte „Worst-Case-Imaginationsfähigkeit“ setzt der Jurist im Beruf positiv ein. Er braucht diese sogar zwingend für die effektive Wahrnehmung seiner Aufgaben. Schließlich ist es gerade die Funktion und wertschöpfende Leistung des Juristen im Unternehmen, Risiken weit im Vorfeld zu erkennen, mögliche Konfliktpunkte und deren Eintrittswahrscheinlichkeit zu taxieren und auf diese hinzuweisen sowie

13Der

Autor zieht diese Schlüsse auf der Grundlage eigener empirischer Untersuchungen als (neben seiner Ehefrau) ideell hälftigem Miteigentümer eines aus drei Katzen und einem Hund bestehenden Kleintier-Zoos.

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Gegensicherungen für sein Unternehmen einzuziehen; vor allem für möglicherweise existenzgefährdende Szenarien. Sofern es um Verträge geht, versucht der Jurist dazu, im Vertragswerk eine gewisse Bandbreite von zukünftigen Risiken, Unklarheiten und Streitpunkten quasi virtuell „vorwegzunehmen“ und diese bereits im Vorhinein einer einvernehmlichen und beidseitig als fair empfundenen Lösung zuzuführen. Nicht umsonst hat das Wort „Vertrag“ auch etwas mit „sich vertragen“ zu tun, wie mein langjähriger Vorgesetzter14 es einmal ausdrückte. Problem dabei ist, dass man dazu aber erst einmal durchdenken muss, worüber die Parteien sich realistischerweise alles zerstreiten könnten. Denn Bedarf fürs Vertragen besteht nur bei Streitfällen. Und so beschäftigen sich und diskutieren Juristen selbst bei Verhandlungen der schönsten und positivsten Projekte notgedrungen über unangenehme „Was wäre, wenn“-Fälle und -Konstellationen. Dass der Jurist damit im Ergebnis nur Gutes bewirken will, ist dem Vertriebskollegen nun aber leider nur schlecht vermittelbar. Erschwerend kommt hinzu, dass jeder Jurist und Kaufmann mit einkalkulieren muss, 12 dass eines der realistischen Szenarien regelmäßig dasjenige sein dürfte, dass die jetzt noch so freundschaftliche Beziehung mit dem Verhandlungspartner irgendwann, Jahre später, strapaziert oder zerrüttet sein könnte. Und dass das heute noch wohlgesonnene Gegenüber dann der Versuchung erliegen könnte, jede noch so kleine Unklarheit, jede unvollständige Regelung und jede Großzügigkeit im Vertragswerk rücksichtslos zum eigenen Vorteil auszunutzen oder umzuinterpretieren. Also fließt dieses Kalkül – ­routinemäßig, aber unausgesprochen – in alle Überlegungen mit ein und bildet quasi ein „überlagerndes“ Worst-Case-Szenario im Hinterkopf der Juristen auf beiden Seiten des Verhandlungstisches. Und weil in Geschäftsbeziehungen der spätere Zerstreitensfall und das nachfolgende „Vertrags-Zerpflückungsrisiko“ tatsächlich sehr lebensnahe und häufig eintretende Risiken darstellen,15 versuchen die Juristen beider Seiten, den Vertrag möglichst „zerpflückungssicher“ zu machen. Und so gilt: „Bei jedem harmlosen Satz lernt das Juristenhirn alles mit einer Frage im Hinterkopf zu lesen: ‚Wo ist der Haken?‘ Es (…) malt sich die schlimmste Gegenpartei aus, die unter Ausnutzung einer winzigen Lücke im Vertrag etwas ganz Furchtbares macht.“16 Tja, die Juristen sind es ja auch leider, denen man Jahre später, nach drei, fünf oder auch 12 Jahren vorhalten wird, sie hätten bei dieser oder jener Regelung, Klausel oder Formulierung viel härter gegenüber diesem unerträglichen Vertragspartner sein müssen, und alles hätte viel schärfer formuliert werden müssen. An die seinerzeitigen dringenden

14Herr Dr. Ulrich Möllmann, dem ich für die vielen in den Jahren der Zusammenarbeit gewonnenen Einsichten danken möchte, die mit in diese Ausführungen eingeflossen sind. 15Dies belegt die unüberschaubare Anzahl aller Urteile, in denen es meistens um ebendies geht: den Streit zwischen einstigen Vertragspartnern um die Interpretation, Reichweite oder (Un-)Wirksamkeit ihrer Verträge bzw. einzelner Klauseln darin. 16Von Hirschhausen (s. Fn. 2), a. a. O.

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Aufforderungen der Vertriebskollegen und Weisungen des Vorstandes, großzügige Zugeständnisse zu machen, erinnert sich später erstaunlicherweise niemand mehr.17 13 Mit seiner „Denke“ und damit, was er sagt bzw. wie er es sagt, ist in den Augen des Vertriebsmitarbeiters der Jurist gewissermaßen also erst einmal der GAU (Größter Anzunehmender Unfall). Jedenfalls, wenn zu befürchten steht, es könnte gemeinsam mit einem solchen schwarzsehenden Kollegen zu einem Kundenkontakt kommen. Vergegenwärtigen Sie sich immer: In der Vorstellungswelt Ihres Vertriebskollegen ­ können solche Fälle, wie Sie sie ausdiskutieren und regeln wollen, realistischerweise niemals eintreten – völlig unmöglich! Schließlich finden sich doch beide Parteien ­sympathisch und wollen das Geschäft! Selbstverständlich verhält es sich aus Sicht des Juristen im Hinblick auf den Vertriebskollegen ebenso (d. h. GAU), nur unter umgekehrten Vorzeichen: Der Vertriebsmanager – durch und durch auf Optimismus gepolt – will die auf der Hand liegenden Risiken partout nicht sehen, und, gewohnt, die positive Stimmung seines Gegenübers zuoberst auf der Wichtigkeitsskala anzusiedeln, erst recht nicht hören. Schon gar nicht in Anwesenheit des Verhandlungspartners. Und bei dem, was der Vertriebsmanager dem Verhandlungspartner als machbar in Aussicht stellt, wird wiederum dem Juristen ziemlich mulmig in der Magengegend; insbesondere wenn er sich (typischerweise: gut) vorbereitet hat und daher zuvor bei seinen Kollegen in der Produktion, im Controlling und anderswo Informationen über das Machbare bzw. nicht Machbare eingeholt hatte und nun staunend anhören muss, was sein Kollege aus dem Vertrieb dem Kunden gerade alles zusagt. Bzw. zusagen möchte – denn der gute Jurist wirft sich natürlich gerade noch rechtzeitig dazwischen und verhindert das Schlimmste. 14 Womit nebenbei auch schon klargestellt wäre: Sind sich Juristen und Controller in ihrer „Denke“ noch ziemlich ähnlich, ebenso Juristen und Ingenieure, Juristen und Kollegen aus dem Einkauf, der Revision, der Versicherungsabteilung, dem Accounting und, wenn auch nur eingeschränkt (da sprachlich in einen zu speziellen Fachjargon entrückt) Kollegen aus der IT, so stellt die Konstellation „Juristen mit Vertriebskollegen“ – ich rede hier von Vertriebsprofis aus Leidenschaft und mit Herzblut - eine ihrer Natur nach herausfordernde Konstellation dar. Das ist natürlich überspitzt gezeichnet, denn wie wir noch weiter unten sehen werden, sind gerade gute Verkäufer oftmals extrem systematisch, wenn es bspw. darum geht, Abschlusshindernisse aus dem Weg zu räumen. Aber tendenziell sind sie ja gerade so schön anders als Juristen.

17Tipp

dazu: Bei schlechtem Bauchgefühl ein kleines Erinnerungszettelchen fertigen und aus Spaß zehn Jahre später vorlegen, sobald jemand herummosert. Als es in einem Fall dann tatsächlich einmal soweit war – ich hatte das offizielle Sitzungsprotokolls des Gremiums gefunden, welches viele Jahre zuvor gegen den Rat meines Vorgängers entschieden hatte – und jetzt herumgemäkelt wurde, musste ich jedoch zu meiner großen Enttäuschung feststellen, dass alle einstigen Missetäter zwischenzeitlich in den Ruhestand gegangen waren. Ddabei hatte ich mich schon so auf die verdutzten Gesichter gefreut.

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Vergleicht man sein Unternehmen mit einem Restaurant, könnte man die Herausforderung auch anhand folgenden Bildes veranschaulichen: Vertriebsmitarbeiter sind die Kellner. Ihre Aufgabe ist es, den Kunden die Produkte des Hauses schmackhaft zu machen und sie zum Bestellen zu animieren. In erster Linie gehen sie in diesem Stadium nicht davon aus, dass in der Suppe, welche die Küche später liefern wird, womöglich ein Haar entdeckt werden könnte oder dass der Gast mittellos oder gar ein Zechpreller sein könnte. Jedenfalls werden gute Kellner den Gast tendenziell nicht gleich beim Studium der Speisekarte oder Aufgabe seiner Bestellung auf das eventuell mögliche Haar hinweisen oder ihn bitten, vorsorglich den Inhalt seines Portemonnaies zu hinterlegen. Das Haar in der Suppe zu finden, das später einmal Übelkeit verursachen könnte, und dieses lege arte diskret so zu entfernen, dass dem Gast das Essen am Ende nicht wieder hoch- und selbiger vielmehr als Stammkunde wiederkommt, sieht der Vertriebsmitarbeiter primär als die Aufgabe des Juristen an. Wobei Konsens zwischen beiden Gruppen besteht – und das ist glücklicherweise eine gemeinsame Basis, über welche man sich zu einem Team zusammenfinden kann –, dass unentdeckte oder verschwiegene Haare in der Suppe letztlich nicht förderlich für das gemeinsame Geschäft sind. Und der Jurist scheut sich aufgrund seines Selbstverständnisses ja glücklicherweise 15 auch nicht, mit klaren Worten und Taten zu agieren, also quasi mit nackten Fingern in die heiße Suppe hineinzuzeigen, und nötigenfalls auch -zugreifen, um das Haar zu entfernen. Was beim Vertriebskollegen, wenn dies in Anwesenheit des Gastes passiert, blankes Entsetzen auslöst, verständlicherweise. Glücklicherweise gibt es genau deswegen bei besonders wichtigen Vertragsverhandlungen auf beiden Seiten Juristen. Der Gast hat also seinen eigenen Anwalt dabei. Der beruhigt ihn dann, dass es ganz normal sei, dass Sie in die heiße Suppe hineingreifen; und dass er dies jetzt ebenfalls tun werde, damit die Suppe endlich klar und rein serviert werden kann. Am Schluss ist dann allen irgendwie übel. Außer den Juristen.

7.1.4 Einfache Sofortmaßnahmen: Einsicht ist der erste Weg zur Besserung Was kann man kurzfristig unternehmen, um der herausfordernden Kombination „Jurist 16 mit Vertriebskollege“ gerecht zu werden? Zum einen: Machen Sie sich einfach bewusst, dass das für Juristen erforderliche Herangehen an die Dinge aus der „Was könnte schlimmstenfalls passieren?“-Perspektive bei der überwiegenden Mehrheit der Menschen (die den Geldtransporter-Fall, den Katzenkönig-Fall und den Sirius-Fall18 eben nie kennengelernt haben und die daher weiter arglos in positiver Grundstimmung weiterleben dürfen) auf Befremden stößt. Und dass insbesondere Ihre Vertriebskollegen genau umgekehrt ticken, da sie sonst in ihrem Job einfach nicht gut wären. Denken Sie daran,

18S.

oben, Fn. 7 und 8.

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dass, wenn Sie Risiken artikulieren und durchspielen, es aus der Sicht eines Vertriebskollegen so aussehen muss, als griffen Sie in das schöne Essen, welches er dem Gast gerade erfolgreich schmackhaft gemacht hat – mit nackten Fingern und nur, um ein Haar daraus hervorzuziehen. Alles verstehen heißt alles verzeihen. Ein zweiter Punkt ist die besondere Fähigkeit von Juristen, die Dinge zu analysieren, zu sezieren, zu differenzieren, sprachlich klar zu präzisieren und ungeschönt auf den Punkt zu bringen, zuzuspitzen und gelegentlich auch verbal zu polarisieren. In der Tat: „Mit Worten läßt sich trefflich streiten, mit Worten ein System bereiten, an Worte läßt sich trefflich glauben, von einem Wort läßt sich kein Iota rauben.“19 Das Fachvokabular der Juristen ist, wie jedes andere Berufsvokabular auch, vom Bestreben nach Effizienz geprägt. Erschwerend kommt bei der Juristerei aber hinzu, dass ein Dritter, nämlich der Gesetzgeber, die Begrifflichkeiten oftmals vorgegeben hat – und dieses Vokabular wirkt auf Außenstehende technokratisch und feindselig. Worte wie „Vertragsverletzung“, „Schaden“, „Haftung“, Verschulden“, „grobe Fahrlässigkeit“ und einige mehr gehen dem juristischen Berufsträger leicht von den Lippen und er nutzt sie tagtäglich. Bereits für den Normalmenschen klingen diese Worte aber ziemlich hässlich. Deshalb sollten Sie sich bewusst machen, wie böse dieses Vokabular erst in den Ohren eines vollkommen auf Optimismus gepolten Vertriebsmitarbeiters klingen muss! Versuchen Sie also, Ihre Anliegen und Botschaften zumindest etwas freundlicher einzukleiden und sich etwas „netter“ auszudrücken, wenn Kollegen aus dem Vertrieb anwesend sind. Sie können (und sollen) durchaus nach wie vor auf das Haar in der Suppe hinweisen, und auch hineingreifen und es entfernen – aber anstatt mit nackten Fingern vielleicht besser mit einer Pinzette. Am besten mit einer versilberten. 17 Drittens: Ein chinesisches Sprichwort lautet: Wer nicht miteinander redet, wird einander fremd. Reden Sie also miteinander. Nicht übereinander. Warum z. B. nicht einmal einen Vertriebskollegen um Rat fragen, wie Sie mit einer bestimmten Verhandlungssituation taktisch umgehen sollten? Oder sich Verkaufstipps abholen, wie Sie Ihr nächstes Budget beim Vorstand durchbekommen? Oder noch besser, Ihre nächste Gehaltserhöhung. Und warum nicht einmal gar so weit gehen, zur Weihnachtsfeier der Rechtsabteilung einige Vertriebskollegen einzuladen? Was natürlich in umgekehrter Richtung genauso gilt.

7.2 Vom Vertriebsprofi lernen heißt siegen lernen 18 Nochmals: Die Konstellation Rechtsmanager mit Vertriebsmanager kann Spaß machen. Ja, es geht: Katz und Hund können wunderbar zusammen spielen! Juristen und Vertriebsleute bilden insbesondere bei Vertragsverhandlungen zusammen ein nahezu unschlagbares Team, weil sie sich gerade zusammen in ihrer Gegensätzlichkeit perfekt

19Goethe,

Johann Wolfgang von: Faust, Der Tragödie erster Teil, Studierzimmer, Vers 1997 ff.

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ergänzen: Was der Jurist an kritisch-distanzierten Analysebeiträgen einbringen und unter Risikogesichtspunkten hinterfragen oder anzweifeln muss, kann der Vertriebskollege in geschickter Weise einleiten, in emotional positive Kontexte einkleiden und so die Ausbalancierung auf der Beziehungsebene sicherstellen. Vertriebsprofis sind talentiert darin, die Befindlichkeiten ihres Gegenübers zu erspüren und die atmosphärische Seite einer Verhandlung im grünen Bereich zu halten. Sie zögern dabei keinesfalls, festgefahrene Situationen auch einmal durch einen locker-flockigen Spruch oder einen spontan angebrachten Witz aufzulösen.20 Auf diese Weise können Sie und Ihr Vertriebskollege sich gegenseitig gekonnt die Bälle zuspielen und gemeinsam zum Erfolg dribbeln. Enorm viel können Sie lernen, wenn Sie sich einmal die Zeit nehmen und Vertriebskollegen bei Kundenbesuchen begleiten, beim Verkaufen im Feld. Einfach nur (bspw. unter dem Vorzeichen „Trainee“ oder „Qualitätskontrolleur“) mitgehen, die Augen und die Ohren spitzen, genau zuhören und intensiv beobachten, wie der Vertriebsprofi mit den Kunden interagiert. Ich kann Ihnen versprechen: Einige Tage mit einem Spitzenverkäufer im Außendienst unterwegs, und Sie können sich gut und gerne drei teure Seminare über Verhandlungstechnik ersparen. Wenn Sie mit ihm im Nachgang dann noch die jeweiligen Situationen rekapitulieren 19 (Warum hat er an dieser oder jener Stelle nicht weiter nachgehakt? Woran erkannte er, dass genau jetzt Abschlussbereitschaft besteht?), werden Sie auch feststellen, dass Vertriebsleute keineswegs weniger analytisch an Dinge herangehen als Sie selbst. Letztlich ist Verkaufen ein Handwerk, das erlernt sein will, und das hohe Anforderungen an diejenigen stellt, die es professionell ausüben. Selbstverständlich befassen Vertriebsleute sich daher auch mit den Grundlagen ihres Fachs. Fragen Sie sie ruhig einmal nach ihren Empfehlungen für Literatur über Verkaufs- und Verhandlungstechniken. Insbesondere zum Thema Verkaufspsychologie gibt es interessant geschriebene Werke populärwissenschaftlichen Einschlags,21 aus denen der Jurist unmittelbar Rat und Nutzen für seine eigene Arbeit ziehen kann; sei es, dass er die daraus gewonnenen Erkenntnisse einsetzt, um seinen nächsten M & A-Deal noch kunstvoller zu verhandeln, im Zuge der nächsten Mediation noch nachhaltiger zu schlichten, oder seinen Vorstand endlich von der notwendigen Vervierfachung des Budget für seine Rechtsabteilung zu überzeugen. Wenn Sie die Möglichkeit haben, wiederholen Sie Ihre Außendienst-Hospitation auch einmal bei einem Vertriebskollegen im Ausland. Und zwar in einem Land, dessen Landessprache Sie nicht verstehen.22 So werden Sie gezwungen (oder sollte man besser sagen: Ihnen wird ermöglicht), Ihre Beobachtung über Stunden hinweg vollständig auf die non-verbalen Signale der Verhandelnden zu konzentrieren. Sie werden überrascht sein festzustellen, wie präzise und treffsicher Sie allein anhand der Mimik, der Gestik

20Nirgends 21Bspw.

bekommt man so viele (und gute) Witze zu hören wie im Vertrieb. Cialdini, Robert B.: Die Psychologie des Überzeugens. 8. Auflage, Bern: Verlag Hogrefe

2017. 22Es muss nicht unbedingt China sein; Regionen mit starkem Dialekt tun es auch.

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und der Tonlage der Verhandelnden ablesen können, ob und ab wann bei einem Kunden ein grundsätzliches Interesse am Geschäft geweckt ist, an welchen Stellen exakt der Kunde zögert und wie stark, ob er gerne kaufen würde, aber nicht kann, oder ob er vielleicht könnte, aber nicht möchte, wie der Verkäufer darauf eingeht, und wann genau der Kunde abschlussbereit ist oder aber wann der Punkt gekommen ist, wo es definitiv nicht mehr zum Geschäft kommen wird. 20 Als Jurist kann man sich somit von den Kollegen aus dem Vertrieb wertvolles Knowhow abschauen, wie man zum erfolgreichen Abschluss eines Vertrages gelangt: Die Aufmerksamkeit, mit der ein guter Verkäufer kontinuierlich Gestik, Mimik und Stimmlage des Kunden registriert, wie er die Stimmung seines Verhandlungspartners erspürt, wie er immer wieder eine positive Atmosphäre herstellt, ohne dabei das Ziel aus den Augen zu verlieren; wie er geschickt mit Einwänden umgeht und systematisch Abschlusshindernisse aus dem Weg räumt, und wie er dann schließlich, in der richtigen Situation, den „Sack zumacht“. Vertriebsprofis haben eine „Antenne“ für das, was den anderen emotional bewegt und verstehen es, darauf einzugehen. Davon haben (oder zeigen) wir Juristen tendenziell möglicherweise zu wenig, und diese „soft capability“ auszubauen, ist lohnenswert. So gelang es bspw. einmal, eine jahrelang sich zäh hinziehende und schließlich feststeckende Verhandlung mit einem wichtigen Geschäftspartner, die bis dahin in der Konstellation CFO + General Counsel geführt worden war, in der geänderten Konstellation Vertriebsmanager + General Counsel in kürzester Zeit erfolgreich abzuschließen. Die ursprünglichen Verhandlungsrunden waren schlicht zu technisch-kaufmännisch und zahlenorientiert ausgefallen. Unserem Vertriebsmanager hingegen gelang es, unseren Verhandlungspartner auf der emotionalen Ebene „abzuholen“. Unter anderem besuchte er ihn im Krankenhaus, um ihm nach einer Operation persönlich gute Besserung zu wünschen.Man sieht also, was Empathie, gepaart mit etwas Unkonventionalität, an Positivem bewirken kann. Der Vollständigkeit und Ehrenrettung für alle CFOs halber sei erwähnt, dass unser Vertriebsmanager dann allerdings auch beim Preis etwas großzügiger verfuhr als ursprünglich geplant. 21 Ich kann also nur raten: Lernen Sie, wie Vertriebsmitarbeiter denken und handeln. Schauen Sie sich sodann ein bisschen davon ab. Etwas mehr Lockerheit kann in gewissen Konstellationen durchaus angebracht und erfolgsfördernd sein. Sie brauchen ja nicht so weit mitzugehen, dass Sie beim nächsten geplanten Großgeschäft in den USA jovial auf schriftliche Verträge verzichten und sich mit einem Handschlag begnügen (was ein ehemaliger Vertriebsmanager vor Jahren tatsächlich einmal glaubhaft angekündigt hatte, ehe ihn die Juristen noch rechtzeitig einfingen). Aber Sie könnten die Schnapsidee mit dem Handschlag ja unkonventionell parieren. Durchbrechen Sie die Stereotypen, die man mit Ihnen als Jurist verbindet und überraschen Sie Ihre Vertriebskollegen ­positiv! Reagieren Sie auf die Idee nicht sarkastisch. Sagen Sie auch nicht einfach „nein“. ­Entgegnen Sie im Beispielsfall stattdessen beispielsweise in Versform: „Willst Du mit

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­ riffel, Meißel, Feder schreiben? Ich gebe jede Wahl dir frei. Ist doch ein jedes Blättchen G gut. Du unterzeichnest Dich mit einem Tröpfchen Blut.“23

7.3 Sprechen Sie nicht in Rätseln – sprechen Sie in Bildern! Versuchen Sie auch, möglichst anschaulich und bildhaft zu sprechen. Sie sind (höchst- 22 wahrscheinlich) Jurist: Sie leben somit von und durch die Sprache! Schöpfen Sie daher Ihre Möglichkeiten aus. Vor allem wenn Sie mündlich kommunizieren und etwas Kompliziertes erklären müssen, sollten Sie technokratische Sprache und „legal speak“ vermeiden und es einmal mit Bildern versuchen. „But wise men pierce this rotten diction and fasten words again to visible things (…). The moment our discourse rises above the ground line of familiar facts and is inflamed with passion or exalted by thought, it clothes itself in images.“24 Kraftvolle Bilder sind auch gut, um Gefolgschaft zu erzeugen25 und so dabei zu helfen, dass man sich leichter Ihren Ideen und Vorschlägen anschließt. Sagen Sie also bspw. nicht: „Die unterscheidungskräftigen Elemente des Wettbewerberproduktes sind nicht etwa im Radwerk und dem Umstand zu suchen, dass jenes eine Motorhaube aufweist; die Unterscheidungskraft ergibt sich vielmehr aus gänzlich anderen Elementen. Daraus folgt, dass für die betroffenen Verkehrskreise eine Verwechslungsgefahr zwischen dem Wettbewerbsprodukt und unserem zu verneinen ist.“ Erklären Sie es Ihren Vertriebskollegen lieber schön anschaulich und griffig: „Bloß weil dieser Konkurrenz-Trabi da drüben auch vier Räder und ’ne Motorhaube hat, verwechselt den noch lang kein Kunde mit unserem Ferrari.“ Und wenn das nicht reicht, fügen Sie noch hinzu: „Einen Pekinesen verwechselt ja auch niemand mit einer Dogge, nur weil beide vier Beine und eine Schnauze haben.“ Oder wenn Sie einem Vertriebskollegen vertragliche Eckpunkte eines Unternehmens- 23 verkaufes erklären möchten, sagen Sie nicht einfach: „Beim Closing muss das Target cash & debt free sein.“ Das können Sie bei Ihren Investmentbankern und Kollegen aus der Finanzabteilung, Steuerabteilung, Konsolidierung oder Revision tun. Erläutern Sie es aber für alle anderen zusätzlich mit einem Bild, bspw.: „Bevor wir dem Käufer Zündschlüssel und Fahrzeugbrief übergeben, nehmen wir vorher noch die Goldbarren aus dem Kofferraum. Leider müssen wir auch die Schuldscheine mitnehmen.“.

23Leicht

abgewandelt nach Goethe (s.Fn. 18), Vers 1732 ff. Ralph Waldo (hrsg. von Larzer, Ziff): Selected Essays, Nature 1836. New York: Penguin Books 1982, S. 51. 25S. dazu bspw. die eindrucksvollen Ausführungen (auch zu den schädlichen Seiten) vom Vordenker der Massenpsychologie, Gustave Le Bon, in seinem erstmals 1895 veröffentlichten Werk „Psychologie der Massen“, worin er sich auch mit der Bedeutung und Wirkung kraftvoller Bilder auf die Massen befasst: Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen. 15 Auflage, Stuttgart: Kröner 1982. 24Emerson,

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Einmal wurde der Leiter der Patentabteilung von seinem Vorgesetzten mit einem interessanten Bild konfrontiert: Wenn er Produktpiraten verfolge, dann solle er sich vorstellen, es nicht so zu machen als sei er ein Lkw-Fahrer, der von A nach B fahre, sondern er solle einmal versuchen, es mehr so zu machen als sei er ein Kampfjet-Pilot. Das Problem des Kollegen war allerdings, dass ihm sein Board nur ein äußerst geringes Budget für die Verfolgung von Fällen zugestanden hatte, welches nicht annähernd ausreichte, um in der gewünschten Weise zu agieren. Gemeinsam entwickelten wir dann folgendes Gegenbild, um seinem Board genauso plastisch die Zwickmühle deutlich zu machen (und auch den unschönen Eindruck zu beseitigen, der Kollege zockele behäbig als Brummifahrer durch die Gefilde der Rechtsverletzer): „Kampfpilot an Tower. Sitze im Cockpit. Bereit zum Abheben. Bereit zur Vernichtung der Piraten. Startknopf gedrückt. Tower, hey, wieso passiert nichts? Tankanzeige zeigt Null an! Was ist das?“ Darauf Tower an Kampfpilot: „Sorry, Geld für Kerosin leider gestrichen.“ Kampfpilot an Tower: „Hey, was ist das? Jetzt sind auch noch beide Flügel abgefallen! Moment mal, das sind ja… (vernehmbares Fluchen aus Cockpit)…Papp-Attrappen!“ Letzte Meldung aus Tower (kleinlaut): „Die Controller meinten, das müsste auch so gehen.“ 24 Überhaupt: Bilder. Wenn Sie die Möglichkeit haben, zeigen Sie auch reale Bilder bzw. bringen Sie reale Schaustücke mit. Wenn Sie also über einen Patentverletzungs-Fall diskutieren, sorgen Sie dafür, dass bei der Besprechung die Geräte physisch auf dem Tisch stehen. Patentschriften sind ja schön und gut, aber ohnehin schon kompliziert genug. Und wenn es um sprachliche Beschreibungen geht, sollten Sie stets folgendes im Hinterkopf behalten: Menschen sind tendenziell wesentlich besser im Sehen oder Zuschauen als im Lesen von Worten oder im Zuhören auf Worte. Das hängt damit zusammen, dass wir im Zuge der Evolution erst seit relativer kurzer Zeit zur Wortsprache gekommen sind. Sehen kann die Gattung der Hominiden bereits seit ihr erster Vertreter, der Sahelanthropus tschadensis, vor rund 7 Mio. Jahren durch die Weiten Nordafrikas streifte. Und zwar konnte er unbestreitbar sehen, wie die Augenhöhlen des im Tschad gefundenen Schädels eindrucksvoll belegen. Die Fähigkeit zur Wortsprache hingegen besitzen wir erst seit relativ kurzer Zeit, nämlich Schätzungen zufolge erst seit weniger als 200.000 Jahren. Erst ungefähr zu diesem Zeitpunkt verbreitete sich, beim Homo sapiens, die heutige Version des sog. Sprachgens FOXP2.26 Jetzt verstehen Sie übrigens auch besser, warum Ihr Vorstand nach spätestens 20 min mündlichen Vortrages sanft entschlummert (bei juristischem: nach zehn). Bauen Sie also immer ein paar Bilder ein! Ich bin überzeugt davon, dass die weltweite Liebe zu Power Point-Präsentationen letztlich auch mit diesem evolutionsbiologischen Umstand zu tun hat; vom Fernsehen ganz zu schweigen. Sehen ist dem Menschen einfach in die Wiege gelegt, Zuhören dagegen nicht.

26Enard,

Wolfgang/ Przeworski, Molly, et al. Molecular evolution of FOXP2, a gene involved in speech and language. Nature 418, 869 ff. (14. August 2002). S. auch Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V., Pressemitteilung vom 14.8.2002.

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Juristen, die ihre Inhalte auch für Laien – und dazu zählen Ihre Vertriebskollegen – 25 gut auf den Punkt bringen und „Klartext“ sprechen und schreiben können, setzen sich am Ende durch. Umso dringender lautet der Appell: Versuchen Sie, sich klar auszudrücken. Hierzu gibt es sehr gute Literatur und Anleitungen, darunter auch eigene Sprachratgeber speziell für Juristen.27

7.4 Seien Sie leidenschaftlich Every great and commanding moment in the annals of the world is the triumph of some 26 enthusiasm.“28 Zeigen Sie Ihren Gesprächspartnern, dass Sie kein staubtrockener, unemotionaler Bürokrat sind, für den man Sie als Juristen zwangsläufig erst einmal halten wird. Bringen Sie Ihren Vertriebskollegen gegenüber vielmehr zum Ausdruck, wenn Sie bei bestimmten Dingen ihre Sorgen teilen. Freuen Sie sich auch einmal ausgelassen mit ihnen. Emotionalität und Leidenschaft sind unterschätzte Mittel im Werkzeugkasten des Juristen. Wie sehr Sie dabei „aus sich herausgehen“ können, ist vom Einzelfall abhängig und 27 hängt natürlich maßgeblich von der Kultur im jeweiligen Unternehmen ab: Herrschen eher ein freundschaftlich-kumpelhafter Umgangston oder eher sachlich-distanzierte Umgangsformen vor? Für die Vertriebsunternehmen, in die ich Einblick hatte, gilt klar: Ersteres. „We are in the people business“ ist dabei ein oft gehörter Leitspruch. Im Vertrieb werden Menschen stark motiviert, im Zweifel auch überdurchschnittlich häufig gelobt und prämiert. Wenn auf großen Vertriebsfeiern die besten Verkäufer mit Ehrungen ausgezeichnet werden, ist dies in der Tat eine emotional bewegende Sache. Womöglich mehr als anderswo erlebt man in stark vertriebsgeprägten Unternehmen emotionale Wertschätzung. Dies gilt zumindest für Familienunternehmen mit Vertriebsbezug und da, wo große Außendienstmannschaften das Standbein eines Unternehmens bilden. Letztlich wird die dortige Kultur geprägt durch die Fokussierung auf die Kunden und die Zufriedenstellung der Kunden. Dies spiegelt sich dann auch im „Innenverhältnis“ wieder. Was natürlich nicht darüber hinwegtäuschen soll, dass letztlich, wie überall, die Leistung zählt, und auch hier niemandem etwas in den Schoß fällt. Dennoch: Der menschliche Umgangston ist nicht zu verkennen. Wenden Sie sich neben den Menschen auch den Inhalten, einschließlich der spezifischen Fachgebiete (wie bspw. dem Vertriebsrecht, dem Vertriebskartellrecht und dem Recht der selbständigen Vertriebsmittler) mit Interesse und Leidenschaft zu. Wie auf

27Sehr empfehlenswert, mit vielen anschaulichen Beispielen: Engelken, Eva: Klartext für Anwälte. 1. Auflage, Wien: Linde Verlag 2010. 28Emerson, Selected Essays, a. a. O. (Fn. 23), Man The Reformer, S. 144.

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allen Gebieten gilt auch dort: Durch Leidenschaft werden Sie stets besser. Die Bereitschaft, sich tiefes Wissen anzueignen, Hartnäckigkeit, und Ausdauer sind wesentliche Elemente des Erfolges.29

7.5 Seien Sie kreativ 28 Kreativität ist gerade für den gestaltenden Juristen im Unternehmen unerlässlich. Denn die Herausforderung lautet: „Wenn sie nicht aus Gummi wären, könnten Handel und Wirtschaft niemals die Hindernisse überspringen, welche die Gesetzgeber ihnen unaufhörlich in den Weg legen.“30 Zu subsumieren haben wir alle im Studium gelernt. Im Unternehmen geht es um mehr, nämlich darum, die Geschäftsaktivitäten unter juristischen und wirtschaftlichen Aspekten möglichst optimal abzusichern und zukunftsfähig auszugestalten; ich nenne Letzteres manchmal auch gerne: „designen“. Oft werden Ihre Ansprechpartner dabei erwarten, dass Sie das Unmögliche möglich machen: Kaum ein Jurist, der nicht schon einmal den Spruch zu hören bekommen hätte „Ich will nicht wissen, was nicht geht; ich will wissen, was geht.“ Dafür kreativ vorhandene Gestaltungsmöglichkeiten zu nutzen oder neuartige Alternativen oder Kombinationen zu finden oder weiterzuentwickeln, ist die Aufgabe. Selbstredend ist, dass dabei mit „kreativ“ nicht gemeint ist, dass Sie mit Ihren Lösungen den Bereich der Legalität verlassen sollten. Denn dann müssen Sie sich irgendwann nach einem, seinerseits kreativen, Strafverteidiger umsehen. Sie sollten eben aber in ihren Ideen geistig so beweglich sein wie besagtes Gummimännchen, um die Hindernisse überspringen zu können. 29 Das Netz staatlicher Reglementierung schnürt sich nämlich tatsächlich in immer engeren Maschen um die Handlungsfreiräume der Unternehmen und auch der Bürger. Neben den Kommunalparlamenten, den Landtagen und dem Bundesgesetzgeber produzieren auch die 31 Generaldirektionen der EU-Kommission einen stetigen Strom neuer Gesetzesvorschläge, der realistischerweise niemals wieder abreißen wird. Es wäre wahrscheinlich auch zu viel verlangt, von einer Behörde mit Gesetzesinitiativrecht das Eingeständnis zu erwarten, ein bestimmter Sachverhalt, der ihre Hauptzuständigkeit ausmacht, sei nunmehr im Großen und Ganzen befriedigend durchreguliert. Bekanntlich sägt niemand an dem Ast, auf dem er selbst sitzt. „Die fortwährende Schaffung von Gesetzen und Beschränkungsmaßnahmen, die die unbedeutendsten Lebensäußerungen mit byzantinischen Förmlichkeiten umgeben, hat das verhängnisvolle Ergebnis, den

29Über

die überragende Bedeutung von zeitlichem Einsatz, um in einem Gebiet außerordentlich erfolgreich zu sein, siehe auch: Gladwell, Malcolm: Überflieger. Warum manche Menschen erfolgreich sind – und andere nicht. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2009, insbes. S. 215 ff. 30Thoreau, Henry David: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays. Zürich: Diogenes Verlag 1967, 1973, S. 8.

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Bereich, in dem sich der Bürger frei bewegen kann, immer mehr einzuengen.“31 Manchmal wünscht man es sich da wie in Gullivers Reisen: „Kein Gesetz jenes Landes darf an Wörtern die Zahl der Buchstaben ihres Alphabets übersteigen (….)“.32 Da dies aber immer Wunschdenken bleiben wird, müssen Sie selbst etwas unternehmen. Noch ist ja etwas Gestaltungsfreiraum gegeben. Und den sollte man klar nutzen. Das fordert schon das gesunde Demokratie- und Freiheitsverständnis, insbesondere wenn es um das Zivilrecht geht. Dabei ist im Vorteil, wer kreativ denken kann. In der Juristenausbildung wird das leider nicht trainiert. Im Gegenteil, dort wird gerade das Denken in Mustern und Kästchen geübt, das Einordnen in vorgegebene Schubladen, Regeln, Ausnahmen. Alles extrem systematisch und strukturiert. Kreativität ist nun geradezu das Gegenteil davon, nämlich außerhalb der ausgetretenen Denk- und Subsumtionspfade zu denken, überraschende und neuartige Lösungen zu finden. Kann man aber Kreativität überhaupt lernen? Egal, wie es sei: In jedem Fall kann man – jedermann – sich einige Techniken aneignen, die dabei helfen, „outside the box“ zu denken, also außerhalb der eingelernten Denkschemata zu suchen und zu hinterfragen, was normalerweise als gegeben und als Allgemeingut akzeptiert wird. Befassen Sie sich ruhig einmal mit solchen Techniken. Neben konkretem Output kann insbesondere der Spaßfaktor allein schon die Mühe wert sein, sich das einmal näher anzusehen. Fangen Sie auch nicht unbedingt mit juristischen Problemlösungen an, sondern mit irgendeinem anderen Gebiet, das Ihnen Spaß macht, bspw. Technik, Soziales, Umwelt. Die „Denke“ bzw. Techniken, die Sie dabei einüben, können Sie dann auf beliebigen anderen Gebieten anwenden, eben auch bei der Juristerei. So kann bspw. ein „Tool“ im Baukasten des kreativen Denkens sein, die Frage 30 zu stellen, wo ein vergleichbares Problem in einem anderen Bereich existiert – und wie man es dort löst. Bspw.: Mindestens 50 Mio. erwachsene Deutsche quälen sich tagtäglich mit dem Trockenwischen der Glaswände ihrer Dusche, zum Teil unter gesundheitsgefährdenden Verrenkungen. Wie bekommt nun bspw. der Inhaber einer Autowaschanlage die nasse Frontscheibe der Autos trocken? Mit einem hydraulisch aufgehängten Gebläse, das einen scharfen Luftstrahl eng auf und ab an der Scheibe entlangführt. Das wäre dann auch eine denkbare Lösung für das Duschproblem, mit einem von der Zimmerdecke herabfahrenden Gebläsekranz. Man möge mir diese Lösungsidee verzeihen, aber ich bin kein Techniker; vermutlich wird es dabei dann einige Probleme mit der elektrischen Sicherheit und der Druckluftversorgung im Durchschnitts-Badezimmer geben; aber für einen Neubau doch durchaus einmal überlegenswert? Als kostenbewusster Unternehmensjurist müssen Sie jetzt natürlich auch noch die Wirtschaftlichkeitskalkulation machen. Dann werden Sie vieleicht zum Ergebnis kommen, dass im Benchmarking gegen die Kosten der Putzfrau für die ca. 1-minütige

31Le

Bon, a. a. O., (Fn. 24) S. 150. Jonathan: Gullivers Reisen. 1. Auflage Frankfurt am Main: Insel Verlag 1974. Siebentes Kapitel, S. 192. 32Swift,

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Arbeitshandlung die technische Erfindung sich erst nach 43,9 Jahren amortisiert, also mangels Erreichen der zu erwartenden Lebensdauer des Gerätes die Putzfrau doch vorzugswürdig ist. Ich wollte Ihnen aber ja auch nur einen Eindruck vermitteln, wie man mit einer bestimmten Technik kreative neue Ideen generieren kann. Immer geht es bei diesen Techniken darum, „Routine“-Denken zu durchbrechen. Eine weitere Technik, solches „outside the box“-Denken zu üben, ist bspw., sich mit absolut irrealen, „Was wäre, wenn“-Szenarien zu befassen und seiner Phantasie dabei freien Lauf zu lassen, sich diese in Einzelheiten auszumalen und zu durchdenken – das sogenannte „what-iffing“.33 Bspw.: „Was wäre, wenn das Leben aller Menschen rückwärts liefe?“ Dann kämen Sie bspw. nach einer großen Lobrede der Trauergemeinde (würde die dann überhaupt noch trauern?) zur Welt, starteten Sie mit einer bequemen Rente und einem abbezahlten Haus, würden jünger, um dann im Unternehmen als Vorstands-Chef, sorry, weltweiter General Counsel anzufangen, stiegen dann auf der Karriereleiter immer weiter ab, in immer stressfreiere Positionen mit immer weniger Verantwortung und würden dabei immer jünger. Dann überreichte man Ihnen Ihr bestandenes Staatsexamen, es folgen Studium, Abitur, Schulzeit, Einschulung, Kindergarten, und Sie würden immer unbeschwerter. Interessantes Szenario, oder? 31 Wenn Sie sich Anregungen für diese und weitere Techniken zum kreative Denken holen möchten: Es gibt dazu zahlreiche Literatur.34 Das Denken innerhalb von Rastern und auf Basis konventioneller Annahmen öfter einmal zu durchbrechen, ist auch deshalb sinnvoll, weil konventionelle Annahmen oftmals grundsätzlich unzutreffend sein und uns daher absolut in die Irre führen können. Dies gilt z. B. insbesondere, was Ursache-Wirkungszusammenhänge anbelangt. Schöne Beispiele dafür sind sehr anschaulich im Buch „Freakonomics“ des Wirtschaftswissenschaftlers Steven D. Levitt illustriert.35 So, wenn er bspw. kolportiert, wie anhand von Aufzeichnungen eines Drogendealer-Chefs in Chicago betriebswirtschaftlich nachgerechnet wurde, dass der einfache „Fußsoldat“ in einer Drogendealer-Bande nur auf einen Stundenlohn von 3,30 US-$ kommt. Also mitnichten ein Einkommen erzielt, das als glamourös anzusehen wäre, und schon gar keines, für das die Lebensgefahr zwischen den rivalisierenden Gangs hinzunehmen logisch wäre. Dass Menschen ihre Entscheidungen letztlich nicht wirtschaftlich rational treffen, jedoch in gewissen Grenzen die Richtung und das Ausmaß der Abweichung von dem eines perfekten „hominus oeconomicus“ recht genau

33An dieser Stelle bitte nicht zu verwechseln mit der „Worst case Scenario“-Denke, die Sie ­ohnehin schon beherrschen. 34Besonders anregend bspw.: Von Oech, Roger: A Whack on the Side of the Head – How you can be more creative. New York: Warner Books 1998. 35Levitt, Steven D. und Dubner, Stephen J.: Freakonomics. London: Penguins Books 2006.

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vorhersagbar sind, ist spätestens seit dem Aufkommen der wirtschaftswissenschaftlichen „Behavioural Economics“ bekannt.36 Mehr als Unterstützungsmittel würde ich Dinge wie Mind Mapping ansehen, also das Festhalten der Ideen, Verknüpfungen und Unterthemen in Form einer baumartigen Struktur. Diese Struktur erleichtert das freie Assoziieren (Brainstorming). Es gibt übrigens auch Mind-Mapping-Software, die den Vorteil hat, dass Sie nicht an den Grenzen des Papiers Ihres Flip Chart stoppen müssen, sondern die beschriebene Baumstruktur beliebig ausdehnen können, und am Ende konvertiert die Software Ihre Punkte auch noch in eine saubere Gliederung mit Ober- und Unterpunkten.37 Für Brainstormings empfiehlt es sich nach meiner Erfahrung wiederum, ganz gezielt eine heterogene Gruppe zusammenzubringen. Durch die verschiedenen Perspektiven kommen erstaunliche Ideen ins Spiel. Also zu einem juristischen Problem ruhig auch einmal jemanden aus der unbeteiligten Ingenieursabteilung dazuholen – und einen Vertriebskollegen natürlich auch.

7.6 Internationalität – Eignen Sie sich interkulturelle Kompetenz an Kulturelle Unterschiede zu erkennen und zu lernen, adäquat mit ihnen umzugehen, ist 32 eine der Kernkompetenzen, um in einem internationalen Umfeld erfolgreich zu sein. Befassen Sie sich besonders intensiv mit diesem Thema und entwickeln Sie ein Verständnis für die enorme Wichtigkeit, interkulturell kompetent zu agieren. Es ist ein hochinteressantes Gebiet, spannend, vielschichtig und von viel größerer Bedeutung für Ihre Arbeit, als Sie es anfangs vielleicht einschätzen würden. Denn die Unterschiede im Umgang miteinander, wie man sich „verhält“ und wie man sich keinesfalls verhalten darf, was sozial und gesellschaftlich als akzeptabel gilt und was als absolut indiskutabel, wodurch man sich im Ansehen anderer Menschen etabliert und wodurch man sich diskreditiert oder andere das Gesicht verlieren läßt, das variiert in ganz extremen ­Bandbreiten. Das „ganz normale“ eigene Verhalten kann in einem anderen Kulturkreis von den dortigen Menschen, sei es im privaten, beruflichen oder öffentlichen Umfeld, überraschend nicht mehr gelten und im Gegenteil, als gänzlich unnormal, schädlich, unangemessen, verrückt oder beleidigend angesehen werden – und man erleidet plötzlich buchstäblich einen „Kultur-Schock“. Mit den Unterschieden meine ich dabei nicht die Phänomene an der Oberfläche, wie z. B. die Frage, ob denn nun die Visitenkarte in China mit zwei Händen zu überreichen und entgegenzunehmen sei oder ähnliche Anstandsregeln, wie sie in

36Lehrreich und unterhaltsam dazu bspw. Ariely, Dan: Predictably Irrational. London: HarperCollins 2008. 37Bspw. MindManager für Windows.

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jedem besseren Reiseführer nachzulesen sind. Das sind nur Phänomene an der sichtbaren Oberfläche und sich auf sie zu konzentrieren hieße, einen Tunnelblick auf den obersten Zipfel des Eisbergs zu richten. Nein, Sie sollten sich dringend damit befassen, Ihr Echolot auf die riesige Masse darunter zu richten welche schwer, mächtig und kollisionsträchtig unter der Oberfläche dahin dümpelt. Und Sie sollten versuchen auszuloten, wie ungefähr dieser Eisberg beschaffen ist und wohin er driftet, ob Sie beide sich in dieselbe Richtung bewegen oder ob Sie gerade dabei sind, frontal auf eine Kollision zuzusteuern (bei welcher Sie immer den Kürzeren ziehen werden). Denn die Unterschiede gehen in der Tat viel tiefer, und sie sind für denjenigen, der in einer Kultur fremd ist, zu einem großen Teil unsichtbar. 33 Wer die Unterschiede als interessante Folklore fehleinschätzt, es „putzig“ findet, wie die anderen sich so verhalten und denkt, mit seinem offen-demokratischen Wesen werde er schon überall zurechtkommen, der hat sich gewaltig geschnitten. Es geht dort um tief in der jeweiligen Kultur verankerte, grundsätzliche Werteausrichtungen, die das gesamte Verhalten der Menschen maßgeblich prägen können. Von Land zu Land und Kulturkreis zu Kulturkreis wird z. B. völlig unterschiedlich mit Autorität und Macht umgegangen; und abhängig davon dann auch, wie miteinander kommuniziert wird, wer überhaupt miteinander kommunizieren darf, wer und was akzeptiert wird, und wer oder welches Verhalten zutiefst abgelehnt wird. Wenn Sie sich intensiver mit diesem Thema befassen, neben Literatur38 idealerweise in Form praktischer Seminare, werden Sie ein besseres Gespür für das Ausmaß der möglichen Missverständnisse und des Risikos entwickeln, unbeabsichtigt Porzellan zu zerschlagen. Umgekehrt – und darum geht es – lernen Sie das enorme Potenzial kennen, wie ebendies vermieden werden kann und Sie Ihr Verhalten und Ihre Kommunikation besser auf die Besonderheiten des Ziellandes und auf das spezifische kulturelle „mindset“ Ihres Gegenübers ausrichten können. Damit Sie besser verstehen, wie der andere möglicherweise „tickt“ und warum er sich so „komisch“ verhält und damit Sie sich nicht vielleicht in seinen Augen „komisch“ verhalten. Sie werden es in diesem Bemühen zwar nie zur Meisterschaft bringen, sondern gegenüber jeder fremden Kultur immer eine Art Legastheniker bleiben (mehr schafft nur, wer über Jahre und Jahrzehnte hinweg mitten in einer Kultur lebt); aber es ist ja schon einmal ein guter Anfang, wenn Sie nicht mehr völlig ungewollt jedermann schwer vor den Kopf stoßen. 34 Richtungsweisend auf dem Gebiet sind die Untersuchungen der beiden Wissenschaftler Hofstede39, die sich mehrere Jahrzehnte lang mit einigen grundlegenden Parametern menschlicher Sozialisierung und menschlichen Zusammenlebens in

38Unterhaltsam

geschrieben, dennoch deutlich stärker in die Tiefe gehend als die üblichen ­ urzartikel über „Dos and Dont‘s“ ist bspw. die Länderreihe Culture Shock!, Marshall Cavendish K ­Editions, Singapur. 39Hofstede, Geert und Hofstede, Gert Jan: Lokales Denken, globales Handeln. 6.  Auflage, ­München: dtv 2017.

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u­ nterschiedlichen Kulturen befasst haben. Dazu haben sie im Ergebnis fünf Parameter identifiziert, die als Messgrößen eine Orientierungshilfe geben sollen. Diese fünf Parameter sind 1) Machtdistanz, 2) Individualismus, 3) Maskulinität, 4) Unsicherheitsvermeidung und 5) Langzeit-Orientierung. Für zahlreiche Länder haben Hofstedes für jeden Parameter einen Punktewert von 1 bis 100 ermittelt, und in der Tat bekommt man mit Hilfe dieses Index plötzlich einen erstaunlich hilfreichen Gradmesser für angemessenes (bzw. unangemessenes) Verhalten in unterschiedlichen Ländern. Der Parameter „Machtdistanz“ bspw. ist ein Gradmesser dafür, wie stark in einem bestimmten von Hofstedes untersuchten Land Macht und Autorität unterschiedlich verteilt sind, und wie sehr die in diesem Land aufgewachsenen Menschen tendenziell bereit sind, solche Machtgefälle als gegeben zu akzeptieren. Und auch, wie groß die „gelebte“ und „bekundete“ Distanz zwischen Mächtigen und weniger Mächtigen ist (also wie stark die Mächtigen ihre Macht zeigen und umgekehrt die Machtloseren ihnen Respekt bezeugen). Dieser Faktor schlägt auch im Geschäftsleben eines Landes durch, prägt z. B., wie Vorgesetzte mit Mitarbeitern umgehen, wer überhaupt mit wem in der Hierarchie sprechen darf, wie viel Rücksicht oder nicht auf „Rangniedrigere“ genommen wird. Schweden bspw. ist lt. Hofstedes ein Land mit einer im weltweiten Vergleich sehr 35 geringen Machtdistanz (Indexwert: 31 von 100). Und in der Tat sind Schweden im Geschäftsleben für gewöhnlich frei von Hierarchiedenken und Standesdünkeln. So habe ich es bspw. einmal erlebt, dass der CEO eines der größten schwedischen Konzerne eine Verhandlung um einen Sitzungstag verlängerte, nur um dem Leiter einer kleineren Produktionsstätte zu ermöglichen, seine Zahlen persönlich vorzutragen. Und nun stellen Sie sich als Kontrast dazu einmal ein Land vor, das durch hochautoritäre Strukturen geprägt ist, wo der CEO eines Konzerns gottähnlichen Status besitzt und dieser gewohnt ist, seine Mitarbeiter als „underlings“ zu bezeichnen (und diese auch genau als solche ansieht).40 Können Sie sich die Irritationen vorstellen, die ein solcher CEO empfunden hätte, wenn er Teilnehmer jener Sitzung gewesen wäre? Vermutlich hätte er angenommen, mit dem schwedischen CEO-Kollegen stimme irgendetwas nicht. Oder womöglich sei der in Wahrheit gar nicht der echte CEO? Oder aber sein Pendant wolle ihn mit diesem Zeitdiebstahl bewusst provozieren? Denn ein „underling“ kann ja unmöglich irgendeine wichtige Information beisteuern. Sie sehen, da steckt Sprengstoff drin. Deutschland zählt im weltweiten Vergleich mit einem Indexwert von 35 ebenfalls zu den Ländern, die eine niedrige Machtdistanz aufweisen. Chefs würden ihre Leute hier auch kaum als „Untergebene“ bezeichnen, sondern als – sic – Mitarbeiter. Bspw. wird sich ein Vorstand auch durchaus etwas von einem seiner Steuerexperten sagen lassen, selbst wenn es sich dabei „nur“ um den stellvertretenden Leiter der Steuerabteilung handelt (gleiches gilt – hoffentlich – auch für Juristen). Hierzulande ist es auch nichts Ungewöhnliches, dass ein Mitarbeiter in einer Gruppe von ranghöheren Managern mitdiskutieren darf. Das ist in anderen Ländern anders. In vielen würde der «underling» 40Wobei Sie sich übrigens aussuchen können, ob Sie das mit „Untergebener“ oder mit „Handlanger“ übersetzen möchten.

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in der Sitzung kurz berichten und dann wieder fortgeschickt werden. Was dann hinter der verschlossenen Tür passiert, hat ihn nichts anzugehen. Der President dürfte auch gar nicht zulassen, dass der Untergebene Diskussionen mitbekommt. Der Chef ist ja weise und weiß genau, was zu tun ist (deshalb ist er ja Chef) – da würden Diskussionen und Erklärungen, Nachfragen und das Äußern von Zweifeln das Image erschüttern. Im Zweifel wird der President auch nicht mit seinen Board Membern diskutieren; die dürfen ihm ebenfalls ihre Meinung schildern, dann grübelt der President kurz, und dann verkündet er seine Entscheidung. 36 Die hohe Bedeutung des Faktors Machtdistanz in unterschiedlichen Kulturen blieb mir auch plastisch im Gedächtnis haften, als uns im Zuge eines Seminars ein Foto gezeigt wurde. Darauf war ein distinguiert aussehender älterer Herr im Anzug zu sehen. Der kniete, und zwar auf einem kleinen Schemel. Aber nicht in einer Kirche, sondern vor einem anderen Herrn, der zugegebenermaßen prunkvoll gewandet war: Der thailändische Regierungschef kniet vor dem thailändischen Staatsoberhaupt (Thailand: Relativ hohe Machtdistanz, Indexwert 64). Wäre das in Deutschland denkbar? Hier käme nicht einmal ein einfacher Minister auf die Idee, sich bei Entgegennahme seiner Ernennungserklärung vorm Bundespräsidenten niederzuknien. Und selbst Bürger aus dem einfachen Volke kämen nicht ohne weiteres auf die Idee, sich vor Frank-Walter Steinmeier niederzuknien. Eine ziellandspezifische Vorbereitung vor Auslandsreisen, Auslandseinsätzen und vor Verhandlungen mit ausländischen Partnern ist also essentiell, um nicht alles komplett falsch zu machen. Die anderen vier Faktoren nach Hofstede sind ebenfalls interessant und mindestens ebenso wichtig: Individualismus bspw. kann stark ausgeprägt sein (Paradebeispiel: USA, Wert 91) oder sehr niedrig (bspw. China, Wert 20); dann handelt es sich um eine eher kollektivistisch geprägte Kultur. Entsprechend nimmt es Ihnen Ihr US-amerikanischer Verhandlungspartner nicht übel, wenn Sie am vierten Verhandlungstag wahrheitsgetreu sagen, dass Sie heute Abend, statt nochmals gemeinsam mit der gesamten Gruppe zum Dinner zu gehen, lieber allein im Central Park joggen würden. In China (oder auch Mexiko, Individualismus-Indexwert: niedrige 30) dagegen würde man Sie bei exakt demselben Ansinnen wahlweise für einen kontaktgestörten Sonderling halten oder für eine arrogante Langnase, die sich nicht mit den anderen abgeben möchte. 37 Wenn Sie sich interkulturelle Unterschiede von der eher populärwissenschaftlichen Seite her erschließen wollen, mit hohem Schmunzelfaktor, ist auch die Reihe „Gebrauchsanweisung für….“ empfehlenswert; besonders ans Herz legen möchte ich Ihnen dabei den Band „Gebrauchsanweisung für Deutschland“.41 Der russische Journalist Maxim Gorski hält uns darin den Spiegel vor, und in der Tat ertappt man sich selbst bei der ein oder anderen Verhaltensweise, die einem selbstverständlich erscheint, die aber in der Tat nicht internationaler Konsens zu sein scheint: Bspw., dass man auch Nächtens an einer roten Ampel hält oder überhaupt, was der russische Autor des

41Bspw.:

Gorski, Maxim: Gebrauchsanweisung für Deutschland. München: Piper Verlag 2008.

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genannten Bandes kopfschüttelnd feststellt, dass die Deutschen ihre Gesetze selbst dann einzuhalten tendieren, wo deren Einhaltung gar nicht überwacht wird. Auf der „großen Bühne“ ist letzteres Phänomen tatsächlich nachweisbar, so bspw. im Bereich des Vollzuges von Gesetzen, die auf EU-Richtlinien basieren.42 So haben die Deutschen im Zuge der Elektroschrott-Richtlinie jährlich im Durchschnitt stolze 8 kg Elektroschrott auf den vorgeschriebenen Wegen entsorgt bzw. wieder dem Recycling zugeführt, in Italien waren es 0,8 kg. Verschwiegen sei aber nicht, dass Schweden hier Vorreiter ist: 12 kg; Grund könnte der nach Hofstede niedrige Maskulinitätsfaktor (5 von 100) sein, man hegt und pflegt also auch die Umwelt. Was das Bedürfnis nach „Unsicherheitsvermeidung“ betrifft: Die Deutschen haben einen hohen Faktor, sind also in der Tendenz „Planungsfreaks“: Recht niedrig auf dieser Skala, also Meister im Fach, jeden Tag flexibel zu reagieren und zu akzeptieren, weil eigentlich gar nichts verlässlich ist, sind die Chinesen. Sich mit interkulturellen Spezifika vertraut zu machen, ist also unbedingt empfehlens- 38 wert. So ist es durchaus eine Kosten-Nutzen-Analyse wert, mit seinem gesamten Verhandlungsteam einen landesspezifischen „intercultural management“ workshop unter Anleitung erfahrener Trainer abzuhalten, bevor man in die M & A -Verhandlung mit dem ausländischen Verkäufer eintritt. Sie können damit viel besser und erfolgreicher verhandeln, was sich bis hin zu einem vorteilhafteren Kaufpreis auswirken kann. Es kann sich sogar in barer Münze auszahlen, in die Verhandlung selbst einen für dieses Land spezialisierten interkulturellen Berater mitzunehmen, der Sie „coacht“ und Ihnen hilft, zu interpretieren, ob das jetzt „normal“ ist, was die Verhandlungspartner aus bspw. Indien dort gerade abspulen, wie Sie darauf reagieren sollten, ob da gerade jemand blufft oder aber ob man Ihnen gegenüber gerade aus Höflichkeit so auftritt. Gehen Sie bitte auch davon aus, dass, wenn Sie sehr professionelle Verhandlungspartner auf der Gegenseite haben, diese sich ebenfalls auf interkulturelle Einflussgrößen vorbereiten – und dass diese dann auch eine Vorstellung davon bekommen, auf welche „Knöpfchen“ sie vermutlich bei Ihnen drücken müssen. So ist es z. B. kein Geheimnis, dass man in unserem Kulturkreis, wenn es um das Verhandeln geht, bemüht ist, irgendwie einen für beide Seiten vernünftigen Kompromiss hinzubekommen. Ein Verhandler wird hierzulande davon ausgehen, dass auf sein Nachgeben in einem Punkt (bspw. bei der Haftungsklausel) die andere Seite im Gegenzug bei einer der anderen Konditionen nachgeben wird (bspw. der Verjährungsfrist). Verhandelt man dann zum ersten Mal mit professionellen „Dealmakern“ in den USA, erlebt man mit dieser Einstellung – je nachdem, wie dieser Dealmaker tickt – sein blaues Wunder: Gibt man in einem Punkt nach, wird dieser einkassiert, und beim nächsten Punkt wird wieder quasi von Null ausgehend losverhandelt – keine Spur von „do ut des“. Dies Phänomen scheint tief in der US-amerikanischen Kultur verwurzelt: Nicht umsonst ist Fußball (Soccer) in den USA kaum

42Frankfurter Allgemeine

Zeitung, 23.6.2010, S. 10.

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populär. Denn was ist das für ein langweiliger Sport, in dem ein Spiel üblicherweise mit einem schlappen Vorsprung von nur 2:1 oder 3:0 gewonnen wird? Oder oft gar unentschieden 1:1 ausgeht? Undenkbar! In den USA wird es als herausfordernd und spannend empfunden, und es entspricht einer Art „Jagdtrieb“, mit einem haushohen Sieg zu gewinnen. 92:0 Punkte in einem Match, wie beim Football43 – ja, das ist eine Herausforderung, die Spaß macht! Oder 222:0.44 The Winner takes it all! Der Rekord-Abstand in der Football-Geschichte der USA liegt übrigens bei 583:0.45 Bereits im Kleinkindalter wird die Bereitschaft zum hoch-kompetitiven Wettbewerb anerzogen: Contests aller Art schon für Kinder, von Beauty Contests bis zu Buchstabier-Wettbewerben. Dies soll keine Kritik sein. Man sollte es nur im Hinterkopf haben und sich darauf einstellen, bei Bedarf ebenfalls „hardball“ zu spielen. Das klappt dann nämlich ganz gut. Gibt man dagegen vorschnell nach, wird gnadenlos weiter ausgetestet, was alles noch herauszuholen ist. Das wird einfach als sportliche Herausforderung gesehen. Na ja, immerhin scheinen auch die Amerikaner zu schwächeln und etwas weicher zu werden, denn es regen sich Stimmen im Sport, Verlierer mit so hohen Punkteabständen zu deklassieren sei nicht „sportsmanlike“. Und als in jüngerer Zeit die Damen-Basketballmannschaft der Covenant School Dallas die der Dallas Academy mit 100:0 besiegte, entschuldigten sich die Vertreter der Schule sogar und feuerten schließlich den Mannschafts-Coach. Im Amateur-Basketball der USA gibt es mittlerweile verschiedenste „mercy rules“, die erlauben, dem Niedermetzeln des Gegners ein vorzeitiges Ende zu bereiten, wenn die Führung einer Mannschaft „objectively determined to be insurmountable“ ist. Denken Sie aber daran, dass es eine solche „mercy rule“ bislang nur bei den Amateuren gibt. Und bei Geschäftsverhandlungen spielen Sie in der Profi-Liga. 39 Sich Verhandlungen in den USA als ein Sportmatch vorzustellen, hilft in der Tat, gut zu spielen. Denn wenn Sie Ihrerseits nach diesen Regeln spielen, ernten Sie tatsächlich Respekt, und plötzlich geht es ganz gut. Umgekehrt, wie gesagt: Ihre US-Partner haben Ihre kulturellen Eigenarten ebenfalls studiert. Sie wissen also, dass Sie die „Schwäche“ haben, zu Kompromissen zu neigen. Also müssen Sie damit rechnen, dass man Sie genau dort zu packen versuchen wird. Dies kann teilweise in ziemlich geschickter Weise geschehen, nämlich indem man versucht, Sie über die moralische Schiene zu erwischen („You should make a compromise proposal now; we are more than willing to fairly compromise on that point. But we do not have the feeling that you want to treat us fairly. We are asking you to meet us half-way, no more, no less. You are really too tough.“). Kämpfen Sie also um jeden Punkt einzeln. Natürlich sportlich. Vielleicht schaffen Sie es dann mit viel Ausdauer, zu einem Gleichstand zu kommen. Die obigen Ausführungen sind natürlich nicht ohne weiteres verallgemeinerungsfähig. Denn es gibt ebenso wenig „den Amerikaner“ wie es irgendeinen anderen festen

43Stephen

F. Austin State University gegen Texas College, 12.9.2009. Tech gegen Cumberland College Bulldogs, 7.10.1916. 45Haven High School Kansas gegen Sylvia High School, 1926. 44Georgia

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Menschentypus gibt. Auch ist zu berücksichtigen, dass jedes Land wiederum Subkulturen aufweist, mit z. T. wiederum extremen Unterschieden. Das können Kulturen sein, die sich nach Regionen differenzieren lassen (der „typische“ Texaner ist anders als der „typische“ Ostküstenbewohner, so wie „der Rheinländer“ anders tickt als „der Hamburger“). Oder aber Kulturen, deren Trennlinien entlang sozialer Schichten verlaufen; denken Sie bspw. an das Kastensystem in Indien. Ausschlaggebend sind letztlich natürlich die jeweils individuellen Erfahrungen, die den Menschen geprägt haben, dem Sie gegenübersitzen. Und so werden Sie mit einem Texaner, der ein Jurastudium in Großbritannien absolviert hat und der in einer intakten Familie aufgewachsen ist, vermutlich mehr kulturelle Gemeinsamkeiten finden als mit einem eigenen Landsmann aus derselben Straße, der nach seiner Zeit bei der Fremdenlegion und verschiedensten Kriegseinsätzen jetzt hauptberuflich als Waffenhändler arbeitet und in der Nachbarvilla jede zweite Nacht laute Poolpartys feiert, an denen so eigenartiges Publikum teilnimmt. Interkulturelle „awareness“ und Kompetenz sind umso dringender erforderlich, je mehr 40 Personen aus unterschiedlichen Kulturkreisen in einem Projekt, einer Arbeitsgruppe, einer Verhandlung oder bspw. auch in Ihrer Rechtsabteilung zusammenarbeiten. Sich gegenseitig auf die Besonderheiten und Eigenarten im Verhalten des Vertreters aus einer anderen Kultur einzustellen, ist bereits herausfordernd. Wenn in einer Gruppe aber Vertreter aus gleich vier, fünf oder mehr grundverschieden andersartigen Kulturen zusammentreffen, ist das Management auf der Beziehungsebene die Kern-­Herausforderung. Wenn dies nicht erfolgreich gelingt, weil die Teilnehmer auf diesem Auge unsensibel oder gar blind sind, ist ein Scheitern der inhaltlichen Arbeit vorprogrammiert. So habe ich einmal einen international besetzten Arbeitskreis scheitern sehen, einfach weil der deutsche Vertreter ziemlich deutsch (autoritäts-respektverweigernd; d. h., international betrachtet: grob) daherkam, der britische Vertreter seinen Unmut darüber nur sehr diplomatisch verklausuliert kundtat (was von dem Deutschen gar nicht wahrgenommen wurde), beide wiederum meinten, der italienische Kollege rede viel zu lange und käme nicht zum Punkt, während der französische Kollege, dessen Vorgesetzter verhindert war, sich nicht auf eine Entscheidung festlegen wollte bzw. durfte, was wiederum alle anderen als Kooperationsverweigerung (fehl-)deuteten. Inhaltlich hatten eigentlich alle dasselbe Ziel; es handelte sich nicht einmal um eine streitige Verhandlung, sondern um die Erstellung eines gemeinsamen Papieres. Bereits nach 15 min aber herrschte nur noch Chaos. Es war ein Lehrstück, wie jeder an jedem vorbeiredete und niemand den anderen verstand – obwohl alle gut Englisch sprachen. Der Einfluss der jeweiligen Kultur auf das Handeln, insbesondere auch auf die Arbeit 41 als Jurist, kann also gar nicht hoch genug geschätzt werden. Wenn Sie versuchen, juristische Themen in Ländern zu lösen, mit denen Sie nicht tief vertraut sind, insbesondere bei komplizierten Gemengelagen, können Sie mit Ihrem bisherigen Erfahrungsschatz im schlimmsten Fall alles kaputtmachen. Ich spreche hier nicht von der Gesetzesauslegungoder -anwendung: Dass Sie dies nicht allein versuchen sollten, ist fraglos ein „no brainer“; ebenso, dass man mit sprachlichem Halbwissen keinesfalls versuchen sollte, einen Gesetzestext zu verstehen (z. B. versuchen, allein mit großem Latinum im Rücken einen

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italienischen oder spanischen Gesetzestext zu lesen). In China werden Sie besonders schnell die Tücken der Sprache kennenlernen, wenn Sie zum ersten Mal sehen, dass man Ihnen zu einem Gesetzestext drei verschiedene Übersetzungen vorlegen kann, die in den entscheidenden Details klar voneinander abweichen. Da ist dann die von der erstklassigen Spitzenkanzlei angefertigte Version anders als die des in dem betreffenden Sektor bewanderten Verbandes, und die „offiziell“ von der EU-Kommission angefertigte Übersetzung differiert wiederum. Bis Ihnen dann klar wird, dass Sie gerade wieder Opfer Ihrer eigenen deutschen kulturellen Erwartungshaltung geworden sind, nämlich dass in einem Gesetz einigermaßen klare Begrifflichkeiten verwendet werden. Dass die Worte im chinesischen Original-Gesetzestext eben drei unterschiedliche Bedeutungen haben können, und dass auch für die Chinesen selbst teilweise unauflösbar bleibt was genau gemeint ist (was sie aber nicht weiter stört, denn in China hat man ein sehr gering ausgeprägtes Bedürfnis nach Unsicherheitsvermeidung), wird Ihnen dann irgendwann klar. Schwierig wird es für Sie als Jurist allerdings dann zurück zu Hause, wenn der Vorstand von Ihnen erwartet, dass Sie ihm jetzt ganz genau sagen sollen, was in dem Gesetz steht. Last but not least sind gerade juristische Texte in der Übersetzung mit Vorsicht zu genießen. Denn hinter dem Fachterminus aus einem anderen Land kann sich ein ganz anderes Rechtsinstitut verbergen als man es auf Grundlage der eigenen Rechtsordnung und Ausbildung annehmen würde. Noch tückischer wird es, wenn schon der Ü ­ bersetzer gar nicht erst erkennt, dass es sich bei einem Begriff um einen spezifischen F ­ achterminus und er den betreffenden Begriff dann entweder mit einer wörtlichen, aber leider ­sinnverschiebenden Übersetzung abliefert oder gar unabsichtlich durch ein unzutreffendes Synonym ersetzt. Ein Beispiel dafür, dass solche Fehler sogar dem europäischen Gesetzgeber unterlaufen können, liefert die Unfair Commercial Practices Richtlinie der EU (EU-Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken)46. In einer ihrer Normen47 wurde ausgerechnet das entscheidende Tatbestandsmerkmal („to give consideration for“)bei der Übertragung in die amtliche deutsche Fassung fehlübersetzt (nämlich anstatt richtigerweise mit: „eine (Gegen-) Leistung hingeben/ erbringen für“ oder auch „etwas leisten/zahlen im Austausch für“48 fälschlicherweise mit den Worten: „die Möglichkeit vor Augen haben“. Als Ergebnis dieser Übersetzungspanne gilt jetzt in der EU eine Richtline, die in ihrer

46Directive 2005/29/EC of the European Parliament and of the Council of 11 May 2005, Amtsblatt L 149, 22 ff. http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:32005L0029:EN:NOT. 47Siehe Annex I No. 14 der Richtlinie. 48Verwendet worden war in der englischsprachigen Ausgangsversion der Richtlinie mit dem Terminus „consideration“ nämlich eindeutig das Common-law-Rechtsinstitut der „consideration“. Dies belegt auch der Vergleich mit bspw. der spanischen, französischen und italienischen Sprachfassung der Richtlinie. Schließlich geht in der deutschen Fassung jetzt der Schutzzweck der Norm ins Leere (denn wo kein Einsatz von Geld oder anderen Leistungen erfolgt, droht auch kein Risiko der Gefährdung oder des Verlustes solcher finanzieller oder wirtschaftlicher Einsätze).

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deutschen Fassung einen anderen Tatbestand als unzulässig definiert (und zwar einen ohne erkennbaren Unrechtsgehalt) als in den anderen Sprachversionen. Bei der Transformation der Richtlinie in das deutsche UWG fiel der Übersetzungsfehler immer noch nicht auf; stattdessen „verschlimmbesserte“ es irgendjemand weiter, indem die Worte „die Möglichkeit vor Augen haben“ durch das Synonym „den Eindruck vermitteln“49 ersetzt wurde. Immerhin ist diese EU-Richtlinie eine vollharmonisierende; durch Übersetzungsmängel steht in Deutschland jetzt aber ein völlig abweichender Text im Gesetz. Deshalb: Obacht bei Übersetzungen! Allerdings besitzen zumindest einige EU-Instutionen genug Mut, zuzugeben, daß Übersetzungsfehler in den offiziellen Publikationen mittlerweile ein ernsthaftes Problem darstellen; unterlegt mit zahlreichen Beispielen und unterhaltsam nachzulesen in der Dokumentation „Brief List of Misused English Terms in EU Publications“50 des European Court of Auditors und des Generalsekretariats Übersetzung des Europäischen Parlamentes. Da mutiert bspw. der "agent" (Vertreter oder Handelsvertreter) mal zum Mossad-Mitarbeiter, mal zum Künstleragenten oder – ebenso abseitig – zur „staff“, also zum angestellten Mitarbeiter.51 Leider bewegt dies die EU-Kommission nicht dazu, auf der Hand liegende Übersetzungsfehler proaktiv zu berichtigen. Und so rätseln bei der vorgenannten EU-Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken mittlerweile auch der Generalanwalt und die Richter des Europäischen Gerichtshofs über die inhaltlich auseinanderlaufenden Sprachfassungen in Annex I Nr. 1452; denn die EU-Kommission hat die von Parlament und Rat verabschiedete (englische) Fassung kraft Nichtverstehens des terminus „consideration“ nicht nur ins Deutsche fehlübersetzt, sondern bei diesem ­Tatbestandsmerkmal ganz offensichtlich auch die Übersetzung ins Litauische verpatzt. Doch von den Tücken irreführender Übersetzungen zurück zur interkulturellen Kom- 42 petenz: Herausfordernd wird es, wenn Sie Ihren eigenen externen Anwalt im Zielland nicht „verstehen“. Wenn Sie also bspw. nicht nachvollziehen können, warum Ihr Anwalt diesen taktischen Ansatz versucht und nicht jenen, der Ihnen der viel aussichtsreichere, logischere, sicherere, oder wie auch immer bessere zu sein scheint. Dieser Effekt tritt seltener in der Zusammenarbeit mit Anwaltskollegen auf, die einen internationalen Hintergrund vorweisen können. So ist bspw. in Asien die Zusammenarbeit mit Rechtsanwälten, die eine Ausbildung an einer US-amerikanischen Universität absolviert haben, auch unter dem Aspekt der gegenseitigen Nachvollziehbarkeit weniger problematisch. Kompliziert wird dies eher, wenn Sie, was ja oft bei kleineren Rechtsfällen gegeben sein dürfte, mit rein national „tickenden“ Anwälten zusammenarbeiten.

49S.

UWG, Anhang (zu § 3 Abs. 3) Nr. 14. ec.europa.eu/translation/english/guidelines/documents/misused_english_terminology_eu_ publications_en.pdf. 51A. a. O., S. 9 f. 52Rechtssache C-515/12 "4finance UAB", Vorabentscheidungsersuchen vom 14.11.2012, http:// eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2013:026:0033:0033:EN:PDF. 50Siehe

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Wenn es dort um Fragen mit taktischem Einschlag geht – bspw. wie man das Zugehen auf eine Behörde timen sollte, ob man überhaupt proaktiv tätig werden oder erst einmal abwarten sollte, ob Vergleichsverhandlungen sinnvoll sind, usw. –, dann kommen erhebliche kulturelle Faktoren ins Spiel. Selbst eine scheinbar so einfache Frage, wie die, ob man als deutsche Muttergesellschaft dem Gerichtstermin einer Tochtergesellschaft im Ausland persönlich beiwohnen sollte, wird Ihr lokaler Anwalt womöglich diametral anders sehen als Sie, ohne dass er es Ihnen aber so recht begründen kann. In einem wichtigen Fall holte ich mir dazu einmal Rat bei einer „intercultural management“-Trainerin ein. Mit ihrer Hilfe verstand ich schließlich, wo das Problem lag: Dass wir uns im Gerichtssaal mit unserem Anwalt und den Managern unserer Auslandstochter bilateral auf Deutsch oder Englisch verständigt hätten – beides Sprachen, die von Richtern in dem betreffenden Land nicht oder nur schlecht verstanden werden – hätte das Gericht so irritiert, dass es für den Prozessverlauf nur nachteilig gewesen wäre. Bei diesem Land handelte es sich in der Tat um eines, das auf der „Unsicherheitsvermeidungs-Skala“ von Hofstede53 weltweit einen der höchsten Indexwerte aufwies. Im Verlaufe des gesamten Projektes verließ ich mich dann schlicht auf das „Händchen“ des nationalen Anwalts (also auf seine kulturelle Kompetenz für seinen Kulturkreis), auch wenn mir an der einen oder anderen Stelle die Schritte nicht logisch vorkamen. Am Ende erwies sich dieses Einlassen auf den nationalen Profi als genau richtig. 43 Ausführungen zu kulturellen Unterschieden ließen sich noch beliebig weiter vertiefen. So ist bspw. klar, dass kulturelle Besonderheiten und Verhaltensweisen nicht 1:1 an den geographischen Grenzen irgendwelcher Staatsgebilde festzumachen sind. ­Geografisch – falls dies überhaupt die Messgröße ist – kann beliebig weiter in die Tiefe differenziert werden: In Bayern lebt und agiert man tendenziell anders als im Ruhrgebiet oder als in Hamburg. Wer es also ganz professionell machen will, liest sich vor Verhandlungen ein. Aber dann natürlich immer flexibel bleiben, um stets schnell umswitchen zu können! Denn wenn sich herausstellt, dass der Verhandlungspartner in Düsseldorf eigentlich Kölner ist, der von seiner Firma lediglich vor einem Jahr versetzt wurde, kann so ein Schuss ganz ordentlich nach hinten losgehen. Als ich einen unserer Top-Manager (der, wie sich herausstellte, aus Düsseldorf kam) geografisch versehentlich nach Köln verortete und die Situation, im Bemühen, sie zu retten, verschlimmerte, indem ich fragte, seine Frau sei aber doch Kölnerin? konnte ich das nur noch dadurch ausbügeln, dass ich ihm einen Podcast mit sarkastischen Karnevals-Sketchen über Köln besorgte. Die Arbeit als Unternehmensjurist ist letztlich eine Form von Beziehungsmanagement. Neben den fachlichen Fertigkeiten sind Verhandlungskompetenz, Konfliktlösungskompetenz und Führungskompetenz die wesentlichen Bausteine für den Arbeitserfolg, intern und extern. Ist das Unternehmen international aktiv, sollte der Unternehmensjurist dazu ergänzend und konsequent die Chancen und Hebel nutzen,

53S.

Fn. 39.

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welche „intercultural management“-Fertigkeiten bieten. Neben Anbietern von Seminaren oder spezialisierten Beratungsunternehmen54 sei dabei auch auf die diversen Vereine, Verbände und Kammern mit besonderem Know-how hingewiesen, wo man von versierten Länderreferenten fundierten Rat aus und für die Praxis einholen kann. So z. B. beim Ostasiatischen Verein55, der gtai56 (germany trade and invest, Nachfolgerin der bfai, Bundesagentur für Außenwirtschaft) und bei den deutschen Auslandshandelskammern57 mit ihren 120 Standorten in 80 Ländern. Falls Sie übrigens, angeregt durch die ­Fußball-Weltmeisterschaft 2010, Geschäfte und Verhandlungen in Südafrika aufnehmen wollen, sollten Sie sich dort ebenfalls mit Sorgfalt den interkulturellen Besonderheiten der einzelnen Bevölkerungsgruppen widmen; bei diesen gibt es ganz erhebliche Unterschiede in den Verhandlungsstilen. Dazu existiert aufschlussreiche Literatur.58

7.7 Lernen Sie Ihr Unternehmen umfassend kennen Dass Sie als Unternehmensjurist den Vertrieb kennen sollten, und nicht versäumen soll- 44 ten, dort auch zu hospitieren, erwähnte ich bereits. Um als Jurist in Ihrem Unternehmen wirklich kompetent und wertschöpfend beraten und mitgestalten zu können, braucht es jedoch einen wesentlich weiteren Horizont. Sie sollten dazu Ihr Unternehmen, die Abläufe, die verschiedenen Funktionen, die wichtigsten Stakeholder, und auch die wichtigsten Projekte kennen(lernen). Ebenso sollten Sie sich mit den Finanzkennzahlen vertraut machen, mit den wesentlichen Zügen der Finanzanlagepolitik Ihres Unternehmens, der Produktion, der Forschung und Entwicklung, usw. Hospitieren Sie unbedingt auch einmal ein paar Tage in der Revision, bspw. bei einer Auslandsprüfung. Interessieren Sie sich auch für den Einkauf: Wer sind die wichtigsten Lieferanten, welches die am schwierigsten zu beschaffenden Zulieferteile? Auch für die Logistik: Wie kommt eigentlich die Ware zum Kunden? Wie ist der Versicherungsschutz strukturiert? Die IT: Mit welchen Systemen arbeitet das Unternehmen? Auch für die Personalentwicklung sollten Sie sich interessieren. Mit Marketing wird Sie viel verbinden, weil Sie als Jurist mit dem Markenschutz zu tun haben werden. Etablieren Sie gute Kontakte, die sicherstellen, dass Sie frühzeitig mitbekommen, wenn sich etwas in der Markenstrategie verändert, was Sie beim Schutzrechtemanagement berücksichtigen müssten. Business Development ist ebenfalls ein Muss. Die Schnittstelle zu Business Development

54Bspw.

Itim International, http://www.itim.org/. e. V., Hamburg, http://www.oav.de/. 56Germany Trade and Invest GmbH, http://www.gtai.de/web_de/startseite. 57http://ahk.de/. 58Mayer, Claude-Hélène, Bonnes, Christian Martin und Thomas, Alexander: Beruflich in Südafrika. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. Aus d. Reihe Handlungskompetenz im Ausland. 55Ostasiatischer Verein

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wird ohnehin groß sein, weil Sie als Unternehmensjurist in M & As oder in Desinvestments eingebunden sind; und auch der Markteintritt in ein neues Land ist ein Projekt, bei dem Business Development und Rechtsabteilung eng Hand in Hand arbeiten. Die Steuerabteilung spielt in jedem Konzern eine wesentliche Rolle, im Prinzip gibt es kaum ein Projekt, definitiv aber kein grenzüberschreitendes, bei dem nicht auch steuerliche Belange und Gestaltungsmöglichkeiten zwingend zu berücksichtigen sind. 45 Wie steht es mit den Abläufen in der Unternehmenskommunikation? Im Fall des Krisenmanagements allgemein oder von juristischen Fällen im Besonderen, die evtl. für Aufmerksamkeit sorgen, ist ein vorher mit den Kollegen von der Unternehmenskommunikation abgestimmter Plan Gold wert. Dass Sie den publizierten Geschäftsbericht Ihres eigenen Unternehmens kennen sollten, versteht sich von selbst. Ein grundsätzliches Verständnis von allen wesentlichen Bereichen Ihres Unternehmens und des Konzerns, in dem Sie tätig sind, ist ein Schlüssel, um gut und optimal beraten zu können. Dies gilt nicht nur, um die wichtigen von den unwichtigen Fällen unterscheiden zu können und sich auf die strategischen und wertschöpfenden Arbeiten fokussieren zu können. Zeitmangel wird als Unternehmensjurist in einem dynamischen, vertriebsgeprägten Konzern Ihr ständiger Begleiter sein – und da ist es gut, wenn Sie einordnen können, worauf Sie Energie verwenden sollten, oder aber was ungefähr so wichtig ist, wie wenn ein Sack Reis am anderen Ende der Welt umkippt (auch wenn beim Umfallen dieses Sackes reflexhaft alle laut aufschreien). 46 Außerdem ist gerade dies eine der wesentlichen Rechtfertigungen, warum es sich überhaupt für Ihr Unternehmen rechnet, Sie als „Fixkostenblock“, sprich: Angestellter, auf der Payroll zu haben: Ihnen braucht man nicht erst lange zu erklären, was intern wie zusammenspielt, welche Querauswirkungen ein Fall hat, welche Unternehmenspolitik bei der Behandlung des Sachverhaltes zu beachten ist, wo der Unternehmenszug hinrollen soll bzw. will, welches die „weak spots“ sind, warum man sich in der besonderen Situation Ihres Unternehmens besser vergleicht oder gerade nicht, wen man in welcher Situation intern einbinden muss, welche Auswirkungen Ihre Vertragsverhandlung auf die Tochtergesellschaft xyz hat, usw. Also das, was den Unterschied zum externen Counsel ausmacht. So lernen Sie auch, Dinge intern zu bewegen und Hindernisse intelligenter aus dem Weg zu räumen. Wenn Sie sich bspw. einmal mit dem Aspekt befassen, welche Auswirkungen bestimmte juristische Punkte auf die „management accounts“ (die interne Kostenrechnung) haben und in Folge bspw. auf den Bonus dieses oder jenes Betroffenen, sind Sie in der Lage, die Dinge viel ganzheitlicher zu erfassen und auch den ein oder anderen „rosa Elefanten im Raum“ früher zu bemerken. Öfter als man denkt gibt es Zusammenhänge und Hintergründe unter der Oberfläche, die der Grund dafür sind, warum ein Projekt nicht vorwärts geht. Wenn bei der Abwehr einer Klage der Hemmschuh für eine entschlossene Gegenwehr darin liegt, dass die Manager aus der Produktion auf der einen Seite und die Manager aus dem Vertrieb auf der anderen Seite sich gerade eine große Schlacht liefern, auf wessen Kostenstelle das Verteidigungsbudget gebucht wird, dann ist der gute Justitiar – d. h. der, der sich für die Zusammenhänge

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in seinem Unternehmen interessiert und daher diese Problematik kennt – auch in der Lage, dieses Hindernis aus dem Weg zu räumen. Während derjenige Jurist, den Budgetplanungen, interne Buchungspolitik u. ä. nicht interessieren, bis zum Schluss rätseln wird, warum er keine Freigabe für die Kosten der Klageabwehr erhält. Denn auf ein freiwillige Geständnis: „Wir nehmen die Summe nicht in die Hand, weil das unseren Jahresbonus schmälern würde“ dürfte er im Zweifel vergeblich warten. Auch können Sie nur so – d. h., wenn Sie Ihr Unternehmen umfassend kennen – in 47 die Rolle eines kompetenten Repräsentanten Ihres Unternehmens nach außen wachsen. Als Unternehmensjustitiar sollten Sie genauso in der Lage sein, anlässlich eines Abendempfanges der IHK spontan über die generelle Geschäftslage Ihres Unternehmens zu parlieren, wie Sie auch in der Lage sein sollten, beim Empfang von Verhandlungspartnern in Ihrer Unternehmenszentrale die dort ausgestellten Produkte zu erklären. Dennoch habe ich es immer wieder erlebt, dass vereinzelt Juristen – durchaus auch von kleinen Unternehmen, die recht überschaubar sind und nicht so komplex zu erfassen wie ein weltweit verzweigter Konzern – bei Treffen nicht einmal sagen konnten, wie bei ihnen bestimmte Kern-Kennzahlen aussehen. Wenn Sie vorhaben, in Ihrem Unternehmen auf alle Zeiten als „legal nerd“ wahrgenommen zu werden bzw. Ihr Dasein im Konzern mit dem Horizont eines „operativen Erdferkels“59 zu fristen, dann machen Sie bitte genau dies: Interessieren Sie sich nur und ausschließlich für Ihre Paragraphen. Wenn Sie Ihrem Unternehmen dagegen einen ordentlichen Return on Investment geben wollen, dann interessieren Sie sich bitte brennend für alle Zusammenhänge, damit Sie ab einem bestimmten Punkt in der Lage sind, fundiert eine Adlerperspektive einzunehmen. Ihre Geschäftsführung wird es Ihnen zu danken wissen. Gehen Sie insbesondere auch mit in den Außendienst, zu Kunden. Verschaffen Sie sich dadurch aus erster Hand ein Grundverständnis von der Arbeitsweise Ihrer Vertriebskollegen und von den Abläufen und Prozessen im Vertrieb. Nicht nur wegen der Akzeptanz, sondern auch, damit Ihnen Ihre Kollegen kein „X“ für ein „U“ vormachen können. Als Jurist sprechen Sie überwiegend geradeheraus und direkt, gute Vertriebler hingegen möchten, dass sich Ihr Gegenüber wohlfühlt. Also wird man nicht nur Kunden gegenüber, sondern auch Ihnen gegenüber bei Sachverhalten – jedenfalls bei unschönen oder unangenehmen – nicht immer alle Einzelheiten berichten, insbesondere nicht die unvorteilhaften. Das ist, wie schon gesagt, keine böse Absicht; aber es ist die grundsätzlich andere Schwerpunkte setzende Herangehensweise eines guten Vertriebsmitarbeiters an Dinge. Ich erinnere mich noch an das einige Jahre zurückliegende Gespräch, in dem mir der Vertriebsgeschäftsführer einer unserer Tochtergesellschaften sinngemäß sagte: „Warum sollte ich den Leuten denn alles sagen, was eventuell risikoreich ist oder was nicht geht? Dann fühlen sie sich doch nur schlecht.“ Gut ist es dann also, wenn Sie wissen, wann Sie ggf. noch tiefer nachfragen müssen. Und das wissen Sie, wenn Sie die

59Mein Dank für dieses schöne Bild gilt Herrn Stephan Penning, Penning Consulting GmbH, Düsseldorf http://www.penning-consulting.com/.

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Prozesse und Abläufe in Ihrem Unternehmen und im Vertrieb einigermaßen im Überblick haben. Denn so merken Sie, wenn etwas unschlüssig vorgetragen wird oder noch eine wichtige Information fehlen muss, und doktern nicht auf unvollständiger Sachverhaltsgrundlage juristisch an einem Fall herum. Sich mit allen Bereichen seines Unternehmens im Groben vertraut zu machen, bringt also im Ergebnis auch Zeitersparnis. 48 Zurück zu den Produkten: Vertriebsprofis lieben in der Regel ihre Produkte. Ich kenne sogar einige, die (das ist kein Witz), obwohl es sie ihre Provision kostet, manchmal nicht an solche Kunden verkaufen, von denen sie meinen, diese hätten „ihr“ Produkt nicht verdient. Als Jurist sollten Sie die Palette der Produkte Ihres Unternehmens ebenfalls kennen und bis zu einem gewissen Maß auch beherrschen. Über die Produkte des eigenen Hauses Bescheid zu wissen, ermöglicht bspw. oft einen gelungenen Einstieg in Verhandlungen mit Vertragspartnern, und kann auf gesellschaftlichen Veranstaltungen, im Business Club, usw. ein netter „Eisbrecher“ für den Juristen sein (der ja sonst eher mit abstrakten Themen aufwartet). Sich dazu sporadisch in der Produktion wie auch in der Forschung und Entwicklungsabteilung seiner Unternehmensgruppe umzusehen, ist nicht nur sinnvoll, um die korrekte Verwendung der von Ihnen geschützten Marken zu überprüfen; es ist auch hoch spannend. Denn in den Labors werden oft interessante neue Erfindungen entwickelt und manchmal kommt man sich vor wie James Bond im Labor von Q. Zudem trifft man in der Produktion und in der Entwicklung auf Ingenieure, die, wie oben bereits erwähnt, den Juristen mental durchaus nahe stehen. Sich mit ihnen auszutauschen und dazu den Termin für den Patentverletzungsfall etwas vorzuziehen, falls die letzten Wochen mit den Kollegen aus dem Vertrieb zu anstrengend gewesen sein sollten, ist durchaus legitim. Frühzeitige Kenntnis der kommenden Produktpalette ist auch erforderlich, damit Sie frühzeitig Markenschutz, Geschmacksmusterschutz, etc. sicherstellen können. Positives Beispiel, das mir eindrücklich in Erinnerung geblieben ist, ist ein Besuch beim General Counsel von HILTI in Liechtenstein60: Er hatte mir gerade den neuen Showroom in der Zentrale gezeigt, als zufällig das Mitglied einer Kundendelegation hereinkam, der sich von seiner Gruppe abgesetzt hatte. Der Mann bekam eine erstklassige Führung durch den gesamten Showroom, vom Bohrmeißel bis zum Lasermessgerät. Dass es, wie er erst am Ende erfuhr, der General Counsel war, der ihn da fachkundig durch den Musterladen geführt hatte, beeindruckte den Kunden sehr. In einem vertriebsgeprägten Unternehmen sollte in der Tat jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin – auch Sie – ein „Produktbotschafter“ sein! 49 Die Liebe zum Produkt sollte aber nicht so weit gehen, dass sie Sie blind macht. Dieses Phänomen ist bei besonders leidenschaftlichen Vertriebskollegen allerdings nicht gänzlich auszuschließen. Insbesondere, wenn ein Konkurrenzprodukt dem eigenen in irgendeiner Form designtechnisch nahekommt, müssen Sie aufpassen, dass der Vertriebler, von

60Herr Dr. Christian Wind, dem ich an dieser Stelle nochmals für die tolle Vorführung danken möchte.

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b­ lindem Hass gegen den Feind der Geliebten gepackt, nicht sofort ganze Wälder abfackelt. Und machen Sie ihm dann bitte nur ganz, ganz schonend und äußerst rücksichtsvoll klar, dass und warum leider keine abmahnfähige Verwechslungsgefahr vorliegt – was im Übrigen auch auf Ihre eigene höchste Empörung stoße.

7.8 Identifizieren und besetzen Sie für Ihr Unternehmen strategisch wichtige Felder, werden Sie auf Ihrem Fachgebiet hochkompetent, networken Sie Der Unternehmensjurist muss sich stets die Frage seines Mehrwerts für das Unter- 50 nehmen stellen. Kontinuierlich sind Kosten-Nutzen-Abwägungen des Einsatzes seiner Arbeitskraft und der seines Teams zu treffen. Neben dem Gesellschaftsrecht, allgemeinen Vertragsrecht, Kartellrecht und ähnlichen Querschnittsthemen einer Konzernrechtsabteilung spielen für ein vertriebsfokussiertes Unternehmen aus nachvollziehbaren Gründen das nationale und internationale Vertriebsrecht eine herausgehobene Rolle. Im Vertriebsrecht sollten Sie sich daher Expertise aneignen. Was muss man sich nun unter „Vertriebsrecht“ vorstellen? Gedanklich kann man sich unter dem Oberbegriff „Vertriebsrecht“ dabei vielleicht am besten drei große Unterkategorien vorstellen: Eine, die alles umfasst, was maßgeblich ist für den Verkaufsakt an den Kunden einschließlich des „Vorher“ (wie bspw. Werbung um den Kunden und Vertragsanbahnung) und des „Nachher“ (also bspw. After Sales Service). In diesen Block würden dann bspw. das Kaufrecht fallen, das Verbraucherkreditrecht (Absatzfinanzierung), das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, vertriebsformabhängige Regelungen wie das Fernabsatzrecht und das Direktvertriebsrecht, aber auch das UWG. Die zweite Kategorie würde alles umfassen, was maßgeblich ist für die Beziehung zwischen dem Unternehmen und seinen Absatzmittlern61. Darunter würden dann das Handelsvertreterrecht und Kommissionärsrecht fallen, das Vertragshändlerrecht und Franchiserecht, auch wiederum das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, Lizenzrecht, spezielle Vorschriften des Arbeitsrechts und das Vertriebskartellrecht. In die dritte Kategorie könnte man alle Normen einordnen, die das Verhältnis des Unternehmens oder seiner Absatzmittler zum Staat betreffen, sofern es vertriebsunternehmens- oder absatzmittlerspezifische Normen sind oder diese eine besondere Bedeutung für Vertriebsunternehmen und die Absatzmittler aufweisen. Darunter würden dann bspw. spezifische gewerberechtliche Normen fallen, Auslandsinvestitionsgesetze mit besonderen Anforderungen an ­ Vertriebsunternehmen, Normen des Sozialversicherungsrechts für wirtschaftlich abhängige ­Selbständige, etc.

61Die Bezeichnung „Absatzmittler“ soll dabei als Oberbegriff stehen für Handelsvertreter, ­Kommissionäre, Vertragshändler, Franchisenehmer, etc.

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51

Halten Sie sich in diesen Bereichen im Wesentlichen auf dem Laufenden. Werfen Sie stets auch einen Blick in angrenzende Nachbargebiete, soweit es Ihre Resourcen zulassen. So ist zum Beispiel ein Unternehmen mit Handelsvertretern gut beraten, sich auch mit dem Recht der Vertragshändler auszukennen oder ein bisschen mit dem Recht der Versicherungsvertreter. So, wie man die Eigenarten, Besonderheiten und Schönheiten der eigenen Sprache erst dann richtig kennen lernt, wenn man ein oder zwei Fremdsprachen beherrscht, wird man auch das Potenzial, die Besonderheiten oder die Schwachstellen des Vertriebsrechts der eigenen Branche erst richtig einzuschätzen wissen, wenn man das Recht der benachbarten Branchen studiert. Außerdem können Sie so viel besser kreative und neuartige Lösungen entwickeln, wenn Sie die Geschäftsbeziehungen oder Strukturen Ihres Vertriebes weiterentwickeln wollen. Es gibt sehr gute Fachliteratur62 und auch hervorragende, spezialisierte externe Anwälte im Bereich des Vertriebsrechts. Die Gesetzeslagen im Vertriebsrecht sind teilweise so speziell bzw. so kompliziert gestaltet (oder unübersichtlich formuliert) und überdies so durch nationale und europäische Rechtsprechung überlagert, dass Sie ab einem bestimmten Punkt nur noch mit Expertenwissen weiterkommen werden. Bspw. bei der Frage, was Sie beachten und welche Kundeninformationspflichten und Belehrungen Sie wie formulieren und wie gestalten müssen, wenn Sie in Ihrem Geschäftsmodell einen Warenverkauf mit einer Verbraucherkreditfinanzierung via Internet grenzüberschreitend anbieten wollen. Oder ob und ggf. wie Sie freiwillig an Ihre Absatzmittler für deren Altersversorgung gewährte Zuschüsse so gestalten können, dass diese bei etwaiger Beendigung der Partnerschaft nicht den gesetzlichen Ausgleichsanspruch erhöhen. 52 In einem international tätigen Vertriebskonzern spielt dabei zusätzlich eine Rolle, dass sich das Vertriebsrecht von Land zu Land voneinander unterscheidet. Auch innerhalb der EU sind nur einige Teilbereiche oder nur einzelne Ausschnitte vollharmonisiert, und bei diesen divergieren wiederum die nationalen Auslegungen und Rechtsprechung. Dabei kann schon ein kleines übersehenes Detail (bspw. im Verbraucherkaufrecht) sämtliche Kundenverträge widerruflich machen oder die Verträge mit allen Vertriebsmittlern gefährden (das Recht der AGB ist ja praktisch nur noch Case Law). Die Frage ist dann, ob Sie dieses Expertenwissen komplett Inhouse darstellen können und wollen. Kein Geheimnis ist, dass bei Feldern mit kontinuierlichem Dauerberatungsbedarf für ein Unternehmen Insourcing die wirtschaftlichere Alternative darstellt. Dennoch neigen sehr stark auf den Vertrieb fokussierte Unternehmen tendenziell auch dahin, alle anderen „non-sales“ Bereiche sehr klein zu halten, einschließlich der Rechtsabteilungen.

62Bspw.: Küstner, Wolfram und Thume, Karl-Heinz: Handbuch des gesamten Vertriebsrecht. Heidelberg: Verlag Recht und Wirtschaft (3 Bände) 9. Aufl. 2014; Emde, Raimond: Vertriebsrecht, Kommentierung der §§ 84-92c HGB, Handelsvertreterrecht/Vertragshändlerrecht/Franchiserecht. Berlin: Verlag DeGruyter 3. Aufl. 2014; Martinek, Michael und Semler, Franz-Jörg und Habermeier, Stefan und Flohr, Eckhard: Handbuch des Vertriebsrechts. 4. Auflage, München: C. H. Beck 2016.

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Wichtig ist dann, dass Inhouse zumindest die risiko-monitorende und „troubleshooting“Funktion noch vernünftig dargestellt werden kann sowie die Steuerungs- und Schnittstellenfunktion zu den externen Beratern. Des weiteren Inhouse zu behalten ist vom Unternehmen benötigtes Spezialwissen, das so am Markt nicht erhältlich ist. Als drittes muss Know-how, welches für das Unternehmen von strategischer Bedeutung ist, Inhouse gesichert werden. Von hohem praktischen Wert für jeden Juristen ist natürlich der Austausch mit Kollegen aus den Rechtsabteilungen anderer Vertriebsunternehmen, die mit gleichgelagerten Rechtsthemen konfrontiert sind. Diese sind auch mit den Fragen der praktischen Implementierung im Unternehmen vertraut und können daher zusätzliche Aspekte beisteuern. Möglichkeiten zum Networking bieten sich z. B. durch Beitritt zu den Interessensverbänden, in denen sich Handels- und Vertriebsunternehmen bzw. Absatzmittler zusammengeschlossen haben.63 Auch sei an dieser Stelle auf die Deutsche Gesellschaft für Vertriebsrecht e. V. hingewiesen64, die 2009 von versierten Anwälten und namhaften Juristen aus der Industrie, der Versicherungswirtschaft und der Interessenvertretung der Handelsvermittlungen gegründet wurde, um die Entwicklung des nationalen und internationalen Vertriebsrechts zu fördern. Ein guter Unternehmungsjurist sollte sich auch schon allein deshalb gut vernetzen, 53 um anstehende Gesetzesänderungen möglichst mit weitem zeitlichen Vorlauf vor ihrem Erlass in Erfahrung zu bringen. Nur dann bestehen ausreichende Chancen, das Unternehmen darauf einzustellen und die erforderlichen Änderungen rechtzeitig implementieren zu können. Gerade im Vertriebsrecht ist alles ständig im Fluss. Wenn die Dinge erst einmal im Bundesgesetzblatt veröffentlicht sind, ist eine geordnete Umsetzung oft kaum noch vernünftig möglich, da die Fristen für das Inkrafttreten regelmäßig zu kurz bemessen sind und Übergangsfristen oft ganz fehlen. Da ist es dann gut, wenn Sie z. B. schon intensiv die Entstehung der dahinterstehenden EU-Richtlinie mit verfolgt haben. Neben Branchenverbänden denken Sie als Informationsquelle dabei auch an Ihre IHK, in der Ihr Unternehmen ohnehin Mitglied ist. Es kann auch durchaus angezeigt sein, sich als Unternehmensjurist aktiv im Vorfeld des Erlasses der einschlägigen Gesetze bemerkbar zu machen. Wenn es um Rahmenbedingungen geht, die für Ihr Unternehmen von essentieller oder strategischer Bedeutung sind, sollten Sie sich definitiv für dessen Interessen engagieren. Auch wenn beim Wort „Lobbying“ mancher vielleicht die Nase rümpfen mag (vielleicht gelegentlich auch zu Recht): In der Realität ist Interessenswahrnehmung eine dringende Notwendigkeit.

63Bspw.:

Bundesverband Direktvertrieb Deutschland www.direktvertrieb.de; bevh bundesverband e-commerce und versandhandel http://www.bevh.org/; DSE Direct Selling Europe (Direktvertrieb) http://www.directsellingeurope.eu; CDH Centralvereinigung Deutscher Wirtschaftsverbände für Handelsvermittlung und Vertrieb http://www.cdh.de/, DFV Deutscher Franchise Verband http:// www.franchiseverband.com/. 64Deutsche Gesellschaft für Vertriebsrecht e. V. http://www.dgvertriebsrecht.de/.

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„Die Interessenvertretung ist ein legitimes Element demokratischer Systeme“65 stellt denn auch die EU-Kommission fest. Sie ist allein schon unter dem Aspekt der Notwehr legitim. Was meine ich damit? Ganz einfach: Wer seinen Anliegen nicht Gehör verschafft, gerät schlicht „unter die Räder“ aller anderen Interessensgruppen. Denn die betreiben alle und ausnahmslos Lobbying: Die EU-Kommission hat in ihrem „Register der Interessensvertreter“ derzeit knapp 11.628 Institutionen, Verbände, Nichtregierungsorganisationen, Think Tanks und Anwaltskanzleien verzeichnet.66 Wohlgemerkt, bei letzterer Zahl handelt es sich um die Anzahl der Organisationen, nicht der für sie tätigen Einzelpersonen. Die Anzahl der Lobbyisten in Brüssel wurde Ende 2010 auf rund 15.000 geschätzt.67 Hinzu kommt noch das große Heer der politischen Lobbyisten, also die Vertreter der deutschen Bundesländer, die ständigen Vertretungen der Mitgliedsstaaten, der spanischen Regionen, die ständigen Vertretungen der Nicht-EU-Länder, um nur einige zu nennen. Wer in diesem gewaltigen Malstrom nicht Augen und Ohren offen hält und sich ab und an zu Wort meldet, darf sich nicht wundern oder beschweren, wenn am Ende der eigene Betätigungsbereich komplett durchreglementiert, beschnitten oder sonstwie den Interessen anderer Gruppen geopfert wurde.68 54 Und natürlich findet Interessensvertretung auch in jedem einzelnen Land statt. So führt der Präsident des Deutschen Bundestages eine öffentliche Liste, in der diejenigen Verbände, welche Interessen gegenüber dem Bundestag oder der Bundesregierung vertreten, eingetragen werden können.69 In dieser sind z. Zt. rund 2.330 Vereine und Verbände offiziell als Lobbying-Einheiten registriert.70 Ein Blick in diese Liste lohnt sich: Von A (wie ABDA, der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände) bis Z (wie ZIV, dem Zweirad-IndustrieVerband) sind dort alle denkbaren „stakeholder“ vertreten, darunter die National Rifle Association, die Union der Deutschen Kartoffelwirtschaft und der Bundesverband Parken e. V., um nur einige zu nennen. Sie sehen also: Sie sind vermutlich der Einzige, der in Berlin noch nicht mit dabei ist.

65Mitteilung

der Kommission – Europäische Transparenzinitiative – Rahmen für die Beziehungen zu Interessenvertretern (Register und Verhaltenskodex) v. 27.05.2008, KOM(2008) 323 endgültig, Anhang, S. 7 http://ec.europa.eu/transparency/docs/323_de.pdf. 66S. http://ec.europa.eu/transparencyregister/public/consultation/statistics.do locale=de&action= prepareView. Der Eintrag in dieses Register erfolgt allerdings auf freiwilliger Basis, weswegen die Liste der dort verzeichneten interessensvertretenden Institutionen nicht erschöpfend ist. 67Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.12.2010, Z 1. 68Sehr lesenswert in diesem Zusammenhang auch: Enzensberger, Hans Magnus: Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas, Suhrkamp Berlin 2011. Berlin, Suhrkamp 2011. 69S. dazu die Geschäftsordnung des Bundestages, Anlage 2, Abs. 1 und die Webseite des Bundestages zu den registrierten Verbänden http://www.bundestag.de/dokumente/lobby/index.html. 70Stand Januar 2018; s. BAnzeiger Nr.  77a vom 26. Mai 2010 http://www.bundestag.de/ blob/189476/ebacea2d2a70a3b1371d77f1c3d11295/lobbylisteaktuell-data.pdf.

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7.9 Seien Sie ein guter Berater – und akzeptieren Sie den Unterschied zum Geschäftsführer Rufen Sie sich schließlich des Öfteren ins Gedächtnis, dass Sie als Unternehmensjurist 55 letztlich Berater und Umsetzer sind – das heißt dazu da, ihrem Management mit Rat und Tat zur Seite zu stehen und dann zu implementieren. Nicht jedoch ist es Ihre Aufgabe, alle unternehmerischen Entscheidungen zu treffen. Diese grundsätzliche Rollenverteilung zu erkennen und zu akzeptieren, kann Ihnen helfen, Frustration zu vermeiden und Ihre Aufgaben mit Gelassenheit, Neutralität und somit umso professioneller zu erfüllen. In meinem jugendlichen Anfangsjahren als Unternehmensjurist dachte ich noch, es sei meine Aufgabe, das Management höchstpersönlich an unternehmerischen (Fehl) Entscheidungen zu hindern, nötigenfalls gegen deren Willen. Bis mir eines Tages ein erfahrenerer Kollege sinngemäß mit dem folgenden schönen Bild weiterhalf: „Wenn du siehst, dass auf dem Weg eine Grube mit Klapperschlangen liegt, darfst du nicht sagen: Halt, Stopp! Hier geht keiner durch! Stattdessen ist es Deine Aufgabe, dem Management zu sagen: Achtung, Schlangengrube! So und so viele habe ich bereits außer Gefecht gesetzt. So und so viele sind allerdings noch aktiv. Ich rate Ihnen ab, da durchzugehen. Rechts habe ich auch noch einen zweiten Weg gefunden, an der Grube vorbei. Falls Sie dennoch planen, hindurchzugehen: Hier, versuchen Sie es mit diesen Stiefeln. Viel Glück!“ Was ich damit verdeutlichen will, ist der Unterschied zwischen dem Juristen als dem internen Berater (wie auch schon die Bezeichnung „general counsel“ zum Ausdruck bringt) einerseits und der Geschäftsführung andererseits, welche die Entscheidungsgewalt innehat, eben die Geschäfte „führt“ und dazu die operativen Entscheidungen trifft. Die Entscheidungen unternehmerischer Art zu fällen und die Dinge zu tun oder aber zu unterlassen, ist und bleibt Hoheit der Geschäftsführung. Letztere im bestmöglichem Sinne zu beraten, gelegentlich auch zu drängen, ist Ihre Aufgabe. Wenn nun aber die Geschäftsleitung sich schlussendlich entgegen ihren Empfehlungen verhält, so ist dies ein Umstand, den Sie letztlich akzeptieren müssen.71 Die klügste unternehmerische Entscheidung ist nicht immer identisch mit dem, was 56 juristisch das Klügste wäre. Unternehmer nehmen gewöhnlich Risiken in Kauf72, die Sie als Jurist vielleicht in dieser Weise nicht unbedingt tragen würden. Bereits Machiavelli bemerkte: „Deshalb soll ein kluger Herrscher (…) weise Männer auswählen, denen allein er die Freiheit geben soll, ihm die Wahrheit zu sagen (…). Doch soll er sie auf jeden Fall um Rat fragen, ihre Meinungen anhören und dann seine Entscheidung nach Belieben fällen.“73 Die Unternehmensleitung darf also nach Belieben auch

71Außer

natürlich bei Entscheidungen, die den Boden der Legalität verlassen. ist dafür in der Geschäftsführervergütung bzw. im Unternehmergewinn ein Risikozuschlag eingepreist. 73Machiavelli, Niccolò: Der Fürst. Übers. u. hrsg. von Zorn, Rudolf. 6. Auflage, Stuttgart: Kröner Verlag, 1978, Seite 98 (Kapitel XXIII). 72Allerdings

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­ ehlentscheidungen treffen und sich über Ihre Meinung hinwegsetzen. Das Schöne aber F ist doch, dass Sie immerhin als weiser Mann bzw. als weise Frau zählen, dass Sie gefragt werden sollen – und dass Sie „Tacheles“ reden dürfen. Und dafür sind wir Juristen ja prädestiniert.

Literatur Ariely, Dan, Predictably Irrational, 2008 Cialdini, Robert B., Die Psychologie des Überzeugens, 8. Auflage 2017 Emde, Raimond, Vertriebsrecht, Kommentierung zu §§ 84 bis 92 c HGB, 1. Auflage 2009 Emerson, Ralph Waldo, Nature and Selected Essays, Neuauflage 2003 Enard, Wolfgang/Przeworski, Molly, et al, Molecular Evolution of FOXP2, a gene involved in speech and language, 2002 Engelken, Eva, Klartext für Anwälte, 1. Auflage 2010 Gladwell, Malcolm, Überflieger: Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht, 1. Auflage 2009 Gorski, Maxim, Gebrauchsanweisung für Deutschland, Neuauflage 2008 Gray, John, Men are from Mars, Women are from Venus, 1. Auflage 1992 Hofstede, Geert/Hofstede Gert Jan, Lokales Denken, globales Handeln, 6. Auflage 2017 Küstner, Wofram/Thume, Karl-Heinz, Handbuch des gesamten Außendienstrechts, 1. Auflage, ­Ausgabe 2011 Le Bon, Gustave, Psychologie der Massen, 15. Auflage 1982 Levitt, Steven D./Dubner, Stephen J., Freakonomics, 2006 Machiavelli, Niccolò, Der Fürst (hrsg. von Rudolf Zorn), 6. Auflage 1978 Martinek, Michael/Semler, Franz-Jörg/Habermeier, Stefan/Floh, Eckhard (Hrsg.), Handbuch des Vertriebsrechts, 4. Auflage 2016 Mayer, Claude-Hélène/Bonnes, Christian Martin/Thomas, Alexander, Beruflich in Südafrika, 2004 Swift, Jonathan, Gullivers Reisen, 1. Auflage 1974 Thoreau, Henry David, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays, Neuauflage 2010 Von Hirschhausen, Eckart, Glück kommt selten allein, 3. Auflage 2009 Von Oech, Roger, A Whack on the Side of the Head – How you can be more creative, 1998

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Die ausgelagerte Rechtsabteilung Maximilian Dorndorf

Die Auslagerung von internen Unternehmensfunktionen („Outsourcing“) ist heutzutage in vielen Bereichen üblich und keineswegs neu. Allseits bekannte Beispiele sind etwa die Auslagerung der Personalbuchhaltung, der IT und der Logistik. In diesen Fällen werden regelmäßig vormals intern erledigte Aufgaben an ein externes Dienstleistungsunternehmen vergeben, häufig (aber nicht immer) unter Übernahme von sächlichen und personellen Ressourcen. Echte Auslagerungen einer bestehenden Rechtsabteilung sind aber nach wie vor selten. Öffentlich bekannt geworden ist etwa der Fall der Juristen der Heidelberger Druckmaschinen AG, die sich selbst ausgründeten und ihre bislang als Angestellte des Unternehmens erbrachten Beratungsleistungen sodann als externe Rechtsanwaltskanzlei erbrachten.1 Struktur und Aufgabengebiet von Rechtsabteilungen können abhängig von der Art und der Größe des Unternehmens, der durch das Unternehmen verfolgten Positionierung der Rechtsabteilung und den zu bearbeitenden rechtlichen Themenfeldern stark unterschiedlich ausfallen. Schematische Darstellungen verbieten sich deshalb.2 Gleichwohl gibt es unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der Rechtsabteilung und unabhängig von der konkreten Art des Unternehmens grundlegende Gemeinsamkeiten bei den Vor- und Nachteilen einer internen Rechtsabteilung.

1Siehe

hierzu den Artikel „Inhouse im Freien“ in JUVE Rechtsmarkt 12/2005, S. 46–50. der Rechtsberatung ist nicht für alle Unternehmen vorteilhaft“, JUVE Rechtsmarkt 12/2005, S. 49.

2„Outsourcing

M. Dorndorf (*)  Luther Rechtsanwalts-gesellschaft mbH, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Lenz (Hrsg.), Die Rechtsabteilung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21915-4_8

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1

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Der Beitrag soll daher Anregungen geben, unter welchen Aspekten die aktuelle Struktur der Rechtsabteilung zu überprüfen sein könnte, um festzustellen, ob und in welchem Umfang eine Auslagerung der Rechtsabteilung sinnvoll sein kann. Zur Eingrenzung liegt dem Beitrag die Annahme einer Rechtsabteilung eines Unternehmens von gehobener mittelständischer bis konzernähnlicher Größe und internationalem Tätigkeitsfeld zugrunde, bei der die zu bearbeitenden rechtlichen Themenfelder von den „klassischen“ internen Themen wie Gesellschaftsrecht, Handels- und allgemeines Wirtschaftsrecht, Arbeitsrecht bis hin zu rechtlichen Spezialthemen abhängig vom Unternehmensgegenstand reichen.

8.1 Funktion der Rechtsabteilung im Unternehmen 4

Bevor sich ein Unternehmen mit der Auslagerung der Rechtsabteilung befasst, muss es definieren, welche Funktion die Rechtsabteilung nach den Zielen des Unternehmens haben soll.

8.1.1 Der Anwalt für das Unternehmen – zunächst einmal externer Anwalt3 5

6

„Kein Unternehmen verdient sein Geld mit Anwälten“ – so eine landläufige und häufig auch zutreffende Aussage von Unternehmerseite.4 Die Notwendigkeit, sich mit rechtlichen Fragestellungen zu befassen, wird von Unternehmern regelmäßig als unvermeidbare Begleiterscheinung wirtschaftlicher Tätigkeit empfunden, deren Kosten- und Zeitaufwand möglichst gering zu halten sind. Sobald rechtliche Fragen in einem Unternehmen zu erledigen sind, kommt der Rechtsanwalt deshalb häufig lediglich als notwendiges Übel ins Spiel. Das klassische Bild des Rechtsberaters (auch nach den einschlägigen standesrechtlichen Bestimmungen) ist nach wie vor das des zugelassenen Rechtsanwalts, der aufgrund eines konkreten Auftrags Rechtsangelegenheiten erledigt. Der außerhalb des Unternehmens stehende Rechtsanwalt ist somit ein Dienstleister, der gegen Entgelt eine Leistung erbringt und sich im Markt dem Wettbewerb mit anderen

3Für

die nachfolgende Darstellung sind Verallgemeinerungen unumgänglich. Das hier gezeichnete Bild des externen und des internen Anwalts ist keinesfalls repräsentativ, sondern dient nur der plakativen Darstellung der Unterschiede. Unbestritten sind die althergebrachten Vorstellungen zunehmend im Umbruch und die hier zugrunde gelegten Vorurteile bei zahlreichen internen und externen Rechtsanwälten nicht berechtigt. 4Ob diese Aussage immer zutreffend ist, darf bezweifelt werden. Der gute (interne oder externe) Anwalt kann unter verschiedenen Aspekten durchaus wertschöpfend tätig sein. Siehe hierzu auch den Beitrag von Rechtsanwalt Dr. Carsten Reimann zum „Legal Management“ in diesem Buch.

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Dienstleistern stellen muss. Die Rahmenbedingungen für die Arbeit des externen Rechtsanwalts ergeben sich aus durchaus gegensätzlichen Polen: Als Interessenvertreter hat er die Interessen des Auftraggebers im Blick zu halten (neben inhaltlich mandatsbezogenen Interessen auch das Interesse an der Vermeidung von Kosten). Als Unternehmer in eigener Sache ist er auf angemessene Vergütung und Auslastung angewiesen und muss sich durch Qualifikation, wirtschaftliches Verständnis, Effizienz und pünktliche Erledigung der Aufgaben empfehlen. Als unabhängiges Organ der Rechtspflege unterliegt er zwingenden berufsrechtlichen Regeln.5 Als externer Dienstleister haftet er für seine Leistungen – und dies nach durchaus strengen Regeln.

8.1.2 Der Anwalt im Unternehmen Die Unternehmen mit existierender Rechtsabteilung haben sich irgendwann entschieden, die Erledigung rechtlicher Fragestellungen jedenfalls zum Teil durch eigene festangestellte Mitarbeiter erledigen zu lassen. Die initialen Gründe hierfür dürften häufig entweder in rein wirtschaftlichen Erwägungen oder in ungeprüft übernommenen Gewohnheiten („ein Unternehmen braucht eine Rechtsabteilung“) liegen. Das Berufsbild des Rechtsanwalts in einer Rechtsabteilung unterscheidet sich in vielen Aspekten kaum von dem des externen Anwalts. Auch der „Inhouse-Jurist“ begleitet die Angelegenheiten des Unternehmens aus rechtlicher Sicht, insbesondere bei der Prüfung und Erstellung von Verträgen und bei der Analyse rechtlicher Rahmenbedingungen. Praktisch zeigen sich allerdings durchaus erhebliche Unterschiede in anderen Aspekten. So erfolgt die Beauftragung des internen Juristen häufig auf Zuruf. Wer beide Seiten – also die Arbeit als externer Rechtsanwalt und die Arbeit als Inhouse-Jurist – kennt, weiß, dass die Art der Anfrage nach Rechtsberatung und die Erwartungshaltung des Ratsuchenden sehr unterschiedlich sein können:

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1. Wo der externe Anwalt zu Rate gezogen wird, wird von ihm als Dienstleister eine belastbare rechtliche Aussage als Grundlage des weiteren Handelns erwartet. Die Einschaltung des externen Anwalts dient zudem bisweilen dem Zweck, beim Geschäftspartner die Ernsthaftigkeit der Sache zu unterstreichen. Der externe Anwalt ist aufgrund des vorstehend aufgezeigten Spannungsfelds gehalten, den Mandanten auch unter dem Gesichtspunkt der eigenen Haftung vorsichtig zu beraten und auf alle Risiken deutlich hinzuweisen. Erfahrene Syndikusanwälte kennen die Neigung des externen Anwalts, vor Beantwortung der konkreten Frage zunächst einmal darauf hinzuweisen, was alles nicht gefragt wurde und welche Sachverhaltsinformationen nicht bekannt waren. Hat der externe Anwalt die erforderlichen Hinweise allerdings erteilt,

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5Insbesondere

der Bundesrechtsanwaltsordnung.

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ist es nicht mehr seine Angelegenheit, ob die konkret anfragende Person die Hinweise unternehmensintern kommuniziert. Die unternehmerische Entscheidung in den von ihm begleiteten Fällen ist nicht mehr seine Angelegenheit. Auch bei der Informationsbeschaffung mag der externe Anwalt dazu neigen, die Bearbeitung von der vorherigen Beantwortung von „Fragenlisten“ zum Sachverhalt abhängig zu machen. 10 2. Nun ist es keineswegs so, dass man von internen Anwälten nicht ebenfalls belastbare Aussagen als Grundlage für das weitere Handeln erwartet. Gleichsam verleiht auch die Einschaltung des Inhouse-Juristen den Dingen ein gewisses Gewicht gegenüber dem Geschäftspartner. Aufgrund seiner internen Einbindung wird aber vom internen Anwalt erwartet, dass er entweder bereits über die erforderlichen tatsächlichen Informationen verfügt oder aber in der Lage ist, sie selbst zu besorgen. Das Unternehmen darf zudem von dem internen Juristen mit Recht erwarten, dass er sich nach Erteilung etwaiger Hinweise auf Risiken nicht zurückzieht und die Dinge ihrem Lauf überlässt. Jedenfalls von langjährig tätigen internen Anwälten wird auch erwartet, dass sie jedenfalls Teilbereiche der unternehmerischen Entscheidung selbst und eigenverantwortlich treffen etwa bei vertraglichen Regelungen über Sicherheiten, Investitionsschutz, Vergütungsanpassungen, Haftungsfragen. Der gute interne Anwalt ist daher in die unternehmerische Entscheidung häufig tiefer eingebunden und versteht es, die Interessen des Unternehmens eigenständig und aktiv über die bloße rechtliche Bewertung hinaus zu vertreten. 11 Auch wenn vom internen Anwalt verbindliche rechtliche Beratung erwartet wird, spielt bei ihm als Angestellter des Unternehmens die persönliche Haftung eher eine untergeordnete Rolle. Auch Wettbewerbsdruck (also die Konkurrenz mit Berufskollegen) wird dem internen Anwalt regelmäßig fremd sein (von internen Karriereaussichten einmal abgesehen). Auch wenn einige Unternehmen die Leistungen der Rechtsabteilung über eine interne Leistungsverrechnung abrechnen6, löst die Einholung von internem Rechtsrat für das Unternehmen nicht unmittelbar Kosten aus. 12 3. Der interne Anwalt wird insofern ebenso wie der externe Anwalt als Interessenvertreter rechtsberatend tätig. Nach den berufsständischen Regelungen ist auch er Organ der Rechtspflege, wenngleich er mit dem weit überwiegenden Teil seiner verfügbaren Zeit nicht dem allgemeinen rechtsuchenden Verkehr zur Verfügung steht, sondern seinem Unternehmen – seinem Arbeitgeber. Der Aspekt des Unternehmers in eigener Sache spielt aber ebenso kaum eine Rolle wie die Verantwortlichkeit und Haftung als externer Dienstleister.

6Nach

einer Studie werden in nur 39 % der Fortune-150 Unternehmen sowohl externe als auch interne Anwaltskosten den jeweiligen Fachabteilungen weiterbelastet; 22 % stellen nur die externen Kosten in Rechnung, siehe II. Otto – Henning General Counsel Benchmarking Report 2007 „Organisation und Strategie der Rechtsabteilung im Fokus von Qualität und Effizienz“, S. 98.

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8.2 Warum ein „Outsourcing“? Auf den ersten Blick und unter Zugrundelegung von Klischees könnte man meinen, 13 dass eine Auslagerung der Rechtsabteilung regelmäßig keinen Sinn macht: Der interne Jurist ist tief integriert, jederzeit greifbar, es gibt verlässlich berechenbare Kosten und für wichtige Fragestellungen, bei denen es auch darauf ankommt, dass hinter der Antwort eine Haftung steht, greift man auf externe Kräfte zurück. Der externe Anwalt ist distanziert, bearbeitet auch andere Mandate, ist wenig kostenbewusst und versteht die operativen Zusammenhänge nicht sofort. Dies greift allerdings zu kurz. Ob eine Auslagerung Sinn macht und wenn ja, in welchem Umfang, wird man (wie 14 bei der Auslagerung anderer üblicherweise konzerninterner Funktionen auch) nur sehr individuell beantworten können. Zur Entscheidungsfindung wird man die entscheidungserheblichen Parameter ermitteln, bewerten, gewichten und untereinander abwägen müssen. Welche Parameter entscheidungserheblich sind, mag von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich sein. Häufig spielen subjektive Erwägungen eine Rolle. Über bestimmte objektive Aspekte kann man aber nicht hinwegsehen, wenn man sich Vor- und Nachteile der internen Rechtsabteilung vor Augen hält.

8.2.1 Vorteile der internen Rechtsabteilung Einige objektive Vorteile liegen auf der Hand. Der interne Jurist arbeitet praktisch 15 nahezu ausschließlich für sein Unternehmen, ist mit kurzen Wegen stets verfügbar und kennt jedenfalls nach einiger Einarbeitungszeit die spezifischen Probleme seines Unternehmens sowie deren Lösungen. Er ist loyal, weil sein persönliches Schicksal unmittelbar vom Wohl und Wehe seines Unternehmens abhängt. Prioritätskonflikte bei gleichzeitiger Anfrage nach rechtlicher Unterstützung lassen sich über die Unternehmenshierarchie eskalieren und lösen. Unternehmensspezifisches Know-How ist direkt im Unternehmen vorhanden. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Fachabteilungen erlaubt dauerhaft etablierte Arbeitsbeziehungen und pragmatisches Handeln.

8.2.2 Nachteile der internen Rechtsabteilung Auf der anderen Seite gibt es durchaus Nachteile. Zum einen fallen die Kosten für die 16 Rechtsabteilung unverändert auch dann an, wenn der Arbeitsaufwand sinkt. Die Kosten für Personalabbau bei Überkapazitäten, negativer Entwicklung oder auch nach Unternehmenszusammenschlüssen belasten das Ergebnis. Zum anderen ist die zeitliche Kapazität der internen Rechtsabteilung begrenzt. Bei Kapazitätsengpässen müssen Aufgaben deshalb extern vergeben werden. Aufgrund der gewohnten Arbeitsabläufe oder

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aufgrund entsprechender interner Richtlinien7 müssen aber häufig selbst die extern vergebenen Mandate durch die internen Rechtsanwälte gesteuert und begleitet werden.8 Das führt zu ineffizienter Doppelbefassung und Kostenerhöhungen. Hinzu kommt, dass der nur selten eingeschaltete externe Anwalt mit den spezifischen Problemen des Unternehmens nicht so vertraut sein wird. Bei den externen Kosten lassen sich außerdem kaum Mengenbündelungseffekte erzielen, wenn externe Kanzleien nur ab und an eingeschaltet werden. 17 Auch die fachliche Kapazität der Rechtsabteilung ist naturgemäß selbst dann begrenzt, wenn sie mit brillanten und erfahrenen Juristen besetzt ist. Neue Rechtsentwicklungen erfordern ständige Fortbildung, die zu Kosten und Personalausfall führen. Zudem wird sich auch bei fachlich breit aufgestellten Rechtsabteilungen nie vermeiden lassen, dass spezielle Rechtsfragen nicht beantwortet werden können und deshalb extern vergeben werden müssen. Weiterhin nicht zu vernachlässigen ist der Know-How-Verlust, der eintritt, wenn Mitarbeiter der Rechtsabteilung sich beruflich verändern. Jedes Unternehmen unterliegt einer gewissen Personalfluktuation. Verlassen Know-How-Träger aus dem Rechtsbereich das Unternehmen, wechseln sie gar zum Wettbewerb, ist der praktische Schaden beträchtlich. Praktisch bedeutsam ist der Umstand, dass der interne Rechtsanwalt seinen Arbeitsgeber nicht in gerichtlichen Verfahren vertreten darf.9 Bei gerichtlichen Auseinandersetzungen (jedenfalls vor dem Landgericht) ist die Einschaltung von externen Kanzleien also unerlässlich. Trotz der Einschaltung des externen Anwalts muss aber auch hier die Steuerung weiterhin durch die Rechtsabteilung vorgenommen werden, insbesondere dann, wenn die Angelegenheit eine vorprozessuale Vorgeschichte hat, an der der interne Rechtsanwalt beteiligt war. Erneut entsteht Doppelaufwand, indem das Know-How des Falles auf den externen Anwalt übertragen werden muss. 18 Häufig zu beobachten ist, dass in den Unternehmen, in denen rechtliche Beratung durch die Rechtsabteilung ohne direkte Kostenfolge bleibt (weil die Kosten der Rechtsabteilung nicht oder nur pauschal umgelegt werden), Anfragen durch die Fachabteilungen unstrukturiert oder unpräzise gestellt werden und administrative Arbeiten auf die Rechtsabteilung abgewälzt werden (von der Anlagenerstellung bis zur Zusammenfassung der wirtschaftlichen Eckdaten eines Projekts für die Entscheidungsträger). Sobald allerdings Anfragen an die Rechtsabteilung und der damit verbundene Aufwand auch zu Kosten für die Fachabteilung führen, setzt ein gewisses Kostenbewusstsein ein.

7Immerhin

haben viele Unternehmen eine Rechtsberatungsrichtlinie eingeführt, nach der regelmäßig alle Rechtsangelegenheiten einschließlich der externen Vergabe durch die Rechtsabteilung gesteuert werden (66 % der Befragten im II. Otto – Henning General Counsel Benchmarking Report 2007, S. 60). 8Laut der Studie II. Otto – Henning General Counsel Benchmarking Report 2007 wird bei über 70 % der Unternehmen die Rechtsabteilung auch bei der Mandatierung externer Kanzleien eingebunden. 9§ 46 Abs. 1 BRAO.

8  Die ausgelagerte Rechtsabteilung

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8.2.3 Hauptaspekt Kosten Neben den vorstehenden Aspekten, die eher die praktische Arbeit und Qualitätsfaktoren 19 in den Vordergrund stellen, ist naturgemäß die Kostenseite einer der maßgeblichen Entscheidungstreiber, weshalb dieser Aspekt gesondert bewertet werden soll. Verbreitet wird angenommen, die interne Rechtsabteilung sei per se kostengünstiger als die Einschaltung externer Kanzleien. In der Studie „II. Otto – Henning General Counsel Benchmarking Report 2007“ wurde ein durchschnittlicher Stundensatz von 141,- Euro für jeden beschäftigten Unternehmensjuristen ermittelt, unter Berücksichtigung von Vollkosten (einschließlich Sekretariat), allerdings auf Basis von 1800 abrechenbaren Stunden pro Jahr.10 Spitzenwerte sollen bei bis zu 185,- Euro pro Stunde liegen.11 Demgegenüber soll der durchschnittliche Stundensatz bei externen Kanzleien auf Basis einer Spreizung zwischen 389,- Euro (für Partner), 310,- Euro (für Senior Associates) und 222,- Euro (für Associates) bei 308,- Euro liegen.12 Wären diese Werte tatsächlich stets zutreffend, spräche kostenseitig nahezu nichts mehr 20 für die Einschaltung externer Kanzleien und jedes Unternehmen wäre besser beraten, ausschließlich interne Juristen zu beschäftigen. Indessen darf die Allgemeingültigkeit und die Aussagekraft dieser Zahlen durchaus bezweifelt werden. Zum einen scheint der zugrunde gelegte Zeitaufwand von 1800 abrechenbaren Stunden im Jahr relativ hoch angesetzt. Er entspräche bei 220 Arbeitstagen pro Jahr einem Aufwand von über 8 h „echter“ anwaltlicher Tätigkeit. Das wäre selbst für internationale Großkanzleien, die für den hohen zeitlichen Einsatz bekannt sind, ein ambitionierter Wert.13 Zum anderen darf der administrative Aufwand in Rechtsabteilungen nicht unterschätzt werden. Das betrifft je nach Größe Personalführung, Fortbildung, vor allem aber Reporting-Aufgaben und Teilnahme an nicht immer unmittelbar mandatsbezogenen Besprechungen. Realistischerweise wird man also einen durchaus erheblichen Abschlag für Tätigkeiten annehmen müssen, die nicht anwaltliche Beratungstätigkeit sind. Hinzu kommt, dass in der Studie vor allem große Unternehmen im Fokus standen; 21 namentlich erwirtschafteten nur 6 % der befragten Unternehmen einen Umsatz von weniger als 2 Mrd. EUR, 60 % erwirtschafteten mehr als 5 Mrd. EUR.14 In derart großen Unternehmen mögen einerseits die Synergie-Effekte in Bezug auf allgemeine Umlagen größer sein, was zu geringeren Vollkosten führt, zum anderen mögen die an externe Kanzleien gezahlten Stundensätze höher sein als bei vergleichsweise kleineren Unternehmen,

10II.

Otto – Henning General Counsel Benchmarking Report 2007, S. 95. Otto – Henning General Counsel Benchmarking Report 2007, S. 95. 12II. Otto – Henning General Counsel Benchmarking Report 2007, S. 134 f. 13Nach der „azur-Umfrage“ 2017 (s.  www.azur-online.de) etwa budgetieren Großkanzleien wie Hogan Lovells 1450 h im ersten Jahr, Allen & Overy 1750 h, Bird & Bird 1550 h, Baker & McKenzie 1660 h im ersten Jahr und danach 1800 h, Taylor Wessing 1600 h. 14II. Otto – Henning General Counsel Benchmarking Report 2007, S. 20. 11II.

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die keinen Durchschnittsstundensatz von rund 390,- Euro für Partner bezahlen. Es spricht also einiges dafür, dass in vielen Unternehmen die tatsächlichen Werte betreffend den internen und den externen Stundensatz deutlich näher beieinander liegen als 141,- Euro und 308,- Euro. Neuere Auswertungen zeigen zudem, dass sich auch die Stundensätze immer weiter annähern: Das Magazin juve berichtete in der Ausgabe 2/2016 etwa einen durchschnittlichen externen Satz von 336,- Euro für Partner und 262,- Euro für Associates, im Durchschnitt bei einer Aufteilung von 1/3 Partnerarbeit und 2/3 Associatearbeit somit rund 289,- Euro. Demgegenüber dürfte der interne Stundensatz von 141,- Euro zwischenzeitlich deutlich höher sein. Nach juve Ausgabe 2/2014 ergeben sich Gehaltsbänder zwischen 250.000,- Euro und rund 90.000,- Euro pro Jahr für interne Anwälte (jeweils ohne „Nebenkosten“ wie Büro, IT, Fortbildung, Material und Assistenz). Nach einer aktuellen Erhebung von Juve liegen die Gehälter der Chefjuristen in Deutschland inklusive geldwerter Zusatzleistungen bei durchschnittlich 184.000,- Euro. In größeren Unternehmen mit mehr als 10.000 Mitarbeitern steigen die Medianwerte der Grundgehälter von Legal Counsel auf 210.000,- Euro.15 Rechnet man die „all-in“-Kosten realistisch, ergibt sich schnell ein Budget von durchschnittlich 200.000,- Euro pro Inhouse-Juristen (mit „Nebenkosten“). Ein Syndikus, der eine „abrechenbare“ Zeit von 1000 h pro Jahr leisten kann, kostet also rechnerisch 200,- Euro pro Stunde, bei 1400 h reduziert sich dies auf 142,Euro pro Stunde. Die statistischen Werte berücksichtigen ferner nicht, ob anwaltlicher Aufwand für 22 die gleiche Sache sowohl intern als auch extern angefallen ist. Mit anderen Worten: Wenn sowohl der interne als auch der externe Anwalt eine Stunde mit der gleichen Sache befasst sind (etwa bei Besprechungen, Einführung in den Sachverhalt oder Vertrags- bzw. Gerichts-Verhandlungen), ergibt sich selbst auf Basis der obigen statistischen Durchschnittswerte ein Aufwand von 449,- Euro pro Stunde (141,- Euro intern und 308,Euro extern). Einer der wesentlichen Schlüssel zur Kostenreduzierung dürfte daher sein, die Doppelbefassung soweit wie möglich zu verringern. Der reine Vergleich interner Kosten mit den externen Stundensätzen besagt für sich genommen nur wenig.

8.2.4 Bewahrung der Vorteile und Vermeidung der Nachteile durch Auslagerung? 23 Die entscheidende Frage ist also, ob durch eine Auslagerung der Rechtsabteilung die Vorteile der internen Rechtsabteilung gewahrt und die Nachteile vermieden werden können.

15https://www.juve.de/nachrichten/namenundnachrichten/2017/01/gehaelter-das-verdienen-die-

deutschen-inhousejuristen.

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1. direkte Schnittstelle zu den internen Mandanten/Empathie mit dem Unternehmen a) Einer der oft bemühten und fraglos auch bestehenden Hauptvorteile der internen 24 Rechtsabteilung ist sicher die unmittelbare Vernetzung mit den Fachabteilungen des Unternehmens. Es ist aber nicht zwingend, dass diese direkte Vernetzung bei Einschaltung externer Anwälte ausgeschlossen ist. Ob eine solche Vernetzung gelingt, hängt vielmehr davon ab, wie man die Mandatierung und die Mandatsarbeit gestaltet. Wer als externer Anwalt nur ab und an in Spezialfragen eingeschaltet wird, wird kaum oder nur sehr gering die zeitliche Investition vornehmen, das Geschäftsmodell des Mandanten bis ins Detail zu verstehen. Wer aber fortlaufend und mit direktem Kontakt zu den Fachabteilungen mit der rechtlichen Betreuung befasst ist, lernt automatisch die Details kennen. Wenn es mit der Auslagerung der Rechtsabteilung gelingt, weg vom althergebrachten Bild des distanzierten Anwalts als Organ der Rechtspflege, das vor allem auf Haftungsvermeidung bedacht ist, eine Nähebeziehung zuzulassen, lässt sich der typische Vorteil der internen Rechtsabteilung auch bei externer Beauftragung bewahren. Wenn man die direkte Anbindung der Rechtsabteilung mit den Fachabteilungen 25 und den persönlichen Kontakt in den Vordergrund stellt, muss man aber auch kritisch fragen, ob der persönliche Kontakt heutzutage noch wesentliche Bedeutung hat. Das tatsächliche alltägliche Berufsbild des internen Juristen dürfte sich in den letzten Jahren erheblich geändert haben. Die nahezu flächendeckende Einführung von elektronischen Hilfsmitteln, mag man sie nützlich finden oder verfluchen, führt bei Lichte besehen dazu, dass ein Großteil der täglichen Arbeit von jedem Ort der Welt erledigt werden kann und auch erledigt wird. Die allgegenwärtige Verfügbarkeit über mobile Emailmöglichkeit ist nur ein Bestandteil. Telefon- und Videokonferenzen, vielmehr aber noch die Möglichkeit der elektronischen Aktenführung und des Zugriffs auf Daten von jedem Ort der Welt (solange es denn eine Internet-Verbindung gibt), führt heute schon dazu, dass selbst große Projekte auch ohne persönlichen Kontakt bearbeitet werden oder erst in den letzten Zügen die finalen Verhandlungen persönlich geführt werden. Wo früher physische Datenräume vorbereitet wurden, lassen sich heute Dokumente personenspezifisch auf dem Bildschirm sichtbar machen. Wo früher physische Akten ein wesentlicher Bestandteil der täglichen Arbeit waren, sind diese heute durch elektronische Kopien auf zugangsgeschützten Servern mindestens ergänzt, wenn nicht ersetzt. Zentrale Rechtsabteilungen stehen heute schon mit den jeweiligen Ansprechpartnern des Unternehmens in stetigem Kontakt, ohne dass man sich immer persönlich begegnet. Ohne den regelmäßigen persönlichen Austausch gering schätzen zu wollen – in der 26 praktischen Arbeit wird heute schon ein Großteil der Arbeit erledigt, ohne dass man sich stets vorab persönlich austauscht. Die heutigen technischen Mittel erlauben also eine nahezu gleichwertige Einbindung der ausgelagerten Rechtsabteilung.

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27 b) Ist der externe Anwalt demnach schon wegen der technischen Mittel auch unabhängig von der räumlichen Entfernung durchaus gegenwärtig, erreicht man eine weitere Annäherung, wenn man sich bei der Vorstellung der ausgelagerten Rechtsabteilung davon löst, dass diese ausschließlich in ihren Kanzleiräumen arbeitet. Es lässt sich leicht einrichten, dass externe anwaltliche Mitarbeiter regelmäßig auch ohne konkreten Anlass vor Ort im Unternehmen sind. Schon mit einem standardisierten Termin pro Woche vor Ort lassen sich nicht eilige Anfragen bündeln und bei Bedarf persönlich besprechen. Liegt gleichwohl nichts Konkretes an, kann der externe Anwalt an anderen Mandaten arbeiten, was sich positiv auf die Kosten auswirkt. 28 c) Unterstellt man bei dem anwaltlichen Mitarbeiter der internen Rechtsabteilung eine starke Empathie in Bezug auf das Schicksal des Unternehmens, dürfte diese zunächst einmal bei den Mitarbeitern einer externen Rechtsabteilung nicht stark ausgeprägt sein. Immerhin wird die externe Kanzlei ihr Handeln in erster Linie nach ihren eigenen betriebswirtschaftlichen Gegebenheiten ausrichten (müssen). Allerdings lassen sich durchaus Verknüpfungen herstellen. Erfolgsbezogene Vergütungsbestandteile können in den gesetzlich zulässigen Fällen und in besonderen Projekten eine sinnvolle Methode sein, den Anreiz und das Interesse an einem auch wirtschaftlich erfolgreichen Abschluss einer Angelegenheit zu steigern. Gelungenes Kostenmanagement auch der externen Kanzlei kann man mit Bonus-/Malus-Modellen belohnen wie dies bei der Auslagerung anderer Konzernfunktionen (etwa IT, Buchhaltung, Logistik) auch üblich ist. Zu denken wäre etwa an die Belohnung bei besonders schneller Erledigung von Anfragen bis hin zu Anreizsystemen für Kostenreduzierung z. B. bei der Einschaltung ausländischer Kanzleien. Es besteht kein Anlass, warum der die ausgelagerte Rechtsabteilung federführend betreuende Rechtsanwalt nicht auch versuchen sollte, z. B. durch Mengenbündelung oder Ausnutzung von Kontakten in seinem internationalen Netzwerk kostengünstige Beratungsleistungen zu vermitteln. 2. Übernahme von Prozessvertretung 29 Ohne weiteres vermieden wird bei Auslagerung der Rechtsabteilung einer der Hauptnachteile der Stellung des Syndikus. An der Vertretung des Unternehmens vor Gerichten und Schiedsgerichten ist der externe Rechtsanwalt nicht gehindert. Er kann also auch in Angelegenheiten, in denen er zuvor außergerichtlich beraten hat, für das Unternehmen tätig werden. Eine echte Effizienzsteigerung tritt ein, wenn die vorherige außergerichtliche Beratung durch den externen Anwalt im Rahmen der notwendigen direkten Anbindung an die Fachabteilungen ohne weiteren internen Juristen erbracht wurde. 3. zeitliche Flexibilität 30 Die zeitliche Limitierung von Rechtsabteilungen lässt sich mit externen Anwälten als ausgelagerte Rechtsabteilung durchaus überwinden. Werden größere Kanzleien mit der Funktion der ausgelagerten Rechtsabteilung betraut, sind diese oft besser in der Lage, durch Umschichtung und Aktivierung von Personal aus anderen Standorten Kapazitätsspitzen abzudecken, ohne dass hierfür Vorhaltekosten für das Unternehmen anfallen.

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Allerdings sind dazu kreative Honorarmodelle erforderlich. Denn wenn man Kapazitätsspitzen stets zu externen Stundensätzen abdecken muss, ist wenig gewonnen. Die bei einer Kanzlei ausgelagerte Rechtsabteilung wird sinnvollerweise auf gemischten Honorarmodellen aufsetzen, die einen Teil der üblichen Auslastung über ein Fixum oder Minimum abdecken, einen anderen Teil hingegen nach Aufwand unter Zugrundelegung von Mengenstaffeln. 4. fachliche Flexibilität Wenn man eine Auslagerung der Rechtsabteilung lediglich als Wechsel der anwaltlichen 31 Mitarbeiter zu einer externen Kanzlei begreift, löst man die unvermeidlichen fachlichen Limitierungen nicht. Eine Auslagerung der Rechtsabteilung muss deshalb über den bloßen Arbeitgeberwechsel der Mitarbeiter hinausgehen und die Rechtsabteilung insgesamt neu strukturieren. Wenn die ausgelagerte Rechtsabteilung aus einem Kernteam von Spezialisten in den Alltagsrechtsfragen des Unternehmens besteht und darüber hinaus weitere Spezialisten ohne umständliche Anwaltssuche parat stehen, kann die ausgelagerte Rechtsabteilung im Interesse des Unternehmens schnell und flexibel auch spezielles Know-How zur Verfügung stellen. Ein nicht zu unterschätzender Faktor ist der Umstand, dass der externe Anwalt auch 32 an anderen Mandaten als an denen des Unternehmens arbeitet. Mag die durchgängige Befassung mit den rechtlichen Angelegenheiten des Unternehmens auf der einen Seite fraglos förderlich für die fachliche Qualifikation und das Verständnis für die Unternehmensbelange sein, so engt sie doch den Horizont ein. Wer auch mal andere Fallkonstellationen bearbeitet, wer in anderen Branchen tätig ist, bildet sich abseits des Rechtlichen fort und bringt dauerhaft einen Mehrwert für das Unternehmen. Die Erfahrung in anderen Angelegenheiten wird so dem Unternehmen nutzbar gemacht. Ein Vorteil, in dessen Genuss das Unternehmen sonst nur kommt, wenn es mit dem entsprechenden Rekrutierungsaufwand neues Personal mit der entsprechenden Erfahrung anstellt. 5. Know-How-Aufbau und -Sicherung Mitarbeiter wechseln nicht nur in Unternehmen, sondern auch in Kanzleien. Ein unbe- 33 absichtigter Personalverlust trifft also das Unternehmen mit der internen Rechtsabteilung ebenso wie die externe Kanzlei als ausgelagerte Rechtsabteilung. Gleichwohl steht jedenfalls bei größeren Kanzleien in der Funktion als ausgelagerter Rechtsabteilung leichter personeller Ersatz bereit, ohne dass dem Unternehmen die zeitlichen und finanziellen Aufwendungen für die Personalsuche entstehen (welche bei dem allgegenwärtigen „Kampf um die Talente“ keineswegs marginal sind). Darüber hinaus wird das Unternehmen, welches seine Rechtsabteilung ausgelagert 34 bei einer externen Kanzlei vorhält, von dieser erwarten (und vertraglich vereinbaren), dass sie das Know-How aus der bisherigen Tätigkeit ohne Verluste sichert, fortschreibt und insbesondere ohne Mehrkosten auch dann liefert, wenn es personelle Veränderungen gibt. Personalwechsel sind somit nicht mehr das Problem des Unternehmens.

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Externe Kanzleien wiederum sind aufgrund ihrer Struktur bisweilen besser in der Lage, Know-How zu erfassen und unter den Mitarbeitern zu verbreiten. Die Sicherung und Fortschreibung von Spezialwissen gehört für Kanzleien zum unmittelbaren Geschäftsgegenstand. Nicht ohne Grund halten die meisten größeren Kanzleien gesonderte Abteilungen mit Mitarbeitern vor, die ausschließlich für das „Knowledge Management“ zuständig sind. Die diesbezüglichen Leistungen muss das Unternehmen nicht mühsam selbst organisieren, kann aber jederzeit hierauf zurückgreifen, bei Bedarf auch durch die Durchführung von Schulungen. 6. Dokumentenmanagement und Fristenüberwachung 35 Auch abseits des rechtlichen Know-Hows wird die externe Kanzlei allein schon aufgrund der berufsrechtlichen Anforderungen bereits über Instrumente zur Datenverwaltung und zur Fristenüberwachung verfügen. Der immer wichtiger werdende Bereich des Dokumentenmanagements lässt sich durch eine externe Kanzlei für das Unternehmen ohne Weiteres durch Verwendung der in einer professionellen Kanzlei vorgehaltenen Software-Lösungen abbilden. Für das Unternehmen entfällt die diesbezügliche Befassung und Vorhaltung von Personalkapazitäten, wenn sämtliche rechtliche Unterlagen jedenfalls auch elektronisch bei der ausgelagerten Rechtsabteilung verfügbar sind. 36 Sorgfältige Fristenüberwachung gehört für externe Kanzleien zu den unerlässlichen Grundleistungen. In vielen Unternehmen ist eine zentrale Fristenüberwachung hingegen immer noch selten, insbesondere, wenn es um Vertragsfristen geht (abseits der Kündigungsfristen etwa auch Fristen für Preisanpassungen, Abrechnungen etc.). Solche Aufgaben können von einer externen Kanzlei als ausgelagerte Rechtsabteilung übernommen werden. 7. Haftungsgesichtspunkte 37 Nicht zu vernachlässigen sind weiterhin die Haftungsaspekte. Die externe Kanzlei unterliegt zunächst einmal auch als ausgelagerte Rechtsabteilung den berufsrechtlichen Haftungsregeln der Rechtsanwälte. Hier nun schlicht darauf zu verweisen, dass das Unternehmen also durch die Einschaltung externer Anwälte einen Haftungsvorteil im Vergleich zur internen Rechtsabteilung hat, greift aber zu kurz. Denn der reine Verweis auf die Anwaltshaftung kann dazu führen, dass die externe Rechtsabteilung nur noch unter dem Damoklesschwert der Haftungsrisiken berät. Damit ginge die von internen Rechtsabteilungen häufig geschätzte pragmatische Beratung unter Inkaufnahme von Risiken verloren. Will man also eine ausgelagerte Rechtsabteilung, die nicht nur im Korsett der Anwaltshaftung berät, muss man ihr gewisse Freiheiten einräumen und – vor allem – Vertrauen entgegen bringen. So viel Vertrauen, dass man Spielregeln einübt, nach denen Risiken so bewertet und berichtet werden, dass nicht jede unterbliebene Dokumentation eines Warnhinweises sogleich in die Haftung führt. Der Spagat ist nicht ganz einfach: Einerseits sollte sich das Unternehmen das wichtige Instrument

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der Anwaltshaftung als Vorteil gegenüber der internen Rechtsabteilung sichern. Andererseits benötigt auch die externe Rechtsabteilung die Freiheit, eigenverantwortlich Entscheidungen im Sinne des Unternehmens zu treffen, weil sie ansonsten immer externer Fremdkörper bleiben wird. Idealerweise werden daher immer wiederkehrende Probleme kategorisiert und gemeinsam so mit Entscheidungsvorgaben und –freiräumen ausgestattet, dass der externe Anwalt nicht bei jeder Antwort zunächst schreiben muss, was er alles nicht geprüft hat. 8. Schließlich: Kostenaspekte Eine allgemein gültige Aussage zu den Kostenaspekten bei Vergleich der internen Kosten 38 mit den externen Kosten verbietet sich. Dazu müssten in jedem Einzelfall die zur Auswahl stehenden Alternativen erfasst und bewertet werden. Unbestritten wird ein reiner Stundensatz des externen Anwalts auf absehbare Zeit über dem kalkulatorischen Wert für den internen Anwalt liegen. Schließlich sind auch externe Kanzleien Wirtschaftsunternehmen, die berechtigterweise auch Gewinn erwirtschaften wollen. Die bloße Gegenüberstellung des Stundensatzes lässt aber die hier teilweise aufgezeigten „weichen Faktoren“ unbewertet. Ob insgesamt, also mit den Aspekten zur zeitlichen und fachlichen Flexibilität, den ersparten Kosten für Dokumentenmanagement und Fristenüberwachung, den ersparten Kosten für Rekrutierung bei Personalfluktuation, den ersparten Kosten bei Überkapazitäten und Personalabbau tatsächlich ein Kostenvorteil oder eine Kostennachteil besteht, wird man im Einzelfall betrachten müssen. Schließlich muss sodann selbst bei Kostennachteilen bewertet werden, ob es nicht andere Gründe gibt, die in der Gesamtgewichtung die Kostennachteile ausgleichen. Alles in allem darf man aber jedenfalls die teils pauschale Behauptung bezweifeln, 39 eine interne Rechtsabteilung sei immer günstiger als externe Anwälte. Diese Aussage ist ohnehin in ihrer Allgemeinheit erstaunlich, herrscht doch in vielen anderen Bereichen von Konzernfunktionen genau die umgekehrte Vorstellung, namentlich, dass mit der Auslagerung auch Kosten gespart würden, etwa bei Kantine, Gebäudereinigung, Logistik, Fuhrpark, Buchhaltung, IT, Facility Management. Die bisherige Vorstellung mag allerdings darauf beruhen, dass komplette Auslagerungen von bestehenden Rechtsabteilungen bislang eher selten sind und auch die Kanzleien bislang noch keine standardisierten Modelle entwickelt haben, das Outsourcing der Rechtsabteilung als Teil ihres Leistungsspektrums anzubieten.

8.2.5 Änderungen zum Status der Syndikus-Anwälte Ein Urteil des Bundesozialgerichts hatte vor einigen Jahren weiteren Anlass gegeben, 40 über eine Auslagerung der Rechtsabteilung nachzudenken: Das Bundessozialgericht hatte mehr oder weniger pauschal entschieden, dass Syndikus-Anwälte nicht von der Rentenversicherung befreit sind und somit nicht dem

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Versorgungswerk der Rechtsanwälte angehören können.16 Das Urteil hatte für erhebliches Aufsehen gesorgt und weitreichende Diskussionen zur Folge. Zeitweise war unklar, ob Rechtsanwälte, die als Angestellte im Unternehmen arbeiten, überhaupt wieder die Möglichkeit erhalten sollten, neben der Anwaltszulassung auch die Mitgliedschaft im Versorgungswerk zu sichern. Einig war man sich, dass erfahrene Syndikus-Anwälte zwar unter eine Bestandsschutzregelung fallen sollten, welche bei einem Arbeitgeberwechsel jedoch weggefallen wäre. Ein Wechsel des Arbeitgebers wäre für Syndikus-Anwälte mit empfindlichen Konsequenzen verbunden gewesen, welche sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber vor unüberschaubare Probleme gestellt hätte. Wer bereits jahrelang in das Versorgungswerk eingezahlt hat, hätte kaum gewollt, dass er künftig in die gesetzlichen Rentenversicherung einzahlt mit der Folge, dass die Zeit des Berufslebens versorgungstechnisch in zwei Teile unterteilt wird und deshalb aus beiden Versorgungsmodellen geringere Bezüge zu erwarten sind. Denkbar wäre auch gewesen, dass die Einstellung von Syndikus-Anwälten für die Unternehmen teurer geworden wäre, weil die Kandidaten erwartet hätten, dass der Arbeitsgeber wirtschaftlich für die Nachteile aufkommt. 41 Erste Überlegungen über die Auswirkungen der Entscheidungen des Bundessozialgerichts wurden dahingehend geführt, dass die Tätigkeit der Syndikus-Anwälte im Rahmen in das Konzept einer externen Beratung überführt werden könnte, so dass der bisherige Inhouse-Anwalt nunmehr im Zuge eines Dienstverhältnisses als externer Anwalt Dauerberatung vornimmt.17 Um einer weiteren Spaltung der Anwaltschaft und der strategischen Ausgliederung ganzer Rechtsabteilungen in externe Beratungsgesellschaften entgegenzuwirken, entschied sich der Gesetzgeber nach einer längeren Debatte den Status des Syndikusrechtsanwalts gesetzlich zu regeln. Mit dem am 1.1.2016 in Kraft getretenen Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Syndikusanwälte wurde der Begriff des Syndikusrechtsanwalts in § 46 Abs. 2 BRAO legal definiert. Demzufolge ist Rechtsanwalt, wer seinen Beruf als Rechtsanwalt im Rahmen seines Arbeitsverhältnisses für seinen Arbeitgeber ausübt. Nach § 46 Abs. 3 BRAO sind folgende Merkmale für die Tätigkeit als Syndikusrechtsanwalt charakterisierend: 42 • Prüfung von Rechtsfragen, einschließlich der Klärung des Sachverhalts und der Erarbeitung und Bewertung von Lösungsmöglichkeiten • Erteilung von Rechtsrat • Gestaltung von Rechtsverhältnissen • Vertretung des Arbeitsgebers nach außen

16BSG vom 3. 4. 2014 – B 5 RE 13/14 R; B 5 RE 9/14 R und B 5 RE 3/14 R; Medieninformation des BSG Nr. 9/14 und Terminsbericht des BSG 14/14 unter: www.bundessozialgericht.de. 17siehe etwa Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.04.2014 „Syndikusanwälte zahlen in die Rentenkasse“.

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Der neu geschaffene gesetzliche Zustand des Syndikusrechtsanwalts ermöglicht auch weiterhin eine Befreiung von der Rentenversicherungspflicht und die Mitgliedschaft im Versorgungswerk der Rechtsanwälte.18 Auch wenn somit im Ergebnis der interne Jurist auch als Rechtsanwalt Bestand haben kann, bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, dass die Rollenverteilung der letzten Jahrzehnte zwischen internen Syndizi und externen Rechtsanwälten nicht auch weiterhin auf den Prüfstand gestellt werden wird. Es bleibt abzuwarten, ob sich durch die Neuregelung mit der Zeit zwei unterschiedliche Zweige innerhalb der rechtsberatenden Anwaltschaft herausbilden.

8.3 Vorbereitung der Auslagerung Die rechtlichen Details des Auslagerungsvorgangs an sich sollen hier nicht behandelt 43 werden, da dies den Rahmen sprengen würde. Gleiches gilt für die konkrete arbeitsrechtliche Abwicklung. Auf einige notwendige Vorbereitungen soll gleichwohl hingewiesen werden.

8.3.1 Analyse des Status Zunächst einmal bedarf es einer Analyse des tatsächlichen aktuellen Status der Rechts- 44 abteilung. Der hiermit verbundene Aufwand darf nicht unterschätzt werden. Erst wenn belastbares Zahlenmaterial zu den aktuellen Aufgaben der Rechtsabteilung vorliegt, sind überhaupt Überlegungen zu einer Auslagerung möglich. Notwendig ist deshalb die Erfassung wesentlicher objektiver Kernzahlen der Rechts- 45 abteilung. Bloße Schätzungen über die Auslastung und die Aufgabenverteilung verfälschen das Bild. Die konkrete Zeiterfassung ist daher ein probates Mittel, um ein Bild von den Aufgaben der Rechtsabteilung zu gewinnen. Es mag den anwaltlichen Mitarbeitern mitunter nicht gefallen, insbesondere denen nicht, die – wie häufig – aus einer Großkanzlei in ein Unternehmen gewechselt sind, weil sie nicht mehr von „billable hours“ getrieben sein wollten. Ohne detaillierte Erfassung der geleisteten Stunden macht aber bereits die Überlegung einer Auslagerung keinen Sinn. Es darf auch nicht verkannt werden, dass die Zeiterfassung keineswegs ein Kontrollinstrument zu Lasten der Mitarbeiter ist, sondern auch ein Steuerungsinstrument zu Gunsten der Mitarbeiter. Nur wenn objektive Zahlen zur Aus- und Belastung vorliegen, lässt sich abseits von gefühlter Arbeitsverteilung steuern. Nicht zwingend notwendig, wenngleich hilfreich ist natürlich die Erfassung auf Mitarbeiterebene. Da es aber nicht um Kontrolle der Leistung der Mitarbeiter, sondern um die Position der Rechtsabteilung geht, ist ebenso denkbar, dass die geleistete Zeit ohne Zuordnung zu einem Mitarbeiter lediglich abteilungsweise erfolgt.

18Römermann/Günther,

NZA 2016, 71, 75.

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Mit einfachen Mitteln (etwa einer Excel-Datei) lässt sich der Zeitaufwand pro Angelegenheit (einschließlich interner administrativer Angelegenheiten) erfassen. Kategorisiert man zusätzlich jede Angelegenheit in einige wichtige Kernkategorien, etwa nach Rechtsgebieten, Ländern und Gesamtaufwand, erhält man schnell eine kompakte Übersicht darüber, welche Themen besonders häufig angefragt werden und welcher durchschnittliche Zeitaufwand hierauf verwendet wird. Erfasst man nun außerdem, in welchen Fällen externe Anwälte zusätzlich eingeschaltet wurden, wird zudem etwaige Doppelbefassung deutlich. Trägt ein interner Mitarbeiter etwa innerhalb eines Monats 20 h für eine bestimmte Sache (z. B. Vertragsprojekt oder gerichtliches Verfahren) ein und rechnet der externe Anwalt in der gleichen Sache 40 h ab, kann man versuchen zu bewerten, wie groß der gesamte Aufwand von in diesem Beispiel 60 h gewesen wäre, wenn die Sache nur durch einen externen Anwalt direkt mit der Fachabteilung bearbeitet worden wäre. Zeigt sich, dass bestimmte Vertragsangelegenheiten immer angefragt werden, mag man über die Durchführung von Schulungen und die Standardisierung des Bearbeitungsprozesses nachdenken. Je mehr wiederkehrende Angelegenheiten bearbeitet werden, um so leichter und verlässlicher lässt sich für eine externe Kanzlei der Aufwand kalkulieren. Die Erfassung sollte mindestens über einen Zeitraum von sechs Monaten, besser noch zwölf Monaten erfolgen, damit saisonale Faktoren wie Urlaubszeit, Krankheiten oder besondere Projekte die Aussagekraft nicht verwässern.

8.3.2 Auswahl der Kanzlei oder Auslagerung durch Neugründung 46 Zieht man eine Auslagerung der Rechtsabteilung ernsthaft in Erwägung, muss im Weiteren ein tauglicher Partner gefunden werden. Da es bislang keinen echten Markt für das Outsourcing von Rechtsabteilungen gibt, dürfte die richtige Wahl des Outsourcing-Partners eine der größten Hürden darstellen. Denn es lässt sich nicht einfach aus diversen standardisierten Modellen eine Eingrenzung auf einige Anbieter zwecks finaler „Vergabe“ vornehmen. Zudem ergeben sich die Anforderungskriterien an den richtigen Partner erst aus den Ergebnissen der Status-Analyse, die von Fall zu Fall anders ausfallen wird. Das macht es Kanzleien schwer, Standardmodelle zu entwickeln. Nichtsdestotrotz werden einige Grundvorgaben im Wesentlichen gleich lauten: 47 Der richtige Partner muss zunächst über eine gewisse kritische Größe verfügen. Eine Kanzlei mit 10 Rechtsanwälten wird sicher einen oder zwei weitere Rechtsanwälte aufnehmen bzw. den bisherigen Arbeitsanfall bewältigen können und kann in diesen Fällen eine gute Wahl sein, wenn sie die weiteren Anforderungskriterien erfüllt. Mittlere Rechtsabteilungen von vier bis acht Mitarbeitern hingegen werden das Gefüge einer solchen Kanzlei schnell sprengen. Andererseits wiederum ist die bloße Größe einer Kanzlei allein nicht ausschlaggebend. Auch die Beratungsmentalität muss in den bisherigen Beratungsansatz passen. Gleiches gilt im Übrigen für das Vergütungsgefüge.

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Eine internationale Großkanzlei mit Stundensätzen von über 500,- Euro wird schon aus wirtschaftlichen Gründen beiderseits kaum ins Schema passen. Die fachliche Eignung spielt ebenfalls eine große Rolle. Nur eine Kanzlei, die die typischerweise anfallenden Rechtsgebiete auch über die bisherigen Arbeitsgebiete der internen Rechtsabteilung hinaus abdecken kann, ist in der Lage, sich auf kreative Honorarmodelle einzulassen. Wer erst die fachlichen Ressourcen aufbauen muss, eignet sich kaum. Wer die zeitliche und fachliche Flexibilität nicht bieten kann, ebenfalls nicht. Auch wenn der persönliche Kontakt in der täglichen Arbeit nicht mehr die frühere Bedeutung hat, wird der richtige Partner dennoch schon aus rein praktischen Erwägungen im weiteren regionalen Einzugsgebiet des Unternehmens, vielleicht sogar der weiteren operativen Niederlassungen des Unternehmens, zu suchen sein, jedenfalls dann, wenn mit der Auslagerung auch die bisherigen anwaltlichen Mitarbeiter übernommen werden sollen – was aus fachlichen und persönlichen Gründen in der Regel Sinn machen wird. Der Partner der Wahl muss des Weiteren bereit und in der Lage sein, die technischen 48 Mittel vorzuhalten, die erforderlich sind, um Know-How-Sicherung und –fortschreibung ebenso zu ermöglichen wie örtlich ungebundenes Arbeiten. Schließlich nicht zu unterschätzen ist der Umstand, dass die Rechtsberatung für Unternehmen in der Regel auch sensible Angelegenheiten betrifft, so dass das Unternehmen ein Interesse daran hat, dass jedenfalls die Mitarbeiter, die zum Kernteam der Rechtsabteilung gehören, nicht für Wettbewerber tätig werden. Eine Alternative zur Kooperation mit einer existierenden Kanzlei ist auch die Auslagerung durch Neugründung einer Kanzlei mit den bisherigen Mitarbeitern. Ob sich hierdurch aber die Vorteile der ausgelagerten Rechtsabteilung vollumfänglich umsetzen lassen, scheint zweifelhaft, da es der neu gegründeten Kanzlei ohne schnelle Zusatzmandate an Synergieeffekten und der zeitlichen und fachlichen Flexibilität fehlen könnte.

8.4 Die Arbeit mit der ausgelagerten Rechtsabteilung Wenn eine ausgelagerte Rechtsabteilung ähnlich wertvoll für den Unternehmenserfolg 49 sein soll und wenn eine ausgelagerte Rechtsabteilung innerhalb des Unternehmens bei den Fachabteilungen anerkannt sein soll, muss man sich bei der täglichen Arbeit mit der ausgelagerten Rechtsabteilung vom althergebrachten Bild des externen Anwalts lösen.

8.4.1 Einbindung in die Unternehmensstruktur Erfolg wird die ausgelagerte Rechtsabteilung abseits von Kostenaspekten nur haben, 50 wenn versucht wird, trotz des Status als externer Dienstleister soweit wie möglich die Rolle der internen Abteilung, nicht die Rolle des externen Dienstleistungsunternehmens zu übernehmen.

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Rein praktisch bedeutet das, dass die ausgelagerte Rechtsabteilung idealerweise unter den internen Rufnummern des Unternehmens erreichbar ist, was über Rufumleitungen problemlos ermöglicht werden kann. Gleiches gilt für Email-Adressen. Entweder richtet die externe Kanzlei eine eigene Email-Adresse ein (etwa unternehmensname@ kanzleiname.de) oder das Unternehmen stellt eigene Mail-Adresse bereit, auf die über gesicherte Fernzugänge Zugriff genommen wird. Die von der ausgelagerten Rechtsabteilung erstellten und verwalteten Dokumente sollten auf Servern bereit gehalten werden, auf die sowohl die externe Kanzlei als auch das Unternehmen Zugriff haben. Soweit das Unternehmen einen Intranet-Auftritt unterhält, sollte die Rechtsabteilung auch als ausgelagerte Rechtsabteilung präsent sein, beispielsweise mit bereit gehaltenen Dokumenten (Verhaltensanweisungen, Checklisten, rechtlichen Hilfestellungen).

8.4.2 Zusammenarbeit mit den Fachabteilungen 51 Damit uneffiziente Doppelbefassungen tatsächlich vermieden werden, sollte die Beauftragung unmittelbar durch die Fachabteilungen erfolgen. Die Notwendigkeit der Einschaltung auch der externen Rechtsabteilung sollte wie bei internen Rechtsabteilungen auch durch eine „Richtlinie Recht“ oder ähnliche Instrumente der unternehmensinternen Steuerung abgesichert werden. Die tägliche Arbeit dürfte sich bei entsprechenden Rahmenbedingungen nicht von der Arbeit der internen Rechtsabteilung unterscheiden. Die Rechtsabteilung muss sich in ihrem Beratungsansatz an die Anforderungen der Fachabteilungen anpassen. Gleichzeitig ist sie allerdings gehalten, ihren anwaltlichen Dokumentationspflichten nachzukommen.

8.4.3 innerorganisatorische Anbindung 52 Regelmäßige Berichterstattung über die wesentlichen Vorgänge sind sowohl durch die interne als auch die externe Rechtsabteilung wesentlich zur Risikoerkennung und Risikosteuerung. Auch die externe Rechtsabteilung muss deshalb so in die innerorganisatorische Struktur des Unternehmens eingebunden werden, dass die Kommunikation von Risiken gesichert ist. Das mag auf unterschiedliche Weise realisiert werden können. Einmal unterstellt, die interne Rechtsabteilung ist als eigenständige Abteilung einem bestimmten Vorstand unterstellt, wäre dafür Sorge zu tragen, dass der direkte regelmäßige Kontakt mit dem Vorstand auch als externe Rechtsabteilung fortbesteht. Denkbar ist hingegen auch, dass ein Angestellter des Unternehmens die Verbindungsfunktion zur Rechtsabteilung übernimmt.

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Von modernen Kanzleien wird ohnehin erwartet, dass sie regelmäßig und über die jährliche Rechtsanwaltsbestätigung hinaus über die anliegenden Fälle und deren Entwicklung berichtet.

8.5 Fazit und Prognose: Auslagerung von Rechtsabteilungen als Zukunftsmodell? Der Vergleich der Vor- und Nachteile interner Rechtsabteilungen mit denen externer 53 Kanzleien zeigt, dass es durchaus Wege gibt, bei einer Auslagerung die beiderseitigen Vorteile miteinander zu verbinden. Einige Nachteile der internen Rechtsabteilung lassen sich bei externer Mandatierung auch über die bloße Übernahme der Prozessvertretung hinaus kompensieren. Bisherige Vorteile der internen Rechtsabteilung sind unbestritten. Mit innovativen Modellen lassen sie sich aber zunehmend auch durch externe Rechtsabteilungen erhalten. Die althergebrachte strikte Trennung von internen und externen Juristen wird mehr und mehr aufgegeben werden müssen wie sich heute schon die jeweiligen alltäglichen Berufsbilder immer mehr annähern. Der „Seitenwechsel“ von der Kanzlei ins Unternehmen und umgekehrt ist schon lange keine Ausnahme mehr und füllt unzählige Meldungen. Längst sind einerseits leistungsbezogene Vergütungssysteme auch bei Inhouse-Juristen auf dem Vormarsch und andererseits gemischte Honorarmodelle aus aufwands- bzw. erfolgsbezogener und pauschaler Vergütung bei der externen Mandatierung ebenso. Noch ist die Auslagerung von Rechtsabteilungen eher selten. Es mehren sich aber 54 prominente Fälle der jedenfalls teilweisen Auslagerung von bestimmten Bereichen.19 Mit solchen Beispielen und der zunehmenden Annäherung der Berufsbilder wird auch die interne Akzeptanz wachsen und eine grundlegende Skepsis unter den betroffenen Mitarbeitern abnehmen. Dem Unternehmen letztlich kommt es völlig undogmatisch im Ergebnis nur auf eine fachlich hervorragende, aber lösungsorientierte Rechtsberatung an, die die mit ihr verbundenen Ausgaben rechtfertigt. Ob dies intern oder extern erledigt wird, sollte wie bei anderen Konzernfunktionen keine Rolle spielen.

19Etwa

die Übertragung der gesamten Prozessabwicklung durch die Deutsche Bank auf eine externe Kanzlei, vgl. http://www.juve.de/nachrichten/namenundnachrichten/2010/09/prozesse-deutsche-bank-lagert-litigation-auf-noerr-aus.

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Die Stabsstelle Recht der Deutschen Sporthochschule Köln Michael Krannich

9.1 Einleitung Was macht der Jurist in der Verwaltung einer Universität? Welche Aufgaben hat ein ­Universitätsjustitiar? Welche Besonderheiten erwarten ihn an einer Sporthochschule? Ich muss gestehen, dass ich bis zur Aufnahme meiner beruflichen Tätigkeit an der Deutschen Sport­hochschule Köln nur vage Vorstellungen davon hatte, welche juristischen Fertigkeiten von mir erwartet werden würden. Während meines Studiums ahnte ich nicht einmal, dass meine Universität über eine eigene Verwaltung verfügt. Es hat mich natürlich auch nicht wirklich interessiert. Selbstverständlich wusste ich von den Mitarbeitern des Studierendensekretariats, den Professoren, ihren wissenschaftlichen Mitarbeitern und Hilfskräften der juristischen Fakultät, aber im Grunde war die Hochschule für mich eine Lehr- und Forschungsstätte, die allein aufgrund ihres akademischen Auftrags existierte. Als solche war sie ein erhabener Ort, an dem Wissenschaft betrieben und vermittelt wurde und der sich damit fernab des Arbeitsalltags der restlichen Bevölkerung befand. Sie beheimatete

M. Krannich (*)  Dezernat 1, Dezernat für Rechts-, Studierenden- und Prüfungangelegenheiten, Deutsche Sporthochschule Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Lenz (Hrsg.), Die Rechtsabteilung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21915-4_9

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­ aboratorien, Fakultäten, Institute, Bibliotheken, Vorlesungssäle, Seminarräume, die L Mensa und die wenigen Menschen, die ihren Dienst unmittelbar mit den Aufgaben des Lehr- und Forschungsauftrag erbrachten. Woher die Liegenschaften und die Gebäude auf dem Campus kamen, wer sie entwarf, baute, pflegte und verwaltete, hat mich in den all den Jahren meines Studiums nicht beschäftigt. Dass eine Hochschulverwaltung neben dieser Bau- und Liegenschaftsverwaltung einen umfangreichen wissenschaftlichen wie nichtwissenschaftlichen Personalbestand betreut, die bereitgestellten Haushaltsmittel in Höhe mehrerer Millionen Euro planen und die studentischen wie akademischen Angelegenheiten regeln musste, war mir schlicht entgangen. Die Vorhaltung einer modernen IT-Infrastruktur und einer umfangreichen Fachbibliothek setzte ich wahrscheinlich als ebenso natürlich voraus wie meine Kommilitonen. Die Universitäten existieren zum Teil seit Jahrhunderten. Ihr Dasein über all diese Jahre war so selbstverständlich wie der sonntägliche Tatort in der ARD. Es gab sie einfach und sie funktionierten. Dass in einer Hochschule neben akademischen Lehr- und Forschungskräften auch andere ihre zum Teil ganz irdischen Tätigkeiten verrichteten, war mir bis zu meiner Bewerbung für den Verwaltungsdienst der Sporthochschule nicht bewusst. Als Berufsanfänger war ich zunächst angestellter Rechtsanwalt. Als solcher habe ich unter beträchtlichem Kostendruck vornehmlich zivilrechtliche Mandate bearbeitet. Mit Beginn meiner Tätigkeit in der Sporthochschule hatte ich die Befürchtung, meine weitere Karriere als Verwaltungsjurist in den vermeintlich langsam mahlenden Mühlen des öffentlichen Dienstes zu verbringen. Verwaltungsjurist… bereits als Student assoziierte ich mit diesem Begriff einen vergleichbar spannenden Arbeitsalltag wie ich ihn bei einem Vogelkundler auf Husum vermutete. Natürlich hätte ich bereits während meines Referendariats im Rahmen der Verwaltungsstation die Gelegenheit nutzen können, diesen Eindruck zu revidieren. Habe ich aber nicht. Vielmehr pflegte auch ich das Vorurteil, es sei wenig sexy, im öffentlichen Dienst zu arbeiten. Einen großen Vorteil gab aber auch ich, wie alle anderen, unumwunden zu: Im Gegensatz zur „freien Wirtschaft“ ist der Kostendruck in der Verwaltung deutlich geringer. Ob verbeamtet oder angestellt im öffentlichen Dienst: Die bei einem Freiberufler gängigen Sorgen, wie man im kommenden Monat die Miete bestreiten kann, muss man sich regelmäßig nicht machen. Ohne der folgenden Beschreibung meiner heutigen Tätigkeit jede Glaubwürdigkeit nehmen zu wollen: Auch wenn ich bis heute nicht denke, dass der Verwaltungsjurist im öffentlichen Ansehen einen besonderen Sexappeal genießt, sollte sich für mich an der Deutschen Sporthochschule Köln ein Traum verwirklichen: Eine abwechslungsreiche juristische Tätigkeit, die zugleich ein hohes Maß an Kreativität und Verantwortungsbereitschaft voraussetzt.

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9.2 Wie sieht er nun aus, der Arbeitsalltag eines Hochschuljuristen? Ausgehend vom Gebot des rechtmäßigen Verwaltungshandelns, verbrieft in Art. 20 Abs. 3 GG, ist eine staatliche Hochschule wie jeder Hoheitsträger Recht und Gesetz verpflichtet. Anders als das Handeln privater Rechtskörper folgt das der öffentlichen Hand nicht in erster Linie ökonomischen und effizienten Handlungsmaximen. So erscheinen vermutlich jedem Verwaltungsmitarbeiter, der zuvor Erfahrungen in der Privatwirtschaft gesammelt hat, die Arbeitsabläufe im öffentlichen Dienst mitunter ausgesprochen langwierig und Entscheidungsprozesse schwerfällig. Nicht, dass ökonomische und effiziente Ideen in Zeiten leerer Kassen unbeachtet bleiben oder kundenorientiertes Handeln der Verwaltung grundsätzlich fremd ist. So wurden in den letzten Jahren diverse in der Privatwirtschaft erprobte Modernisierungsprozesse angestoßen und verstärkt auch Modelle wie die sogenannte „wirkungsorientierte Verwaltungsführung“ diskutiert. Entscheidend soll danach nicht länger die rein formale Ausrichtung an der Rechtmäßigkeit der Verwaltung sein, sondern die Messung staatlichen Handelns an der Qualität seiner Ergebnisse. Das gesellschaftliche und individuelle Wohlergehen hängt nicht länger allein von der Gesetzmäßigkeit des staatlichen Handelns ab, sondern vor allem von der effektiven und guten Umsetzung gesetzgeberischer Ziele in der Praxis. Somit müssen selbstverständlich auch Körperschaften des öffentlichen Rechts wie Hochschulen im Rahmen ihres planerischen und gestalterischen Handelns ökonomischen Prinzipien folgen und sind ihrem Kunden, den Bürgern, zur bestmöglichen Dienstleistung verpflichtet. Was kann der Hochschuljurist zu diesen Prozessen beitragen? Viel Arbeitszeit wird tatsächlich in Meetings und Arbeitsgruppen, aber auch in persönlichen wie telefonischen Besprechungen verbracht. Im Fall der Beteiligung an Arbeitsgruppen und Gremien wird häufig juristische Expertise benötigt, die entweder unmittelbar eingebracht wird, wenn einfache Fragen zu klären sind. Oder aber die aufgeworfenen Fragen werden im Nachgang geklärt, wenn sie komplexerer Natur sind. Hierbei ist auch für den Verwaltungsjuristen ein gewisses anwaltliches Dienstleistungsverständnis von Vorteil, denn die Kollegen aus dem akademischen Bereich wie auch aus der Verwaltung schätzen klare Antworten mehr als seitenlange Abhandlungen unter Abwägung umfangreicher Rechtsprechung und Literatur. Die meisten Ratsuchenden wollen nicht in Recht unterrichtet, sondern in ihrer Entscheidungsfindung unterstützt werden. Natürlich lassen sich in diesem Rahmen nicht alle Tätigkeiten abschließend aufzählen. Ich möchte gleichwohl einige klassische Aufgaben des Hochschuljuristen erläutern, um Ihnen dieses etwas exotisch anmutende Berufsbild etwas näher zu bringen.

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9.2.1 Planen und Gestalten 8

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Den der Hochschule zur Ausbildung zugewiesenen Referendaren sage ich gern, dass die Arbeit in der öffentlichen Verwaltung im Gegensatz zu anderen juristischen Tätigkeitsbereichen in erster Linie planerisch und gestaltend, sprich: In die Zukunft gerichtetes Handeln ist; kein rückblickendes Subsumieren von Lebenssachverhalten, um mögliche zivil- oder strafrechtliche Folgen und Sanktionen zu begutachten. Ein interessengerechtes, effizientes und rechtmäßiges Gestalten ist Gegenstand der juristischen Arbeit in der (Hochschule-)Verwaltung. Hartnäckig halten sich Gerüchte, denen zufolge es auch bei Juristen in öffentlich-rechtlichen Strukturen Kollegen geben soll, die bei ihrer Arbeit eine „Misserfolgsvermeidungsstrategie“ verfolgen und infolge mäßiger Entscheidungsfreude den ein oder anderen Planungs- und Gestaltungsprozess zum Erlahmen bringen. Unbestritten kann eine solche Strategie hier wie in anderen Berufsfeldern auch jeglichen Fortschritt verhindern. Wer aber ein gesundes Maß an Entscheidungsfreude mitbringt, kann dazu beitragen, Verfahren zügig voranzutreiben und somit alle Vorurteile über langsam mahlende Verwaltungsmühlen Lügen strafen. Denn im Grunde bietet der öffentliche Dienst in der Verwaltung verschiedenste Möglichkeiten des schöpferischen Gestaltens, wie etwa in der Hochschule die rechtliche Ausgestaltung der Studiengänge und Prüfungsverfahren, die vertragliche Regelung von Drittmittelverträgen sowie das Schaffen neuer Strukturen. An all den Prozessen, die hier nur beispielhaft und nicht abschließend aufgezählt werden, sind Hochschuljuristen zu beteiligen. Nicht immer als Verfasser – unser Sprachvermögen wird meist nur von Vertretern unserer eigenen Zunft geschätzt – in jedem Fall aber als Ratgeber oder als Prüfinstanz.

9.2.2 Entwerfen und Prüfen von Hochschulordnungen 10 Über § 2 Abs. 4 HG NRW hat die Hochschule die Möglichkeit, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Ordnungen zu erlassen. Neben der Grundordnung – einer Art Verfassung der Hochschule – sind dies in erster Linie Studien- und Prüfungsordnungen, aber auch Instituts-, Fakultäts- oder Wahlordnungen. Man könnte meinen, man habe es auch an Universitäten, der klassischen Heimat der Freigeiste, mit einer regelrechten ­Ordnungswut zu tun. Doch der erste Eindruck täuscht: Tatsächlich finden sich in den einschlägigen Gesetzen wie dem nordrhein-westfälischen Hochschulgesetz (HG NRW) oder dem Hochschulrechtsrahmengesetz des Bundes (HRG) nur unzureichende Regelungen zur Binnenstruktur der Hochschulen. Aufgrund dieses Mangels an Vorgaben erhalten die Hochschulen die Möglichkeit, ihre Profilbildung auch über den Aufbau eigener Organisationsstrukturen voranzutreiben. 11 Eine solche Möglichkeit bietet insbesondere die Gestaltung der Grundordnung der Hochschule. In ihr werden Zuständigkeiten, Kompetenzen, Aufgaben und Verfahren

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für die Mitglieder und Gremien festgeschrieben. Hier wie auch bei anderen Hochschulordnungen bewegen sich die satzungsgebenden Gremien im Spannungsfeld zwischen größtmöglicher Freiheit und notwendiger Rechtssicherheit für die Hochschulmitglieder. Die Art der möglichen Beteiligung des Hochschuljuristen an der Fertigung dieser Ordnungen reicht von der Urheberschaft über die Co-Autorenschaft bis hin zur Schlussprüfung. Dabei sind die Hochschulordnungen mit den gesetzgeberischen Vorgaben in Einklang zu bringen sowie mögliche Widersprüche mit anderen hochschuleigenen Regelungen zu vermeiden. Zugleich ist bei den Formulierungen auf die notwendige Trennschärfe, Bestimmtheit und Verständlichkeit zu achten. In jüngster Vergangenheit hat insbesondere der sogenannte Bologna-Prozess, die größte Studienreform der Nachkriegsgeschichte, mit der flächendeckenden Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge an den Hochschulen für die Bindung umfangreicher rechtlicher und personeller Ressourcen gesorgt. Die bisher gültigen Studien- und Prüfungsordnungen der „alten“ Diplomstu­ diengänge sollten durch neue Ordnungen ersetzt werden. Um die internationale Vergleichbarkeit der Studiengänge und damit eine höhere staatenübergreifende Mobilität der Studierenden zu ermöglichen, wurde bei der Schaffung der neuen Studiengänge ein hierzulande bislang unbekanntes System zur Messung des von den Studierenden zu erbringenden Workloads eingeführt. Zudem wurden die neuen Studiengänge modularisiert. Die Studiengänge bekamen so eine völlig neue Struktur, die bei der Abfassung der notwendigen Ordnungen berücksichtigt werden musste. Da naturgemäß aber die Hochschuljuristen nur wenig Wissen um die materiellen 12 Studieninhalte haben, mussten sie in diesen Prozessen eng mit den Studiengangsleitern auf der akademischen Seite zusammenarbeiten. Galt es doch, die Studierbarkeit der neuen Studiengänge in Akkreditierungsverfahren vor neu geschaffenen sogenannten Akkreditierungsagenturen nachzuweisen. Denn auch dies war neu: Nach amerikanischem Vorbild waren die neuen Studiengänge durch eine Akkreditierungsagentur zu prüfen und zuzulassen.

9.2.3 Beratung von Hochschulgremien und -mitgliedern Eine zentrale Aufgabe im Tagesgeschäft ist auch die rechtliche Beratung der Hoch- 13 schulgremien und Hochschulmitglieder. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht ein Hochschullehrer, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter oder eine studentische Hilfskraft mit unterschiedlichsten Fragen um rechtliche Unterstützung bittet. Ob Probleme bei der Zulässigkeit von Multiple-Choice-Prüfungen, die Bitte um den Entwurf einer Vertraulichkeitsverpflichtungserklärung für Institutsmitarbeiter oder der Wunsch um Auslegungshilfe eines Gesetzes: Die Anfragen erreichen den Hochschuljuristen telefonisch, per Mail, per Brief oder Hauspost, manchmal auch einfach auf dem Flur, häufig mit der höflichen Bitte, die Prüfung solle nach Möglichkeit unmittelbar erfolgen.

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Auch bei Tagungen und Besprechungen der Hochschulgremien, Arbeitsgruppen und Kommissionen werden Juristen häufig hinzugebeten, da sich bei diesen Terminen unmittelbarer Beratungsbedarf einstellt. Dabei heißt es mitunter Geduld aufzubringen, denn natürlich werden an einer Hochschule Diskussionen von den beteiligten Vertretern der verschiedenen Fachbereiche und Wissenschaftsdisziplinen mit großem Eifer und großer Beharrlichkeit geführt. Nicht selten münden die Meinungsaustausche in sensiblen Fragen zum Hochschulrecht. Leider sind die diversen Rechtsquellen des Hochschulrechts nicht immer ausreichend kommentiert und zu vielen im Hochschulalltag auftauchenden Rechtsfragen findet sich keine einschlägige Rechtsprechung, so dass dem Hochschuljuristen an dieser Stelle häufig nur die Auslegung hilft. Hierbei ist es wichtig, sich möglichst objektiv zu verhalten und die unterschiedlichen Interessen in einer ausgewogenen Lösung zu berücksichtigen.

9.2.4 Datenschutzrecht 14 Nicht selten fällt dem Hochschuljuristen auch das Wahrnehmen der Aufgaben des behördlichen Datenschutzbeauftragten zu. Auch wenn Hochschulen nicht täglich im öffentlichen Fokus stehen, gilt es auch hier, Daten zu schützen. Jede Hochschule hütet Millionen personenbezogener Daten. Neben sensiblen Forschungs- und Studienergebnissen sind hier die Daten der Mitarbeiter, aber vor allem auch die der Studierenden, vor dem unberechtigten Zugriff Dritter zu schützen. 15 Ob Krankenkassen, sonstige Versicherungsträger, Finanzdienstleister, Werbetreibende oder Marktforschungsinstitute: Die Liste der Interessenten an diesen Daten ist lang. Dabei drohen nicht nur unrechtmäßige Angriffe auf die zum Teil erheblich geschützten Datenbanken. Problematisch kann auch der unbedachte und sorglose Umgang von Hochschulmitgliedern mit diesen Daten sein. Dürfen etwa Prüfungsergebnisse online veröffentlicht werden? Dürfen Prüfungsergebnisse bei telefonischen Anfragen mitgeteilt werden? Beides ist selbstverständlich zu verneinen. Im beratungsintensiven Tagesgeschäft der Studierenden- oder Prüfungsverwaltung kann dem ein oder der anderen hilfsbereiten Mitarbeiter gleichwohl fahrlässig ein Fehler passieren, dem es datenschutzrechtlich entgegenzuwirken gilt. 16 Neben derartiger Aufklärungsarbeit in den verschiedenen Verwaltungseinheiten bedarf es aber auch in den akademischen Forschungs- und Lehrbereichen vergleichbarer Präventionsmaßnahmen. So sind auch Anfragen von akademischer Seite zur Verwendung studentischer Daten oder aber die Nutzung von E-Mailverteilern zu Studien- und Forschungszwecken regelmäßig negativ zu bescheiden. Die Daten werden allein zur notwendigen Studien- und Prüfungsverwaltung bereitgestellt. Eine Weitergabe zu anderen Zwecken – wenn auch zu einem lauteren Zweck wie dem der Forschung – ist unzulässig. Die Neuimplementierung von IT-gestützten Verfahren zur Datenverarbeitung macht regelmäßig die Erstellung von sogenannten datenschutzrechtlichen Vorabkontrollen und Verfahrensverzeichnissen erforderlich. Aufgabe des Datenschutzbeauftragten ist es

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hier, im engen Austausch mit den IT-Verantwortlichen die komplexen Verfahren transparent zu gestalten, ihre datenschutzrechtliche Zulässigkeit zu begutachten und in einem Verzeichnis mit anderen Verfahren zu führen. In diesen Verzeichnissen sind neben dem Zweck der Datenerhebung und -nutzung u. a. die erforderlichen Ermächtigungsgrundlagen, die betroffenen Personengruppen sowie die Daten aufzulisten. Ferner sind sämtliche Empfänger und Nutzer der Daten, Regelfristen für die Löschung, geplante Datenübermittlungen in Drittstaaten sowie Angaben über technische und organisatorische Maßnahmen, die zum Schutz der Daten getroffen wurden, festzuhalten.

9.2.5 Zulassungs- und Prüfungsrecht Das Wohl und Wehe nahezu jeder akademischen Karriere beginnt mit der Zulassung 17 zum Studium. Welche Voraussetzungen hat ein Studienplatzbewerber zu erfüllen, um zugelassen zu werden? Welche Kriterien dürfen zur Auswahl geeigneter Studierender herangezogen werden? Wie berechnen sich die Zulassungszahlen, das heißt die Anzahl derer, die zu einem bestimmten Studiengang zugelassen werden müssen? Warum werden nicht unbegrenzt Studienplatzbewerber zugelassen? Die Anzahl derer, die einen Studienplatz begehren, ist in vielen Studiengängen höher als die Anzahl der durch die räumlichen und personellen Kapazitäten der Hochschulen begrenzten Studienplätze. Dem Interesse der Bewerber an einem Studienplatz stehen die begrenzten Ausbildungsressourcen der Universitäten gegenüber. Gerade hier drohen Widerspruchs- und Klageverfahren der enttäuschten Studienplatzbewerber. Zulassungszahlen sind so festzusetzen, dass unter Berücksichtigung der personellen, 18 räumlichen, sächlichen und fachspezifischen Gegebenheiten eine erschöpfende Nutzung der Ausbildungskapazitäten erreicht wird. Die Qualität in Forschung und Lehre, die geordnete Wahrnehmung der Aufgaben der Hochschule, insbesondere in Forschung, Lehre und Studium sowie in der Krankenversorgung, sind zu gewährleisten. So sieht es § 1 der Verordnung über die Kapazitätsermittlung, die Curricularnormwerte und die Festsetzung von Zulassungszahlen, kurz: KapVO, vor. Diese KapVO ist die Folge der Numerus Clausus-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus den Siebzigern. In dieser Entscheidung hat das Verfassungsgericht festgestellt, dass „das Grundrecht auf freie Wahl des Berufs und der Ausbildungsstätte […] in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip ein Recht auf den Zugang zum Hochschulstudium [begründet], das nur […] dann eingeschränkt werden kann, wenn alle vorhandenen Ausbildungskapazitäten erschöpfend genutzt und alle ‚hochschulreifen‘ Bewerber eine Chance erhalten würden.“ Gut dreißig Jahre später befasst sich das Bundesverfassungsgericht wieder mit dem Numerus clausus und zwar mit der Vereinbarkeit der Vorschriften über die Studienplatzvergabe für das Fach Humanmedizin mit dem Grundgesetz (Az. 1 BvL 3/14, 1 BvL 4/14).

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Im regelmäßigen Turnus werden nach der KapVO die tatsächlich vorhandenen ­ essourcen ermittelt und anhand der sogenannten Betreuungsrelation die Anzahl der R zukünftig zu vergebenden Stu­dienplätze für jeden Studiengang separat berechnet und festgesetzt. Wichtig ist es, möglichst gerichtsfest festzustellen, wie viel Lehrleistung ein jeder Studierender abruft und sicher zu prognostizieren, wie viele Kapazitäten in dem bevorstehenden Semester frei sein werden. Anhand dieser durch die Hochschulen zu berechnenden Zahlen setzt das zuständige Ministerium für jede einzelne Hochschule und für jeden Studiengang die Zahl der aufzunehmenden Studierenden fest. Sodann hat die Hochschule anhand der Bewerberlage und konkreter Zulassungskriterien eine Auswahl zu treffen. Auswahlregelungen sind in einem Staatsvertrag der Bundesländer sowie in den Hochschulgesetzen der Bundesländer getroffen. Auswahlkriterien sind z. B. der Abiturdurchschnitt sowie die Wartezeit, die zwischen dem Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung und der Bewerbung um den Studienplatz vergangen ist. Da immer wieder Ablehnungsbescheide im Widerspruchsverfahren angegriffen werden und eine Zulassung vor Gerichten erstritten wird, ist es für den in diesem Bereich tätigen Hochschuljuristen unerlässlich, sich in die komplexen Regelungen des Kapazitätsrechts einzuarbeiten. Denn spätestens vor Gericht wird er die Plausibilität der Berechnung darlegen müssen. Der oben genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts folgend haben Hochschuljuristen dabei einerseits die Aus­lastung der Hochschulkapazitäten sowie die Qualität der Lehre anderseits sicherzustellen.

9.2.6 Widerspruchsverfahren 20 Es gibt sie noch! Zwar sind weite Teile der früher zu führenden Widerspruchsverfahren dem Bürokratieabbaugesetz II von 2007 zum Opfer gefallen. Diese Neuregelung findet aber keine Anwendung auf Verwaltungsakte, die sich auf die Bewertung einer Leistung im Rahmen einer berufsbezogenen Prüfung beziehen, also nicht auf eine Vielzahl der an einer Hochschule klassischerweise getroffenen Entscheidungen. Mit der Abschaffung der Widerspruchsverfahren hat der Gesetzgeber der bis heute umstrittenen Einschätzung Rechnung getragen, dass diese Verwaltungsverfahren ihren ursprünglichen Zweck der Befriedung und Selbstkontrolle der Verwaltung verfehlten, und meist nur zu einer rein formalen zeit- und kostenintensiven Durchlaufstation vor dem Klageverfahren führten. In der Zulassungs- und Prüfungspraxis gehören Widerspruchsverfahren – wie oben dargestellt – gleichwohl weiter zur täglichen Praxis. 21 Im Prüfungsrecht ist die verfahrensrelevante Entscheidung des Prüfers meist nur begrenzt justitiabel. Sie beschränkt sich für den Verwaltungsjuristen auf die Überprüfung formaler Kriterien und offensichtlicher Bewertungsmängel. Anders verhält es sich mit Widersprüchen gegen die Nichtzulassung zum Studium. Hier sind die zugrundeliegenden Kapazitätsberechnungen unter Einbeziehung der tatsächlichen Ausbildungskapazität, d. h. des real in diesem Studiengang vorhandenen Lehrdeputats, eingehend zu prüfen. Die letztgenannten Verfahren können sehr aufwändig sein. Auch überschneiden sie sich

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in der Praxis häufig mit gerichtlichen Eilschutzverfahren, da die Studienplatzbewerber nicht den Ausgang des Widerspruchsverfahrens abwarten wollen.

9.2.7 Prozessvertretung vor Verwaltungsgerichten Wie oben gezeigt, können eine Vielzahl von Hochschulentscheidungen gerichtlich über- 22 prüft werden. Dabei stammt die überwiegende Anzahl der Fälle aus dem Zulassungs-, dem Prüfungs- oder dem Beamtenrecht. Ob es um die Anfechtung einer Prüfungsentscheidung geht, die einer Exmatrikulation nach einem Täuschungsversuch, die Verpflichtung auf Neubeurteilung einer Bachelor-/Masterarbeit oder aber die Zulassung zum Studium: Die Prozessvorbereitung und Vertretung vor Gericht erfolgt für die Hochschulen vor den Verwaltungsgerichten und Oberverwaltungsgerichten meist durch ihre hauseigenen Juristen. Die Verwaltungsgerichte verlangen, dass der Verwaltungsvorgang lückenlos vorgelegt wird. Hierzu werden die Akten paginiert und dem Gericht im Original übersandt. Insofern geht es den Rechtsvertretern vor dem Verwaltungsgericht deutlich besser als den Rechtsanwälten, die im Zivilrecht streiten: Sowohl im Verwaltungsverfahren als auch im Verwaltungsgerichtsverfahren gilt der Amtsermittlungsgrundsatz. Ähnlich wie bei ­Verfahren vor den Strafgerichten sind Verwaltungsrichter nicht an das Vorbringen der Parteien gebunden. Es obliegt dem Gericht, den Sachverhalt umfassend und abschließend zu ermitteln. Sämtliche Beweise sind daher nicht von den Parteien zu erbringen, sie werden von Amts wegen beschafft.

9.2.8 Vertragsprüfungen Die Besonderheiten in der modernen Hochschullandschaft stellen die Rechtsvertreter der 23 Hochschulen vor immer neue Aufgaben. So sind u. a. mit Einführung des Hochschulfreiheitsgesetzes (HFG) die Hochschulen in NRW zum 1.1.2007 in die Selbstständigkeit entlassen worden. Das bedeutet, dass sie nicht mehr der Fachsaufsicht des Landes unterworfen sind und nunmehr eigenverantwortlich die Entscheidungen zur Finanz-, Organisations- und Personalpolitik treffen. Der Staat, bzw. das Land, hat sich aus der Detailsteuerung der Hochschulen zurückgezogen und so den Hochschulen die Möglichkeit eröffnet, über den Abschluss sogenannter Zielvereinbarungen1 mit dem Land ihre mittel- und langfristige Organisations- und Strategieplanung selbst vorzunehmen. Bei solchen Zielvereinbarungen werden gemeinsam mit dem Ministerium Ziele formuliert,

1Mit

Erlass des neuen Hochschulgesetzes vom 16. September 2014 werden diese Zielvereinbarungen Hochschulvereinbarungen genannt.

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bei deren Erreichen innerhalb der vereinbarten Zeit der Hochschule weitere finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden. Gegenstand solcher Zielvereinbarungen kann zum Beispiel die Schaffung weiterer Studienplätze sein, die Steigerung der einzuwerbenden Drittmittel oder auch die Gründung eines Hochschulkindergartens. Die Einführung der Globalhaushalte war ein weiterer Schritt in die sogenannte Freiheit der Hochschulen. Durch die Schaffung der Globalhaushalte unterliegen die ­ Hochschulen nicht mehr den engen haushaltsrechtlichen Beschränkungen wie etwa der Jährlichkeit des Körperschaftsetats. Tatsächlich können die Universitäten nun ihre Finanzplanung auch mittel- und langfristig vornehmen. Leider verzeichnet die Hochschullandschaft aber entgegen den anderslautenden öffentlichen Bekundungen einen ständigen Rückgang der Finanzmittel, so dass die Hochschulen verstärkt neben der Erhebung von Studienbeiträgen auf die Einwerbung von Drittmitteln aus der Wirtschaft angewiesen sind. 24 Wurde die Forschung früher überwiegend staatlich finanziert, werden heutzutage immer mehr Forschungsvorhaben durch private Geldgeber finanziert. Diese Geldgeber finanzieren die Forschung aber meist nicht selbstlos oder zu rein wohltätigen Zwecken. Im Rahmen von Auftragsforschungs- und Drittmittelverträgen bemühen sich die beteiligten Unternehmen, sich die Rechte an Forschungsergebnissen möglichst umfassend von den Hochschulen und Forschungseinrichtungen übertragen zu lassen. Dies war bis zum Jahr 2002 meist problemlos möglich. Bis zur Einführung des neuen § 42 des Gesetzes über Arbeitnehmererfindungen (ArbNErfG) im Jahr 2002 war es den Hochschullehrern unbenommen, über Erfindungen, die sie im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit machten, frei zu verfügen. Seit dem Wegfall des sogenannten „Hochschullehrerprivilegs“ sind Erfindungen von Hochschullehrern im Wesentlichen so zu behandeln wie die Erfindungen von anderen Arbeitnehmern. Verwertungsrechte an patent- und gebrauchsmusterfähigen Erfindungen stehen somit den Arbeitgebern, d. h. den Hochschulen, zu, die sie entweder selber zum entsprechenden Schutzrecht anmelden, die Verwertungsrechte daran an Dritte übertragen oder aber sie freigeben und sie somit dem Erfinder zur eigenen Verwertung überlassen. Das Übertragen der Forschungs- und Studienergebnisse ist ein zentraler Bestandteil der im Vorfeld mit den Geldgebern abzuschließenden Vereinbarungen, so genannter Drittmittel- oder Forschungs- und Entwicklungsverträge. Diese Verträge spielen in der modernen Hochschullandschaft eine zunehmend wichtige Rolle, regeln sie doch die zahlreichen wechselseitigen Rechte und Pflichten beim Transfer von Forschungsergebnissen in die Wirtschaft. 25 Dabei stehen die Hochschuljuristen bei den Verhandlungen dieser Verträge nicht selten ganzen Gruppen spezialisierter Rechtsanwälte oder Rechtsabteilungen gegenüber, die für die Industrie mit harten Bandagen eine antizipierte Übertragung möglicher Patent- und Nutzungsrechte fordern. Im Rahmen dieser Verhandlungen um den Wissenschaftstransfer in die Industrie sind zentrale Rechtsinteressen der Hochschulen und Universitäten und ihrer forschenden Mitglieder betroffen. Dies betrifft

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etwa die Veröffentlichungsfreiheit, die zum Teil den Patentierungsinteressen der Konzerne entgegensteht. Neben der in Art. 5 GG verfassungsrechtlich garantierten ­ Freiheit des Hochschullehrers, über das „Ob“ und „Wie“ der Veröffentlichung seiner Forschungsergebnisse zu entscheiden, spielen Vereinbarungen über die wechselseitig zu gewährenden Nutzungen von sogenannten Altschutzrechten eine entscheidende Rolle. Bei diesen Altschutzrechten handelt es sich um Schutzrechte der Vertragsparteien, die bereits vor Vertragsdurchführung auf Seiten eines der Vertragspartner vorhanden waren und die für die Durchführung der Studien unverzichtbar sind. Hier gilt es für beide Parteien, den sicheren Umgang mit diesen Schutzrechten zu gewähren und ihren Fortbestand zu wahren. Wichtig ist es, frühzeitig von den an den Forschungsarbeiten beteiligten Hochschullehrern zu den Vertragsverhandlungen hinzugezogen zu werden, um eine Wahrung der Interessen der Hochschule und ihrer Mitarbeiter sicherzustellen. Nicht immer wird der Vorteil einer juristischen Beratung gleichermaßen geschätzt, so dass die relevanten Bedingungen teilweise bereits im Vorfeld zwischen den Institutsleitern auf der universitären Seite und dem Geldgeber auf industrieller Seite ausgehandelt werden. In solchen Fällen ist für den Universitätsjuristen die Verhandlungsposition freilich suboptimal: Riskiert er doch den Vertragsschluss und somit den Ausfall wichtiger Drittmittel, wenn er nun zu zentralen Punkten der unmittelbar bevorstehenden Forschungsarbeit abweichende Regelungen einfügen möchte. Nicht selten hat der Justitiar sich dann mit zwei Seiten auseinanderzusetzen. Der 26 Geldgeber ist irritiert über den überraschenden Sinneswandel seines Auftragnehmers und der Universitätsprofessor fürchtet um die Realisierung seines Vorhabens und die Finanzierung seiner Mitarbeiter. Hier ist ein sensibles und maßvolles Vorgehen und Verhandeln erforderlich, um weder den einen noch den anderen nachhaltig zu verärgern. Denn nicht jede Klausel hat in der Praxis die Relevanz, die wir Juristen ihr vor Vertragsschluss zuschreiben.

9.2.9 Urheberrecht Die Hochschulen als Forschungsinstitutionen sind steter Quell geistiger Schöpfungen. 27 Das geistige Eigentum ist einer der sichersten Kapitalstöcke der Universitäten. Das hochschulgenerierte Wissen zum Nutzen von Gesellschaft und Wirtschaft zu schützen ist Aufgabe der Juristen. Bei der Abfassung von Forschungs- und Entwicklungsverträgen sind daher Regelungen zum Urheberrecht, genauer: Zur Nutzung fremder Urheberrechte, elementarer Bestandteil. Welche Nutzungsrechte sollen dem Auftraggeber an den Forschungsergebnissen zustehen? Werden diese exklusiv abgetreten oder verbleiben Rechte beim Urheber? Wie verhält sich im Spannungsfeld der Auftragsforschung das Publikationsrecht des Forschers zum Geheimhaltungsinteresse des Auftraggebers?

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Neben der Sicherung der Interessen der Hochschule und ihrer Mitarbeiter ist aber auch die Wahrung fremder Urheberrechte Gegenstand des juristischen Alltagsgeschäfts an der Hochschule. Das Urheberrecht schützt das Werk und seinen Urheber vor unberechtigter Nutzung und Veröffentlichung. Dieser Schutz gilt aber nicht grenzenlos. Das UrhG sieht verschiedene Schranken vor, ohne die u. a. die Forschung und der heutige Lehrbetrieb nicht vorstellbar wären. So finden sich im Urheberrecht Regelungen zur öffentlichen Zugänglichmachung in Forschung und Lehre. Diese Normen sind in jüngerer Vergangenheit wiederholt Gegenstand rechtspolitischer Debatten und Reformen gewesen. Aus diesem Grund besteht an den Hochschulen häufiger Beratungsbedarf auf Seiten der Lehrenden, unter welchen Voraussetzungen sie auch fremde Werke in ihre Vorträge, Unterlagen, Veröffentlichungen und Vorlesungen einbauen dürfen.

9.2.10 Patent- und Gebrauchsmusterverfahren 28 Die oben genannte Streichung des Hochschullehrerprivilegs hat ein weiteres Rechtsgebiet verstärkt in den Fokus des Hochschuljustitiars gerückt: Das Patentrecht. Diensterfindungen von Hochschullehrern stehen den Universitäten zu. Der Hochschulangestellte teilt seinem Arbeitgeber die Erfindung mit. Der Arbeitgeber hat nun sechs Wochen Zeit, zu prüfen, ob er diese Erfindung verwerten oder freigeben möchte. Diese Prüfung setzt nicht nur detailreiche Kenntnisse auf dem Gebiet des Patentrechts voraus, sondern vor allem Kenntnisse auf dem Gebiet der jeweils betroffenen Wissenschaftsdisziplin. Die wenigsten Juristen können beurteilen, ob es sich bei der eingereichten Entdeckung des Wissenschaftlers tatsächlich um eine „technische Neuerung“ handelt und ob somit Patentierfähigkeit gegeben ist. Das Patentrecht ist somit die Schnittstelle zwischen den Disziplinen Recht und Technik. Um die Hochschulen in den schwierigen patentrechtlichen Fragen zu unterstützen, haben die Länder sogenannte Patentverwertungsagenturen gegründet. Diese prüfen die bei den Hochschulen gemeldete Erfindung auf Patentierbarkeit und Vermarktungsreife. Die Aufgabe des Hochschuljuristen erschöpft sich in diesem Zusammenhang in der Sicherstellung des rechtlichen Rahmens bei der Verhandlung von Forschungsaufträgen und in der Kommunikation mit der Patentverwertungsagentur. Ersteres ist erforderlich, damit die Erfindung nicht – wie früher üblich – bereits bei Vertragsschluss auf den Auftraggeber übertragen wird. Die Korrespondenz mit den Verwertungsagenturen ist erforderlich, um die Vollständigkeit der Erfindungsmeldung und den Kontakt mit den beteiligten Forschern sicherzustellen. Interessant ist dieser Tätigkeitsbereich allemal, da er den Juristen eng an andere Forschungsgebiete heranführt und er so Einblicke in die interessante Welt naturwissenschaftlicher Forschung erhält.

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9.2.11 Markenrechtliche Verfahren Neben dem Patent- und dem Urheberrecht gehört auch das Markenrecht zum Rüstzeug 29 des Hochschuljuristen. Name und Logo der Hochschule, Forschungsprojekte oder -einrichtungen, Embleme und Insignien der Hochschule dienen nicht nur dazu, sich gegen andere Marktteilnehmer abzugrenzen: Als Qualitäts- und Gütesiegel sind sie auch bares Kapital der Universitäten, welches es zu schützen gilt. So sind nicht wenige Drittmittelgeber daran interessiert, ihre Zusammenarbeit mit einer Hochschule auch öffentlichkeitswirksam zu vermarkten. Aufgabe des Juristen ist es dann, Hochschulmitglieder über Schutzmöglichkeiten zu unterrichten, die Marken in den relevanten Klassen anzumelden, Lizenzverträge zu verhandeln, entwerfen oder zu prüfen sowie etwaige Markenverletzungen zu verfolgen. Dabei hat die Hochschulleitung selbstredend sicherzustellen, dass die Qualität ihrer Forschung und ihr guter Ruf nicht an den Meistbietenden verhökert werden und eine Unabhängigkeit der Wissenschaft gewahrt bleibt, was sie durch Verhaltenskodizes und durch Vermarktungsrichtlinien regeln kann. Dies bietet Juristen die Möglichkeit, sich einzubringen. Hierbei findet eine enge Zusammenarbeit mit den neuerdings an den Hochschulen etablierten Marketingabteilungen, den Wissenschaftstransfer- oder Pressestellen statt.

9.2.12 Haftungs- und Forderungsmanagement Auch das Haftungs- und Forderungsmanagement beschäftigt Hochschuljuristen. Hier 30 geht es allgemein um Fragen vertraglicher und deliktischer Haftung bei der Durchführung von Forschungsprojekten und Lehrveranstaltungen, möglicher Verringerung von Haftungsrisiken über Aufklärungsbögen und Verzichtserklärungen bei Probanden, aber auch um die Veranlassung von aus Verkehrs­ sicherungspflichten resultierenden ­Maßnahmen. Im Zusammenhang mit Forschungsprojekten gilt es regelmäßig die Probanden als Studienteilnehmer sorgsam über die typischen Gefahren der Studie aufzuklären und sie ihr Einverständnis erklären zu lassen. In besonders gefahrgeneigten Studien ist es zudem angeraten, sogenannte Probandenversicherungen abzuschließen. Zudem haben auch Hochschulen Forderungsausfälle, wenn Schuldner Zahlungen 31 verweigern oder zahlungsunfähig werden. Wenn es in Zusammenhang mit ausstehenden Zahlungen zu Schwierigkeiten kommt, übernehmen Juristen dieselben Aufgaben wie die Kollegen in Rechtsanwaltskanzleien: Von Mahnungen über die Beantragung von Mahnund Vollstreckungsbescheiden bis hin zu Klagen vor den Amtsgerichten. Vor den Landgerichten müssen sich auch Hochschulen von Rechtsanwälten vertreten lassen, da sie hier nicht postulationsfähig sind. Wenn es auch Justitiare gibt, die nebenberuflich als Rechtsanwalt zugelassen sind, so gebietet es das Standesrecht, nicht zugleich im Hauptamt für den öffentlichen

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­ rbeitgeber als Rechtsanwalt tätig zu werden. An dieser Stelle übergeben wir unsere A Verfahren dann also regelmäßig an Kollegen, die auf die vorgerichtlich geführte Korrespondenz zurückgreifen können.

9.2.13 Sportrecht 32 Das Sportrecht gehört natürlich nicht zum klassischen Portfolio eines Hochschuljuristen. Und doch begegnen dem Juristen in seinem Berufsalltag an einer Sportuniversität ständig Fragen aus diesem entlegenen Rechtsgebiet. Angefangen mit allgemeinen Haftungsfragen im Zusammenhang mit der Durchführung von Sportlehrveranstaltungen über Probleme bei der Bestimmung der Verkehrssicherungspflichten für die Sportstätten bis hin zu den diversen Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Dopinganalytik im Institut für Biochemie. Insbesondere letzteres wirft zahlreiche Rechtsprobleme auf. Der positiv getestete Athlet hat schwerwiegende Sanktionen zu fürchten. Eine von seinem Verband verhängte Wettkampfspeere läuft in verschiedenen Sportarten auf eine faktisches Berufsverbot hinaus. Außerdem erleidet er einen erheblichen Imageschaden und Sponsorengelder brechen weg. In der Öffentlichkeit erhält das Thema Doping immer mehr Aufmerksamkeit. Ende 2015 trat das vieldiskutierte Gesetz gegen Doping im Sport in Kraft. Im Sportrecht gilt der Grundsatz der strict liability und da der positiv getestete Sportler seine Unschuld beweisen muss, sind an das Testverfahren höchste Qualitätsanforderungen zu stellen. Werden im Körper des Athleten Dopingsubstanzen gefunden, führt der Grundsatz der strict liability unabhängig von subjektiven Tatelementen zur Annahme eines Dopingverstoßes und läuft somit auf eine Beweislastumkehr hinaus. Gelingt es dem Sportler nicht, die Auffälligkeiten in seinem Blut oder Urin zu erklären, wird er gesperrt. Häufig landen diese Fälle vor Gericht und der Athlet greift das Testverfahren von der Probenentnahme bis zur B-Probenanalyse an. Dabei ist seitens des verklagten Sportverbandes bzw. Turnier- und Wettkampfveranstalters nicht nur eine lückenlose Kühlkette der Proben nach der Entnahme bis hin zur Probenöffnung zu dokumentieren, auch die Qualität der Versiegelung der Probenbehälter und die Zuordnung der über einen Code verschlüsselten Proben muss unzweifelhaft dargelegt werden. Hierzu sind in den letzten Jahren komplexe und streng zu beachtende Verfahrensroutinen implementiert worden. Die Proben werden unmittelbar nach ihrer Entnahme auf zwei Gefäße verteilt, versiegelt und mit einem Code versehen. Diese Proben werden so tiefgekühlt auf direktem Weg in ein Labor versandt, in welchem das Siegel der ersten Probe gebrochen und die Probenflüssigkeit nach dem Auftauen umfangreichen Analysen unterzogen wird. Zu keiner Zeit ist den beauftragten Laboratorien der Name des betroffenen Athleten bekannt. 33 Zeigen sich im Rahmen dieser Analysen Auffälligkeiten, wird hierüber der Auftraggeber in Kenntnis gesetzt, der seinerseits über Zuordnung des Codes den Athleten in Kenntnis setzen kann. Der wiederum erhält nun die Möglichkeit, eine B-Probenanalyse in Auftrag zu geben. Dieser kann er persönlich, aber auch ein von ihm beauftragter Rechtsvertreter

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beiwohnen, um sich von dem korrekten Testablauf im Labor von der Brechung des Siegels bis hin zur Durchführung der erforderlichen Analyseverfahren zu überzeugen. All diese Schritte werden akribisch dokumentiert, da sie im Streitfall vor Gericht nicht nur zu schwersten Sanktionen gegenüber dem Sportler, sondern auch – im Falle fehlerhafter Analyseverfahren – zu erheblichen Schadensersatzforderungen gegenüber den übrigen ­Verfahrensbeteiligten führen können. Aus diesem Grund werden stets auch Justitiare der Hochschule um rechtlichen Beistand schon bei der Probenöffnung gebeten. Im Zusammenhang mit sportpraktischen Lehrveranstaltungen und Exkursionen kommt es naturgemäß häufiger als in anderen Lehrgebieten zu studienbedingten Unfällen und Verletzungen. Dies macht immer wieder die Auseinandersetzung mit der zuständigen Berufsgenossenschaft – der Landesunfallkasse – erforderlich, die bei der Durchführung der Lehrveranstaltung den gesetzlichen Unfallversicherungsschutz für Mitarbeiter und Studierende zu gewährleisten hat. Hier sind regelmäßig Fragen der ­Einstandspflicht und Ursächlichkeit zu klären.

9.2.14 Organisatorische Einbindung in die Hochschule und empfohlenes Anforderungsprofil An den Hochschulen erfolgt die Einbindung von Justitiaren auf sehr unterschiedliche 34 Weise. Wie die kommunalen Verwaltungen verfügt eine Hochschulverwaltung grundsätzlich über eine Haushaltsverwaltung, eine Bau- und Liegenschaftsverwaltung sowie eine Personalverwaltung. An den Hochschulen tritt hier noch die Studierendenverwaltung hinzu. Diese verschiedenen Verwaltungseinheiten werden Dezernate genannt und meist entsprechend ihren Teilzuständigkeiten in Abteilungen untergliedert. Daneben gibt es aber auch Stabsstellen und Beauftragte der Rektorate. Juristen finden sich häufig in Personal- und Haushaltsdezernaten sowie den Dezernaten für Studierendenangelegenheiten, zumeist als reine Verwaltungsmitarbeiter. Andere Hochschulen bilden Stabsstellen für Rechtsangelegenheiten als direkt dem Rektorat bzw. dem Präsidium unterstellte Dienstleister. Häufig werden die in diesem Kapitel dargestellten Tätigkeiten an größeren Hochschule über verschiedene Verwaltungseinheiten verteilt, so dass Juristen ihren Fokus verstärkt auf den zivil- oder den verwaltungsrechtlichen Bereich ausrichten können. Lediglich an kleinen Hochschulen werden die juristischen Aufgaben in der beschriebenen Art gebündelt, was eine Spezialisierung nahezu unmöglich macht. Unabhängig von der Organisationsstruktur einer Hochschule bieten aber juristische Fragestellungen in allen Bereichen des Universitätsalltags ein Betätigungsfeld für Juristen, die eine spannende und abwechslungsreiche Tätigkeit suchen. Dabei fordert die Hochschule anders als andere klassische juristische Wirkungskreise ein hohes Maß an Teamfähigkeit und kommunikativer Stärke, da die Arbeit auf dem Campus mit viel direktem „Kundenkontakt“ verbunden ist.

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Die direkte Einbindung in das operative Geschäft der Hochschulleitung und die 35 Beratung der diversen Gremien gestatten es dem Universitätsjuristen, unmittelbar an der Gestaltung der Hochschullandschaft mitzuwirken. Dabei ist – anders als es das Image des Verwaltungsjuristen vermuten lässt – ein lösungsorientiertes und flexibles Denken und Handeln von Vorteil. Die (Rechts-)Rat suchenden Hochschulmitglieder sind des Hochschuljuristen Mandanten: Auch der Jurist im öffentlichen Dienst wird an seiner Dienstleistungsqualität gemessen. Dabei hat er natürlich nicht wie sein Kollege in der Privatwirtschaft das Interesse seines Mandanten, sondern in erster Linie das Interesse der Hochschule im Blick zu halten. Schließlich soll nicht verschwiegen werden, dass üppige monetäre Vorzüge für Juristen in der öffentlichen Verwaltung – gemessen an den Verdienstmöglichkeiten in der Privatwirtschaft – nicht zu erwarten sind. Im Klartext: Selbstverständlich finden sich in den Tiefgaragen amerikanischer Großkanzleien größere Limousinen als auf den Hochschulparkplätzen. Und nicht viele Juristen werden aus finanziellen Gründen im öffentlichen Dienst arbeiten. Ob nach einem zeit- und lernintensiven Studium und einem Referendariat das Salär in der öffentlichen Verwaltung angemessen ist, mögen andere beurteilen. Aber der öffentliche Dienst bietet aus meiner Sicht für Juristen an den Hochschulen – neben den dargestellten Vorzügen einer interessanten und abwechslungsreichen Tätigkeit – Arbeitsbedingungen, die der Lebensqualität zuträglich sind. Dies gilt insbesondere für Juristen, die neben ihrer Begeisterung für die Rechtswissenschaft auch anderen Disziplinen aufgeschlossen gegenüberstehen. In meinem Fall habe ich an der Sporthochschule eine Möglichkeit gefunden, meinen Beruf mit meiner Leidenschaft für den Sport eng zu verbinden.

Organisatorische Herausforderungen der Rechtsabteilung: Aspekte der strategischen Ausrichtung und Konzeptionierung

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Christoph Hirschmann

10.1 Einleitung Der Chefjurist des Unternehmens (General Counsel, Chefsyndikus, Justiziar) hat sich der Frage zu stellen, wie sein Verantwortungsbereich, die Rechtsabteilung, idealerweise konzeptioniert werden sollte, um den an sie gestellten Anforderungen gerecht zu werden1. Das Management des Unternehmens wird hierzu in aller Regel eine überzeugende Antwort erwarten, und zwar zu Recht. Dabei variieren die Anforderungen an eine sachgerechte Organisation der Rechtsabteilung je nachdem, in welchem Umfeld sich die Rechtsabteilung im Einzelfall bewegt und wie komplex sie ist. Hierbei spielt etwa die Größe des Unternehmens und seine Strategie eine Rolle, aber auch die Art der Finanzierung des Unternehmens, die Größe der Rechtsabteilung selbst und ihr Aufgabenspektrum, sowie die Erwartungen relevanter Entscheidungsträger an die Rechtsabteilung. Der vorliegende Beitrag soll anhand eigener Erfahrungen des Verfassers Hilfestellung und Anregungen für die Konzeptionierung und strategische Aufstellung der Rechtsabteilung bieten. 1Die

„Make or Buy“-Entscheidung, also die Frage, ob das Unternehmen überhaupt über eine eigene Rechtsabteilung verfügen sollte, ist hier nicht zu behandeln. Vgl. hierzu stattdessen Leo Staub, Legal Management, 2. Aufl. 2006, S. 177 ff.; Mark Wilke, Aufgaben felder des Syndikus, in: Lenz, Tobias (Hrsg.), Die Rechtsabteilung, 2011, § 2 B.I; Edmund Schaich, Der Syndikus bei Unternehmungen des Maschinenbaus, in: Lenz, Tobias (Hrsg.), ebd., S. 117 f.; knapp Sylvie Hambloch-Gesinn, Effizienz und Erfolg (einer Rechtsabteilung), in: Sylvie Hambloch-Gesinn u. a. (Hrsg.), In-House Counsel in internationalen Unternehmen, 2010, D.I., S. 5 f.

C. Hirschmann (*)  Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Lenz (Hrsg.), Die Rechtsabteilung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21915-4_10

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1

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C. Hirschmann

10.2 Kleine, Mittlere und Große Rechtsabteilungen 2

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Wenden wir uns zunächst dem Merkmal der Größe der Rechtsabteilung zu. Oftmals wird zwischen sogenannten kleinen, mittleren und großen Rechtsabteilungen unterschieden2. Allerdings belässt man es, soweit ersichtlich, weitgehend bei dieser Differenzierung, ohne präzisere Definitionen mit individuellen Aufgreifkriterien zu liefern3. Dabei macht die Unterscheidung zwischen kleiner, mittlerer und großer Rechtsabteilung durchaus Sinn. Denn es liegt auf der Hand, dass die Anforderungen an den als „One Man Show“ fungierenden Hausjustiziar eines Mittelständlers ganz anders gelagert sein müssen als diejenigen an den weltweit agierenden Unternehmensbereich Recht eines multinationalen Konzerns mit dutzenden oder gar hunderten Juristen. Aus unternehmenspraktischer Sicht erscheint eine Definition anhand der folgenden Kriterien sachgerecht. I. Die kleine Rechtsabteilung verfügt in der Regel über nicht mehr als fünf Juristen. Diese sind zumeist Generalisten, das heißt, alle Aufgabengebiete der kleinen Rechtsabteilung werden von ihren Juristen selbst abgedeckt. Das schließt nicht aus, dass einzelne Mitglieder auf bestimmten Gebieten über profundes Spezialwissen verfügen, etwa weil der Unternehmensgegenstand dies erfordert4. So werden beispielsweise in der Rechtsabteilung eines Speditionsunternehmens mit ein oder zwei Juristen diese sicherlich über herausragende Expertise im Transportrecht verfügen. Aber sie werden eben auch in allen sonstigen Rechtsgebieten tätig sein, die das Unternehmen mit sich bringt – allgemeines Zivilrecht, Prozessrecht, Strafrecht, Verwaltungsrecht. Die kleine Rechtsabteilung wird in der Regel zentral vom Hauptverwaltungssitz des Unternehmens aus geführt und verwaltet. Allerdings verfügen manchmal die Niederlassungen und/oder Tochtergesellschaften von mittelständischen Unternehmensgruppen über eigene (dezentrale) Rechtsabteilungen ohne zentrale Führung5. Soweit es sich nicht schon ohnehin um eine „Ein-Personen-Rechtsabteilung“ handelt, werden außer dem Abteilungsleiter in aller Regel auch dessen nachgeordnete Juristen ihren Dienstsitz am Ort der Hauptverwaltung des Unternehmens haben. Nicht selten ist der kleinen Rechtsabteilung kein eigenes Budget und keine eigene Kostenstelle zugewiesen, sondern sie wird in die Gesamtverwaltungskosten einer

2Vgl.

etwa entsprechende Seminartitel, wie z. B. „Die kleine Rechtsabteilung“ (Euroforum-Konferenz vom 21./22.10.2008, Bonn); „Die kleine und mittlere Rechtsabteilung“ und „Die große Rechtsabteilung“ (Euroforum-Unternehmensjuristentage 2013). 3Ansatzweise Schaich, oben (Fn. 1), S. 116 („kleine Rechtsabteilungen (2–3 Juristen)“); sehr differenziert nach Anzahl der Berufsträger hingegen kanzleimonitor.de 2013–2014, hrsg.v. dfv association gmbh, S. 27. 4Vgl. Wilke, oben (Fn. 1), § 2 B.III.2, Rz. 10. 5Vgl. Otto, Henning & Company (Hrsg.), Der Rechtsabteilungs-Report 2011/12, S. 54 f., der allerdings nicht nach den hier vorgeschlagenen Kriterien kleine – mittlere – große Rechtsabteilung differenziert.

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übergeordneten Kostenstelle einbezogen, was ein vernünftiges Kostenmanagement oftmals sicherlich erschwert. II. Die Größe mittlerer Rechtsabteilungen liegt auf einer Bandbreite von sechs bis dreißig Juristen, bei denen es sich sowohl um Generalisten als auch um Spezialisten handeln kann. Unternehmen mit rechtlichen Spezialgebieten wie etwa dem gewerblichen Rechtsschutz, Pharmarecht oder Luftverkehrsrecht sind auf hochspezialisierte Experten angewiesen. Daneben wird aber auch das rechtsoperative Tagesgeschäft breiten Raum einnehmen und vielfältige Fragen aufwerfen, die das allgemeine Vertragsrecht ebenso betreffen wie Forschungs- und Entwicklungskooperationen, Joint Ventures, strafrechtliche (Compliance-) Themen oder Aspekte des Arbeitsrechts. In mittleren Rechtsabteilungen kommen oftmals auch Paralegals zum Einsatz. Assistenten/innen, die über eine exzellente Ausbildung als Rechtsanwalts- und Notargehilfen verfügen, füllen die Lücke zwischen den klassischen Sekretariatsaufgaben und der juristischen Tätigkeit der Inhouse-Anwälte. Rechtsreferendare, Trainees und Azubis werden mehr oder weniger regelmäßig zur Ausbildung übernommen. Das (im Vergleich zur kleinen Rechtsabteilung) Mehr an Mitarbeitern und deren Spezialisierung kann in der mittleren Rechtsabteilung auch eine weitere hierarchische Untergliederung erforderlich machen. Man kann dem durch die Übertragung von Führungsaufgaben an nachgeordnete juristische Führungskräfte Rechnung tragen, ohne dass damit notwendigerweise Titel oder Funktionsbezeichnungen verbunden sein müssen. Daneben können aber natürlich auch Dezernatsleiter (zum Beispiel Leiter Corporate und M&A) und/oder regionale Bereichsleiter (zum Beispiel General Counsel EMEA) nötig werden. Mittlere (und große) Rechtsabteilungen werden in aller Regel zentral vom Hauptverwaltungssitz des Konzerns aus geführt, haben indes zumeist weitere Juristen oder sogar nachgeordnete (lokale oder regionale) Rechtsabteilungen an verschiedenen Standorten6, insbesondere auch im Ausland, um die geostrategische Ausrichtung des Unternehmens7 abbilden und die notwendige rechtliche Unterstützung in den relevanten Jurisdiktionen gewährleisten zu können. Die mittlere Rechtsabteilung verfügt praktisch immer über ein eigenes Budget. Dies erleichtert das Kostenmanagement zumindest dann signifikant, wenn es sich um ein Weltbudget handelt, wenn also alle Kosten weltweit von diesem Zentralbudget erfasst sind. III. Ab einer Größe von 30 Juristen, darunter Generalisten und Spezialisten, oft sogar in Fachabteilungen zusammengefasst (zum Beispiel Litigation, M&A, Projekte) ist von einer großen Rechtsabteilung zu sprechen. Auch sie wird in aller Regel zentral vom Sitz des Unternehmens geführt. Hier besteht eine im Vergleich zur mittleren Rechtsabteilung gesteigerte internationale Ausrichtung des Rechtsbereiches. Das manifestiert sich sowohl

6Hierzu 7Näher

Wilke, oben (Fn. 1), § 2 C.I. dazu unten, C.I.3 (Rn. 9).

4

5

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in der Allokation der Unternehmensjuristen auf unterschiedliche Standorte weltweit, als auch in deren persönlichen Qualifikation. Die große Rechtsabteilung verfügt über einen Pool an international ausgebildeten Juristen, die entweder mehrere Abschlüsse im In- und Ausland erworben oder entsprechende Auslandserfahrung haben. Auch die regelmäßige Bearbeitung von Sachverhalten unter fremden Rechtsordnungen gehört bei der großen (allerdings auch bei der mittleren Rechtsabteilung) zum Tagesgeschäft. Neben den voll ausgebildeten Juristen sind Paralegals, Assistenten, Rechtsanwalts- und Notargehilfen und Sekretärinnen/Sekretäre Teil des Standardensembles der großen Rechtsabteilung. Rechtsreferendare, Trainees und Azubis sind in der Regel in die unternehmensinternen Ausbildungsprogramme eingebunden. Die große Rechtsabteilung verfügt über ein eigenes Budget. In vielen Fällen gibt es eine „Haupt“-Kostenstelle und daneben weitere Kostenstellen, mit denen die Fachabteilungen budgetiert und kontrolliert werden. Die Rechtsabteilungen multinationaler Konzerne verfügen oftmals über ein weltweites Zentralbudget Recht, was die konzernweite Kostenkontrolle sehr begünstigt.

10.3  Konzeption und Strategie 6

Die soeben unter B. beschriebenen Merkmale weisen den Weg: Wenn eine Rechtsabteilung auf bestimmten Rechtsgebieten über ganz spezielle Expertise verfügen muss (etwa die Rechtsabteilung des Speditionsunternehmens auf dem Gebiete des Transportrechts), so ist zu fragen, wie diese Spezialisierung am sinnvollsten vorgenommen und arbeitsteilig erledigt, also organisiert werden kann. Und wie die Spezialisierung (auf das Transportrecht) erreicht, aufrechterhalten und mit den anderen abzudeckenden Aufgabengebieten so verflochten werden kann, dass sich das Potential der gesamten Rechtsabteilung optimal entfaltet. Im Idealfall ergänzen sich so alle Glieder der Rechtsabteilung zu einem wirkungsvollen Ganzen – der effizienten Rechtsabteilung. Die Herausforderung liegt also darin, die Rechtsabteilung effektiv und effizient zu organisieren. Dabei ist das Ziel einer Rechtsabteilung – ganz allgemein ausgedrückt – die Risikoprävention. Die Rechtsabteilung ist also effektiv, wenn sie erfolgreich Risikoprävention betreibt. Dabei kommt der Rechtsabteilung eine Schlüsselrolle im Unternehmen zu: Einerseits haben praktisch alle typischen Tätigkeitsbereiche der Rechtsabteilung risikobegrenzenden oder -vermeidenden Charakter, wie etwa die vertragsrechtliche Beratung als die „Home Base“ der Unternehmensanwälte8, Tätigkeiten im Rahmen von streitigen Auseinandersetzungen, gesellschaftsrechtliche Beratung, die Begleitung von

8kanzleimonitor.de

2013–2014, hrsg.v. dfv association gmbh, S. 264.

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M&A-Aktivitäten, Wettbewerbsrecht oder Arbeitsrecht9. Auf der anderen Seite werden Unternehmensrisiken letztlich durchweg mit juristischen Instrumenten gemanagt, etwa durch Vertragsregelungen, Versicherungen, juristische Begleitung der Unternehmenskommunikation, Umwelt- und Arbeitssicherheitsmaßnahmen, usw. Man kann die Rechtsabteilung also durchaus als erfolgskritischen Kernbereich wohlverstandenen Risikomanagements betrachten. Dies findet ein zusätzliches Fundament in der Feststellung, dass die fortschreitende Verrechtlichung des Wirtschaftslebens – nicht nur im strafrechtlichen Bereich der Korruptions- und Wettbewerbsdelikte – mit einer gefühlten Zurückdrängung unternehmerischer Entscheidungsfreiheiten zugunsten justiziabler Fehlentscheidungen einhergeht10 und es geradezu geboten erscheinen lassen, auch die Vorgänge des gewöhnlichen Geschäftsbetriebes einer systematischen und gründlichen Risikoanalyse zu unterwerfen11. Daneben entscheiden aber noch weitere Unternehmensparameter über die Effizienz der Rechtsabteilung, insbesondere Ziel, Gegenstand und Strategie des Unternehmens. Der verantwortliche Bereichsleiter muss diese Parameter kennen, denn nur so lässt sich die Rechtsabteilung professionell konzipieren und strukturieren12. Aus dem Gegenstand des Unternehmens, seinen Zielen und der Unternehmensstrategie, mit der die Ziele erreicht werden sollen, folgen nämlich jene spezifischen Risiken, ohne deren Kenntnis eine zielgerichtete Arbeit der Rechtsabteilung nicht möglich ist.

9Andere

Bereiche, die teilweise als eigenständige Aufgabenfelder oder Rollen neben der risikopräventiven Funktion genannt werden (beispielsweise „Dienstleister für interne Mandanten“ oder „Management externer Rechtsberatung“), beschreiben die Art und Weise der Aufgabenerfüllung und sind damit Gegenstand der Konzeption der Rechtsabteilung. An dem Ziel der Risikoprävention ändern sie nichts. Auch soweit Rechtsabteilungen ganze Projekte leiten, handelt es sich letztlich um einen Bereich der Risikoeingrenzung und des Risikomanagements, denn Risikomanagement ist stets ein zentraler Bestandteil wohlverstandenen Projektmanagements. Ob der Rechtsabteilung darüber hinaus Kontrollaufgaben zugewiesen sind, ist eine Frage des Einzelfalls; zumeist wird dies aber Gegenstand einer separaten Funktion, der Konzernrevision, sein. 10Einerseits genießt die Unternehmensleitung einen unternehmerischen Ermessensspielraum (Business Judgment Rule), der das bewusste Eingehen geschäftlicher Risiken und die Gefahr von Fehlbeurteilungen und -einschätzungen deckt; vgl. Detlef Kleindiek, in: Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), GmbHG, 18. Aufl. 2012, § 43 Rn. 23. 11Zur Pflicht der Schaffung und Aufrechterhaltung eines adäquaten Risikomanagementsystems s. BGH, Urt. v. 20.2.1995, NJW-RR 1995, 669; Bernhard Steffan, Die Aufgaben des Geschäftsführers in der Krise und Insolvenz der Gesellschaft, in: Frank Oppenländer/Thomas Trölitzsch (Hrsg.), Praxishandbuch der GmbH-Geschäftsführung (2004), § 36 Rn. 11; vgl. auch § 91 Abs. 2 AktG für das deutsche Gesellschaftsrecht und Detlef Kleindiek, oben (Fn. 10), Vor § 41 Rn. 3. 12Ebenso Leo Staub, oben (Fn. 1), S. 44 f.: „Die richtungslose Auseinandersetzung mit Recht ist fruchtlos“.

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10.3.1 Bedeutung von Ziel, Gegenstand und Strategie des Unternehmens für die Rechtsabteilung 7

8

1. Zunächst zu den Unternehmenszielen: Ziel erwerbswirtschaftlich handelnder Unternehmen ist in der Regel Gewinn und Rentabilität13, ausgedrückt etwa in konkreten Zielvorgaben nach Unternehmenskennzahlen wie EBIT, EBITDA, Working Capital oder anderen Liquiditätsgrößen. Sie werden ergänzt durch sachliche Ziele (zum Beispiel „Marktführerschaft und Fokussierung“, „Technologieführerschaft durch Innovation“ oder „Kalkulierte Risiken“14), ethische Ziele15 (zum Beispiel „Schaffung von Arbeitsplätzen für Menschen mit Behinderung und deren Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt“16), oder auch durch soziale und ökologische Ziele. 2. Was den Gegenstand des Unternehmens betrifft, so ergibt sich zum Beispiel aus der Tätigkeit „Herstellung und Vertrieb von chemischen Produkten sowie Forschung auf diesem Gebiet“17 ein anderes Risikoprofil und für die Rechtsabteilung somit auch ein anderer Tätigkeitsschwerpunkt als etwa aus dem „Betrieb von Bankgeschäften, dem Erbringen von Finanz- und sonstigen Dienstleistungen sowie der Förderung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen“18. Im ersten Fall werden Aspekte der Forschung und Entwicklung, der Arbeitssicherheit und des Umwelt- und Emissionsschutzes eine Rolle spielen, bei letzterem dürften Aspekte des Kapitalmarktrechts und des Bankenaufsichtsrechts besonders einschlägig sein. Nehmen wir ein weiteres Beispiel: Der Unternehmensgegenstand bestehe in Entwicklung, Fertigung, Vertrieb, Montage und Wartung von Lüftungs-, Klima- und Heizungsgeräten19. Daraus ergeben sich unmittelbar weitere Geschäftsaktivitäten wie beispielsweise Einkauf und Logistik, Forschung und Entwicklung, oder Vertrieb im Wege des Eigenvertriebs oder durch Vertragshändler und Handelsvertreter. Das Aufgabenspektrum der Rechtsabteilung umfasst dabei Einkauf und Logistik (Vertragsrecht), Produktion (Arbeitssicherheit), Forschung und Entwicklung (Gewerblicher Rechtsschutz),

13Seite „Unternehmensziel“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 6. Dezember 2013. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Unternehmensziel&oldid=125174873. Anders mag dies im Einzelfall bei Non-Profit-Organisationen oder öffentlich-rechtlichen Betrieben und Verwaltungen sein, vgl. ebd. 14GEA Group Aktiengesellschaft, www.gea.com. 15Hierzu Alexander Brink, Organisationsethik, http://www.ethik-in-der-praxis.de/organisationsethik/. 16Schnitt-Gut GmbH, www.schnitt-gut.de. 17So § 2 der Satzung der Wacker Chemie AG, eingesehen unter http://www.wacker.com/cms/ media/de/documents/investor-relations/satzung.pdf. 18§ 2 der Satzung der Deutsche Bank AG, eingesehen unter https://www.deutsche-bank.de/ir/de/ images/Satzung_23_Mai_2013.pdf. 19Etwas vereinfacht der Unternehmensgegenstand der GEA Air Treatment GmbH, eingesehen im Handelsregister.

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Vertrieb (Vertragsrecht, Compliance), Unternehmensübernahmen infolge externer Wachstumsstrategien (M&A), Standortschließungen und sonstige Restrukturierungen aus betrieblichen Gründen (Gesellschaftsrecht, Arbeitsrecht). 3. Wesentlichen Einfluss auf die strategische Ausrichtung der einzelnen Organisationseinheiten und damit auf die Rechtsabteilung hat schließlich die Unternehmensstrategie20. Sie beschreibt die geplanten Verhaltensweisen des Unternehmens zur Erreichung seiner Ziele21 und kann natürlich ganz unterschiedlich aussehen, da sie zahlreichen Faktoren unterliegt. So hat beispielsweise die Art und Weise, wie sich das Unternehmen finanziert, Einfluss auf seine Strategie. Bei börsennotierten Unternehmen spielt insoweit der Kapitalmarkt eine wichtige Rolle, denn er bewertet den Erfolg des Unternehmens über den Aktienkurs22. Dieser Zusammenhang hat in der jüngeren Vergangenheit bei vielen börsennotierten Unternehmen vor allem dazu geführt, dass die Corporate Governance ins Blickfeld strategischer Ausrichtungen gelangt ist23. Auch sonst dürften die Grundsätze guter Unternehmensführung vor allem in Form eines angemessenen Umgangs mit Risiken und der Einhaltung aller anwendbaren Rechtsnormen (Compliance) bei den meisten größeren Unternehmen inzwischen Eingang in deren Strategie gefunden haben. Ein „strategischer Eckpfeiler“ beispielsweise des GEA Group-Konzerns sind „kalkulierte Risiken“ im Sinne von „Stabilität durch Diversifikation innerhalb der Kerngeschäfte über Sektoren und Regionen hinweg“ sowie einer „gründlichen Risikoprüfung der Projekte“24. „If you think Compliance is expensive, try non-compliance“25 – diese Erkenntnis hat sich mittlerweile herumgesprochen.

20Vgl.

Wilhelm Rall/Birgit König, Aktuelle Herausforderungen an das strategische Management, in: Harald Hungenberg/Jürgen Meffert (Hrsg.), Handbuch Strategisches Management, Gabler (2003), S. 11 (12). 21Vgl. Wilhelm Rall/Birgit König, Aktuelle Herausforderungen an das strategische Management, in: Harald Hungenberg/Jürgen Meffert (Hrsg.), Handbuch Strategisches Management, 2003, S. 11 (13); am Beispiel der Deutsche Telekom AG s. Karl-Gerhard Eick/Guido Kerkhoff, Wertorientiertes Management bei einem integrierten Telekommunikationsunternehmen, in: Harald Hungenberg/Jürgen Meffert (Hrsg.), Handbuch Strategisches Management, 2003, S. 273 ff. 22Axel Wieandt/Marc Siemes/Michael Bachschuster, Wechselwirkungen zwischen Strategie und Kapitalmarkt am Beispiel der Deutschen Bank, in: Harald Hungenberg/Jürgen Meffert (Hrsg.), Handbuch Strategisches Management, 2003, S. 233 (236 ff.). 23Beispiele bei Michael Muth/Bernhard Brinker, Einfluss Institutioneller Anleger auf Führung und Strategie börsennotierter Unternehmen, in: Harald Hungenberg/Jürgen Meffert (Hrsg.), Handbuch Strategisches Management, 2003, S. 303 (313). 24GEA Group Aktiengesellschaft, www.gea.com. 25Instruktiv hierzu Christoph E. Hauschka, Kosten der Non-Compliance, Compliance-Magazin.de 2007, http://www.compliancemagazin.de/compliancefachbeitraege/kosten/luther060807.html.

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10.3.2 Die Abgeleitete Bereichsstrategie 10 Es zeigt sich also, dass die Rechtsabteilung nicht losgelöst vom unternehmerischen Gesamtkonzept, welches seinen Ausdruck in den beschriebenen Parametern findet, agieren kann, sondern dass sie ihren Auftrag einer adäquaten Risikoprävention im Einklang und nach Maßgabe der Parameter-Einsetzungen im konkreten Einzelfall zu verfolgen hat. Dies sollte auf Grundlage strategischer Vorgaben für die Rechtsabteilung erfolgen, der sogenannten Abgeleiteten Bereichsstrategie. Die Entwicklung einer Abgeleiteten Bereichsstrategie sei im Folgenden am Beispiel der (mittleren26) Rechtsabteilung von GEA Heat Exchangers, einem früheren Teilkonzern der GEA Group27, aufgezeigt. 11 1. GEA Heat Exchangers verfügt über eines der weltgrößten Produktportfolios im Wärmetauschermarkt28. Die Geschäftsaktivitäten umfassen Erforschung und Entwicklung, Herstellung und Vertrieb von Wärmetauschern, die Erbringung damit zusammenhängender Nachverkaufs- und Wartungsleistungen, sowie den Erwerb und die Veräußerung von Unternehmen auf diesem Gebiet. Das Unternehmen ist weltweit aktiv und hat zahlreiche Fertigungsstandorte rund um den Globus. Für die Rechtsabteilung leitet sich daraus ein breites Aufgabenspektrum ab: Forschung und Entwicklung erfordern juristische Arbeit auf den Gebieten des gewerblichen Rechtsschutzes, des Wettbewerbsrecht und des Vertragsrechts. Im Bereich der Fertigung geht es hingegen vor allem um öffentliches Recht (Betriebsgenehmigungen, Emissionsschutz und Umweltrecht) und um Arbeits- und Arbeitssicherheitsrecht. Die Vertriebsaktivitäten wiederum umspannen zahlreiche Rechtsgebiete, denn die genutzten Vertriebswege sind weltweit unterschiedlich und umfassen Eigenvertrieb, Distributoren und Handelsvertreter. Dementsprechend sind Fragestellungen aus diesen handelsrechtlichen Bereichen, aber auch im Bereich des Kauf- und des Werklieferungsrechts einschlägig. Das Service- und Ersatzteilgeschäft wiederum erfordert vor allem Kenntnisse des allgemeinen Vertragsrechts, einschließlich des Rechts der allgemeinen Geschäftsbedingungen. Erwerb und Veräußerung von Unternehmen sprechen die Bereiche M&A und Corporate Restructuring an (als besondere Ausprägung des Schuldrechts).

26Oben,

B.II (Rn. 4).

27http://www.gea-heatexchangers.com/.

Die GEA Heat Exchangers Group wurde mittlerweile an einen Finanzinvestor veräußert. 28Ein Wärmetauscher (auch Wärmeaustauscher oder Wärmeübertrager) überträgt thermische Energie von einem warmen auf ein anderes (kälteres) Medium, wobei die Medien untereinander meist nicht in Kontakt kommen. Der weltweit am häufigsten verwendete Wärmetauscher ist der Autokühler. Dieser hält den Motor kühl, indem er eine Kühlflüssigkeit (in der Regel Wasser) durch den Motorblock leitet. Anschließend wird die so erwärmte Kühlflüssigkeit durch den Kühler geleitet, in dem sie wieder abgekühlt wird. Das gleiche Prinzip gilt für fast alle industriellen Prozesse der Welt. Vgl. Generate, hrsg. v. GEA Group AG, 10. Ausgabe, März 2010, S. 11, abrufbar unter www.gea.com.

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2. Die vorgenannten Rechtsgebiete dürften zwar in dieser oder ähnlicher Aus- 12 prägung in praktisch allen privatwirtschaftlichen Unternehmen eine Rolle spielen. Konkret und individualisiert wird der Aufgabenbereich der Rechtsabteilung aber durch die Zusammenschau dieser Rechtsgebiete mit dem spezifischen Risikoprofil des Unternehmens, das sich unter anderem aus der Verwendung der Produkte, aus deren Anwendungsbereichen, ergibt. So ist beispielsweise zu berücksichtigen, dass Wärmetauscher in aller Regel zwar prozesskritische Komponenten einer Anlage sind (zum Beispiel Verdampfer für eine Zuckerfabrik), zumeist aber nur einen geringen Teil der Gesamtkosten dieser Anlage ausmachen. Ist der Verdampfer defekt oder wird er verspätet geliefert, und kann die Zuckerfabrik deshalb nicht zum vorgesehenen Zeitpunkt den Betrieb aufnehmen (oder muss ihn unterbrechen), so entstehen unter Umständen Schadenersatzansprüche in einer Höhe, die ein Mehrfaches des erzielten Erlöses ausmachen kann. Ein weiteres Beispiel sind Entfeuchtungsanlagen, die etwa in öffentlichen Schwimmbädern eine wichtige Rolle spielen: Die warme Luft in Hallenbädern absorbiert ständig Wasser, so dass schnell ein tropenähnliches Treibhausklima entsteht, das zu Kondensation an Wänden und Fenstern und damit zu Schäden am Gebäude führt. Wärmetauscheranlagen absorbieren die Feuchtigkeit in der Luft und entsorgen sie als Abwasser. Die Wärme wird anschließend in die entfeuchtete Luft im Schwimmbad zurückgeleitet.29 Funktioniert ein solcher Wärmetauscher nicht mehr in der erforderlichen Weise, etwa weil er fehlerhaft gewartet wurde, so kann ein unangenehmes Klima die Folge sein, schlimmstenfalls sich sogar der Putz von den Wänden lösen und schwarzer Schimmelpilz die Fugen befallen. Durch die Verknüpfung des durch die beiden Beispiele verdeutlichten spezifischen Risikoprofils mit den einschlägigen Rechtsgebieten ergibt sich eine recht klare konzeptionelle Richtung für die Schwerpunktsetzung der Rechtsabteilung: Im „Verdampfer“-Beispiel sollte der Vertrag über die Lieferung der Anlagen gewisse Schutzmechanismen vorsehen, um eine unverhältnismäßige Haftung des Unternehmens zu vermeiden oder dessen Risiko zumindest auf ein vorhersehbares und damit kalkulierbares Szenario zu begrenzen. Im „Entfeuchtungsanlagen“-Fall wird sich die Risikobetrachtung auf den Wartungsvertrag konzentrieren und insbesondere die Beweislast für eine fehlerhafte Wartung im Auge behalten. Nun wird der Vertrieb von Wärmetauschern in bestimmten Ländern mit Handels- 13 vertretern organisiert, in anderen Ländern mithilfe von Distributoren. In Einzelfällen mögen solche Distributoren auch auf Provisionsbasis Geschäfte vermitteln, etwa weil ein Kunde das Unternehmen als direkten Vertragspartner wünscht oder weil der Distributor ein Geschäft nicht finanzieren kann. Für die Rechtsabteilung bedeutet ein solches Vertriebsmodell zweierlei: Erstens sind Verträge mit Handelsvertretern und Distributoren in Kenntnis und unter Berücksichtigung des jeweils anwendbaren materiellen Vertriebsrechts zu gestalten, etwa mit Blick auf zwingende Ausgleichansprüche bei Beendigung

29Generate,

hrsg. v. GEA Group AG, 2. Ausgabe, März 2007, S. 23, abrufbar unter www.gea.com.

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des Vertragsverhältnisses oder auf gesetzliche Spezialmaterien bei öffentlich registrierten Vertriebsverträgen. Zweitens sind Geschäftsbeziehungen zu Handelsvertretern und anderen Dienstleistern (Consultants, Door Opener, o. ä.) spätestens unter dem Eindruck zahlreicher Compliance-Skandale der vergangenen Jahre äußerst streng und mit gründlichen Dokumentationen versehen zu prüfen und rechtlich zu begleiten. Zu groß ist das Risiko, dass über die Zahlung von Provisionen an solche Dienstleister verdeckt Bestechungsgelder fließen. Eine gründliche Due Diligence und ein sauberes Vertragswerk sind für das Unternehmen von herausragender Bedeutung. Ein Versäumnis an dieser Stelle kann das Unternehmen erheblichen Haftungsrisiken und seine Geschäftsleiter unter Umständen sogar strafrechtlicher Verfolgung aussetzen30. 14 3. Bei der Unternehmensstrategie beruft sich GEA Heat Exchangers auf a) Marktführerschaft und Fokussierung, b) Technologieführerschaft durch Innovation, c) starke Ergebnisorientierung und d) kalkulierte Risiken31. 15 Marktführerschaft und eine starke Ergebnisorientierung bedeuten für die Rechtsabteilung, dass in der Vertragsgestaltung besonderes Augenmerk auf die jeweiligen Inhalte zu legen ist. So ist einerseits stets das Wettbewerbsrecht einschließlich der Missbrauchskontrollvorschriften im Auge zu behalten, und zwar weltweit. Andererseits müssen die Ergebnisziele durch Vertragsklauseln etwa zu Zahlungszielen, -sicherheiten und -meilensteinen sichergestellt werden. Oftmals ergibt sich dabei ein Konflikt mit gleichlautenden Vorgaben von Kunden, die ein möglichst langes Zahlungsziel verlangen, um das eigene Working Capital zu senken, so dass Verhandlungsgeschick und ein ganzheitlicher Ansatz gefragt sind. International tätige Unternehmen müssen durch die Rechtsabteilung in allen relevanten Märkten weltweit begleitet werden. Dabei hat sie ihre Aufgaben unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Rechtsordnungen, Kulturen und politischen Situationen zu erledigen. Bei der juristischen Betreuung von Geschäftsvorfällen in politisch instabilen Regionen müssen die Verträge deshalb beispielsweise sorgfältig durchdachte und gestaltete „Force Majeure“-Regelungen enthalten. Auch werden die Wahl des Gerichts- oder Schiedsgerichtsstands und die Rechtswahl zu zentralen Aspekten, ebenso adäquate Zahlungssicherheiten, Lieferbedingungen und Gewährleistungsregelungen. Zum Teil bewaffnete politische und soziale Auseinandersetzungen haben in den vergangenen Jahren immer wieder erhebliche ­Auswirkungen auf die ­Durchführbarbeit und Abwicklung von Verträgen gehabt, wie etwa der syrische ­Bürgerkrieg, der sogenannte „Arabische Frühling“, oder der Irak-Krieg. Zeitweise ist in solchen Regionen kein funktionierender Zahlungsverkehr mehr gewährleistet und es ist mitunter höchst problematisch und mit erheblichen Gefahren für Leib und Leben

30Vgl.

etwa das „Siemens/Neubürger“- Urteil des LG München zur persönlichen Haftung eines ehemaligen Siemens Finanzvorstandes und dessen Verurteilung zur Zahlung von € 15 Mio. Schadenersatz wegen Einrichtung einer unzureichenden Compliance-Organisation und deren unzureichender Überwachung (LG München, Urt. v. 10.12.2013–5 HK O 1387/10). 31Vgl. GEA Group Aktiengesellschaft, www.gea.com.

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v­erbunden, Installations- oder Reparaturarbeiten vor Ort durchzuführen. In einigen Ländern Mittelamerikas und Ostafrikas ist die Gefahr von Entführungen entsandter Mitarbeiter so groß, dass deren Entsendung zumeist auszuschließen ist. Wiederum andere Länder verfügen über eine für deutsche Maßstäbe „sonderbare Streikkultur“, weil Ausstände dort oft nicht vorhersehbar und in ihrer Dynamik unberechenbar sind. Auch bestehende internationale Sanktionen gegen Länder wie Iran sind hier zu nennen. Geschäftsaktivitäten mit Angehörigen dieser Länder sind praktisch nicht mehr möglich, schon weil die US-Behörden mit zum Teil drastischen Strafen drohen32. Hier nimmt eine wirksame Exportkontrolle des Unternehmens eine herausragende Rolle ein. Des Weiteren verlangt die Technologieführerschaft durch Innovation eine enge 16 Betreuung des Forschungs- und Entwicklungsbereiches des Unternehmens. Innovationen müssen beispielsweise durch ein gut strukturiertes Arbeitnehmererfindungswesen flankiert, die Erfindungen von Anfang an juristisch sorgfältig begleitet werden. Dabei ist auch die Entscheidung über eine etwaige Patentierung oder einen anderweitigen Schutz der Innovationen im Auge zu behalten. Weitere Aufgabenfelder sind etwa der Schutz des Unternehmensinteresses bei Abfassung von Kooperations- und Entwicklungsverträgen mit Dritten, die Federführung bei gerichtlichen und behördlichen Verfahren wie etwa Patentverletzungsklagen oder Widerspruchsverfahren. Kalkulierte Risiken schließlich bedeutet vor allem eine gründliche und systematische 17 rechtliche Risikoanalyse von Verträgen anhand bestimmter Kriterien (etwa dem Unterschreiten bestimmter Mindestkennzahlen oder dem Überschreiten bestimmter Auftragswerte) und deren Bindung an konzerninterne Zustimmungsvorbehalte. 4. Die Bandbreite der Aufgaben der Rechtsabteilung wird durch eine klare Gliede- 18 rung und Beschreibung der Tätigkeitsfelder der Rechtsabteilung auf einen Blick erkennbar. Dies ist von großer Bedeutung für die Bewertung der Rechtsabteilung durch das Unternehmen und die Frage, ob die Rechtsabteilung erfolgreich ist. Denn der Rechtsabteilung kommt eine maßgebliche Bedeutung für den Erfolg des Unternehmens zu, sie ist für das Unternehmen ein „kritischer Erfolgsfaktor“. Dieser Bewertung kann durch die sorgfältige Konzeptionierung und Ausrichtung der Rechtsabteilung ein Fundament verschafft werden. Denn dieser Befund ist für die Rechtsabteilung gleichsam Kern ihrer Daseinsberechtigung. Jeder Leiter Recht sollte in der Lage sein, „seinem Management“ die Unverzichtbarkeit der Rechtsabteilung für das Unternehmen jederzeit nachzuweisen. Auf die Frage „Warum brauchen wir eine eigene Rechtsabteilung, warum können wir nicht nach Bedarf auf externe Anwälte zurückgreifen?“ gilt es, eine gut begründete Antwort parat haben. Es ist zu akzeptieren, dass Gesellschafter, Inhaber, Aufsichtsrat und Geschäftsleitung des Unternehmens der Rechtsabteilung nur dann das notwendige

32So

jüngst etwa die Deutsche Clearstream AG, die wegen Verstößen gegen die Iran-Sanktionen in den USA 152 Mio. $ Strafe zahlen muss, http://www.handelsblatt.com/unternehmen/banken/deutsche-boerse-tochter-clearstream-muss-millionenstrafe-zahlen/9378884.html.

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Gewicht beimessen und bereit sein werden, ihr die benötigten Ressourcen zur Verfügung zu stellen, wenn sie sie als eine für den Unternehmenserfolg maßgebliche Organisationseinheit betrachten.

10.3.3 Konfliktpotential 19 Bei der Organisation der Rechtsabteilung ist zu bedenken, dass die gleichzeitige Verantwortung bestimmter Aufgabenfelder unter Umständen Konfliktpotential in sich birgt. Die Tätigkeitsfelder der Rechtsabteilung von GEA Heat Exchangers sind auf der Grundlage des Tätigkeits- und Risikoprofils des Unternehmens in sogenannte Practice Areas gegliedert. Diese umfassen „Corporate Matters“, „Dispute Resolution“, Component Business“, „Project Business“, „Mergers and Acquisitions/Strategic Projects“ und „Risk & Compliance“. Eine nähere Beschreibung erfolgt dann durch die Zuweisung weiterer Themenfelder wie beispielsweise Gesellschaftsrecht, IT-Recht, IP-Recht oder Vertriebsrecht an die einzelnen Practice Areas als deren Unterbereiche. Dabei unterscheiden sich allerdings zum Beispiel „Dispute Resolution“ und „Risk & Compliance“ von den übrigen Practice Areas dadurch, dass sie nicht nur präventiven, sondern auch kontrollierenden und bewertenden Charakter haben. Zwei (fiktive) Beispiele mögen dies verdeutlichen: (A) Ein Kunde erhebt Klage wegen eines angeblich fehlerhaften Kühlers, der abweichend von den vereinbarten technischen Spezifikationen hergestellt und geliefert worden sei. Der Kunde verlangt Ersatz des ihm durch den angeblichen Mangel entstandenen Schadens und macht hierbei den viereinhalbfachen Betrag des Vertragspreises geltend. Dieser Betrag sei überwiegend auf die erzwungene Abschaltung der Produktionsanlage und dadurch entstandenen Produktions- und Gewinnausfall zurückzuführen. Ein Sachverständigengutachten kommt nun zu dem Ergebnis, dass der Kühler tatsächlich nicht den vereinbarten Spezifikationen entsprochen habe, das Gericht verurteilt das Unternehmen darauf hin zur Zahlung des verlangten Schadenersatzes. Auf eine im Vertrag vereinbarte Haftungsbeschränkung könne sich die Beklagte nicht berufen, da diese aus Rechtsgründen unwirksam sei. Wenn der mit der Klageabwehr befasste Jurist hier also feststellen musste, dass die Haftungsbeschränkungsklausel durch einen Kollegen aus dem Bereich des Vertragswesens schlampig formuliert worden war, so liegt der Konflikt auf der Hand. Denn der mit der Schadenersatzklage befasste Jurist hatte den streitbefangenen Vertrag ja auch daraufhin zu prüfen, ob und in welchem Umfang er risikobegrenzende (sprich: wirksame haftungsbegrenzende) Klauseln enthält. Auf diese Weise wird die rechtsberatende Tätigkeit des einen Juristen (Aufgabenbereich Vertragsrecht) justiziabler Gegenstand einer Bewertung durch einen anderen Juristen (Aufgabenbereich Litigation). Die Rechtsabteilung überprüft (und bewertet) sich also in gewissem Maße selbst.

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(B) Ein Provisionsvertrag mit einem Dienstleister in der Türkei sieht Provisions- 20 ansprüche des Dienstleisters in Höhe von 8 % des vermittelten Auftragswertes vor, was im konkreten Fall gegen konzerninterne Antikorruptionsrichtlinien verstößt. Von der erhaltenen Provision zweigt der Vertreter 3 % ab, die er an einen Entscheidungsträger des Kunden zur Erlangung des Auftrages zahlt. Den Rest (5 %) behält er ein. Der Vorgang kommt durch einen sog. „Whistleblower“ ans Licht und landet wiederum bei der Rechtsabteilung, die nun bei der Aufklärung des Falles auch über die fehlerhafte Provisionsregelung des Handelsvertretervertrages zu befinden hat. Die präventive Beratung wird auch hier zum Gegenstand nachgelagerter juristischer Aufarbeitung. Es soll hier nicht einer Vermeidung der beschriebenen Konstellationen das Wort 21 geredet werden. Denn jedes Unternehmen ist anders zugeschnitten, die Aufgabenbereiche innerhalb der Rechtsabteilung sind unterschiedlich, und auch die Erwartungen an die Rechtsabteilung variieren beträchtlich. Es kommt aber darauf an, dass sich der verantwortliche Rechtsabteilungsleiter über die Konzeption seiner Rechtsabteilung und das damit unter Umständen verbundene Konfliktpotential im Klaren ist, und dass er auf der anderen Seite die Ziele und Strategien des Unternehmens ebenso kennt wie die individuellen Erwartungen seines Managements. Die beschriebenen Konfliktsituationen kann man zwar dadurch vermeiden, dass man die Bereiche trennt, etwa eine eigene „Litigation“-Abteilung oder einen separaten Compliance-Bereich schafft. In den meisten Unternehmen wird es dafür aber an den notwendigen Ressourcen fehlen. Eine gewisse „Entschärfung“ der „Compliance-Fälle“ könnte etwa auch durch die Verwendung einheitlicher Musterverträge für Dienstleister erreicht werden, in denen die Antikorruptionsvorgaben des Unternehmens berücksichtigt sind und von denen nicht ohne vorherige Zustimmung der Compliance-Abteilung abgewichen werden darf.

10.3.4 Qualität durch individuelle Exzellenz Eine auf der Grundlage der hier vorgestellten Überlegungen erarbeitete Abgeleitete 22 Bereichsstrategie ermöglicht idealerweise die Erbringung maßgeschneiderter Dienstleistungen bester Qualität in allen rechtlichen Fragestellungen für das gesamte Unternehmen. Ein solcher Qualitätsanspruch bedingt natürlich fachliche und persönliche Exzellenz der Unternehmensjuristen. Denn das Identifizieren von Handlungsbedarf und -optionen, die umsichtige Risikoanalyse und die Sicherstellung der Umsetzung erarbeiteter Handlungsempfehlungen und deren Akzeptanz im Unternehmen erfordern die sorgfältige Anwendung umfassender Rechtskenntnisse ebenso wie herausragende Fähigkeiten im Umgang mit Menschen. Die Inhouse-Juristen sollten deshalb über klar definierte Kernkompetenzen verfügen. Dazu gehören vor allem fachliche Exzellenz, Fokussierung, globales Denken, die Fähigkeit zu adäquater Kommunikation, operatives Verständnis, uneingeschränkte Integrität, Verhandlungsgeschick, Effizienz und Kostenbewusstsein sowie Kreativität. Keine Frage, alles beginnt mit einer fundierten

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juristischen Ausbildung33. Im internationalen Umfeld agierende Unternehmensjuristen müssen sich dabei nicht nur in ihrem jeweiligen juristischen „home turf“ sicher bewegen können, sondern sich auch mit den mittlerweile etablierten internationalen rechtlichen Standards auskennen und mit weiteren Rechtsordnungen vertraut sein, die für das Unternehmen wichtig sind. Unter den Mitgliedstaaten des Commonwealth of Nations dominiert etwa das Common law, so dass insoweit fundierte Kenntnisse des englischen Rechts unabdingbar erscheinen. Auf der anderen Seite steht der Rechtskreis des Civil law, das sich nicht nur in Kontinentaleuropa, sondern auch in einzelnen „Common law-Inseln“ durchgesetzt und erhalten hat (Louisiana, USA, oder Québec, Kanada), so dass bei entsprechendem Bezug auch für diese Jurisdiktionen hinreichende Fachkompetenz vorauszusetzen ist. 23 Fachliche Exzellenz und Pragmatismus bei deren Anwendung schließen sich nicht aus, sondern ergänzen einander. Der Top Inhouse-Jurist findet dabei die richtige Balance zwischen umfassender und lückenloser Rechtsanwendung und deren „Übersetzung“ in für das Unternehmen und dessen Stakeholder verwertbare Handlungsempfehlungen. Dabei kann er nicht nur, sondern er muss dort „fünfe gerade sein lassen“, wo für das Unternehmen selbst bei Verwirklichung des erkannten Risikos kein nennenswerter Nachteil zu befürchten ist. Auch an dieser Stelle schließt sich der Kreis: für eine solche Abwägung ist nämlich ein profundes Verständnis der geschäftlichen Aktivitäten des Unternehmens völlig unabdingbar. Hier wird besonders deutlich, dass eine unternehmensjuristische Tätigkeit losgelöst vom konkreten Risikoprofil des Unternehmens nicht möglich ist34. Ein wichtiger Baustein sind deshalb regelmäßig wiederkehrende Produktschulungen für die Unternehmensjuristen, um sie mit den Waren, Dienstleistungen und Fertigungsverfahren des Unternehmens vertraut zu machen und so ihr spezifisches Know-how bei der Risikoprävention zu schärfen. Darüber hinaus sollten Inhouse-Juristen ihren externen Kollegen „auf Augenhöhe“ begegnen können. Das gilt für den fachlichen Austausch und eine arbeitsteilige Zusammenarbeit an größeren oder länger laufenden Projekten ebenso wie für das Aushandeln von Mandatsvereinbarungen und die fachgerechte Beurteilung von Abrechnungen der extern beauftragten Kanzleien. Dies ist generell wichtig, um sich intern gegenüber dem eigenen Management und den Business Partnern glaubhaft positionieren zu können. Es bedarf dieser Beurteilungskompetenz aber auch zur Durchführung eines professionellen Kostenmanagements. 24 Die beschriebenen Qualitätsanforderungen bedingen auch die Fähigkeit der InhouseJuristen, über den eigenen juristischen Tellerrand hinauszublicken und sich von der „heimischen“ Rechtsordnung zu lösen. Es mag (noch) kein internationales Vertragsrecht im

33Völlig

richtig deshalb Beat Hess, Parrot, Prompter, Conductor. A few casual observations on the role of in-house counsel in a global corporation, in: Sylvie Hambloch-Gesinn u. a. (Hrsg.), In-house Counsel in internationalen Unternehmen, Helbing Lichtenhahn Verlag/Basel, 2010, S. 13: „It all begins with a solid legal education“. 34oben, C. (Rn. 6 ff.).

10  Organisatorische Herausforderungen der Rechtsabteilung …

197

eigentlichen Sinne geben. Aber es gibt international praktizierte Standards, die sich von Industrie zu Industrie unterscheiden (z. B. Orgalime, Fidic). „Think Global, Act Local“. Es hilft dem Unternehmen nicht, wenn sein mit deutschen Prädikatsexamina gekränzter Jurist die Begleitung einer Transaktion unter koreanischem Recht mit der Begründung verweigert, er könne hierzu keine Aussage treffen. Auch der oftmals bemühte „Ausweg“, schweizerisches oder englisches Recht vereinbaren zu wollen, erscheint nicht immer empfehlenswert. Denn abgesehen davon dass fehlende sachliche Anknüpfungspunkte einer wirksamen Rechtswahl entgegenstehen können, wird ein solcher Ansatz oftmals Geschäftschancen versperren, weil der lokale Wettbewerber die betreffende Rechtsordnung ohnehin nicht infrage stellt und so beim Kunden entscheidende Pluspunkte sammeln kann. Dann wird der Unternehmensjurist zum „Blockierer“, ein Attribut, das ihm lange Zeit angehaftet hat, das mit einem modernen Rollenverständnis der InhouseJuristen aber nicht in Einklang zu bringen ist.

10.4 Fazit Eine professionell geführte und ihrer erfolgskritischen Stellung im Unternehmen gerecht 25 werdende Rechtsabteilung muss über eine eigene Bereichsstrategie verfügen und konzeptionell sorgfältig durchdacht sein. Das erfordert Kenntnis der wesentlichen Unternehmensparameter, insbesondere Ziel, Gegenstand und Strategie des Unternehmens, sowie eine Analyse des spezifischen Risikoprofils des Unternehmens. Durch dessen Verknüpfung mit den einschlägigen Rechtsgebieten lassen sich die notwendigen Schwerpunkte für die Arbeit der Rechtsabteilung identifizieren und ein Anforderungsprofil für die Unternehmensjuristen erstellen. Deren persönliche und fachliche Qualifikation sind integraler Bestandteil des Konzeptes der Rechtsabteilung – die beste Bereichsstrategie nützt nichts, wenn sie nicht durch hervorragende Mitarbeiter umgesetzt wird. Ausgangspunkt jeder Bereichskonzeption und -strategie ist überdies eine sorgfältige Analyse der wesentlichen Merkmale, welche die eigene Rechtsabteilung auszeichnen. Dabei kann ein Zurückgreifen auf die definitorische Einteilung in kleine, mittlere und große Rechtsabteilungen hilfreich sein. Weitere Erfolgsfaktoren professionell geführter Rechtsabteilungen sind vor allem ein integriertes Kosten- und Wissensmanagement. Diese Aspekte können mit dem vorliegenden Beitrag allerdings nicht behandelt werden, sondern müssen einer gesonderten Betrachtung vorbehalten bleiben.

Vom Kollegen zum Vorgesetzten

11

Thomas Kauss

Dieses Kapitel soll aufzeigen, dass es bei einem Arbeitgeber, der seinen Mitarbeitern stets Perspektiven zur Fortentwicklung bereithält, möglich ist, den Weg vom Kollegen zum Vorgesetzten zu beschreiten und mit welchen begleitenden Maßnahmen bereits der Weg zum Teil des Ziels werden kann. Zugleich soll vermittelt werden, wie durch Strukturveränderungen einer Rechtsabteilung, einhergehend mit der Anwendung eines auf das Team ausgerichteten Führungsstils, Personalressourcen geschont und Mitarbeiter optimiert eingesetzt werden können.

11.1 Ausgangslage Mit Einstieg in das Unternehmen wurde dem Verfasser (Jurist mit 2. jur. Staatsexamen) die Zuständigkeit für ausgewählte Rechtsgebiete übertragen. Die Rechtsabteilung bestand zu dem Zeitpunkt aus 3 Juristen und 2 Assistentinnen. Ein unter anderem wachstumsbedingtes erhöhtes Arbeitsaufkommen und ein über einen längeren Zeitraum aufgestauter Rückstand von zu bearbeitenden Vorgängen und Sachthemen verdeutlichte das Erfordernis der Einstellung eines weiteren Juristen. Dieses war zunächst als befristete Einstellung geplant, bis der Rückstand abgearbeitet sein sollte, mit der Option der Verlängerung – abhängig von der Entwicklung des Arbeitsaufkommens. Schnell

T. Kauss (*)  Leiter der Rechtsabteilung Stiebel Eltron Gmbh & Co. KG, Holzminden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Lenz (Hrsg.), Die Rechtsabteilung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21915-4_11

199

1

200

T. Kauss

zeichnete sich jedoch ab, dass selbst nach Abarbeitung des Rückstandes aufgrund der stetigen Zunahme des regelmäßigen Arbeitsaufkommens eine Besetzung der Rechtsabteilung mit 4 Juristen angezeigt erschien. Zudem war eine Nachfolgeregelung für die Abteilung zu treffen. Dieses erfolgte durch Planung einer Altersteilzeitregelung für die Leiterin der Rechtsabteilung, verbunden mit einer strukturierten Überleitung der Abteilungsleitung auf den Verfasser als Nachfolger; allerdings mit dem Ziel der Fortführung des neu organisierten Teams ohne Nachbesetzung der 4. Juristen-Stelle nach dem Ausscheiden der dann ehemaligen Leiterin der Rechtsabteilung. Die Überleitung gliederte sich in die Vorbereitungsphase, in der der künftige Abteilungsleiter mit den entsprechenden Führungskompetenzen ausgestattet wurde und der Umsetzungsphase, die sich durch strukturierte Überleitung von Aufgaben und Strukturveränderungen auszeichnete. Beide Phasen wurden durch Maßnahmen bestimmt, in denen ein fließender Übergang stattfand. So erfolgte die Vermittlung und Stärkung der Führungskompetenzen über Seminare bei der Deutschen Gesellschaft für Personalführung e. V. (DGFP) in Hamburg sowie die Einbindung in das unternehmensinterne Personalentwicklungsprogramm LEAD 2015 bis hin zu einem Einzelcoaching durch den Personaltrainer Alexander Lutzius (Hamburg). In diesem Einzelcoaching wurde sodann auch die Umsetzungsphase aufgenommen und in ihren Anfängen begleitet.

11.2  Vorbereitung auf die Übernahme einer Führungsrolle 11.2.1 Seminare für Führungskräfte 2 3

1. Erleichtern Sie sich Ihren Start als Chef – Grundseminar (DGFP/Trainer Alexander Lutzius) Über dieses Seminar wurden erste Grundlagen über das Handwerkszeug vermittelt, das eine Führungskraft beherrschen muss. Zunächst wurden die Aufgaben und die Rolle der Führungskraft definiert – was heißt eigentlich Führung und welche konkreten Aufgaben erwarten die Führungskraft. Über die Beleuchtung des persönlichen Führungspotentials, bei dem z. B. intensiv Selbst- und Fremdbild sowie eigene Stärken und Ressourcen betrachtet wurden, erfolgte eine Überleitung zur Entwicklung des angestrebten eigenen Führungsstils. Um diese Definition vornehmen zu können, wurden Grundlagen der Kommunikation aufgezeigt und erörtert, das optimale Mitarbeitergespräch detailliert analysiert und geprobt sowie die Gestaltung von Teamprozessen betrachtet. So erfolgte beispielsweise eine Einschätzung der individuellen Entwicklungsstufen der zu führenden Teammitglieder (E1 – niedrige Kompetenz, hohes Engagement/E2 – einige Kompetenz, wenig Engagement/E3 – hohe Kompetenz, schwankendes Engagement/ E4 – hohe Kompetenz, hohes Engagement) mit einer Zuordnung zum jeweils passenden Führungsstil (S1– dirigieren durch strukturieren, kontrollieren und supervidieren/S2 – trainieren durch dirigieren und sekundieren/S3 – sekundieren durch anerkennen, zuhören

11  Vom Kollegen zum Vorgesetzten

201

und fördern/S4 – deligieren durch Übertragung von Verantwortung für Entscheidungen)1 und einer Einschätzung des konkreten Entwicklungspotentials der jeweiligen Mitarbeiter. Des weiteren wurde die vorherrschende Art der Kommunikation mit Mitarbeitern und der Umgang mit den zu führenden Kollegen betrachtet. Daraus konnten folgende Leitlinien abgeleitet werden: • • • • •

Seien Sie anspruchsvoll, aber lassen Sie sich zufriedenstellen. Seien Sie zugänglich, aber nicht kumpelhaft. Seien Sie entschieden, aber nicht rechthaberisch. Seien sie fokussiert, aber flexibel. Werden Sie aktiv, aber verursachen Sie keinen Aufruhr.2

So erfolgte insbesondere eine Schulung der Fragetechnik mit der Klärung, mit welchen Frage-Arten in ein Gespräch eingestiegen werden kann und wie man die weitere Steuerung des Gesprächsverlaufes übernimmt. Ein weiterer großer Anteil machte der Umgang mit Konfliktgesprächen aus, deren Verlauf nach den in Abb. 11.1 dargestellten Phasen in Rollenspielen umfassend geübt und analysiert wurde.3 Dieser Gesprächsverlauf kann mit kleinen Modifikationen bei unterschiedlichen Gesprächstypen Anwendung finden. Als großer Vorteil stellte sich der kleine Teilnehmerkreis bei dem Seminar heraus. Bei lediglich 4 Teilnehmern war es dem Trainer möglich, nach der Vermittlung der Theorie durch intensive Begleitung der vielen Rollenspiele die tatsächliche Praxis realitätsgetreu zu simulieren und somit direkt am Fall zu arbeiten. 2. Erleichtern Sie sich Ihren Start als Chef – Aufbauseminar (DGFP/Trainer Alexander Lutzius) In dem ein Jahr später folgenden Aufbauseminar wurden die erworbenen Grundlagen vertieft und erweitert. Dieses erfolgte zunächst mit einer Bilanz der bisherigen Führungspraxis durch einen Rückblick auf gemeisterte und „fehlgeschlagene“ Führungssituationen und einer Reflexion zur Zufriedenheit in der eigenen Rolle als Führungskraft. Dabei wurden besondere Herausforderungen im Führungsalltag thematisiert und Team-Bildungs-Maßnahmen aufgezeigt. Aus dem umfassenden Programm seien nachfolgend zwei Instrumente exemplarisch dargestellt. Die Delegation: häufig falsch eingesetzt, wodurch dem Delegierenden der erhoffte Vorteil nicht nur verwehrt bleibt, sondern mitunter darüber hinaus Nachteile erwachsen.

1Alexander

Lutzius, Seminarunterlagen „Erleichtern Sie sich Ihren Einstieg als Chef – Grundlagenseminar“, Folie 24 f. 2Alexander Lutzius, Tipps für eine gelungene Kommunikation mit den Ex-Kollegen 1–3. 3Alexander Lutzius, Seminarunterlagen „Erleichtern Sie sich Ihren Einstieg als Chef – Grundlagenseminar“, Folien 46, 58 f.

4

202

T. Kauss

Abb. 11.1   Phasen des Konfliktgespräches

Eine sinnvoll durchdachte und umfassend durchgeführte Delegation führt in der Regel zur Selbstentlastung, einhergehend mit Zeitgewinn für wichtigere Aufgaben. Aber auch Gewähr einer Mitarbeiter-Auslastung sowie eine Mitarbeiter-Entwicklung sind positive Begleiterscheinungen. Und nicht zuletzt können durch Delegation auch die Leistungsbereitschaft und der Leistungswille der Mitarbeiter erheblich gesteigert werden.

11  Vom Kollegen zum Vorgesetzten

203

­ oraussetzung hierfür ist jedoch, dass die Delegationsregeln beachtet werden – die fünf V „W“s der Delegation: • • • • •

Was soll es getan werden? (Inhalt) Wer soll es tun? (Person) Warum soll er/sie es tun? (Ziel) Wie soll er/sie es tun? (Details) Wann soll es erledigt sein? (Termin) 4

Des weiteren wurde aufgezeigt, wie eine Teambildung durch Entwicklung einer motivierenden Zielelandschaft gefördert werden kann. Mitarbeiter warten grundsätzlich auf Konzepte, die sie und das Unternehmen, für das sie arbeiten, voranbringen und mit dem sie sich selbst auch identifizieren können. Dabei ist stets auf die Balance zwischen Stabilität und Wandel zu achten, wobei vor dem Wandel – oder besser gesagt – vor dem Umgang mit dem Wandel keine Ängste aufkommen sollten. (In diesem Zusammenhang wurden die typischen Phasen der Veränderung eingehend erörtert, deren Potential und Nutzen im nachfolgenden Kap. C.II. dargestellt wird.) Bei der angestrebten Balance sollte differenziert werden zwischen aufgabenbezogenen Zielen, teambezogenen Zielen und mitarbeiterbezogenen Zielen.5 Der konkrete Umgang mit diesem Führungsinstrument wird im Kap. D.I. (Orientierung des neuen Teams) exemplarisch dargestellt.

11.2.2 Personalentwicklungsprogramm in einem mittelständischen Konzern Unterstützt wurde die Vorbereitungsphase durch die Einbindung in das Personalentwicklungsprogramm LEAD 2015, das zeitgleich im Stiebel-Eltron-Konzern eingeführt wurde. „Wie wollen wir miteinander umgehen und zusammenarbeiten?“ „Wie wollen wir Führung im Unternehmen gestalten?“ „Und was können wir dazu beitragen, dass der unternehmerische Erfolg von STIEBEL ELTRON auch in Zukunft unser aller Erfolg bleibt?“ Diese Fragen waren Ausgangspunkt für die Entwicklung eines Führungsleitbildes, das als Grundlage für gemeinsames Handeln als Führungskräfte g­ egenüber

4Alexander

Lutzius, Seminarunterlagen „Erleichtern Sie sich Ihren Einstieg als Chef – Grundlagenseminar“, Folie 172 f. 5Alexander Lutzius, Seminarunterlagen „Erleichtern Sie sich Ihren Einstieg als Chef – Aufbauseminar“, Folien 94 f.

5

204

T. Kauss

den Mitarbeitern dienen soll.6 Im Mittelpunkt dieses Führungshandelns stehen die ­Themenfelder • Motivation/Innovation • Innere Haltung und Integrität • Umgang und Zusammenarbeit • Unternehmerisches Handeln7 6

7

Zur Vermittlung dieses Leitbildes erfolgten Schulungen durch ein externes Personaltrainerteam, im Rahmen derer sich sämtliche Führungskräfte unter anderem mit folgenden Themen befassten: Führen bei STIEBEL ELTRON; Mein persönliches Führungsverhalten; Führungskraft als Coach; Mitarbeitergespräche – Techniken und Übungen; Handlungsfelder der Führung; Feedback geben und nehmen; Führung und Change-Management; Umgang mit Widerständen gegen Veränderungsprozesse. Die Umsetzung der im Rahmen dieser Schulungen erzielten Erkenntnisse erforderte die Einleitung vieler Veränderungsprozesse. Um die Bereitschaft bei den Führungskräften, diese Veränderungsprozesse anzustossen und auch bei den Mitarbeitern, sich auf diese Prozesse einzulassen, überhaupt zu schaffen, wurde unter anderem ein Focus auf die Auseinandersetzung mit Change-Management-Prozessen gelegt. Durch gezieltes Change-Management soll die Führungskraft für ein Klima der Veränderungsbereitschaft in ihrem Verantwortungsbereich sorgen und dieses auch aktiv vorleben. Dafür ist es erforderlich, flexibel auf sich verändernde Rahmenbedingungen zu reagieren und Veränderungsvorschläge offen entgegenzunehmen. Dabei müssen Chancen erkannt und in verantwortungsvoller Weise Risiken abgewägt werden. Die Führungskraft sucht kontinuierlich nach Verbesserungspotentialen und optimiert Abläufe und Rahmenbedingungen. Sie ist dabei in der Lage, notwendige Veränderungen verantwortungsvoll zu planen, wirkungsvoll zu kommunizieren und entschlossen umzusetzen.8 Angst und Unsicherheit im Umgang mit Change-Prozessen können aufgeweicht und sogar beseitigt werden, vergegenwärtigt man sich den üblichen Verlauf dieser Veränderungsprozesse (Abb. 11.2).9 Bei der Subsumtion dieses Verlaufs mit Veränderungsprozessen aus der Vergangenheit können so in der Regel ein Großteil der Ängste insbesondere bei den Mitarbeitern genommen und die Bereitschaft für Veränderungen gefördert werden.

6Unsere

Energie hat Zukunft – Führungsleitbild der Stiebel Eltron-Gruppe, S. 2. Energie hat Zukunft – Führungsleitbild der Stiebel Eltron-Gruppe, S. 8 ff. 8Stiebel Eltron, Kompetenzprofil Führungskraft, S. 3. 9Alexander Lutzius, Seminarunterlagen „Erleichtern Sie sich Ihren Einstieg als Chef – Aufbauseminar“, Folie x. 7Unsere

11  Vom Kollegen zum Vorgesetzten

205

Abb. 11.2  Phasen der Veränderung

11.2.3 Coaching zur Vorbereitung der Führungsrolle unter Beachtung der individuellen Situation Wie einleitend bereits erläutert, wurden sowohl die Vorbereitungsphase als auch die Umsetzungsphase durch ein individuell auf die spezielle Situation und die neue Führungskraft ausgerichtetes Coaching begleitet, mit dem Ziel • der Optimierung des eigenen Führungsverhaltens im Hinblick – auf eine neue Teamstruktur in der Rechtsabteilung und – einer Rollenveränderung des Trainees im Team, • der Optimierung des eigenen Auftritts intern und extern sowie • einer strukturierten Planung des Umgangs – mit der neuen Position sowie – mit der Besonderheit der Abgrenzung und des Einbezugs der Vorgängerin, die noch in einer Übergangsphase für fast 2 Jahre dem Umstellungsprozess begleitend zur Verfügung stand. In vierstündigen Trainingseinheiten wurden folgende Themen erarbeitet: Step 1 Erörterung der Coaching-Themen der folgenden Sitzungen und Fixierung der Lernthemen; Klärung der Position des Trainees im Team und in der Unternehmensstruktur;

8

206

T. Kauss

Themen in naher Zukunft; Entwicklung eines „Drehbuches“ für die ersten Entwicklungsgespräche mit Mitarbeitern; Konzeption für besondere Teambesprechungen mit Feedback; Lokalisierung vermeintlicher Anfangsprobleme und Widerstände; Konkretisierung des Umgangs mit der Vorgängerin; Zielsetzung im Team. Step 2 Auswertung der Mitarbeitergespräche und Teambesprechungen; Umgang mit ersten Widerständen und ersten Problemen; Zieldefinition für die nächsten 2 Monate. Step 3 Reflektion der ersten 4 Monate; Einzelfallberatung; situativer Führungsstil; Ziele im ersten Jahr; Zielveränderung – Zielanpassung; Lokalisierung eigener Fortschritte in der Führung; Darstellung der Lernfortschritte der Teammitglieder; Umgang mit schwierigen Mitarbeitern und Kollegen. Step 4 Abschlusstermin: Bilanz des ersten halben Jahres; Planung der zweiten Jahreshälfte; Reflektion des eingesetzten Führungsstils; Feed-back an den Vorgesetzten. Aus dem ersten Coaching entwickelten sich konkrete Schritte für ein weiteres Vorgehen wie in Abb. 11.3 dargestellt. Sinnvolles Delegieren Zusammenarbeit mit mir Verbesserungspotential? was hat die Arbeit bisher eher behindert?

X.

Richtig eingesetzt? Wunsch nach Veränderung? Sinnvolles Delegieren / Vorgänge loslassen Umgang mit Streßsituationen Y Fühlen Sie sich richtig eingesetzt?

1.Anwälte

1

Entwicklungsgespräche vorher Schemata verschicken über Kreuze reden wir maximal 3 Kreuze

Arbeitsinhalte Persönliche Entwicklung A Zusammenarbeit mit Kollegin Z Organisation Erfa-Kreis bei STE?

Freizeitveranstaltung mit Team ?

5

Zugriff Vorgängerin auf 4 Mitarbeiter Veränderungsbedarf

2.Sekretariat

Welche neuen Aufgaben B Zusammenarbeit mit Kollegin Z

Die nächsten konkreten Schritte

Wie Zusammenarbeit mit Anwälten?

2

Gespräch mit Vorgesetztem

Status der Zuarbeit aus dem Sekretariat Optimierungspotential Welche Erwartung bzgl. Unterstützung von Rechtsreferendaren/ juristischen Praktikanten besteht?

Verfügbarkeit über 4 4

Passt der Aufgabenumfang? Wie kann ihrer Meinung nach das Sekretariat mehr entlastet werden? Gestaltung der Auslastung bei 4-Tage-Woche mit Home-office EDV-Unterstützung erforderlich?

Abb. 11.3  Die nächsten Schritte

3

Gespräch mit Vorgängerin

Teamgespräch

Welche Erwartung hat der Vorgesetzte an den Verlauf positiv und das Ergebnis des Gesprächs mit der Befürchtung Vorgängerin

Zielelandschaft Änderungen

11  Vom Kollegen zum Vorgesetzten

207

In den Abb. 11.4 und 11.5 sind die Bilanz der zweiten Sitzung und daraus resultierende Arbeitsaufträge für die nähere Zukunft dargestellt. Konkrete im Coaching vorbereitete Einzelmaßnahmen, wie z. B. Planung und Durchführung von Mitarbeitergesprächen und Zielentwicklung im Team werden im nachfolgenden Kap. D.I dargestellt. Festzuhalten ist, dass dieses Einzel-Coaching aufgrund der ausschließlich auf die vorliegende Situation ausgerichteten Struktur und inhaltlichen Ausgestaltung einen der bedeutsamsten Bausteine auf dem Weg vom Kollegen zum Vorgesetzten bildete. Wer allerdings hofft, dass der Personaltrainer/Coach das Problem für den Trainee schon lösen Umgang mit Kollegin Z Individuelle Aufgaben mit Öffentlichkeitscharakter nutzen Würden Sie mir einen Tipp geben, was ich unbedingt im Umgang mit Kollegin Z beachten soll

B Einiges brodelt noch Alle Gespräche sind gut gelaufen

anspruchsvolle Gespräche/ Abgrenzung/ Ablehnung Zusatzaufgaben mache ich zeitgleiche Anwesenheit ist sinnvoll und erforderlich

Vorgängerin

immer mal wieder kurz Gespräche führen Arbeit an Dokumenten mit weniger Unterstützung aus dem Sekretariat

Freizeitveranstaltung mit dem Team

Warten auf den Startschuss

Überlegen, dem Ganzen einen Rahmen zu geben. Y

Einbeziehen - Was ist das Anliegen an den Moderator?

Moderation in dieser Sitzung

Der Kompetenzkonflikt ist auf dem Tisch.

Arbeitsstil des Unternehmensjuristen

Verlangen des Teams nach wöchentlicher Teamsitzung

Spannung

Wer Energie hat, bestimmt den Anfang.

Bilanz 2. Sitzung

Was würden Sie konkret anders machen, wenn der befristete Vertrag in einen unbefristeten mündet? Positionierung im Unternehmen

Ist die Zusammenarbeit mit bestimmten Teammitgliedern einfacher als mit anderen?

Vereinbarung für Vorbereitung

Das Team muss sich an neue Kommunikations-Kultur gewöhnen

Fazit:Am Ball bleiben

Das miteinander auskommen der Teammitglieder wachsen lassen

Abb. 11.4  Bilanz des 2. Sitzung Zuarbeit Vorgängerin Zusammenarbeit mit Y und Umgang mit der Person Y

nacheinander per surprise

Gibt es Änderungsbedarf in der organisatorischen Zusammenarbeit? Einbezug in die Sacharbeit? Arbeitsfelder abgeben/dazunehmen?

Feed-back an Y zur Kommuniktion in Bezug auf Organisation

Welche Fragen Einzel-Gespräche mit A und B

Bewertung der Zusammenarbeit mit skalierender Fragestellung. Umgang mit der Person

Beziehung B und Z 2.Sitzung zu bearbeitende Punkte Kommuniktion und Zusmmenarbeit mit Vorgesetztem

Ausreichender Einbezug durch Anwälte?

2.Fragen

Was stört mich an der Zuammenarbeit und Kommunikation konkret

Hausaufgabe 3. Fragen

Umgang mit Nachfolgerin

Abb. 11.5  Um zusetzende Aufgaben aus 2. Sitzung

Austausch mit nicht dienstlichen Themen

Was ist es noch? Was ist es noch?

Fazit: Auf jeden Fall Bestandsaufnahme durchführen

208

T. Kauss

wird, der irrt! Das Personalcoaching war die Hilfe zur Selbsthilfe, mit einem Trainer dicht hinter dem Trainee, stets bereit, Impulse zu setzen, für deren Umsetzung letztendlich aber der Trainee die Initiative ergreifen und diese ausführen muss.

11.3  Einstieg in die Führungsposition und Implementation neuer Strukturen 11.3.1 Orientierung des neuen Teams 9

Um dem Team die Einstellung auf die neue Leitung zu ermöglichen, bot sich eine Neuorientierung durch strukturelle Veränderungen an. Dafür war neben Mitarbeitergesprächen eine Bestandsaufnahme mit Zielausrichtung und Reflektion der Teamstruktur unerlässlich.

10 1. Kick-off mit Entwicklung einer Zielelandschaft Mit der organisatorischen Veränderung – der offiziellen Übernahme der Abteilungsleitung – sollte sich auch inhaltlich etwas verändern und tatsächliche Verbesserungen bezogen auf Arbeitsprozesse der Abteilung generiert werden. Damit die gesamte Abteilung an einem gemeinsamen Strang zog und alle Teammitglieder von einem gleichen Verständnis ausgingen, wurde gemeinsam abgestimmt, welche Ziele der Rechts-

Zielelandschaft Aufgabenbezogene Ziele Abarbeitung von Anfragen und Aufgaben unverändert wie bisher belassen

Stabilität

Möglichkeit zur eigenständigen Priorisierung beibehalten Mitarbeiterin A: Ablauf der Postbesprechungen und Aufgabenübertragung für Einzelaufträge haben sich bewährt

Veränderung

Mitarbeiterin B: stärkere Priorisierung der Vorgänge in Eilt und Normal Aktenführung entschlacken und ggf. Struktur verändern Neuanlegen von Vorgängen disziplinierter vornehmen Abteilungsfremde Aufgaben selektieren und abgeben bzw. abwehren Sachverhaltserfassung institutionalisieren und dadurch vorbereitende Aufarbeitung durch „Kunde“ für Rechtsabteilung Zuständigkeit für Praktikanten/Azubis auf Mitarbeiterin B delegiert

Teambezogene Ziele

Mitarbeiterbezogene Ziele

Teamgeist in der Rechtsabteilung gefällt

Aufgabenverteilung und Zuständigkeiten bis iteres so belassen auf we eiteres

inhaltlicher Austausch läuft gut – kann sehr gut werden

Team soll so bleiben wie es ist

Verlässlichkeit, dass Aufgaben umgesetzt/ausgeführt werden, so beibehalten

Einführung einer Wochenbesprechung – Austausch über Sachverhalte und Termine (Montags um 10.00) Teamsitzung 1 x monatlich – was läuft gut, was schlecht, was soll verändert werden (1 Std. Freitags) Zugriff für jeden Mitarbeiter auf jeden Kalender

Abb. 11.6  Zielelandschaft der Rechtsabteilung

Schaffung von Kapazitäten im Sekretariat, damit von dort nichtjuristische Aufgaben übernommen werden können Im Sekretariat mehr Ruhe zum Arbeiten schaffen Fortbildung strukturierter planen

11  Vom Kollegen zum Vorgesetzten

209

abteilung stabil bleiben sollten und welche anzupassen bzw. zu modifizieren waren. Zur Vorbereitung wurden die Mitarbeiter aufgefordert, in einem Arbeitsbogen jeweils eine Idee pro Feld der Zielelandschaft vorzuschlagen. Daraus entwickelte sich die in Abb. 11.6 dargestellte neue Zielelandschaft für die Rechtsabteilung. Die Zielelandschaft eignet sich hervorragend für eine erneute Bilanz und Fortschreibung nach Ablauf eines weiteren Jahres, um den Entwicklungsstand aufzuzeigen und einen anhaltenden Entwicklungsprozess zu implementieren. 11

2. Einzelgespräche Nachdem für das Team die Ziele und Veränderungspotentiale definiert waren, sollte in Einzelgesprächen auf die individuelle Situation des Mitarbeiters eingegangen werden. Zur Vorbereitung des Gespräches wurde jedem Mitarbeiter der nachfolgende Gesprächsleitfaden vorab zur Verfügung gestellt, mit der Bitte, drei mit einem Großbuchstaben gekennzeichnete Themenbereiche für das Gespräch zu bestimmen, soweit der Mitarbeiter nicht bereits bestimmte anderweitige Themen für sich entdeckt habe; eine Themenabstimmung erfolgte sodann einleitend im Mitarbeitergespräch. Mitarbeitergespräch x, [Datum, Uhrzeit] 1. Rückblick aufs letzte Jahr A. Arbeitsinhalte

Meine Stichworte

 Was ist erreicht worden?  Was ist noch nicht erledigt?  Was ist besonders gut gelungen? B. Arbeitsumfeld  Was hat die Arbeitsergebnisse gefördert?  Was hat die Arbeit eher behindert, z. B. hinsichtlich   Arbeitsabläufe,   Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten,   Zusammenarbeit mit Kollegen oder Dritten,   Ausstattung des Arbeitsplatzes? 2. Künftige Aufgaben in den nächsten 12 Monaten C. Arbeitsinhalte Wie können bisherige Arbeiten noch besser gelöst werden? Welche Hilfen brauchen Sie dazu? D. Arbeitsumfeld  Wie können die Arbeitsabläufe verbessert werden?  Welche Tätigkeiten können und möchten Sie selbständiger als bisher erledigen?  Wie könnte die Zusammenarbeit mit den Kollegen verbessert werden?

Meine Stichworte

210

T. Kauss

Mitarbeitergespräch x, [Datum, Uhrzeit] 3. Zusammenarbeit mit mir E. Wie fühlen Sie sich informiert?

Meine Stichworte

F. Wie fühlen Sie sich bei Entscheidungen einbezogen? G. Werden Ihnen Zusammenhänge ausreichend erläutert? H. Sind die Arbeitsanweisungen verständlich? I. Erhalten Sie ausreichend Reaktionen auf Ihre Arbeit? (sowohl Anerkennung als auch Kritik) J. Sind Gestaltungsmöglichkeiten bei Ihrer Arbeit ausreichend? K. Was schätzen Sie besonders positiv ein, wo erwarten Sie Verbesserungen in der Zusammenarbeit? 4. Persönliche Entwicklungsziele am Arbeitsplatz/Fördermaßnahmen L. Welche Aufgaben haben Ihren Interessen am meisten entsprochen?

Meine Stichworte

M. Fühlen Sie sich richtig eingesetzt? N. Haben Sie den Wunsch, andere Aufgaben als bisher zu erledigen? Welche konkreten Vorstellungen haben Sie dazu? O. Welche Maßnahmen könnten Sie dabei unterstützen?

Die Gespräche wurden anschließend über ein MindMap protokolliert und mit dem Mitarbeiter abgestimmt, um daraus resultierende Ziele und weiteres Vorgehen abzuleiten. 12 3. Team-Audit durch Team-Spinne Eine sinnvolle Ergänzung zur Teambildung und einer Neuausrichtung kann die gemeinsame Bearbeitung der „Team-Spinne“ sein. Bei einer Neuformierung des Teams kann dieses jedoch auch eine Überfrachtung darstellen; sie dient eher dem Prozess der Optimierung eines bereits bestehenden Teams. Die Mitarbeiter werden aufgefordert, in der nachfolgenden Grafik den Ist-Zustand zu notieren, wie dieser über den Führungsstil und den Umgang unter den Kollegen in der Abteilung wahrgenommen wird. Dabei sind die Netzpunkte wie eine Skala der Erfüllung zu verstehen (Zentrum = 0 % erfüllt/ äußerster Rand = zu 100 % erfüllt). Die Darstellungen werden dann in eine gemeinsame Betrachtung überführt, aus der die Team-Spinne entsteht (Abb. 11.7).10 Nach einem gemeinsam definierten Ist-Zustand wird sodann der Soll-Zustand – ebenfalls gemeinsam – definiert und fixiert. Dabei helfen Fragestellungen wie z. B.: • Wie kommt Ihr Ist-Punkt zustande? • Was ist Ihr Ziel für die nächsten x Monate? • Wie könnte man Entwicklungen und Zielerreichung messen? 10Alexander

Lutzius, Seminarunterlagen „Erleichtern Sie sich Ihren Einstieg als Chef – Aufbauseminar“, Zusatzmaterial.

11  Vom Kollegen zum Vorgesetzten

211

Führung 100 Klima

80

Leistung

60 40 20 Kommunikaon

Abläufe

0

Zusammenarbeit

Ist-Zustand Soll-Zustand

Ziele

Aufgaben/Rollen

Abb. 11.7  Team-Spinne

Des Weiteren könnten folgende Indikatoren einbezogen werden: Ziele werden erreicht?/ Gruppenloyalität/Gegenseitiges Vertrauen, Akzeptanz, Wertschätzung/Optimale Nutzung der Potentiale/Fähigkeit zur Selbstorganisation und Weiterentwicklung/usw. 4. Angst nehmen durch Darstellung des Change-Management

13

Die im Rahmen der Neuorientierung des Teams beschlossenen Veränderungen führten verständlicher Weise zunächst zu Verunsicherungen. So kamen Fragen auf wie „Was wird nur mit einem Mitarbeiter weniger? Schaffen wir das?“ Um diesen Unsicherheiten entgegenzutreten wurde eine Teamsitzung dem Thema Change-Management gewidmet mit einer ausführlichen Besprechung von Veränderungsprozessen, ihren natürlichen und wiederholten Verläufen und damit einhergehenden Unwegsamkeiten und Anstrengungen; siehe dazu auch B.III. – Abb. 11.2 Phasen der Veränderung. Ein offener Umgang mit viel Information kann einen positiven Beitrag dazu leisten, dass Befürchtungen – zumindest in Teilen – abgelegt werden und damit eine Öffnung für das Zulassen von Veränderungen geschaffen wird. Diese Annahme wurde durch folgende Rückmeldung eines Teammitgliedes bestätigt:: „Tatsächlich war es doch nicht so schlimm, wie zunächst befürchtet.“

11.3.2 Einsparung einer Stelle durch Neuorganisation des Teams Wie in der Ausgangslage bereits erläutert, bestand ein Ziel bei der Neustrukturierung 14 der Abteilung darin, die Abteilungsleitung intern nachzubesetzen und die dann vakante

212

T. Kauss

Sachbearbeiter-Stelle des nachrückenden Juristen nicht wieder durch eine Neueinstellung zu besetzen, sondern eine Reduzierung der Mitarbeiterzahl für die Rechtsabteilung zu realisieren. Bei der Verfolgung dieses Ziels war darauf zu achten, den Arbeits- und Auslastungsdruck bei den Mitarbeitern nicht zu erhöhen und sogar möglichst durch Umverteilung von Aufgaben und Zuständigkeiten die Arbeitszufriedenheit unter den Mitarbeitern zu steigern. Bei der Ist-Analyse war zu hinterfragen, wie die Mitarbeiter bisher eingesetzt wurden, welche Arbeitsmittel zur Verfügung gestellt sind und verwendet werden und insbesondere ob die Aufgabenverteilung und Zuständigkeit sinnvoll und ausgeglichen zugeordnet ist. Arbeitsthese war, dass die durch Stellenreduzierung erforderliche Neuverteilung der Zuständigkeiten für Sachgebiete und damit einhergehende Arbeitsmehrbelastung dadurch kompensiert werden kann, dass durch den Assistenzbereich Vorbereitungsarbeiten in der juristischen Sacharbeit übernommen und die Juristen dadurch entlastet werden können und außerdem – soweit verantwortbar – standardisierte Sacharbeit in den Assistenzbereich übergeleitet und in diesem Bereich eigenverantwortlich abgearbeitet werden kann. Dieses war z. B. möglich für die Überprüfung bzw. Erstellung von Geheimhaltungsvereinbarungen. Nach einer Einarbeitungsphase durch einen Juristen sind die Assistentinnen nunmehr in der Lage, von den Fachabteilungen angeforderte Vertragsvorschläge für Geheimhaltungsvereinbarungen eigenverantwortlich zu erstellen und Änderungswünsche der Vertragspartner zu bearbeiten. Auch ist es nunmehr Aufgabe der Assistentinnen, derartige Vertragsentwürfe Dritter zumindest einer umfassenden Vorprüfung zu unterziehen, so dass lediglich vereinzelt Rückfragen und Klärungen vom Standard abweichender Klauseln erforderlich sind. 15 Außerdem wurde dem Aufgabenbereich der Assistenz die eigenverantwortliche Erstellung von Vertragsnachträgen und Erstellung schriftlicher Kündigungen von Vertragsverhältnissen übertragen; selbstverständlich bei Bedarf mit Unterstützung des zuständigen Juristen. Außerdem wurden die Unterstützungsleistungen für die Juristen durch den Assistenzbereich erweitert, wodurch insbesondere bei der Vorbereitung und Begleitung der Erstellung und Verhandlung von Einkaufsrahmenverträgen, Exportverträgen, Forschungs- und Entwicklungsverträgen weitere Entlastungen für die Juristen erzielt wurden. Bei einer derartigen Aufgabenverteilung ist es von größter Bedeutung, dass diese Aufgaben nur nichtjuristischen Mitarbeitern übertragen werden, die ihre Grenzen kennen und bei denen die Zusammenarbeit zwischen Assistenz und Juristen von einer sehr guten Kommunikation und umfangreichem Vertrauen gekennzeichnet ist. Es ist unbedingt zu beachten, dass die Delegation auf die Assistenz insbesondere bei juristischen Themen seine Grenzen hat und dass der Jurist letztendlich die Bearbeitung der juristischen Vorgänge verantwortet. Allerdings entfaltet Delegation auch nur dann den gewünschten Erfolg, wenn die Prinzipien der Delegation gewahrt werden und ein „Loslassen“ der Zuständigkeit erfolgt (siehe Ausführungen zu Mehr Eigenverantwortung für die Mitarbeiter unter C.III). Hier ist der goldene Mittelweg auszuloten, der sich häufig erst im Verlauf der Umgestaltung zeigt und bei seiner praktischen Umsetzung ermitteln lässt. Es ist durchaus das Motto zuzulassen „Die Arbeit zeigt den Weg!“

11  Vom Kollegen zum Vorgesetzten

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Damit diese neuen Aufgaben durch die Assistenz übernommen werden konnten, mussten in diesen Arbeitsbereichen zunächst jedoch Freiräume geschaffen werden. Dieses konnte unter anderem durch eine Veränderung der Anwendung des Arbeitsmittels Phonodiktat und Überarbeitung von Dokumenten erreicht werden. Auch die Reduzierung der Anzahl zu unterstützender Juristen hat zur Erweiterung dieser Freiräume beigetragen, wodurch es den Assistentinnen möglich wurde, weiteres Unterstützungspotential bei den verbliebenen Juristen zu identifizieren und die eingeschliffenen Strukturen der Arbeitsabläufe kritischer im Hinblick auf die Option der Übernahme neuer Aufgaben zu hinterfragen. Desweiteren wurden die Aufgaben der Mitarbeiter der Rechtsabteilung hinsichtlich der Zuständigkeit kritisch hinterfragt. So hatten sich im Verlauf langjähriger Bewährung Aufgaben in die Abteilung verirrt, dessen Bearbeitung keine juristische Kompetenz erfordert. Durch Zuordnung dieser Aufgaben in die zuständige Fachabteilung konnten weitere Freiräume realisiert werden, die sodann in Gänze einen spürbaren Entlastungseffekt bewirkten. Der spürbarste Effekt konnte durch die Umverteilung von nichtjuristischen Aufgaben auf den Assistenzbereich erzielt werden. Allerdings erfordert die Lokalisierung von Aufgaben, die zur Entlastung der Juristen durch die Assistenz übernommen werden können, eine Übernahmebereitschaft bei den Mitarbeitern, die diese Aufgaben übernehmen sollen. Diese Bereitschaft war verstärkt nach Schaffung von Kapazitäten im Assistenzbereich zu verzeichnen. Weitere Entlastungseffekte sollen künftig noch durch folgende Veränderungen erzielt werden: • Standardisierung der Vertragsprüfung durch Checklisten, mit denen abgeprüft wird, ob zu vereinbarende Vertragsbedingungen bereits thematisiert und möglichst bereits vereinbart wurden; • Inhaltlich vergleichbare, wiederkehrende Problemfälle durch Vorsorge vermeiden (Schulung der Kollegen zu ausgewählten Themenbereichen); • Optimierung der Unterstützung durch externe Berater.

11.4 Fazit Rückblickend betrachtet bleibt festzuhalten, dass die Übernahme von Personalver- 16 antwortung einer intensiven Vorbereitung bedarf, die auf den Einzelfall auszurichten und anzupassen ist. Die Investition in diese Vorbereitungen zahlt sich aus. Die Umsetzungsphase ist barrierefreier zu gestalten und erscheint nachhaltiger in seinen Auswirkungen. Die Steigerung der Eigenverantwortung für Mitarbeiter ist häufig zunächst von Vorbehalten gekennzeichnet. Erwartet wird Mehrbelastung und daraus resultierende Unzufriedenheit. Ein strukturiert geplant und einzelfallbezogen durchgeführter Steigerungsund Überleitungsprozess hingegen wirkt sich erfahrungsgemäß zufriedenheitssteigernd aus.

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T. Kauss

Den Mitarbeitern widerfährt Anerkennung und eine Steigerung der Selbstzufriedenheit unter den Mitarbeitern ist deutlich zu erkennen, soweit keine Überlastung durch Überforderung erfolgt. Dieses war im Bereich der Assistenz durch die Eröffnung der Möglichkeit, anspruchsvollere Tätigkeiten auszuüben, deutlich zu erkennen. Aber auch bei den Juristen konnte eine Zufriedenheitssteigerung aufgrund der erzielten Zeitersparnis und damit einhergehender Konzentration auf juristische Aufgaben verzeichnet werden. Insgesamt verdeutlichte der geschilderte Prozess, dass auch – oder gerade – altbewährte Strukturen und Arbeitsabläufe stets kritisch zu hinterfragen und nach Optimierungsansätzen zu durchleuchten sind. Auch wenn keine Ersparnisse erzielt werden sollen (und der Umfang der Abteilung nicht zu reduzieren ist), lohnt es sich, die eingefahrenen Strukturen zu betrachten und ggf. zu modifizieren, da dieses auf jeden Fall die Zufriedenheit der Mitarbeiter steigern kann.

Ausbildung und Berufseinstieg als Syndikus

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Martin Wagener und Jörg Fiebiger

12.1 Die Ausbildung zum Juristen Bei der Ausbildung jüngerer Juristen gab es für lange Zeit nur einen Weg: Die klassische Ausbildung zum Volljuristen führte über den Abschluss des ersten und endete mit dem erfolgreichen Bestehen des zweiten Staatsexamens. Zwischen den Examen lag und liegt auch heute noch die sog. Vorbereitungszeit, allgemein als Referendariat bezeichnet. Der Volljurist erlangt die „Befähigung“ zum Richteramt und kann (theoretisch) jeden juristischen Beruf ergreifen. Lange lag der Schwerpunkt des Referendariats in der Ausbildung zur Übernahme von Funktionen in der Justiz und des öffentlichen Dienstes. Die Ausbildung in Anwaltskanzleien, der Einsatz im Ausland und Tätigkeiten in Unternehmensrechtsabteilungen spielten eher eine untergeordnete Rolle. In der Ausbildung zum Volljurist erlangte man auf diese Weise regelmäßig einen guten Einblick in die Arbeitsweise der Justiz. Für die praktische Arbeit in Anwaltskanzleien oder gar in einer Unternehmensrechtsabteilung war dieses Wissen zwar in gewissem Umfang hilfreich, für die praktische Arbeit aber oft nicht unbedingt von großem Nutzen. Nicht zuletzt deshalb boten und bieten Kanzleien

Lediglich zur Vereinfachung der Lesbarkeit finden sich in nachfolgendem Text ausschließlich männliche Bezeichnungen. Selbstverständlich sind die folgenden Darstellungen geschlechtsunabhängig. M. Wagener () · J. Fiebiger  AUDI AG, Zentraler Rechtsservice, Ingolstadt, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Fiebiger E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Lenz (Hrsg.), Die Rechtsabteilung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21915-4_12

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und Unternehmen eigene spezielle Trainings- und Schulungsprogramme an bzw. griffen und greifen auf externe Fortbildungsangebote zurück. Die Kritik an der Justizlastigkeit der Juristenausbildung hat zu vielen Reformversuchen geführt, die sich aber wegen der Verankerung der Juristenausbildung auf Länderebene als schwierig und langatmig erwiesen haben. Im nicht universitären Bereich lag ein Hauptaugenmerk der Reformen auf der Erweiterung der Gestaltung des Vorbereitungsdienstes. Das war auch insofern ganz wichtig und richtig, als diese Phase der Ausbildung zwingende Voraussetzung für die spätere Zulassung zur Anwaltschaft war und ist. Es können nur Volljuristen als Rechtsanwalt zugelassen werden. Das gilt ebenso für einen bei einem Unternehmen angestellten Rechtsanwalt. Für die Tätigkeit eines bei einem Unternehmen angestellten Rechtsanwalts kommt der Ausgestaltung des Vorbereitungsdienstes eine große Bedeutung zu. In einigen Stationen haben Referendare die Möglichkeit, praktische Erfahrungen in Unternehmensrechtsabteilungen zu sammeln. So kann in einigen Bundesländern1 die Anwaltsstation in einer Rechtsabteilung absolviert werden, auch die Wahlstation eignet sich für diesen Zweck. Der Referendar kann sich zuvor in den einschlägigen Medien2 informieren, welches Unternehmen in welchen Tätigkeitsfeldern ausbildet. Dabei kann sich der Einsatz in der Personalabteilung für einen Referendar mit arbeitsrechtlicher Spezialisierung anbieten, wohingegen für steuerlich Interessierte die Steuerabteilung in Betracht kommt. Den sichtlich breiteren Überblick erhält man jedoch in der klassischen Rechtsabteilung.3,4 Wenn man aber nicht den Abschluss als Volljurist anstrebt, gibt es seit einigen Jahren juristische Studiengänge, die früher mit einem Diplom infolge des Bologna Prozesses5 nunmehr mit einem Bachelor- oder Masterabschluss enden. Diese Studiengänge6 haben einen anderen Zuschnitt, beschränken sich oft auf eine bestimmte Rechtsmaterie und sehen praktische Ausbildungszeiten u. a. auch im Unternehmen vor. Die Ausbildung ist kürzer als die klassische juristische Ausbildung und befähigt nicht zur Zulassung als Rechtsanwalt, also auch nicht zum im Unternehmen tätigen Syndikusanwalt. Gleichwohl zählt diese Berufsgruppe zu den Unternehmensjuristen.7 Die Einsatzmöglichkeiten sind eingeschränkter, die Aufgabengebiete meistens begrenzter als bei Volljuristen. 1In

Baden-Württemberg ist es nicht möglich, die Anwaltsstation in einer Rechtsabteilung eines Unternehmens zu absolvieren. 2Beispiele hierfür: azur, Beck’scher Referendarführer. 3Dr. Weigand, Frank-Bernd: Die zentrale Rechtsabteilung – von der Vielfalt der Tätigkeiten als Unternehmensjurist/ in, Beck'scher Referendarführer 2013/2014, S. 72 ff. 4Ein ausführlicher Einblick zum Referendariat in einer Rechtsabteilung am Beispiel der AUDI AG folgt im Abschnitt „12.5 Station im Referendariat“. 5Ausführliche Informationen u. a. zur Entwicklung, Organisation und Aufbau des Bologna-Prozesses: Bundesministerium für Bildung und Forschung, Der Bologna-Prozess – die Europäische Studienreform, http://www.bmbf.de/de/3336.php. 6Überblick über eine Vielzahl möglicher Studiengänge: WHV-Wirtschaftsjuristische Hochschulvereinigung, Übersicht Studiengänge Wirtschaftsrecht, http://www.wirtschaftsrecht-fh.de/de/vereinigung/bachelor_whv_neu. 7Bundesverband der Unternehmensjuristen (BUJ), Selbstverständnis, http://www.buj-web.de/ueber-uns/.

12  Ausbildung und Berufseinstieg als Syndikus

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12.2 Die Berufsbilder Um gut ausgebildete Volljuristen werben nicht nur Unternehmen, sondern vor allem auch Kanzleien, Justiz und öffentlicher Dienst. Jede dieser Alternativen hat für junge Juristen einen unterschiedlichen Reiz. Der öffentliche Dienst hat die Vorteile einer planbar abgesicherten Karriere, bei der die juristischen Kenntnisse entweder sehr spezialisiert eingesetzt werden oder, etwa im politischen Bereich, eher im Rahmen einer generalistischen Herangehensweise gefragt sind. Die Justiz bietet in der Regel flexiblere Arbeitszeiten und erfordert profunde juristische Kenntnisse. Die Bezahlung ist sicher nicht mit der von Großkanzleien vergleichbar, die Karrieremöglichkeiten eher beschränkt. Wer sich für den Einstieg in eine Großkanzlei entscheidet, wird seine juristischen Kenntnisse sehr intensiv einsetzen, seine Arbeitszeiten den Anforderungen des Mandanten anpassen, mit hohen Einstiegsgehältern belohnt8 und mit einem hohen Wettbewerb im Rahmen seiner Karriere konfrontiert. In großen Unternehmen arbeitet der Jurist oftmals eher als Generalist. Die Einsatzmöglichkeiten innerhalb des Unternehmens sind auf der einen Seite, was lupenreine juristische Tätigkeitsfelder9 angeht, eher begrenzt. Andererseits bedeutet dies auch, dass die Aufgaben über das rein juristisch hinausgehende Einsatzgebiet sehr vielfältig sein können. In kleineren Unternehmen ist der Jurist häufig als Einzelkämpfer eingesetzt, trägt eine sehr hohe Verantwortung, ein entsprechendes Risiko, hat viele Freiheiten und in der Regel eine der Größe und dem wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens entsprechende Bezahlung. Wegen der Vielzahl der Rechtsgebiete und Aufgaben ist die Arbeit generalistischer angelegt, mit der Gefahr, dass man sehr leicht mit den verschiedensten Aufgaben „überfordert“ wird. Allerdings sind kleine Rechtsabteilungen in der Regel näher am eigentlichen Geschäft des Unternehmens und haben häufig erheblichen Einfluss auf dessen wirtschaftliche Entwicklung.

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12.3 Auswahlkriterien beim Berufseinstieg Abhängig vom jeweiligen Arbeitgeber gibt es unterschiedliche Auswahlkriterien bei der Einstellung von jungen Juristen. So kommt es bei der Justiz und bei Großkanzleien ganz entscheidend auf die Noten des ersten und zweiten Staatsexamens und weitere Zusatz-

8vgl.

azur: Juve-Karriereportal für junge Juristen, Associategehälter vom 1. bis 3. Berufsjahr (Stand 2018), http://www.azur-online.de/geld/gehaelter-associates. 9Zur Verteilung der Anwälte auf einzelne Rechtsgebiete nach statistischer Erhebung, vgl. Abb. 3.1.7 in Otto/Henning, Rechtsabteilungs-Report 2013/14, S. 68.

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qualifikationen (z. B. Promotion, LL.M., etc.) an.10 Diese Kriterien spielen in Unternehmen sicher auch eine entscheidende Rolle, es gibt jedoch noch weitere wichtige Voraussetzungen, die ein junger Syndikusanwalt erfüllen muss. Hierzu gehört vor allem ein ausgeprägtes wirtschaftliches Verständnis, denn viele Sachverhalte sind vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Folgen von Entscheidungen zu beurteilen. Gleiches gilt für das Verständnis für die Produkte oder Dienstleistungen, die ein Unternehmen anbietet. Eine reine Beschränkung auf das Juristische ist im Unternehmensalltag nicht hilfreich und würde auch vom internen Mandanten so nicht akzeptiert. Weitere Einstellungskriterien sind ein gutes Kommunikationsverhalten in Wort und Schrift. Ein offen und sicher auftretender Jurist hat eine ganz andere Akzeptanz im Unternehmen als ein begnadeter Gutachtenverfasser. Entscheidungsträger im Unternehmen möchten kurze und klare Empfehlungen, die zur Wertschöpfung beitragen. Juristen, die es gewohnt sind, Dinge einzeln auszukämpfen, werden es schwerer haben im Unternehmen als solche, die auch in ihrem Leben außerhalb des Berufs soziales und sportliches Engagement – vorzugsweise im Team – gezeigt haben. Nicht selten sind die Abiturnoten in Deutsch (Ausdruck in Wort und Schrift), Mathematik (logisches Denken), und Sport (Ehrgeiz, Teamorientierung sowie Leistungsbereitschaft) erste Indikatoren dafür, ob und wie ein junger Jurist die Auswahlkriterien eines unternehmerisch tätigen Arbeitgebers erfüllt. Auch die im Lebenslauf angeführten Hobbies sowie ehrenamtliche Tätigkeiten lassen neben den Interviews Rückschlüsse auf die Eignung als Unternehmensjurist zu. Stetig zunehmend ist die Bedeutung von Auslandserfahrung (sei es im Rahmen von Schulaufenthalten, Auslandssemestern, Praktika). Nachwuchskräfte werden - zumindest bei einem international agierenden Unternehmen - ab Tag eins mit einer Vielzahl von Kulturen innerhalb und außerhalb des Unternehmens agieren und benötigen Flexibilität auch bezüglich eines temporären Einsatzes im Ausland. Fließendes Englisch in Wort und Schrift ist zwischenzeitlich ein Standard, der von Nachwuchskräften erwartet wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich ein guter Syndikusanwalt nicht nur durch seine fundierten Kenntnisse der deutschen und ausländischen Rechtsordnungen auszeichnet11. Vertrauen, Zivilcourage, Akzeptanz, die Fähigkeit komplizierte Sachverhalte aufzulösen und dem Entscheidungsträger so zu präsentieren, dass wirtschaftlich sinnvolle Lösungen erreicht werden, sind unabdingbare Kriterien für eine erfolgreiche Tätigkeit als Unternehmensjurist.

10Conraths, Timo: Bewerbung bei Großkanzleien – Die Note entscheidet (nicht immer), Legal Tribute Online vom 23.04.2013, http://www.lto.de/recht/job-karriere/j/grosskanzlei-bewerbungpraedikatsexamen-anforderungsprofil/; mehr zu den Anforderungsprofilen beispielhaft für Bayern: Bayerisches Staatsministerium für Justiz, Broschüre Vorbereitungsdienst der Rechtsreferendare in Bayern, S. 13 ff., http://www.justiz.bayern.de/media/pdf/ljpa/vd_fuer_rref/brosch%C3%BCre_ vorbereitungsdienst_bayern_stand_mai_2013.pdf . 11Vgl. Fiebiger, Jörg: Für alle Fälle Syndikus, audimax JUR.A, 6/2013, S. 20 f.

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12.4 Förderung von Nachwuchskräften durch verstärkte Hochschulaktivitäten Oftmals ist festzustellen, dass junge Studenten ihren Fokus auf eine spätere Tätigkeit in 9 einer Kanzlei/Großkanzlei setzen. Diese locken die Absolventen mit hohen Einstiegsgehältern, teilweise jenseits der 100.000 € Schwelle12. Bei diesen Einstiegsgehältern kann es für Rechtsabteilungen von Unternehmen schwer sein, bereits auf den ersten Blick attraktiv für Berufseinsteiger zu wirken.13 Die Entscheidung des Bundessozialgerichts, dass für Syndikusanwälte eine Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zugunsten einer Versorgung in den berufsständigen Versorgungswerken nicht möglich sei, hatte zusätzlich die Attraktivität der Tätigkeits als Syndikusanwalt geschwächt14. Seit der Einführung des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Syndikusanwälte und zur Änderung der Finanzgerichtsordnung zum 1. Januar 2016 ist die Befreiung wiederum möglich, so dass der Syndikusanwalt keinen „Makel“ gegenüber einer Tätigkeit in der Anwaltschaft hat. Welche Möglichkeiten hat eine Rechtsabteilung jedoch bei den von den Kanzleien oftmals bezahlten Einstiegsgehältern von jenseits der 100.000 €, um Absolventen für sich zu begeistern, sich in den Fokus zu rücken, qualifizierte Berufseinsteiger für sich zu gewinnen und somit auch langfristig den Personalbedarf abdecken zu können? Wichtig ist zunächst einmal, den Absolventen und Studierenden mit Blick auf die oben15 10 geschilderte Ausrichtung der Ausbildung vor Augen zu führen, dass es auch noch eine Tätigkeit außerhalb der klassischen Rechtsanwaltstätigkeit in einer Kanzlei gibt, z. B. in der Rechtsabteilung eines Unternehmens. Die Präsenz und Sichtbarkeit an den Universitäten ist daher ein wichtiger Bestandteil eines langfristig ausgelegten und nachhaltigen Rekrutierungskonzeptes. Hierbei ist es die Aufgabe, die mit dem Beruf des Unternehmensanwalts/Syndikusanwalts einhergehenden Herausforderungen, Chancen und Gestaltungsmöglichkeiten bereits im frühen Stadium der Ausbildung zu vermitteln. Auch für den Zentralen Rechtsservice der AUDI AG war die Verstärkung der Hochschul- 11 aktivitäten, um Studenten für Praktika, aber auch für ein späteres Referendariat zu gewinnen, ein strategischer Fokus. Durch die Präsenz an den Universitäten wird zum einen das

12Überblick über die Gehälter über 100.000 €: azur: Juve-Karriereportal für junge Juristen, Associategehälter vom 1. bis 3. Berufsjahr (Stand 2018), http://www.azur-online.de/geld/gehaelter-associates. 13Entscheidung des 5. Senats des Bundessoialgericht v. 03.04.2014 zur nicht gegeben Möglichkeit für Syndikusanwälte von der Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht – Urt. v. 03.04.2014, Az. B 5 RE 13/14. 14Überblick über die Gehälter 2018 als Jurist in Unternehmen, Beratungsgesellschaften und Behörden: azur: Juve-Karriereportal für junge Juristen, Gehälter 2018 in Unternehmen, Beratungsgesellschaften und Behörden, https://www.azur-online.de/geld/gehaelter-2018-in-unternehmen-beratungsgesellschaften-und-behoerden. 15Siehe dazu „12.2 Die Berufsbilder“.

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Berufsbild des Unternehmensanwalts/Syndikusanwalts vermittelt, zum anderen wird die kontinuierliche Auslastung mit Praktikanten und Referendaren, den Berufseinsteigern von morgen, gewährleistet und dadurch einen Pool von möglichen Einsteigern aufgebaut. Die zunehmende Digitalisierung macht auch vor der Nachwuchsarbeit und dem Recruiting nicht Halt. Hier hat sich bewährt, neben Stellenanzeigen in juristischen Fachzeitschriften und Studienführern auf zunehmende Online-Präsenz zu setzen und das eigene Profil der Rechtsabteilung bei Online-Karrierenetzwerken verfügbar zu machen. Für die AUDI AG bestand vor der Verstärkung der Hochschulaktivitäten kein Bewerbermangel. Festzustellen war jedoch, dass sich primär eine Vielzahl von Referendaren bzw. Bewerbern aus Bayern für den Standort Ingolstadt bewarben. Folglich waren die in den Monaten während der beiden bayrischen Wahlstationsperioden Januar bis März bzw. Juli bis September verfügbaren Plätze sehr schnell vergeben bzw. konnte gar nicht allen qualifizierten Bewerbern ein Referendarplatz angeboten werden, während für die übrigen Monate eine Vollauslastung nur mit viel Engagement erreicht werden konnte. Durch die verstärkten Hochschulaktivitäten zusammen mit weiteren Maßnahmen an den für die Referendarausbildung zuständigen Oberlandesgerichten konnte jedoch eine dauerhafte Auslastung gewährleistet werden. Ein speziell berufenes Team zur Nachwuchsförderung identifizierte zunächst bundesweit Universitäten, die im Hinblick auf ihr Studienprogramm und ihre örtliche Lage in den verschiedenen Bundesländern für die AUDI AG besonders interessant waren und somit Audi-intern als sogenannte „Fokusuniversitäten“ festgelegt wurden. Weitere Kriterien waren unter anderem die Häufigkeit und der Turnus der Staatsexamina pro Jahr sowie etwaige verfügbare wirtschaftswissenschaftliche Zusatzqualifikationen für Juristen. Für jede einzelne Fokusuniversität wurde wiederum ein Team gebildet, bestehend aus einem „Universitätspaten“ und drei bis vier weiteren Kollegen. Aufgabe dieser Teams war, mögliche Aktivitäten an der jeweiligen Fokusuniversität zu prüfen, die im individuellen Fall überzeugenden Aktivitäten herauszuarbeiten sowie diese anschließend eigenverantwortlich zu planen und umzusetzen. Erfahrungsgemäß gibt es an den Hochschulen die unterschiedlichsten Aktivitäten für die verschiedensten potentiellen Arbeitgeber, die um qualifizierten Nachwuchs „buhlen“: so z. B. Vortragsreihen außerhalb der Vorlesungen, Workshops, aber auch Karrieremessen. In den meisten Fällen sind Universitäten bereit, einen passenden Rahmen zu schaffen, in dem entweder eine Vorstellung des eigenen Unternehmens und insbesondere der Tätigkeit des Syndikusanwaltes oder auch ein fachliches Thema aus Praxissicht dargelegt werden kann. Für die Studierenden ist ein Praxisbericht aus dem Berufsleben eines Syndikusanwalts und ein In-Kontakt-Treten mit dem Referenten stets eine willkommene Abwechslung zu dem theoretischen Lehrstoff des Studiums. Für die Referenten wiederum ist es eine spannende Ergänzung und willkommene Abwechslung zurück an die Universität zu kommen, in den Dialog mit den Nachwuchskräften von morgen zu treten und dadurch auch hier am Puls der Zeit zu bleiben. Abgerundet wird ein Präsenzauftritt an den Universitäten durch die Verteilung von passenden, adressatengerechten Informationsunterlagen über die Tätigkeit als Syndikusanwalt im Unternehmen. Erfahrungsgemäß haben die allgemeinen Informationsbroschüren, die über das Unternehmen

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an sich informieren bzw. von den Personalabteilungen für potentielle Mitarbeiter aufgelegt werden, nicht primär den Juristen und dessen Berufseinstieg als Syndikusanwalt im Fokus; empfehlenswert sind daher jeweils auf einzelne Absolventenmessen bzw. Marketingveranstaltungen individuell abgestimmte Broschüren sowie ein entsprechend abgestimmter Messeauftritt insgesamt. Im Dialog mit den Studierenden lässt sich feststellen, dass diese sich die Tätig- 12 keit als Rechtsanwalt im Unternehmen gänzlich anders vorstellen als die Realität des Syndikusanwalts tatsächlich ist. Sie denken etwa, die Tätigkeit sei wenig spannend und man sei wenig involviert in die Tätigkeiten und Prozesse des Unternehmens. Die potentiellen Nachwuchskräfte sind hierbei oftmals erstaunt, wie abwechslungsreich und verantwortungsvoll die Tätigkeit als Anwalt im Unternehmen sein kann. Dass man von Anfang an aktiv in strategische Projekte eingebunden ist, jeden Tag intensiven Kundenkontakt mit den betreuten Fachabteilungen hat und gleich ab dem ersten Tag Verantwortung für seinen eigenen Bereich übernimmt und auch Entscheidungen trifft16, erstaunt daher viele Interessenten um so mehr. In diesen Punkten unterscheidet sich die Tätigkeit als Jurist in einem Unternehmen maßgeblich von einer Tätigkeit in einer Großkanzlei, bei der die jungen Associates in den ersten Jahren primär einem Partner zuarbeiten, der zum einen die geleistete Arbeit überprüft, zum anderen aber auch oftmals das alleinige Sprachrohr zum Mandanten darstellt; schlimmstenfalls hat der Berufseinsteiger in den ersten Jahren überhaupt keinen Mandantenkontakt. Schließlich ist es für die spätere Berufswahl notwendig, dass der jeweilige Bewerber sich mit seinen Neigungen, Stärken und Schwächen beschäftigt. Ein People Guy, der den Kontakt mit seinen Kunden sucht, wird ggf. in einer Kanzlei nicht glücklich werden können, wenn kein oder nur eingeschränkter Mandantenkontakt besteht. Andererseits wird ein begnadeter „Gutachtenschreiber“ mit einem täglichen Kontakt zu Fachabteilungen und einer an den wirtschaftlichen Erfordernissen orientierten Rechtsberatung möglicherweise keine Freude an der Arbeit als Unternehmensjurist finden können. Gerade auch vor diesem Hintergrund sollte spätestens das Referendariat dazu genutzt werden, um sich die einzelnen Tätigkeiten in der Verwaltung, bei Gericht, bei der Staatsanwaltschaft, aber auch in Kanzleien, Unternehmen oder Institutionen genau anzusehen17.

12.5 Station im Referendariat Während der Anwalts- bzw. Wahlstation haben interessierte Referendare die Möglich- 13 keit, einen Einblick in die Tätigkeit einer Unternehmensrechtsabteilung bzw. eines Unternehmensanwaltes zu erlangen. Im Hinblick auf die oftmals begrenzten Plätze, die

16Dr. Wagener, Martin: Berufseinstieg als Unternehmensjurist – Rechtsverdreher oder Legal Manager?, Beck’scher Referendarführer 2010/2011, S. 50–54. 17Siehe dazu „12.2 Die Berufsbilder“.

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im Unternehmen für die Referendarausbildung zur Verfügung stehen, ist es wichtig, dass die „richtigen“ Bewerber angesprochen werden. Nicht zuletzt im Interesse des Unternehmens ist es daher unerlässlich, dass aus dem eingesetzten Informationsmaterial und der Stellenausschreibung selbst ein klares Anforderungsprofil erkennbar wird, um nur den gewünschten Bewerber anzusprechen. Die Referendare sollten während der Station erleben können, was es bedeutet, Unter14 nehmensanwalt zu sein. Je früher ein Kandidat selbst erfahren kann, wie es sich anfühlt, wenn ihn eine Fachabteilung mit einem Problem konfrontiert, desto besser können beide Seiten eruieren, ob er für eine Tätigkeit im Unternehmen geeignet ist. Natürlich können Referendare dabei nicht vom ersten Tag ohne jede Einführung alleine auf die Fachbereiche „losgelassen“ werden. Einführungsvorträge, Gespräche und Diskussionen mit erfahrenen Kollegen helfen dabei, die Rahmenbedingungen, Strukturen und Erfordernisse zu verstehen. Auch können teilweise Termine im Tandem wahrgenommen werden und dem Referendar dabei der Lead übertragen werden18. Der erfahrene Syndikusanwalt kann eingreifen und unterstützen, wenn besondere rechtliche Expertise oder auch Prozesswissen erforderlich ist und im Nachgang den Termin mit dem Referendar besprechen – was ist gut gelaufen und welche konkreten Optimierungsmöglichkeiten sind gegeben. Wenn sich dieses Konzept bewährt, besteht auch die Möglichkeit, dass Referendare Termine alleine mit den Fachabteilungen wahrnehmen. Dies kann insbesondere bei Terminen mit Fachabteilungen und Personen erfolgen, mit denen ein partnerschaftlicher Umgang gepflegt wird. Hier kann man davon ausgehen, dass die Situation, von einem Referendar beraten zu werden, nicht ausgenutzt wird. Dabei muss der Referendar im Gegensatz zu den Fällen, die er aus seiner Ausbildung kennt, erfahren, dass oftmals zunächst nur ein Bruchteil der notwendigen Informationen kommuniziert wird. Er wird spüren, dass es insbesondere darum geht, die richtigen Fragen zu stellen und alle entscheidungsrelevanten Informationen zu erhalten, bevor man der Fachabteilung eine rechtliche Bewertung und Handlungsempfehlung an die Hand gibt. Nur so kann sichergestellt werden, dass die rechtliche Bewertung auch auf Grundlage der richtigen Fakten getroffen wurde. Genau diese Sachverhaltsermittlung ist für eine erfolgreiche Beratung im Unternehmen maßgeblich. Die Einbindung von Referendaren kann auf unterschiedliche Weise erfolgen. Formell hat der Referendar gegenüber seinem zuständigen Oberlandesgericht einen Ausbilder anzugeben, der auch primärer Ansprechpartner für die Referendare sein soll. Die Aufgaben des Ausbilders hat jedes Bundesland eigens formuliert. Zusammenfassend lässt sich allerdings festhalten, dass der Ausbilder die Aufgabe hat, die Ausbildung der

18Vgl.

Dr. Nassif, Iyad: Ingolstadt: Vorsprung durch juristische Technik – Wahlstation in der Rechtsabteilung der AUDI AG, JuS 7/2010, S. XXV sowie Becker, Maximilian: Referendariat – Die Rechtsanwaltsstation im Zentralen Rechtsservice der AUDI AG, RAW 2/2014, S. 124 f.

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Referendare entsprechend zu lenken und zu koordinieren19. Die praktische Ausbildung ist dabei so zu gestalten, dass die Referendare intensiv und zielstrebig gefördert werden. Aus diesem Grund sollen die Referendare am beruflichen Tagesablauf des Ausbilders teilnehmen und in dessen praktische Arbeit einbezogen werden. Gleichzeitig soll auch das Interesse und das eigene Bemühen der Referendare um die Ausbildung gestärkt und durch selbstständige Erfüllung der praktischen Aufgabe das Bewusstsein und Gefühl von Verantwortung vermittelt werden. Auch wenn der Referendar einem Ausbilder eindeutig zugeordnet ist, ist es für beide 15 Seiten vorteilhaft, wenn der Referendar die Möglichkeit hat, für unterschiedliche Kollegen tätig zu werden. So kann ein tiefer Einblick über die anfallenden Tätigkeiten vermittelt werden. Der Referendar lernt unterschiedliche Themengebiete, Rechtsgebiete, die Besonderheiten der jeweils betreuten operativen Einheiten, aber auch die Kollegen innerhalb der Rechtsabteilung kennen. Das Modell ermöglicht einerseits die Vernetzung mit den Kollegen und erhöht die Sichtbarkeit der Referendare innerhalb der Abteilung, andererseits Arbeitsspitzen innerhalb der einzelnen Teams abzufedern, da flexibel auf die Referendare zugegriffen werden kann. Der Zentrale Rechtsservice der AUDI AG hat zudem die sog. Konzernschnupperwoche eingeführt; hierbei werden die Referendare während ihrer Tätigkeit für eine Woche in einer Tochtergesellschaft der AUDI AG eingesetzt. So kann nicht nur das Mindset in der Zentrale, sondern auch die Tätigkeit einer Tochtergesellschaft kennen gelernt werden. Bei der Einbindung von Referendaren ist es erforderlich, dass ein regelmäßiger Austausch möglich ist und der Referendar ebenso regelmäßiges Feedback zu seiner Arbeit und Person erhält. Dieses Vorgehen, wie auch der Umstand, dass Referendare nicht ins Kämmerchen abgeschoben und Arbeitsaufträge nur per Mail gesendet werden, sollte eine Selbstverständlichkeit sein, um die Weiterentwicklung der Person zu ermöglichen. Neben der aktiven Einbindung in das operative Geschäft ist eine wichtige Komponente, dass Referendare auch über den Tellerrand der Rechtsabteilung hinausblicken können. Dies kann, wie zuvor beschrieben, durch den Einsatz in unterschiedlichen Teams erfolgen. Je nach Branche des Unternehmens sollten jedoch auch standardisierte Elemente aufgenommen werden, die einen Einblick in die Tätigkeit des Unternehmens ermöglichen. Ein herstellendes Industrieunternehmen kann dabei z. B. eine Werksführung durch die Fertigung anbieten.

19Beispielhaft wurden hier herangezogen: Bayerisches Staatsministerium für Justiz, Hinweise für die Ausbildung von Rechtsreferendaren im Wirtschaftsunternehmen, S. 4, http://www.justiz.bayern. de/media/pdf/ljpa/vd_fuer_rref/ausbildung_in_wirtschaftsunternehmen.pdf; Verwaltungsvorschrift des Justizministeriums Baden-Württemberg über die Ausbildung der Rechtsreferendarinnen und – referendare, 1. März 2017 - Az.: 2221/0223, Abschnitt B II, http://www.rechtsreferendariat-bw. de/pb/site/jum2/get/documents/jum1/JuM/JuM/Pr%C3%BCfungsamt/Referendare/VwV%20Ausbildung.pdf; Verwaltungsvorschrift des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz über die Ausbildung der Rechtsreferendare im Vorbereitungsdienst des Freistaats Sachsen, 29. März 2007, Abschnitt A II, https://www.justiz.sachsen.de/lgc/download/VwV_Ausbildung_Referendare.pdf.

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16

Bei der AUDI AG hat der Referendar z. B. im Rahmen des sog. „ReferendarErlebnispaketes“ u.a. die Möglichkeit, eine Werks- und eine Museumsführung zu machen, an einem Crashtest und an einer Besichtigung des Windkanals teilzunehmen, Produkterlebnisfahrten durchzuführen oder an einem der dreimal im Jahr stattfindenden Audi PRAXIS Seminare teilzunehmen. Ein wesentlicher Wert der Referendarzeit für das Unternehmen ist die Möglichkeit festzustellen, ob dem Kandidaten als Nachwuchskraft ein Direkteinstieg ermöglicht werden sollte. 17 Teilweise streben Referendare nach dem Abschluss des 2. Staatsexamens jedoch eine Promotion oder auch einen Auslandsaufenthalt an. Potentielle Arbeitgeber sind daher gut beraten, die Kandidaten, die sich besonders hervorgetan haben, bei entsprechenden Vorhaben zu unterstützen. Denkbar wäre etwa, ein Promotionsvorhaben zu einem unternehmensrelevanten Thema mit einer darauf abgestimmten Teilzeittätigkeit zu kombinieren. Insbesondere international aufgestellte Unternehmen haben zudem die Möglichkeit, Referendare auch in den weltweit verteilten Standorten einzusetzen. Der Zentrale Rechtsservice der AUDI AG hat vor diesem Hintergrund das sog. „Global-Experience-Programm“ etabliert, bei dem Referendaren, die sich während ihrer Station besonders hervorgetan haben, eine „Stage“ entweder noch im Referendariat oder unmittelbar danach bei einer ausländischen Tochtergesellschaft oder auch in einer kooperierenden Kanzlei ermöglicht wird. Nicht selten schließt sich dann an eine solche Stage oder erfolgreiche Promotion der Berufsstart an. Vielfach wünschen die Absolventen des zweiten juristischen Staatsexamens aber auch einen Direkteinstieg ins Berufsleben.

12.6 Der Einstieg in den Beruf 18 Im Zusammenhang mit dem Berufseinstieg besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der Situation, ob man in eine bereits bestehende Unternehmensrechtsabteilung einsteigt oder die Aufgabe darin besteht, eine solche Abteilung erst aufzubauen. Der Einstieg in eine bereits existierende Rechtsabteilung, auf den im Folgenden der Fokus gelegt wird, hat den Vorteil, dass man auf etablierte Strukturen, eine erprobte Infrastruktur und auf Kollegen trifft, deren Rat man einholen kann. Idealerweise wird dem Berufseinsteiger ein erfahrener Kollege als Mentor zur Seite gestellt. Dabei sind Berufseinsteiger noch sehr oft von der fachlichen Ausbildung mit teilweise vorgegebenen Sachverhalten geprägt. Sie müssen sich erst daran gewöhnen, dass es ein sehr wichtiger Teil ihrer Arbeit ist, den jeweiligen Sachverhalt möglichst genau aufzuklären und sich Informationen aktiv zu verschaffen, damit ein Gesamtbild entsteht. Auch lernen sie bereits ganz am Anfang ihres Berufslebens, dass es ihre Aufgabe ist, Dinge zu entkomplizieren

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und Streitigkeiten zu deeskalieren. Kam es in der Ausbildung im Endeffekt immer darauf an, wer „Recht“ hat, so wird nunmehr von ihnen erwartet, dass sie Wege finden, damit das Unternehmen am Markt erfolgreich ist und dass die vorgeschlagene Lösung dabei allen einschlägigen Regelungen und Gesetzen entspricht20. Schon sehr früh macht der junge Syndikusanwalt diese Erfahrung, wenn ihm ein bestimmtes Rechtsgebiet oder ein Betreuungsbereich eigenverantwortlich übertragen wird. Die heutigen Anforderungen an die Beratungs- und Reaktionsgeschwindigkeit, die die neuen Kommunikationsmöglichkeiten über das externe oder interne Netz mit sich bringen, machen eine ständige Kontrolle des Arbeitsergebnisses durch einen erfahrenen Kollegen immer schwerer. Die Zeiten, in denen Chefs die Eingangs- und Ausgangspost junger Syndikusanwälte überprüft haben, sind vorbei. Es liegt jetzt im Gespür des jungen Anwalts in welchen Fällen er bei seinen erfahrenen Kollegen Rat sucht. Andererseits ist es wichtig, dass der Berufseinsteiger möglichst häufig und zeitnah ein Feedback zu der Qualität seiner Arbeit erhält. Die Erfahrung zeigt, dass junge Syndikusanwälte ca. 1 Jahr benötigen, bis sie das Grundrüstzeug zur Bewältigung ihrer Aufgaben erworben haben, nach ca. 3 Jahren sind sie problemlos in der Lage ihre internen Mandanten optimal zu betreuen. Hierauf sollte dann auch der Aufgabenumfang zugeschnitten sein. Maßstab für den 19 Aufgabenumfang kann nicht das Tätigkeitsgebiet eines schon länger im Unternehmen tätigen Juristen sein. Es ist genügend Zeit einzuplanen, um Prozesse und Verantwortlichkeiten und die Kultur des Unternehmens zu verstehen. Oft sind es unternehmensgebräuchliche Abkürzungen, eine Vielzahl von Steuerkreisen und Gremien und ebenso viele zeitraubende Abstimmungsrunden, die einem Einsteiger nicht bekannt sind. Diese kennenzulernen, sie zu verstehen und sie in den richtigen Kontext einzuordnen, verschlingt gerade am Anfang des Berufslebens sehr viel Zeit. Zeit, die dann bei der Bewältigung der eigentlichen fachlichen Aufgabe fehlt. Zusätzlich wird das Zeitbudget noch dadurch belastet, dass gerade anfangs dem jungen Juristen nicht klar ist, wie tief er in die Rechtsmaterie einsteigen muss. Um sich abzusichern wird dieser deshalb in der Regel versuchen, alle rechtlichen Aspekte zu beleuchten und zu dokumentieren. Gutachten werden zu Beginn der Karriere noch öfter geschrieben, Stellungnahmen schriftlich abgegeben, Mails geschrieben, beantwortet und verteilt statt einfach zum Telefonhörer zu greifen oder ein schnelles persönliches Gespräch zu suchen. Diese Rahmenbedingungen indizieren, dass der Berufseinsteiger ein Arbeitsgebiet bekommen sollte, dass mit seiner Erfahrung wachsen kann. Das erfordert Fingerspitzengefühl, um eine Überforderung oder Unterforderung zu vermeiden. Beides wird die Leistung des Berufseinsteiger einschränken. Mit dem Aufgabengebiet wächst auch die Verantwortung und entsprechend das Risiko etwas falsch zu beurteilen oder gar eine fehlerhafte Entscheidungsempfehlung abzugeben. Es ist deshalb ratsam, dass sich der

20Dr. Wagener, Martin: Anforderungen von Wirtschaftsunternehmen an anwaltliche Dienstleistungen, Festschrift für Jobst-Hubertus Bauer, hrsg. Verlag C.H. Beck München, S. 1045–1049.

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junge Syndikusanwalt und sein Chef/Mentor bei den internen Mandanten Rückmeldung über seine Leistung einholt. Das steigert die Sicherheit und wird die Qualität der Leistung verbessern. Der junge Anwalt sollte schnell an diesen Qualitätsverbesserungsprozess herangeführt werden. Dieser wird über die gesamte Karriere dasjenige Instrument sein, mit dem die eigene „Performance“ stetig verbessert werden kann.21 Entsprechende Rückmeldungen führen auch dazu, dass man immer nah an seinem Mandanten bleibt und nicht „abgehoben“ aus der „Stabsstelle Rechtsabteilung“ berät. Mit wachsenden fachlichen Aufgaben sollten auch solche dazukommen, die die 20 Organisation und Weiterentwicklung der Rechtsabteilung betreffen, was später noch näher anhand konkreter Beispiele erläutert wird22. Hat das Unternehmen Beteiligungsgesellschaften, die ebenfalls über eine eigene Rechtsabteilung verfügen, kann ein Berufseinstieg auch dort erfolgen. Oft sind diese Abteilungen kleiner und näher am eigentlichen Geschäft der Gesellschaft. Hier bekommt der junge Jurist früh einen Einblick in die Prozesse und die rechtlichen Fragestellungen. Sein Gefühl für die Geschwindigkeit mit der er berät, wird schon am Anfang seines Berufswegs geschärft. Im Gegenzug werden unternehmenspolitische und strategische Entscheidungen der Muttergesellschaft nicht so scharf wahrgenommen. Ein Einstieg in einem Beteiligungsunternehmen mit späterem Wechsel in die Muttergesellschaft ist eine gute Kombination. Aber auch umgekehrt kann der Wechsel nach einigen Jahren aus der Rechtsabteilung der Muttergesellschaft in ein ggf. auch neu gegründetes Beteiligungsunternehmen ein sinnvoller Schritt sein, um Erfahrungswissen, Vorgehensweisen, Strukturen und Prozesse erfolgreich zu transferieren.

12.7 Karriereperspektiven 21 Für den Berufseinsteiger ist es wichtig zu wissen, welche Perspektiven es für seinen beruflichen Lebensweg gibt. Diese hängen wiederum von der individuellen Situation des jeweiligen Unternehmens und der Größe der Rechtsabteilung23 ab. Maßgeblichen Einfluss auf die berufliche Entwicklung hat auch der Umstand, ob die Karriere innerhalb oder außerhalb der Rechtsabteilung oder eine Kombination aus beidem angestrebt wird. Auch das „Standing“ der Rechtsabteilung im Vergleich zu den anderen Fachabteilungen hat Einfluss auf die Karrieremöglichkeiten. Gibt es ein eigenes Ressort in der Geschäftsführung oder dem Vorstand des Unternehmens, ist der General Counsel dem höheren Management Level unterhalb der Unternehmensleitung berichtspflichtig und welchem

21Vgl. zur Qualitätssicherung in der Rechtsabteilung, Otto/Henning, Rechtsabteilungs-Report 2013/14, Pkt. 3.2.4, S. 88–89. 22Ausführliche Informationen dazu unter „12.8 Weiterbildung allgemein“. 23Vgl. zur durchschnittlichen Anzahl von Anwälten in deutschen Unternehmen, Otto/Henning, Rechtsabteilungs-Report 2013/14, Pkt. 3.1.3, S. 58–59.

12  Ausbildung und Berufseinstieg als Syndikus

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Mitglied der Geschäftsleistung (Vorsitzender, Finanz, Personal) ist er zugeordnet? Entscheidend ist auch, wie viele Hierachieebenen es gibt und ob eine gleichwertige Entwicklung im Rahmen einer Fachlaufbahn, d. h. ohne größere Personalverantwortung, möglich ist.24 Ein Blick auf die Altersstruktur gibt ebenso wichtige Hinweise wie die bislang in dem Unternehmen gelebte Praxis. So wenig sich Karrieren generell vorhersagen lassen, weil so viele Dinge sie positiv oder negativ beeinflussen können, so sehr kann man aber an oben genannten Parametern erkennen, welche Chancen und Risiken sich ergeben. Unternehmen, in denen Juristen als Verhinderer, Rechtsverdreher oder Umstandskrämer angesehen werden, werden diese Berufsgruppe nicht so fördern wie Unternehmen, in denen der juristische Rat als wertschöpfend und risikominimierend angesehen wird.

12.8 Weiterbildung allgemein Weiterbildung ist sowohl für das Unternehmen als auch für den Syndikusanwalt der 22 Schüssel zu nachhaltigem Erfolg. Nur wer sich weiterbildet, kann dauerhaft am Puls der Zeit beraten. Insbesondere in Zeiten des technologischen Fortschritts und des im Zuge der Globalisierung immer internationaleren Geschäftes ist es notwendig, dass ausreichende Weiterbildungsmöglichkeiten und entsprechendes Budget vorhanden ist. Dabei können Weiterbildungsmaßnahmen darin bestehen, dass ein Kollege ein spezifisches und für alle Mitarbeiter der Rechtsabteilung relevantes Thema fachlich aufarbeitet und dann in der Abteilung vorträgt, externe Weiterbildungsseminare oder Tagungen besucht werden und externe Experten für Schulungsmaßnahmen für die gesamte Abteilung eingeladen werden. Neben der fachlichen Weiterbildung sollte auch die persönliche Weiterbildung (z. B. interkulturelle Trainings, Konflikt-, Teamleiter- oder auch Verhandlungsschulungen) ermöglicht werden. Bei der AUDI AG besteht neben vorstehend aufgeführten Weiterbildungsmaßnahmen zudem die Möglichkeit, nebenberuflich ein Promotionsvorhaben, z. B. an einem Forschungsinstitut für Automobilrecht, zu realisieren, an einen MBA- bzw. LL.M.- Programm teilzunehmen oder auch eine internationale Fortbildungsmaßnahme des Lex Mundi Institiute (z. B. Business Management Programm an der Universität Cambridge oder auch zu grenzüberschreitenden Streitbeilegungsverfahren in Monterey, Kalifornien) wahrzunehmen. Weiterbildung kann aber auch bedeuten, zusätzliche, bisher unbekannte Aufgaben für die Abteilung, das Unternehmen oder die Kanzlei zu übernehmen und mit den Erfahrungen in diesem Zusammenhang zu wachsen25.

24Jung, 25Vgl.

Marcus: Seitwärts aufwärts, azur JUVE-Karrieremagazin für junge Juristen 01/2012, S. 40 ff. dazu Der moderne Arbeitsgeber, unternehmensjurist 05/2013, S. 16 ff.

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So kann man einem jungen Kollegen die Verantwortung für die Förderung des Nachwuchses, etwa für Praktikanten und Referendare, übertragen. Hier kann er dann erstmals lernen, was er später als Führungskraft zu tun hat. Angefangen bei der Rekrutierung des Nachwuchses über dessen Betreuung bis hin zum Zeugnisschreiben erfährt der junge Syndikusanwalt somit bereits sehr früh in seinem Berufsleben, was es bedeutet, junge Menschen zu führen. Auch ein Einsatz im Rahmen von Personalmarketingveranstaltungen an den Fokusuniversitäten26 kann sinnvoll sein. Hier lernt er anschaulich, seine Tätigkeiten Dritten zu beschreiben und verständlich zu machen. Bestenfalls ist er sogar in der Lage, junge Juristen in der Ausbildung für eine spätere Syndikusanwaltstätigkeit zu begeistern. Auf jeden Fall trainiert er aber seine Präsentationsfähigkeit und stärkt seine Überzeugungskraft. 24 Ein weiterer Baustein der Förderung ist auch die Beschäftigung mit strategischen Fragestellungen. Im Zentralen Rechtsservice der AUDI AG gibt es das Projekt „Die Jungen Wilden“. Hierbei handelt es sich um eine Projektgruppe die von der Leitung der Rechtsabteilung zusammengesetzt wird. Sie besteht aus jungen Kollegen aus unterschiedlichen Teams und Gesellschaften, auch aus Auslandsbeteiligungen. Die Zusammensetzung der Gruppe ist dabei nicht nur auf Juristen beschränkt; Assistentinnen, Paralegals und im Falle der AUDI AG Ingenieure27 gehören ihr ebenso an. Die jeweiligen „Jungen Wilden“ bekommen einen Projektauftrag. Die ersten drei Generationen hatten sich mit der Zukunft der Rechtsabteilung aus Sicht dieser Gruppe zu beschäftigen. Mit einer Zeitperspektive von 10 Jahren war herauszuarbeiten, wie aus Sicht der Projektgruppe die Rechtsabteilung dann aussieht (Arbeitsweise, Tätigkeitsfelder, Organisation) und welche konkreten Maßnahmen zu ergreifen sind, um in zehn Jahren getreu der Vision der Audi-Rechtsabteilung „simply the best“ sein zu können.28 Die „Jungen Wilden“ dürfen dabei ohne Vorgaben arbeiten und bekommen die dafür notwendigen Ressourcen zur Verfügung gestellt. Die Überlegungen der Gruppe und die daraus abgeleiteten Maßnahmen werden nach einem Zeitraum von ca. einem Jahr den Mitarbeitern des Zentralen Rechtsservice vorgestellt. Einige Vorschläge der ersten beiden „Jungen Wilden“-Teams sind heute bei Audi gelebte Realität. Mittlerweile gibt es bereits die dritte Generation der „Jungen Wilden“, die sich im Kern damit beschäftigt, welche Bedeutung die sich ändernden Kommunikationswege (Social Media) und die Erwartungen der Generation Y für die Rechtsberatung zur Folge haben.

26Siehe

dazu „12.4 Förderung von Nachwuchskräften durch verstärkte Hochschulaktivitäten“. zentralen Rechtsservice der AUDI AG gehören auch die Mitarbeiter aus dem Bereich Produktanalyse/ Unfallforschung. 28Vgl. dazu Die jungen wilden von Audi, unternehmensjurist 02/2013, S. 22 f. 27Zum

12  Ausbildung und Berufseinstieg als Syndikus

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Als Anerkennung für ihre Arbeit wird den „Jungen Wilden“ die Gelegenheit gegeben, ihre Ergebnisse auch außerhalb von Audi auf verschiedenen Foren zu präsentieren.29 Das Berufsbild des Syndikusanwaltes bietet insbesondere dem technisch ver- 25 sierten und wirtschaftlich orientiertem Juristen ein spannendes Betätigungsfeld mit vielfältigen Aufgaben und Gestaltungsmöglichkeiten. Die Herausforderungen denen sich der Syndikusanwalt dabei stellen muss, sind so vielfältig wie der technische und gesellschaftliche Fortschritt unserer industriell geprägten Gesellschaft und verändert sich dementsprechend mit jedem Tag. Ein Beruf, so spannend wie das Leben selbst.

Literatur azur: Juve-Karriereportal für junge Juristen, Associategehälter vom 1. bis 3. Berufsjahr (Stand 2018), http://www.azur-online.de/geld/gehaelter-associates (letzter Aufruf am 24.10.2018) Ebd., Gehälter 2018 in Unternehmen, Beratungsgesellschaften und Behörden, https://www. azur-online.de/geld/gehaelter-2018-in-unternehmen-beratungsgesellschaften-und-behoerden (letzter Aufruf am 24.10.2018) Bayerisches Staatsministerium für Justiz, Broschüre Vorbereitungsdienst der Rechtsreferendare in Bayern, S. 13 ff., http://www.justiz.bayern.de/media/pdf/ljpa/vd_fuer_rref/brosch%C3%BCre_ vorbereitungsdienst_bayern_stand_mai_2013.pdf (letzter Aufruf am 24.10.2018) Ebd., Hinweise für die Ausbildung von Rechtsreferendaren im Wirtschaftsunternehmen, S. 4, http://www.justiz.bayern.de/media/pdf/ljpa/vd_fuer_rref/ausbildung_in_wirtschaftsunternehmen.pdf (letzter Aufruf am 24.10.2018) Becker, Maximilian: Referendariat – Die Rechtsanwaltsstation im Zentralen Rechtsservice der AUDI AG, RAW 2/2014, S. 124 f Bundesministerium für Bildung und Forschung, Der Bologna-Prozess - die Europäische Studienreform, http://www.bmbf.de/de/3336.php (letzter Aufruf am 24.10.2018) Bundesverband der Unternehmensjuristen (BUJ), Selbstverständnis, http://www.buj-web.de/ueberuns/ (letzter Aufruf am 24.10.2018) Conraths, Timo: Bewerbung bei Großkanzleien - Die Note entscheidet (nicht immer), Legal Tribute Online vom 23.04.2013, http://www.lto.de/recht/job-karriere/j/grosskanzlei-bewerbung-praedikatsexamen-anforderungsprofil/ (letzter Aufruf am 24.10.2018) Der moderne Arbeitsgeber, unternehmensjurist 05/2013, S. 16 ff Die jungen wilden von Audi, unternehmensjurist 02/2013, S. 22 f Fiebiger, Jörg: Für alle Fälle Syndikus, audimax JUR.A, 6/2013, S. 20 f Jung, Marcus: Seitwärts aufwärts, azur JUVE-Karrieremagazin für junge Juristen 01/2012, S. 40 ff Justizministerium Baden-Württemberg, Verwaltungsvorschrift des Justizministeriums über die Ausbildung der Rechtsreferendarinnen und -referendare, 1. März 2017 - Az.: 2221/0223, http:// www.rechtsreferendariat-bw.de/pb/site/jum2/get/documents/jum1/JuM/JuM/Pr%C3%BCfungsamt/Referendare/VwV%20Ausbildung.pdf (letzter Aufruf am 24.10.2018) Dr. Nassif, Iyad: Ingolstadt: Vorsprung durch juristische Technik - Wahlstation in der Rechtsabteilung der AUDI AG, JuS 7/2010, S. XXV Otto/Henning, Rechtsabteilungs-Report 2013/14, S. 58 f, 68, 88 f

29Zu nennen sind hier beispielsweise der Unternehmensjuristen-Kongress 2013, der Syndikusanwaltstag 2013 und der Deutsche Anwaltstag 2013.

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Sächsischen Staatsministeriums der Justiz, Verwaltungsvorschrift des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz über die Ausbildung der Rechtsreferendare im Vorbereitungsdienst des Freistaats Sachsen vom 29. März 2007, https://www.justiz.sachsen.de/lgc/download/VwV_ Ausbildung_Referendare.pdf (letzter Aufruf am 24.10.2018) Dr. Wagener, Martin: Anforderungen von Wirtschaftsunternehmen an anwaltliche Dienstleistungen, Festschrift für Jobst-Hubertus Bauer, hrsg. Verlag C.H. Beck München, S. 1045– 1049 Dr. Wagener, Martin: Berufseinstieg als Unternehmensjurist – Rechtsverdreher oder Legal Manager?, Beck’scher Referendarführer 2010/2011, S. 50 ff Dr. Weigand, Frank-Bernd: Die zentrale Rechtsabteilung - von der Vielfalt der Tätigkeiten als Unternehmensjurist/ in, Beck'scher Referendarführer 2013/2014, S. 72 ff WHV-Wirtschaftsjuristische Hochschulvereinigung, Übersicht Studiengänge Wirtschaftsrecht, http://www.wirtschaftsrecht-fh.de/de/vereinigung/bachelor_whv_neu (letzter Aufruf am 24.10.2018)

Arbeitsrecht

13

Andrea Panzer-Heemeier

13.1 Einführung Unter dem Oberbegriff Arbeitsrecht sind alle Belange im Zusammenhang mit der vom Arbeitnehmer im Abhängigkeitsverhältnis zum Arbeitgeber geleisteten Tätigkeit zusammengefasst. Es vereint dabei neben vertragsrechtlichen, das heißt privatrechtlichen, Elementen auch eine Vielzahl von öffentlich-rechtlichen Einflüssen, maßgeblich im Bereich des Arbeits- und Beschäftigtenschutzes. Die Arbeitsverhältnisse und Arbeitsprozesse werden demnach durch ein Ineinandergreifen von privatrechtlicher Vertragsfreiheit und dem Gedanken der sozialen Marktwirtschaft, das heißt dem Spannungsverhältnis zwischen unternehmerischer Freiheit und den konkreten Ausprägungen des bundesdeutschen Sozialstaatsprinzips, geprägt und gestaltet. Hierbei müssen die Bedürfnisse eigenverantwortlicher unternehmerischer Entscheidungen sowie das Prinzip der Vertragsautonomie mit einem System von gesetzlichen Schutzmechanismen, die verkürzt gesagt einen Mindeststandard der Arbeitsbedingungen vorgeben, in Einklang gebracht werden. Insgesamt ist das deutsche Arbeitsrecht im Wesentlichen folgenden nationalen und europäischen Rechtsquellen – neben dem Arbeitsvertrag als Grundlage für die Begründung des Arbeitsverhältnisses – zugänglich: Zunächst besteht ein übergeordneter grundrechtlicher Bezug, vor allem zu den Art. 3, 9, 11, 12, 14 GG.1 Des Weiteren ist das Arbeitsrecht Gegenstand konkurrierender Gesetzgebung und somit maßgeblich durch einfach-gesetzliche Normen des Bundes sowie einer Vielzahl von unterrangigen R ­ egelwerken

1Dieterich

NZA 1996, 673.

A. Panzer-Heemeier ()  ARQIS Rechtsanwälte, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Lenz (Hrsg.), Die Rechtsabteilung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21915-4_13

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1

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A. Panzer-Heemeier

geprägt. Einen entscheidenden Einfluss üben weiterhin die Instrumentarien des Tarifvertrags sowie der Betriebs- und Dienstvereinbarung als sog. dispositives Gesetzesrecht auf die interorganisatorische bzw. innerbetriebliche Rechtsetzung aus. Neben dem Gewohnheitsrecht, das gerade im Bereich betrieblicher Übungen von Einfluss ist, stellt das deutsche Arbeitsrecht seit jeher in Ermangelung einer einheitlichen Kodifizierung ein ausgesprochenes Richterrecht dar. Letztlich übt das europäische Gemeinschaftsrecht einen immer stärker ausgeprägten übergeordneten Einfluss auf das gesamte Arbeitsrecht aus.

13.2 Individualarbeitsrecht 13.2.1 Die Begründung des Arbeitsverhältnisses 2

3

4

13.2.1.1 Rechtsnatur des Arbeitsverhältnisses Das Arbeitsvertragsrecht ist eine besondere Form des Dienstvertragsrechts. Ein Arbeitsverhältnis kommt daher wie jeder Vertrag durch zwei korrespondierende Willenserklärungen, Angebot und Annahme, zustande (§§ 145 ff. BGB). Der Vertragsschluss kann grundsätzlich formfrei erfolgen, also schriftlich, mündlich oder auch durch schlüssiges Verhalten.2 Dadurch verpflichtet sich der Arbeitnehmer einerseits zur Leistung der versprochenen Arbeit und der Arbeitgeber andererseits, den Arbeitnehmer zu beschäftigen sowie das vereinbarte Entgelt zu entrichten (§ 611 Abs. 1 BGB). Daneben entstehen über Treu und Glauben gemäß § 242 BGB gegenseitige Treue-, Schutz- und Fürsorgepflichten. 13.2.1.2 Abgrenzung Arbeitnehmer – Selbstständiger Entscheidend für die Annahme eines Arbeitsverhältnisses ist, dass die Arbeitnehmereigenschaft der dem Arbeitgeber gegenüberstehenden Partei vorliegt. Grund hierfür ist, dass für Arbeitnehmer die meisten im Arbeitsrecht maßgeblichen Vorschriften in persönlicher Hinsicht einschlägig sind. So ist etwa der Weg zu den Arbeitsgerichten über § 2 Abs. 1 Nr. 3 ArbGG genauso abhängig von der Arbeitnehmereigenschaft wie die Beurteilung des Kündigungsschutzes nach dem KSchG. 13.2.1.2.1 Definition Arbeitnehmer Arbeitnehmer ist, wer aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags weisungsgebunden und in persönlicher Abhängigkeit für einen anderen zur Arbeitsleistung gegen Entgelt verpflichtet ist.3 Entscheidendes Abgrenzungskriterium ist im Einzelfall der Grad der persönlichen Abhängigkeit des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber. Wie stark dieser ausgeprägt ist, beurteilt die Rechtsprechung anhand einer Reihe von Indizien. 2Ausnahmen

können sich durch tarifvertragliche Regelungen ergeben. Zur Schriftform bei Befristung siehe Rn. 17, § 12 B. I. 4..b). 3Hierzu ausführlich: Hromadka NZA 1997, 569, 570.

13 Arbeitsrecht

233

13.2.1.2.2 Praktische Kriterien Das BAG entscheidet im Wege einer Gesamtbetrachtung, ob der Betreffende als Arbeitnehmer oder als Selbstständiger zu qualifizieren ist. Dabei ist das Kriterium der Eingliederung in eine fremde Arbeitsorganisation ein wichtiges Indiz für die Arbeitnehmereigenschaft.4 Bei untergeordneten, einfachen Arbeiten ist eher eine Eingliederung in eine fremde Arbeitsorganisation anzunehmen als bei anspruchsvolleren Tätigkeiten. Für die Annahme der Arbeitnehmereigenschaft sprechen etwa die Eingliederung in eine fremde betriebliche Organisation5, das Vorliegen von Weisungsgebundenheit hinsichtlich Ort, Zeit, Dauer und Art der Tätigkeit6, der fehlende Einsatz eigener Betriebsmittel7, eine langfristige Inanspruchnahme des Arbeitnehmers sowie das weitgehende Fehlen von unternehmerischen Chancen und Risiken. 13.2.1.2.3 Leiharbeitnehmer Leiharbeitnehmer sind aus der betrieblichen Praxis kaum mehr wegzudenken. Nach der Reform des AÜG im Jahr 2016 liegt eine Arbeitnehmerüberlassung nach § 1 Abs. 1 S. 2 AÜG vor, wenn ein Arbeitgeber (Verleiher) einem Dritten (Entleiher) auf Basis eines Arbeitnehmerüberlassungsvertrages Arbeitnehmer (Leiharbeitnehmer) überlässt und die Leiharbeitnehmer in den Betrieb des Entleihers eingegliedert sind und seinen Weisungen unterliegen. Wichtig ist insbesondere, dass der Vertrag zwischen Ver- und Entleiher gemäß § 1 Abs. 1 S. 5 AÜG explizit als Arbeitnehmerüberlassungsvertrag bezeichnet wird und nach § 1 Abs. 1 S. 6 die Person des Leiharbeitnehmers im Vertrag konkretisiert wird. Wird gegen diese Pflichten verstoßen, drohen nicht nur Bußgelder, sondern der Vertrag zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer ist nach § 9 Abs. 1 Nr. 1a AÜG unwirksam. Die Unwirksamkeit des Vertrags führt nach § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG dazu, dass ein Arbeitsverhältnis zwischen Leiharbeitnehmer und Entleiher fingiert wird. Eine Arbeitnehmerüberlassung kann nach § 1 Abs. 1b S. 1 AÜG bis zu einer Höchstdauer von 18 Monaten vereinbart werden, wobei gemäß § 1 Abs. 1b S. 3 AÜG eine (unbegrenzte) Abweichung durch Tarifvertrag der Entleiherbranche sowohl nach oben als auch nach unten möglich ist. Grundsätzlich hat der Leiharbeitnehmer gegenüber dem Verleiher einen Anspruch auf Equal Pay (gleiche Bezahlung wie Arbeitnehmer des Entleiherbetriebs). Im Gegensatz zum früheren Recht, welches eine unbegrenzte Abweichung vorsah, kann von Equal Pay nach § 8 Abs. 4 S. 1 AÜG durch Tarifvertrag nur noch für 9 Monate abgewichen werden, unter den Voraussetzungen des § 8 Abs. 4 S. 2 AÜG bis zu 15 Monate.

4BAG

v. 20.7.1994, Az. 5 AZR 627/93, NZA 1995, 161. v. 6.5.1998, Az. 5 AZR 347/97, DB 1998, 2275. 6BAG v. 30.9.1998, Az. 5 AZR 563/97, DB 1999, 436. 7BAG v. 19.11.1997, Az. 5 AZR 653/96, DB 1998, 624. 5BAG

5

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6

7

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13.2.1.3 Das Bewerbungsverfahren In den letzten Jahren sind im Bewerbungsverfahren grundlegende Änderungen in der Vorgehensweise erforderlich geworden. Datenschutzrechtliche Regelungen sowie vor allem das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) haben erhebliche Erweiterungen des Diskriminierungsschutzes für Arbeitnehmer geschaffen. 13.2.1.3.1 Das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz Ziel des AGG ist es, Benachteiligungen aufgrund spezieller Merkmale, namentlich aufgrund der Rasse, der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, der Religion oder der Weltanschauung, der Behinderung und des Alters zu verhindern oder zu beseitigen (§ 1 AGG). Dabei werden neben der Durchführung und Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch die Anbahnung und Begründung einer Erwerbstätigkeit erfasst (§ 2 Abs. 1 AGG). Gemäß §§ 2 Abs. 1 Nr. 1, 7 Abs. 1 AGG findet das Benachteiligungsverbot auf Stellenausschreibungen, das Einstellungsverfahren und die konkrete Einstellung Anwendung. Das Benachteiligungsverbot aus § 7 Abs. 1 AGG als zentrale Vorschrift des Gesetzes schreibt demnach vor, dass Beschäftigte bei einer Stellenausschreibung nicht aus den genannten Gründen benachteiligt werden dürfen. Dabei unterscheidet das Gesetz zwischen einer unmittelbaren und mittelbaren Benachteiligung. aa) Unmittelbare Benachteiligung

8

Eine unmittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn eine Person in einer vergleichbaren Situation wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung als eine Person in vergleichbarer Lage erfährt, erfahren hat oder erfahren würde (§ 3 Abs. 1 S. 1 AGG). Eine derartige Benachteiligung ist beispielsweise gegeben, wenn das gewählte Differenzierungskriterium sich eindeutig auf das Geschlecht bezieht. Ein weiterer Fall der unmittelbaren Benachteiligung ist gemäß § 3 Abs. 1 S. 2 AGG die ungünstigere Behandlung einer Frau aufgrund der Schwangerschaft oder der Eigenschaft als Mutter. Jedoch stellt nicht jede unterschiedliche Behandlung eine verbotene Diskriminierung dar. So erlauben §§ 8–10 AGG eine Differenzierung auf Grundlage beruflicher Anforderungen. Demnach ist die Benachteiligung gemäß § 8 Abs. 1 AGG zulässig, wenn der Grund wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderungen angemessen sind. Dazu muss beispielsweise das Geschlecht von prägender Bedeutung für die auszuübende Tätigkeit sein.8 Eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters ist gemäß § 10 AGG dann zulässig, wenn sie objektiv, angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Als legitim sind nicht nur solche Ziele anzusehen, die im

8BAG

v. 28.5.2009, Az. 8 AZR 536/08, NZA 2009, 1016.

13 Arbeitsrecht

235

­ llgemeininteresse liegen, sondern auch betriebs- und unternehmensbezogene InteresA sen, etwa um eine ausgewogene Altersstruktur zu gewährleisten.9 Darüber hinaus erlaubt § 5 AGG sog. positive Ungleichbehandlungen, um bestehenden Nachteilen wegen eines in § 1 AGG genannten Merkmals entgegenzuwirken.10 bb) Mittelbare Benachteiligung

Eine mittelbare Benachteiligung ist gemäß § 3 Abs. 2 AGG gegeben, wenn zwar Vorschriften, Kriterien oder Verfahren dem Anschein nach neutral sind, Personen aber dennoch wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen. Eine solche mittelbare Benachteiligung liegt z. B. vor, wenn in einer Stellenanzeige Personen mit „perfekten Deutschkenntnissen“ gesucht werden, obwohl diese für die zu besetzende Stelle überhaupt nicht notwendig sind.11 Dies stellt eine mittelbare Benachteiligung wegen der Rasse oder der ethnischen Herkunft dar. Gemäß § 3 Abs. 2 AGG scheidet ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot bereits dann tatbestandlich aus, wenn die Ungleichbehandlung durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt ist und die Mittel zur Erreichung des Ziels angemessen und erforderlich sind. Hierunter fallen etwa betriebliche Notwendigkeiten oder Anforderungen an die persönlichen Fähigkeiten des Arbeitnehmers.12

9

cc) Weitere Begriffsbestimmungen

Die Belästigung stellt gemäß § 3 Abs. 3 AGG einen Sonderfall der Benachteiligung dar 10 und ist dann gegeben, wenn unerwünschte Verhaltensweisen, die mit einem der in § 1 AGG genannten Gründen zusammenhängen, die Würde der betroffenen Person verletzen bzw. ein feindseliges Umfeld schaffen. Sexuelle Belästigung liegt gemäß § 3 Abs. 4 AGG vor, wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird. Gemäß § 3 Abs. 5 S. 1 AGG ist schon bei der Anweisung zu einer Benachteiligung an einen Dritten die Benachteiligung selbst gegeben. Eine (sexuelle) Belästigung kann nicht gerechtfertigt werden. dd) Beweislast

Gemäß § 22 AGG muss der Betroffene lediglich Indizien darlegen und beweisen, die 11 eine Benachteiligung vermuten lassen.13 Ausreichend ist hierfür, dass nach allgemeiner Lebenserfahrung eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für einen Kausalzusammenhang

9BAG

v. 22.1.2009, Az. 8 AZR 906/07, NZA 2009, 945. fallen etwa die Bevorzugung von Frauen oder behinderter Arbeitnehmer bei gleicher Eignung. 11vgl. dazu BAG v. 28.1.2010, Az. 2 AZR 764/08, NZA 2010, 625. 12BAG v. 28.1.2010, Az. 2 AZR 764/08, NZA 2010, 625. 13Siehe hierzu: Erfurter Kommentar/Schlachter, 17. Auflage 2017, § 22 AGG Rn. 1 ff. 10Hierunter

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zwischen Merkmalszugehörigkeit und Nachteil gegeben ist.14 Dies ist beispielsweise im Fall einer geschlechtlich eindeutig formulierten Stellenausschreibung „Sekretärin“ oder einer altersmäßig spezifizierten Suche nach „einer/einem jüngeren Buchhalter/in“ oder einem „Mitglied für unser junges Team“ bereits anzunehmen. Ist der Betroffene in der Lage, diese Indizien vorzutragen, ist der Arbeitgeber im Gegenzug beweispflichtig, dass kein Verstoß gegen ein Benachteiligungsverbot vorliegt. Dem Bewerber steht allerdings kein Auskunftsanspruch gegen den Arbeitgeber zu, welche Gründe für seine Ablehnung ausschlaggebend waren. Auch wenn damit zwar keine Verpflichtung, entsprechende Informationen herauszugeben, existiert, kann sich eine entsprechende Verweigerung aber nachteilig im Prozess auswirken.15 ee) Rechtsfolgen

12 Mögliche Rechtsfolgen einer Benachteiligung sind unter anderem ein Schadensersatzanspruch gemäß § 15 Abs. 1 AGG sowie ein Entschädigungsanspruch gemäß § 15 Abs. 2 AGG. Der Entschädigungsanspruch setzt allerdings voraus, dass der Bewerber für die ausgeschriebene Stelle objektiv geeignet und subjektiv ernsthaft gewillt ist, die Stelle auch zu besetzen.16 Demnach handelt ein „AGG-Hopper“ rechtsmissbräuchlich, da die Bewerbung von vorneherein mit dem Ziel betrieben wurde, für den Fall der Ablehnung Entschädigungsansprüche geltend zu machen.17 Des Weiteren sieht § 15 Abs. 2 S. 2 AGG im Falle des benachteiligten Bewerbers einen Entschädigungsanspruch von höchstens drei Monatsgehältern vor. Dagegen besteht gemäß § 15 Abs. 6 AGG kein Anspruch des Bewerbers auf Einstellung beim Arbeitgeber. Sämtliche Ansprüche müssen gemäß § 15 Abs. 4 AGG innerhalb von zwei Monaten schriftlich geltend gemacht werden.18 13.2.1.3.2 Datenschutz 13 Von immer größerer Bedeutung für das gesamte Arbeitsverhältnis und somit auch im Bewerbungsverfahren ist die Einhaltung datenschutzrechtlicher Bestimmungen, die durch das Inkrafttreten sowohl der Datenschutzgrundverordnung (DS-GVO) als auch des daran angepassten Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG-N) am 25. Mai 2018 eine durchgreifende Reform erfahren werden. Heutzutage ist es üblich, Vorstellungsgespräche durch eine Suche im Internet nach dem Bewerber vorzubereiten und dabei etwa soziale Netzwerke zu nutzen. Dies und auch die weitere elektronische Verarbeitung von Bewerberdaten unterliegt in gleicher Weise den Schutzbestimmungen des 14BAG

v. 24.4.2008, Az. 8 AZR 257/07, NZA 2008, 1351 ff. v 19.04.2012, Rs. C-415/10, BB 2012, 1224; BAG v. 25.04.2013, Az. 8 AZR 287/08, NJOZ 2013, 1699. 16LAG Rheinland-Pfalz v. 11.1.2008, Az. 6 Sa 522/07, NZA-RR 2008, 343. 17Bissels/Lützeler BB 2009, 833, 834; vgl. auch LAG Berlin-Brandenburg v. 31.10.2013, Az. 21 SA 1380/13, BB 2014, 244. 18Die zweimonatige Ausschlussfrist wurde vom EuGH als rechtmäßig bestätigt: EuGH v. 8.7.2010, Rs. C-246/09, NZA 2010, 869. 15EuGH

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­ undesdatenschutzgesetzes (BDSG) wie das Arbeitsverhältnis in seiner Durchführung B und Beendigung. Ab dem 25. Mai 2018 unterliegen diese Bereiche dann den Regelungen der DS-GVO und des BDSG-N. aa) Erforderlichkeit der Datennutzung

Gemäß § 32 Abs. 1 S. 1 BDSG dürfen personenbezogene Daten bei der Begründung des 14 Beschäftigungsverhältnisses erhoben, verarbeitet und genutzt werden, wenn dies hierfür erforderlich ist. Gemäß § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BDSG ist es zulässig, allgemein zugängliche Datenquellen zu nutzen, sofern nicht Bewerberinteressen überwiegen. Im Ergebnis bedeutet dies für das Bewerbungsverfahren, dass der Abgleich von Bewerberdaten auf Grundlage der in der Bewerbung gemachten Angaben unter Zuhilfenahme von im Internet öffentlich zugänglicher Daten zulässig ist.19 Allerdings ist darauf zu achten, dass sich die Recherche auf Informationen beschränkt, die einen Zusammenhang mit der zu besetzenden Stelle aufweisen und zudem aktuell sind.20 Außerdem sollten die Bewerberdaten bei abgelehnten Kandidaten spätestens nach Ablauf der zweimonatigen Ausschlussfrist des AGG gelöscht werden. Diese Rechtslage wird sich mit Inkrafttreten des BDSG-N nicht grundlegend ändern. Der Gesetzgeber hat sich dazu entschieden, den § 32 BDSG in sprachlich konkretisierter Form als § 26 BDSG-N fortgelten zu lassen. Einzig nennenswerte Änderungen sind die Konkretisierung in Bezug auf die Freiwilligkeit einer Einwilligung des Arbeitnehmers und dass Kollektivvereinbarungen nun ausdrücklich als Rechtfertigung zur Datenverarbeitung aufgeführt werden.21 bb) Übermittlung der Daten an Dritte

Nicht selten wird in Konzernen das Bewerbungsverfahren von einer separaten Gesellschaft durchgeführt und nicht vom Arbeitgeber selbst. Sowohl in diesem Fall als auch beim Einsatz von Headhuntern ist erforderlich, dass die erhobenen Daten mehreren Parteien zur Verfügung stehen, die nicht allesamt Partei des des zukünftigen Arbeitsverhältnisses sind. Die dazu erforderliche Datenübermittlung (§ 3 Abs. 4 S. 2 Nr. 3 BDSG) an Dritte bedarf daher einer expliziten Legitimation wie beispielsweise einer Einwilligung des Kandidaten; dies gilt mangels eines Konzernprivilegs auch für die konzerninterne Datenübermittlung.22 Von der Datenübermittlung abzugrenzen ist die Auftragsdatenverarbeitung iSv. § 11 BDSG. Wer im Auftrag und weisungsabhängig Daten erhebt, verarbeitet oder nutzt, ist nicht Dritter iSd BDSG, sondern aufgrund eines bestehenden Auftragsverhältnisses und der daraus hervorgehenden Delegierung bestimmter Aufgaben als Teil der verantwortlichen Stelle anzusehen. Der Arbeitgeber hat dabei w ­ eiterhin

19Wybitul

BB 2010, 1085, 1087. BB 2009, 2310, 2315. 21Gola BB 2017, 1462, 1464; Krause NZA-Beilage 2017, 53, 58. 22Grobys/Panzer, StichwortKommentar Arbeitsrecht, 3. Auflage 2016, Datenschutz, allgemein, Rn. 37 ff. 20Wellhöner/Byers

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die Verfügungsgewalt über die Daten inne und ist unverändert für die Einhaltung der gesetzlichen Pflichten durch den Auftragnehmer verantwortlich. Die Auftragsdatenverarbeitung unterliegt den in § 11 Abs. 2 S. 2 BDSG genannten Voraussetzungen.23 Auch hier sind Änderungen durch die DS-GVO und das BDSG-N nicht zu erwarten. So hält die DS-GVO auch weiterhin am Verbot mit Erlaubnisvorbehalt fest (Art. 5 DS-GVO) und es besteht die Möglichkeit der Auftragsdatenverarbeitung (Art. 28 ff. DS-GVO). cc) Aufbau einer Bewerberdatenbank

15 Gerade Konzerne und große Unternehmen, bei denen laufend Einstellungsbedarf besteht, haben ein Interesse daran, die Daten abgelehnter, aber vielversprechender Bewerber zu speichern, um so potentiell einen erneuten kosten- und zeitintensiven Auswahlprozess zu vermeiden. Für den Bewerber hat die umfassende Speicherung seiner Daten allerdings den Nachteil, dass auch Aspekte gespeichert werden können, aufgrund derer er gerade nicht für eine bestimmte Stelle in Betracht gekommen ist. Das BAG hat bereits entschieden, dass die Absicht, einen Personalfragebogen bei einer nochmaligen Bewerbung zu einem Datenvergleich heranzuziehen oder den Bewerber später zu einer nochmaligen Bewerbung anzuhalten, kein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers an einer Speicherung begründet.24 Die Speicherung von (abgelehnten) Bewerbern bedarf daher grundsätzlich der expliziten Einwilligung des Betroffenen. Dies gilt mangels Konzernprivileg auch für konzernweite Bewerberdatenbanken.

13.2.1.4 Befristete Arbeitsverhältnisse 13.2.1.4.1 Allgemeines 16 Den Arbeitsvertragsparteien steht es grundsätzlich frei, das Arbeitsverhältnis auch zeitlich begrenzt abzuschließen. Dies hat zur Folge, dass es zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses keiner weiteren rechtlichen Handlung, wie etwa einer Kündigung, bedarf. Daraus ergibt sich auch der entscheidende Vorteil eines befristeten Arbeitsverhältnisses: Der Arbeitnehmer kann sich nicht auf den Kündigungsschutz berufen.25 Im Gegenzug ist eine Befristung jedoch nur in bestimmten, gesetzlich geregelten Fällen möglich. Das Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) enthält die hierzu maßgeblichen Bestimmungen. 13.2.1.4.2 Inhalt/Form 17 In inhaltlicher Hinsicht ist zwischen der reinen Zeitbefristung und der Befristung mit Sachgrund zu unterscheiden. Gemäß § 14 Abs. 4 TzBfG bedarf die Befristung der Schriftform. Formbedürftig ist dabei aber nur die Befristungsabrede an sich, nicht jedoch der der

23Grobys/Panzer,

StichwortKommentar Arbeitsrecht, 3. Auflage 2016, Datenschutz, allgemein, Rn. 41 ff. 24BAG v. 6.6.1984, Az. 5 AZR 286/81, NZA 1984, 321. 25Siehe unter Rn. 50 ff. (B. III. 2. ff.)

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Befristung zugrunde liegende sachliche Grund.26 Wird die Schriftform nicht gewahrt, so ist die Befristung unwirksam und es entsteht ein unbefristetes Arbeitsverhältnis. Des Weiteren ist zu beachten, dass bei einem befristeten Arbeitsvertrag eine ordentliche 18 Kündigung gemäß § 15 Abs. 3 TzBfG nur möglich ist, wenn dies ausdrücklich einzeloder tarifvertraglich geregelt ist. Darüber hinaus besteht stets die Möglichkeit, das Arbeitsverhältnis aus einem wichtigen Grund iSd § 626 BGB außerordentlich zu kündigen. 13.2.1.4.3 Befristung mit Sachgrund Gemäß § 14 Abs. 1 TzBfG ist für die Befristung eines Arbeitsverhältnisses grundsätz- 19 lich ein sachlicher Grund erforderlich.27 Die Aufzählung in § 14 Abs. 1 S. 2 TzBfG nennt eine Reihe sachlicher Gründe, ist aber nicht abschließend. Ein für die Praxis gängiges Beispiel ist etwa der projektbezogene, vorübergehende Mehrbedarf an Arbeitsleistung iSd § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TzBfG. Voraussetzung hierfür ist eine nachprüfbare Prognose des Arbeitgebers, dass für die Beschäftigung über das vereinbarte Vertragsende hinaus mit hinreichender Sicherheit kein Bedarf besteht.28 Auch ein vorübergehender Vertretungsbedarf rechtfertigt eine Befristung gemäß § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 TzBfG. Hierfür ist es nicht erforderlich, dass der Vertreter die Tätigkeit des ausgefallenen Mitarbeiters umfassend übernimmt. Es reicht vielmehr aus, wenn der Arbeitgeber dem Vertreter Aufgaben zuweist, die er dem Vertretenen nach dessen Rückkehr zuweisen könnte.29 Des Weiteren ist ein Kausalzusammenhang zwischen dem Ausfall und der Einstellung des Vertreters erforderlich. Hinsichtlich der unter § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 TzBfG fallenden Altersbefristung, wie sie sich des Öfteren in tariflichen Bestimmungen wiederfindet und ein Ende der Arbeitsverhältnisse weit unter dem gesetzlichen Renteneintrittsalter vorsieht, sind erhöhte Anforderungen an den rechtfertigenden Sachgrund zu stellen. Im Bereich der Luftfahrt ist es beim Kabinenpersonal beispielsweise für eine Altersbefristung nicht ausreichend, von einem altersbedingten Nachlassen der Leistungsfähigkeit ab dem 55.Lebensjahr auszugehen.30 Entscheidend ist grundsätzlich die Vereinbarkeit jeder Altersgrenzenregelung mit dem AGG.31 Ist ein Vertrag mit Sachgrund befristet, so kann er beliebig oft verlängert werden, solange nicht die Grenze zum Rechtsmissbrauch überschritten ist. Dafür müssen alle Umstände des Einzelfalls einschließlich der Zahl und der Gesamtdauer der in der Vergangenheit mit demselben Arbeitgeber geschlossenen befristeten Arbeitsverhältnisse zur Verrichtung derselben

26BAG

v. 26.7.2006, Az. 7 AZR 515/05, NZA 2007, 34. detaillierten Abgrenzung zwischen den Befristungsarten siehe: Küttner/Kania, Personalbuch, Befristetes Arbeitsverhältnis Rn. 3 ff. 24. Auflage 2017. 28BAG v. 25.8.2004, Az. 7 AZR 7/04, BB 2005, 1229. 29BAG v. 15.2.2006, Az. 7 AZR 232/05, NJW 2006, 3451. 30BAG v. 16.10.2008, Az. 7 AZR 253/07, DB 2009, 850. 31Erfurter Kommentar/Müller-Glöge, 17. Auflage 2017, § 14 TzBfG Rn. 56a. 27Zur

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Tätigkeit berücksichtigt werden.32 Allerdings hat die mehrmalige Verlängerung eines Arbeitsvertrages zur Konsequenz, dass sie als Indiz für das tatsächliche Fehlen eines sachlichen Grundes gewertet werden könnte.33 Die Befristung mit Sachgrund endet dann zum vorgesehenen Zeitpunkt. Alternativ dazu endet das zweckgebundene Arbeitsverhältnis gemäß § 15 Abs. 2 TzBfG mit Erreichen des gesetzten Zwecks, frühestens jedoch zwei Wochen nach Zugang der schriftlichen Unterrichtung des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber über den Beendigungszeitpunkt.34 Erfolgt die Unterrichtung nicht oder nicht formgerecht, so besteht das Arbeitsverhältnis zweckbefristet fort. 13.2.1.4.4 Befristung ohne Sachgrund 20 § 14 Abs. 2, 3 TzBfG sieht eine Möglichkeit vor, zeitbefristete Arbeitsverträge auch ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes abzuschließen. Voraussetzung ist gemäß § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG zunächst, dass der Arbeitnehmer neu eingestellt wird und nicht zuvor bereits ein Arbeitsverhältnis mit demselben Arbeitgeber bestanden hat. Dabei ist stets auf die natürliche oder juristische Person abzustellen, die Vertragspartner des Arbeitnehmers ist, nicht auf arbeitsplatz- oder betriebsbezogene Gesichtspunkte.35 Ein Berufsausbildungsverhältnis stellt dabei kein von § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG bezeichnetes Arbeitsverhältnis dar.36 Nach aktueller Entscheidung des BAG steht eine frühere Beschäftigung des Arbeitnehmers der reinen Zeitbefristung ohne Sachgrund dann nicht entgegen, wenn diese mehr als drei Jahre zurückliegt.37 Zudem darf die Befristung die Dauer von zwei Jahren nicht überschreiten. Während dieser zwei Jahre darf die Befristung maximal dreimal verlängert werden (§ 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG). Eine wirksame Verlängerung setzt zudem voraus, dass die Verlängerungsvereinbarung vor Ende der Laufzeit des alten Vertrages schriftlich und ohne Veränderung des vertraglichen Inhalts vereinbart wird.38

32EuGH

v. 26.1.2012, Rs. C-586/10, NZA 2012, 135; BAG v. 18.7.2012, Az. 7 AZR 443/09, NZA 2012, 1351: bei einer Gesamtdauer von mehr als elf Jahren und dreizehn Befristungen ist missbräuchliche Gestaltung indiziert, eine Gesamtdauer von sieben Jahren und neun Monaten und vier Befristungen dagegen unkritisch. 33BAG v. 3.12.1986, Az. 7 AZR 354/85, NZA 1987, 739 ff. 34Zu den Anforderungen an die Unterrichtung siehe: Erfurter Kommentar/Müller-Glöge, 17. Auflage 2017, § 15 TzBfG Rn. 2 f. 35BAG v. 16.7.2008, Az. 7 AZR 278/07, NZA 2008, 1347. 36BAG v. 21.9.2011, Az.7 AZR 375/10, NZA 2012, 255. 37BAG v. 6.4.2011, Az. 7 AZR 716/09, NZA 2011, 905; dagegen allerdings LAG Baden-Württemberg v. 26.9.2013– Az. 6 Sa 28/13, n.v. 38BAG v. 23.8.2006, Az. 7 AZR 12/06, NZA 2007, 204.

13 Arbeitsrecht

241

13.2.2 Die Durchführung des Arbeitsverhältnisses 13.2.2.1 Leitungs- und Weisungsbefugnis des Arbeitgebers Zur effektiven Gestaltung der Arbeitsprozesse ist der Arbeitgeber grundsätzlich 21 berechtigt, die vom Arbeitnehmer zu erbringende Arbeitsleistung im Einzelfall zu präzisieren und zu bewerten. 13.2.2.1.1 Direktionsrecht Diese Weisungsbefugnis des Arbeitgebers wird rechtlich als Direktionsrecht bezeichnet 22 und ist in § 106 GewO gesetzlich geregelt.39 Gemäß § 106 S. 1 GewO kann der Arbeitgeber Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen bestimmen, sofern die Arbeitsbedingungen nicht durch Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung, Tarifvertrag oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind. Das Direktionsrecht stellt ein Wesensmerkmal des Arbeitsverhältnisses40 und der unternehmerischen Leitungsbefugnis dar. aa) Allgemeine Grenzen

Das Direktionsrecht wird dabei vor allem durch die Vereinbarungen im Arbeitsvertrag 23 beschränkt. Je präziser der Aufgabenbereich und die Tätigkeit des Arbeitnehmers vertraglich umschrieben sind, desto eingeschränkter ist der Arbeitgeber in der Ausübung des Weisungsrechts. Umfasst ist nicht die Befugnis, dem Arbeitnehmer andere als gemäß dem Arbeitsvertrag geschuldete Pflichten aufzuerlegen. In diesen Fällen bedarf es regelmäßig einer vertraglichen Anpassung oder einer Änderungskündigung. Je allgemeiner die vertragliche Leistungsbestimmung im Arbeitsvertrag gehalten ist, desto weiter reicht das Direktionsrecht des Arbeitgebers. Bei der Einstellung für einen fachlich umschriebenen Bereich anhand eines gängigen Berufsbildes (Sekretärin, Verkäufer oder Lagerist) erlaubt das Direktionsrecht dem Arbeitgeber, alle in diesem Bereich anfallenden Arbeiten auf den Arbeitnehmer zu übertragen.41 Welche Arbeitsleistungen dem vereinbarten Berufs- und Tätigkeitsprofil konkret zuzuordnen sind, muss im Einzelfall durch Auslegung und unter Berücksichtigung der Verkehrsanschauung bestimmt werden.42 Das Direktionsrecht kann darüber hinaus auch durch kollektivrechtliche Normen eingeschränkt sein, etwa hinsichtlich bestimmter Eingruppierungsmerkmale. Keinesfalls darf eine Weisung des Arbeitgebers gegen ein gesetzliches Verbot oder die guten Sitten verstoßen.

39BAG

v. 13.6.2007, Az. 5 AZR 564/06, NZA 2007, 974. Kommentar/Preis, 17. Auflage 2017, § 106 GewO Rn. 1. 41LAG Köln v. 26.10.1984, Az. 6 Sa 740/84, NZA 1985, 258. 42Erfurter Kommentar/Preis, 17. Auflage 2017, § 106 GewO Rn. 5. 40Erfurter

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bb) Ausübung nach billigem Ermessen

24 Der Arbeitgeber ist verpflichtet, das Direktionsrecht stets nach billigem Ermessen (§ 315 BGB) auszuüben. Was unter billigem Ermessen im Einzelfall zu verstehen ist, muss anhand einer beiderseitigen Interessenabwägung und des in vergleichbaren Fällen Üblichen im Zeitpunkt der Ausübung des Direktionsrechts festgestellt werden.43 Der Arbeitgeber muss die wesentlichen Umstände des Falles stets sorgfältig abwägen.44 Im Rahmen dessen kann der Arbeitgeber die Lage und den Rahmen der Arbeitszeit vorgeben.45 Dies gilt etwa für die Festsetzung von Nachtschichten.46 Eine besondere Ausprägung des Direktionsrechts ist die Versetzung des Arbeitnehmers. Gemäß § 95 Abs. 3 BetrVG wird unter einer Versetzung die Zuweisung eines anderen Arbeitsbereiches für die Dauer von voraussichtlich mehr als einem Monat verstanden bzw. die erhebliche Änderung von Umständen, unter denen die Arbeit zu leisten ist.47 Auch hier ist die im Rahmen der Ermessensprüfung vorzunehmende Würdigung entscheidend.48 Während die Rechtsprechung bisher davon ausging, dass ein Arbeitnehmer einer Weisung solange Folge zu leisten hat, bis die Unbilligkeit der Weisung rechtskräftig festgestellt wurde.49 So zeichnet sich durch eine Entscheidung des 10. Senats des BAG eine Änderung ab, der die Meinung vertreten möchte, dass einer unbilligen Weisung auch ohne arbeitsgerichtliche Entscheidung nicht gefolgt werden muss. Die Entscheidung des 5. Senats, ob er an seine Auffasung festhalten möchte steht noch aus.50 cc) Erweiterung des Direktionsrechts

25 Die Arbeitsvertragsparteien können den Rahmen des Direktionsrechts einzelvertraglich erweitern. Hierzu kann in den Arbeitsvertrag eine sog. Direktions- oder Versetzungsklausel aufgenommen werden, wonach der Arbeitgeber bei Vorliegen bestimmter betrieblicher Umstände berechtigt ist, dem Arbeitnehmer eine andere Tätigkeit oder einen anderen Arbeitsort zuzuweisen.51 AGB-Klauseln, die dem Arbeitgeber einräumen, dem Arbeitnehmer einseitig eine andere als die vertraglich geschuldete Leistung aufgrund betrieblicher Erfordernisse zuzuweisen, können eine unangemessene Benachteiligung

43BAG

v. 23.9.2004, Az. 6 AZR 567/03, NZA 2005, 359. v. 24.4.1996, Az. 5 AZR 1031/94, NZA 1996, 1088. 45BAG v. 23.9.2004, Az. 6 AZR 567/03, NZA 2005, 359. 46Einzelfälle siehe: Palandt/Grüneberg, BGB, Kommentar, 76. Auflage 2017, § 315 Rn. 8. 47Zur Frage der betrieblichen Mitbestimmung bei der Versetzung gemäß § 99 BetrVG siehe: Rn. 119 ff., C.II.2.c). 48BAG v. 29.10.1997, Az. 5 AZR 573/96, NZA 1998, 329. 49BAG v. 22.2.2012 – 5 AZR 249/11, NZA 2012, 858. 50BAG 16.7.2017 – 10 AZR 330/16, ArbuR 2017, 317. 51Hierzu ausführlich: Hümmerich/Reufels/Schiefer, Gestaltung von Arbeitsverträgen, 3. Auflage 2015, § 1 Rn. 3888 ff. 44BAG

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gemäß § 307 BGB darstellen, falls nicht gewährleistet ist, dass die Zuweisung keine minderwertige Arbeit zur Folge hat.52 Auch kollektivrechtliche Regelungen können Erweiterungen des Direktionsrechts zum Inhalt haben. 13.2.2.1.2 Abmahnung Üblicher Ausdruck des vertraglichen Rügerechts auf Seiten des Arbeitgebers ist die 26 Abmahnung. Konkret verdeutlicht der Arbeitgeber mit der Abmahnung dem Arbeitnehmer dessen vertraglich geschuldete Arbeitsleistung und weist unmissverständlich auf eine Verletzung dieser Pflicht hin. Des Weiteren fordert er ihn zu vertragsgetreuem Verhalten auf und stellt rechtliche Konsequenzen im Falle des Nichterfüllens, insbesondere die Kündigung, in Aussicht.53

13.2.2.2 Mindestlohn Seit dem 1. Januar 2015 gilt der gesetzliche Mindestlohn in Höhe von derzeit EUR 8,84 26a pro Zeitstunde, § 1 Abs. 2 MiLoG. Mit dem Mindestlohngesetz ist erstmals ein allgemeingültiger branchenübergreifender gesetzlicher Sockel hinsichtlich des Entgelts für Arbeitsleistung in Kraft getreten. Der Mindestlohn muss pro tatsächlich geleisteter Arbeitsstunde gezahlt werden. Wenn weder eine konkrete Arbeitszeit noch ein festes Monatsgehalt vereinbart wird, darf der effektive Bruttostundenlohn umgerechnet nicht unter dem Mindestlohn liegen.54 Dies gilt auch für geringfügige Beschäftigungen. Sonderzahlungen sind dann nicht auf den Mindestlohn anzurechnen, wenn der Arbeitgeber sie ohne Rücksicht auf die tatsächliche Arbeitsleistung erbringt oder sie auf einer gesetzlichen Zweckbestimmung beruhen (z. B. § 6 Abs. 5 ArbZG, Nachtarbeit).55 Einzelheiten sind hier – mangels entsprechender Judikate des BAG - noch streitig.56 Einigkeit besteht immerhin darin, dass Zahlungen des Arbeitgebers, die keinen Vergütungscharakter haben, nicht auf den Mindestlohn anzurechnen sind. Dies sind z. B. vermögenswirksame Leistungen, Beiträge zur betrieblichen Altersversorgung (soweit nicht im Wege der Entgeltumwandlung nach § 1a BetrAVG geleistet) und Aufwandsentschädigungen des Arbeitnehmers.57 Der Mindestlohn gilt für „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“, § 22 Abs. 1 S. 1 MiLoG.

52BAG

v. 9.5.2006, Az. 9 AZR 424/05, NZA 2007, 145. detaillierte Darstellung siehe im Rahmen der verhaltensbedingten Kündigung unter Rn. 56 ff., B.III.2.c).aa). 54Erfurter Kommentar/Franzen, 17. Auflage 2017, § 1 MiLoG Rn. 4. 55BAG v. 25.5.2016 - 5 AZR 135/16, NZA 2016, 1327. 56Für eine Übersicht des Streitstandes s. Weigert, NZA 2017, 745. 57Erfurter Kommentar/Franzen § 1 MiLoG Rn. 17; Lembke NZA 2015, 70, 76; Weigert NZA 2017, 745, 749. 53Eine

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Vom Mindestlohn nicht erfasst sind Auszubildende und „andere Vertragsverhältnisse“ i.S.d. § 26 BBiG. Ferner gilt der Mindestlohn nicht für ehrenamtliche Tätigkeiten, für Volontäre und für Personen unter 18 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Langzeitarbeitslose i.S.d. § 18 Abs. 1 SGB III haben in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung ebenfalls keinen Anspruch auf den Mindestlohn. Praktikanten im Sinne von § 26 BBiG sind Arbeitnehmer im Sinne des Mindestlohngesetzes. Demnach ist ihnen grundsätzlich der Mindestlohn zu zahlen. Dies gilt nicht für die Durchführung (i) eines Pflichtpraktikums, (ii) eines Orientierungspraktikums von bis zu drei Monaten zur Aufnahme einer Ausbildung oder eines Studiums, (iii) eines ausbildungs- oder studienbegleitenden Praktikums von bis zu drei Monaten, sofern nicht zuvor ein derartiges Praktikum bei demselben Unternehmen durchgeführt wurde und (iv) eines Wiedereingliederungspraktikums nach Arbeitslosigkeit. Tarifverträge repräsentativer Tarifvertragsparteien gehen dem Mindestlohn gemäß § 24 Abs. 1 MiLoG bis zum 31. Dezember 2017 vor, wenn sie für alle unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallende Arbeitgeber mit Sitz im In- oder Ausland sowie deren Arbeitnehmer verbindlich gemacht worden sind. Eine Mindestlohnkommission wurde gemäß § 9 MiLoG eingerichtet. Sie berät über eine Anpassung der Höhe des Mindestlohns. Die Bundesregierung kann durch Rechtsvorordnung diesen Vorschlag umsetzen. Sie tagte erstmals am 28. Juni 2016 mit Wirkung zum 1. Januar 2017, danach alle zwei Jahre.58

13.2.2.3 Lohnfortzahlung im Krankheitsfall 27 Eine Ausnahme vom Grundsatz „Ohne Arbeit kein Lohn“ bildet die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG). Demnach hat der Arbeitnehmer einen Anspruch auf Fortzahlung der Vergütung an Feiertagen und bei Krankheit, wenn er schuldlos an der Erbringung der Arbeitsleistung gehindert ist. Das gilt auch dann, wenn die Arbeitsunfähigkeit infolge der Spende von Organen oder Geweben eintritt, § 3a EFZG. 13.2.2.3.1 Voraussetzungen 28 Zunächst ist gemäß § 3 Abs. 3 EFZG erforderlich, dass das Arbeitsverhältnis mindestens vier Wochen ununterbrochen bestanden hat. Des Weiteren muss die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit die alleinige Ursache für den Ausfall der Arbeitsleistung sein.59 Zudem darf den Arbeitnehmer an der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit kein Verschulden treffen. Dabei sind losgelöst vom Verschuldensmaßstab des § 276 BGB nur solche Verhaltensweisen als schuldhaft einzustufen, die einen groben Verstoß gegen die eigenen Interessen eines verständigen Menschen darstellen.60 Daher erfüllt nur

58Erfurter

Kommentar/Franzen, 17. Auflage 2017, § 9 MiLoG Rn. 1. v. 26.6.1996, Az. 5 AZR 872/94, NZA 1996, 1087. 60BAG v. 11.3.1987, Az. 5 AZR 739/85, NJW 1987, 2253. 59BAG

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besonders leichtsinniges und vorsätzliches Verhalten den Tatbestand. Ein solcher Verstoß liegt beispielsweise bei einem ausschließlich infolge von Alkoholkonsum verursachten Verkehrsunfall vor.61 Im Falle der Arbeitsunfähigkeit wird die Vergütung gemäß § 3 EFZG für maximal sechs Wochen fortbezahlt. Dabei handelt es sich um den originären Arbeitsvergütungsanspruch und nicht um einen Lohnersatz.62 13.2.2.3.2 Höhe des Entgelts Die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts bemisst sich gemäß § 4 Abs. 1 EFZG. Dem 29 Arbeitnehmer ist das bei der für ihn maßgeblichen regelmäßigen Arbeitszeit zustehende Arbeitsentgelt im Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit fortzuzahlen. Gemäß § 4 Abs. 1a EFZG bleiben bei der Berechnung im Krankheitszeitraum potentiell angefallene Überstunden und anderweitige Zusatzvergütungen außer Betracht.

13.2.2.4 Urlaub 13.2.2.4.1 Urlaubsanspruch Ein Arbeitnehmer hat pro Kalenderjahr einen gesetzlichen Anspruch auf mindestens 30 24 Tage Erholungsurlaub bei einer 6-Tage-Woche (§ 3 Abs. 1 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG)). Dies entspricht bei einer üblichen 5-Tage-Woche einem Urlaubsanspruch von 20 Tagen. In Tarif- und Individualverträgen werden üblicherweise darüber hinausgehende Urlaubsvereinbarungen getroffen. Der Zweck des Urlaubes ist die Erholung. Dem Arbeitnehmer ist es gemäß § 8 BUrlG daher untersagt, während des Urlaubs einer diesem Zweck zuwiderlaufende Erwerbstätigkeit nachzugehen. Der volle Urlaubsanspruch entsteht gemäß § 4 BUrlG erst nach Ablauf der sechsmonatigen Wartezeit. In § 5 Abs. 1 BUrlG sind des Weiteren die verschiedenen Konstellationen des Teilurlaubs aufgeführt. 13.2.2.4.2 Urlaubsgewährung Gemäß § 7 Abs. 1 BUrlG hat der Arbeitgeber bei der zeitlichen Festlegung des Urlaubs 31 die Wünsche des Arbeitnehmers zu berücksichtigen, sofern dem nicht dringende betriebliche Belange oder kollidierende Urlaubswünsche anderer Arbeitnehmer entgegenstehen. Hierbei hat der Arbeitgeber insbesondere soziale Gesichtspunkte, wie z. B. schulpflichtige Kinder zu berücksichtigen. Als dringender betrieblicher Belang ist nicht jede Störung des Betriebsablaufs anzusehen, denn diese treten bei Abwesenheit eines Arbeitnehmers regelmäßig auf.63

61vgl.

BAG v. 23.11.1971, Az. 1 AZR 388/70, AP LohnFG § 1 Nr. 8. v. 16.1.2001, Az. 5 AZR 430/00, NZA 2002, 746. 63Mit Beispielen: Erfurter Kommentar/Gallner, 17. Auflage 2017, § 7 BUrlG, Rn. 18. 62BAG

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13.2.2.4.3 Urlaubsentgelt 32 Gemäß § 1 BUrlG besteht während des Urlaubszeitraums ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Das Urlaubsentgelt bemisst sich gemäß § 11 Abs. 1 BUrlG nach dem durchschnittlichen Arbeitsverdienst, den der Arbeitnehmer in den letzten 13 Wochen vor Urlaubsbeginn erzielt hat, mit Ausnahme der zusätzlich bezahlten Überstunden. Entscheidend ist im Sinne des Entgeltausfallprinzips der unter normalen Umständen erzielte Bruttolohn. Dabei sind auch über die Grundbezüge hinausgehende Leistungen des Arbeitgebers wie Gewinnbeteiligungen und Gratifikationen zu berücksichtigen. Das Urlaubsentgelt ist strikt vom Urlaubsgeld zu unterscheiden. Bei letzterem handelt es sich um eine Zusatzleistung. 13.2.2.4.4 Urlaubsabgeltung 33 Wenn der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden kann, steht dem Arbeitnehmer nach § 7 Abs. 4 BUrlG ein Anspruch auf Urlaubsabgeltung zu. Während des Arbeitsverhältnisses ist eine Abgeltung des Urlaubsanspruchs unzulässig. Grund hierfür ist wiederum der beim Urlaub maßgebliche Erholungsaspekt. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG64 war der Urlaubsabgeltungsanspruch in Abhängigkeit zum gesetzlichen Urlaubsanspruch bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraumes (31.3. des Folgejahres) befristet. Der EuGH65 entschied, dass ein solcher Verfall des Urlaubsanspruchs nur erfolgen dürfe, wenn der Arbeitnehmer auch die Möglichkeit gehabt habe, den Anspruch auszuüben. Dies sei bei einer Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraumes nicht der Fall. Diese Entscheidung setzte das BAG66 um und entschied, dass der gesetzliche Urlaubsanspruch nicht erlösche, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraumes arbeitsunfähig erkrankt sei. Es übertrug dieses Ergebnis auch auf den übergesetzlichen Urlaub, soweit nicht eine eindeutige Differenzierung zwischen gesetzlichem und übergesetzlichem Urlaub erfolgt ist. Hierdurch entstanden bei Langzeiterkrankungen erhebliche Kostenrisiken für Arbeitgeber. Sodann nuancierte der EuGH67 seine zuvor getroffene Entscheidung dahin gehend, dass der Übertragungszeitraum für Urlaub, der während mehrerer Bezugszeiträume infolge Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers nicht genommen werden konnte, durch Tarifvertrag und wohl auch einzelvertraglich beschränkt werden könne. Ein Übertragungszeitraum, der die Dauer des Bezugszeitraumes, für den er gewährt wird, deutlich überschreitet, werde dem Erholungszweck nicht mehr gerecht.68 Das BAG hat § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG nun dahingehend ausgelegt,

64Siehe

nur BAG v. 21.6.2005, Az. 9 AZR 200/04, NZA 2006, 232. v. 20.1.2009 („Schultz-Hoff“), Rs. C-350/06, NZA 2009, 135. 66BAG v. 24.3.2009, Az. 9 AZR 983/07, NZA 2009, 538. 67EuGH v. 22.11.2011, Rs. C-214/10, NZA 2011, 1333. 68Eine tarifliche Regelung, die einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsieht, sei wirksam. 65EuGH

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dass der Urlaubs- und damit auch der Urlaubsabgeltungsanspruch nach § 7 Abs. 4 BUrlG nach einem Übertragungszeitraum von 15 Monaten und damit am 31. 3. des zweiten auf das jeweilige Urlaubsjahr folgende Jahres verfalle.69

13.2.2.5 Elternzeit Berufstätige Eltern können unter den Voraussetzungen der §§ 15 ff. BEEG Elternzeit 34 beanspruchen, um Beruf und Kinderbetreuung besser in Einklang zu bringen. Gemäß § 15 Abs. 2 S. 6 BEEG handelt es sich um einen unabdingbaren, privatrechtlichen Anspruch des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber mit der Folge unbezahlter Freistellung, der auch nicht aus dringenden betrieblichen Gründen abgelehnt werden kann. 13.2.2.5.1 Voraussetzungen Erforderlich ist gemäß § 15 Abs. 1 BEEG eine enge personale Beziehung zum Kind, 35 nicht jedoch die biologische Elterneigenschaft. Der Arbeitnehmer muss die Erziehung und Betreuung des Kindes weiterhin selbst übernehmen. Zudem muss der Arbeitnehmer gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 BEEG sein Verlangen nach Elternzeit rechtzeitig, das heißt für den Zeitraum bis zum vollendeten dritten Lebensjahr des Kindes spätestens sieben Wochen, für den Zeitraum zwischen dem dritten Geburtstag und dem vollendeten achten Lebensjahr des Kindes spätestens 13 Wochen vor Beginn der Elternzeit schriftlich äußern. Versäumt der Arbeitnehmer dies, so verschiebt sich der Beginn entsprechend, wenn nicht eine Ausnahme gemäß § 16 Abs. 1 S. 3 BEEG greift. 13.2.2.5.2 Dauer und Lage der Elternzeit Der Anspruch besteht gemäß § 15 Abs. 2 S. 1 BEEG grundsätzlich bis zur Vollendung 36 des dritten Lebensjahres eines Kindes. Gemäß § 15 Abs. 2 S.2 BEEG kann zwischen dem dritten Geburtstag und dem vollendeten achten Lebensjahr des Kindes ein Anteil von bis zu 24 Monaten in Anspruch genommen werden. Wird das Arbeitsverhältnis in der laufenden Elternzeit beendet, kann der verbliebene Rest des Anspruchs auch gegenüber einem neuen Arbeitgeber geltend gemacht werden.70 Gemäß § 16 Abs. 1 S. 6 BEEG besteht für jeweils beide Elternteile die Möglichkeit, die Elternzeit auf drei Zeitabschnitte zu verteilen. 13.2.2.5.3 Modelle der Elternzeit Für alle Geburten ab dem 1. Juli 2015 gibt es neben dem bisherigen Elterngeld (nun 36a Basiselterngeld) das Elterngeld Plus sowie einen Partnerschaftsbonus. Gemäß § 4 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BEEG erhalten Mütter und Väter in den ersten 14 Lebensmonaten des Kindes eine einkommensabhängige Unterstützung, wenn sie vorrangig das Kind betreuen und deshalb nicht voll erwerbstätig sind (Basiselterngeld).

69BAG 70BAG

v. 7.8.2012, Az. 9 AZR 353/10, NZA 2012, 1216. v. 11.3.1999, Az. 2 AZR 19/98, NZA 1999, 1047.

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Mit dem Elterngeld Plus haben Eltern, die nach der Geburt des Kindes in Teilzeit arbeiten, die Möglichkeit, insgesamt doppelt so lange Elterngeld (also insgesamt 28 Monate) in Anspruch zu nehmen, § 4 Abs. 3 BEEG. Es besteht die Wahlmöglichkeit, ob sie einen Monat Basiselterngeld oder zwei Elterngeld- Plus-Monate in Anspruch nehmen, wobei ein Elterngeld- Plus-Monat höchstens die Hälfte eines Monats des Basiselterngeldes beträgt. Zur Förderung von Elternpaaren, die sich gemeinsam um das Kind kümmern, wird zusätzlich der sog. Partnerschaftsbonus eingeführt, § 4 Abs. 4 BEEG. Danach können Elternpaare, die beide in vier aufeinanderfolgenden Monaten jeweils zwischen 25 und 30 Wochenstunden im Monat arbeiten, vier zusätzliche Elterngeld-Plus-Monate je Elternteil in Anspruch nehmen. Alleinerziehende sollen diesen Anspruch gleichermaßen haben. Für Eltern von Mehrlingen wird nunmehr gesetzlich klargestellt, dass nur ein Anspruch auf Elterngeld pro Geburt besteht, § 1 Abs. 1 S. 2 BEEG. Für jedes Mehrlingsgeschwisterkind erfolgt ein Zuschlag von 300 EUR.

13.2.2.6 Pflegezeit und Familienpflegezeit 36b Arbeitnehmer, die ihre Angehörigen pflegen sollen zeitliche Flexibilität erhalten. Das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf ergänzt das Pflegezeitgesetz sowie das Familienpflegezeitgesetz und verzahnt beide besser miteinander. Im Falle einer akuten Pflegesituation haben Arbeitnehmer nun die Möglichkeit, bis zu zehn Arbeitstage ohne Ankündigungsfrist der Arbeit fernzubleiben, § 2 Abs. 1 PflegeZG. In dieser Zeit wird ein Pflegeunterstützungsgeld durch die Pflegeversicherung des Angehörigen nach § 44a Abs. 3 SGB XI gezahlt, § 2 Abs. 3 PflegeZG. Pflegen Arbeitnehmer einen pflegebedürftigen nahen Angehörigen in häuslicher Umgebung, haben sie in Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten einen Anspruch darauf, bis zu sechs Monate teilweise oder ganz aus dem Job auszusteigen, § 3 Abs. 1 PflegeZG. Dies gilt auch für die Betreuung minderjähriger, pflegebedürftiger naher Angehöriger in außerhäuslicher Umgebung, § 3 Abs. 5 PflegeZG. Zur Kompensation des Einkommensverlustes besteht die Möglichkeit ein zinsloses Darlehen beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben zu beantragen, § 3 FPfZG. Dasselbe gilt für die Begleitung eines nahen Angehörigen in der letzten Lebensphase. Der berufliche (Teil-)Ausstieg darf hierbei bis zu drei Monate betragen, § 3 Abs. 6 PflegeZG. Im Falle einer längerfristigen Pflegesituation naher Angehöriger hat der Arbeitnehmer einen Anspruch auf eine teilweise Freistellung von bis zu 24 Monaten, § 2 Abs. 1 FPfZG. Hierbei wird die Mindestarbeitszeit auf 15 Wochenstunden festgesetzt und die Möglichkeit eines zinslosen Darlehens gewährt.

13.2.2.7 Mutterschutzgesetz Das Mutterschutzgesetz (MuSchG) dient dem Schutz von schwangeren und stillenden Frauen sowie deren Kindern. Um den Mutterschutz an die moderne Arbeitswelt anzupassen, hat der Gesetzgeber das MuSchG mit Wirkung zum 1.1.2018

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grundlegend reformiert. Ab dem 1.1.2018 wird das MuSchG nicht nur auf Arbeitnehmerinnen anwendbar sein, sondern nach § 1 Abs. 2 MuSchG n. F. u. a. auf Auszubildende, Praktikantinnen, Schülerinnen und Studentinnen. Da nach neuem Recht an den weiten Begriff des Beschäftigungsverhältnisses aus § 7 SGB VI angeknüpft wird, sind auch Fremdgeschäftsführerinnen (soweit sie sozialversicherungspflichtig sind) vom Anwendungsbereich umfasst. Um den Gesundheitsschutz der Mutter zu gewährleisten, gelten sowohl nach altem als auch nach neuem Recht Schutzfristen von 6 Wochen vor und 8 Wochen nach der Entbindung, in der eine Mutter nicht beschäftigt werden darf. Eine verlängerte Schutzfrist von 12 Wochen gilt nach Frühgeburten oder der Geburt eines behinderten Kindes. Weiter normiert § 4 MuSchG ein Beschäftigungsverbot der Mutter unter bestimmten Umständen. Das Beschäftigungsverbot, wird durch die Reform dahingehend modifiziert, dass ein solches nicht mehr gegen den Willen der Mutter ausgesprochen werden kann. Hierfür führt das Gesetz den Begriff der „unabwendbaren Gefährdung“ ein. Liegt eine solche vor, muss der Arbeitgeber zunächst versuchen die Arbeitsbedingungen der Mutter so anzupassen, dass eine Gefährdung ausgeschlossen ist. Erst wenn eine solche Anpassung (ggf. durch Versetzung) nicht möglich ist, kann der Arbeitgeber ein betriebliches Arbeitsverbot aussprechen. Sowohl nach altem als auch nach neuem Recht besteht für die Mutter ein Nachtarbeitsverbot in der Zeit zwischen 20:00 und 6:00 Uhr. Nach neuem Recht kann hiervon aber in dergestalt abgewichen werden, dass eine Beschäftigung bis 22:00 Uhr erlaubt ist, sofern hierfür ein behördliches Genehmigungsverfahren durchlaufen wird, die Mutter einwilligt, ein Attest die Unbedenklichkeit der Nachtarbeit bescheinigt und keine Alleinarbeit geleistet wird. Verweigert die Behörde nicht innerhalb von 6 Wochen nach Antragstellung die Zustimmung, gilt diese als erteilt. Weiter besteht für die Mutter besonderer Kündigungsschutz (s. hierzu B,III, 2, b, dd)

13.2.2.8 Teilzeitarbeitsverhältnisse Als Folge der allgemeinen Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und zur Erzielung 37 beschäftigungspolitischer Effekte normiert das TzBfG einen Anspruch des Arbeitnehmers auf Verkürzung der Arbeitszeit. Damit ist der Arbeitnehmer berechtigt, einseitig die vormals vereinbarten Arbeitsbedingungen zu verändern. Eine Teilzeitbeschäftigung eines Arbeitnehmers liegt vor, wenn dessen regelmäßige Wochenarbeitszeit kürzer ist als die eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers (§ 2 Abs. 1 TzBfG). Ein Gesetzgebungsverfahren zur Einführung eines Anspruchs auf Rückkehr aus der Teilzeit zurück in die Vollzeit ist im Jahr 2017 gescheitert. 13.2.2.8.1 Anspruch auf Verringerung der Arbeitszeit gemäß § 8 TzBfG Voraussetzungen für einen Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung ist, dass (i) gemäß § 8 38 Abs. 1 TzBfG das Arbeitsverhältnis länger als sechs Monate ununterbrochen bestanden hat, (ii) gemäß § 8 Abs. 7 TzBfG der Arbeitgeber in der Regel mehr als 15 ­Arbeitnehmer

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im Unternehmen beschäftigt71 und (iii) der Anspruch gemäß § 8 Abs. 2 TzBfG vom Arbeitnehmer spätestens drei Monate vor dem Zeitpunkt der Verringerung geltend gemacht wird. Zum Inhalt der Geltendmachung gehört dabei die Angabe eines konkreten Datums, um dem Arbeitgeber eine vernünftige Personalplanung zu ermöglichen. Zudem muss die Verteilung der Arbeitszeit mit dem Arbeitgeber beraten werden. Grundsätzlich sind mit § 8 TzBfG jegliche Modelle und Formen der Arbeitszeitverringerung denkbar.72 13.2.2.8.2 Kein entgegenstehender betrieblicher Grund 39 Gemäß § 8 Abs. 4 TzBfG kann der Arbeitgeber den Teilzeitwunsch ablehnen, wenn diesem betriebliche Gründe entgegenstehen. Ein entgegenstehender betrieblicher Grund liegt vor, wenn die Änderung der Arbeitszeit zu einer wesentlichen Beeinträchtigung der Organisation, des Arbeitsablaufs oder aber der Sicherheit im Betrieb führt bzw. unverhältnismäßige Kosten verursacht. Es ist grundsätzlich ausreichend, wenn der Arbeitgeber hinreichend gewichtige und nachvollziehbare Gründe vorbringt.73 Allerdings reicht es nicht aus, die Ablehnung mit einer unterschiedlichen Vorstellung über eine richtige Arbeitszeitverteilung zu begründen. Als Beispiele74 für einen Grund im Sinne des § 8 Abs. 4 TzBfG kommen in Betracht, wenn besondere persönliche Kontakte des Arbeitnehmers eine durchgängige Anwesenheit unter Berücksichtigung seiner Aufgabenstellung im Betrieb notwendig machen75 oder unverhältnismäßige Kosten für die Einarbeitung einer Ersatzkraft entstehen würden76. Obwohl die Rechtsprechung diverse Gründe als an sich tauglich anerkannt hat77, sind die praktischen Anforderungen an den arbeitgeberseitigen Einwand sehr hoch einzustufen. 13.2.2.8.3 Verfahren 40 Gemäß § 8 Abs. 2 TzBfG muss der Arbeitnehmer bei seinem Verlangen konkrete Angaben zu Beginn, Verringerungsumfang und Lage der gewünschten Arbeitszeit machen.78 Die Erklärung kann formfrei abgegeben werden (§ 22 TzBfG). Sofern der Arbeitnehmer sein Verlangen rechtzeitig geltend gemacht hat, ist nach Maßgabe der § 8 Abs. 3, 4 TzBfG zunächst nach einer einvernehmlichen Lösung zwischen den Arbeitsvertragsparteien zu suchen. Bleibt eine Einigung aus, so hat der Arbeitgeber die ablehnende Entscheidung gemäß § 8 Abs. 5 S. 1 TzBfG spätestens einen Monat 71Nicht

der Betriebsbegriff im Sinne des BetrVG ist hier entscheidend, sondern eine unternehmensbezogene Betrachtung. 72BAG v. 16.12.2008, Az. 9 AZR 893/07, NZA 2009, 565. 73BAG v. 18.2.2003, Az. 9 AZR 164/02, BB 2003, 2629. 74Siehe hierzu: Lorenz NZA-RR 2006, 281, 284; Hunold NZA-RR 2004, 225, 226. 75BAG v. 30.9.2003, Az. 9 AZR 665/02, NZA 2004, 382. 76BAG v. 21.6.2005, Az. 9 AZR 409/04, BB 2006, 1169. 77Vgl. etwa BAG v. 13.10.2009, Az. 9 AZR 910/08, NZA 2010, 339; BAG v. 9.12.2003, Az. 9 AZR 16/03, NZA 2004, 921. 78BAG v. 16.10.2007, Az. 9 AZR 239/07, NZA 2008, 289.

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vor dem angestrebten Beginn der Änderung dem Arbeitnehmer schriftlich mitzuteilen. Kommt der Arbeitgeber dieser Pflicht nicht nach, enthält § 8 Abs. 5 S. 2, 3 TzBfG eine Zustimmungsfiktion entsprechend den Wünschen des Arbeitnehmers. 13.2.2.8.4 Diskriminierungsverbot Bei Teilzeitverträgen besteht – wie bei der Befristung – ein Diskriminierungsverbot, 41 d. h. ein teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer darf wegen der Teilzeitarbeit nicht schlechter behandelt werden als ein vergleichbarer vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer, es sei denn, dass sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen (§ 4 Abs. 1 TzBfG). Zudem besteht ein besonderer Kündigungsschutz gemäß § 11 TzBfG; demnach ist eine Kündigung wegen der Weigerung des Arbeitnehmers, von einem Vollzeit- in ein Teilzeitarbeitsverhältnis oder umgekehrt zu wechseln, unwirksam. Der Arbeitgeber ist vielmehr gemäß § 6 TzBfG verpflichtet, die gewünschte Teilzeit zu fördern. 13.2.2.8.5 e) Besondere Formen der Teilzeitbeschäftigung aa) Anspruch auf Teilzeitarbeit während der Elternzeit

Ein besonderer Anspruch auf Teilzeitarbeit ergibt sich aus § 15 Abs. 5–7 BEEG wäh- 42 rend der Elternzeit. Hiernach kann der Arbeitgeber das Teilzeitverlangen nur ablehnen, wenn dem Anspruch dringende betriebliche Gründe entgegenstehen.79 Im Unterschied zu einfachen betrieblichen Gründen80 ist hierbei zu fordern, dass es sich um objektiv gewichtige Umstände handelt, die der gewünschten Arbeitszeitregelung zwingend entgegenstehen und verlangen, die bestehende Arbeitszeitregelung beizubehalten.81 Im Ergebnis muss der Wunsch nach Teilzeitarbeit eine über die Maße hohe Belastung für den Arbeitgeber darstellen.82 Insofern ist ein noch strengerer Maßstab als im Rahmen des § 8 TzBfG anzulegen.83 bb) Schwerbehinderte

Gemäß § 81 Abs. 5 S. 2 SGB IX kann der Arbeitnehmer eine Verkürzung der Arbeitszeit 43 verlangen, wenn diese nach Art und Schwere seiner Behinderung notwendig ist. Eine § 8 Abs. 4 TzBfG entsprechende Regelung existiert hier nicht, was bedeutet, dass es einer Zustimmung des Arbeitgebers nicht bedarf.84

79Einzelfälle siehe etwa unter: H/W/K/Gaul, Arbeitsrecht, Kommentar, 7. Auflage 2016, § 15 BEEG Rn. 17. 80Vgl. B.II.5.b), Rn. 39. 81BAG v. 18.3.2003, Az. 9 AZR 126/02, BB 2004, 1568. 82Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Heenen, Bd. 2, 3. Auflage 2009, § 308 Rn. 7. 83Zur Abgrenzung betriebliche Gründe – dringende betriebliche Gründe siehe: Münchener Kommentar zum BGB/Müller-Glöge, Bd. 4, 6. Auflage 2012, § 8 TzBfG Rn. 26 ff. 84BAG v. 14.10.2003, Az. 9 AZR 100/03, NZA 2004, 614.

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13.2.2.9 Ansprüche des Arbeitnehmers aus betrieblicher Übung 44 Ein Anspruch auf finanzielle Leistungen oder andere Vorteile kann sich für einen Arbeitnehmer auch aus einer sog. betrieblichen Übung ergeben. Die betriebliche Übung stellt eine besondere Rechtsquelle des Arbeitsrechts dar. 13.2.2.9.1 Begriff/Voraussetzungen 45 Als betriebliche Übung wird die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen durch den Arbeitgeber bezeichnet, aus denen die Arbeitnehmer schließen dürfen, dass ihnen eine Leistung oder Vergünstigung auf Dauer gewährt werden solle.85 Voraussetzung für das Entstehen einer betrieblichen Übung ist, dass der Arbeitgeber über mehrere Jahre eine Leistung freiwillig gewährt (z. B. Weihnachtsgeld, freier Rosenmontag).86 In dieser Verhaltensweise kann eine konkludente Willenserklärung des Arbeitgebers gesehen werden, die vom Arbeitnehmer gemäß § 151 BGB stillschweigend angenommen wird. Die Beurteilung erfolgt im Wege einer einzelfallbezogenen Gesamtabwägung, in die Dauer, Zahl der Anwendungsfälle, Art und Inhalt der Leistungen sowie die Bedeutung der Leistung für die Arbeitnehmer einfließen.87 Entscheidend ist, dass der Arbeitnehmer dem Verhalten des Arbeitgebers unter Berücksichtigung aller Begleitumstände gemäß §§ 133, 157 BGB einen zukünftigen Verpflichtungswillen entnehmen kann.88 Eine freiwillige Leistung ist hingegen nicht gegeben, wenn sich ein Anspruch der Arbeitnehmer schon aus einer anderen Rechtsquelle des Arbeitsrechts ergeben würde.89 Hinsichtlich der Dauerhaftigkeit dürfte in der Regel, jedenfalls bei jährlichen Einmalleistungen, nach dreimaliger Gewährung die Voraussetzung erfüllt sein. Ein Anspruch ist ausgeschlossen, wenn der Arbeitgeber unter Freiwilligkeitsvorbehalt leistet. Entscheidend ist dabei, dass er deutlich macht, im nächsten Jahr erneut über die Frage der zusätzlichen Leistung zu entscheiden.90 Gleichzeitig wird der Arbeitnehmer jedoch durch einen vertraglichen Freiwilligkeitsvorbehalt, der alle zukünftigen Leistungen unabhängig von ihrer Art und ihrem Entstehungsgrund erfasst, unangemessen benachteiligt; eine solche allgemein gehaltene Klausel ist deshalb unwirksam.91 Darüber hinaus können auch doppelte – Schriftformabreden in formularmäßigen Arbeitsverträgen das Entstehen der betrieblichen Übung nicht mehr ohne Weiteres verhindern.92 Hintergrund ist, dass eine doppelte Schriftformklausel beim Arbeitnehmer den Eindruck

85BAG

v. 17.11.2009, Az. 9 AZR 765/08, NZA-RR 2010, 293. v. 14.8.1996, Az. 10 AZR 69/96, NJW 1997, 212. 87BAG v. 28.6.2006, Az. 10 AZR 385/05, NZA 2006, 1174. 88BAG v. 31.7.2007, Az. 3 AZR 189/06, NZA 2008, 1320. 89BAG v. 26.9.2007, Az. 5 AZR 808/06, NZA 2008, 179. 90BAG v. 18.3.2009, Az. 10 AZR 289/08, NZA 2009, 535. 91BAG v. 14.9.2011, Az. 10 AZR 526/10, NZA 2012, 81. 92Grundsätzlich sind formularmäßige Arbeitsverträge an den §§ 305 BGB ff. zu messen. Zum ausführlichen Prüfungsschema siehe etwa: Hümmerich/Reufels, Gestaltung von Arbeitsverträgen, 2. Auflage 2011, § 1 Rn. 168 ff. 86BAG

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erwecken kann, jede spätere abweichende mündliche Abrede sei nichtig. Gemäß § 305b BGB haben individuelle Vertragsabreden jedoch stets Vorrang gegenüber Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Eine in diesem Sinne formulierte Klausel stellt daher eine unangemessene Benachteiligung des Arbeitnehmers als Vertragspartner dar und ist gemäß § 307 Abs. 1 BGB unwirksam.93 Für die praktische Formulierung von Arbeitsverträgen ist daher anzuraten, bei einer doppelten Schriftformklausel Individualabreden im Sinne des § 305b BGB ausdrücklich auszunehmen.94 13.2.2.9.2 Änderung betrieblicher Übungen Der aus einer praktizierten betrieblichen Übung entstandene Anspruch kann grundsätz- 46 lich nicht einseitig durch den Arbeitgeber beseitigt werden. Vielmehr bedarf es einer ergänzenden vertraglichen Vereinbarung oder einer Änderungskündigung gemäß §§ 1, 2 KSchG.95 Auch durch eine andere, für den Arbeitnehmer ungünstige betriebliche Übung (sog. negative betriebliche Übung) ist eine Änderung nach jüngerer Rechtsprechung nicht mehr möglich.96

13.2.3 Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses 13.2.3.1 Aufhebungsvertrag Das Arbeitsverhältnis kann zunächst durch einen Aufhebungsvertrag einvernehmlich 47 durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer beendet werden. 13.2.3.1.1 Voraussetzungen Der Aufhebungsvertrag bedarf gemäß § 623 BGB der Schriftform. Wenn eine Dro- 48 hung des Arbeitgebers mit ordentlicher oder außerordentlicher Kündigung zu dem Abschluss eines Aufhebungsvertrages geführt hat, hat der Arbeitnehmer die Möglichkeit, den Vertrag wegen widerrechtlicher Drohung gemäß § 123 Abs. 1 BGB anzufechten. Die Drohung ist widerrechtlich, wenn ein verständiger Arbeitgeber eine Kündigung nicht ernsthaft in Erwägung ziehen durfte.97 Dabei hat der Arbeitgeber einen gewissen Beurteilungsspielraum. Durfte der Arbeitgeber eine Kündigung in Aussicht stellen, scheidet eine Anfechtung aus.

93BAG

v. 20.5.2008, Az. 9 AZR 382/07, BB 2008, 2242. Gestaltung von Arbeitsverträgen, 3. Auflage 2015, § 1 Rn. 3205 ff. sowie ein Formulierungsbeispiel: Rn. 3228 ff. 95LAG Berlin v. 11.5.1998, Az. 9 Sa 14/98, NZA-RR 1998, 498. 96BAG v. 18.3.2009, Az. 10 AZR 281/08, NZA 2009, 601. 97BAG v. 30.9.1993, Az. 2 AZR 268/93, NZA 1994, 209. 94Hümmerich/Reufels/Schiefer,

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13.2.3.1.2 Vorteile/sozialversicherungsrechtliche Konsequenzen 49 Für den Arbeitgeber ist ein Aufhebungsvertrag aus verschiedenen Gründen von Vorteil: Zum einen ist kein Kündigungsgrund erforderlich und das Arbeitsverhältnis kann auch ohne die Einhaltung gesetzlicher, tariflicher oder einzelvertraglicher Kündigungsfristen beendet werden. Zum anderen ist eine Beteiligung des Betriebsrates nicht erforderlich. Der Aufhebungsvertrag kann aber auch im Sinne des Arbeitnehmers sein, denn mit seinem Abschluss lassen sich Kündigungsfristen abkürzen, die der sofortigen Arbeitsaufnahme bei einem anderen Arbeitgeber entgegenstehen. In der Regel ist der Aufhebungsvertrag zudem mit der Zahlung einer Abfindung verbunden. Andererseits können sich auch Nachteile für den Arbeitnehmer ergeben: Gemäß §§ 158, 159 SBG III sind die Auswirkungen auf den Arbeitslosengeldanspruch des Arbeitnehmers und diesbezügliche Sperrzeiten zu beachten.98 Demnach ruht der Anspruch, wenn der Arbeitnehmer eine Abfindung erhält und das Arbeitsverhältnis vor Ende der eigentlich zu beachtenden ordentlichen Kündigungsfrist beendet wird. Sinn und Zweck der Regelung ist, eine Übervorteilung des Arbeitslosen aufgrund von doppelten Einkünften zu Lasten der Arbeitslosenversicherung zu verhindern.99 Zudem ruht der Arbeitslosengeldanspruch gemäß § 159 Abs. 1 S. 1 SGB III für die Dauer der Sperrzeit, wenn sich der Arbeitnehmer versicherungswidrig verhalten hat. Dies ist gemäß § 159 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 BGB insbesondere dann anzunehmen, wenn der Arbeitnehmer das Beschäftigungsverhältnis gelöst oder durch ein arbeitsvertragswidriges Verhalten Anlass für die Lösung gegeben und dadurch die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat. Dies ist wiederum dann gegeben, wenn der Arbeitnehmer selbst kündigt oder ein Aufhebungs- oder Abwicklungsvertrag geschlossen wird. Eine Sperrzeit tritt nur dann nicht ein, wenn ein wichtiger Grund zur Lösung des Beschäftigungsverhältnisses gegeben ist. Dies ist nach der Rechtsprechung des BSG100 sowie der Durchführungsanweisung der BA101 der Fall, wenn im Rahmen eines Aufhebungs- oder Abwicklungsvertrags (i) eine Abfindung von 0,25 bis 0,5 Bruttomonatsgehältern pro Beschäftigungsjahr gezahlt wird, (ii) für den Arbeitgeber die Möglichkeit zur betriebsbedingten Kündigung bestand und (iii) die maßgeblichen Kündigungsfristen eingehalten wurden.

13.2.3.2 Ordentliche Kündigung 50 Die Kündigung ist eine einseitige Erklärung einer der Arbeitsvertragsparteien, mit der das bestehende Arbeitsverhältnis beendet werden soll. Eine ordentliche Kündigung ist arbeitgeberseitig außerhalb des Anwendungsbereiches des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) grundsätzlich ohne besonderen Grund möglich.102 Die ordentliche Kündigung durch den Arbeitnehmer ist immer ohne Vorliegen eines Kündigungsgrundes möglich. 98Siehe

hierzu vertiefend: Panzer NJW 2010, 11. Handbuch zum Arbeitsrecht/Wank, Bd. 1, 3. Auflage 2009, § 94 Rn. 21. 100BSG v. 12.7.2006, Az. B 11a AL 47/05 R, NZA 2006, 3514. 101DA Stand 04/2009, § 144 SGB III 144.103. 102BVerfG v. 27.1.1998, Az. 1 BvL 15–87, NJW 1998, 1475. 99Münchener

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13.2.3.2.1 Kündigungserklärung Insgesamt muss die Kündigungserklärung zweifelsfrei den Willen des Erklärenden 51 erkennen lassen, dass das Arbeitsverhältnis beendet werden soll.103 Eventuelle Unklarheiten werden im Ergebnis zu Lasten des Erklärenden ausgelegt. aa) Form

Kündigungsberechtigt ist der Arbeitgeber, also in der Regel das gesetzliche Vertretungs- 52 organ oder eine bevollmächtigte Person. Wenn ein Bevollmächtigter des Arbeitgebers eine Kündigung ausspricht, so hat er dabei eine schriftliche Vollmacht vorzulegen, da andernfalls die Kündigung gemäß § 174 S. 1 BGB zurückgewiesen werden kann. Die Nachweispflicht entfällt für den Fall, dass die Kündigung von einem Vertreter ausgesprochen wird, dem üblicherweise das Kündigungsrecht übertragen ist, wie etwa dem Personalleiter.104 Die Kündigung bedarf zudem der Schriftform gemäß § 623 BGB; die elektronische Form ist ausgeschlossen. Kündigungsschreiben sind daher mit einer Original-Unterschrift zu versehen. Es ist weiterhin nicht erforderlich, dass der Ablauf der Kündigungsfrist kalendermäßig benannt ist; ausreichend ist insofern ein Hinweis auf die maßgeblichen gesetzlichen Fristenregelungen, wenn der Erklärungsempfänger hierdurch unschwer ermitteln kann, zu welchem Termin das Arbeitsverhältnis enden soll.105 Nicht erforderlich ist außerdem, dass das Wort Kündigung explizit verwendet wird.106 Grundsätzlich muss das Kündigungsschreiben auch keinen Kündigungsgrund angeben. Ausnahmen ergeben sich in gesetzlich ausdrücklich geregelten Fällen, wie beispielsweise gemäß § 9 Abs. 3 S. 2 MuSchG oder § 22 Abs. 3 BBiG. bb) Zugang

Unter Anwesenden geht die Kündigung dem Empfänger bei Übergabe des Schreibens 53 zu. Aus Beweisgründen sollte die Übergabe stets mit einer Empfangsbestätigung verbunden werden. Die Kündigung unter Abwesenden wird gemäß § 130 Abs. 1 S. 1 BGB erst wirksam, wenn sie dem Empfänger ordnungsgemäß zugegangen ist. Für den Zugang muss die Erklärung so in den Machtbereich des Empfängers gelangt sein, dass dieser bei normaler Gestaltung seiner Verhältnisse sich vom Erklärungsinhalt Kenntnis verschaffen und dies auch nach der Verkehrssitte erwartet werden kann.107 Wird die Kündigung auf einfachem postalischem Wege übermittelt, ist diese regelmäßig am darauffolgenden Tage zur üblichen Leerungszeit zugegangen. Gleiches gilt auch für ein Einwurfeinschreiben. Der regelmäßig sicherste Weg ist die Übermittlung des Kündigungsschreibens durch einen Boten, der die Übergabe oder Zustellung im Streitfall bezeugen kann.

103BAG

v. 15.3.1991, Az. 2 AZR 516/90, NZA 1992, 452. v. 18.5.1994, Az. 2 AZR 920/93, BB 1994, 1783, 105BAG v. 20.6.2013, Az. 6 AZR 805/11, n.v. 106BAG v. 5.2.2009, Az. 6 AZR 151/08, DB 2009, 1710. 107BAG v. 16.1.1976, Az. 2 AZR 619/74, NJW 1976, 1284. 104BAG

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13.2.3.2.2 Kündigungsfrist 54 Für eine ordentliche Kündigung bestimmen sich die Kündigungsfristen gemäß § 622 BGB, sofern sich nicht aus dem Arbeitsvertrag oder einem Tarifvertrag etwas anderes ergibt. Demnach ist die Dauer der Betriebszugehörigkeit des Arbeitnehmers für die Berechnung entscheidend. Die verlängerten Kündigungsfristen gemäß § 622 Abs. 2 BGB finden grundsätzlich nur dann Anwendung, wenn die Kündigung durch den Arbeitgeber ergeht. Erklärt dagegen der Arbeitnehmer die Kündigung, findet § 622 Abs. 2 BGB nur im Falle einer sog. Gleichbehandlungsabrede Anwendung.108 Lange umstritten war, ob § 622 Abs. 2 S. 2 BGB eine unzulässige Diskriminierung darstellt, denn die Norm bestimmt, dass Zeiten vor dem 25. Lebensjahr für die Dauer der Betriebszugehörigkeit keine Berücksichtigung finden. Der EuGH109 hat entschieden, dass die Norm eine unzulässige Diskriminierung jüngerer Arbeitnehmer darstellt und von den nationalen Gerichten nicht mehr angewendet werden darf. Gemäß § 622 Abs. 4 BGB ist es nur durch Tarifvertrag möglich, die Grundkündigungsfrist, die verlängerte Frist und die Frist während der Probezeit abzukürzen. Es besteht aber stets die Möglichkeit, längere Fristen zu vereinbaren. Sehen § 622 Abs. 2 BGB und vertragliche bzw. tarifliche Vorschriften unterschiedliche Kündigungsfristen und Kündigungsendtermine110 vor, muss der Arbeitgeber immer die für den Arbeitnehmer günstigere Frist berücksichtigen. Welche das ist, muss im Wege eines Gesamtvergleichs geprüft werden.111 Nicht möglich ist so genanntes cherry picking, beispielsweise die lange Frist aus dem Arbeitsvertrag mit dem Quartalsende aus dem Tarifvertrag zu kombinieren. 13.2.3.2.3 Kündigungsschutz nach dem KSchG 55 Die ordentliche Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. Dies ist der Fall, wenn die Kündigung nicht durch verhaltensbedingte, personenbedingte oder betriebsbedingte Gründe zu rechtfertigen ist. Im Unterschied zur betriebsbedingten Kündigung haben personen- und verhaltensbedingte Kündigung gemeinsam, dass beide aus der Sphäre des Arbeitnehmers herrühren, während die betriebsbedingte Kündigung in der Sphäre des Arbeitgebers ihren Ursprung hat. Gemäß § 1 Abs. 1 KSchG ist das KSchG zeitlich anwendbar, wenn ein Arbeitsverhältnis länger als sechs Monate ohne Unterbrechung besteht. Hinsichtlich des betrieblichen Geltungsbereichs ist gemäß § 23 Abs. 1 S. 3 KSchG zu differenzieren. Demnach sind alle Arbeitnehmer, die am 31.12.2003 in einem Betrieb mit mehr als fünf regelmäßig Beschäftigten tätig waren, einbezogen. Für die übrigen Arbeitnehmer gilt der allgemeine Kündigungsschutz nur, wenn mehr als zehn Arbeitnehmer mit Ausnahme der

108Siehe

hierzu etwa: Erfurter Kommentar/Müller-Glöge, 17. Auflage 2017, § 622 BGB Rn. 40. v. 19.1.2010, Az. C-555/07, NZA 2010, 85. 110Etwa eine gesetzliche Kündigungsfrist von vier Monaten zum Monatsende im Vergleich zu drei Monaten zum Quartalsende. 111BAG v. 4.7.2001, Az. 2 AZR 469/00, NZA 2002, 380. 109EuGH

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zur ­Berufsausbildung Beschäftigten regelmäßig im Betrieb beschäftigt werden. Leiharbeitnehmer sind dabei ebenfalls zu berücksichtigen, soweit ihr Einsatz auf einem in der Regel vorhandenen Personalbedarf beruht.112 aa) Verhaltensbedingte Kündigungsgründe

Die verhaltensbedingte Kündigung113 gemäß § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG setzt voraus, dass 56 der Arbeitnehmer mit dem ihm zur Last gelegten Verhalten eine Vertragspflicht schuldhaft verletzt hat, das Arbeitsverhältnis dadurch konkret beeinträchtig wird, eine zumutbare Möglichkeit einer anderen Beschäftigung nicht besteht und die Lösung des Arbeitsverhältnisses in Abwägung der Interessen beider Vertragsparteien nach den Umständen des Einzelfalls billigenswert und angemessen erscheint.114 (1) Pflichtverletzung

Die verhaltensbedingte Kündigung setzt zunächst eine Pflichtverletzung bezogen auf 57 eine Haupt- oder nicht unwesentliche Nebenleistungspflicht aus dem Arbeitsvertrag voraus.115 Hiernach kommt neben den häufigen Fällen der Nicht- bzw. Schlechtleistung oder konkreten vertragsbrüchigen Verhaltensweisen eine Vielzahl von einzelnen Sachverhalten in Betracht.116 Beispielhaft zu nennen sind etwa Verstöße gegen das betriebliche Alkoholverbot117, bewusst ehrverletzende beleidigende Äußerungen118, Eigentumsdelikte119 oder die unerlaubte Privatnutzung von betrieblichen Informations- und Kommunikationsmitteln (IuK-Mittel).120 Für die Beurteilung der Pflichtverletzung ist es zunächst nicht erforderlich, dass sich das Verhalten des Arbeitnehmers zusätzlich nachteilig auf den Betriebsablauf oder den Betriebsfrieden ausgewirkt hat.121 (2) Interessenabwägung

Nach Feststellung einer Pflichtverletzung muss eine umfassende Interessenabwägung statt- 58 finden; dem Arbeitgeber muss es unzumutbar sein, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen. Die Kündigung ist stets das letzte Mittel für den Arbeitgeber. Sie ist ausgeschlossen, wenn die Anwendung milderer Mittel als der Kündigung zur Interessenwahrung ausreichend ist. Insgesamt muss die Kündigung bei verständiger Würdigung in Abwägung der Interessen der

112BAG

v. 24.1.2013, Az. 2 AZR 140/12, NZA 2013, 726. Überblick siehe Berkowsky: NZA-RR 2001, 1 und 57. 114BAG v. 24.6.2004, Az. 2 AZR 63/03, NZA 2005, 158. 115Erfurter Kommentar/Oetker, 17. Auflage 2017, § 1 KSchG Rn. 189 f. 116Siehe hierzu die Übersicht in: Tschöpe BB 2002, 778, 781 ff. 117BAG v. 23.9.1986, Az. 1 AZR 83/85, NZA 1987, 250. 118BAG v. 24.6.2004, AZ. 2 AZR 63/03, NZA 2005, 158. 119Zur Frage der Bagatellkündigung siehe Rn. 86 B. III. 3. b). 120BAG v. 31.5.2007, Az. 2 AZR 200/06, NZA 2007, 922. 121BAG v. 15.11.2001, Az. 2 AZR 609/00, NZA 2002, 968. 113Zum

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Vertragspartner billigenswert und angemessen erscheinen.122 Als arbeitgeberseitige Interessen sind hierbei insbesondere Belange der Betriebsdisziplin, die Funktionsfähigkeit des Arbeitsablaufes, erlittene materielle und immaterielle Schäden und die Frage nach der Wiederholungsgefahr zu berücksichtigen. Auf Seiten des Arbeitnehmers sind sowohl vorfallsbezogene Gesichtspunkte wie Art, Inhalt und Intensität des pflichtwidrigen Verhaltens als auch persönliche Belange wie frühere Verhaltensweisen, Betriebszugehörigkeit, Alter, familiäre Situation und Chancen auf dem Arbeitsmarkt abzuwägen. Gemäß § 1 Abs. 2 S. 2, 3 KSchG ist des Weiteren im Rahmen der Interessenabwägung zu prüfen, ob der Arbeitnehmer an einem anderen freien Arbeitsplatz im Betrieb oder einem anderen Betrieb des Unternehmens eingesetzt werden kann. Dies ist aber dann ausgeschlossen, wenn aufgrund objektiver Anhaltspunkte nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Arbeitnehmer auch dort durch das ihm vorgeworfene Verhalten erneut auffällt.123 (3) Vorherige Abmahnung

59 Bei einer verhaltensbedingten Kündigung ist sowohl bei Störungen im allgemeinen Verhaltens- und Leistungsbereich als auch im Vertrauensbereich zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine auf das entsprechende Fehlverhalten bezogene vorherige Abmahnung erforderlich. Die Abmahnung ist lediglich in § 314 Abs. 2 BGB gesetzlich geregelt und stellt einen Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dar. Inhaltlich handelt es sich um die arbeitgeberseitige Ausübung des arbeitsvertraglichen Gläubigerrechts.124 (3.1) Funktion

60 Die vorherige Abmahnung soll dem Arbeitnehmer ermöglichen, sein Verhalten zu ändern und so das Vertrauen in ihn wiederherzustellen. Im Wiederholungsfall kann allerdings eine Negativprognose dahingehend abgegeben werden, dass ein derartiges vertragswidriges Verhalten auch zukünftig den Erfolg des Arbeitsverhältnisses gefährden wird. Funktion der Abmahnung ist es demnach, eine negative Zukunftsprognose zu objektivieren.125 Mit der Abmahnung weist der Arbeitgeber als Gläubiger der Arbeitsleistung den Arbeitnehmer als Schuldner sowohl grundsätzlich auf dessen vertragliche Pflichten als auch auf die konkrete Verletzung dieser Pflichten hin. Zugleich fordert er ihn zu einem zukünftigen vertragsgemäßen Verhalten auf und kündigt rechtliche Konsequenzen – insbesondere die Kündigung – bei einer erneuten Pflichtverletzung an. Die Abmahnung erfüllt damit sowohl eine Rügeals auch Warnfunktion.126 Bei einem erneuten und mindestens gleichwertigen Verstoß ist dann regelmäßig der Ausspruch einer Kündigung möglich.

122BAG

v. 22.7.1982, Az. 2 AZR 30/81, NJW 1983, 700. BB 2002, 778, 781. 124BAG v. 27.11.2008, Az. 2 AZR 675/07, NZA 2009, 842. 125BAG v. 23.6.2009, Az. 2 AZR 283/08, NJOZ 2009, 3929. 126BAG v. 27.11.2008, Az. 2 AZR 675/07, NZA 2009, 842. 123Tschöpe

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(3.2) Formelle Anforderungen

Die Abmahnung bedarf zwar nicht der Schriftform gemäß § 126 BGB. Allerdings ist 61 aus Beweisgründen anzuraten, die Abmahnung schriftlich zu verfassen. Des Weiteren muss die Abmahnung hinreichend bestimmt sein. Erforderlich ist daher, dass das abzumahnende Verhalten konkret bezeichnet ist, zu pflichtgemäßem Verhalten aufgefordert wird und als Folge eines weiteren Fehlverhaltens unmissverständlich Konsequenzen für den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses angedroht werden.127 Vor der Abmahnung ist weder eine Anhörung des Arbeitnehmers noch eine Zustimmung des Betriebsrats erforderlich. Für eine Abmahnung gibt es zudem keine Regelausschlussfrist.128 Die Wirkung der Abmahnung wird aber gemindert, wenn der Arbeitgeber andere Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers oder anderer Mitarbeiter unbeanstandet hinnimmt. Gleiches gilt, falls eine gewisse Zeitspanne zwischen der Kenntnis des Fehlverhaltens und der Abmahnung verstrichen ist. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass sich ein Arbeitgeber widersprüchlich verhält, wenn er ein wiederholtes Fehlverhalten zwar formgerecht abmahnt, dann jedoch keine Konsequenzen folgen lässt. Die Warnfunktion der Abmahnung sinkt, denn der Arbeitnehmer wird die Abmahnungen zusehends weniger ernst nehmen („leere Drohung“)129. (3.3) Entbehrlichkeit

Vor der Emmely-Entscheidung130 war eine Abmahnung entbehrlich, wenn mit einer 62 Verhaltensänderung des Arbeitnehmers in Zukunft nicht gerechnet werden konnte.131 Gleiches gilt, wenn die Kündigung nach Abwägung aller Umstände angesichts von Art, Schwere und Folgen der Pflichtverletzung billigenswert und angemessen erscheint, dem Arbeitnehmer die Rechtswidrigkeit der Pflichtverletzung ohne weiteres erkennbar war und er mit der Hinnahme des Verhaltens durch den Arbeitgeber offensichtlich nicht rechnen konnte.132 Diese Grundsätze mussten seitdem allerdings modifiziert werden, da sich nach der neueren Rechtsprechung des BAG mit der Dauer der beanstandungslosen Tätigkeit ein Vertrauenskapital zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufbaut. Ob dieses Vertrauen bereits durch eine erstmalige Vertragspflichtverletzung vollständig oder unwiederbringlich zerstört werden kann, hängt deshalb nun nicht mehr ausschließlich von der Art und Schwere der Pflichtverletzung ab, sondern auch vom Arbeitnehmer und seinem bisherigen Verhalten im Betrieb. Dies bedeutet eine hohe Rechtsunsicherheit für die Praxis, da das BAG insoweit keine Leitlinien vorgegeben hat. 127LAG

Hamm v. 30.5.1996, Az. 4 Sa 2342/95, NZA 1997, 1056. v. 15.1.1986, Az. 5 AZR 70/84, NZA 1986, 421. 129BAG v. 16.9 2004, Az. 2 AZR 406/03, NZA 2005, 459; zuletzt auch LAG Köln v. 12.3.2013, Az. 11 Sa 919/12, n.v. 130BAG v. 10.6.2010, Az. 2 AZR 541/09, NZA 2010, 1227. 131BAG v. 12.1.2006, Az. 2 AZR 179/05, NZA 2006, 980; siehe hierzu die Ausführungen zur außerordentlichen Kündigung unter Rn. 82 ff., B. III. 3 ff. 132BAG v. 12.1.2006, Az. 2 AZR 21/05, NZA 2006, 917. 128BAG

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bb) Personenbedingte Kündigungsgründe

63 Abgrenzungsmerkmal zwischen verhaltens- und personenbedingten Kündigungsgründen ist grundsätzlich, dass letztere keine schuldhafte Verletzung arbeitsvertraglicher Hauptund Nebenleistungspflichten erfordern. Im Übrigen, insbesondere im Rahmen der Interessenabwägung, ist die Unterscheidung von geringerer Bedeutung.133 Ein personenbedingter Kündigungsgrund liegt vor, wenn die Kündigung auf Gründe gestützt wird, die in der Person des Arbeitnehmers, das heißt in seinen persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, zu finden sind.134 Die Kündigung setzt somit voraus, dass der Arbeitnehmer aufgrund seiner persönlichen Eigenschaften nicht mehr in der Lage ist, zukünftig eine vertragsgerechte Leistung zu erbringen.135 (1) Krankheit

64 Häufige Fälle sind hierbei Arbeitsausfälle aufgrund des Gesundheitszustandes in Form der erheblichen krankheitsbedingten Leistungsminderung136, der dauernden Leistungsunfähigkeit137, der längerfristigen krankheitsbedingten Abwesenheit138 oder häufig auftretender Kurzzeiterkrankungen.139 Die Prüfung folgt einem dreistufigen Aufbau: (1.1) Negative Gesundheitsprognose

65 Zunächst bedarf es einer negativen Prognose hinsichtlich des voraussichtlichen zukünftigen Gesundheitszustandes des Arbeitnehmers.140 Danach muss – bezogen auf den Kündigungszeitpunkt – aufgrund objektiver Tatsachen damit zu rechnen sein, dass der Arbeitnehmer seiner Arbeit weiterhin in erheblichem Umfang nicht wird nachgehen können. Bei der Bewertung können die vergangenen Fehlzeiten mittelbar einbezogen werden.141 (1.2) Beeinträchtigung betrieblicher Belange

66 In einem zweiten Schritt ist die erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Belange zu prüfen. Hierzu zählen etwa Störungen im Betriebsablauf oder wirtschaftliche Belastungen. Eine Beeinträchtigung betrieblicher Interessen ist demnach gegeben, wenn für die nächsten 24 Monate nicht mit einer Besserung des Gesundheitszustandes

133Ascheid/Preis/Schmidt/Vossen,

Kündigungsrecht, 5. Auflage 2017, § 1 KSchG Rn. 267. v. 13.3.1987, Az. 7 AZR 724/85, NZA 1987, 629, 631. 135BAG v. 18.1.2007, Az. 2 AZR 731/05, NJW 2007, 1901. 136BAG v. 26.9.1991, Az. 2 AZR 132/91, DB 1992, 2196. 137BAG v. 19.4.2007, Az. 2 AZR 239/06, NZA 2007, 1041. 138BAG v. 12.7.2007, Az. 2 AZR 716/06, NZA 2008, 173. 139BAG v. 23.4.2008, Az. 2 AZR 1012/06, NZA-RR 2008, 515. 140BAG v. 24.11.2005, Az. 2 AZR 514/04, NZA 2006, 665. 141Ascheid/Preis/Schmidt/Vossen, Kündigungsrecht, 5. Auflage 2017, § 1 KSchG Rn. 140 ff. 134BAG

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zu rechnen ist.142 Ist der Arbeitnehmer bereits längere Zeit arbeitsunfähig krank und die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit weiterhin ungewiss, so führt allein diese Ungewissheit zu einer Beeinträchtigung betrieblicher Belange. Dies ist etwa dann anzunehmen, wenn der Arbeitnehmer bereits 18 Monate arbeitsunfähig krank ist und die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit fraglich ist.143 Hinsichtlich häufiger Kurzerkrankungen ist ebenfalls eine Zukunftsprognose in Bezug auf die weitere Wiederholungsgefahr und die dadurch entstehenden Lohnfortzahlungskosten vorzunehmen.144 Dabei spricht die Häufigkeit der Erkrankungen in der Vergangenheit grundsätzlich für einen entsprechenden Verlauf auch in der Zukunft. Hinsichtlich der Bewertung von Fehlzeiten in der Vergangenheit ist nach dem BAG von einer erheblichen Beeinträchtigung grundsätzlich dann auszugehen, wenn eine Fehlzeitenquote von mehr als sechs Wochen im Durchschnitt der letzten drei Jahre erreicht wurde.145 Teilweise wird allerdings eine weitaus höhere Fehlquote von mehr als 25 % gefordert.146 (1.3) Interessenabwägung

Auf der dritten Stufe ist im Wege einer umfassenden Interessenabwägung zu ermitteln, 67 ob die erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Belange eine unzumutbare Belastung des Arbeitgebers zur Folge hat.147 Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Rechtmäßigkeit der Prüfung ist der Zugang der Kündigung. Bei der Interessenabwägung ist die Dauer des ungestörten Verlaufs des Arbeitsverhältnisses zu berücksichtigen sowie der Umstand, ob der Arbeitnehmer seine Krankheit zu verantworten hat. Ist die Ursache der Erkrankung auf eine gesundheitsgefährdende Arbeitsumgebung (Lärm, Hitze oder Emissionen) zurückzuführen, so wirkt sich dies bei der Interessenabwägung zugunsten des Arbeitnehmers aus. Auch die personenbedingte Kündigung stellt nur eine ultima ratio dar. Vor ihrem Ausspruch ist der Arbeitgeber verpflichtet, jede mögliche zumutbare und geeignete Maßnahme zu treffen, die die Kündigung vermeiden kann. Demnach ist eine Kündigung nur möglich, wenn keine andere Beschäftigungsmöglichkeit für den Arbeitnehmer – auch zu schlechteren Bedingungen – besteht.148 In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass der Arbeitgeber gemäß § 84 Abs. 2 SGB IX ein sog. betriebliches Eingliederungsmanagement durchzuführen hat, wenn ein Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig war.

142BAG

v. 12.4.2002, Az. 2 AZR 148/01, NZA 2002, 1081. v. 21.5.1992, Az. 2 AZR 399/91, NZA 1993, 497. 144BAG v. 6.9.1989, Az. 2 AZR 118/89, NZA 1990, 305. 145BAG v. 29.7.1993, Az. 2 AZR 155/93, NZA 1994, 67. 146Siehe Übersicht in: Küttner/Eisemann, Personalbuch 2017, 24. Auflage 2017, Kündigung, personenbedingte Rn. 21. 147BAG v. 12.4.2002, Az. 2 AZR 148/01, NZA 2002, 1081. 148BAG v. 21.9.2006, Az. 2 AZR 607/05, NZA 2007, 431; BAG v. 21.4.2005, Az. 2 AZR 244/04, NZA 2005, 1294. 143BAG

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Dies gilt unabhängig von der Anzahl der beschäftigten Arbeitnehmer im Betrieb und dem etwaigen Schwerbehindertenstatus des betroffenen Arbeitnehmers.149 Unterlässt der Arbeitgeber ein betriebliches Eingliederungsmanagement, führt dies zwar nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Kündigung, aber zu einer erhöhten Darlegungslast des Arbeitgebers dahingehend, dass für den Arbeitnehmer auf Grund seiner Erkrankung keine freien und ausfüllbaren Tätigkeiten zur Verfügung stehen.150 (2) Sonstige personenbedingte Kündigungsgründe

68 Als weitere, eine personenbedingte Kündigung rechtfertigende Umstände kommen fachliche Eignungsmängel in Betracht. Etwa wenn bei einem Arbeitnehmer über längere Zeit eine erhebliche Leistungsunfähigkeit vorliegt und auch zukünftig mit einer schweren Störung für das Vertragsgleichgewicht zu rechnen ist151, bei außerdienstliche Straftaten, soweit sie einen Bezug zum Arbeitsverhältnis aufweisen und so die Eignung für die vertraglich geschuldete Tätigkeit beseitigen152, fehlender Arbeits- und Berufsausübungserlaubnisse153 oder auch einer Alkoholsucht154. cc) Betriebsbedingte Kündigung

69 Eine Kündigung kann schließlich gemäß § 1 Abs. 2, 3 KSchG sozial gerechtfertigt sein, wenn sie durch dringende betriebliche Gründe bedingt ist. Gedanklicher Ausgangspunkt hierbei ist, dass es dem Arbeitgeber als Träger des wirtschaftlichen Risikos grundsätzlich freistehen muss, Betriebsstrukturen in wirtschaftlicher, technologischer und organisatorischer Hinsicht anzupassen, auch wenn dies den Abbau von Arbeitsplätzen zur Folge hat. Hierzu müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein: (1) Dringender betrieblicher Grund

70 Ein dringender betrieblicher Grund ist gegeben, wenn es aufgrund interner oder externer Motive zu einer unternehmerischen Entscheidung kommt, die einen dauerhaften Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit für den Arbeitnehmer zur Folge hat.155 Zu innerbetrieblichen Umständen zählen die Umstellung der Produktion, die Stilllegung von Betriebsteilen oder organisatorische Rationalisierungsmaßnahmen. Außerbetriebliche Umstände sind beispielsweise Auftragsmangel und Umsatzrückgang. Konkret erforderlich ist demnach, dass eine unternehmerische Entscheidung vorliegt und durch deren Umsetzung das 149BAG

v. 12.7.2007, Az. 2 AZR 716/07, NZA 2008, 173. v. 23.4.2008, Az. 2 AZR 1012/06, NZA-RR 2008, 515; vgl. ausführlich zur Beweislast BAG v. 10.12.2009, Az. 2 AZR 400/08, NZA 2010, 398. 151BAG v. 3.6.2004, Az. 2 AZR 386/03, NJW 2005, 90. 152BAG v. 6.11.2003, Az. 2 AZR 631/02, NZA 2004, 919. 153BAG v. 7.12.2000, Az. 2 AZR 459/99, NZA 2001, 1304. 154Siehe zu weiteren Einzelfällen: Erfurter Kommentar/Oetker, 17. Auflage 2017, § 1 KSchG Rn. 152 ff. 155BAG v. 7.7.2005, Az. 2 AZR 399/04, NZA 2006, 266. 150BAG

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Beschäftigungsbedürfnis für einzelne Arbeitnehmer entfallen ist bzw. wird. Dagegen ist die unternehmerische Entscheidung nicht auf ihre sachliche Rechtfertigung oder ihre Zweckmäßigkeit hin zu überprüfen, sondern nur darauf, ob sie offensichtlich unsachlich, unvernünftig oder willkürlich getroffen wurde.156 Ist die Unternehmerentscheidung allein auf eine Personalreduzierung beschränkt, hat der Arbeitgeber seine Entscheidung hinsichtlich ihrer Durchführbarkeit und bezüglich des Begriffs „Dauer“ zu konkretisieren, um Unsachlichkeit und Willkür auszuschließen.157 Die Anforderungen in diesem Zussammenhang sind sehr hoch. (2) Keine anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit

Eine betriebsbedingte Kündigung scheidet weiterhin aus, wenn der Arbeitnehmer auf 71 einem anderen Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden kann. Dabei ist eine über den Betrieb hinausgehende, grundsätzlich unternehmensbezogene Bewertung erforderlich.158 Die Weiterbeschäftigung kann hierbei sowohl zu unveränderten als auch zu geänderten Bedingungen erfolgen, da nach dem Grundsatz des Vorrangs der Änderungs-159 vor der Beendigungskündigung zunächst mildere Mittel in Betracht gezogen werden müssen – auch wenn dies gegebenenfalls zu einer Weiterbeschäftigung zu erheblich schlechteren Bedingungen führt.160,161 Zu berücksichtigen sind dabei allerdings nur Arbeitsplätze, das heißt solche, die bei Zugang der Kündigung unbesetzt sind.162 (3) Ordnungsgemäße Sozialauswahl

Die betriebsbedingte Kündigung ist des Weiteren sozial ungerechtfertigt, wenn der 72 Arbeitgeber bei der Auswahl des Arbeitnehmers keine, dem § 1 Abs. 3 S. 1 HS 1 KSchG entsprechende, Sozialauswahl vorgenommen hat. Zweck der Sozialauswahl ist die personenbezogene Konkretisierung der betrieblichen Erfordernisse für den Fall, dass die Anzahl der Arbeitnehmer die der verbleibenden Arbeitsplätze übersteigt. Die Sozialauswahl erfolgt betriebs-, nicht unternehmensbezogen.163 Sie wird regelmäßig in drei Schritten durchgeführt: (3.1) Soziale Vergleichbarkeit

Zunächst sind Vergleichsgruppen von Arbeitnehmern zu bilden. Vergleichbar sind grund- 73 sätzlich solche Arbeitnehmer, die der Arbeitgeber im Rahmen seines Direktionsrechts auf einen anderen gleichwertigen Arbeitsplatz versetzen könnte (rechtliche Vergleichbarkeit). 156BAG

v. 17.6.1999, Az. 2 AZR 522/98, NZA 1999, 1095. v. 17.6.1999, Az. 2 AZR 141/99, NJW 2000, 381. 158BAG v. 23.3.2006, Az. 2 AZR 162/05, NZA 2007, 30. 159Siehe hierzu B. III. 5, Rn. 91 ff. 160BAG v. 21.9.2006, Az. 2 AZR 607/05, NZA 2007, 431. 161H/W/K/Quecke, Arbeitsrecht Kommentar, 7. Auflage 2016, § 1 KSchG Rn. 276. 162Ausführlich: Erfurter Kommentar/Oetker, 17. Auflage 2017, § 1 KSchG Rn. 250 ff. 163BAG v. 31.5.2007, Az. 2 AZR 276/06, NZA 2008, 33. 157BAG

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­ eiterhin muss der betreffende Arbeitnehmer auch tatsächlich in der Lage sein, den ArbeitsW platz des jeweils anderen auszufüllen (tatsächliche Vergleichbarkeit). Entscheidend ist somit eine qualifikationsmäßige Austauschbarkeit.164 Dabei steht die Notwendigkeit der Einarbeitung des anderen Arbeitnehmers der Einbeziehung nicht entgegen. Als Einarbeitungszeit wird in der Regel mindestens die Dauer der Kündigungsfrist als akzeptabel angesehen. Zudem sind nur Arbeitnehmer vergleichbar, die auf einer hierarchischen Ebene im Betrieb stehen (vertikale Vergleichbarkeit).165 Nicht miteinbezogen werden Arbeitnehmer, die einen gesetzlichen Sonderkündigungsschutz genießen. Unter Umständen müssen aber tariflich unkündbare Arbeitnehmer ebenfalls berücksichtigt werden.166 (3.2) Auswahlkriterien

74 Die Sozialauswahl erfolgt nach den Kriterien Betriebszugehörigkeit, Lebensalter167, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung. Dabei ist keines der Kriterien absolut vorrangig.168 Die Sozialauswahl ist gemäß § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG nur fehlerhaft, wenn die Kriterien nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt werden. Daher hat der Arbeitgeber bei der Gewichtung einen Wertungsspielraum.169 Es steht ihm frei, für die Wertung ein eigenes Punkteschema zu erstellen, das die Auswahlkriterien in ein billigenswertes Verhältnis setzt.170 (3.3) Herausnahme aus der Sozialauswahl

75 Arbeitnehmer, deren Weiterbeschäftigung im berechtigten betrieblichen Interesse liegt, sind gemäß § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG nicht in die Sozialauswahl einzubeziehen. Diese Interessen können in den Kenntnissen, Fähigkeiten sowie den Leistungen der Arbeitnehmer begründet sein (sog. „Leistungsträger“). Die Interessen sind berechtigt, wenn es dem Betrieb einen nicht unerheblichen Vorteil bringt, bestimmte Arbeitnehmer nicht in die Sozialauswahl miteinzubeziehen.171 Der Arbeitgeber kann zudem Altersgruppen bilden, um Kündigungen gerecht über alle Altersstufen hinweg zu verteilen und eine ausgewogene Altersstruktur im Betrieb zu erhalten.172 Diesem Vorgehen stehen die Bestimmungen des AGG nicht entgegen.173

164BAG

v. 2.6.2005, Az. 2 AZR 480/04, NJW 2006, 315. v. 23.11.2004, Az. 2 AZR 38/04, NZA 2005, 986. 166BAG v. 22.11.2012, Az. 2 AZR 673/11, NZA 2013, 730. 167Die Berücksichtigung des Lebensalters ist trotz des AGG zulässig, BAG v. 15.12.2011, Az.: 2 AZR 42/10, NZA 2011, 989. 168BAG v. 9.11.2006, Az. 2 AZR 812/05, DB 2007, 1087. 169BAG v. 5.12.2002, Az. 2 AZR 549/01, NZA 2003, 791. 170BAG v. 6.7.2006, Az. 2 AZR 442/05, NZA 2007, 139 171BAG v. 7.12.2006, Az. 2 AZR 748/05, NZA-RR 2007, 460. 172Siehe hierzu etwa: Fahrig BB 2010, 2569. 173BAG v. 6.11.2008, Az. 2 AZR 523/07, NZA 2009, 361; BAG v. 15.12.2011, Az. 2 AZR 42/10, NZA 2012, 1044. 165BAG

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13.2.3.2.4 Gesetzlicher Sonderkündigungsschutz Verschiedene Personengruppen wie beispielsweise Schwerbehinderte, Betriebsräte, 76 Schwangere oder Arbeitnehmer in Elternzeit werden vom Gesetzgeber als besonders schutzwürdig eingestuft. Folge dieser Schutzwürdigkeit ist, dass einschlägige Sondernormen erhöhte Anforderungen an eine Kündigung stellen. aa) Schwerbehinderte

Gemäß § 84 Abs. 1 SBG IX ist der Arbeitgeber verpflichtet, bei beabsichtigter Kündi- 77 gung eines Schwerbehinderten aufgrund verhaltens-, personen- oder betriebsbedingten Gründe möglichst frühzeitig die zuständigen Stellen einzuschalten und ein sog. Präventionsverfahren durchzuführen. Unterlässt der Arbeitgeber dies und kündigt dem Schwerbehinderten, führt dies aber nicht generell zu einer Unwirksamkeit der Kündigung. Ein Präventionsverfahren ist nur dann durchzuführen, wenn damit die Schwierigkeiten im Beschäftigungsverhältnis auch wirklich beseitigt werden können.174 Vom Präventionsverfahren zu unterscheiden ist die vorherige Kündigungszustimmung des Integrationsamtes gemäß § 85 SGB IX, ohne die sowohl ordentliche als auch außerordentliche Kündigungen unwirksam sind. Mit Erlass des Bundesteilhabegesetzes hat der Gesetzgeber im Jahr 2017 eine Beteiligungspflicht der Schwerbehindertenvertretung in § 95 Abs. 2 S. 3 SGB IX aufgenommen. Danach ist eine Kündigung ohne vorherige Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung unwirksam. Ab 1.1.2018 wird die Regelung ohne materiell rechtliche Änderung als § 178 Abs. 2 S. 3 SGB IX weitergelten. bb) Mutterschutz

Gemäß § 9 MuSchG ist jegliche Kündigung einer Frau während der Schwangerschaft 78 und bis zum Ablauf von vier Monaten nach der Entbindung oder nach einer Fehlgeburt nach 12. Schwangerschaftswoche ohne Rücksicht auf die Betriebsgröße unzulässig. Erforderlich ist, dass die Frau bei Zugang der Kündigung objektiv schwanger oder das Kind nicht älter als vier Monate ist. Berechnungsgrundlage ist dabei der ärztlich attestierte und berechnete Geburtstermin abzüglich 280 Tage.175 Zudem muss der Arbeitgeber bei Abgabe der Kündigung positive Kenntnis von der Schwangerschaft haben; bloße Gerüchte reichen nicht aus. Der Kündigungsschutz greift ferner dann ein, wenn die Arbeitnehmerin den Arbeitgeber innerhalb von zwei Wochen nach Zugang der Kündigung über die Schwangerschaft informiert. Eine Ausnahme vom Kündigungsverbot kann nur gemäß § 9 Abs. 3 MuSchG in besonderen Fällen durch Erklärung der Arbeitsschutzbehörde erreicht werden. Hierzu ist Voraussetzung, dass besonders gewichtige Interessen des Arbeitgebers – die zweifelsfrei nicht mit der Schwangerschaft in Zusammenhang stehen – die Kündigung erforderlich machen.176 Ab dem 1.1.2018 wird sich der

174BAG

v. 7.12.2006, Az. 2 AZR 182/06, NZA 2007, 617. v. 12.12.1985, Az. 2 AZR 82/85, NJW 1986, 2905. 176Erfurter Kommentar/Schlachter, 17. Auflage 2017, § 9 MuSchG Rn. 12. 175BAG

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Kündigungsschutz des § 9 MuSchG unter Beibehaltung des bisherigen Regelungsinhalts in § 17 MuSchG wiederfinden. cc) Elternzeit

79 Gemäß § 18 Abs. 1 BEEG besteht zudem unmittelbar vor und während der Elternzeit ein besonderer Kündigungsschutz. In Ausnahmefällen kann die Kündigung durch die für Arbeitsschutz zuständige oberste Landesbehörde für zulässig erklärt werden.177 dd) Betriebsratsmitglieder

80 Zudem ist gemäß § 15 KSchG die ordentliche Kündigung eines Mitglieds des Betriebsrates ausgeschlossen.178 ee) Auszubildende

81 Nach Ablauf der Probezeit kann ein Ausbildungsverhältnis gemäß § 22 Abs. 2 Nr. 1 BBiG bis zur Beendigung des Berufsausbildungsverhältnisses nicht ordentlich gekündigt werden.

13.2.3.3 Außerordentliche Kündigung 82 Die Voraussetzungen der außerordentlichen Kündigung ergeben sich aus § 626 Abs. 1 BGB. Der Unterschied zur ordentlichen Kündigung besteht darin, dass gerade keine Kündigungsfrist zu beachten ist. Grundsätzlich ist bei der arbeitgeberseitigen Kündigung zwischen der sog. Tatkündigung und der sog. Verdachtskündigung zu unterscheiden. In beiden Fällen ist im Wesentlichen die Prognose entscheidend, ob auch in Zukunft mit weiteren Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers zu rechnen ist, denen mit der außerordentlichen Kündigung begegnet werden muss.179 Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei einer allein auf einen Verdacht gestützten Kündigung weitaus höhere Voraussetzungen gelten als für den Fall, dass ein Fehlverhalten nachzuweisen ist. Im Einzelnen müssen folgende Voraussetzungen gegeben sein: 13.2.3.3.1 Wichtiger Grund 83 Ein wichtiger Grund iSd § 626 BGB liegt vor, wenn es dem Arbeitgeber nach den Umständen des Einzelfalls und nach beidseitiger Interessenabwägung nicht zugemutet werden kann, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortzusetzen.180 Dabei ist zunächst zu prüfen, ob die vorhandenen Tatsachen selbst objektiv geeignet sind, einen wichtigen Grund im Sinne des § 626 BGB darzustellen.

177Zu

den Voraussetzungen der Befreiung siehe: Erfurter Kommentar/Gallner, 17. Auflage 2017, § 18 BEEG Rn. 11 ff. 178Siehe hierzu unter: 2. Teil, B. I. 3., C. II: 1. d) Rn. 110 ff. 179BAG v. 23.10.2008, Az. 2 ABR 59/07, NZA 2009, 855. 180BAG v. 27.4. 2006, Az. 2 AZR 386/05, NZA 2006, 977.

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aa) Tatkündigung

Für die Tatkündigung ist ausschlaggebend, dass der Arbeitnehmer nach der Überzeugung 84 des Arbeitgebers die pflichtwidrige Handlung tatsächlich begangen hat und daher die Fortführung des Arbeitsverhältnisses nicht zumutbar ist.181 Hier gelten grundsätzlich die gleichen Erwägungen wie zu den ordentlichen Kündigungsgründen mit dem Unterschied, dass aufgrund der anzustellenden Zukunftsprognose aus Sicht des Arbeitgebers ein sofortiges Beenden der Zusammenarbeit zwingend geboten sein muss. Die Pflichtverletzung muss also besonders schwerwiegend sein. bb) Verdachtskündigung

Bei der Verdachtskündigung182 hingegen stellt der Arbeitgeber für die zerstörte Ver- 85 trauensbasis lediglich und gerade auf den Verdacht ab, der Arbeitnehmer habe sich vertragswidrig verhalten.183 Voraussetzung hierfür ist, dass das für die Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses notwendige Vertrauen in die Rechtschaffenheit des Arbeitnehmers zerstört ist oder in anderer Weise eine unerträgliche Belastung des Arbeitsverhältnisses entsteht.184 Nicht die eigentliche Tat des Arbeitnehmers ist damit entscheidend, sondern allein das Wegfallen der Vertrauensbasis für eine weitere Zusammenarbeit. Erforderlich hierfür ist ein Verdacht, der sich auf eine arbeitsvertraglich relevante schwere Pflichtverletzung oder Straftat des Arbeitnehmers bezieht.185 Dabei ist stets die besondere Konstellation zu beachten, dass sich der Verdacht gegebenenfalls auch zerstreut und sich der Arbeitnehmer womöglich unschuldig ist. Demnach muss stets ein dringender Tatverdacht gegeben sein, das heißt es müssen Tatsachen vorliegen, die eine schwere Pflichtverletzung oder Straftat überwiegend wahrscheinlich machen.186 Des Weiteren muss sich der Arbeitgeber für die Kündigung ausschließlich oder wenigstens hilfsweise auf den dringenden Tatverdacht berufen.187 13.2.3.3.2 Interessenabwägung Entgegen einer weit verbreiteten Meinung, existieren keine absoluten Kündigungsgründe.188 86 Vielmehr ist auch bei jeder außerordentlichen Kündigung eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen. An dieser grundsätzlichen Prüfungsweise hat auch die viel beachtete, aber oft missverstandene Entscheidung des BAG im Fall „Emmely“ bzgl. einer

181BAG

v. 27.11.2008, Az. 2 AZR 98/07, NZA 2009, 604. ausführlichen Darstellung siehe: Lunk NJW 2010, 2753. 183BAG v. 10.2.2005, Az. 2 AZR 189/04, NZA 2005, 1056. 184BAG v. 3.4.1986, Az. 2 AZR 324/85, NZA 1986, 677. 185BAG v. 5.6.2008, Az. 2 AZR 234/07, NZA-RR 2008, 630. 186Siehe: Langner/Witt DStR 2008, 825. 187BAG v. 3.7.2003, Az. 2 AZR 437/02, NZA 2004, 307. 188Erfurter Kommentar/Müller-Glöge, 17. Auflage 2017, § 626 BGB Rn. 24 ff. 182Zur

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„Bagatellunterschlagung“ nichts geändert.189 Zur Abwägung der beiderseitigen Interessen ist darauf abzustellen, ob regelmäßig die Arbeitgeberinteressen an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses die Interessen des Arbeitnehmers an der Fortsetzung überwiegen. Zu berücksichtigende Aspekte sind hier regelmäßig die Betriebszugehörigkeit190 sowie das Lebensalter des Arbeitnehmers, die Dauer der ordentlichen Kündigungsfrist, die konkreten Umstände der Verfehlung – auch im Hinblick auf die Gefahr der Wiederholung sowie die Folgen der Auflösung des Arbeitsverhältnisses. Im Rahmen der Interessenabwägung sind auch stets mildere Mittel wie Abmahnung, Änderungskündigung, Versetzung und ordentliche Kündigung zu berücksichtigen. Gegen eine Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses sprechen in der Praxis oft die begründete Wiederholungsgefahr oder eine besondere Vertrauensstellung des Arbeitnehmers. Im Rahmen der Verdachtskündigung ist weiterhin erforderlich, dass der Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigung alle zumutbaren Maßnahmen zur Aufklärung des in Rede stehenden Sachverhalts ergriffen hat, wozu in aller Regel auch die Anhörung des Arbeitnehmers gehört.191 Dem Arbeitnehmer muss die Gelegenheit eingeräumt werden, zu den erhobenen Vorwürfen Stellung zu nehmen und sich zu verteidigen.192 13.2.3.3.3 Abmahnung 87 Handelt es sich um einen verhaltensbedingten Kündigungsgrund, so ist grundsätzlich auch bei der außerordentlichen Kündigung eine vorherige Abmahnung erforderlich.193 Jedoch wird in der überwiegenden Zahl der Fälle eine Abmahnung nicht geeignet sein, die für das Arbeitsverhältnis vorausgesetzte Vertrauensbasis erneut und dauerhaft zu bilden.194 Die Abmahnung ist daher entbehrlich, wenn sie kein geeignetes Mittel darstellt bzw. zur Begründung einer Negativprognose für das weitere Vertragsverhältnis nicht notwendig ist. Dies gilt nur dann nicht, wenn der Arbeitnehmer aus nachvollziehbaren Gründen annehmen konnte, sein Verhalten werde nicht als erhebliches Fehlverhalten angesehen, welches das Arbeitsverhältnis in seinem Bestand gefährde.195 13.2.3.3.4 Kündigungserklärungsfrist gemäß § 626 Abs. 2 BGB 88 Gemäß § 626 Abs. 2 BGB muss die außerordentliche Kündigung innerhalb von zwei Wochen nach Kenntnis des Kündigungsgrundes ausgesprochen werden.196 Dem

189BAG

v. 10.6.2010, Az. 2 AZR 541/09, NZA 2010, 1227. Schleswig-Holstein v. 9.12.2006, Az. 5 Sa 288/06, NZA-RR 2007, 240. 191BAG v. 13.9.1995, Az. 2 AZR 587/94, BB 1995, 2655. 192LAG Nürnberg v. 28.11.2005, Az. 6 Sa 238/05, BeckRS 2006, 42650; zu den diesbezüglich weiteren Problemkreisen siehe: Langner/Witt DStR 2008, 825, 827. 193BAG v. 30.5.1978, Az. 2 AZR 630/76, NJW 1979, 332. 194Einzelfälle siehe: Stahlhacke/Preis/Vossen, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, Handbuch, 11. Auflage 2015, Rn. 1208. 195BAG v. 21.6.2001, Az. 2 AZR 325/00, NZA 2002, 1030. 196BAG v. 17.3.2005, Az. 2 AZR 245/04, NZA 2006, 101. 190LAG

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­ rbeitgeber ist grundsätzlich ein bestimmter Zeitraum zuzubilligen, in dem er, ohne A dass die Frist des § 626 Abs. 2 BGB läuft, ermitteln kann. Oft ist ein Verdacht noch nicht konkret genug, um darauf Konsequenzen stützen zu können. Jedoch geht dieses Ermittlungsrecht nicht so weit, dass der Arbeitgeber hierdurch den Fristbeginn der Vorschrift beliebig festlegen kann. Ihm ist zwar eine einzelfallabhängige Ermittlungsfrist zuzubilligen, jedoch ist er gehalten, erforderliche Nachforschungen zügig durchzuführen.

13.2.3.4 Sonderfälle der Kündigung 13.2.3.4.1 Low Performer Ein Sonderproblem stellt die Kündigung von „Low Performern“197 dar. Darunter sind 89 Arbeitnehmer zu verstehen, die ihrer Arbeitspflicht außerhalb der hinzunehmenden Toleranzgrenzen nicht bzw. nicht genügend nachkommen.198 Dabei ist zu unterscheiden, ob der Arbeitnehmer nicht leistungswillig oder nicht leistungsfähig ist. Eine Kündigung kann im ersten Fall verhaltensbedingt sein, das heißt wenn der Arbeitnehmer sein an sich vorhandenes Leistungspotential nicht angemessen abruft.199 Im Übrigen kommt eine personenbedingte Kündigung in Betracht.200 Insgesamt ist neben der ebenfalls erforderlichen Interessenabwägung ein umfangreicher Vortrag des Arbeitgebers bezüglich der aufgetretenen Leistungsmängel notwendig. So ist etwa die Überschreitung der durchschnittlichen Fehlerquote im Vergleich zu anderen vergleichbaren Arbeitnehmern herauszuarbeiten.201 13.2.3.4.2 Druckkündigung Einen weiteren Sonderfall stellt die sog. Druckkündigung dar. Diese liegt vor, wenn Dritte 90 dem Arbeitgeber Nachteile androhen und zum Beispiel zum Boykott eines Unternehmens aufrufen, falls er einen bestimmten Arbeitnehmer nicht entlässt. Hierbei sind zunächst alternativ verhaltens-, personen- oder betriebsbedingte Kündigungsgründe zu prüfen.202 Sofern die Gründe auf die Person des Arbeitnehmers und nicht auf konkrete Verhaltensweisen zurückzuführen sind, liegt ein personenbedingter Kündigungsgrund nahe. Die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebieten jedoch, dass sich der Arbeitgeber zunächst schützend vor seinen Arbeitnehmer stellt. Er muss versuchen, den Arbeitnehmer „aus dem Schussfeld“ zu nehmen, indem er ihn zum Beispiel innerbetrieblich versetzt, um den öffentlichen Druck zu verringern oder zu beenden. Sind derartige Maßnahmen erfolglos oder von Anfang an nicht erfolgversprechend, ist eine Kündigung möglich, um so schwere Schäden vom Unternehmen abzuwenden. 197Siehe

allgemein hierzu: Friemel/Walk NJW 2010, 1557. Handbuch zum Arbeitsrecht/Berkowsky, Bd. 1, 3. Auflage 2009, § 114 Rn. 71. 199BAG v. 17.1.2008, Az. 2 AZR 536/06, NJW 2008, 3019. 200BAG v. 11.12.2003, Az. 2 AZR 667/02, NZA 2004, 784. 201BAG v. 17.1.2008, Az. 2 AZR 536/06, NJW 2008, 3019. 202BAG v. 31.1.1996, Az. 2 AZR 158/95, NZA 1996, 581. 198Münchener

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13.2.3.5 Änderungskündigung 91 Im Verlauf eines Arbeitsverhältnisses können verschiedene Umstände eine Anpassung des vertraglichen Zustandes an eine neue Situation erforderlich machen. Für Sachverhalte, die nicht im Wege des arbeitgeberischen Direktionsrechts geklärt werden können, stellt die Änderungskündigung (§ 2 KSchG) eine Möglichkeit dar.203 Der Arbeitsplatz soll erhalten werden, wenn die Möglichkeit zur Weiterbeschäftigung zu geänderten Bedingungen besteht. 13.2.3.5.1 Begriff 92 Die Änderungskündigung gemäß § 2 KSchG ist die Erklärung des Arbeitgebers, das ursprüngliche Arbeitsverhältnis zu kündigen und gleichzeitig ein neues Arbeitsverhältnis zu geänderten Konditionen anzubieten. Rechtstechnisch handelt es sich hierbei um eine gewöhnliche Kündigung verbunden mit einem neuen Vertragsangebot. Inhaltlich können alle relevanten Fragen eines Arbeitsverhältnisses betroffen sein, also beispielsweise Arbeitszeit, Lohn, Gratifikationen und Arbeitsort. 13.2.3.5.2 Voraussetzungen 93 Grundsätzlich finden alle dargestellten Kündigungsvoraussetzungen und -schutzbestimmungen auch auf die Änderungskündigung Anwendung. Eine solche Kündigung ist nur zulässig, wenn ein Änderungskündigungsgrund gemäß §§ 2, 1 Abs. 2 S. 1 KSchG vorlegt. Eine betriebsbedingte Änderungskündigung bedarf daher zwingend eines dringlichen betrieblichen Grundes. Dieser ist dann gegeben, wenn sich der Arbeitgeber bei einem an sich anerkennenswerten Anlass darauf beschränkt hat, lediglich solche Änderungen vorzunehmen, die der Arbeitnehmer billigerweise hinnehmen muss.204 Ob die Änderung der Arbeitsbedingungen billigerweise hinzunehmen ist, ist wiederum nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beurteilen. Demnach müssen die Änderungen für alle Beteiligten geeignet und erforderlich sein, um den Inhalt des Arbeitsvertrages den geänderten Bedingungen anzupassen. Auch im Rahmen der Änderungskündigung ist stets zu prüfen, ob die gewollte Änderung nicht auch durch Anwendung milderer Mittel erreicht werden kann. Gemäß § 2 Abs. 1 KSchG gelten bei einer Änderungskündigung aus betriebsbedingten Gründen ebenfalls die Grundsätze der Sozialauswahl. Hierbei ist zu beachten, dass aufgrund der unterschiedlichen Zielrichtungen von Änderungsund Beendigungskündigung die sozialen Gesichtspunkte bei Änderungskündigungen abweichend zu interpretieren205, bzw. ggf. unterschiedlich zu gewichten sind206.

203Zum

Überblick siehe: Bröhl BB 2007, 437. v. 23.6.2005, Az. 2 AZR 642/04, NZA 2006, 92. 205BAG v. 13.6.1986, Az. 7 AZR 623/84, NZA 1987, 155. 206Siehe: Stahlhacke/Preis/Vossen, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, Handbuch, 11. Auflage 2015, Rn. 1326. 204BAG

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13.2.3.6 Beschäftigungsanspruch Arbeitnehmer haben einen Anspruch auf tatsächliche Beschäftigung während des lau- 94 fenden Arbeitsverhältnisses. Dies bedeutet, dass der Arbeitgeber nebenvertraglich verpflichtet ist, dem Arbeitnehmer die vertraglich vereinbarte Tätigkeit zuzuweisen. Eine Vergütung des Arbeitnehmers ohne Beschäftigung reicht nicht aus. Dieser Anspruch wird aus dem Arbeitsvertrag und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers (Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG) hergeleitet. Dieser Anspruch besteht bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist.207 Etwas anderes gilt nur, wenn ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers (dies ist zB dann gegeben, wenn der Arbeitnehmer in der verbliebenden Zeit den Betriebsfrieden stören würde) an der Nichtbeschäftigung des Arbeitnehmers besteht. In diesem Fall ist der Arbeitgeber berechtigt, den Arbeitnehmer einseitig freizustellen.

13.2.3.7 Weiterbeschäftigungsanspruch Häufig wird in Prozessen vor den Arbeitsgerichten neben einer Kündigungsschutzklage 94a vom Arbeitnehmer auch ein Antrag auf Weiterbeschäftigung während des Kündigungsschutzprozesses gestellt. Im Falle des Bestehens eines Betriebsrates kann sich ein besonderer Weiterbeschäftigungsanspruch aus § 102 Abs. 5 BetrVG ergeben. Greift dieser nicht ein, so kommt ein allgemeiner Weiterbeschäftigungsanspruch in Betracht. 13.2.3.7.1 Weiterbeschäftigungsanspruch gemäß § 102 Abs. 5 BetrVG Voraussetzung für eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers auch über den Ablauf der 95 Kündigungsfrist hinaus und bis zu einem rechtskräftigen Urteil ist, dass der Betriebsrat frist- und ordnungsgemäß einer ordentlichen Kündigung widersprochen hat.208 Eine außerordentliche Kündigung oder eine Änderungskündigung sind hierzu grundsätzlich nicht geeignet.209 Des Weiteren muss der Arbeitnehmer Kündigungsschutzklage erhoben haben und gegenüber dem Arbeitgeber ausdrücklich und rechtzeitig eine Weiterbeschäftigung verlangen. Es ist ausreichend, wenn der Arbeitnehmer sein Verlangen einen Tag nach Ablauf der Kündigungsfrist äußert.210 In prozessualer Hinsicht kann der Arbeitnehmer den Weiterbeschäftigungsanspruch sowohl im Klagewege als auch per einstweiliger Verfügung geltend machen.

207BAG,

27.02.1985 - GS 1/84. hierzu unter 2. Teil B. II. 3. b). 209Zu den Ausnahmen siehe: Erfurter Kommentar/Kania, 17. Auflage 2017, § 102 BetrVG Rn. 32. 210BAG v. 11.5.2000, Az. 2 AZR 54/99, NJW 2000, 3587. 208Siehe

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13.2.3.7.2 Allgemeiner Weiterbeschäftigungsanspruch 96 Greifen die hohen Voraussetzungen des § 102 Abs. 5 BetrVG nicht, kommt ein allgemeiner Weiterbeschäftigungsanspruch in Betracht.211 Dieser besteht, wenn die Interessen des Arbeitnehmers an einer Weiterbeschäftigung die des Arbeitgebers an einer Freistellung überwiegen.212 Hierbei gilt der folgende Grundsatz: Bis zum Abschluss der ersten Instanz überwiegen aufgrund der Ungewissheit des Prozessausgangs die Interessen des Arbeitgebers. Ein Weiterbeschäftigungsanspruch besteht also grundsätzlich in dieser Phase nicht. Ausnahmen liegen nur dann vor, wenn eine Kündigung offensichtlich unwirksam ist oder es dem Arbeitnehmer gelingt, ein besonderes Interesse an der tatsächlichen Beschäftigung darzulegen. 8. Weiterarbeit nach Erreichen der Regelaltersgrenze § 41 S. 3 SGB VI sieht vor, dass ein bereits vereinbarter Beendigungszeitpunkt des Arbeitsverhältnisses über das Erreichen der Regelaltersgrenze hinaus ggfs. auch mehrfach hinausgeschoben werden kann. Erforderlich ist hierfür eine vertragliche Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer während des laufenden Arbeitsverhältnisses. Eine Begrenzung in der Dauer oder der Anzahl der Verlängerungen ist gesetzlich nicht vorgesehen. Inhaltlich ist es nur zulässig die Vertragslaufzeit zu verlängern. § 41 S. 3 SGB VI findet keine Anwendung, wenn das Arbeitsverhältnis bereits beendet ist.213 13.2.3.7.3 Kollektivarbeitsrecht

13.2.4 Tarifvertragsrecht 97 Die sich aus der Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG ergebende Tarifautonomie gewährleistet für die Tarifvertragsparteien das Recht, Fragen der Ordnung im Arbeitsleben im Interesse ihrer Mitglieder und losgelöst von staatlicher Einflussnahme zu regeln.

13.2.4.1 Tarifvertrag 98 Der Tarifvertrag ist oft die wichtigste Rechtsquelle, um Arbeitsbedingungen für eine Vielzahl von Beschäftigungsverhältnissen zu regeln. Gemäß §§ 1, 2 Tarifvertragsgesetz (TVG) handelt es sich hierbei um einen schriftlichen Vertrag zwischen tariffähigen Parteien zur Regelung arbeitsrechtlicher Rechte und Pflichten sowie zur Festsetzung von Rechtsnormen. Dabei sind mit Bezug auf die handelnden Parteien Unterschiede

211Ausführlich

hierzu: Küttner/Kania, Personalbuch 2017, 24. Auflage 2017, Weiterbeschäftigungsanspruch Rn. 11 ff. 212BAG v. 27.2.1985, Az. GS 1/84, NZA 1985, 702. 213Erfurter Kommentar/Rolfs, 17. Auflage 2017, § 41 SGB VI Rn. 23.

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zu machen: Gemäß § 2 TVG sind Tarifvertragsparteien Vereinigungen von Arbeitgebern bzw. einzelne Arbeitgeber einerseits und Gewerkschaften andererseits. Flächentarifverträge werden zwischen einer Gewerkschaft und einem Arbeitgeberverband geschlossen, während Firmentarifverträge zwischen einer Gewerkschaft und einem einzelnen Arbeitgeber zustande kommen. Bei kleineren Gewerkschaften ist zu beachten, dass sie nur dann als tariffähig anzusehen sind, wenn sie über eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit verfügen.214 In diesem Zusammenhang hat das BAG entschieden, dass die Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personal-Service-Agenturen (CGZP) nicht tariffähig ist und die geschlossenen Tarifverträge deshalb unwirksam sind.215 Inhaltlich sind darüber hinaus weitere Arten von Tarifverträgen nach dem jeweiligen Regelungsgehalt zu unterscheiden.216 Insgesamt haben die Tarifvertragsparteien gemäß § 1 Abs. 1 TVG umfassende Regelungsbefugnisse.217

13.2.4.2 Tarifbindung Ein Tarifvertrag findet nur dann Anwendung, wenn sowohl der Arbeitgeber als auch der 99 Arbeitnehmer an die Regelungen gebunden sind. 13.2.4.2.1 Beiderseitige Mitgliedschaft Die vom Gesetz vorgesehene Grundkonstellation ist die beiderseitige Tarifbindung 100 gemäß § 3 Abs. 1 TVG. Diese ist gegeben, wenn der Arbeitgeber entweder Mitglied des tarifschließenden Arbeitgeberverbandes bzw. im Falle eines Firmentarifvertrages selbst Tarifvertragspartei ist und der Arbeitnehmer zudem Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft. Tritt der Arbeitgeber aus dem Verband aus, so wirkt der gültige Tarifvertrag gemäß der in § 3 Abs. 3 TVG niedergelegten Nachbindung unmittelbar und zwingend für dessen Laufzeit weiter.218 Ein Austritt hat daher bezüglich der Anwendbarkeit eines Tarifvertrags keine Auswirkung. Die Nachbindung endet mit jeder inhaltlichen Änderung des betreffenden Tarifvertrags.219 Auch nach Ablauf des Tarifvertrages sind die Regelungen nicht gegenstandslos; gemäß § 4 Abs. 5 TVG gelten die Regelungen eines Tarifvertrags solange weiter, bis sie durch eine neue Abmachung ersetzt werden (so gennante „Nachwirkung“).220 Die Nachwirkung unterliegt somit keiner zeitlichen

214BAG

v. 14.12.2004, Az. 1 ABR 51/03, BB 2005, 1054. v. 14.12.2010, Az. 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289; BAG v. 23.5.2012, Az. 1 AZB 67/11, NZA 2012, 625. 216In der Praxis häufige Beispiele sind Mantel-, Lohn- und Gehalts-, Rahmen- und Urlaubstarifverträge aber auch Tarifverträge über vermögenswirksame Leistungen. 217Siehe hierzu: Erfurter Kommentar/Franzen, 17. Auflage 2017, § 1 TVG Rn. 38 ff. 218BAG v. 4.4.2001, Az. 4 AZR 237/00, NZA 2001, 1085. 219BAG v. 1.7.2009, Az. 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53. 220BAG v. 15.10.2003, Az. 4 AZR 573/02, NZA 2004, 387. 215BAG

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Beschränkung.221 Zu beachten ist allerdings, dass während der Nachwirkung die zwingende Wirkung des Tarifvertrags entfällt und der tarifvertragliche Standard durch einzelvertragliche Vereinbarungen unterschritten werden kann.222 13.2.4.2.2 Allgemeinverbindlichkeit 101 Eine Tarifbindung kann sich zudem gemäß § 5 TVG aufgrund einer staatlichen Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines bestimmten Tarifvertrags ergeben. Dies hat zur Folge, dass auch nicht tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien unmittelbar und zwingend in den Gültigkeitsbereich des entsprechenden Tarifvertrags einbezogen werden.223 13.2.4.2.3 Vertragliche Bezugnahmeklauseln 102 Aufgrund der Vertragsautonomie ist es möglich und vielfach praktiziert, Tarifverträge oder bestimmte Teile einer tariflichen Regelung als Bestandteil in den Arbeitsvertrag zu integrieren.224 Hierfür ist erforderlich, dass die Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag bestimmt und eindeutig ist.225 Sie muss einwandfrei erkennen lassen, welche Bestimmungen im Einzelnen einbezogen werden sollen226 und welche Regelung (bei mehrgliedrigen Tarifverträgen) im Kollisionsfall einschlägig ist.227 Hinsichtlich der konkreten Verweisungstechnik ist zwischen statischen und dynamischen Verweisungen228 zu unterscheiden, das heißt danach, ob auf einen Tarifvertrag in einer bestimmten oder in der jeweils gültigen Fassung verwiesen wird. Im Zweifel ist von einer sog. unbedingten zeitdynamischen Bezugnahmeklausel auszugehen.229 Zu beachten ist schließlich, dass dynamische Verweisungen nach früherer Rechtsprechung für nicht tarifgebundene Arbeitgeber typischerweise Gleichstellungsabreden darstellen.230 Dies hat zur Folge, dass der Arbeitnehmer ungeachtet einer Gewerkschaftszugehörigkeit dem tariflichen Arbeitnehmer gleichgestellt ist. Nunmehr gilt dies für nach dem 1.1.2002 geschlossene

221BAG

v. 15.10.2003, Az. 4 AZR 573/02, NZA 2004, 387. Kommentar/Franzen, 17. Auflage 2017, § 4 TVG Rn. 63. 223Ein Verzeichnis der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge ist abzurufen unter: www. bmas.de/De/Themen/Arbeitsrecht/Tarifvertraege/allgemeinverbindliche-tarifvertraege.html. 224Grobys/Panzer, Stichwort Kommentar Arbeitsrecht, 3. Auflage 2016, Bezugnahme Klausel, Rn. 4. 225Grobys/Panzer, Stichwort Kommentar Arbeitsrecht, 3. Auflage 2016, Bezugnahme Klausel, Rn. 13. 226BAG v. 30.8.2000, Az. 4 AZR 581/99, NJW 2001, 2350. 227BAG v. 13.3.2013, Az. 5 AZR 954/11, NZA 2013, 680. 228Grobys/Panzer, Stichwort Kommentar Arbeitsrecht, 3. Auflage 2016, Bezugnahme Klausel, Rn. 6ff. 229BAG v. 22.10.2008, Az. 4 AZR 793/07, NZA 2009, 323. 230BAG v. 1.12.2004, Az. 4 AZR 50/04, NZA 2005, 478. 222Erfurter

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Arbeitsverträge nicht mehr.231 Im Nachgang des „Alemo-Herron“ Urteils des EuGH232 wurde an der Vereinbarkeit von dynamischen Bezugnahmeklauseln mit dem Europarecht gezweifelt.233 Diese Zweifel haben sich aber nun durch eine aktuellere Entscheidung des EuGH aufgelöst.234

13.2.4.3 Tarifkonkurrenz/Tarifpluralität In der Praxis kann es sich ergeben, dass mehrere Tarifverträge mit demselben Regelungs- 103 gehalt vorliegen und fraglich ist, welcher Tarifvertrag auf das konkrete Arbeitsverhältnis Anwendung findet. Dabei ist zwischen Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität zu unterscheiden. Tarifkonkurrenz ist gegeben, wenn mehrere Tarifverträge denselben Sachverhalt regeln und für Arbeitgeber und Arbeitnehmer gelten.235 In diesem Fall ist gemäß dem Grundsatz der Tarifeinheit der speziellere, das heißt sachnähere Tarifvertrag anzuwenden.236 Entscheidend ist, welches Regelwerk dem betreffenden Betrieb insgesamt am nächsten steht. So geht etwa ein Firmentarifvertrag einem Verbandstarifvertrag vor.237 Demgegenüber stellt sich das Problem der Tarifpluralität dann, wenn mehrere Gewerkschaften in einem Betrieb Tarifverträge abgeschlossen haben. Dies hat zur Folge, dass der Arbeitgeber normativ an mehrere Tarifverträge gebunden ist, die einzelnen Arbeitnehmer jeweils aber nur an einen. Das BAG238 wandte in diesem Fall für viele Jahre ebenfalls die dargestellten Grundsätze der Tarifeinheit an, auch wenn diese Praxis in der Literatur umstritten war239. Der Vierte Senat des BAG hat den Grundsatz der Tarifeinheit in Bezug auf die Situation bei der Tarifpluralität im Jahr 2010 aufgegeben.240 Der ebenfalls für Tarifvertragsrecht zuständige Zehnte Senat hat sich in der Folge ebenfalls für die Anwendung der Tarifpluralität ausgesprochen.241 Demnach bestehe kein hinreichender Grund, die in §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG niedergelegte Möglichkeit auszuschließen, dass für verschiedene Arbeitnehmer in einem Betrieb unterschiedliche Tarifverträge Anwendung finden. Der Gesetzgeber ist nun tätig geworden und hat mit dem Tarifeinheitsgesetz eine gesetzliche Regelung für den Fall der Tarifpluralität erlassen Demnach ist es in einem ersten Schritt den Gewerkschaften überlassen, Tarifkollisionen dadurch

231BAG

v. 18.4.2007, Az. 4 AZR 652/05, BB 2007, 2125; Jordan/Bissels NZA 2010, 71; Gaul/ Ludwig BB 2010, 55. 232EuGH v. 18.7.2013 - C 426/11, NZA 2013, 835. 233Lobinger NZA 2013, 945, 947; Willemsen/Grau NJW 2014, 12, 14. 234EuGH v. 27.4.2017 - C 680/15, C-681/15, NZA 2017, 571. 235BAG v. 22.10.2008, Az. 4 AZR 789/07, NZA 2009, 265. 236BAG v. 29.11.1978, Az. 4 AZR 304/77, AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 12. 237BAG v. 15.4.2008, Az. 9 AZR 159/07, NZA-RR 2008, 586. 238BAG v. 20.3.1991, Az. 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736. 239Siehe hierzu etwa: Bayreuther NZA 2007, 187. 240BAG v. 27.1.2010, Az. 4 AZR 537/08, NZA 2010, 645. 241BAG v. 23.6.2010, Az. 10 AS 2/10, NZA 2010, 778.

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zu vermeiden, dass sie ihre Geltungsbereiche miteinander abstimmen (gewillkürte Tarifpluralität). Erst in dem Zeitpunkt, in dem es zu einer Kollision kommt, da die Gewerkschaften keine Einigung erzielen konnten, greift die Kollisionsregel des § 4a Abs. 2 S. 2 TVG. Diese besagt, dass nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft Geltung erlangt, die im Betrieb zum Zeitpunkt des Abschlusses des letzten Tarifvertrages über die meisten Mitglieder verfügt. Den Rechten von kleineren Gewerkschaften wird durch das Nachzeichnungsrecht des § 4a Abs. 4 TVG und durch das Anhörungsrecht des § 4a Abs. 5 S. 2 TVG Rechnung getragen. Das BVerfG entschied am 11.7.2017, dass diese Regelungen weitgehend mit dem Grundgesetz vereinbar sind und kleinere Gewerkschaften nicht unzulässig in ihren Rechten nach Art. 9 Abs. 3 GG beschränkt werden.242

13.2.4.4 Wirkungen 104 Gemäß § 4 Abs. 1 TVG ist die Wirkung des Tarifvertrages auf das Arbeitsverhältnis unmittelbar und zwingend. Das bedeutet, dass der Arbeitnehmer von günstigeren Regelungen aus dem Tarifvertrag profitiert, auch wenn der eigene Arbeitsvertrag eine solche Begünstigung nicht vorsieht. Für den Fall, dass tarifliche Regelungen mit Betriebsvereinbarungen kollidieren, regelt § 77 Abs. 3 BetrVG, dass in einer Betriebsvereinbarung keine Regelungen getroffen werden dürfen, die in einem Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden. Dies ist auch dann gegeben, wenn die betriebliche Regelung für den Arbeitnehmer vorteilhaft ist. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist allerdings gemäß § 4 Abs. 3 TVG im Wege sog. tariflicher Öffnungsklauseln zur Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen regelbar, etwa in wirtschaftlich schwierigen Zeiten.

13.2.5 Betriebsverfassungsrecht 105 Regelungsgehalt des Betriebsverfassungsrechts sind die Rechtsbeziehungen zwischen dem Unternehmen als Arbeitgeber und der gewählten Arbeitnehmervertretung. Von besonderer Bedeutung sind dabei Fragen der betrieblichen Mitbestimmung. Nach Maßgabe des BetrVG nimmt der Betriebsrat als Interessenvertreter der Arbeitnehmerschaft abgestufte Beteiligungsrechte wahr und hat damit teilweise unmittelbaren Einfluss auf innerbetriebliche Entscheidungen des Arbeitgebers. Die Beteiligung der Arbeitnehmervertreter soll die Grundlage für einen Ausgleich zwischen Unternehmerfreiheit und dem Recht auf Selbstbestimmung der in der fremdbestimmten Arbeitsorganisation tätigen Arbeitnehmer schaffen.243 Arbeitgeber und Betriebsrat treffen in Ansehung der natürlichen Interessengegensätze, aber gemäß dem in § 2 Abs. 1 BetrVG verankerten Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit gemeinsame Entscheidungen zum Wohle des gesamten Betriebes.

242BVerfG

v. 11.7.2017 1 BvR 1571/15, NZA 2017, 915. Kommentar, 7. Auflage 2016, Vorb. BetrVG Rn. 1.

243H/W/K/Gaul, Arbeitsrecht

13 Arbeitsrecht

277

13.2.5.1 Organisation der Betriebsverfassung Die wichtigsten Organe der Betriebsverfassung sind der Arbeitgeber und der Betriebsrat 106 als zentrales betriebliches Vertretungsorgan.244 Der Betriebsrat repräsentiert die Belegschaft, das heißt Arbeiter und Angestellte, und übt die gesetzlichen Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte gegenüber dem Arbeitgeber aus. Für leitende Angestellte ist der Betriebsrat nicht zuständig; diese werden durch den Sprecherausschuss gemäß den Bestimmungen des SprAuG vertreten. Gemäß § 5 Abs. 3 BetrVG gelten solche Mitarbeiter als leitende Angestellte, die nach arbeitsvertraglicher und tatsächlicher Stellung im weitesten Sinne unternehmerische Leitungsaufgaben wahrnehmen, beispielsweise (Einzel) Prokura haben oder selbstständig über personelle Fragen disponieren können. Des Weiteren normiert das Gesetz weitere Bereichsausnahmen in den §§ 118, 130 BetrVG für sog. Tendenzbetriebe. 13.2.5.1.1 Bildung des Betriebsrats Gemäß § 1 Abs. 1 BetrVG werden Betriebsräte in Betrieben errichtet, in denen regelmäßig mindestens fünf wahlberechtigte Arbeitnehmer, von denen drei wählbar sind, beschäftigt sind. Wahlberechtigt sind auch Leiharbeitnehmer, wenn sie länger als drei Monate im Betrieb eingesetzt werden (§ 7 S. 2 BetrVG). Demnach ist der Betriebsbegriff des § 1 BetrVG von entscheidender Bedeutung. Im Unterschied zum Unternehmen als juristischer Person und Rechtsträger ist der Betrieb eine tatsächliche, organisatorische Einheit, mit der der Arbeitgeber allein oder in Gemeinschaft mit seinen Mitarbeitern unter Verwendung sächlicher oder immaterieller Mittel einen bestimmten arbeitstechnischen Zweck fortgesetzt verfolgt, der sich nicht nur in der Befriedigung eines Eigenbedarfs erschöpft.245 Gemäß § 1 Abs. 1 S. 2 BetrVG werden auch in gemeinsamen Betrieben verschiedener Unternehmen Betriebsräte gewählt. Ein gemeinsamer Betrieb liegt dann vor, wenn die in einer Betriebsstätte vorhandenen materiellen und immateriellen Betriebsmittel von mehreren Unternehmen für einen einheitlichen arbeitstechnischen Zweck zusammengefasst, geordnet und gezielt eingesetzt werden und der Einsatz der menschlichen Arbeitskraft von einem einheitlichen Leitungsapparat gesteuert wird.246 Der Betriebsbegriff ist strikt vom Unternehmensbegriff zu unterscheiden. In Unternehmen, die sich in mindestens zwei Betriebe mit Betriebsrat untergliedern, ist gemäß § 47 Abs. 1 BetrVG ein Gesamtbetriebsrat zwingend zu bilden. Er ist gemäß 107 § 50 Abs. 1 BetrVG zuständig für Belange, die das Gesamtunternehmen oder mehrere Betriebe des Unternehmens betreffen und nicht auf der betrieblichen Ebene geregelt werden können. Daneben können die Einzelbetriebsräte für spezielle Angelegenheiten die Zuständigkeit gemäß § 50 Abs. 2 BetrVG auch auf den Gesamtbetriebsrat delegieren.

244Darüber

hinaus existieren zudem die Jugendvertretung gemäß § 60 BetrVG, die Bordvertretung gemäß § 115 BetrVG und der Seebetriebsrat gemäß § 116 BetrVG. 245BAG v. 14.9.1988, Az. 7 ABR 10/87, NZA 1989, 190. 246BAG v. 25.9.1986, Az. 6 ABR 68/84, NZA 1987, 708.

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Gemäß § 54 Abs. 1 BetrVG kann zudem in Konzernen nach Maßgabe entsprechender Beschlüsse mehrerer Gesamtbetriebsräte ein Konzernbetriebsrat errichtet werden. Dieser ist wiederum zuständig für Angelegenheiten, die den gesamten Konzern oder mehrere Konzernunternehmen betreffen und die nicht durch die einzelnen (Gesamt)-Betriebsräte unternehmensintern geregelt werden können, § 58 Abs. 1 BetrVG. Auch hier ist wiederum eine Delegation der Zuständigkeit durch die Gesamtbetriebsräte an den Konzernbetriebsrat möglich, § 58 Abs. 2 BetrVG. 13.2.5.1.2 Wahl/Geschäftsführung des Betriebsrates 108 Die formellen Anforderungen an die Betriebsratswahl sind in den §§ 7 ff. BetrVG umfassend geregelt. Die Größe des Betriebsrates richtet sich gemäß der Staffelung des § 9 BetrVG nach der Anzahl der wahlberechtigten Arbeitnehmer im Betrieb, wobei auch die Leiharbeitnehmer zu berücksichtigen sind.247 Die regelmäßige Amtszeit des Betriebsrats beträgt gemäß § 21 BetrVG vier Jahre. Jeder Betriebsrat muss gemäß § 26 BetrVG einen Vorsitzenden sowie einen Stellvertreter wählen. Zu den maßgeblichen Aufgaben des Vorsitzenden zählen die Einberufung von Betriebsratssitzungen gemäß § 29 Abs. 2 S. 1 BetrVG, die Leitung der Betriebsversammlung gemäß § 42 Abs. 1 BetrVG sowie die Führung der laufenden Geschäfte, soweit kein Betriebsausschuss gebildet worden ist, § 27 Abs. 2, 3 BetrVG. 13.2.5.1.3 Stellung des Betriebsratsmitglieds 109 Gemäß § 37 Abs. 1 BetrVG übt jedes Betriebsratsmitglied seine Arbeit ehrenamtlich aus. Zur Vermeidung finanzieller Nachteile regelt § 37 Abs. 2 BetrVG für die Dauer der Tätigkeit aber einen Anspruch auf bezahlte Arbeitsbefreiung. Gemäß § 38 Abs. 1 BetrVG sind in größeren Betrieben ab 200 Arbeitnehmern Betriebsratsmitglieder nach Maßgabe vom Gesetz gesetzter Schwellenwerte sogar gänzlich von ihrer Tätigkeit freizustellen. 13.2.5.1.4 Sonderkündigungsschutz 110 Betriebsratsmitglieder verfügen über einen besonderen Kündigungsschutz gemäß § 15 KSchG und § 103 BetrVG. Diese soll im Interesse des Betriebsratsmitglieds verhindern, dass dieses durch unberechtigte oder willkürliche Kündigung aus dem Betrieb gedrängt werden kann und insgesamt eine personelle Kontinuität des Gremiums gewährleisten.248 aa) Ordentliche Kündigung

111 Demnach ist die ordentliche Kündigung eines Betriebsratsmitglieds249 bzw. eines Wahlvorstandes oder Wahlbewerbers grundsätzlich unzulässig. Dies gilt auch für die 247BAG

v. 13.3.2013, Az. 7 ABR 69/11, NZA 2013, 789. v. 17.2.1983, Az. 2 AZR 481/81, NJW 1983, 1927. 249Und den weiteren Mitgliedern der betriebsverfassungsrechtlichen Organe, ebenso die Vertrauenspersonen schwerbehinderter Menschen. 248BAG

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Änderungskündigung.250 Besonderheiten ergeben sich gemäß § 15 Abs. 4 KSchG für den Fall der Betriebsstilllegung. Bei einer vollständigen Schließung ist eine ordentliche Kündigung der Betriebsratsmitglieder möglich. bb) Außerordentliche Kündigung

Eine außerordentliche Kündigung gemäß § 626 BGB bleibt zulässig, bedarf aber 112 der Zustimmung des Betriebsrates gemäß § 103 BetrVG. Wird die Zustimmung verweigert, muss muss der Arbeitgeber die Einsetzung derselben vor dem Arbeitsgreicht beantragen.251,252 Verstöße gegen Amtspflichten des Betriebsratsmitglieds sind grundsätzlich nicht geeignet, einen außerordentlichen Kündigungsgrund darzustellen. Diesbezüglich ist in § 23 Abs. 1 BetrVG ein besonderes Ausschlussverfahren geregelt. Verletzt das Betriebsratsmitglied aber mithin oder darüber hinaus elementare arbeitsvertragliche Pflichten, ist der Kündigungsgrund iSd § 626 BGB anhand der gängigen Maßstäbe ohne Rücksicht auf die Funktion zu prüfen.253

13.2.5.2 Betriebliche Mitbestimmung Von zentraler Bedeutung im Betriebsverfassungsrecht sind die Beteiligungsrechte des 113 Betriebsrates. Das BetrVG räumt in etlichen Vorschriften dem Betriebsrat ein Recht zur Beteiligung ein und sichert so der Belegschaft eine Teilhabe am unternehmerischen Entscheidungsprozess. Abhängig von den tangierten Arbeitnehmerinteressen ergibt sich eine abgestufte Beteiligung: Ausgehend von reinen Informationsrechten auf der untersten Stufe und weitergehenden Anhörungs-, Beratungs- und Initiativrechten bestehen neben Zustimmungs- und Vetorechten insbesondere erzwingbare Mitbestimmungsrechte. Der Arbeitgeber ist damit in gesetzlich bestimmten Fällen gezwungen, sich hinsichtlich einer beabsichtigten Maßnahme vor deren Durchführung mit dem Betriebsrat zu verständigen. Im umgekehrten Fall steht dem Betriebsrat seinerseits das Recht zu, initiativ Maßnahmen zu ergreifen und den Arbeitgeber dahingehend zu einer Einigung zu zwingen. 13.2.5.2.1 Allgemeine Aufgaben und Pflichten Die allgemeinen Aufgaben des Betriebsrates sind in § 80 BetrVG definiert. Demnach 114 hat der Betriebrat allgemeine Überwachungs- und Beratungsaufgaben. Er hat darüber zu wachen, dass die zu Gunsten der Arbeitnehmer geltenden Gesetze eingehalten werden.254 Gleiches gilt für die Einhaltung und Durchführung von Tarifverträgen und

250BAG

v. 6.3.1986, Az. 2 ABR 15/85, NZA 1987, 102 v. 25.3.1976, Az. 2 AZR 163/75, NJW 1976, 2180. 252Siehe oben unter: B. III. 2. Rn. 50 ff. 253BAG v. 16.10.1986, Az. 2 ABR 71/85, NZA 1987, 392. 254BAG v. 19.10.1999, Az. 1 ABR 75/98, NZA 2000, 837. 251BAG

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Betriebsvereinbarungen.255 Gemäß § 40 Abs. 1 BetrVG ist der Arbeitgeber verpflichtet, die durch die Tätigkeit des Betriebsrates entstehenden Kosten zu tragen, soweit diese erforderlich sind. Das gilt auch für die Kosten für Informations- und Kommunikationsmittel256 und die wegen einer Betriebsversammlung entstehenden Bewirtungskosten.257 Die Kostentragungspflicht gilt grundsätzlich auch bei Beauftragung externer Berater. Eine Ausnahme besteht jedoch dann, wenn die Beauftragung der Berater unnötig war oder zu hohe Honorare vereinbart wurden.258 13.2.5.2.2 Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten 115 § 87 BetrVG regelt die zwingende betriebliche Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten. Danach ist der Arbeitgeber verpflichtet, in den abschließend aufgezählten Fällen die vorherige Einigung mit dem Betriebsrat zu erzielen, wenn er eine Maßnahme umsetzen will. Andernfalls ist die Maßnahme rechtswidrig und entfaltet für die Arbeitnehmer keine rechtliche Wirkung. aa) Katalog des § 87 Abs. 1 BetrVG

116 § 87 Abs. 1 BetrVG enthält eine umfassende und abschließende Aufzählung betrieblicher Belange, bei denen ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates einschlägig ist.259 Allerdings ist zu beachten, dass gemäß § 87 Abs. 1 HS 1 BetrVG das Mitbestimmungsrecht nicht greift, wenn die beabsichtigte Maßnahme bereits abschließend durch Gesetz oder Tarifvertrag geregelt ist. bb) Betriebsvereinbarung

117 Maßgebliches Regelungsinstrument der Belange des § 87 Abs. 1 BetrVG ist die Betriebsvereinbarung, da nur dann gemäß § 77 Abs. 4 BetrVG unmittelbare und zwingende Rechte und Pflichten für Arbeitgeber und Arbeitnehmer entstehen. Die Betriebsvereinbarung ist gemäß § 77 Abs. 2 S. 1 BetrVG schriftlich niederzulegen und bedarf eines entsprechenden wirksamen Betriebsratsbeschlusses. Betriebsvereinbarungen können gemäß § 77 Abs. 5 BetrVG ordentlich gekündigt werden. Im Übrigen endet die befristete Betriebsvereinbarung mit Zeitablauf. Gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG unterliegen Betriebsvereinbarungen grundsätzlich einer Nachwirkung; diese kann jedoch abbedungen werden. Den Betriebspartnern steht es allerdings auch frei, die Belange im

255Hierunter

fällt auch die Überwachung von Gesamt- und Konzernbetriebsvereinbarungen: BAG v. 20.12.1988, AZ. 1 ABR 63/87, NZA 1989, 393. 256Grobys/Panzer, StichwortKommentar Arbeitsrecht, 3. Auflage 2016, Elektronische Kommunikationsmittel, Rn. 49 f. 257LAG Nürnberg v. 25.4.2012, Az. 4 TaBV 58/11, NZA-RR 2012, 524. 258BGH v. 25.10.2012, Az.: III ZR 266/11, NZA 2012, 1382. 259Siehe hierzu etwa die Darstellung der einzelnen Mitbestimmungstatbestände in: Erfurter Kommentar/Kania, 17. Auflage 2017, § 87 BetrVG Rn. 18 ff.

13 Arbeitsrecht

281

Wege formloser Betriebsabsprachen zu regeln. Sollte in den Angelegenheiten der zwingenden Mitbestimmung eine Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat nicht erzielt werden können, so ersetzt gemäß § 87 Abs. 2 BetrVG der Spruch der Einigungsstelle260 die Einigung. cc) Rechtsfolgen bei Missachtung

Hierneben erkennt das BAG einen allgemeinen Unterlassungsanspruch des Betriebs- 118 rats gegen den Arbeitgeber, der keine grobe Pflichtverletzung des Arbeitgebers i.S. des § 23 Abs. 3 BetrVG voraussetzt, aus § 87 BetrVG an.261 Hierbei handelt es sich wie in § 1004 BGB um einen auf die Zukunft gerichteten Unterlassungsanspruch, der um einen Beseitigungsanspruch in Bezug auf die Folgen früheren mitbestimmungswidrigen Verhaltens zu ergänzen ist.262 13.2.5.2.3 Mitbestimmung in personellen Angelegenheiten Unter die personellen Angelegenheiten sind grundsätzlich jene Fragen zu fassen, die sich 119 zu der Gliederung und Zusammensetzung der Belegschaft stellen.263 Dabei unterscheidet das BetrVG zwischen allgemeinen personellen Angelegenheiten, der Berufsbildung und personellen Einzelmaßnahmen und zudem zwischen den unterschiedlich intensiv ausgeprägten Mitbestimmungsformen. Die in §§ 92 ff. BetrVG aufgezählten Belange der allgemeinen personellen Angelegenheiten tragen den Auswirkungen der unternehmerischen Personalplanung auf das innerbetriebliche Gefüge Rechnung. Aufgrund des engen Bezuges zählen hierzu auch Fragen der Berufsbildung (§§ 96–98 BetrVG). aa) Personelle Einzelmaßnahmen

Gemäß § 99 Abs. 1 S. 1 BetrVG muss der Arbeitgeber in Unternehmen mit in der Regel 120 mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern vor jeder Einstellung, Versetzung sowie Ein- und Umgruppierung die Zustimmung des Betriebsrates einholen. (1) Voraussetzungen

Eine mitbestimmungspflichtige Einstellung liegt vor, wenn Personen in den Betrieb ein- 121 gegliedert werden, um zusammen mit den bereits beschäftigten Arbeitnehmern dessen arbeitstechnischen Zweck durch weisungsgebundene Tätigkeit zu verwirklichen.264 Hierbei ist es unerheblich, ob ein Arbeitsvertrag geschlossen wurde. Das BAG stellt allein

260Bei der Einigungsstelle handelt es sich iSd § 76 BetrVG um eine innerbetriebliche Schlichtung zur Vermittlung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. 261BAG v. 3.5.1994, Az. 1 ABR 24/93, NJW 1995, 1044. 262Erfurter Kommentar/Kania, 17. Auflage 2017, § 87 BetrVG Rn. 138. 263Richardi/Thüsing, BetrVG, Kommentar, 15. Auflage 2016, Vorb. Fünfter Abschnitt Rn. 1. 264BAG v. 23.6.2009, Az. 1 ABR 30/08, NZA 2009, 1162.

282

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auf den tatsächlichen Beginn der Beschäftigung im Betrieb ab.265 Unter einer Eingruppierung ist die Zuordnung eines Arbeitnehmers zu einer in einer Vergütungsordnung festgelegten Lohn- und Gehaltsgruppe anhand bestimmter Tätigkeits- und Persönlichkeitsmerkmale zu verstehen.266 Einen ähnlichen Vorgang stellt auch die Umgruppierung dar.267 Die Versetzung ist in § 95 Abs. 3 BetrVG legaldefiniert als Zuweisung eines anderen Arbeitsbereiches für voraussichtlich mehr als einen Monat, mit der eine erhebliche Änderung der Arbeitsumstände verbunden ist. Gegenstand der Mitbestimmung ist demnach nicht die tatsächliche Veränderung, sondern die regelmäßig auf Grundlage des arbeitgeberischen Direktionsrechts veränderte Rechtsstellung des Arbeitnehmers.268 (2) Umfang der Mitbestimmung

122 Es handelt sich bei der Mitbestimmung in personellen Angelegenheiten nicht um ein echtes Mitbestimmungsrecht, sondern vielmehr um ein Zustimmungsverweigerungsrecht nach Maßgabe der in § 99 Abs. 2 BetrVG genannten Gründe. Die Zustimmungsverweigerung ist dem Arbeitgeber binnen einer Woche schriftlich mitzuteilen; andernfalls gilt mit Fristablauf die Zustimmung als erteilt.269 Verweigert der Betriebsrat die Zustimmung nach ordnungsgemäßer Unterrichtung, so ist der Arbeitgeber gezwungen, gemäß § 99 Abs. 4 BetrVG die Zustimmungsersetzung des Arbeitsgerichts einzuholen, wenn er die Maßnahme trotzdem durchführen will. bb) Kündigungen

123 Eine formelle kollektivrechtliche Wirksamkeitsvoraussetzung jeder Kündigung ist die ordnungsgemäße vorherige Anhörung des Betriebsrates. Der Betriebsrat soll wenigstens argumentativ auf die arbeitgeberische Willensbildung einwirken zu können. Gemäß § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG ist die Kündigung unwirksam, wenn sie ohne vorherige Anhörung des Betriebsrates ausgesprochen wurde.270 Der Betriebsrat ist über den Kündigungstermin, die Kündigungsgründe und die Sozialdaten des betroffenen Arbeitnehmers zu unterrichten. Der Betriebsrat kann ausdrücklich zustimmen, der Kündigung ausdrücklich widersprechen oder sich gar nicht äußern. In letztem Fall gilt die Zustimmung nach Ablauf einer Woche als erteilt, § 102 Abs. 2 S. 2 BetrVG. Der Widerspruch kann nur unter den in § 102 Abs. 3 BetrVG genannten Voraussetzungen erfolgen. Der Widerspruch des Betriebsrates hat vor allem Auswirkungen auf die Pflicht zur

265BAG

v. 28.4.1992, Az. 1 ABR 73/91, NZA 1992, 1141. v. 23.9.2003, Az. 1 ABR 35/02, NZA 2004, 800. 267BAG v. 26.10.2004, Az. 1 ABR 37/03, NZA 2005, 367. 268Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Bd. 2, 3. Auflage 2009, § 264 Rn. 1 f. 269BAG v. 14.3.1989, Az. 1 ABR 80/87, NZA 1989, 639. 270BAG v. 6.10.2005, Az. 2 AZR 316/04, NZA 2006, 990. 266BAG

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283

Weiterbeschäftigung während des Kündigungsschutzprozesses, führt jedoch nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung.271 13.2.5.2.4 Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten §§ 106–110 BetrVG regeln die Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten. 124 Bezugspunkt ist hier im Unterschied zu den sonstigen Bestimmungen des BetrVG nicht der Betrieb, sondern das Unternehmen. Des Weiteren normieren die §§ 111–113 BetrVG die Auswirkungen, die sich aus einer Betriebsänderung ergeben. Der Bereich der Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten ist insoweit besonders sensibel, als hier grundlegende Fragen unternehmerischer Freiheit eine Rolle spielen. Aus den Vorschriften geht ein eindeutiger Kompromisscharakter hervor.272 Dem wird dergestalt Rechnung getragen, als dass dem Betriebsrat grundsätzlich nur Unterrichtungs- und Beratungsrechte zustehen. aa) Unterrichtung des Wirtschaftsausschusses

Gemäß § 106 BetrVG erfolgt eine Unterrichtung in wirtschaftlichen Angelegen- 125 heiten in größeren Unternehmen gegenüber dem Wirtschaftsausschuss als besonderem betriebsverfassungsrechtlichen Organ. Der Wirtschaftsausschuss ist in Unternehmen mit in der Regel mehr als 100 ständig beschäftigten Arbeitnehmern zu errichten. Er soll wirtschaftliche Belange mit dem Unternehmer273 beraten und sodann dem Betriebsrat darüber berichten.274 Der Unternehmer hat den Wirtschaftsausschuss demnach über die in § 106 Abs. 3 BetrVG aufgezählten wirtschaftlichen Angelegenheiten gemäß § 106 Abs. 2 BetrVG umfassend und rechtzeitig zu unterrichten. Darüber hinaus ist der Unternehmer nicht verpflichtet, die Belange mit dem Wirtschaftsausschuss zu beraten. Wird der in § 106 Abs. 1 BetrVG genannte Schwellenwert nicht erreicht, so stehen die Unterrichtungsrechte nicht dem Betriebsrat zu, sondern es besteht lediglich eine Unterrichtungspflicht über wirtschaftliche Angelegenheiten gemäß § 80 Abs. 2 BetrVG.275 bb) Betriebsänderungen

Kernbereich der Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten ist die Betriebs- 126 änderung gemäß §§ 111 ff. BetrVG. Gemäß § 111 S. 1 BetrVG hat der Unternehmer

271Beachte hierzu auch die Ausführungen zum Weiterbeschäftigungsanspruch gemäß § 102 Abs. 5 BetrVG unter B. III. 6. a) Rn. 95. 272H/W/K/Willemsen/Lembke, Arbeitsrecht, Kommentar, 7. Auflage 2016, § 111 BetrVG Rn. 1. 273Die vom Gesetzgeber in diesem Abschnitt gewählte Bezeichnung ist im Ergebnis deckungsgleich mit dem Terminus Arbeitgeber. 274BAG v. 15.3.2006, Az. 7 ABR 24/05, NZA 2006, 1422. 275BAG v. 5.2.1991, Az. 1 ABR 24/90, BB 1991, 1635; eine Ausnahme von diesem Grundsatz macht allerdings § 109a BetrVG bezüglich der Unterrichtung im Falle des § 106 Abs. 3 Nr. 9a BetrVG, wonach der Betriebsrat bei fehlendem Wirtschaftsausschuss entsprechend zu beteiligen ist.

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in mitbestimmten Unternehmen mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern276 den Betriebsrat über geplante Betriebsänderungen und die wesentlichen Nachteile für die Belegschaft zu informieren und darüber zu beraten. Das Gesetz statuiert formelle Anforderungen, an die die letztendliche Durchführung der Betriebsänderung geknüpft ist. Es besteht kein eigentlicher Einfluss auf die unternehmerische Entscheidung an sich, allerdings existieren Mitbestimmungsrechte hinsichtlich der sich daraus ergebenden Konsequenzen im Rahmen des Sozialplans. (1) Betriebsänderung gemäß § 111 BetrVG

127 Als Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG werden alle Änderungen im Betrieb verstanden, die Auswirkungen auf Organisation, Struktur, Tätigkeitsbereiche, Arbeitsweise oder Arbeitsablauf haben. Hierzu zählt auch der reine Personalabbau, auch wenn weiterhin keine strukturellen oder organisatorischen Folgen für den Betrieb entstehen. Ob es sich um einen Personalabbau im Sinne dieser Vorschrift handelt, richtet sich nach den Zahlenwerten des § 17 KSchG.277 Die Formen der Betriebsänderung sind in § 111 S. 3 BetrVG aufgelistet.278 Hierbei ist streitig, ob die genannten Fälle abschließend sind. Mit der überwiegenden Meinung ist davon auszugehen, dass darüber hinaus auch sonstige Fälle der Betriebsänderung denkbar sind, die lediglich die allgemeinen Voraussetzungen gemäß § 111 S. 1 BetrVG erfüllen,279 also mit wesentlichen Nachteilen für die Belegschaft oder erhebliche Teile derselben verbunden ist oder solche möglich sind.280 Als wesentlicher Nachteil kommen sowohl materielle als auch immaterielle Einbußen der Arbeitnehmer in Betracht. Im Fall der angeführten Fälle zu §111 S. 3 BetrVG wurden die Nachteile fingiert. Erforderlich ist, dass zumindest für erhebliche Teile der Belegschaft wesentliche Nachteile entstehen können.281 Auch in diesem Zusammenhang ist die Orientierung an den Zahlen- und Prozentwerten des § 17 Abs. 1 KSchG grundsätzlich angezeigt.282 Der Betriebsrat ist bereits im Planungsstadium der Betriebsänderung zu unterrichten, das heißt dann, wenn konkrete Vorüberlegungen als Vorgaben angesehen werden können, nach denen der Unternehmer grundsätzlich verfahren will.283

276Dazu

zählen auch Leiharbeitnehmer, wenn sie länger als drei Monate im Betrieb beschäftigt sind, § 7 S. 2 BetrVG. 277BAG v. 28.3.2006, Az. 1 ABR 5/05, NZA 2006, 932. 278Zu den einzelnen Tatbeständen siehe etwa: Löwisch/Kaiser, Kommentar zum BetrVG, 6. Auflage 2010, § 111 Rn. 25 ff. 279Fitting, BetrVG, 28. Auflage 2016, § 111 Rn. 44. 280BAG v. 16.6.1987, Az. 1 ABR 41/85, NZA 1987, 671. 281Erfurter Kommentar/Kania, 17. Auflage 2017, § 111 BetrVG Rn. 8 f. 282Richardi/Annuß, BetrVG, 15. Auflage 2016, § 111 Rn. 48. 283BAG v. 27.6.1989, Az. 1 ABR 19/88, NZA 1989, 929.

13 Arbeitsrecht

285

(2) Interessenausgleich

Ziel der obligatorischen Beratungen über die Betriebsänderung gemäß § 111 S. 1 128 BetrVG ist der Versuch, sich über einen Interessenausgleich zu verständigen. Hierbei geht es darum, das Ob, Wann und Wie einer unternehmerischen Maßnahme zu konkretisieren.284 Unternehmer und Betriebsrat sollen entsprechend dem in § 112 Abs. 2, 3 BetrVG geregelten Verfahren die Notwendigkeit der Betriebsänderung an sich und ggf. vorzunehmende Änderungen im Interesse der betroffenen Arbeitnehmer beraten.285 Dadurch wird dem Betriebsrat die Möglichkeit gegeben, auf die endgültige Entscheidung des Unternehmers einzuwirken, bevor dieser vollendete Tatsachen schafft.286 Somit sollen konkrete wirtschaftliche Nachteile für die von der Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer abgemildert werden. Dabei können die Beteiligten sich z. B. auf Auswahlrichtlinien und die zukünftige Personalplanung verständigen. Allerdings ist der Abschluss eines Interessenausgleichs – auch wenn § 112 Abs. 1–3 BetrVG auf etwas anderes schließen lassen – freiwillig und damit für den Betriebsrat nicht erzwingbar. Jedoch entsteht ein Nachteilsausgleichanspruch gemäß § 113 Abs. 1, 2 BetrVG, wenn der Unternehmer von dem in einem mit dem Betriebsrat geschlossenen Interessenausgleich ohne zwingenden Grund abweicht oder ihn gemäß § 113 Abs. 3 BetrVG gar nicht erst versucht. Als zwingende Gründe sind nur solche anzusehen, die nachträglich entstanden sind bzw. erst im Nachhinein erkennbar wurden und die nicht allein in den ursprünglichen Gründen der Betriebsänderung liegen. Dabei muss es sich um Gründe handeln, die dem verantwortungsbewussten Unternehmer keine Wahl lassen, als vom Interessenausgleich abzuweichen.287 Regelmäßig ist es vorteilhaft, mit dem Betriebsrat konstruktiv an einer Lösung zu arbeiten, da der Nachteilsausgleich zugleich als Druckmittel eingesetzt werden könnte. Führen die Verhandlungen zu einem positiven Ergebnis, ist der Interessenausgleich gemäß § 112 Abs. 1 S. 1 BetrVG schriftlich niederzulegen und zu unterschreiben. Höchst umstritten – aber im Ergebnis wohl eher abzulehnen – ist, ob dem Betriebsrat bei einem Abweichen vom Interessenausgleich oder mangelnder Verhandlung ein Anspruch auf Unterlassung der Betriebsänderung zusteht.288 (3) Sozialplan

Gemäß § 112 Abs. 1 S. 2 BetrVG regelt der Sozialplan den Ausgleich und die Milde- 129 rung der sich aus der Betriebsänderung ergebenden wirtschaftlichen Nachteile für die betroffenen Arbeitnehmer. Ihm wohnt eine Überbrückungsfunktion inne, er soll ausdrücklich nicht für den Verlust des Arbeitsplatzes entschädigen.289

284BAG

v. 27.10.1987, Az. 1 ABR 9/86, NZA 1988, 203. v. 27.10.1987, Az. 1 ABR 9/86, BB 1988, 761. 286BAG v. 14.9.1976, Az. 1 AZR 784/75, NJW 1977, 727. 287Erfurter Kommentar/Kania, 17. Auflage 2017, § 113 BetrVG Rn. 4. 288Zum Streitstand siehe: Richardi/Annuß, BetrVG, 15. Auflage 2016, § 111 Rn. 166 ff. 289BAG v. 9.11.1994, Az. 10 AZR 281/94, BB 1995, 1038. 285BAG

286

A. Panzer-Heemeier

(3.1) Inhalt

130 In der konkreten Wahl der zu ergreifenden Maßnahmen sind die Betriebspartner grundsätzlich keinen Vorgaben verpflichtet.290 Es wird ein umfangreicher Gestaltungsspielraum eingeräumt. In der Praxis regelt der Sozialplan vielfach Abfindungszahlungen, gestaffelt nach Kriterien wie Betriebszugehörigkeit, Alter und bisheriger Vergütung. Daneben sind aber auch vielfältige andere Belange regelbar, die Bestandteil oder Begleiterscheinung des Arbeitsverhältnisses sind. Des Weiteren ist auch ein sog. Transfersozialplan mit Leistungen zur weiteren Qualifikation der Arbeitnehmer für neue Beschäftigungen möglich.291 Bei der Leistungsgewährung muss stets der Gleichbehandlungsgrundsatz des § 75 Abs. 1 S. 1 BetrVG beachtet werden, wonach eine sachfremde Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer unzulässig ist. Sachfremdheit ist dann anzunehmen, wenn für das gewählte Vorgehen keine billigenswerten Gründe vorliegen.292 Eine geringere Sozialplanabfindung für rentennahe Arbeitnehmer stellt keine Altersdiskriminierung dar.293 (3.2) Wirkung

131 Gemäß § 112 Abs. 1 S. 3 BetrVG entfaltet der Sozialplan die Wirkungen einer Betriebsvereinbarung. Zu beachten ist, dass anders als beim Interessenausgleich gemäß § 112 Abs. 4 BetrVG, der Sozialplan über die Einigungsstelle erzwungen werden kann, sollte eine Einigung nicht erzielt werden können. Besteht die Betriebsänderung lediglich in einem Personalabbau, kann der Sozialplan allerdings nur bei Erreichen der in § 112a BetrVG genannten Zahlen erzwungen werden.

Literatur Ascheid, Reiner/Preis, Ulrich/Schmidt, Ingrid (Hrsg.), Kündigungsrecht, 5. Auflage 2017 Fitting, Karl (Begr.), Betriebsverfassungsgesetz mit Wahlordnung, Handkommentar, 27. Auflage 2014 Grobys, Marcel/Panzer, Andrea, StichwortKommentar Arbeitsrecht, 2. Auflage 2016 Henssler, Martin/Willemsen, Heinz-Josef/ Kalb, Heinz-Jürgen (Hrsg.), Arbeitsrecht, Kommentar, 7. Auflage 2016 Hümmerich, Klaus/Reufels, Martin, (Hrsg.), Gestaltung von Arbeitsverträgen, 3. Auflage 2015 Küttner, Wolfdieter (Hrsg.), Personalbuch, 24. Auflage 2017 Löwisch, Manfred/ Kaiser, Dagmar, Kommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, Kommentar, 7. Auflage 2017 Müller-Glöge, Rudi/Preis, Ulrich/Schmidt, Ingrid (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 14. Auflage 2014 Münchener Kommentar zum BGB Kommentar, Bd. 4, 6. Auflage 2012 Palandt, Otto (Begr.), Bürgerliches Gesetzbuch, Kommentar, 76. Auflage 2017 290BAG

v. 14.8.2001, Az. 1 AZR 760/00, NZA 2002, 451. etwa Löwisch/Kaiser, BetrVG, 6. Auflage 2010, § 112 Rn. 39 ff. 292BAG v. 31.7.1996, Az. 10 AZR 45/96, BB 1997, 364. 293EuGH v. 6.12.2012, Rs. C-152/11, NZA 2012, 1435; § 10 Nr. 6 AGG. 291Siehe

13 Arbeitsrecht

287

Richardi, Reinhard (Hrsg.), Betriebsverfassungsgesetz, Kommentar, 15. Auflage 2016 Richardi, Reinhard/Wlotzke, Otfried/Wißmann, Hellmut/ Oetker, Hartmut (Hrsg.), Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Bd. 1 und 2, 3. Auflage 2009 Stahlhacke, Eugen (Begr.)/Preis, Ulrich/Vossen, Reinhard, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, Handbuch, 11. Auflage 2015

Kartellrecht

14

Christian Burholt und Jan Hensmann

Grundkenntnisse des Kartellrechts sind für den Unternehmensjuristen mittlerweile unabdingbar. Verstöße gegen das Kartellrecht können für ein Unternehmen weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen. So können z. B. zentrale Verträge eines Unternehmens aufgrund eines Verstoßes gegen das Kartellrecht nichtig sein und in jüngerer Zeit zunehmend Anlass für Schadensersatzansprüche Dritter gegen das Unternehmen geben. Abgesehen von einem nicht genau zu beziffernden, aber auch nicht zu unterschätzenden Imageschaden bei Wettbewerbern, Abnehmern und Endverbrauchern stellen insbesondere die von den Kartellbehörden verhängten, stetig steigenden Bußgelder für Kartellverstöße eine ernstzunehmende Bedrohung für jedes Unternehmen dar. So verhängte die Europäische Kommission im Jahr 2017 gegenüber Google eine Geldbuße in Höhe von 2,42 Mrd. €. Die EU-Kommission warf dem Unternehmen vor, seine marktbeherrschende Stellung als Suchmaschinenbetreiber missbraucht zu haben, indem es einem anderen Google-Produkt – seinem Preisvergleichsdienst – einen unverhältnismäßigen Vorteil verschafft habe. Bereits ein Jahr später folgte das nächste Rekordbußgeld gegen das Unternehmen (4,34 Mrd. €). Google habe zur Festigung seiner marktbeherrschenden Stellung Herstellern von Android-Geräten und Betreibern von Mobilfunknetzen rechtswidrige Einschränkungen auferlegt, so der Vorwurf der EU-Kommission. Und auch private Schadensersatzklagen erlangen zunehmend größere Bedeutung aufgrund der Umsetzung der EU-Kartellschadensersatzrichtlinie im R ­ ahmen der 9. GWB-Novelle. Um diesen C. Burholt (*)  Baker & McKenzie Partnerschaft von Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern mbB, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Hensmann  Verband Forschender Arzneimittelhersteller e.V., Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Lenz (Hrsg.), Die Rechtsabteilung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21915-4_14

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1

290

C. Burholt und J. Hensmann

schwerwiegenden Konsequenzen aus dem Weg zu gehen, ist einerseits kartellrechtliches Grundlagenwissen und eine Sensibilität für kartellrechtlich relevante Sachverhalte erforderlich. Andererseits gewinnt eine konsequente Anwendung interner Verhaltensrichtlinien im Rahmen von Compliance-Programmen zunehmend an Bedeutung. Der folgende Beitrag stellt die wesentlichen Grundzüge des deutschen und des europäischen Kartellrechts dar. Nach einem einleitenden Kapitel (14.1) wird dabei zunächst das Kartellverbot – d. h. das Verbot horizontaler und vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen – in den Blick genommen (14.2). Anschließend wird die Marktmachtmissbrauchskontrolle dargestellt (14.3). Hieran schließt ein Überblick über das Kartellverwaltungsverfahren unter Einbeziehung des Bußgeldverfahrens, Kronzeugenregelungen und zivilrechtlicher Sanktionen von Kartellverstößen an (14.4). Den Abschluss bilden eine Darstellung des Fusionskontrollrechts (14.5), ein zusammenfassendes Fazit (14.6) sowie eine Zusammenstellung hilfreicher Links und Literaturempfehlungen (14.7).

14.1 Einleitung 14.1.1 Überblick über das europäische und deutsche Kartellrecht 2

Das Kartellrecht schützt vor Wettbewerbsbeschränkungen durch Unternehmen. In Abgrenzung hierzu schützt das Beihilfenrecht vor staatlichen Wettbewerbsbeeinflussungen. Zum Kartellrecht im weiteren Sinne gehören das Kartellverbot, die Missbrauchsaufsicht und die Fusionskontrolle. Im europäischen Gemeinschaftsrecht ist das Kartellrecht in den Artikeln 101 ff. des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)1 geregelt. Neben diesen primärrechtlichen Normen konkretisieren verschiedene sekundärrechtliche Rechtsakte das europäische Kartellrecht. Das deutsche Kartellrecht ist im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) und dort insbesondere in den §§ 1 ff., 18 ff. und 35 ff. GWB geregelt.

14.1.2 Ziele des Kartellrechts 3

Ein funktionierender Wettbewerb ist für eine freiheitliche Gesellschafts- und Privatrechtsordnung von grundlegender Bedeutung.2 Er steuert den Wirtschaftsablauf und das Güterangebot entsprechend der Nachfrage.3 Letztlich sichert ein funktionierender Wettbewerb eine optimale Ressourcenallokation. Unternehmen können aus verschiedenen

1Vertrag

über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. 2016, C 202/47; ber. ABl. 2016, C 400/1. 2Emmerich, Kartellrecht, 13. Auflage, 2014, Rn. 10. 3Bunte/Stancke, Kartellrecht, 3. Auflage, 2016, S. 7.

14 Kartellrecht

291

und grundsätzlich völlig legitimen Gründen (z. B. Gewinnmaximierung, Verteidigung der eigenen Marktstellung etc.) daran interessiert sein, den freien Wettbewerb zum Nachteil anderer Unternehmen und der Verbraucher, aber auch zum Nachteil der Gesamtwirtschaft einzuschränken. Gegen diese Einschränkungen richtet sich das Kartellrecht.

14.1.3 Kartellrecht in der Praxis des Syndikusanwalts Für Syndikusanwälte ist das Kartellrecht in einer Vielzahl von Konstellationen und zunehmend täglich relevant. Klassische Beispiele sind Verträge mit Wettbewerbern oder Abnehmern, Zusammenschlüsse und Übernahmen (M&A) sowie die Mitgliedschaft und Mitarbeit in Verbänden. Soweit man die relevanten Felder kartellrechtlich bezeichnen möchte, geht es um Kartellabsprachen, Fusionskontrolle, Missbrauchskontrolle, Ermittlungsverfahren, Bußgeldverfahren und wettbewerbsrechtliche Compliance.

4

14.1.4 Weltweite Dimension des Kartellrechts Weltweit gibt es ca. 100 Kartellrechtsregime. Dieser Beitrag befasst sich hingegen nur mit dem europäischen und dem deutschen Kartellrecht. Insbesondere in Fusions-, ­Kartell- und Kronzeugenfällen muss der Syndikusanwalt jedoch auch stets die Anwendbarkeit weiterer kartellrechtlicher Regelungen in Staaten innerhalb oder außerhalb der EU im Blick haben.4

5

14.2 Horizontale und vertikale Wettbewerbsbeschränkungen Das Kartellverbot untersagt wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen von Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen, an denen zumindest zwei Unternehmen beteiligt sind. Denkbar sind sowohl vertikale Beschränkungen durch Unternehmen unterschiedlicher Marktstufen als auch horizontale Verhaltensweisen von Unternehmen der gleichen Marktstufe. Soweit Verhaltensweisen in den Anwendungsbereich des Europäischen Kartellrechts fallen, kommt es grundsätzlich zu einer parallelen Anwendung von unionsrechtlichem Kartellrecht (14.2.1) und nationalem Kartellrecht (14.2.2).

4Hilfreich

im Hinblick auf Fusionsanmeldungen im Ausland: Getting The Deal Through: Merger Control 2018, https://gettingthedealthrough.com/download/area/20/merger-control/.

6

292

C. Burholt und J. Hensmann

14.2.1 Das europäische Kartellverbot (Artikel 101 AEUV)

7

14.2.1.1 Adressaten des europäischen Kartellrechts (Unternehmensbegriff) Das europäische Kartellrecht richtet sich an Unternehmen und Unternehmensvereinigungen. Der Unternehmensbegriff wird nicht legal definiert. In der Rechtsprechung des EuGH hat sich der sogenannte funktionale Unternehmensbegriff durchgesetzt. Ein Unternehmen ist danach jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung.5 Unternehmensvereinigungen sind ebenfalls nicht legal definiert. Typischerweise fallen hierunter Handelskammern und Industrieverbände. Auf die Rechtsform der Vereinigungen kommt es nicht an. Grundsätzlich ist jedoch zu fordern, dass die Vereinigung zur Beschlussfassung fähig ist und somit einen gemeinsamen Willen der Mitglieder äußern kann. Die Vereinigung muss daher die Fähigkeit besitzen, als Koordinationszentrum der Unternehmen handeln zu können.6 14.2.1.2 Wettbewerbsbeschränkung

8

Artikel 101 Abs. 1 AEUV untersagt eine unzulässige Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs. Das Kartellverbot schützt nicht nur den Wettbewerb zwischen Konkurrenten, sondern auch den Wettbewerb mit Dritten sowie zwischen Dritten.7 Ob eine Wettbewerbsbeschränkung vorliegt, kann grundsätzlich mit Hilfe der Kontrollfrage entschieden werden, ob Unternehmen von Handlungen abgehalten werden, die sie ohne die möglicherweise wettbewerbsbeschränkende Maßnahme ergreifen könnten. Abzustellen ist hierbei nicht nur auf die beteiligten Unternehmen, sondern auch auf unbeteiligte dritte Unternehmen. Von Artikel 101 Abs. 1 AEUV werden Maßnahmen untersagt, die Wettbewerbsbeschränkungen bezwecken oder bewirken. Sobald eine Verhaltensweise eine Beschränkung des Wettbewerbs bezweckt, kommt es auf die tatsächliche Wirkung nicht mehr an.8 Dann liegt bereits eine Wettbewerbsbeschränkung vor, ohne dass eine entsprechende Vereinbarung tatsächlich angewendet wurde. Darüber hinaus liegt eine tatbestandsmäßige Wettbewerbsbeschränkung vor, wenn eine solche bewirkt wurde. Das fragliche Verhalten muss dann kausal für eine festgestellte Beschränkung sein.

5Vgl.

u. a.: EuGH, Rs. C-41/90, Höfner und Elser/Macrotron GmbH, Slg. 1991, I-1979, Rn. 21; EuGH, Rs. C-205/03 P, FENIN, Slg. 2006, I-6295, Rn. 25; EuGH, verb. Rsen. C-264/01 und C-306/01, AOK-Bundesverband, Slg. 2004, I-2493, Rn. 46. 6Vgl. Grave/Nyberg in: Loewenheim u.a. (Hrsg.), Kartellrecht, Europäisches und Deutsches Recht, 3. Auflage 2016, Art. 101 AEUV Abs. 1, Rn. 209 ff. 7Kling/Thomas, Grundkurs Wettbewerbs- und Kartellrecht, 2004, S. 516. 8EuGH, Rs. 56/65, Société Technique Minière/Maschinenbau Ulm GmbH, Slg. 1966, S. 282; Europäische Kommission, Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, ABl. 2011, C 11/1, Rn. 24.

14 Kartellrecht

293

Hierfür ist die tatsächliche Marktsituation mit derjenigen zu vergleichen, die ohne die fragliche Handlung bestünde.9 Von einer Wettbewerbsbeschränkung kann dann ausgegangen werden, wenn die Beteiligten der Vereinbarung nicht mehr autonom handeln können, wenn die Marktgegenseite in ihrer Entscheidung beeinflusst wird oder wenn weitere Mitbewerber vom Markt ausgeschlossen werden.10

14.2.1.3 Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung Nur spürbare Wettbewerbsbeschränkungen durch Vereinbarungen, Beschlüsse oder abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne von Artikel 101 Abs. 1 AEUV sind verboten.11 Um die Spürbarkeit der Wettbewerbsbeeinträchtigung zu ermitteln, wird ebenfalls die Wettbewerbssituation, die sich durch das wettbewerbsbeschränkende Verhalten ergeben hat, mit der Situation verglichen, die ohne die Absprache bestünde.12 Zur besseren praktischen Handhabung hat die Europäische Kommission (Kommission) das Kriterium der Spürbarkeit einer Wettbewerbsbeschränkung durch eine Bagatellbekanntmachung13 und Leitlinien für vertikale Beschränkungen14 konkretisiert.

9

14.2.1.4 Spürbarkeit der Handelsbeeinträchtigungen (Zwischenstaatlichkeitsklausel) Von Artikel 101 Abs. 1 AEUV sind nur solche Verhaltensweisen umfasst, die den Han- 10 del zwischen den Mitgliedstaaten (der Europäischen Union) zu beeinträchtigen geeignet sind. Diese Zwischenstaatlichkeitsklausel grenzt als Kollisionsnorm die Anwendbarkeit des europäischen Kartellrechts von der ausschließlichen Anwendbarkeit des Kartellrechts der Mitgliedstaaten ab. Die Zwischenstaatlichkeitsklausel wird weit ausgelegt.15 Eine Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels liegt vor, wenn das zu überprüfende Verhalten die innergemeinschaftlichen Handelsströme verändert, geografische Aufteilungen von Märkten erlaubt oder den Markteintritt für Wettbewerber, die in anderen Mitgliedstaaten angesiedelt sind oder von dort aus handeln, erschwert.16

9Neef,

Kartellrecht, 2008, S. 23. Neef, Kartellrecht, 2008, S. 23. 11Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, Band 1. EU/Teil 1, Art. 101 Abs. 1 AEUV, Rn. 142. 12EuGH, Rs. 56/65, Société Technique Minière/Maschinenbau Ulm GmbH, Slg. 1966, S. 282, 303 ff. 13Europäische Kommission, Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die im Sinne des Artikels 101 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union den Wettbewerb nicht spürbar beschränken (De-minimis-Bekanntmachung), ABl. 2014, C 291/1. 14Europäische Kommission, Leitlinien für vertikale Beschränkungen, ABl. 2010, C 130/1. 15EuGH, Rs. 56/65, Société Technique Minière/Maschinenbau Ulm GmbH, Slg. 1966, S. 282, 294 ff.; OLG Düsseldorf, Beschluss v. 10.6.2005, WuW/E DE-R 1610, 1613 – Filigranbetondecken. 16Grave/Nyberg in: Loewenheim u. a. (Hrsg.), Kartellrecht, Europäisches und Deutsches Recht, 3. Auflage 2016, Art. 101 Abs. 1, Rn. 324 ff. Siehe auch Europäische Kommission, Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags, ABl. 2004, C 101/81. 10Vgl.

294

C. Burholt und J. Hensmann

14.2.1.5 Formen der Wettbewerbsbeschränkung 11 Kartellrechtliche Wettbewerbsbeschränkungen sind in der Praxis in vielen unterschiedlichen Formen anzutreffen. Rechtsabteilungen müssen regelmäßig insbesondere bei folgenden Kernbeschränkungen bzw. kartellrechtlich nicht ohne Weiteres zu rechtfertigenden Absprachen besonders alarmiert bzw. aufmerksam sein: Preisabsprachen, Marktaufteilungen, Kundenzuweisungen, Mengenabsprachen, Quotenabsprachen, Austausch wettbewerblich sensibler Informationen und Preisbindungen der zweiten Hand. 14.2.1.6 Vereinbarung, Beschluss und abgestimmtes Verhalten 14.2.1.6.1 Horizontale und vertikale Verhaltensweisen 12 Artikel 101 Abs. 1 AEUV verbietet bestimmte Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen. Hiervon umfasst sind sowohl horizontale Absprachen, das heißt Vereinbarungen von konkurrierenden Unternehmen derselben Wirtschaftsstufe, als auch vertikale Vereinbarungen, also Übereinkommen zwischen Unternehmen verschiedener Wirtschaftsstufen.17 14.2.1.6.2 Vereinbarungen 13 Artikel 101 Abs. 1 AEUV verbietet zunächst wettbewerbswidrige Vereinbarungen.18 Nach der Rechtsprechung der EU-Gerichte bedarf eine Vereinbarung keiner rechtlichen Verbindlichkeit.19 Es genügt vielmehr, dass die Parteien einen übereinstimmenden Willen zum Ausdruck gebracht haben.20 Erfasst wird auch das „Gentlemen’s Agreement“. Die Form der Vereinbarung ist daher unerheblich.21 14.2.1.6.3 Beschlüsse 14 Erfasst werden weiterhin Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen. Hierunter fallen beispielsweise die Geschäftsordnungen von Vereinigungen oder Entscheidungen von Unternehmensvereinigungen, die für die Mitglieder (zumindest faktisch) verbindlich sind.22 Praktisch relevant sind hier in erster Linie Verbandsbeschlüsse.

17Schwarze,

Europäisches Wirtschaftsrecht, 2007, S. 102; EuGH, verb. Rsen. 56/64 und 58/64, Consten/Grundig, Slg. 1966, S. 322, 387. 18Über den Wortlaut der Vorschrift hinaus sind nicht nur bestimmte Vereinbarungen zwischen Unternehmen, sondern auch Vereinbarungen zwischen Unternehmensvereinigungen verboten; Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, Band 1. EU/Teil 1, Art. 101 Abs. 1 AEUV, Rn. 54. 19EuGH, Rs. C-277/87, Sandoz/Kommission, Slg. 1990, I-45. 20Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, Band 1. EU/Teil 1, Art. 101 Abs. 1 AEUV, Rn. 55. 21EuGH, Rs. C-74/04 P, Kommission/Volkswagen, Slg. 2006, I-6585, Rn. 37; Grave/Nyberg in: Loewenheim u. a. (Hrsg.), Kartellrecht, Europäisches und Deutsches Recht, 3. Auflage 2016, Art. 101 Abs. 1, Rn. 220. 22Kling/Thomas, Grundkurs Wettbewerbs- und Kartellrecht, 2004, S. 510 f.

14 Kartellrecht

295

14.2.1.6.4 Aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen Verboten sind auch aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die als Auffangtat- 15 bestand dienen. Nach der Rechtsprechung des EuGH fallen hierunter Formen der Koordinierung zwischen Unternehmen, die zwar noch nicht bis zum Abschluss eines Vertrages im eigentlichen Sinne fortgeschritten sind, aber bewusst eine praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs treten lassen.23 Das Vorliegen einer solchen Koordinierung ist unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des relevanten Marktes zu beurteilen. Keine kartellrechtswidrigen aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen liegen vor, wenn es sich um bloßes Parallelverhalten handelt. Solange sich Unternehmen dabei nicht abstimmen, sind parallele Verhaltensweisen nicht kartellrechtswidrig.24 14.2.1.6.5 Regelbeispiele Artikel 101 Abs. 1 AEUV nennt einen nicht abschließenden Katalog von Regelbeispielen 16 untersagter Wettbewerbsbeschränkungen: Die unmittelbare oder mittelbare Festsetzung der An- oder Verkaufspreise oder sonstiger Geschäftsbedingungen; die Einschränkung oder Kontrolle der Erzeugung, des Absatzes, der technischen Entwicklung oder der Investitionen; die Aufteilung der Märkte oder Versorgungsquellen; die Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern, wodurch diese im Wettbewerb benachteiligt werden; die an den Abschluss von Verträgen geknüpfte Bedingung, dass die Vertragspartner zusätzliche Leistungen annehmen, die weder sachlich noch nach Handelsbrauch in Beziehung zum Vertragsgegenstand stehen.

14.2.1.7 Rechtfertigungsmöglichkeiten 14.2.1.7.1 Einzelfreistellung gem. Artikel 101 Abs. 3 AEUV Verhaltensweisen, die unter das Kartellverbot des Artikels 101 Abs. 1 AEUV fal- 17 len, sind vom Verbot ausgenommen, wenn sie die Voraussetzungen des Abs. 3 erfüllen. Artikel  101 Abs.  3  AEUV ist nach heutiger Ausgestaltung eine Legalausnahme.25 Die Einzelfreistellung ist anders als noch vor dem Jahr 2003 nicht mehr abhängig von einer Entscheidung durch die Kommission. Die beteiligten Unternehmen, die Wettbewerbsbehörden sowie die Gerichte haben deshalb jeweils selbst zu prüfen, ob die Voraussetzungen von Artikel 101 Abs. 3 AEUV vorliegen. Die Unternehmen tragen insoweit das Subsumtionsrisiko.26 Geht etwa ein Unternehmen selbst davon aus, dass

23EuGH,

Rs. 48/69, Imperial Chemical Industries/Kommission, Slg. 1972, S. 619, Rn. 64, 67. EuGH, Rs. 48/69, Imperial Chemical Industries/Kommission, Slg. 1972, S. 619, Rn. 64, 67. 25Vgl. Artikel 1 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 1/2003 vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003, L 1/1. 26Vgl. Schwarze, Europäisches Wirtschaftsrecht, 2007, S. 106. 24Vgl.

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C. Burholt und J. Hensmann

eine Vereinbarung deshalb nicht gegen das Kartellverbot verstößt, weil es zugleich die Voraussetzungen von Artikel 101 Abs. 3 AEUV erfüllt und setzt sie daher um, kann die Kommission gleichwohl eine abweichende Auffassung vertreten und gegen das Unternehmen ein Bußgeld verhängen. Eine vorherige bindende Einschätzung der Kommission hinsichtlich verschiedener Verhaltensweisen kann das Unternehmen in der Regel – anders als früher – nicht mehr einholen.27 Die vier Voraussetzungen für das Vorliegen der Legalausnahme sind: 1. Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts; 2. angemessene Beteiligung der Verbraucher am entstehenden Gewinn; 3. Unternehmen dürfen keine Beschränkungen auferlegt werden, die für die Verwirklichung dieser Ziele nicht unerlässlich sind; 4. Unternehmen darf keine Möglichkeit eröffnet werden, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten. 14.2.1.7.2 Gruppenfreistellungsverordnungen 18 Durch sogenannte Gruppenfreistellungsverordnungen kann die Kommission den Inhalt der Legal­ausnahme konkretisieren. Die Kommission hat hierzu auf folgenden Gebieten Gruppenfreistellungsverordnungen erlassen: • Kraftfahrzeugsektor,28 • Forschung und Entwicklung,29 • Spezialisierungsvereinbarungen,30

27Vor Einführung des Systems der Legalausnahme durch die VO Nr. 1/2003 konnten Unternehmen eine bindende Entscheidung der Kommission über die Anwendbarkeit der Rechtfertigung einholen (Einzelfreistellung) oder zumindest eine formfreie Einschätzung der Kommission erhalten (sog. comfort letters). Zur verminderten Rechtssicherheit im System der Legalausnahme siehe Pelka, Rechtssicherheit im europäischen Kartellverfahren?, 2009, S. 183 ff. 28Verordnung (EU) Nr. 461/2010 der Kommission vom 27. Mai 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor, ABl. 2010, L 129/52. 29Verordnung (EU) Nr. 1217/2010 der Kommission vom 14. Dezember 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung, ABl. 2010, L 335/36. 30Verordnung (EU) Nr. 1218/2010 der Kommission vom 14. Dezember 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen von Spezialisierungsvereinbarungen, ABl. 2010, L 335/43.

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• Technologietransfer,31 • Vertikalvereinbarungen,32 • Seeschifffahrtsunternehmen.33 Dementsprechend sollte sich der Syndikusanwalt bei kartellrechtlich gegebenenfalls pro- 19 blematischen Vereinbarungen mit Wettbewerbern oder Abnehmern von vornherein an den Gruppenfreistellungsverordnungen und den teilweise hierzu erlassenen Leitlinien orientieren.34

14.2.2 Das deutsche Kartellverbot 14.2.2.1 Grundsätzliche Parallelität von deutschem und europäischem Kartellverbot (Artikel 3 VO 1/2003) Sobald eine Wettbewerbsbeschränkung nicht nur den deutschen Markt beeinträchtigt, 20 sondern auch geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, fällt sie in den Anwendungsbereich des EU-Kartellverbots. Es findet dann neben dem deutschen Kartellverbot gem. § 1 GWB das europäische Kartellverbot aus Artikel 101 AEUV Anwendung (Artikel 3 Abs. 1 Verordnung Nr. 1/2003). Die deutschen Wettbewerbsbehörden und Gerichte wenden dann beide Kartellverbote parallel an. Da nach Artikel 3 Abs. 2 Verordnung Nr. 1/2003 das mitgliedstaatliche Kartellrecht im Anwendungsbereich des EU-Rechts nicht strenger sein darf als dieses, laufen das deutsche und das europäische Wettbewerbsrecht in diesem Fall parallel. Im deutschen Kartellrecht werden diese unionsrechtlichen Anordnungen in § 22 Abs. 1 und 2 GWB aufgegriffen.

31Verordnung

(EU) Nr. 316/2014 der Kommission vom 21. März 2014 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von Technologietransfer-Vereinbarungen, ABl. 2014, L 93/17. 32Verordnung (EU) Nr. 330/2010 der Kommission vom 20. April 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen, ABl. 2010, L 102/1. 33Verordnung (EG), Nr. 906/2009 der Kommission vom 28. September 2009 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen, Beschlüssen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen zwischen Seeschifffahrtsunternehmen (Konsortien), ABl. 2009, L 256/31. Bis zum 25. April 2020 verlängert durch Verordnung (EU) Nr. 697/2014 vom 24. Juni 2014, ABl. 2014, L 184/3. 34Alle Gruppenfreistellungsverordnungen und Leitlinien sind auf der Website der Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen Kommission verfügbar: http://ec.europa.eu/competition/antitrust/ legislation/legislation.html .

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§ 1 GWB schreibt vor, dass Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken, verboten sind. Gemäß § 2 GWB können bestimmte Verhaltensweisen vom Verbot freigestellt werden. § 2 Abs. 1 GWB entspricht der europäischen Einzelfreistellungsnorm des Artikel 101 Abs. 3 AEUV. Nach § 2 Abs. 2 GWB gelten auch die europäischen Gruppenfreistellungsverordnungen entsprechend. Dies gilt selbst dann, wenn die Verhaltensweisen nicht in den Anwendungsbereich des europäischen Kartellverbots fallen, weil sie nicht geeignet sind, den zwischenstaatlichen Handel zu beeinträchtigen.

14.2.2.2 Besonderheiten des deutschen Kartellverbots 21 Aufgrund des grundsätzlichen Gleichlaufs des deutschen Kartellrechts mit dem europäischen Kartellrecht, der gemeinschaftsrechtlich angeordnet ist, bleibt grundsätzlich nur dann Spielraum für abweichende Regelungen, wenn der Anwendungsbereich des Unionsrechts für rein nationale Verhaltensweisen nicht eröffnet ist. Dies ist der Fall, wenn Verhaltensweisen nicht geeignet sind, den zwischenstaatlichen Handel zu beeinträchtigen. Dann gibt es im deutschen Kartellrecht einige Abweichungen vom europäischen Kartellverbot. 14.2.2.2.1 Mittelstandskartelle 22 Der nationale Gesetzgeber hat in § 3 GWB an einer Sonderregelung für Mittelstandskartelle festgehalten, um die Wettbewerbschancen kleinerer und mittlerer Unternehmen gegenüber großen Unternehmen zu verbessern.35 Soweit die Voraussetzungen von § 3 Nr. 1 und 2 GWB vorliegen, greift eine gesetzliche Fiktion ein, wonach die allgemeinen Freistellungsvoraussetzungen des § 2 Abs. 1 GWB als erfüllt gelten. Es muss sich um Vereinbarungen handeln, die der Rationalisierung wirtschaftlicher Vorgänge durch Zusammenarbeit dienen, wodurch die Wettbewerbsfähigkeit kleinerer und mittlerer Unternehmen gestärkt und der Wettbewerb nicht wesentlich beeinträchtigt wird. Letztlich führt dies zu einer Privilegierung von Mittelstandskartellen. 14.2.2.2.2 § 69 SGB V 23 Im Gesundheitskartellrecht sind die vertikalen Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Leistungserbringern von der entsprechenden Anwendbarkeit des deutschen Kartellrechts ausgenommen, soweit es sich um „Verträge und sonstige Vereinbarungen von Krankenkassen oder deren Verbänden mit Leistungserbringern

35Wimmer-Leonhardt,

WuW 2006, S. 486.

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oder deren Verbänden, zu deren Abschluss die Krankenkassen oder deren Verbände gesetzlich verpflichtet sind“, handelt (§ 69 Abs. 2 Satz 2 SGB V). Die Reichweite dieser Ausnahmeregelung ist hoch umstritten. Unstreitig dürfte sein, dass sogenannte Arzneimittel-Rabattverträge gem. § 130a Abs. 8 SGB V von ihr nicht erfasst werden. Horizontale Absprachen der Krankenkassen bei der Ausschreibung und Vergabe der Arzneimittel-Rabattverträge gem. § 130a Abs. 8 SGB V müssen daher den Anforderungen des Kartellverbotes genügen. Umgekehrt unterliegen Heil- und Hilfsmittelverträge gem. § 125 Abs. 2 sowie § 127 Abs. 2 SGB V nicht dem deutschen Kartellrecht. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber in der 8. GWB-Novelle die umstrittene Entscheidung getroffen, dass horizontale Absprachen der Krankenkassen mit Blick auf die gesetzlich Versicherten nicht der (entsprechenden) Anwendbarkeit des deutschen Kartellrechts unterfallen.36 14.2.2.2.3 Sonstige Besonderheiten Der fünfte Abschnitt des GWB trifft Sonderregelungen für bestimmte Wirtschafts- 24 bereiche. § 28 GWB nimmt bestimmte Vereinbarungen in der Landwirtschaft vom Kartellverbot des § 1 GWB aus. Gem. § 30 GWB sind vertikale Preisbindungen bei Zeitungen und Zeitschriften vom Kartellverbot des § 1 GWB nicht erfasst. Nach § 30 Abs. 3 GWB kann das Bundeskartellamt jedoch von Amts wegen oder auf Antrag eines gebundenen Abnehmers die Preisbindung für unwirksam erklären, wenn die Preisbindung missbräuchlich gehandhabt wird oder die Preisbindung ggf. mit anderen Wettbewerbsbeschränkungen zusammen geeignet ist, die preisgebundenen Waren zu verteuern, ein Sinken der Preise zu verhindern oder die Warenerzeugung oder den -absatz zu beschränken.

14.3 Marktmachtmissbrauchskontrolle 14.3.1 Das europäische Marktmachtmissbrauchsverbot (Artikel 102 AEUV) 14.3.1.1 Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung Artikel  102  AEUV untersagt die missbräuchliche Ausnutzung einer markt- 25 beherrschenden Stellung durch ein oder mehrere Unternehmen, soweit hierdurch der Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt werden kann.

36Vgl.

zum gesundheitskartellrechtlichen Teil der 8. GWB-Novelle Burholt, WuW 2013, S. 1164 ff.

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14.3.1.2 Aktuelle Entwicklung des europäischen Marktmachtmissbrauchsverbots 26 Das europäische Missbrauchsverbot wird seit Einführung des more economic approach durch die Europäische Kommission zunehmend aus ökonomischen Blickwinkeln betrachtet. Ihren more economic approach hat die Kommission in einer Mitteilung zum europäischen Marktmachtmissbrauchsverbot konkretisiert und näher dargelegt.37 Danach sollen bei der Durchsetzung des jetzigen Artikels 102 AEUV ökonomische Betrachtungsweisen eine stärkere Rolle spielen. Das jeweilige marktbeherrschende Unternehmen kann z. B. nachweisen, dass sein vermeintlich missbräuchliches Verhalten objektiv notwendig ist oder dass dadurch erhebliche Effizienzvorteile erzielt werden, die etwaige wettbewerbsbeschränkende Auswirkungen zu Lasten der Verbraucher aufwiegen. Die Kommission muss zudem prüfen, ob das fragliche Verhalten für das Erreichen des vom marktbeherrschenden Unternehmen verfolgten Ziels unverzichtbar und verhältnismäßig ist.38 Offen ist allerdings nach wie vor, ob der Europäische Gerichtshof den von der Kommission favorisierten more economic approach in seiner Rechtsprechung auch bestätigen wird. Lange favorisierte der EuGH eher eine legalistische bzw. typisierende Herangehensweise. Bestimmte einseitige Verhaltensweisen von marktbeherrschenden Unternehmen wurden per se als missbräuchlich eingestuft. Der Europäische Gerichtshof hat aber zwischenzeitlich jedenfalls angedeutet, dass er in Zukunft selbst bei eindeutig missbräuchlichen Verhaltensweisen, wie z. B. Kampfpreisen, eine ökonomische Analyse und Abwägung in Betracht zieht.39 Nach dem Intel-Urteil des EuGH sind Treue- und Exklusivitätsrabatte – im Unterschied zu reinen Mengenrabatten – zwar im Grundsatz stets missbräuchlich. Die Kartellbehörde ist aber u. a. zur Prüfung des Vorliegens einer eventuellen Strategie zur Verdrängung der mindestens ebenso leistungsfähigen Wettbewerber („as efficient competitor“-Test) verpflichtet, sofern das betroffene Unternehmen im Verwaltungsverfahren, gestützt auf Beweise, geltend macht, dass seinem Verhalten die Eignung fehlt, den Wettbewerb zu beschränken und die beanstandeten Verdrängungswirkungen zu erzeugen.40

37Europäische Kommission, Erläuterungen zu den Prioritäten der Kommission bei der Anwendung von Artikel 82 des EG-Vertrags auf Fälle von Behinderungsmissbrauch durch marktbeherrschende Unternehmen, ABl. 2009, C 45/7. 38Europäische Kommission, Erläuterungen zu den Prioritäten der Kommission bei der Anwendung von Artikel 82 des EG-Vertrags auf Fälle von Behinderungsmissbrauch durch marktbeherrschende Unternehmen, ABl. 2009, C 45/7, Rn. 28. 39Vgl. EuGH, Rs. C-209/10, Post Danmark, Slg. 2012, I-0000, Rn. 40 ff.; EuGH, Rs. C-413/14 P, Intel, Rn. 138 ff. Gegen eine per se-Beurteilung von Treue- bzw. Ausschließlichkeitsrabatten auch der Schlussantrag des Generalanwalts Nils Wahl v. 20.10.2016 in der Rs. Intel, NZKart 2016, 541. 40EuGH, Rs. C-413/14 P, Intel, Rn. 138 ff. Die Sache wurde an das EuG zurückverwiesen mangels Prüfung des gesamten Vorbringens von Intel zum Test.

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14.3.1.3 Adressaten des Artikel 102 AEUV Die Marktmachtmissbrauchskontrolle des Artikel 102 AEUV richtet sich ebenso wie das 27 Kartellverbot aus Artikel 101 AEUV an Unternehmen und Unternehmensvereinigungen im Sinne des europäischen Kartellrechts. 14.3.1.4 Marktabgrenzung und marktbeherrschende Stellung 14.3.1.4.1 Marktabgrenzung Artikel 102 AEUV setzt eine marktbeherrschende Stellung eines Unternehmens auf dem 28 gemeinsamen Markt oder auf einem wesentlichen Teil desselben voraus. Abzugrenzen ist der sachlich, räumlich und zeitlich relevante Markt.41 Beim sachlich relevanten Markt ist zur Abgrenzung nach dem sogenannten Bedarfsmarktkonzept auf das Kriterium der Austauschbarkeit abzustellen.42 Zu ein und demselben sachlichen Markt zählen danach nur solche Produkte und Leistungen, die aus der Perspektive der Marktgegenseite aufgrund ihrer Eigenschaften gleichermaßen zur Befriedigung eines gleichbleibenden Bedarfs geeignet sind und die nicht einfach durch andere Erzeugnisse oder Leistungen ersetzt werden können.43 Abzustellen ist also jeweils auf die Sicht der Marktgegenseite. Der räumlich relevante Markt ist das Gebiet, in dem Unternehmen austauschbare 29 Produkte oder Dienstleistungen anbieten oder aber am Ende als austauschbare absatzfähige Nachfrager auftreten.44 Der räumlich relevante Markt kann lokal, regional, national, europaweit oder weltweit abgegrenzt werden.45 Dabei können auch regulatorische Rahmenbedingungen eine Rolle spielen. So grenzen Kommission und Bundeskartellamt z. B. Arzneimittelherstellermärkte in ständiger Praxis national ab, weil die Mitgliedstaaten der Europäischen Union über sehr unterschiedliche regulatorische Rahmenbedingungen und Kostenerstattungssysteme verfügen.46 Bei besonderen Konstellationen, beispielsweise dann, wenn ein Unternehmen nur in einem begrenzten Zeitabschnitt als Anbieter oder Nachfrager auftritt, ist der Markt auch in zeitlicher Hinsicht abzugrenzen. Dies kann beispielsweise bei Saisonangeboten der Fall sein.47 41Kling/Thomas,

Grundkurs Wettbewerbs- und Kartellrecht, 2004, S. 545 ff. zuletzt: BGH, Urteil v. 17.12.2013 – KZR 65/12, Rn. 22; Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, Band 1, EU/Teil 1, Art. 101 Abs. 1 AEUV, Rn. 159. 43BGH, Beschluss v. 26.5.1987, WuW/E BGH 2406, 2408 – Inter-Mailand-Spiel. 44BGH, Beschluss v. 5.10.2004, WuW/E DE-R 1355, 1359 – Staubsaugerbeutelmarkt; Neef, Kartellrecht, 2008, S. 67. 45Kling/Thomas, Grundkurs Wettbewerbs- und Kartellrecht, 2004, S. 546 f. 46Vgl. z. B. Entscheidung der Kommission v. 6.2.2006, Fall Nr. COMP/M.4049 – Novartis/Chiron, Tz. 30 ff.; Entscheidung der Kommission v. 15.6.2005, Fall Nr. COMP/A. 37.507/F3 – AstraZeneca, Tz. 503 ff. 47BGH, Beschluss v. 26.5.1987, WuW/E BGH 2406, 2408 – Inter-Mailand-Spiel; Neef, Kartellrecht, 2008, S. 67. 42So

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14.3.1.4.2 Marktbeherrschende Stellung 30 Das europäische Recht definiert den Begriff der marktbeherrschenden Stellung nicht. Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs liegt eine marktbeherrschende Stellung vor, wenn ein Unternehmen die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs auf dem relevanten Markt verhindern und sich seinen Wettbewerbern, seinen Abnehmern und letztlich dem Verbraucher gegenüber in einem wesentlichen Umfang unabhängig verhalten kann.48 Hohe Marktanteile von über 50% begründen eine Vermutung für beträchtliche Marktmacht.49 Ob im Einzelfall eine marktbeherrschende Stellung angenommen wird, richtet sich derzeit noch im Wesentlichen nach dem Marktanteil des Unternehmens. Mit zunehmender Bedeutung des more economic approach der Kommission nimmt die Aussagekraft des Marktanteils allerdings ab. Zudem kann relevant sein, ob das Unternehmen z. B. überlegene technische und kommerzielle Fähigkeiten aufweist oder ob es z. B. über eine überdurchschnittliche Finanz- und Wirtschaftskraft verfügt. Schließlich ist regelmäßig von Bedeutung, wie die Konkurrenten des vermeintlich marktbeherrschenden Unternehmens aufgestellt sind.50 Hinsichtlich des Marktanteils lassen sich lediglich grobe Richtwerte ausmachen. Bei einem Marktanteil von weniger als 25 % liegt regelmäßig keine marktbeherrschende Stellung vor; bei einem Marktanteil zwischen 25 und 40 % kann ausnahmsweise von einer marktbeherrschenden Stellung dann ausgegangen werden, wenn besondere Umstände hinzutreten und ein wesentlicher Abstand zum nächsten Mitbewerber vorliegt, weil der Markt zwischen vielen Wettbewerbern aufgeteilt ist; ab einem Marktanteil von deutlich über 40 % (verschiedentlich wird auch ein Marktanteil von über 50 % gefordert) kann regelmäßig auf eine beherrschende Stellung des Unternehmens im Markt geschlossen werden.51 Unter bestimmten Voraussetzungen kann der Marktanteil eines Unternehmens anderen Unternehmen zugerechnet werden. Mehrere Unternehmen können zudem in einem Oligopol gemeinsam Marktbeherrschung erlangen.52

48Vgl. EuGH, Rs. 85/76, Hoffmann-La Roche/Kommission, Slg. 1979, S. 461, Rn. 38; EuGH, Rs. C-413/06 P, Bertelsmann und Sony Corporation of America/Impala, Slg. 2008, I-4951, Rn. 120. 49Vgl. EuGH, Rs. C-62/86, AKZO, Slg. 1991, I-3359, Rn. 60. 50EuGH, Rs. 27/76, United Brands/Kommission, Slg. 1978, S. 207, Rn. 111; Entscheidung der Kommission v. 2.10.1995, Fall Nr. IV/M.984, WuW 1997, 971 – DuPont/ICI; Kling/Thomas, Grundkurs Wettbewerbs- und Kartellrecht, 2004, S. 548, Rn. 116. 51Vgl. Fuchs/Möschel, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, Band 1. EU/Teil 1, Art. 102 AEUV, Rn. 91 ff.; Neef, Kartellrecht, 2008, S. 67 ff. 52Bergmann/Fiedler in: Loewenheim u.a. (Hrsg.), Kartellrecht, Europäisches und Deutsches Recht, 3. Auflage 2016, Art. 102 AEUV, Rn. 144 f.

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14.3.1.5 Missbrauchstatbestände Artikel 102 AEUV enthält neben einer Generalklausel vier Regelbeispiele für grund- 31 sätzlich missbräuchliches Verhalten. Umfasst werden dabei Fälle des Ausbeutungs-, des Behinderungs- und des Strukturmissbrauchs.53 • Artikel 102 Satz 2 lit. a AEUV stellt einen typischen Fall des Ausbeutungsmissbrauchs dar. Danach kann ein Missbrauch bei einem unmittelbaren oder mittelbaren Erzwingen von unangemessenen Einkaufs- oder Verkaufspreisen oder sonstigen Geschäftsbedingungen vorliegen. • Nach Artikel 102 Satz 2 lit. b AEUV ist eine künstliche Verknappung von Gütern durch eine Einschränkung der Erzeugung, des Absatzes oder der technischen Entwicklung zum Schaden der Verbraucher missbräuchlich. • Artikel 102 Satz 2 lit. c AEUV stellt fest, dass Diskriminierungen von Handelspartnern missbräuchlich sein können, z. B. bei der Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern, wodurch diese im Wettbewerb benachteiligt werden. • Artikel 102 Satz 2 lit. d AEUV nimmt einen Missbrauch an, wenn an den Abschluss von Verträgen die Bedingung geknüpft wird, dass die Vertragspartner zusätzliche Leistungen annehmen, die weder sachlich noch nach Handelsbrauch in Beziehung zum Vertragsgegenstand stehen (Kopplungsverbot). Neben den Regelbeispielen gem. Artikel 102 Satz 2 AEUV können auch Verhaltens- 32 weisen nach der Generalklausel des Artikel 102 Satz 1 AEUV als missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung verboten sein. Marktbeherrschende Unternehmen, die Geschäftsbeziehungen zu Geschäftspartnern verweigern, können hierdurch ihre marktbeherrschende Stellung missbräuchlich ausnutzen. Hervorzuheben sind Unternehmen, die als Marktbeherrscher anderen Unternehmen wesentliche Einrichtungen vorenthalten und somit in den Anwendungsbereich der so genannten essential facilities doctrine fallen. Eine wesentliche Einrichtung in diesem Sinne ist dann anzunehmen, wenn das jeweilige dritte Unternehmen seine eigenen Dienstleistungen oder Produkte ohne die Einrichtung nicht abzusetzen vermag. Typische Anwendungsfelder der essential facilities doctrine sind z. B. Häfen oder Zugangsregelungen zu Netzen bzw. Leitungen.54

53Vgl.

Kling/Thomas, Grundkurs Wettbewerbs- und Kartellrecht, 2004, S. 553, Rn. 123. BGH, Urteil v. 28.6.2005, WuW/E DE-R 1520 ff. – Arealnetz.

54Vgl. z. B.

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14.3.2 Das deutsche Marktmachtmissbrauchsverbot (§§ 18 bis 21 GWB) 14.3.2.1 Verhältnis zum europäischen Markmachtmissbrauchsverbot 33 Das europäische Marktmissbrauchsverbot wird parallel zum nationalen Marktmissbrauchsverbot angewendet. Das nationale Missbrauchsverbot darf jedoch strenger als das europäische Recht ausgestaltet sein: Artikel 3 Abs. 1 Satz 2 VO 1/2003 ordnet zunächst an, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden und Gerichte, wenn sie nationales Wettbewerbsrecht auf missbräuchliches Verhalten marktbeherrschender Unternehmen anwenden, auch Artikel  102  AEUV anwenden. Gemäß Artikel  3 Abs.  2 Satz 2 VO 1/2003 können die Mitgliedstaaten im Bereich des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung über das europäische Marktmachtmissbrauchsverbot hinausgehen. Anders als im Bereich des Kartellverbots können die Mitgliedstaaten demnach Regelungen erlassen, die Verhaltensweisen untersagen, die nach dem europäischen Recht zulässig sind. Der deutsche Gesetzgeber hat von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. So gilt das deutsche Recht auch unterhalb der Marktbeherrschungsschwelle für marktstarke Unternehmen, von denen kleine und mittlere Unternehmen abhängig sind (vgl. § 20 GWB, sog. relative Marktmacht).

14.3.2.2 Marktabgrenzung 34 Um festzustellen, ob ein Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung innehat, ist der sachlich und räumlich relevante Markt abzugrenzen (vgl. § 18 Abs. 1 GWB). (Zur Marktabgrenzung vgl. oben unter 14.3.1.4.1).

14.3.2.3 Marktbeherrschende Stellung 35 Anders als das europäische Wettbewerbsrecht enthält das deutsche Wettbewerbsrecht eine Reihe von widerlegbaren Vermutungstatbeständen für das Vorliegen einer marktbeherrschenden Stellung (vgl. § 18 Abs. 4 und 6 GWB). Eine marktbeherrschende Stellung liegt gemäß § 18 Abs. 1 GWB vor, wenn ein Unternehmen • als Anbieter oder Nachfrager einer bestimmten Art von Waren oder gewerblichen Leistungen auf dem sachlich und räumlich relevanten Markt entweder ohne Wettbewerber ist oder keinem wesentlichen Wettbewerb ausgesetzt ist (1) oder • eine im Verhältnis zu seinen Wettbewerbern überragende Marktstellung hat (2). Gemäß § 18 Abs. 3 GWB sind bei der Bewertung der Marktstellung eines Unternehmens im Verhältnis zu seinen Wettbewerbern insbesondere sein Marktanteil, seine Finanzkraft, sein Zugang zu den Beschaffungs- oder Absatzmärkten, Verflechtungen mit anderen Unternehmen, rechtliche oder tatsächliche Schranken für den Marktzutritt anderer Unternehmen, der tatsächliche oder potentielle Wettbewerb durch innerhalb oder außerhalb des Geltungsbereichs des GWB ansässige Unternehmen, die Fähigkeit, sein Angebot oder seine Nachfrage auf andere Waren oder gewerbliche Leistungen umzustellen,

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sowie die Möglichkeit der Marktgegenseite, auf andere Unternehmen auszuweichen, zu berücksichtigen (2). Die Einzelmarktbeherrschung kann demnach einmal als Monopol und Quasimonopol 36 [siehe (1)] oder aufgrund einer überragenden Marktstellung [siehe (2)] vorliegen.55 Es sind bei der Bewertung der Marktstellung eines Unternehmens – insbesondere bei mehrseitigen Märkten und Netzwerken – nach § 18 Abs. 3a GWB auch folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Direkte und indirekte Netzwerkeffekte, die parallele Nutzung mehrerer Dienste und der Wechselaufwand für die Nutzer, seine Größenvorteile im Zusammenhang mit Netzwerkeffekten, sein Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten und schließlich innovationsgetriebener Wettbewerbsdruck. Gerade im digitalen Wirtschaftsbereich erlangt daneben § 18 Abs. 2a GWB Bedeutung, wonach die unentgeltliche Erbringung einer Leistung der Annahme eines Marktes nicht entgegen steht.56 § 18 Abs. 4 GWB stellt eine Vermutungsregelung auf, wann ein Unternehmen einzel- 37 marktbeherrschend ist. Als wesentliches Kriterium dient hierbei der jeweilige Marktanteil des Unternehmens. Eine Marktbeherrschung für ein einzelnes Unternehmen wird demnach vermutet, wenn es einen Marktanteil von mindestens 40 % hat. Nach § 18 Abs. 5 GWB kann eine Marktbeherrschung auch durch eine Gruppe von Unternehmen vorliegen. Danach sind zwei oder mehr Unternehmen marktbeherrschend, wenn zwischen ihnen auf einem relevanten Markt kein wesentlicher Wettbewerb besteht und sie in ihrer Gesamtheit die Voraussetzungen des § 18 Abs. 1 GWB erfüllen, also ein Monopol oder Quasimonopol bzw. eine überragende Marktstellung besitzen. Eine Gesamtheit von Unternehmen gilt nach §  18 Abs.  6 GWB als marktbeherrschend, wenn sie aus drei oder weniger Unternehmen besteht, die zusammen einen Marktanteil von 50 % erreichen, oder wenn sie aus fünf oder weniger Unternehmen besteht, die zusammen über einen Marktanteil von zwei Dritteln verfügen. Die gesetzliche Vermutung kann nach § 18 Abs. 7 GWB widerlegt werden, wenn die Unternehmen nachweisen können, dass zwischen ihnen wesentlicher Wettbewerb zu erwarten ist oder sie als Gesamtheit von Unternehmen im Verhältnis zu den übrigen Wettbewerbern keine überragende Marktstellung haben.

14.3.2.4 Missbrauchstatbestände Das GWB enthält eine Reihe unterschiedlicher Missbrauchstatbestände: • §  19 Abs.  1  GWB verbietet die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung durch ein oder mehrere Unternehmen.

55Vgl.

Bechtold/Bosch, GWB, § 18, Rn. 30. in diese Richtung zuvor bereits Entscheidung der Kommission vom 3.10.2014, Fall Nr. COMP/M.7217 – Facebook/WhatsApp; BKartA, Fallbericht v. 25.6.2015, Az. B6-39/15 – Online-Immobilienplattformen. 56Vgl.

38

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• § 19 Abs. 2 GWB normiert nicht abschließend fünf Regelbeispiele für die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung. Danach liegt ein Missbrauch vor, wenn ein Unternehmen als Anbieter oder Nachfrager auf einem bestimmten Markt 1. ein anderes Unternehmen unmittelbar oder mittelbar unbillig behindert oder ohne sachlich gerechtfertigten Grund unmittelbar oder mittelbar anders behandelt als gleichartige Unternehmen (Behinderungsverbot/Diskriminierungsverbot); 2. Entgelte oder sonstige Geschäftsbedingungen fordert, die von denjenigen abweichen, die sich bei wirksamem Wettbewerb mit hoher Wahrscheinlichkeit ergeben würden; hierbei sind insbesondere die Verhaltensweisen von Unternehmen auf vergleichbaren Märkten mit wirksamem Wettbewerb zu berücksichtigen; 3. ungünstigere Entgelte oder sonstige Geschäftsbedingungen fordert, als sie das marktbeherrschende Unternehmen selbst auf vergleichbaren Märkten von gleichartigen Abnehmern fordert, es sei denn, dass der Unterschied sachlich gerechtfertigt ist; 4. sich weigert, einem anderen Unternehmen gegen angemessenes Entgelt Zugang zu den eigenen Netzen oder anderen Infrastruktureinrichtungen zu gewähren, wenn es dem anderen Unternehmen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen ohne die Mitbenutzung nicht möglich ist, auf dem vor- oder nachgelagerten Markt als Wettbewerber des marktbeherrschenden Unternehmens tätig zu werden; dies gilt nicht, wenn das marktbeherrschende Unternehmen nachweist, dass die Mitbenutzung aus betriebsbedingten oder sonstigen Gründen nicht möglich oder nicht zumutbar ist; 5. andere Unternehmen dazu auffordert, ihm ohne sachlich gerechtfertigten Grund Vorteile zu gewähren; hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, ob die Aufforderung für das andere Unternehmen nachvollziehbar begründet ist und ob der geforderte Vorteil in einem angemessenen Verhältnis zum Grund der Forderung steht. • § 20 Abs. 1 GWB erweitert das Diskriminierungs- bzw. Behinderungsverbot aus § 19 Abs. 1 i. V. m. § 19 Abs. 2 Nr. 1 GWB über marktbeherrschende Unternehmen hinaus auf sogenannte relativ marktstarke Unternehmen. Relativ marktstark sind Unternehmen, soweit von ihnen kleine oder mittlere Unternehmen als Anbieter oder Nachfrager auf einem relevanten Markt in der Weise abhängig sind, dass ausreichende und zumutbare Möglichkeiten, auf andere Unternehmen auszuweichen, nicht bestehen. § 20 Abs. 1  Satz 2 GWB stellt die Vermutung auf, dass ein Anbieter einer bestimmten Art von Ware oder Leistung von einem Nachfrager abhängig ist, wenn der Nachfrager bei ihm regelmäßig besondere Vergünstigungen erlangt, die gleichartige Nachfrager nicht erhalten. • Gemäß § 20 Abs. 2 GWB gilt § 19 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 Nr. 5 GWB auch für Unternehmen und Vereinigungen von Unternehmen im Verhälntnis zu den von ihnen abhängigen Unternehmen. Erstere dürfen dementsprechend ihre Marktstellung nicht dazu ausnutzen, um Letztere aufzufordern oder zu veranlassen, ihnen ohne sachlich gerechtfertigten Grund Vorteile zu gewähren.

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• § 20 Abs. 3 GWB enthält Regelbeispiele für unbillige Behinderung von Unternehmen mit relativer Marktmacht gegenüber kleinen und mittleren Wettbewerbern. Danach liegt eine (verbotene) unbillige Behinderung vor, wenn das marktmächtige Unternehmen (ungerechtfertigt) Lebensmittel unter Einstandspreis verkauft (Nr. 1), andere Waren oder gewerbliche Leistungen nicht nur gelegentlich unter Einstandspreis verkauft (Nr. 2) oder von kleinen oder mittleren Unternehmen, mit denen es beim Vertrieb von Waren oder gewerblichen Leistungen auf dem nachgelagerten Markt im Wettbewerb steht, für deren Lieferung sachlich ungerechtfertigt einen höheren Preis fordert, als es selbst auf diesem Markt anbietet (Nr. 3). • §  20 Abs.  5  GWB trifft eine Sonderregelung für Wirtschafts- und Berufsvereinigungen sowie Gütezeichengemeinschaften. Diese dürfen die Aufnahme eines Unternehmens nicht ablehnen, soweit die Ablehnung eine sachlich nicht gerechtfertigte ungleiche Behandlung darstellen und zu einer unbilligen Benachteiligung des Unternehmens im Wettbewerb führen würde. • § 21 Abs. 1 GWB untersagt es Unternehmen bzw. Unternehmensvereinigungen, andere Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen zu Liefersperren oder Bezugssperren aufzufordern, soweit dies in der Absicht erfolgt, bestimmte Unternehmen unbillig zu beeinträchtigen (Boykottverbot). • § 21 Abs. 2 GWB untersagt Unternehmen und Unternehmensvereinigungen, andere Unternehmen durch Androhung bzw. Zufügen von Nachteilen oder Versprechen bzw. Gewährung von Vorteilen zu einem Verhalten zu veranlassen, das nach dem GWB, nach Art. 101 oder 102 AEUV oder nach einer auf Grund des GWB oder aufgrund der Art. 101 oder 102 AEUV ergangenen Verfügung der Kartellbehörden nicht vertraglich vereinbart werden darf. • §  21 Abs.  3  GWB verbietet Unternehmen bzw. Unternehmensvereinigungen, andere Unternehmen zu zwingen, kartellrechtlich zulässigen Vereinbarungen oder Beschlüssen beizutreten oder sich mit anderen Unternehmen gem. § 37 GWB zusammenzuschließen. Ebenso verboten ist es, andere Unternehmen in der Absicht, den Wettbewerb zu beschränken, zu zwingen, sich im Markt gleichförmig zu verhalten. • § 21 Abs. 4 GWB verbietet schließlich, einem anderen wirtschaftliche Nachteile zuzufügen, weil dieser die Kartellbehörden eingeschaltet hat.

14.3.3 Sachliche Rechtfertigung Liegt tatbestandlich ein Missbrauch vor, kommt ein Verstoß gegen das europäische 39 bzw. deutsche Marktmachtmissbrauchsverbot allerdings nur in Betracht, wenn keine besonderen Gründe vorliegen, die das Verhalten des marktbeherrschenden Unternehmens sachlich rechtfertigen können. Hierbei kommt es auf die konkreten Umstände des Einzelfalls und z. B. die regulatorischen Rahmenbedingungen an.

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14.4 Verfahren, Kronzeugenregelungen und Sanktionen 14.4.1 Kartellverwaltungsverfahren und Bußgeldverfahren 14.4.1.1 Europäisches Kartellverfahren 40 Das europäische Kartellverwaltungsverfahren zur Durchsetzung der Artikel 101 und 102 AEUV ist in der Verordnung Nr. 1/200357 geregelt. Das Kommissionsverfahren nach der Verordnung Nr. 1/2003 (VO 1/2003) ist anders als das Verfahren beim Bundeskartellamt nicht in ein Verwaltungsverfahren und ein Bußgeldverfahren unterteilt. Es beginnt mit einer sogenannten Voruntersuchungsphase und endet mit der sogenannten Entscheidungsphase.58 In der Voruntersuchungsphase versucht die Kommission den Sachverhalt so aufzuarbeiten, dass später eine Entscheidung darüber getroffen werden kann, ob eine Zuwiderhandlung gegen das europäische Wettbewerbsrecht vorliegt oder nicht. Bei der Voruntersuchung macht die Kommission insbesondere von ihren weitgehenden Ermittlungsbefugnissen der Artikel 17 ff. VO 1/2003 Gebrauch.59 Weitere Informationen kann die Kommission im Wege des Informationsaustauschs mit den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten (Netzwerk der Wettbewerbsbehörden) erhalten. Im Verlauf des Voruntersuchungsverfahrens kann die Kommission das Verfahren einstellen, wenn sie keinen Anlass für ein Tätigwerden sieht. Nimmt die Kommission aber an, dass eine Zuwiderhandlung gegen die Artikel 101/102 AEUV vorliegt, entscheidet die Kommission in einer Art Zwischenphase, ob sie selbst die weitere Bearbeitung übernehmen soll, weil sie besonders gut dazu geeignet ist, oder ob eine mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörde den Fall übernehmen soll (Fallverteilung im Netzwerk). Wenn die Kommission den Fall übernimmt, schließt sie die Voruntersuchungsphase damit ab, dass sie dem betroffenen Unternehmen ihre Beschwerdepunkte mitteilt. Dann beginnt die Entscheidungsphase. Nach Artikel 10 VO 1/2003 kann die Kommission aus Gründen des öffentlichen Interesses der Gemeinschaft feststellen, dass die Artikel 101 und 102 AEUV im Einzelfall keine Anwendung finden. Stellt die Kommission fest, dass kein Verstoß gegen europäisches Wettbewerbsrecht vorliegt, kann sie das Verfahren ohne förmliche Entscheidung einstellen. Sie kann alternativ nach Artikel 7 VO 1/2003 einen Verstoß gegen europäisches Wettbewerbsrecht feststellen und die beteiligten Unternehmen durch eine Entscheidung verpflichten, die Zuwiderhandlung abzustellen. Die Kommission kann hierzu erforderliche Abhilfemaßnahmen vorschreiben, die entweder verhaltensorientierter oder aber struktureller Art sind. Grundsätzlich hat die Kommission dabei

57Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003, L 1/1. 58Vgl. EuGH, verb. Rsen. C-238/99 P u. a., Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, Slg. 2002, I-8375, Rn. 181 ff. 59Siehe zu den Ermittlungsrechten der Kommission: Hensmann, Die Ermittlungsrechte der Kommission im europäischen Kartellverfahren, 2009.

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verhaltensorientierten Abhilfemaßnahmen als milderem Mittel gegenüber strukturellen Abhilfemaßnahmen den Vorzug zu geben. Sind die Unternehmen bereit, Verpflichtungszusagen (Artikel 9 VO 1/2003) abzugeben, um einen Wettbewerbsrechtsverstoß auszuräumen, kann die Kommission die Verpflichtungszusagen durch eine förmliche Entscheidung für die Unternehmen für bindend erklären. Eine solche Entscheidung kann befristet sein und muss besagen, dass für ein Tätigwerden der Kommission kein Anlass mehr besteht. Gleichwohl sieht Artikel 9 Abs. 2 VO 1/2003 vor, dass bei Vorliegen bestimmter Gründe, beispielsweise wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse ab dem Zeitpunkt der Entscheidung wesentlich geändert haben, die Kommission das Verfahren erneut aufnehmen kann. Nach Artikel 8 VO 1/2003 kann die Kommission in dringenden Fällen auch einstweilige Maßnahmen anordnen. Artikel 23 Abs. 2 VO 1/2003 ermächtigt die Kommission, bei Verstößen gegen Artikel 101/102 AEUV eine Geldbuße für jedes an der Zuwiderhandlung beteiligte Unternehmen zu verhängen, die 10 % des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes des Unternehmens nicht übersteigen darf. In der jüngeren Vergangenheit hat die Kommission zunehmend beträchtliche Bußgelder verhängt. Das bisherige Rekordbußgeld für ein Einzelunternehmen für einen Verstoß gegen das Kartellverbot liegt knapp über 1 Mill €.60

14.4.1.2 Deutsches Kartellverfahren Das deutsche Kartellverfahren ist in ein Verwaltungsverfahren und ein Bußgeldverfahren 41 unterteilt. Während sich im Kartellverwaltungsverfahren die Ermittlungsrechte nach dem GWB richten, ergeben sich die Ermittlungsbefugnisse im Bußgeldverfahren aus dem Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) und der Strafprozessordnung (StPO). Die Kartellbehörde leitet ein Verfahren von Amts wegen oder auf Antrag ein (§ 54 Abs. 1 GWB). Die Kartellbehörden haben nach § 58 GWB ein Beschlagnahmerecht, können nach § 59  Abs. 1, 2 GWB Auskunftsverlangen verschicken, Einsichtnahmen und Prüfungen vor Ort und nach § 59 Abs. 4 GWB sogar Durchsuchungen durchführen. Die Kartellbehörden können auch, soweit starre Preise oder andere Umstände Wettbewerbsbeschränkungen vermuten lassen, bestimmte Wirtschaftszweige oder sektorübergreifend bestimmte Arten von Vereinbarungen untersuchen und dabei Auskünfte verlangen. Weiterhin können die Kartellbehörden auch einstweilige Maßnahmen anordnen (§ 32a GWB) und Verpflichtungszusagen durch eine Verfügung für bindend erklären (§ 32b Abs. 1 GWB).

60Bußgeld

gegen das Unternehmen Daimler; Europäische Kommission, Cartel statistics, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/competition/cartels/statistics/statistics.pdf, S. 3 (zuletzt abgerufen am 23.10.2018).

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C. Burholt und J. Hensmann

Die Kommission hat im März 2017 einen Richlinienvorschlag zur Stärkung der nationalen Wettbewerbsbehörden vorgelegt, welcher die Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts durch die Kartellbehörden der Mitgliedstaaten verbessern soll.61 Die Bußgeldvorschriften finden sich in § 81 GWB. Das Bußgeldverfahren ist im OWiG geregelt. Die Wettbewerbsbehörden können je nach Art der Ordnungswidrigkeit Bußgelder in unterschiedlicher Höhe verhängen. Diese Ordnungswidrigkeiten können gem. § 81 Abs. 4 GWB gegenüber natürlichen Personen mit einer Geldbuße bis zu 1 Mio. € geahndet werden. Gegen Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen kann hingegen eine höhere Geldbuße verhängt werden, wobei die Geldbuße 10 % des im letzten Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes des Unternehmens nicht übersteigen darf. Hierbei handelt es sich nicht um eine Kappungsgrenze. § 81 Abs. 4 Satz 2 GWB ist vielmehr als Obergrenze eines Bußgeldrahmens zu verstehen.62 Seit der 9. GWB-Novelle aus dem Jahr 2017 normieren § 81 Abs. 3a ff. GWB in Anlehnung an das europäische Kartellrecht eine konzernweite Haftung für Kartellverstöße. In § 81 Abs. 3b, 3c GWB wurden die bereits 2013 eingeführten Regelungen zur Haftung bei Unternehmensnachfolgen (§ 30 Abs. 2a OWiG) ergänzt. Hintergrund für die Ausweitung der Nachfolgerhaftung war der 2015 öffentlich gewordene Versuch eines am Wurstkartell beteiligten Unternehmens, sich durch mehrstufige Umstrukturierungen der Bußgeldhaftung zu entziehen (Schließung der sog. Wurstlücke).63 42 Verstöße gegen das Kartellrecht können theoretisch als Betrug gem. § 263 StGB gewertet werden. In Deutschland spielt das Strafrecht außerhalb des § 298 StGB (Submissionsabsprachen) allerdings keine Rolle. Eigenständige Straftatbestände sind im GWB nicht enthalten.

14.4.2 Kronzeugenregelung 43 Sowohl die Kommission als auch die deutschen Wettbewerbsbehörden setzen seit mehreren Jahren erfolgreich Kronzeugenregelungen ein, um einen Anreiz für die Aufdeckung von Wettbewerbsverstößen zu setzen. Derjenige, der ein Kartell gegenüber den Wettbewerbsbehörden anzeigt, kann im Gegenzug eine Reduktion einer zu verhängenden Geldbuße bis hin zum vollständigen Erlass der Geldbuße erlangen.

61Europäische

Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts, COM(2017) 142 final. 62BGH, Beschluss v. 26.2.2013 – KRB 20/12 NJW 2013, 1972 – Grauzementkartell. 63Bundesregierung, Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, BT-Drucks. 18/10207, S. 40; vgl. auch Jungbluth, NZKart 2017, 257.

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14.4.2.1 Europäische Leniency Notice Nach der Kronzeugenmitteilung64 der Kommission kann derjenige, der als Erster ein Kar- 44 tell gegenüber der Kommission anzeigt, einen vollständigen Erlass der Geldbuße erlangen. Hierzu hat das Unternehmen zahlreiche Informations- und Mitwirkungspflichten zu erfüllen. Unternehmen, die nachfolgend ebenfalls an der Aufdeckung des Kartells mitwirken, können u. U. in den Genuss einer Ermäßigung der Geldbußen kommen.65 14.4.2.2 Deutsche Kronzeugenmitteilung Das Bundeskartellamt hat ebenfalls eine Kronzeugenmitteilung in einer Bekannt- 45 machung veröffentlicht.66 Auch die Bonusregelung des Bundeskartellamts kann zu einem vollständigen Erlass der Geldbuße für denjenigen führen, der als erster Kartellbeteiligter an das Bundeskartellamt herantritt. Für weitere Kartellbeteiligte, die nicht als erste an das Bundeskartellamt herangetreten sind, kann das Bundeskartellamt die Geldbuße um bis zu 50 % reduzieren.

14.4.3 Zivilrechtliche Sanktionen von Kartellrechtsverstößen Nach Artikel 101 Abs. 2 AEUV sind Vereinbarungen oder Beschlüsse, die gegen Arti- 46 kel 101 AEUV verstoßen, nichtig. Die Nichtigkeit wirkt absolut und richtet sich somit für und gegen Jedermann.67 Nichtig sind diejenigen Klauseln, die gegen Artikel 101 AEUV verstoßen. Falls andere Teile der Vereinbarung von den nichtigen Klauseln getrennt werden können, richtet sich deren rechtliches Schicksal nach dem einschlägigen nationalen Recht. In Deutschland ist gem. § 139 BGB im Zweifel die Nichtigkeit des ganzen Vertrages anzunehmen.68 In der Praxis wird die Gesamtnichtigkeit in der Regel durch salvatorische Klauseln verhindert. Auch weitere zivilrechtliche Konsequenzen des Kartellverstoßes richten sich nach den nationalen Rechtsordnungen. In Deutschland ergeben sich zivilrechtliche Ansprüche aus §§ 33 Abs. 1, 33a Abs. 1 GWB (Beseitigung, Unterlassung und Schadensersatz) für Dritte, die nicht an der wettbewerbsbeschränkenden Maßnahme beteiligt waren, und aus §§ 812 ff. BGB (Rückabwicklung).69

64Europäische

Kommission, Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. 2006, C 298/17. 65Siehe zu den Kronzeugenregelungen: Hetzel, Kronzeugenregelungen im Kartellrecht, 2004. 66Bundeskartellamt, Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen – Bonusregelung – vom 7. März 2006 67Kling/Thomas, Grundkurs Wettbewerbs- und Kartellrecht, 2004, S.  532, Rn. 62; EuGH, Rs. 22/71 Slg. 1971, S. 949, Rn. 29. 68Bechtold/Bosch, GWB, § 1, Rn. 90. 69Zu den kartellrechtlichen Schadensersatzansprüchen siehe: Fiedler, Class Actions zur Durchsetzung des europäischen Kartellrechts, 2010.

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Vereinbarungen, die gegen das deutsche Wettbewerbsrecht verstoßen, sind gem. § 134 BGB i. V. m. den einschlägigen kartellrechtlichen Verbotsnormen nichtig. Die zivilrechtlichen Ansprüche aus §§ 33 Abs. 1, 33a Abs. 1 GWB (Beseitigung, Unterlassung und Schadensersatz) gelten auch bei Verstößen gegen das deutsche Kartellrecht. Auch die Ansprüche auf Rückabwicklung gem. §§ 812 ff. BGB gelten bei Verstößen gegen die deutschen Kartellrechtsvorschriften. 47 Kartellrechtliche Schadensersatzklagen (Private Enforcement) haben in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen und tragen spürbar zur Durchsetzung des Kartellrechts bei. Dieser Trend wird durch die Richtlinie zu kartellrechtlichen Schadensersatzklagen noch verstärkt, die der deutsche Gesetzgeber im Zuge der 9. GWB-Novelle in nationales Recht umgesetzt hat.70 Kontrovers diskutiert wird in diesem Kontext, ob die Einführung einer Art Sammelklage nach US-amerikanischem Vorbild (class action) auch im deutschen Recht notwendig und zweckmäßig ist.71

14.5 Fusionskontrolle 48 Der freie Wettbewerb kann auch durch Zusammenschlüsse oder Übernahmen von Unternehmen behindert oder ausgeschaltet werden. Hiergegen richten sich die deutsche wie auch die europäische Fusions- bzw. Zusammenschlusskontrolle. Bei Übernahmen oder Fusionen ist daher zu beachten, ob und wenn ja wo das Vorhaben angemeldet und freigegeben werden muss. Aufgrund des sogenannten One-Stop-Shop-Prinzips kommt entweder die deutsche oder die europäische Fusionskontrolle zur Anwendung. Dies hängt entscheidend von der Überschreitung bestimmter Umsatzschwellenwerte der an dem Zusammenschlussvorhaben beteiligten Unternehmen sowie vom jeweils einschlägigen Zusammenschlusstatbestand ab. Hat eine Transaktion gemeinschaftsweite Bedeutung und erfüllt einen Zusammenschlusstatbestand der europäischen Fusionskontrollverordnung (FKVO)72, kommt ausschließlich die FKVO zur Anwendung. Nur wenn keine gemeinschaftsweite Bedeutung vorliegt, kommt das deutsche, nationale, Fusionskontrollrecht in Betracht.

70Vgl.

Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union, ABl. EU 2014, L 349/1. 71Vgl. das Gesetz zur Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage vom 12. Juli 2018, BGBl. I 2018, S. 1151. 72Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen („EG-Fusionskontrollverordnung“), ABl. 2004, L 24/1.

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14.5.1 Deutsches Recht Die deutsche Zusammenschlusskontrolle ist in den §§ 35 bis 43a GWB geregelt.

49

14.5.1.1 Formelle Fusionskontrolle Ein Zusammenschlussvorhaben unterliegt der deutschen Fusionskontrolle, wenn 50 ein Zusammenschlusstatbestand des § 37 Abs. 1 GWB erfüllt ist, die Umsätze der beteiligten Unternehmen die in § 35 GWB niedergelegten Schwellenwerte erreichen und sich das Zusammenschlussvorhaben in Deutschland auswirkt (Inlandsauswirkung, vgl. § 185 Abs. 2 GWB). 14.5.1.1.1 Zusammenschlusstatbestand i. S. v. § 37 Abs. 1 GWB Die deutsche Fusionskontrolle gelangt nur dann zur Anwendung, wenn ein Zusammen- 51 schlusstatbestand i. S. v. § 37 Abs. 1 GWB vorliegt. § 37 Abs. 1 GWB normiert vier unterschiedliche Zusammenschlusstatbestände. § 37 Abs. 1 Nr. 4 GWB erfasst als Auffangtatbestand jede sonstige Verbindung von Unternehmen, durch die ein oder mehrere Unternehmen einen wettbewerblich erheblichen Einfluss auf ein anderes Unternehmen ausüben können. Ein weiterer Zusammenschlusstatbestand ist der Vermögenserwerb (Nr. 1). Ein Vermögenserwerb liegt vor, wenn ein Unternehmen das Vermögen eines anderen Unternehmens ganz oder zu einem wesentlichen Teil erwirbt.73 Eine weitere Variante des Zusammenschlusses ist der Kontrollerwerb (Nr. 2). Die Kontrolle kann durch Rechte, Verträge oder andere Mittel begründet werden, wenn sie die Möglichkeit gewähren, einen bestimmenden Einfluss auf die Tätigkeit eines Unternehmens auszuüben. Nicht abschließend listet § 37 Abs. 1 Nr. 2 GWB auf, dass ein Kontrollerwerb insbesondere durch Eigentums- oder Nutzungsrechte am Vermögen eines Unternehmens vorliegen kann (lit. a) oder durch Rechte oder Verträge, die einen bestimmenden Einfluss auf die Zusammensetzung, die Beratungen oder die Beschlüsse der Organe des Unternehmens gewähren (lit. b). Unter die letzte Variante fallen insbesondere Beherrschungsund Gewinnabführungsverträge.74 Als weiterer Zusammenschlusstatbestand kommt der Anteilserwerb in Betracht (Nr. 3). Ein Zusammenschluss liegt danach vor, wenn Anteile an einem anderen Unternehmen erworben werden und diese dann ggf. zusammen mit Anteilen, die bereits gehalten werden, 50 oder 25 % des Kapitals oder der Stimmrechte des anderen Unternehmens ausmachen. Daher können auch Minderheitsbeteiligungen Zusammenschlüsse i. S. v. § 37 GWB sein. Dies ist insbesondere beim Erwerb eines wettbewerblich erheblichen Einflusses i. S. v. § 37 Abs. 1 Nr. 4 GWB der Fall. Danach können Anteilserwerbe von weniger als 10 % fusionskontrollpflichtig sein.

73Neef, 74Neef,

Kartellrecht, 2008, S. 188. Kartellrecht, 2008, S. 189.

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Wenn mehrere Unternehmen gleichzeitig oder nacheinander Anteile in den o. g. Höhen an einem anderen Unternehmen erwerben, kann dies gem. § 37 Abs. 1 Nr. 3 Satz 3 GWB auf den Märkten, auf denen das andere Unternehmen tätig ist, zudem als ein Zusammenschluss der sich beteiligenden Unternehmen angesehen werden. 14.5.1.1.2 Umsatzschwellenwerte 52 Weitere (formelle) Voraussetzung für die Anwendbarkeit der deutschen Fusionskontrolle ist, dass die Schwellenwerte des § 35 GWB überschritten werden. Danach findet die Zusammenschlusskontrolle nur dann Anwendung, wenn im letzten Geschäftsjahr vor dem Zusammenschluss die beteiligten Unternehmen zusammen einen weltweiten Umsatz von mehr als 500 Mio. € erzielt haben und gleichzeitig ein beteiligtes Unternehmen in Deutschland einen Umsatz von mehr als 25 Mio. € hatte und ein anderes beteiligtes Unternehmen mehr als 5 Mio. € Umsatzerlöse erzielt hat. Abzustellen ist jeweils auf den Gesamtumsatz der Unternehmen im letzten Geschäftsjahr und nicht nur auf den vom Zusammenschluss betroffenen Märkten. 53 Im Rahmen der 9. GWB-Novelle hat eine neue transaktionswertbezogene Aufgreifschwelle Eingang ins deutsche Fusionskontrollrecht gefunden (§ 35 Abs. 1a GWB). Diese dürfte insbesondere im digitalen Wirtschaftsbereich sowie bei Forschung und Entwicklung, etwa im Pharma- und Technologiesektor relevant werden75. Beträgt der Wert der Gegenleistung für den Zusammenschluss mehr als 400 Mio. €, unterfällt der Zusammenschluss nunmehr schon dann der deutschen Fusionskontrolle, wenn die beteiligten Unternehmen zusammen einen weltweiten Umsatz von mehr als 500 Mio. € erzielt haben, gleichzeitig ein beteiligtes Unternehmen in Deutschland einen Umsatz von mehr als 25 Mio. € hatte und das zu erwerbende Unternehmen in erheblichem Umfang in Deutschland tätig ist. Hierdurch sind auch Zusammenschlüsse anmeldepflichtig, bei denen bedeutende Gegenleistungen gezahlt werden, obwohl das zu erwerbende Unternehmen nicht mehr als 5 Mio. € in Deutschland umgesetzt hat. Von der deutschen Zusammenschlusskontrolle ausgenommen sind die Fälle, in denen sich ein Unternehmen, das im letzten Geschäftsjahr weltweite Umsätze von weniger als 10 Mio. € erzielt hat, mit einem anderen Unternehmen zusammenschließt (sogenannte Anschlussklausel, § 35 Abs. 2 GWB). Diese Ausnahme greift nur dann, wenn das Unternehmen kein abhängiges Unternehmen im Sinne des Aktienrechts ist. 54 § 35 Abs. 3 GWB stellt klar, dass die §§ 35 ff. GWB keine Anwendung finden, soweit die europäische Fusionskontrollverordnung vorschreibt, dass die Europäische Kommission ausschließlich für die Kontrolle eines Zusammenschlusses zuständig ist (One-StopShop-Lösung bzw. Vorrang des Unionsrechts).

75Bundesregierung, Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, BT-Drucks. 18/10207, S. 71.

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Schließlich findet die Zusammenschlusskontrolle nach dem GWB nur dann Anwendung, wenn sich der Zusammenschluss im Geltungsbereich des GWB, also in Deutschland, auswirkt (Inlandsauswirkung, vgl. § 185 Abs. 2 GWB).76

14.5.1.2 Materielle Fusionskontrolle Die Genehmigungsfähigkeit eines Zusammenschlusses, der in den Anwendungs- 55 bereich der deutschen Fusionskontrolle fällt, richtet sich nach § 36 GWB. Danach ist ein Zusammenschluss dann vom Bundeskartellamt zu untersagen, wenn zu erwarten ist, dass durch den Zusammenschluss ein wirksamer Wettbewerb im gemeinsamen Markt oder einem wesentlichen Teil des Marktes erheblich behindert würde (sog. „SIEC-Test“: Significant Impediment to Effective Competition).77 Dies liegt insbesondere bei einer Begründung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung vor. Der Zusammenschluss kann jedoch trotzdem zulässig sein, wenn die beteiligten Unternehmen nachweisen, dass durch den Zusammenschluss die Wettbewerbsbedingungen verbessert werden und diese Verbesserungen die Nachteile der Marktbeherrschung überwiegen (Abwägungsklausel). Die Marktbeherrschung ist anhand der Legaldefinition nach § 18 Abs. 1 GWB sowie der Marktbeherrschungsvermutungen nach § 18 Abs. 4 und 6 GWB zu bewerten78 (siehe oben unter 14.3.2.3). Der Zusammenschluss ist zu untersagen, wenn der Zusammenschluss einen wirksamen Wettbewerb erheblich behindern würde. Dies kann sowohl bei horizontalen und vertikalen als auch bei konglomeraten Zusammenschlüssen der Fall sein. Erforderlich ist weiterhin, dass die erhebliche Behinderung eines wirksamen Wett- 56 bewerbs gerade auf den Zusammenschluss zurückzuführen ist (Kausalität). Als Verbesserungen, die im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen sind, gelten ausschließlich Verbesserungen der Marktstruktur.79 Die Verbesserung der Marktstruktur muss aufgrund des Zusammenschlusses eintreten. Abschließend ist durch eine Abwägung zu klären, ob die Verbesserungen die Nachteile des Zusammenschlusses überwiegen. Das Bundeskartellamt kann gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 2 GWB einen Zusammenschluss jedoch nicht untersagen, wenn ausschließlich ein mindestens seit 5 Jahren bestehender Markt betroffen ist, auf dem im letzten Kalenderjahr insgesamt weniger als 15 Mio. € umgesetzt wurden (sog. Bagatellmarktklausel).

76Vgl. hierzu

Bundeskartellamt, Merkblatt Inlandsauswirkungen in der Fusionskontrolle, Stand 30. September 2014, http://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Merkbl%C3%A4tter/Merkblatt%20-%20Inlandsauswirkungen_2014.pdf?__blob=publicationFile&v=2. 77Der SIEC-Test ist im Rahmen der 8. GWB Novelle an die Stelle des sog. „Marktbeherrschungstests“ getreten, dessen Kriterien jedoch als Regelbeispiele einer erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs erhalten geblieben sind. 78Bechtold/Bosch, GWB, § 36, Rn. 21. 79Neef, Kartellrecht, 2008, S. 196; Kling/Thomas, Grundkurs Wettbewerbs- und Kartellrecht, 2004, S. 477, Rn. 660.

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14.5.1.2.1 Ministererlaubnis 57 § 42 GWB sieht die Möglichkeit einer Ministererlaubnis vor. Für den Fall, dass die Freigabe eines Zusammenschlusses nicht möglich ist und die Fusion vom Bundeskartellamt untersagt wird, kann der Bundesminister für Wirtschaft und Energie auf Antrag den Zusammenschluss wegen übergeordneter Gemeinwohlerwägungen genehmigen. In der Praxis ist die Ministererlaubnis nur in Ausnahmefällen relevant. Im Fokus der Öffentlichkeit stand in jüngster Zeit das Fusionsvorhaben Edeka/Tengelmann, für das am 9. März 2016 unter Bedingungen eine Ministererlaubnis erteilt wurde.80 14.5.1.2.2 Verfahren 58 Nach § 39 GWB haben die an einem Zusammenschluss beteiligten Unternehmen den Zusammenschluss vor dem Vollzug beim Bundeskartellamt anzumelden. Der verpflichtende Inhalt der Anmeldung ist in § 39 Abs. 3 GWB normiert. Nach § 41 Abs. 1 GWB dürfen die Unternehmen einen Zusammenschluss, der vom Bundeskartellamt nicht freigegeben ist, nicht vor Ablauf der Fristen des § 40 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 GWB vollziehen (Vollzugsverbot). Bei Verstoß gegen das Vollzugsverbot kann das Bundeskartellamt Bußgelder verhängen. Das Amt hat in der Vergangenheit wiederholt Bußgelder verhängt, die jeweils mehrere Millionen Euro betrugen.81 Mit der Anmeldung eines Zusammenschlusses beginnt für das Bundeskartellamt zunächst ein Vorprüfverfahren, bei dem das Amt innerhalb einer Frist von einem Monat nach Eingang der vollständigen Anmeldung überprüft, ob gegen den Zusammenschluss offensichtlich keine Bedenken bestehen und das Verfahren deshalb freigegeben werden kann. Hält das Amt eine weitere Prüfung für erforderlich, tritt es in das (förmliche) Hauptprüfverfahren ein. Darin entscheidet es mit einer Verfügung, ob der Zusammenschluss freizugeben (ggf. nur unter Bedingungen und Auflagen) oder zu untersagen ist. Für diese Verfügung hat das Bundeskartellamt vier Monate ab Eingang der vollständigen Anmeldung Zeit. Diese Frist kann unter bestimmten Voraussetzungen verlängert bzw. gehemmt werden (vgl. § 40 Abs. 2 Sätze 4–6 GWB). Wird innerhalb dieses Zeitraums keine Verfügung zugestellt, gilt der Zusammenschluss als freigegeben (§ 40 Abs. 2 Satz 2 GWB). Eine Freigabe kann auch mit Bedingungen und Auflagen verbunden werden.

80Der Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Gesch.-Z.: I B2 - 22 08 50/01. Nach Rücknahme der dagegen beim OLG Düsseldorf erhobenen Klagen (vgl. zuvor OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12.7.2016 VI-Kart 3/16 (V)) ist diese seit dem 8.12.2016 bestandskräftig (vgl. https://www.bmwi. de/Redaktion/DE/Pressemitteilungen/2016/20161208-gabriel-ministererlaubnis-gilt.html, zuletzt abgerufen am 23.10.2018). 81Bundeskartellamt, Bericht des Bundeskartellamtes über seine Tätigkeit in den Jahren 2007/2008 sowie über die Lage und Entwicklung auf seinem Aufgabengebiet, BT-Drucks. 16/13500, S. 21.

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14.5.2 Europäische Fusionskontrolle Im Unionsrecht ist die Fusionskontrolle in der FKVO82 geregelt.

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14.5.2.1 Formelle Fusionskontrolle 14.5.2.1.1 Zusammenschlusstatbestand i. S. v. Artikel 3 FKVO Die europäische Zusammenschlusskontrolle findet nur dann Anwendung, wenn ein 60 Zusammenschlusstatbestand i. S. v. Artikel 3 FKVO vorliegt. Dies ist der Fall, wenn mehrere bisher voneinander unabhängige Unternehmen fusionieren oder wenn Personen, die schon ein anderes Unternehmen kontrollieren, oder Unternehmen die Kontrolle über ein weiteres Unternehmen erwerben. 14.5.2.1.2 Umsatzschwellenwerte gem. Artikel 1 FKVO Die FKVO kommt nur bei Zusammenschlüssen von gemeinschaftsweiter Bedeutung 61 zur Anwendung. Nach Artikel 1 FKVO ist dies beim Überschreiten bestimmter Umsatzschwellen der Fall. Nach dem ersten Umsatzschwellentest (Artikel 1 Abs. 2 FKVO) ist eine gemeinschaftsweite Bedeutung gegeben, wenn im letzten Geschäftsjahr alle beteiligten Unternehmen einen weltweiten Gesamtumsatz von mehr als 5 Mrd. € erzielt haben und mindestens zwei beteiligte Unternehmen jeweils mehr als 250 Mio. € gemeinschaftsweit umgesetzt haben, es sei denn, dass die beteiligten Unternehmen jeweils mehr als zwei Drittel ihres gemeinschaftsweiten Gesamtumsatzes in ein und demselben Mitgliedstaat erzielten. Darüber hinaus liegt nach dem zweiten Umsatzschwellentest (Artikel 1 Abs. 3 62 FKVO) eine gemeinschaftsweite Bedeutung auch dann vor, wenn der weltweite Gesamtumsatz aller beteiligten Unternehmen im letzten Geschäftsjahr mehr als 2,5 Mrd. € betrug, sich der Gesamtumsatz aller beteiligten Unternehmen in mindestens drei Mitgliedstaaten auf jeweils mehr als 100 Mio. € belief, hierbei in diesen mindestens drei Mitgliedstaaten mindestens zwei beteiligte Unternehmen einen Gesamtumsatz von jeweils mehr als 25 Mio. € aufweisen und der gemeinschaftsweite Gesamtumsatz von mindestens zwei beteiligten Unternehmen jeweils 100 Mio. € übertrifft. Auch hier greift die Ausnahmeregelung, wonach keine gemeinschaftsweite Bedeutung vorliegt, wenn die beteiligten Unternehmen jeweils mehr als zwei Drittel ihres gemeinschaftsweiten Gesamtumsatzes in ein und demselben Mitgliedstaat erwirtschaften. Die Berechnung des Umsatzes ist in Artikel 5 FKVO näher dargelegt, wobei grundsätzlich auf die Umsätze der beteiligten Unternehmen im letzten Geschäftsjahr abzustellen ist.

82Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen („EG-Fusionskontrollverordnung“), ABl. 2004, L 24/1.

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14.5.2.2 Materielle Fusionskontrolle 63 Die Zulässigkeit eines Zusammenschlusses richtet sich nach Artikel 2 FKVO. Danach sind Zusammenschlüsse für unvereinbar mit dem gemeinsamen Markt zu erklären, durch die ein wirksamer Wettbewerb im gemeinsamen Markt oder einem wesentlichen Teil des Marktes erheblich behindert würde (sog. „SIEC-Test“: Significant Impediment to Effective Competition). Dies liegt insbesondere bei Begründung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung vor. Zusammenschlüsse, die wirksamen Wettbewerb nicht erheblich behindern, sind nach Artikel 2 Abs. 2 FKVO für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar zu erklären. Bei der Beurteilung, ob eine derartige erhebliche Behinderung auf dem Gemeinsamen Markt droht, darf die Kommission auch berücksichtigen, ob der Zusammenschluss zu Effizienzvorteilen führt, die den möglichen Schaden für die Verbraucher ausgleichen (vgl. Erwägungsgrund Nr. 29 der FKVO).83 Ein Zusammenschluss wird – wie in Deutschland – also in erster Linie dann untersagt, wenn durch ihn eine marktbeherrschende Stellung begründet oder verstärkt wird. 64 Wie beim Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung muss zunächst der sachlich, räumlich und zeitlich relevante Markt abgegrenzt werden (vgl. hierzu oben unter 14.3.1.4.1). Artikel 2 Abs. 1 FKVO listet auf, welche Kriterien die Kommission heranzieht, um eine marktbeherrschende Stellung festzustellen. Hierzu zählen insbesondere die Marktstellung und rechtliche oder tatsächliche Marktzutrittsschranken. Bei der Bestimmung der Marktanteile wendet die Kommission den sogenannten Herfindahl-Hirschmann-Index (HHI)84 an. Der HHI wird durch die Addition der jeweiligen Marktanteile im Quadrat von sämtlichen Unternehmen in einem relevanten Markt errechnet. Ein Monopolunternehmen, das 100 % des Marktes bedient, hat daher einen HHI von 10.000 (100 × 100 = 10.000). Nach den Horizontallinien der Kommission85 sind in einem Markt, bei dem nach dem Zusammenschluss der HHI unterhalb von 1.000 liegt, regelmäßig keine horizontalen Wettbewerbsbedenken vorhanden (Rn. 19 der Leitlinien). Liegt der HHI nach dem Zusammenschluss zwischen 1.000 und 2.000, bedarf es grundsätzlich weiterer zusätzlicher besonderer Umstände für die Annahme von Wettbewerbsbedenken durch die Kommission. 14.5.2.3 Vollzugsverbot 65 Nach Artikel 7 FKVO gilt ein grundsätzliches Vollzugsverbot für Zusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter Bedeutung, solange die Zusammenschlüsse nicht freigegeben worden sind. 83Europäische Kommission, Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse, ABl. 2004, C 31/5. 84Europäische Kommission, Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse, ABl. 2004, C 31/5, Rn. 16. 85Europäische Kommission, Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. 2004, C 31/5.

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14.5.2.4 Verfahren Zusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter Bedeutung sind vor ihrem Vollzug bei der 66 Kommission anzumelden (Artikel 4 FKVO). Es kann auch bereits ein Zusammenschlussvorhaben angemeldet werden. In Brüssel ist es üblich, mit der Kommission im Rahmen eines informellen Vorverfahrens die Frage der Anmeldepflicht sowie etwaige materielle fusionskontrollrechtliche Probleme zu klären (sogenannte Phase 0). Die förmliche Anmeldung erfolgt mittels des von der Kommission vorgegebenen „Formblattes CO“. Nach Eingang der förmlichen Anmeldung überprüft die Kommission den Zusammenschluss (Artikel 6 FKVO). Zunächst tritt die Kommission dabei in das sogenannte Vorprüfungsverfahren (sogenannte Phase 1) ein. Hierbei kann die Kommission entweder zu dem Schluss gelangen, dass der Zusammenschluss nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt und dann per Entscheidung das Verfahren einstellen; oder die Kommission kann feststellen, dass der Zusammenschluss zwar in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt, aber keine ernsthaften Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt bestehen und daher per Entscheidung den Zusammenschluss für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar erklären. Darüber hinaus kann die Kommission feststellen, dass der Zusammenschluss in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt und es zusätzlich ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit des Zusammenschlusses mit dem Gemeinsamen Markt gibt. In diesem Fall kann die Kommission per Entscheidung das Hauptverfahren (sogenannte Phase 2) einleiten. Hält die Kommission den Zusammenschluss für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar, gibt die Kommission den Zusammenschluss frei. Hält die Kommission den Zusammenschluss für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar, erlässt sie eine Untersagungsentscheidung. In der Praxis werden die meisten Verfahren in der Phase 1 erledigt. Schon in der Phase 1 und erst recht in Phase 2 kann die Kommission ihre Ent- 67 scheidung mit Bedingungen oder Auflagen verbinden und Zusagen der beteiligten Unternehmen berücksichtigen (Artikel 8 FKVO), um ein drohendes Fusionsverbot abzuwenden. Soweit ein Zusammenschluss bereits vollzogen wurde und mit dem Gemeinsamen Markt für nicht vereinbar gehalten wird oder unter Verstoß gegen eine Bedingung vollzogen wurde, kann die Kommission die Rückgängigmachung des Zusammenschlusses anordnen.

14.5.3 Fusionskontrollanmeldungen im Ausland (sog. „multijurisdictional merger filings“) Der Unternehmensanwalt muss stets prüfen, ob ein Zusammenschluss internationale 68 Auswirkungen hat. Ist dies der Fall, sind Unternehmenszusammenschlüsse in bis zu 100 Ländern anmeldepflichtig, so dass der gesamte Transaktionsprozess hierauf abgestimmt werden muss. Der Vollzug der Transaktion (Closing) hängt nicht selten von der letzten fusionskontrollrechtlichen Freigabe einer Kartellbehörde ab. Deshalb ist es von enormer

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C. Burholt und J. Hensmann

Bedeutung, dass der Unternehmensjurist – ggf. unter Hinzuziehung externer Kartellrechtler – von vornherein in den Transaktionsprozess einbezogen wird, damit es nicht zu vermeidbaren Verzögerungen beim Closing kommt.

14.6 Fazit 69 Kartellrechtliche (Grund-)Kenntnisse werden für den Syndikusanwalt in der Praxis zunehmend wichtiger. Gesteigerte behördliche Bußgelder zur Durchsetzung des Kartellrechts sowie die zunehmende Durchsetzung von kartellrechtlichen Schadensersatzansprüchen durch Private (Private Enforcement) rücken das Kartellrecht in den Fokus der Unternehmen. Die Kenntnis der Grundstrukturen des deutschen und europäischen Kartellverbots, der Regelungen zum Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung und der Fusionskontrolle helfen dem Syndikusanwalt, kartellrechtliche Fallstricke rechtzeitig zu erkennen und Unternehmensentscheidungen einer angemessenen kartellrechtlichen Beratung zuzuführen.

14.7 Hilfreiche Links und Literatur 70 In der täglichen Praxis des Syndikusanwaltes können insbesondere die folgenden Links und Literaturhinweise hilfreich sein:

14.7.1 Links • Für Entscheidungen, GVOs, Leitlinien, Mitteilungen etc. der Europäischen Kommission: http://ec.europa.eu/competition/index_en.html • Für Entscheidungen, Merkblätter, Leitlinien, Bekanntmachungen etc. des Bundeskartellamtes: http://www.bundeskartellamt.de/DE/Home/home_node.html • Zu kartellrechtlichen Regelungen (insbesondere wichtig für Fusionskontrollanmeldungen) im Ausland: https://gettingthedealthrough.com/areas (v.a. Cartel Regulation und Merger Control)

Literatur Bechtold, Rainer, u. a., EU-Kartellrecht Kommentar, 3. Auflage 2014 Bechtold, Rainer/ Bosch, Wolfgang, GWB Kommentar, 9. Auflage 2018 Bunte, Hermann-Josef/ Stancke, Fabian, Kartellrecht, 3. Auflage 2016 Emmerich, Volker, Kartellrecht, 14. Auflage 2018 Fiedler, Lilly, Class Actions zur Durchsetzung des europäischen Kartellrechts, 2010

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Hensmann, Jan, Die Ermittlungsrechte der Kommission im europäischen Kartellverfahren, 2009 Hetzel, Philipp, Kronzeugenregelungen im Kartellrecht, 2004 Immenga, Ulrich/ Mestmäcker, Ernst-Joachim, Wettbewerbsrecht, Band 2. GWB/Teil 1, 5. Auflage 2014 Immenga, Ulrich/ Mestmäcker, Ernst-Joachim, Wettbewerbsrecht, Band 1. EU/Teil 1 und Teil 2, 5. Auflage 2012 Kling, Michael/ Thomas, Stefan, Grundkurs Wettbewerbs- und Kartellrecht, 2004 Langen, Eugen (Begr.)/ Bunte, Hermann-Josef (Hrsg.), Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Band 1 und Band 2, 13. Auflage 2018 Loewenheim, Ulrich u.a. (Hrsg.), Kartellrecht, Europäisches und Deutsches Recht, 3. Auflage 2016 Münchener Kommentar, Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, (Kartellrecht) Band 1 und Band 2, 2. Auflage 2015 Neef, Andreas, Kartellrecht, 2008 Pelka, Sascha C., Rechtssicherheit im europäischen Kartellverfahren?, 2009 Schwarze, Jürgen, Europäisches Wirtschaftsrecht, 2007 von Dietze, Philipp/ Janssen, Helmut, Kartellrecht in der anwaltlichen Praxis, 5. Auflage 2015 Wiedemann, Gerhard, Handbuch des Kartellrechts, 3. Auflage 2016

Vertragsgestaltung und Vertragsrecht

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Tobias Lenz

15.1 Einleitung Verehrte Justitiare, geehrte Unternehmensjuristen, liebe „inhouse Counsel“, es ist ein Faszinosum, und ehrlich gesagt kann ich von großem Glück sprechen Sie – erstmals oder wiederholt – für das „Vertragsrecht“ motivieren und begeistern zu können. Hand auf’s Herz: Gibt es ein spannenderes, interessanteres, lebhafteres und lebendigeres Rechtsgebiet? Sind wir nicht alle fasziniert von den Gestaltungsmöglichkeiten, von den Darstellungsformen, von den vielfältigsten Optionen und – insbesondere – von der Sprache? Ist es nicht die Sprache an sich, die uns begeistert und die uns die Lebendigkeit der Vertragsgestaltung, die des Vertragsrechts tagtäglich vor Augen führt? Gerade heute, in der globalisierten Welt, in der viele Verhandlungen in verschiedenen Sprachen abgehalten werden? Ist es nicht zuletzt, aber auch vor allem die – hier wende ich mich an Sie als überwiegend deutsche Juristen – herrliche Muttersprache, die schon ganz andere, allen voran Goethe und Schiller, zu ihrem Lebenswerk gemacht haben?

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15.1.1 Fantasie Schon dies belegt, wie glücklich wir handeln dürfen, wenn wir tagtäglich Verträge formulieren, gestalten und verhandeln. Vertragsgestaltung erfordert Fantasie. Die älteren Kollegen werden sich erinnern, dass Verträge im Rahmen der Zuliefererbeziehung zwischen Endhersteller und „first tier“ – einer der schrecklichen Anglizismen im heutigen

T. Lenz (*)  Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB Rechtsanwälte, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Lenz (Hrsg.), Die Rechtsabteilung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21915-4_15

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Wirtschaftsleben – gemeint sind, Verträge zwischen „OEM“ (= Original Equipment Manufacturer) und dem direkten Zulieferer (first tier) aus wenigen, seinerzeit handschriftlich oder maschinengeschriebenen Seiten bestanden. Heute handelt es sich um vertragliche „Konglomerate“, die bisweilen – und hier spreche ich insbesondere Juristen aus dem Bereich der Kfz-Industrie an – aus Rahmenverträgen, mehr oder weniger gut aufeinander abgestimmten Verweisungswerken, Allgemeinen Einkaufs- (nur selten Verkaufs-)bedingungen, Qualitätssicherungsvereinbarungen, Bezugnahmen auf technische Regelwerke (etwa Formel Q der Volkswagen AG) und mittlerweile Konzeptverantwortungsvereinbarungen bestehen, die – teilweise und nicht selten – schon bei Vertragsschluss nicht (mehr) gelesen werden. Interessanterweise richten sich „perfide ausgeklügelte Vertragswerke“ bisweilen zunächst an die technischen Abteilungen und an Ingenieure, denen die Raffinessen der Vertragsjuristen bisweilen gar nicht bewusst sind, die dann – zum Teil kommentiert – von den Justitiaren aus dem eigenen Unternehmen, zum Teil vollständig allein gelassen, schon verkennen, dass sie sich bereits in verfänglichen und den Zulieferer rechtlich, vor allem aber wirtschaftlich belastenden Situationen befinden. Bisweilen werden sie von Formulierungen überrascht, ohne es zu erkennen, oder reichen diese dann – aus dem technischen Kontext losgelöst – dem Justitiar erst verspätet zu, verbunden mit technischen Anfragen, die der Jurist oft nur widerwillig versucht zu beantworten. Die kurz bemessene Arbeitszeit hindert nicht selten die Durchdringung des vertraglichen Dickichts und/oder vielleicht schon der verlorene Glaube, Abänderungen oder Ergänzungen – da branchenunüblich – (überhaupt) noch durchsetzen zu können.

15.1.2 Mut zur Einflussnahme 3

Bisweilen – und in bestimmten Branchen – werden Vertragsklauseln oft einseitig „diktiert“. Ich möchte Sie motivieren zu erkennen, wann und wo Einflussmöglichkeiten bestehen, ohne beckmesserisch zu sein, und ohne auf verlorenem Posten zu stehen. Der Vertrag ist die Domäne des Juristen. Die Furcht davor, etwas zu formulieren, weil das eigene Unternehmen später dafür womöglich einzustehen hat, ist der schlechteste Ratgeber. Ein zu langes Abwägen des Für und Wider darf nicht zur Resignation führen. Ja, „wo gehobelt wird, da fallen Späne“. In Kenntnis dessen, dass die Gefahr besteht, ­Fehler zu begehen, dafür aber mit hinreichend Mut ausgestattet und bei sorgfältiger Herangehensweise gelingt die Vertragsgestaltung regelmäßig. Nehmen Sie beispielsweise den Mut. Mut lässt sich nicht gesetzlich verordnen oder „erkaufen“. Denken Sie an die 50 Kamikaze-Arbeitnehmer, die nach dem GAU im März 2011 in Fukushima unter Einsatz ihres Lebens „freiwillig“ mehr oder weniger vertraglich bestehende Pflichten erfüllten. In Anbetracht solcher oder anderer Phänomene versagt so manch einem möglicherweise der Atem; zugleich schöpfen wir aus derartigen Situationen Mut – in Abwägung zwischen wichtigen und unwichtigen Dingen – kreativ, fantasie- und kraftvoll an vertragliche Werke herangehen zu können. Ja, ich weiß, dies

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sagt sich nach 30-jähriger juristischer Erfahrung leichter. Und dennoch: Diese Erfahrungen hätte ich nicht gemacht, hätte ich mich zurückgelehnt, ohne die Gestaltung von Verträgen je angepackt zu haben. Auch Mut gehört zur Vertragsgestaltung.

15.1.3 Die Zeit Die Zeit ist in zweifacher Hinsicht von Bedeutung: Vor der vertraglichen Gestaltung leiden Juristen sehr häufig daran, dass sie keine – oder jedenfalls nicht hinreichend – Zeit finden, sich der Gestaltung anzunehmen und eben keine Zeit haben, Verträge wirklich zu formulieren. Ja, der Alltag des Vertragsjuristen ist bisweilen erschreckend: Tsunamis von E-Mails, Telefon-Rückruflisten, die an früher von Lehrern geführte handschriftliche Noten-Listen erinnern, bei denen jeweils abgewogen wird, wer noch zurückgerufen werden kann und wer auf die nächsten Tage vertröstet werden muss: „Blackberry-Sucht“. Diese und andere Umstände „hindern“ den Juristen an der Aufnahme der Aufgaben, die er – ehrlich und wahrlich – machen müsste. Wissend, dass der gute Vertrag ein hinreichendes Maß an Zeit benötigt, wird diese dafür notwendige Zeit nicht genommen. So gerät der Akt des Formulierens „an sich“ ins Hintertreffen; Aktenstücke bleiben (zu) lange liegen; die Anfertigung des Entwurfs wird mehr und mehr zur Belastung, schließlich und letztlich zur Qual, anfangen zu müssen, gar anzupacken. Die Vertragsgestaltung selbst – also die Zeit zur Formulierung eines Entwurfs – dies wird sehr oft und häufig selbst von erfahrenen Vertragsjuristen verkannt – verschlingt häufig weniger Zeit als die, die man gedanklich als schlechtes Gewissen, nicht angefangen zu haben, vor sich herträgt. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Betrachten wir die Formulierung des Entwurfes als Kunstwerk, die Zeit, die wir aufwenden, als Mußestunde und gönnen wir uns – tagtäglich – eine gewisse Portion an Muße. Lassen Sie uns Vertragsentwürfe als Art Meditation verstehen, mit sich selbst und mit dem (zunächst noch leeren) Blatt Papier. Dazu benötigen wir nur die Fähigkeit, Sachverhalte analytisch zu erfassen und prägnant wiederzugeben. Jeder erfahrene Vertragsrechtler weiß, dass es wesentlich schneller möglich ist, ein umfassendes Vertragswerk aufzusetzen, als „kurz und prägnant“ zu formulieren. Vielleicht hatten Juristen früher (noch) Zeit, einmal Kürzungen und Streichungen im Manuskript vorzunehmen.

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15.1.4 Der Druck Der soeben erwähnte Druck ist – nach gewisser Zeit – kein zeitlicher Druck mehr, auch wenn der Vertragsjurist Druck oft als solchen empfindet: Es ist der aussichtslose Kampf, zu glauben, seine Zeit eben schon verloren zu haben, den „inneren Schweinehund“ zu überwinden und den Vertragsentwurf zügig anzupacken. Dass Juristen – ganze Kohorten von Juristen – Druck empfinden, Verträge zu entwerfen, dürfte vor allem daran liegen, den Angriff zu spät gestartet zu haben. Betrachten wir das Formulieren eines Vertrages

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als Kunstwerk, wird die Situation mit der des Künstlers vergleichbar, der Druck vor der leeren Leinwand verspürt, bisweilen, nicht immer. In kreativen Phasen, in denen der Mut den Morgen beflügelt, sollten Verträge besser gelingen als zu später Stunde – körperlich abgeschlagen, physisch und psychisch verbraucht – um seinen Auftraggeber nur nicht mehr zu enttäuschen. Ja, Hand auf’s Herz: Erhalten Sie von Anwälten einen Vertrag um 23:45 Uhr – oft von Anwalts-Sidelettern begleitet „… habe ich Ihnen wunschgemäß heute noch erstellen können unter äußerstem Zeitdruck, daher bitte ich etwaige Fehler in der Diktion, in der Sprache (am Inhalt) zu entschuldigen…“, überzeugt dies nicht. Sie werden die externen Berater bevorzugen, die Ihnen Vertragsentwürfe übermitteln mit dem Hinweis: „… Bitte schauen Sie sich den Entwurf in aller Ruhe an, wir haben alle uns bekannten Informationen verarbeitet. Aus unserer Sicht sind Änderungen oder Ergänzungen nicht notwendig….“

15.1.5 „Sich vertragen“ 6

Vereinzelt vertreten Juristen – und insoweit erlaube ich mir, auf den Beitrag meines Juristen-Kollegen Hickmann, Senior Vice President und General Counsel der Vorwerk & Co. KG (vgl. dazu § 7) zu verweisen – nicht ganz zu Unrecht die Ansicht, dass doch ein Vertrag gerade deshalb geschaffen würde, damit Parteien sich eben in der Zukunft „vertragen“. Bei Vertragsschluss – oder den zuvor geführten Verhandlungen – vertragen sich die Parteien naturgemäß in der Regel (noch). Das soll – geht es friedvollen Vertragsgestaltern nach – dann in der Zukunft auch so bleiben. Gerade diese Ursache aber macht die Vertragsgestaltung an sich auch schwierig. Stets überlegt der den Vertrag formulierende Jurist notgedrungen, was er alles berücksichtigen muss, damit es in Zukunft nicht zu Streitigkeiten kommt. Der vertragsgestaltende Jurist wird – nolens volens – genötigt, die ihm noch aus der Schule bekannten „Steigerungen“ („Freund, Feind“) zu durchdenken: Erst: „Verhandlungspartner“, dann „Vertragspartei“, schließlich „Kläger“ und „Beklagter“. Schon während des Vertragsschlusses und der Formulierung über den Inhalt sind also ernsthaft in Betracht kommende künftige Szenarien zu durchdenken und realistische Haftungsszenarien mit zu berücksichtigen und für dabei zu Tage tretende – nicht ganz fernliegende – Umstände bereits im Vorhinein Sorge zu tragen. Stets besteht die Gefahr, dass kleine Unsicherheiten, etwaige unklare Formulierungen schnell von einer Seite ausgenutzt oder „uminterpretiert“ werden könnten. Schon weil der Jurist diese Szenarien nicht selten erlebt, wirkt ein fertig formulierter Vertrag oft wie ein an die Wand projektiertes „Worst-Case-Szenario“. Auch dies gilt es – mit dem bereits beschriebenen Mut – und mit Kreativität – angemessen zu berücksichtigen. Übertreibt der Vertragsgestalter, wird er schnell zum Zauderer, ein derartig agierender Unternehmensjurist verliert den Halt und wird – bisweilen – gar zum „Sensibelchen“ im Unternehmen und/oder vor (oder von) Kollegen degradiert. Völlig zu Unrecht. Vielleicht hilft dem einen oder anderen Juristen bei der Formulierung schon der Hinweis „cui bono“ – zu wessen Nutzen ist es gut.

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Und: Externe Berater wissen nur allzu gut, weshalb in amtlichen „Begleitschreiben“ (in Englisch, weil einige von Ihnen Anglizismen gewöhnt sind, sog. „Sideletter“) Hintergrundinformationen für bestimmte Formulierungen festgehalten werden: Es hilft bisweilen, schon bei der Übersendung des Vertragsentwurfs klarzustellen, warum man die ein oder andere Formulierung nicht in „aller Härte“ zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses formuliert hat. In einem Dutzend von Jahren erinnert sich sonst möglicherweise niemand mehr daran, dass jede weitergehende Formulierung den Vertragsschluss verhindert hätte. Dies gilt auch für Unternehmensjuristen. Das Fertigen von Protokollen für die Hintergründe eines Vertragsschlusses hilft nicht selten, nach Jahren „historische Begebenheiten wiederbeleben“ zu können.

15.2 Materielles Vertragsrecht 15.2.1 Fertigen des Vertragsentwurfs Eine exzellente Vorbereitung für einen Vertrag stellt das Abfassen einer „Grob-“ oder auch sogar schon einer „Feingliederung“ dar. Der Routinier weiß in etwa, welche Inhalte am besten zu Beginn angeführt werden, welche den Kernpunkt des Vertrages betreffen und wie der Vertrag im Regelfall endet. Dabei kann es durchaus Sinn machen, sich – etwa im Rahmen der Abfassung einer Präambel – gedanklich damit zu beschäftigen, welche Ziele die Parteien mit dem Vertragsabschluss verfolgen. Eine kurz und knapp formulierte Präambel schafft schon – sozusagen als eine Art Vorbereitung für die Vertragsklauseln an sich – ein hinreichendes Maß an Klarheit. Es hat sich auch bewährt, im Anschluss an eine etwaige Einführung oder Präambel dann – aus dem jedem Juristen bekannten Anspruchsschema – die jeweiligen Rechte und Pflichten der Vertragsparteien anzuführen und dazu Ausführungen zu machen. Fragen danach, was passieren soll, wenn die eine oder andere Partei ihre jeweiligen Pflichten – zu diesem Zeitpunkt gedanklich oft noch wider Erwarten – verletzt, weil sie entweder gar nicht, verspätet oder eben mangelhaft liefert, sollten dann ebenfalls durchdacht werden. Die Klaviatur typischer Vertragsklauseln gilt es nunmehr anzuwenden. Und – last but not least – sollte sich der Verfasser – vor allem bei internationalen Verträgen, bei grenzüberschreitenden Sachverhalten – kollisionsrechtliche Fragen stellen. Es ist hilfreich, sich Klarheit zu verschaffen, welches „anwendbare (Kollisions-)Recht“ dem Vertrag zugrunde liegen soll (dazu sub C). Zudem lassen sich bei Verträgen zwischen Unternehmern mögliche Gerichtsstandsvereinbarungen frühzeitig – häufig am Ende eines Vertrages – unterbringen. Im Übrigen empfiehlt es sich, ohne groß links und rechts zu schauen und auch – jedenfalls zunächst – ohne Nachschlagen in einschlägigen Formular- und Mustervertragshandbüchern – das zu formulieren, was tatsächlich geregelt werden muss, und von dem der Verfasser überzeugt ist, dass es überhaupt einschlägiger Regelungen bedarf. So entsteht dann schließlich ein „Gerippe“. Entspricht der zu formulierende Vertrag

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standardisierten Verträgen, kann es sich anbieten, Musterformularbücher hinzuzunehmen. Hier gibt es eine ganze Reihe von in der Praxis äußerst brauchbaren Werken.1 Der Vorteil liegt auf der Hand. Der Verfasser prüft seinen eigenen Entwurf dahingehend, ob er etwas Wesentliches übersehen hat. Bedingt durch weiterführende Anmerkungen oder Hinweise bei Musterverträgen, stößt der Verfasser bisweilen auf die ein oder andere juristische Finesse, die er – ohne die Lektüre von entsprechenden Musterverträgen und ohne Nachprüfung – womöglich übersehen hätte. Erfahrene Juristen können dabei – nicht selten – auf ihre (älteren) eigenen Vertragswerke – als eine Art „Datenbank des Königs der Rechte“ – zurückgreifen. Bei umfassenden Vertragswerken ist eine (weitere) Grundregel zu beachten: Das sog. „Rangverhältnis“. Bisweilen schließen die Vertragsparteien Rahmenverträge, in denen sie auf Klauselwerke – z. B. auf die Verdingungsordnung Bauwesen VOB/B oder auf Allgemeine Geschäftsbedingungen (Verkaufs- oder Einkaufsbedingungen) – Bezug nehmen, oder etwa ergänzend neben der Anwendung der VOB/B beispielsweise und/oder hilfsweise – auf die Anwendung des BGB verweisen. An dieser Stelle sei betont, dass einer der größeren Fehler, der leider aber immer wieder gemacht wird, derjenige ist, dieses Rangverhältnis nicht klar genug zum Ausdruck zu bringen, so dass nachher unklar ist, ob etwa Allgemeine Geschäftsbedingungen für die gesamte Lieferbeziehung gelten, oder aber eben nur für den konkreten Lieferabruf und denkbare, noch weit schlechtere Formulierungen, spätere Prozesse sogar begünstigen.

15.2.2 Einige ausgewählte AGB-Probleme aus der Praxis

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15.2.2.1 Grundlagen zum Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen Der Unternehmensjurist findet in dem von ihm (mit-) repräsentierten Unternehmen in der Regel bereits bestimmte Allgemeine Geschäftsbedingungen vor. Es empfiehlt sich, zunächst einmal zu schauen, ob diese überhaupt auf dem jeweils aktuellen Stand sind. Der Jurist, der nicht tagtäglich Details zu AGBs und die Flut der Rechtsprechung, die nahezu unüberschaubar2 ist, konsequent nachhält, sieht sich in der Regel nicht im Stande, die jeweiligen Allgemeinen Geschäftsbedingungen auf den neuesten Stand zu bringen. Dafür gibt es externe Beratungskanzleien, eine Empfehlung, die Unternehmensjuristen zu schätzen wissen sollten. Externe Kanzleien erfinden das Rad nicht neu, son1Einige

sehr hilfreiche Musterhandbücher sind: Vorwerk (Hrsg.), Das Prozessformularbuch, 10. Aufl. 2015; Hoffmann-Becking/Rawert (Hrsg.), Beck’sches Formularbuch, Bürgerliches, Handels- und Wirtschaftsrecht, 12. Aufl. 2016; Hopt (Hrsg.), Vertrags- und Formularbuch zum Handels-, Gesellschafts- und Bankrecht, 4. Aufl. 2013; Heidelberger Musterverträge zu Personengesellschaften, 2011 (z. B. Heft 83, Lenz/Braun, Partnerschaftsgesellschaftsvertrag, 4. Aufl. 2010); Beck’sche Musterverträge, München. 2Lenz, Der Berater bei der AGB-Gestaltung nach der Schuldrechtsreform, FS Hübner, 2002, 365 ff.

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dern können auf einen enormen Fundus an Allgemeinen Geschäftsbedingungsklauseln elektronisch zugreifen, so dass Mühe und Aufwand – und damit auch die Kosten – es nicht lohnen, selbst in Vorleistung zu treten. Verschiedene externe Kanzleien, spezialisiert im AGB-Recht, bieten selbstverständlich eine Art „Wartungsverträge für AGB“ zu Pauschalpreisen an und aktualisieren die von ihnen formulierten Allgemeinen Geschäftsbedingungen alle zwei oder drei Jahre – je nach Vereinbarung – gegen ein zu vernachlässigendes Honorar. Diejenigen, die sich dennoch an die Thematik der Formulierung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen heranwagen, sollten zumindest die jeweiligen einschlägigen Verbandsempfehlungen (z. B. die vom Zentralverband der Deutschen Elektroindustrie ZVEI) hinzuziehen und sich die Bedingungen verschaffen, die der Wettbewerb (ebenfalls) verwendet. So hat der Unternehmensjurist zumindest einmalig die Regelungsgebiete der jeweiligen Branche komplementär erfasst. Zudem sind Besonderheiten im eigenen Unternehmen dann leicht zu berücksichtigen. Der Vollständigkeit halber möchte ich alle jungen Juristen daran erinnern, dass die Kenntnis bestimmter Normen zwingend ist: Die Regelungen der §§ 305 ff. BGB gehören zum Standardrepertoire.3 Es ist fast eine Plattitüde, wenn wir zum Thema Haftungsbegrenzung kommen und immer wieder feststellen, dass Allgemeine Geschäftsbedingungen den von der Rechtsprechung aufgestellten „Wirksamkeitskriterien“ nicht standhalten. Zwar hat sich bei Juristen herumgesprochen, dass – grob betrachtet – bei Anwendung deutschen Rechts die Haftung für vorsätzliches Handeln (vgl. § 276 Abs. 3 BGB) und für grob fahrlässiges Handeln (vgl. § 309 Ziff. 7 i. V. m. § 307 BGB) im Voraus – also bei Vertragsschluss – in der Regel nicht wirksam ausgeschlossen werden kann, doch reicht auch der bloße Hinweis darauf, im Falle grober Fahrlässigkeit und Vorsatz einstehen zu müssen und im Übrigen die Haftung auszuschließen, eben gerade nicht aus: Es gilt stets hinzuzufügen, dass die Haftungsbegrenzung auf leichte Fahrlässigkeit dann nicht gilt, wenn Personenschäden etc. drohen.4

3Sehr

hilfreiche Kommentierungen zum Recht der AGB sind: Wolf/Lindacher/Pfeiffer (Hrsg.), AGB-Recht, 6. Aufl. 2013; Ulmer/Brandner/Hensen (Hrsg.), AGB-Recht, 12. Aufl. 2016; Beiträge in allgemeinen Kommentaren zum BGB: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 2: Schuldrecht AT, §§ 241–432, 7. Aufl. 2016; Staudinger BGB, Buch 2: Recht der Schuldverhältnisse, §§ 305– 310, UKlaG, Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen, Neubearbeitung 2017; Soergel, BGB mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, Bd. 4: Schuldrecht 2, §§ 305–310, 13. Aufl. 2011; Graf von Westphalen/Thüsing (Hrsg.), Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, 39. Ergänzungslieferung 2017. 4Grundlegend dazu Wolf, Freizeichnungsverbot für leichte Fahrlässigkeit in AGB, NJW 1980, 2433; Graf von Westphalen, Die Nutzlosigkeit von Haftungsfreizeichnungs- und Haftungsbegrenzungsklauseln im kaufmännischen Verkehr, DB 1997, 1805; aktuell: Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, a. a. O., § 309 Nr. 7 Rn. 1 ff.

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15.2.2.2 Sich kreuzende AGB 9 Interessanter- (und erstaunlicher)weise ist immer wieder festzustellen, dass Unternehmensjuristen mit dieser Fragestellung – nämlich den kollidierenden AGB – bzw. „sich kreuzenden AGB“ konfrontiert werden. Zum einen bei von ihnen zu bewertenden juristischen Sachverhalten, ganz überwiegend aber doch und noch eher durch Anfragen – kommen sie vom Verkauf oder vom Einkauf. Nicht selten hat der Unternehmensjurist die eigenen Abteilungen – also die Mitarbeiter – zu diesen Themen nämlich zu schulen. Deshalb möge ein Standardfall, der schon fast „Berühmtheit“ entwickelt hat, hilfreich sein, „juristischen Laien“ die Themen der (seit Jahren überholten) „Theorie des letzten Wortes“5 und die von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze – also den aktuellen Stand6 – auch plastisch zu erläutern. Sachverhalt: Besteller B bestellt unter Bezugnahme auf seine AGB 20.000 Rohre bei Lieferant L. L übersendet daraufhin eine Auftragsbestätigung unter Hinweis auf seine – eigenen – AGB. Die Rohre werden geliefert, ohne dass B widerspricht. Wessen AGB gelten? Es empfiehlt sich, dem Laien, also Ihrem kaufmännischen Mitarbeiter, zu übermitteln, dass die Theorie des letzten Wortes nicht mehr gilt, sie dennoch – zumindest in unscharfen Zügen aus didaktischen Gründen – zu erläutern, um den Mitarbeitern im Einkauf und Verkauf das Gefühl zu geben, sie haben das Problem verstanden: Nach der sog. „Theorie des letzten Wortes“ stammt das Angebot mit den AGB des B von diesem. Die Annahme unter Verweis auf AGB des L führt grundsätzlich zu einer Anwendung des § 150 Abs. 2 BGB, der da lautet „Annahme und Erweiterungen, Einschränkungen oder sonstige Änderungen gelten als Ablehnung, verbunden mit einem neuen Antrag“. Folge: Es handelt sich um ein „neues Angebot“ von L. Der Vollzug des Vertrags unter widerspruchsloser Hinnahme des geänderten Antrags wurde daher – als stillschweigendes Einverständnis – mit den AGB der anderen Partei (hier also als Einverständnis des B) gewertet. Argument: Er hätte ja widersprechen können. Im Regelfall setzte sich daher der Lieferant durch den Hinweis auf die eigenen AGB mit der modifizierten Auftragsbestätigung letztendlich immer durch. Prinzipiell hält die neuere Rechtsprechung zwar an dem Grundsatz der Anwendbarkeit des § 150 Abs. 2 BGB fest, schränkt diese Regelung jedoch ein. So soll § 150 Abs. 2 BGB nicht eingreifen, wenn der Vertragspartner bereits in seinem Angebot zum Ausdruck gebracht hat, dass er nur zu seinen eigenen Bedingungen den Vertragsschluss will. Beinhalten – mit anderen Worten – die AGB des Bestellers B demzufolge eine sog.

5Verwiesen beide Parteien jeweils auf ihre AGB, hielt die Rechtsprechung früher die „letzte Verweisung“ für entscheidend, BGH LM § 150 Nr. 3 und 6; vertiefend dazu auch Palandt/Grüneberg, BGB, 76. Aufl. 2017, § 305 Rn. 54 f. 6Zum Fall, dass beide Parteien sog. Abwehrklauseln verwenden, BGH NJW-RR 2001, 484; BGH NJW 1991, 1604, 1606; BGH NJW 1985, 1838, 1839 und zum Prinzip der Kongruenzgestaltung auch noch OLG Karlsruhe VersR 1990, 1281, 1283; zum CISG bei sich widersprechenden AGB, BGH NJW 2002, 1651. Zu den Besonderheiten beim Eigentumsvorbehalt BGHZ 104, 129, 137; BGH NJW-RR 1986, 984; BGH NJW-RR 1991, 357; OLG Düsseldorf NJW-RR 1997, 946.

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Abwehrklausel, kann in der widerspruchslosen Annahme der Ware – nach Auffassung der Rechtsprechung – kein Einverständnis mit dem modifizierten Angebot durch L gesehen werden. Die Rechtsprechung ist dazu übergegangen, die Lösung des Kollisionsproblems im Konsens-Dissens-Prinzip der §§ 154, 155 BGB zu sehen. Der BGH7 löst die Kollisionsfrage widerstreitender AGB jetzt danach, ob sie einander entsprechen oder nicht. Der Gedanke ist: Die Parteien wollen vielfach nicht, dass der geschlossene Vertrag unwirksam ist. Soll dieser nicht unwirksam sein – ungeachtet sich widersprechender AGB – ist grundsätzlich an einem Vertragsschluss festzuhalten. Die Folge dann ist jedoch, dass die Parteien sich unvollständig über den Vertragsinhalt geeinigt haben. Soweit sich die AGB widersprechen, tritt anstelle der sich widersprechenden AGB nunmehr nach der Rechtsprechung das dispositive Gesetzesrecht. Grundlegend kann insofern auf § 306 Abs. 2 BGB verwiesen werden, der lautet: Soweit die Bestimmungen nicht Vertragsbestandteil geworden oder unwirksam sind, richtet sich der Inhalt des Vertrags nach den gesetzlichen Vorschriften.8

15.2.2.3 Fortentwicklungen im AGB-Recht: Liberalisierung der Inhaltskontrolle im Unternehmensverkehr Die – bisweilen sogar plakativ – hervorgehobene Kritik an der doch möglicherweise für 10 zu scharf gehaltenen AGB-rechtlichen Kontrolle durch die deutsche Rechtsprechung und die Forderungen zur Liberalisierung der Inhaltskontrolle im Unternehmensverkehr wird zu Recht – mit ausgelöst durch Berger9 – erneut diskutiert. Die Kritik betrifft insbesondere bekanntlich die zu hohen Hürden beim Begriff des „Aushandelns“ im Sinne des § 305 BGB.10 Als oft „letzter Ausweg“ vor der von der Rechtsprechung skizzierten

7BGH

ZIP 1991, 802, 804. Der Berater bei der AGB-Gestaltung nach der Schuldrechtsreform, FS Hübner, 2002, 365 ff.; ders., Urteilsanmerkung zu AGB-Klauseln im Möbelhandel, MDR 1997, 535 f.; ders., Urteilsanmerkung zur Nachnahmeklausel, MDR 1998, 1208 ff. 9Berger, Abschied von der Privatautonomie im unternehmerischen Geschäftsverkehr, ZIP 2006, 2149 und vertiefend ders., Für eine Reform des AGB-Rechts im Unternehmerverkehr, NJW 2010, 465; ebenso Dauner-Lieb, Quo vadis AGB-Kontrolle im unternehmerischen Geschäftsverkehr?, ZIP 2010, 309 einerseits, dagegen Graf von Westphalen, Wider die angebliche Unattraktivität des AGB-Rechts, BB 2010, 195; ders., Wider einen Reformbedarf beim AGB-Recht im Unternehmerverkehr, NJW 2009, 2977; ders., 30 Jahre AGB-Recht – Eine Erfolgsbilanz, ZIP 2007, 149; sowie zum Meinungsstreit Lischek/Mahnken, Vertragsverhandlungen zwischen Unternehmen und AGB – Anmerkungen aus der Sicht der Praxis, ZIP 2007, 158; und Merkel, AGB-rechtliche Inhaltskontrolle von Bankentgelten im Geschäftsverkehr mit Unternehmern, FS Nobbe, 2009, 141, 149 ff.; zum aktuellen Stand der Diskussion siehe auch Dauner-Lieb, Vertragsfreiheit zwischen Unternehmen: AGB-Recht ihr Garant oder ihr Totengräber?, AnwBl 2013, 845 ff. m. w. N. in Fn. 1 und Graf von Westphalen, Geglücktes und Gelungenes im AGB-Recht, AnwBl. 2013, 850 ff. 10Vgl. dazu etwa BGH NJW 2008, 3772: Keine starren Schönheitsreparaturfristen; BGH NJW 2003, 1805: Bürgschaft auf erstes Anfordern (Bau-AGB); BGH NJW 2002, 2388: Vertragsstrafe in B2B-Bauvertrag sowie BGH NJW 2000, 1110: B2B-Tankstellenhalter. 8Lenz,

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scharfen Inhaltskontrolle im unternehmerischen Verkehr wird nicht selten die „Flucht aus dem deutschen Recht“ (nicht zuletzt für Zuliefererbeziehungen) gewählt. Ein echter Standortnachteil für Deutschland:11 Mit Recht fordert Berger die Liberalisierung der Inhaltskontrolle und den Gesetzgeber auf, die §§ 305 ff. BGB zu überarbeiten und insbesondere dem Begriff des „Aushandelns“ im Sinne des § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB einen Satz 4 in folgender Weise anzufügen: „Wird eine Vertragsbedingung gegenüber einem Unternehmer … verwendet, so gilt sie als ausgehandelt, wenn die Vertragsparteien über sie (im Einzelnen oder im Zusammenhang mit anderen Bestimmungen des Vertrages …) in angemessener Weise verhandelt haben“. Vom Zivilrechtsausschuss des DAV e. V. wird vorgeschlagen, dass in § 310 Abs. 1 Nr. 1 BGB, der im unternehmerischen Verkehr gilt, folgende Regelung aufgenommen werden soll: „Allgemeine Geschäftsbedingungen liegen nicht vor, (a) wenn über den Vertrag zwischen den Parteien im Einzelnen verhandelt worden ist […].“12 Mit anderen Worten: „Aushandeln“ im Sinne des BGB wäre ein „Verhandeln im unternehmerischen Verkehr“.13

15.3 Internationales Vertragsrecht 15.3.1 Grundlagen 11 Mit internationalen Regelungen und Rechtsquellen wird heute nahezu jeder Unternehmensjurist – gleich ob er in einem mittelständischen deutschgeprägten Unternehmen agiert oder in einem internationalen Welt-Konzern – konfrontiert. Zunehmend steigt die Beschäftigung mit dem sog. Auslandsgeschäft. Zeit daher, wichtige Aspekte des „Internationalen Geschäftsverkehrs“ im Zusammenhang mit dem Thema „Vertragsrecht und Vertragsgestaltung“ anzusprechen. Insbesondere international agierende Konzerne sind – was Vertragsgestaltung angeht – nicht nur mit europäischen Vorschriften konfrontiert, sondern auch mit Regelungen aus den verschiedenen Bundesstaaten der USA, aus Japan

11Vgl. etwa die Zusammenfassung des AGB-Expertendialogs Heidelberg vom 14.12.2009 – IHK Frankfurt, http://www.frankfurt-main.ihk.de/imperia/md/content/pdf/recht/Expertendialog_zum_ AGB_Recht.pdf , zuletzt aufgerufen am 24.10.2017; zur Reaktion auf ausländische Stimmen die Broschüre „Law made in Germany“, herausgegeben von führenden juristischen Berufsverbänden in Deutschland (u. a. BNotK, BRAK, DAV), vgl. http//:www.lawmadeingermany.de ; dazu Triebel, Der Kampf ums anwendbare Recht, AnwBl 2008, 305; Eidenmüller, Recht als Produkt, JZ 2009, 641. 12Stellungnahme Nr. 23/2012 des DAV e. V. von März 2012, abrufbar https://anwaltverein.de/de/ newsroom/id-2012-23 (zuletzt abgerufen am 24.10.2017). 13Siehe dazu auch Berger, Schiedsgerichtsbarkeit und AGB-Recht, FS Graf von Westphalen, 2010, 13 ff.; vgl. auch Lenz, Die versicherungsrechtlichen Auswirkungen auf die Pauschalierungsund Quotierungsnovationen (Konzeptverantwortungsvereinbarung und Referenzmarkt) in der Zuliefererindustrie, FS Streck, 2011, 859 ff., 862.

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333

und möglicherweise auch mit dem chinesischen Vertragsrecht. Auch der indische Rechtsmarkt nimmt weitgehend Gestalt an – und nicht zuletzt (immer noch): Auch das „Schweizer Recht“, vor allem auf dem Sektor des Maschinenbaus, aber nicht ausschließlich, behauptet nach wie vor seinen Einfluss.14 Welche konkrete Rechtsordnung der Unternehmensjurist sich daher (mehr als nur überblickartig) aneignen sollte, hängt in erster Linie von der Materie ab, die er im Unternehmen bearbeitet. Nachfolgend übermittle ich daher – als Praktiker für Praktiker – (zwangsläufig lediglich nur) einen „ganz groben Überblick“. Es geht nicht darum, einen weiteren Lehrbuchartikel zu formulieren, sondern für all diejenigen einen „praktischen Leitfaden im Umgang mit internationalen Verträgen“ zu geben, die sich einführend mit der Materie beschäftigen. Rückblickend stellt der Verfasser fest, dass etwa das US-amerikanische Recht einen permanenten Einfluss auf die Vertragsgestaltung hat, insbesondere durch die „klassischen Besonderheiten“ im US-amerikanischen materiellen Recht (z. B. wegen der punitive damages15), aber auch wegen des abweichenden Prozessrechts (Juryprozesse, contingency fees („Erfolgshonorare“), um nur Einiges anzuführen). Die Begrifflichkeiten, die ich erwähnt habe, oder im Folgenden noch erwähnen werde, sollte jeder Unternehmensjurist zumindest einmal gehört haben und auch zuordnen können. Ebenso wichtig ist vielleicht die Grundthese, dass in internationalen Verträgen zumeist um das jeweils anzuwendende Recht, das sog. „applicable law“ (anwendbares Recht) „gerungen“ wird. Jeder Unternehmer favorisiert zumeist zunächst einmal das ihm bekannte Recht und sucht nicht selten, sollte er sich mit dem von ihm favorisierten Wunschrecht nicht durchsetzen können, dann einen Kompromiss. Wenn Amerikaner mit Deutschen Verträge schließen, bevorzugen Amerikaner als anwendbares Recht zumeist ihr eigenes Recht. Dies geht den Deutschen nicht anders. Kann der Amerikaner sich mit einem bestimmten Recht aus dem (Wunsch-)Bundesstaat der USA nicht durchsetzen, wird dem amerikanischen Unternehmen immer noch das anwendbare Recht aus Großbritannien (anglo-amerikanischer Rechtskreis) lieber sein, als die Wahl eines ihm doch eher fremden Rechts, welches aus dem römischen Rechtskreis resultiert (z. B. das französische oder das deutsche Recht). Kommen Verträge zwischen einem Maschinenhersteller und einem Zulieferer oder einem Maschinenhersteller und dessen Kunden zustande, geht es oft um haftungsbegrenzende Verträge wegen der doch massiven Auswirkungen im Hinblick auf drohende Personenschäden bei fehlerhaften Maschinen: Zwei europäische Unternehmer, etwa aus Spanien und Belgien – die jeweils ihr eigenes Recht anwenden wollen – finden dann nicht selten einen Kompromiss im „schweizerischen Recht“. Dies dürfte aber auch mit der weitreichenden Möglichkeit einer zulässigen Haftungsbegrenzung nach Schwei-

14Lenz, 15Vgl.

Produkthaftung, 2014, S. 391 ff. dazu etwa Owen, Products Liability Law, Thomson/West, 3. Aufl. 2015.

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zer Recht zusammenhängen.16 Wenn Haftungsfragen eine Rolle spielen, „flüchten“ einige Unternehmen gar ins Schweizer Recht, weil die „Vertragsfreiheit“ dort groß geschrieben und weitgehend auch der Wille der Parteien, wie er in AGB zugrunde gelegt wird, akzeptiert wird.17 Weitergehend stellen sich in der Praxis nicht selten die Fragen in bestimmten Unternehmen, etwa bei solchen, die aus Fernost (z. B. aus China) beziehen oder den chinesischen Markt beliefern, wie sicher ist die Vereinbarung chinesischen Rechts, was erwartet mich? Das chinesische Recht (materielles Recht, wie das Prozessrecht) hat in den letzten Jahrzehnten enorme Veränderungen erfahren.18 Aus der Sicht des Praktikers ist es nicht einmal mehr ausgeschlossen, das Recht – hier rede ich über den sog. Zuliefererregress – auch in China (erfolgreich) durchzusetzen. Wie bei vielen Auslandssachverhalten geht es häufig um drei Themenkomplexe: Informationsdefizite an der ausländischen Rechtsordnung, damit verbundener Aufwand und die Sprache. Nachfolgend wende ich mich den häufig bei der Vertragsgestaltung nachgefragten Regelungen zu, nämlich den Grundlagen in der Europäischen Union bzw. dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Letzterer betrifft außer den inzwischen 28 EU-Staaten außerdem auch noch Norwegen, Island und Liechtenstein.19

15.3.2 Eine Auswahl an wichtigen Regelungen und Konzepten für Europa 15.3.2.1 Recht der Europäischen Union 12 Das Recht der Europäischen Union ist inzwischen eine der wichtigsten Quellen des Privatrechts.20 Damit hat es elementare Bedeutung für den Vertragsgestalter. Für das sog.

16Brachert/Dietzel,

Deutsche AGB-Rechtsprechung und Flucht ins Schweizer Recht, ZGS 2005, 441; vgl. auch Graf von Westphalen, Die Nutzlosigkeit von Haftungsfreizeichnungs- und Haftungsbegrenzungsklauseln im kaufmännischen Verkehr, DB 1997, 1805; zu einem Überblick über das AGB-Recht der Schweiz, Ramstein, AGB in der Schweiz, RIW 1988, 440; Freizeichnungen in AGB werden großzügiger als in Deutschland akzeptiert: Art. 100 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 101, Art. 199 Schweizer Obligationenrecht i. V. m. Art. 8 schUWG (AGB-Recht der Schweiz). 17Zuletzt Pfeiffer, Flucht ins schweizerische Recht? Zu den AGB-rechtlichen Folgen der Wahl schweizerischen Rechts, FS Graf von Westphalen, 2010, 555 ff., 561, 567; Berger, Abschied von der Privatautonomie im unternehmerischen Geschäftsverkehr?, ZIP 2006, 2149; Stoffels, AGB-Recht, 3. Aufl. 2015, S. 216, Rn. 553. 18So z. B. für das Produkthaftungsrecht: 1.7.2010 trat ein neues Produkthaftungsrecht neben das Produktqualitätsgesetz von 2000; siehe hierzu auch Lenz, Produkthaftung, 2014, S. 407 ff. 19Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union vom 26.10.2012; ABl.EU C 326/47. 20Böhm, Grundlagen und Rechtsquellen der Europäischen Union – Teil 1, JA 2008, 838; Langenbucher(Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht, 4. Aufl. 2017.

15  Vertragsgestaltung und Vertragsrecht

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„Gemeinschaftsrecht“ besteht ein Anwendungsvorrang.21 Bekanntlich wird zwischen sog. primärem Gemeinschaftsrecht und dem sog. sekundären Gemeinschaftsrecht unterschieden. Zum primären Gemeinschaftsrecht gehören die Verträge zur Gründung der EU sowie die von den Mitgliedsstaaten geschlossenen Änderungs- und Ergänzungsverträge (geändert zuletzt im Jahr 2012), Vertrag von Lissabon22, einschließlich der Grundrechtecharta23 und die vom EuGH aus dem Gemeinschaftsrecht, teilweise in Auseinandersetzung mit den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten entwickelten „allgemeinen Rechtsgrundsätze“24, die im „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV) vorausgesetzt sind. Zum Europarecht gehört eben aber auch das sekundäre Gemeinschaftsrecht, wie etwa Verordnungen oder Richtlinien.

15.3.2.2 EU-Richtlinien und EU-Verordnungen Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union nehmen die Organe der EU „Ver- 13 ordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen“ an (Art. 288 Abs. 1 AEUV25). In diesem – die Arbeitsweise der Union regelnden – Vertrag finden sich auch Definitionen zu den „Rechtsakten der Union“ (Art. 288 Abs. 3 AEUV): Die Richtlinie – so heißt es dort – ist für jeden Mitgliedsstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Richtlinien, die Gesetzgebungsakte sind, werden in der Regel auf Vorschlag der europäischen Kommission vom Rat der europäischen Union und dem europäischen Parlament nach einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gemeinsam erlassen. Die Richtlinien selbst erhalten konkrete Bezeichnungen (z. B. Richtlinie 2006/42/EG – sog. Maschinenrichtlinie – oder: neuere Richtlinien 2010/25/ EU). Es handelt sich um Nummerierungen, die sich aus dem Wort „Richtlinie“, dem Jahr, einer laufenden Nummer sowie der Kennzeichnung für die Europäische Union selbst ergibt. Deshalb sind ältere Richtlinien aus der Zeit der europäischen Gemeinschaften mit EG, oder der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit EWG am Ende gekennzeichnet. Das besondere an den Rechtsetzungsakten über Richtlinien liegt darin, dass sie für die Bürger der Mitgliedsstaaten keinen unmittelbaren Geltungsbereich schaffen, es den einzelnen Mitgliedsstaaten – wie soeben hervorgehoben – vielmehr überlassen bleibt, wie

21EuGH NJW 1964, 2371: Costa/Enel; EuGH NJW 1999, 2355: Ciola; BVerfGE 73, 378: Solange II. 22Vertrag von Lissabon, ABl.EU 2007/C 306/01 vom 17.12.2007. 23Synopse der verschiedenen Vertragsfassungen unter http://rsw.beck.de/rsw/upload/euzw/ EuZW-Dreifachsynopse.pdf . 24Calliess, Grundlagen, Grenzen und Perspektiven europäischen Richterrechts, NJW 2005, 929; Palandt/Sprau, a. a. O., Einleitung, Rn. 26 ff. 25Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union vom 26.10.2012; ABl.EU C 326/47.

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sie die Richtlinien umsetzen. Es besteht also ein gewisser Umsetzungsspielraum für den jeweiligen nationalen Gesetzgeber.26 Insoweit unterscheiden sich die EU-Richtlinien von den sog. EU-Verordnungen Die Verordnung hat nach Art. 288 Abs. 2 AEUV unmittelbare allgemeine Geltung. Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar – also ohne Transaktionsakt – in jedem Mitgliedsstaat. D. h.: EU-Verordnungen müssen nicht noch durch nationale Rechtsetzungsakte in nationales Recht umgesetzt werden. Dies gehört zum Basiswissen. Beispielsweise ist in der EU seit einigen Jahren das Internationale Privatrecht, das IPR, durch sog. ROM-Verordnungen geregelt (dazu sub 3). Der Vollständigkeit halber sollen einige sog. „Rahmenrichtlinien“ genannt werden: Z. B. Konformitätsbeurteilungsverfahren und CE-Kennzeichnung 93/465/EWG; Dienstleistungsrichtlinie 2006/123/EG; Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG; Maschinenrichtlinie 2006/42/EG (früher bis 28.12.2009: 98/37/EG); Ökodesign-Richtlinie (EuP-Richtlinie) 2009/125/EG (2005/32/EG bis 19.11.2009); Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG mit Änderung 99/34/EG, anzuwenden seit 30.7.1988 und die Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG und die Richtlinien zum Schutz geistigen Eigentums 2004/48/EG sowie die Wasserrahmenrichtlinie 2000/60/EG und eine Mehrwertsteuersystem-Richtlinie 2006/112/EG. Daneben finden Sie eine ganze – hier nicht im Einzelnen auflistbare Richtlinienreihe – sog. „spezifischer Richtlinien“ (z. B. für Bauprodukte 305/2011/EU, für Druckgeräte 97/23/ EG, für Batterien 2006/66/EG, für Feinstaub 2008/50/EG und auch für Explosivstoffe 93/15/ EWG etc.). Es wäre – in diesem Zusammenhang – sicher auch hilfreich, das Konzept des sog. „new approach“ in Grundzügen zu kennen. Das Ziel ist es, technische Handelshemmnisse durch eine europaweite Harmonisierung technischer Normen abzubauen und insofern die Staaten zu entlasten und stets aktuelle Regelungen – was den jeweiligen Stand der Technik angeht – zu erhalten.27 Auf Detailregelungen will die EU verzichten. Der „new approach“ sieht vor, dass Richtlinien für bestimmte Produkte grundlegende Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen auf einem gewissen hohen Schutzniveau festlegen. Technische Details zur Ausfüllung dieser grundlegenden Anforderungen werden von den „Europäischen Normungsorganisationen“ (CEN28, CENELEC29 bzw. ETSI30) in Form europäischer Normen erarbeitet.31

26Die Umsetzung muss allerdings klar und eindeutig erfolgen: EuGH NJW 2001, 2244; zur sog. Vorwirkung der Richtlinie, nach der die Mitgliedsstaaten bereits ab Erlass der Richtlinie keine Vorschriften mehr erlassen dürfen, die die fristgerechte Umsetzung gefährden: EuGH NJW 2005, 3695: Mangold; EuGH NJW 2006, 2465: Adeneler. 27Dazu

etwa Klindt, ProdSG, 2. Aufl. 2015, § 4 Rn. 2; sowie Einführung, Rn. 16 ff. Européen de Normalisation. 29Comité Européen de Normalisation Electrotechnique. 30European Telecommunications Standards Institute. 31AWG vom 6.6.2013, BGBl. I 2013, S. 1482. 28Comité

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15.3.2.3 Die ROM I-Verordnung Damit kommen wir zu einem wichtigen Thema für den vertragsgestaltenden Unternehmensjuristen, nämlich zu dem der bereits eben erwähnten EU-Verordnungen im Zusammenhang mit vertraglichen Schuldverhältnissen. Eine der wichtigen Regelungen in der jüngeren Geschichte der EU ist die Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht vom 17.6.2008.32 Die Gemeinschaft hat sich ausweislich der Präambel zum Ziel gesetzt, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu erhalten und weiterzuentwickeln. Um dies zu ermöglichen, meinten Europäisches Parlament und der Rat der Europäischen Union zu Recht, für den Bereich der justitiaren Zusammenarbeit in Zivilsachen, die einen grenzüberschreitenden Bezug aufweisen, einen Raum schaffen zu müssen und Maßnahmen zu erlassen, damit ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes möglich ist. Die „ROM I-Verordnung“ ist seit dem 17.12.2009 auf alle Schuldverträge anwendbar, die nach diesem Zeitpunkt geschlossen werden (vgl. Art. 28, 29 ROM I-VO zum Anwendungsbereich in zeitlicher Hinsicht).33 Die ROM I-Verordnung entwickelt das abgelöste EVÜ weiter.34 Als Neuerung scheint erwähnenswert, dass aus dem Anwendungsbereich der ROM I-Verordnung die Haftung für Ansprüche aus c.i.c. herausgenommen worden ist; diese fällt einheitlich unter die ROM II-Verordnung.35 Jetzt werden Regelanknüpfungen für einzelne Vertragstypen – zur einfacheren Handhabung – eingeführt (vgl. Art. 4 Abs. 1 der ROM I-Verordnung). Der sachliche Anwendungsbereich der Sonderkollisionsnorm für Verbraucherverträge (Art. 6 der ROM I-Verordnung) wurde erheblich erweitert. Im Einzelnen: Was die Vertragsgestaltung angeht, sollte der Unternehmensjurist den Grundsatz der „freien Rechtswahl“ (Art. 3 der ROM I-VO) kennen. Danach unterliegt der Vertrag dem von den Parteien gewählten Recht. Die Parteien sind in ihrer Rechtswahl grundsätzlich frei.36 Unabhängig von der von den Parteien getroffenen Rechtswahl gelten allerdings kraft der in Art. 9 Abs. 2 ROM I-VO geregelten Sonderanknüpfung in jedem Fall die internationalen zwingenden Vorschriften des deutschen Rechts, die den Sachverhalt ohne Rücksicht auf das Vertragsstatut regeln. Ungeachtet dessen kann die Rechtswahl ausdrücklich oder auch konkludent getroffen werden (vgl. dazu Art. 3 Abs. 1 Satz 2 32ABl.EU

2008, Nr. L 177/6 vom 4.7.2008. löst sie das EVÜ vom 19.6.1980, BGBl. II, S. 809, 810 ab, welches für Deutschland ab 1.4.1991 in Kraft trat und innerstaatlich in den Art. 11, 12 und 27–37 Einführungsgesetz inkorporiert worden war, vgl. dazu Palandt/Thorn a. a. O., (IPR) ROM I, Vorbemerkung, Rn. 1. 34Mankowski, Die ROM I-Verordnung – Änderungen im europäischen IPR für Schuldverträge, IHR 2008, 133. 35Palandt/Thorn, a. a. O., (IPR) ROM I, Vorbemerkung, Rn. 6. 36Mankowski, Überlegungen zur sach- und interessengerechten Rechtswahl für Verträge des internationalen Wirtschaftsverkehrs, RIW 2003, 2; Paefgen, Kollisionsrechtlicher Verbraucherschutz im Internationalen Vertragsrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, ZEuP 2003, 266, 270. 33Damit

14

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ROM I-VO). Die Problematik der sog. stillschweigenden Rechtswahl liegt auf der Hand und war auch schon nach altem Recht ein Krisenfall: Voraussetzung für die Einbeziehung ist, dass diese sich eindeutig aus den Bestimmungen des Vertrages oder den Umständen des Falles, insbesondere dem Parteiverhalten ergibt. Hier gibt es in den unterschiedlichen Sprachen unterschiedliche Formulierungen. Die Rechtswahl muss ausdrücklich erfolgen oder sich „eindeutig“ aus den Bestimmungen der Vertrags oder aus den Umständen des Falles ergeben („clearly demonstrated“ in der englischen Version und im französischen Wortlaut „de façon certaine“37). Indizien für eine konkludente Rechtswahl sind – vgl. den Erwägungsgrund 12 der Verordnung EG Nr. 593/2008 – auch z. B. die Vereinbarung eines einheitlichen, ausschließlichen Gerichtsstands,38 die Bezugnahmen auf Rechtsinstitute einer bestimmten Rechtsordnung und/oder auch die Verwendung von Klauseln, die sich auf bestimmte Rechtsordnungen beziehen. Demgegenüber kommt der Vertragssprache allenfalls unterstützende Funktion zu.39 ebenso dem Abschlussort des Vertrages.40 Die Rechtswahl müssen die Parteien nicht notwendig bei Vertragsschluss getroffen haben. Sie kann nach Art. 3 Abs. 2 ROM-I-VO auch zu einem späteren Zeitpunkt vorgenommen werden. Nicht selten werden – nach Beginn der juristischen Auseinandersetzung zwischen zwei Vertragsparteien – die bereits getroffenen Rechtswahlvereinbarungen sogar durch neue ersetzt, was auch während der Gerichtsverfahren41 möglich ist. Ihnen als Unternehmensjuristen sind möglicherweise noch die Regelungen zu Art. 27 EGBGB a.F. (freie Rechtswahl) und Art. 28 EGBGB a.F. (anwendbares Recht mangels getroffener Rechtswahl) geläufig. Jetzt ist das anzuwendende Recht „mangels Rechtswahl“ in Art. 4 der ROM I-Verordnung geregelt. Es handelt sich um eine sog. „Positiv-Liste“: Soweit die Parteien nämlich keine Rechtswahl getroffen haben, bestimmt sich das auf den Vertrag anzuwendende Recht (unbeschadet weitergehender Art. 5–8 der ROM I-Verordnung) – und abgesehen vom sog. UN-Kaufrecht, dazu sogleich sub 4 – nunmehr nach Art. 4, nach dem jeweiligen Vertragstyp. Dies ist eine klare Vereinfachung, entspricht aber in etwa der bisherigen Rechtslage: Besonders wichtige Verträge (Kaufverträge, Dienstleistungsverträge etc. bzw. in der Anknüpfung bislang umstrittene Vertragstypen (z. B. Franchiseverträge) erhalten Regelanknüpfungen. Beispiel: Soweit die Parteien keine Rechtswahl getroffen haben, gilt für Kaufverträge über bewegliche Sachen das Recht des Staates, in dem der Verkäufer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat

37Vgl.

Palandt/Thorn, a. a. O., Art. 3 (IPR) ROM I, Rn. 6; sowie Wagner, Der Grundsatz der Rechtswahl und das mangels Rechtswahl anwendbare Recht (ROM I-Verordnung), IPRax 2008, 377, 378. 38Wagner, a. a. O., IPRax 2008, 377; zum alten Recht BGH NJW-RR 2005, 206, 208. 39Vgl. die dazu früher ergangene Rechtsprechung: BGHZ 19, 110: Sorrell and Son; LG Hamburg, RIW 1999, 391. 40BGH NJW 2001, 1936. 41BGH NJW 1991, 1292, 1293; OLG Hamm RIW 1993, 940; BGH NJW-RR 2000, 1002, 1004.

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(vgl. Art. 4 Abs. 1 lit. a ROM I-VO). Scheitert – z. B. bei gemischten Verträgen – wegen unterschiedlicher Gestaltung von Rechten und Pflichten die Zuordnung zu einem einheitlich dort spezifiziert aufgenommenen Vertrag, unterliegt der Vertrag dann dem Recht des Staates, in dem die Partei, welche die für den Vertrag charakteristische Leistung zu erbringen hat, ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art. 4 Abs. 2 ROM I-VO). Aber Vorsicht: Wenn eine Rechtswahlvereinbarung nicht getroffen wurde, darf der Unternehmensjurist nicht allzu schnell auf die Vorgaben in Art. 4 der ROM I-Verordnung zurückgreifen. Hier besteht das Risiko, ggf. vorrangig eingreifende Abkommen zu vernachlässigen. Maßgebend ist insoweit in erster Linie nämlich einmal das materielle Einheitsrecht des UN-Übereinkommens vom 11.4.198042 (vgl. dazu sub 4). Das UN-Kaufrecht findet dann Anwendung, wenn die Regelungen des Internationalen Privatrechts (IPR) zur Anwendung des Rechts eines Vertragsstaates führen.43 Insoweit behalten bestimmte Abkommen und die ehemaligen Regelungen des IPR auch ihre Bedeutung.44 Um es noch einmal deutlich zu sagen: Die ROM I-Verordnung berührt nicht die Anwendung der Internationalen Übereinkommen, denen ein oder mehrere Mitgliedsstaaten zum Zeitpunkt der Annahme dieser (ROM-)Verordnung angehören und die Kollisionsnormen für vertragliche Schuldverhältnisse enthalten (Art. 25 ROM I-VO). Diese Regelung schützt die Mitgliedsstaaten davor, bestehende völkerrechtliche Verpflichtungen aufgrund eines uneingeschränkten Vorrangs der ROM I-Verordnung verletzen zu müssen (vgl. dazu auch den Erwägungsgrund 41 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008).45. Soweit also die Mitgliedsstaaten den Internationalen Übereinkommen bereits zum Zeitpunkt der Annahme der ROM I-Verordnung angehörten, finden die Internationalen Übereinkommen vor der ROM I-Verordnung Anwendung.46 Soweit darin die Gefahr gesehen wird, dies führe zu einer Rechtszersplitterung, die zu einem sog. „Forum-Shopping“ führen kann,47 soll dies wohl aufgrund der Erfordernisse des Völkerrechts hingenommen werden (müssen).48

15.3.2.4 Das UN-Kaufrecht (CISG) Das UN-Kaufrecht (englisch: United Nations Convention on Contracts for the International 15 Sale of Goods – CISG) vom 11.4.1980, von anderen auch „Wiener Kaufrecht“ genannt,

42UN-Kaufrecht

und/oder auch CISG – synonym verstanden – genannt, BGBl. 1989 II S. 588 ff., das in der Bundesrepublik am 1.1.1991 in Kraft getreten ist. 43OLG Köln RIW 1994, 972; OLG Frankfurt RIW 2001, 383. 44Palandt/Thorn, Art. 4 ROM I, Rn. 5 m.w.N. 45Palandt/Thorn, Art. 25 ROM I, Rn. 2. 46Vgl. dazu Palandt/Thorn, Art. 25 ROM I, Rn. 2. 47Vgl. dazu Palandt/Thorn, Art. 4 ROM I, Rn. 7 sowie Art. 25 ROM I, Rn. 3. 48Wagner, Die neue ROM II-Verordnung, IPRax 2008, 1 ff.

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ist maßgeblich für den internationalen Warenkauf49 (sub C. II. 3.). Die Anwendung des UN-Kaufrechts ist an sich der Regelfall bei einem Warenkauf zwischen gewerblichen Verkäufern aus verschiedenen Vertragsstaaten, wenn die Staaten das UN-Kaufrecht ratifiziert haben50 und kein vorrangiges Recht Anwendung findet. In seinem Anwendungsbereich verdrängt es auch die ROM I-Verordnung (vorstehendes Kapitel, sub C. II. 3.). Es ist in der Bundesrepublik am 1.1.1991 in Kraft getreten.51 Es ist also – um es in andere Worte zu fassen – Teil der deutschen Rechtsordnung. Nicht selten wurde in der Praxis allerdings versucht, mit vertraglichen Klauseln: „… unter Ausschluss des UN-Kaufrechts“ den Anwendungsbereich einzuengen (vgl. Art. 6 CISG). Einen wahren Grund dafür – bedingt insbesondere durch die Schuldrechtsmodernisierung von 2002 – gibt es i. d. R. nicht mehr. Angeblich soll es aber sogar Haftungsfälle gegeben haben, in Fällen, in denen Mandanten ihre Rechtsanwälte erfolgreich auf Schadenersatz in Anspruch genommen hatten, wenn diese das UN-Kaufrecht ohne überzeugende Begründung und – vor allem ohne ausreichende vorherige Aufklärung des Mandanten – ausgeschlossen hatten.52 Bedingt durch die Anpassungen im Schuldrechtsmodernisierungsgesetz, mit dem sich das deutsche Recht erheblich dem UN-Kaufrecht angenähert hat, erübrigt sich i. d. R. ein derartiger Ausschluss. Was die Sachmängelhaftung angeht, bestehen nach UN-Kaufrecht dem deutschen Recht ähnliche Rechtsbehelfe, nämlich das Recht der Erfüllung/Nacherfüllung (Art. 46 ff. CISG), (anders): das Recht auf Vertragsaufhebung (Art. 49 CISG), oder das Recht auf Minderung (Art. 50 CISG).53 Wichtig, weil nicht selten bei Vertragsschluss übersehen, ist der Hinweis, dass Deutschland dem UN-Übereinkommen vom 14.6.1994 über die Verjährung beim Internationalen Warenkauf nicht beigetreten ist. Daraus folgt, dass die Verjährung nicht klar geregelt ist und es beim dann geltenden Recht (z. B. Lieferantenrecht: § 438 BGB) verbleibt.54 In der Fußnote55 habe ich weiterführende Hinweise aufgelistet, die für den Praktiker von Bedeutung sein könnten.

49UN-Kaufrecht (CISG) vom 11.4.1980, BGBl. 1989 II S. 588 ff.; s. o. FN 40; frei zugängliche Datenbank zu Texten und Rspr.: http://www.globalsaleslaw.orgundhttp://www.cisg-online.ch; vgl. dazu insbesondere Piltz, Neue Entwicklungen im UN-Kaufrecht, NJW 2005, 2126; ders., Neue Entwicklungen im UN-Kaufrecht, NJW 2003, 2056. 50Staatsvertrag

der Vereinten Nationen, dem inzwischen über 80 Staaten beigetreten sind; aktuelle Liste abrufbar unter: http://www.uncitral.org . 51FN 40, aber in der Bekanntmachung vom 23.10.1990, BGBl. II 1477. 52Zitiert nach Wikipedia, UN-Kaufrecht, zuletzt aufgerufen am 24.10.2017. 53Vgl. die Pflichten des Verkäufers in den Art. 25 ff. CISG. 54Hanseatisches OLG TranspR-IHR 1999, 37. 55John O. Honnold: Uniform Law for International Sales under the 1980 United Nations Convention, 3. Auflage 1999, § 103.2; Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6.1.2010: Verkanntes Kaufrecht – warum wird das UN-Kaufrecht fast immer ausgeschlossen?; BGH MDR 2002, 144; Magnus, Wesentliche Fragen des UN-Kaufrechts, ZEuP 1999, 642.

15  Vertragsgestaltung und Vertragsrecht

341

15.3.2.5 Incoterms 2010 – Regeln der ICC Incoterms (International Commercial Terms, zu Deutsch: Internationale Handels- 16 klauseln) wurden von der Internationalen Handelskammer (International Chamber of Commerce, ICC) als „Internationale Handelsklauseln“ entwickelt und erstmals 1936 aufgestellt.56 Es handelt sich um freiwillig von den Parteien zu vereinbarende Regeln zur Auslegung handelsüblicher Vertragsklauseln beim grenzüberschreitenden bzw. internationalen Warenhandel,57 die teilweise aus Handelsbranchen hervorgegangen sind.58 Der jeweilige Stand der entwickelten Incoterms wird mit der Angabe der Jahreszahl gekennzeichnet, jetzt die aktuelle des Jahres 2010, also Incoterms „2010“. Die Incoterms 2010 wurden als 7. Revision zum 1.1.2011 von der International Chamber of Commerce in Deutschland publiziert. Die ursprünglich 13 Klauseln der Incoterms 200059 werden auf 11 verschiedene Klauseln bei den Incoterms 2010 reduziert, von denen 7 generell und vier im See- und Binnenschifftransport einsetzbar sind. Weggefallen sind die Klauseln DAF, DES, DEQ und DDU, neu hinzugekommen sind Klauseln DAT und DAP. Nachstehend finden Sie eine Tabelle zu den „Incoterms 2010“.60 Die neu geschaffenen Incoterms 2010 haben die Strukturen und auch die Einteilung der Incoterms nicht verändert, sondern verwenden die bisherigen Klauselbezeichnungen und Klauselabkürzungen nach wie vor.

15.3.3 Europäisches Zivilgesetzbuch: Ein kurzer Ausblick Der vertragsgestaltende Unternehmensjurist wird sich nach alledem – zu Recht – die 17 Frage stellen, ob nicht ein „Europäisches Zivilgesetzbuch“ besser gewesen wäre, oder/ und vor allem, wann er mit einem „Europäischen ZGB“ konfrontiert werden wird. Hierzu nur soviel: Die Kommission strebte für das Vertragsrecht innerhalb der Europäischen Union einen sog. „gemeinsamen Referenzrahmen“ an (Common Frame of Reference, CFR). Dabei sollte das Vertragsrecht nicht einheitlich verbindlich geregelt, sondern vielmehr ein „Orientierungsrahmen“ für die Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts

56Baumbach/Hopt

(Hrsg.), HGB, 37. Aufl. 2016, Incoterms u. a. Handelskaufklauseln (6), Rn. 11. Incoterms 2000, 1. Aufl. 2000. 58Drettmann, Handelsbranche und Allgemeine Geschäftsbedingungen, FS Graf von Westphalen, 2010, 73, 76; MüKo HGB/K. Schmidt, 3. Aufl. 2013, § 346 Rn. 111, 112; zur Weiterentwicklung der sog. Trade Terms, Baumbach/Hopt, a. a. O., Rn. 4. 59Vgl. dazu noch Eckert/Maifeld/Matthiessen, Handbuch des Kaufrechts, 2. Aufl. 2014, Rn. 473 m. w. N.: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn (Hrsg.), HGB, 3. Aufl. 2015, § 346 Rn. 124 ff.; Baumbach/Hopt, a. a. O., Incoterms u. a. Handelskaufklauseln (6), Rn. 11 ff. 60Entnommen und zitiert nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Incoterms; vgl. auch abrufbare Liste unter: http://www.iccwbo.org/incoterms/wallchart/wallchart.pdf. 57Bredow/Seiffert,

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geschaffen werden.61 Zur Entwicklung eines solchen Referenzrahmens hat die Kommission Arbeitsgruppen gefördert, deren Arbeiten inzwischen vorliegen;62 exzellente wissenschaftliche Programme und Werke in „Richtung Gemeinschaftliches Zivilgesetzbuch“, die jedoch so (bislang) nicht politisch umgesetzt wurden.63 Der von der EU-Kommission erarbeitete „Entwurf einer Verordnung über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht“ sollte daher – nur – als „optionales Instrument“ gelten; die Parteien sollten diesen Rahmen bei grenzüberschreitenden Geschäften also zusätzlich wählen können (Opt-in). Der Nutzen für die Wirtschaft wäre auf absehbare Zeit damit beschränkt gewesen.64 Ende 2014 hat die Europäische Kommission ihren Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches ohnehin zurückgezogen.65 Ein darüber hinaus geltendes „Europäisches ZGB“ fehlt der EU die Gesetzgebungskompetenz.66

15.3.4 Das Außenwirtschaftsgesetz 18 Soweit wir uns mit den Grundlagen und Rechtsquellen im internationalen Bereich beschäftigen, sollte der Unternehmensjurist auch das sog. „Außenwirtschaftsgesetz“ (AWG)67 einmal aufgeschlagen haben. Das Außenwirtschaftsgesetz regelt vor allem den

61Vgl.

etwa Palandt/Sprau, Einleitung, Rn. 33; Leible, Europäisches Privatrecht am Scheideweg, NJW 2008, 2558; ders., Was tun mit dem Gemeinsamen Referenzrahmen für das Europäische Vertragsrecht? – Plädoyer für ein optimales Instrument, BB 2008, 1469; Rats-Dok. 8397 und 8092/08. 62Dazu einen exzellenten Überblick bei Schulte-Nölke, Arbeiten an einem europäischen Vertragsrecht – Fakten und populäre Irrtümer, NJW 2009, 2161; vgl. dazu auch von Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law, online-Edition des DCFR, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/justice/contract/files/european-private-law_en.pdf; weitere Nachweise bei Palandt/Sprau, a. a. O., Rn. 33. 63Vgl. Eidenmüller/Faust/Grigoleit/Jansen/Wagner/Zimmermann, Der Gemeinsame Referenzrahmen für das Europäische Privatrecht, JZ 2008, 530; auch Ernst, Der „Common Frame of Reference“ aus juristischer Sicht, AcP 208 (2008), 248, 270; Weller, Die Struktur des Erfüllungsanspruchs im BGB, Common law und DCFR – ein kritischer Vergleich, JZ 2008, 764; zu den Funktionen des gemeinsamen Referenzrahmens vgl. Schulte-Nölke, Bausteine aus der Wissenschaft für die englische Vertragssprache – Der gemeinsame Referenzrahmen als Toolbox für die Vertragsgestaltung, FS Graf von Westphalen, 2010, 609 ff.; dazu Grünbuch, zugänglich unter http://ec.europa.eu/ . 64Vgl. zur berechtigten Kritik insbesondere Grigoleit, Das europäische Kaufrecht ist ein kurioses Experimentierlabor, FAZ 2011, 21. 65Mitteilung der Kommission an das Europäisches Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Arbeitsprogramm der Kommission 2015, Ein neuer Start, COM(2014) 910 final, Annex 2, S. 13. 66Palandt/Sprau, a. a. O., Einleitung, Rn. 33; Ernst, a. a. O., AcP 208 (2008), 248, 249; Leible, a. a. O., NJW 2008, 2558. 67Neufassung vom 6.6.2013, BGBl. I 2013, 1482; Erbs/Kohlhaus, Strafrechtliche Nebengesetze, 195. Ergänzungslieferung 2013.

15  Vertragsgestaltung und Vertragsrecht

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Verkehr von Devisen, Waren und Dienstleistungen, Kapital und sonstigen Wirtschaftsgütern – immer in Bezug auf das jeweilige Ausland. Es handelt sich also um den Rahmen für die Ausgestaltung des Warenverkehrs im grenzüberschreitenden Bereich.68

15.3.5 Gestaltung Internationaler Verträge Bei der Formulierung internationaler Verträge stößt der Unternehmensjurist mit bislang 19 weniger Erfahrung immer wieder auf grundlegende Kategorien oder Begrifflichkeiten. Nicht selten sprechen zahlreiche Vertragsjuristen „international“ von sog. „important clauses“: Etwas Sarkasmus ist angebracht. Vielfach sind diese Klauseln inzwischen – obgleich damit nicht immer ein tieferer Grund verbunden ist – in englischer Sprache verfasst oder erwähnt, jedenfalls auf Einladungsprospekten für Vertragsgestaltungsseminare bei grenzüberschreitenden Verträgen. Die Verwendung des englischen Begriffs „confidentiality agreement“ klingt für heutige Seminarveranstalter und Dozenten selbst offensichtlich moderner als die althergebrachte „Vertraulichkeits- bzw. Geheimhaltungsvereinbarung“. Bisweilen aber haben Klauseln nicht selten auch unterschiedliche Bedeutungen in den verschiedenen Sprachen. Insoweit kann also Vorsicht geboten sein. Darauf möchte ich explizit hinweisen. Im internationalen Bereich ist die Verwendung des Begriffs der (deutschen) „Garantie“ bekanntlich nicht einfach zu übersetzen mit den Begrifflichkeiten „Guarantee“ („Warranty“). Hilfreich sind diverse – mehr oder weniger mehrsprachige – Musterhandbücher.69

15.4 Durchsetzung von internationalen Verträgen Je nachdem, ob die Parteien eine bestimmte Rechtswahl getroffen und die Frage 20 geklärt haben, ob das UN-Kaufrecht vorrangig Anwendung hat, und/oder – wenn Restunsicherheiten bestehen – welches Recht nun tatsächlich Anwendung findet, können die Parteien durchaus auch, nachdem das „Kind schon in den Brunnen gefallen ist“, und man sich etwa in einem Sachmängelhaftungsfall bereits streitet, nachträglich eine bestimmte Rechtsordnung zur Anwendung bringen. Ungeachtet dessen stellt sich natürlich die Frage, welches Gericht im Zweifel angerufen wird. Auch zu diesem

68Erbs/Kohlhaus-Diemer, Strafrechtliche Nebengesetze, 215. Ergänzungslieferung 2017, A.217 AWG, § 1, Rn. 2. 69Vgl. etwa englisch/deutschsprachige Musterformular-Handbücher: Walz (Hrsg.), Beck’sches Formularbuch Zivil-, Wirtschafts- und Unternehmensrecht Deutsch-Englisch, 3. Aufl. 2014; Stummel, Standardvertragsmuster zum Handels- und Gesellschaftsrecht Deutsch-Englisch, 5. Aufl. 2015; Brand (Hrsg.), Formularbuch zum Europäischen und Internationalen Zivilprozessrecht, 2011; vgl. auch Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8. Aufl. 2015; Magnus, Global Trade Law, 2004.

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T. Lenz

Aspekt empfiehlt es sich, sich am besten bereits im Vorfeld – nämlich schon bei der Vertragsgestaltung – Gedanken zu machen. Die Frage des sog. „anwendbaren Rechts“ (Applicable Law) und die nach dem anzurufenden Gericht – also Gerichtsstandsvereinbarung (jurisdiction) – ist bekanntlich strikt zu trennen. Vielfach wird empfohlen, Schiedsgerichte zu wählen, die oft sachnäher und schneller entscheiden können.70 Es ist nicht der Raum, dieser Frage – nach den Vor- und Nachteilen von Schiedsverfahren gegenüber den Verfahren vor ordentlichen Gerichten – allgemein nachzusteigen; nur so viel aus meiner Praxis: Schiedsverfahren dauern oft lange, sie sind also nicht unbedingt schneller. Die Kosten sind oft (ein Vielfaches gegenüber denen der ordentlichen Gerichtsbarkeit) höher, auch wenn Übersetzungskosten bisweilen gespart werden. Das Schiedsverfahren hängt entscheidend von den Schiedsrichtern ab. Alle, die jetzt voreingenommen sein mögen, wissen, dass die Wahl des Obmanns oft den Ausschlag für die Entscheidung gibt. Ob dies bei staatlichen Gerichten ähnlich ist, ist eine der Fragen, die immer wieder diskutiert werden, und die zu einem „pro und contra“ zur Thematik des Schiedsverfahrens führen. Trotzdem: Im internationalen Bereich tätige Unternehmensjuristen müssen sich mit den angesprochenen und zusätzlichen Themen beschäftigen: Staatliche Gerichte versus Schiedsgerichtsbarkeit.71

Literatur Baumbach, Adolf (Begr.)/Hopt, Klaus J. (Hrsg.), Handelsgesetzbuch: HGB, Kommentar, 37. Auflage 2016 Beckmann, Roland Michael (Hrsg.), Verantwortlichkeit im Wirtschaftsrecht, Beiträge zum Versicherungs- und Wirtschaftsrecht, Festschrift für Ulrich Hübner, Karlsruhe 2002 Brand, Peter-Andreas (Hrsg.), Formularbuch zum Europäischen und Internationalen Zivilprozessrecht, 1. Auflage 2011 Bredow, Jens/Seiffert, Bodo, Incoterms 2000, Kommentar, 1. Auflage 2000 Ebenroth, Carsten T./Boujong, Karlheinz/Joost, Detlev (Begr.)/Strohn, Lutz (Hrsg.), Handelsgesetzbuch (HGB), Kommentar; Bd. 1, 3. Auflage 2014; Bd. 2, 3. Auflage 2015 Eckert, Hans-Werner/Maifeld, Jan/Matthiessen, Michael, Handbuch des Kaufrechts, 2. Auflage 2014 Erbs, Georg/Kohlhaas, Max (Begr.), Strafrechtliche Nebengesetze, Kommentar, Loseblattsammlung, 215. Ergänzungslieferung 2017 Graf von Westphalen, Friedrich/Thüsing, Gregor (Hrsg.), Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Loseblattsammlung, 39. Ergänzung, Stand: 05/2017

70Dazu Berger, Schiedsgerichtsbarkeit und AGB-Recht, FS Graf von Westphalen, 2010, 13 ff.; Duve/Sattler, Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen, ebenda, 81 ff.; Elsing, Zur Auslegung von Schiedsvereinbarungen, ebenda, 109 ff.; Staudinger, Schiedsspruch und Urteil mit vereinbartem Wortlaut, ebenda, 659 ff. 71Berger,

Herausforderungen für die (deutsche) Schiedsgerichtsbarkeit, SchiedsVZ 2009, 289; Elsing, Procedutal Efficiency in International Arbitration: Choosing the best of both legal worlds, SchiedsVZ 2011, 114.

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Habersack, Mathias/Joeres, Hans-Ulrich/Krämer, Achim (Hrsg.), Entwicklungslinien im Bankund Kapitalmarktrecht, Festschrift für Gerd Nobbe, Köln, 2. Auflage 2009 Heidelberger Musterverträge zu Personengesellschaften (Sammelband), 1. Auflage 2011; z. B. Lenz, Tobias/Braun, Frank, Heft 83, Partnerschaftsgesellschaftsvertrag, 4. Auflage 2010 Hoffman-Becking, Michael/Rawert, Peter (Hrsg.), Beck'sches Formularbuch Bürgerliches, Handels- und Wirtschaftsrecht, 12. Auflage 2016 Honnold, John O./Flechtner, Harry M., Uniform Law for International Sales under the 1980 United Nations Convention, 4. Auflage 2009 Hopt, Klaus J. (Hrsg.), Vertrags- und Formularbuch zum Handels-, Gesellschafts- und Bankrecht, 4. Auflage 2013 Klindt, Thomas, Produktsicherheitsgesetz: ProdSG, Kommentar, 2. Auflage 2015 Langenbucher, Katja (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht, 4. Auflage 2017 Lenz, Tobias, Produkthaftung, 2014 Magnus, Ulrich, Global Trade Law, 2004 Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 2: Schuldrecht AT, §§ 241–432, 7. Auflage 2016 Owen, David G., Products Liability Law, 3. Auflage 2015 Palandt, Otto (Begr.), Bürgerliches Gesetzbuch BGB, Kommentar, 76. Auflage 2017 Reithmann, Christoph/Martiny, Dieter (Hrsg.), Internationales Vertragsrecht, 8. Auflage 2015 Schmidt, Karsten (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Handelsgesetzbuch: HGB, Bd. 1–2 4. Auflage 2016, Bd. 3–7 3. Auflage 2012–2014 Schulte-Nölke, Hans/Genzow, Christian F./Grunewald, Barbara (Hrsg.), Zwischen Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz, Festschrift für Friedrich Graf von Westphalen, Köln 2010 Soergel, Theodor (Begr.), Bürgerliches Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, Bd. 4: Schuldrecht 2, §§ 305-310 BGB, 13. Auflage 2011 Staudinger, Julius von (Begr.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, Buch 2: Recht der Schuldverhältnisse, §§ 305-310, UKlaG, Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, Neubearbeitung 2017 Stoffels, Markus, AGB-Recht, 3. Auflage 2015 Stummel, Dieter, Standardvertragsmuster zum Handels- und Gesellschaftsrecht Deutsch-Englisch, 5. Auflage 2015 Ulmer, Peter/Brandner, Hans Erich/Hensen, Horst-Dieter (Hrsg.), AGB-Recht, Kommentar, 12. Auflage 2016 Vorwerk, Volkert (Hrsg.), Das Prozessformularbuch, 10. Auflage 2015 Walz, Robert (Hrsg.), Beckʼsches Formularbuch Zivil- Wirtschafts- und Unternehmensrecht Deutsch-Englisch, 3. Auflage 2014 Wolf, Manfred/Lindacher, Walter F./Pfeiffer, Thomas (Hrsg.), AGB-Recht, Kommentar, 6. Auflage 2013

Prozessführung

16

Carsten Laschet

16.1 Allgemeine Einführung 16.1.1 Roben und Althergebrachtes Die Robe. Amtstracht des Rechtsanwaltes und Erkennungsmerkmal des Juristen in (fast) jedem Prozess. Bis auf wenige Ausnahmen1 wird deren Existenzberechtigung im Gerichtssaal kaum angefochten. Während Anzug, gestärktes Hemd und weiße Krawatte zumindest in Zivilprozessen nicht mehr als zwingende Notwendigkeit angemessenen Auftretens angesehen werden, hat die seidenbestickte schwarze Robe sich über die Zeit gerettet.2 Selbst das Bundesverfassungsgericht tat sich schwer mit der Anerkennung der Robe, wenn es im Jahre 1970 „unter Anstrengung seines vollen Scharfsinns und seiner gesammelten Ratlosigkeit“3 die Robenpflicht als „vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht“ definierte und doch müssen sich die Gerichte immer wieder mit den Innovationen zur Berufstracht befassen, wie z. B. jüngst zur Bestickung der Robe mit Werbung.4

1Im

Jahr 2009 wurde in Berlin heftig über das Tragen von Roben gestritten; mit der „Allgemeinen Verfügung über die Amtstracht der Berliner Rechtspflegeorgane“ vom 23.3.2009 hob die Senatsverwaltung für Justiz die Pflicht zum Tragen von Roben für Rechtsanwälte auf. 2Nähere Ausführungen zur Robe an sich: http://de.wikipedia.org/wiki/robe. 3Leicht, in: „Die Zeit“ vom 16.7.2009, Nr. 30. 4BGH,

NJW 2017, 407; zusammenfassend mit weiteren Leprechaun Dahms, NJW-Spezial 2017, 574.

C. Laschet (*)  Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB Rechtsanwälte, Köln, Im Rheinauhafen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Lenz (Hrsg.), Die Rechtsabteilung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21915-4_16

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1

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2

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Gleichwohl: So selbstverständlich, wie die Robe für den prozessführenden Anwalt ist, so wenig ist es die Prozessführung als solche heute für wesentliche Teile der Wirtschaftsanwaltschaft. Bei Beobachtung von berufseinsteigenden Rechtsanwälten, insbesondere in Großkanzleien, ist man fast geneigt zu erkennen, dass der Smoking zur Verleihung des JUVE-Awards vordringlicher Einzug in den Spind des Wirtschaftsanwalts hält als die Robe. Die Prozessführung ist althergebrachter und vornehmster Teil der beruflichen Tätigkeit des Rechtsanwaltes. Je nach Größe eines Unternehmens und auch auf der anderen Seite je nach Größe einer Anwaltskanzlei ist die Struktur der Prozessführung durchaus unterschiedlich. Versicherungen in deren Schadensabteilungen, vertriebsorientierte Unternehmen im Bereich des Wettbewerbsrechts oder Projektentwickler in Baurechtsfragen befassen sich regelmäßig mit dem Prozessgeschäft, die Personalabteilungen sowieso. Andere Bereiche großer und kleiner Rechtsabteilungen verschonen sich selbst, so häufig in gesellschaftsrechtlichen Fragen, im Bereich interner Strukturen, Compliance, M&A etc. Vergleichbar spiegelt es sich in der Anwaltschaft. Während für Rechtsanwälte in sog. Boutiquen in ihren Spezialnischen die Prozessführung eine Selbstverständlichkeit ist, wird es im Bereich der größer werdenden Rechtsanwaltskanzleien durchaus üblich, der Prozessführung („litigation“) einen eigenen Abteilungsstatus zukommen zu lassen, um alle anderen von der Mühe und Last zu befreien. Damit wird der Prozessführung und dem formellen Prozessrecht ein dem materiellen Recht und dessen Abarbeitung ebenbürtiger Status eingeräumt. Je größer eine Rechtsabteilung ist desto eher spiegelt sich diese Struktur wiederum auch innerhalb des unternehmerischen Teils der Rechtsabarbeitung wieder. Zwangsläufig sind damit allerdings Konsequenzen verbunden: Wird die Prozessführung durch einen professionellen „Litigator“ erledigt, kommt das beauftragende Unternehmen nicht daran vorbei, zumindest eine weitere Abteilung – nämlich die Betreuer des materiellen Rechts – ebenso einbinden lassen zu müssen. Der gesellschaftsrechtliche Rechtsstreit erfordert dann das hohe Prozessführungs-Know-how des einen, das vertiefte materielle gesellschaftsrechtliche Know-how des anderen Experten. Mit abnehmender Bedeutung des Falles wird sich der verantwortliche Justitiar zwangsläufig auch aus Kostengründen mit der Frage beschäftigen müssen, ob er ggf. auf das eine oder auf das andere ExpertenKnow-how verzichten kann, soll oder sogar muss. Dies alleine zeigt, dass es in Bezug auf die äußeren Strukturen zur Führung von Prozessen weder einen alternativlos richtigen noch einen gänzlich falschen Weg gibt. Die Art des Verfahrens entscheidet letztlich darüber, was im Einzelfall der beste Weg ist. Ein exzellenter Erstinstanzler muss nicht gleichfalls ein guter Berufungsrechtler sein. Der allgemeine zivilprozessuale Anwalt bietet nicht zwangsläufig die Gewähr, vor Spezialkammern und –senaten wie den Wettbewerbskammern, den Kartell- oder Markensenaten entsprechend zu reüssieren. Die althergebrachte Anwaltsausbildung argumentierte stets, dass die vollendete Qualität des Prozessanwaltes neben hinreichender Erfahrung vor Gericht auch erfordert, dass dieser in der außergerichtlichen Beratung tätig ist. Damit ist sowohl der Blickwinkel in die Vertragsverhandlung und -gestaltung gemeint, die das Gefühl für die

16 Prozessführung

349

wichtigen Auslegungsqualitäten und Interessenlagen der Vertragsparteien schult. Gleichbedeutend ist allerdings auch der Versuch, eine außergerichtliche Konfliktlösung, die nicht zwingend offiziell als Mediation hochgehalten werden muss, bewerkstelligen zu können. Und auch vice versa ist die aktive Prozessführung befruchtend für das Wachsen des Niveaus im außergerichtlichen Beratungsbereich. Der Anwalt mit hinreichender Prozesserfahrung wird aus der unmittelbaren Erkenntnis von Beweislastregeln und Beweisproblemen seine Konsequenzen für die Vertragsgestaltung und die außergerichtliche Konfliktlösung bestens einbringen können. Dieser Austausch zwischen den vermeintlich zu trennenden Fachgebieten steigert in gehobenem Maße das Qualitätsniveau und kommt damit unmittelbar jedem Empfänger von Beratungsleistungen, also insbesondere dem mandatierenden Unternehmen, zugute. Zugleich erscheint es aber auch den Verantwortlichen einer Rechtsabteilung ratsam, jungen Justitiaren, die sich bewusst gegen eine Tätigkeit in der Rechtsanwaltschaft entschieden haben, zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn die Möglichkeit zu geben, jedenfalls teilweise den forensischen Bereich mitzubetreuen und damit einen Einblick in das Recht der Prozessführung mit seinen besonderen Taktiken zu erhalten. Bei der Inhouse-Beratung dieser Mitarbeiter wird sich diese Qualitäts- und Wissenssteigung früher oder später auszahlen. Der Austausch von Mitarbeitern zwischen Kanzleien und Unternehmen – wechselseitig – in Form der heute genannten „Secondments“ mag hierzu ein richtiger Ansatz sein.

16.1.2 Prozessführung und PR In Fragen der Prozessführung hat sich in jüngerer Zeit aber nicht nur der Bekleidungsstil der Anwaltschaft verändert, sondern die „litigation“ als solche ist von anderer Seiten neuen Anforderungen ausgesetzt. Die Gerichtsreporterin des Spiegel, Gisela Friedrichsen, stellte unter dem Titel „Litigation-PR-Prozessführung über Medien?“5 eine besondere Entwicklung dar, die wiederum Vorbild in den Vereinigten Staaten genommen haben soll. Im Wesentlichen geht es darum, ob und in welcher Form die Instrumentalisierung der Medien der Prozessführung oder dem Erfolg in der Prozessführung Vorschub leisten können. Neben dem „Litigator“ könne dann auch die Spezialisierung des Medienanwalts bedeutsamer werden. Selbst Journalistin, zeigt sich die Autorin durchaus kritisch in Bezug auf die Erfordernisse und Vorteile einer solchen Entwicklung, die auf „leisen Sohlen heranschleicht“. Es wird zu beleuchten sein, was der beauftragte Rechtsanwalt in diesem Zusammenhang überhaupt tun darf und welche besondere Rolle hier dem Inhouse-Juristen zufallen kann.

5Friedrichsen,

ZRP 2010, 263 ff.

3

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C. Laschet

16.2 Die Rechtsabteilung ist Dienstleister des Prozessanwaltes? 4

Es gibt Prozesse, die sind „juristische Selbstläufer“. Dies bedeutet nicht, dass damit keine Arbeit verbunden wäre; diese allerdings konzentriert sich dann auf die tatsächlich juristische und rechtliche Auseinandersetzung. In vielen Bereichen allerdings dominiert bekanntlich in der Prozessführung nicht die Rechtswelt, sondern die Tatsachenwelt. Wer beispielsweise einmal im produzierenden Bereich einen Zuliefererregress geführt hat, nachdem der Hersteller einen Produktrückruf durchführen musste, weiß, wie komplex die Aufarbeitung von Sachverhalten ist, um den Anspruch bei Gericht entsprechend schlüssig zu bekommen. In zahlreichen Rechtsgebieten kommt es auf die detaillierte und dokumentierbare Aufarbeitung des Sachverhaltes an. Selbst der erfahrenste Anwalt wird mit seiner Aufgabenteilung irren, wenn er delegiert, „erarbeiten Sie einmal die Tatsachen, derweil ich die Rechtsausführungen mache.“ Beides geht nur Hand in Hand. Der das Unternehmen begleitende Rechtsanwalt ist in diesem Zusammenhang in besonderer Weise darauf angewiesen, entsprechende Unterstützung und Zuarbeit aus dem Unternehmen zu bekommen, zumeist aus mehreren Fachabteilungen. Es sind Einkauf und Vertrieb, Produktion und Qualitätssicherung, Warenmanagement und Buchhaltung gefragt, um alle Daten entsprechend zusammen zu bekommen. Da allerdings der Prozessanwalt selten die Möglichkeit hat, das Zusammenspiel der Abteilungskräfte im Unternehmen detailliert zu erfassen und das Gegenspiel „intra muros“ zu bewerkstelligen, kommt dem Inhouse-Juristen eine besondere Funktion zu. Ihn als „Dienstleister“ des Rechtsanwaltes in der Prozessführung zu bezeichnen, wäre den Rechtsanwälten wahrscheinlich lieb und teuer, würde möglicherweise auch ihrem Selbstverständnis entsprechen, ginge indes an der Sache vorbei. Der Justitiar ist für den Rechtsanwalt in diesen Fällen unverzichtbarer Partner, weil er in Doppelfunktion sowohl das Unternehmen und die Abläufe kennt, zugleich aber auch weiß, in welcher Art und Weise der Rechtsanwalt zur Klagebegründung oder aber auch zur substantiierten Erwiderung Unterlagen aufbereitet benötigt – und weiß, wo er sie herbekommt. Es ist mühsam, dass – wie es in vielen Unternehmen dennoch geschieht – dem Rechtsanwalt fünf Ansprechpartner in unterschiedlichen Abteilungen genannt werden, verbunden mit der Bitte, die notwendigen Informationen entsprechend zu beschaffen. Ein zentraler Koordinator und Filter ist notwendig und insofern ist effektive Prozessführung nur dann möglich, wenn und soweit sie durch das Justitiariat des Hauses betrieben werden.

16.3 Einzelfragen der Prozessführung – ein Update 16.3.1 Formalisierte und standardisierte Verfahrensabläufe 5

Vielfach verkannt wird, dass die Prozessführung – trotz modernster Kommunikationsformen – durchaus behäbig sein kann und schon zu Beginn und auch währenddessen mit erheblichen Formalismen belastet ist. Organisatorisch und inhaltlich sollten die

16 Prozessführung

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­ esentlichen Aspekte bekannt sein und gleichwohl werden sie nachfolgend nochmals w präsentiert und dort präzisiert, wo sie praktisch immer wieder auf Schwierigkeiten stoßen. 

! Beraterhinweis  Inhouse-Juristen sollten im Rahmen der Prozessführung eine eigene „Prozessakte“ führen. So begleiten sie den prozessführenden Anwalt „parallel“, ebenso den Gerichtsprozess, und können sowohl die erforderlichen Formalitäten nachvollziehen als auch die notwendigen Schritte in der Denklogik des Rechtsanwalts und Gerichts nachvollziehen. In Zeiten der „Digitalisierung“ kann sie sogar elektronisch in Form des „File-Sharings“ erfolgen.

Nachfolgend werden daher einzelne, immer wieder kritische Punkte des Prozessrechts, welche wechselseitigen Austausch benötigen, dargestellt.

16.3.1.1 Zustellungen und Zumutungen Verfahrenseröffnende Schriftsätze sind weiterhin zuzustellen (§§ 253 Abs. 1, 166 Abs. 2 ZPO). Bei Aktiv- wie bei Passivklagen sind die praktischen Aspekte beachtenswert. Klagt das eigene Unternehmen, findet eine Klagezustellung schlicht nur dann statt, wenn die staatliche Gerichtskasse mit den den Prozess finanzierenden Kosten bedacht worden ist (Vorauszahlungspflicht: § 65 GKG). Zur Vermeidung von Unstimmigkeiten sollte im Rahmen der Klagevorbereitung geklärt sein, ob der prozessführende Anwalt den Kostenvorschuss mit der Klage (beispielsweise durch Scheck, sind doch die Gebührenmarken leider etwas aus der Mode gekommen) einreicht, diesen vorfinanzieren soll, die Mittel diesem vorab zur Verfügung gestellt werden oder unmittelbar nach Anforderung und Bekanntgabe des Aktenzeichens vom Unternehmen gezahlt werden. Kann dies im „gewöhnlichen Verfahren“ zwar noch mit Zeit geklärt werden, auch wenn es immer zu Verzögerungen führt, ist bei fristwahrenden Klageeinreichungen aufgrund der Notwendigkeit einer Zustellung demnächst (Rückwirkungsregel des § 167 ZPO) dies ein riskanteres Unterfangen. Zwar muss in diesen Fällen der Kläger nicht mit der Klage den Gerichtskostenvorschuss einzahlen; er darf die Anforderung durch das Gericht immer noch abwarten6 . Aber länger als drei Wochen ist das Zuwarten nicht mehr zulässig; der Kläger muss aktiv nachfragen, von selbst einzahlen oder einen Antrag nach § 65 Abs. 7 GVG stellen7 . Nach Anforderung muss der Vorschuss unverzüglich, spätestens jedoch nach zwei Wochen eingezahlt sein.8 Bei Passivklagen sollte die erste Frage des Prozessanwalts an den Mandanten nicht nach der Höhe des Streitwerts lauten, sondern: „Wann wurde der Schriftsatz zugestellt?“ Von dort an errechnen sich die ein Versäumnisurteil bereits verhindernden Bestellungs- und

6BGH,

NJW 1986, 1347; 1993, 2811. 69, 361 ff. 8BGH, NJW 1986, 1347. 7BGHZ

6

7

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Schriftsatzfristen und – was vielfach in Vergessenheit gerät – in diesem Moment liegen die Ursachen für Zustellungsmängel. In dieser zeitlichen Sphäre ist der Prozessanwalt zumeist noch nicht involviert und die Organisation des Postwesens intern obliegt dem Unternehmen selbst. Umso bedeutsamer ist es aber, dass der Empfänger zumindest für die Aufbewahrung der Briefumschläge oder sonstige Zustellungsurkunden eine entsprechende Organisation aufbaut. Auch die sonstigen Umstände sind zu erfassen, gibt es doch wunderbare und manchmal überraschende Einwände gegen die Wirksamkeit der Zustellung: So ist die Übergabe eines zuzustellenden Schriftstücks in einer nicht verschlossenen Sendung geeignet, die Zustellung ad hoc unwirksam zu machen, weil der Inhalt der Sendung fraglich ist9. „Fehlerhaftes Verhalten“ im Unternehmen kann dann aber zur Heilung nach §§ 189, 295 ZPO führen. Die fehlerhafte Beschriftung eines Umschlages kann die Wirksamkeit der Zustellung schmälern, wenn Identität des Zustellungsadressaten oder der richtige Inhalt der Sendung nicht gewährleistet sind. Was manchem also als „Ausgeburt der Spießigkeit in der Aktenführung“ vorkommen mag, kann prozessual einige Bedeutung entfalten. Daher sind auch Umschläge stets aufzubewahren. 

8

! Beraterhinweis  Der einen Prozess begleitende Inhouse-Jurist sollte – parallel zum Anwalt – ein Grundmaß an Fristen ebenfalls notiert halten. Beginnend mit dem Einzahlungsgebot des Gerichtskostenvorschusses gilt dies auch für Bestellungs- und Schriftsatzfristen.

16.3.1.2 Die Prozessvollmachten Bei den jeweils notwendigen Gerichten postulationsfähige Rechtsanwälte werden grundsätzlich nur tätig, wenn sie von der Mandantschaft einen konkreten Auftrag dazu bekommen. Damit ist aber zunächst lediglich das bürgerlich-rechtliche Grundgeschäft betroffen, ein Vertragsverhältnis zwischen Mandant und Anwalt. Davon gänzlich zu trennen ist die nach § 80 ZPO notwendige Prozessvollmacht. Das Grundsverhältnis ­ kann allerdings – insbesondere bei Sozietäten (hierzu sogleich) – die Prozessvollmacht (Muster Anlage 1) vorbestimmen. Nach § 80 Abs. 1 ZPO hat der Bevollmächtigte in einem Prozess eine Prozessvollmacht vorzulegen. Die Praxis allerdings zeigt, dass auf das Vorlegen der Hauptvollmacht nicht sonderlich viel Wert gelegt wird. Kaum eine Klageschrift enthält heute noch zum Nachweis eine Prozessvollmacht. Dies hat indes seine Ursache zumeist darin, dass bei Vertretung der Partei durch einen Rechtsanwalt (nicht nur beim Anwaltsprozess) eine Vollmachtsüberprüfung nur auf Rüge des Gegners erfolgt. Und eine Vollmachtsrüge wird gemeinhin – trotz des oftmals reklamierten schleichenden Verfalls anwaltlicher Sitten – als unkollegial bzw. unanständig angesehen. Gleichwohl kann man in besonderen Fällen zu diesem Mittel greifen – und dann steht der Prozessvertreter, der keine entsprechende

9BGH,

LM § 167 ZPO Nr. 3.

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353

Vollmacht hat, vielleicht zur falschen Zeit an falscher Stelle. Es ist allerdings mehr ein Ärgernis denn ein erfolgreicher Prozesstrick. Bei Untervollmachten (Muster Anlage 2), die insbesondere bei Terminwahrnehmung vor fernab liegenden Gerichten vom Hauptbevollmächtigten erteilt werden, gilt die Vorlagepflicht ebenso. Dieser Vollmachtstyp hingegen wird regelmäßig von Gerichten sogar „abgefragt“ und um Vorlage eines Nachweises ersucht. In welcher Form dies konkret erfolgt, hängt wiederum sehr von dem jeweiligen Gericht ab. Richtigerweise müsste die Kontrolle dergestalt stattfinden, dass die „Kette von nacheinander geschalteten Vollmachten“ bis zur Partei selbst geführt wird.10 Auch hier kann ein „Böswilliger“ auf der Prozessseite des Gegners wiederum für einigen Unbill sorgen.

9

16.3.1.3 Persönlich oder selbst – Die Anordnung nach § 141 ZPO In der praktischen Prozessführung und im kommunikativen Umgang mit dem man- 10 datierenden Wirtschaftsunternehmen kommt eine Frage immer wieder auf – sowohl bei Beratern als auch bei Unternehmen: Wer muss eigentlich tatsächlich vor Gericht erscheinen, wenn in einem Verfahren das persönliche Erscheinen angeordnet worden ist nach § 141 ZPO? Bei juristischen Personen kommt grundsätzlich nur die Anhörung des gesetzlichen Vertreters, also des Organs Geschäftsführer oder Vorstand oder vergleichbare Positionen in Betracht.11 Bei mehreren Vertretern kann das Gericht in der Anordnung bereits eine konkrete Bestimmung vornehmen,12 wie beispielsweise Finanzgeschäftsführer, Personalgeschäftführer oder vergleichbares. Ist keine Anordnung getroffen genügt es, wenn ein vertretungsberechtigtes Organ erscheint. Für den Fall, dass eine Partei im Termin ausbleibt, kann das Gericht nach § 141 Abs. 3 S. 1 ZPO ein Ordnungsgeld festsetzen. Dies gilt nicht, wenn die Partei zur Verhandlung einen Vertreter entsendet, der zur Aufklärung des Tatbestandes in der Lage und zur Abgabe der gebotenen Erklärungen, insbesondere eines Vergleichsabschlusses, ermächtigt ist. Das Muster für eine solche Vollmacht ist als Anlage 3 zu diesem Kapitel angehängt. Das Erscheinen des Vertreters ist dem persönlichen Erscheinen gleichgesetzt. In Einzelfällen kann dies sogar der Prozessanwalt selbst sein13, wobei die Gegenseite stets einwenden kann, dieser sei – was Voraussetzung ist – zur Aufklärung nicht fähig. Dies ist er nämlich nur dann, wenn er in seiner Eigenschaft als Anwalt mit dem Verfahrensgegenstand in nahezu gleicher Weise in Berührung gekommen ist wie ein Mitglied des Unternehmens.14 Wenn also nicht die vertretungsberechtigten Organe erscheinen, sollte entweder ein Mitglied der betroffenen Abteilung oder aber der Justitiar die Begleitung des Prozesses übernehmen.

10BGH,

NJW-RR 2002, 933. NJW 1965, 106. 12LAG Düsseldorf, MDR 1996, 98. 13Greger, in: Zöller, ZPO, 30. Aufl. § 141 Randnr. 17. 14LAG Frankfurt, NJW 1965, 1042. 11BGH,

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Die gerichtliche Praxis geht heute in zahlreichen Verfahren standardisiert davon aus, schlicht mit jeder Ladung, zumindest zum ersten Termin zur mündlichen Verhandlung, das persönliche Erscheinen der Parteien anzuordnen. Dabei steht im Vordergrund die Idee und der Wunsch, die Parteien aus dem Sachstand heraus, wie er sich aus den vorbereitenden Schriftsätzen ergibt, zum „Vergleich“ oder einer sonstigen gütlichen Einigung zu leiten, was nach mehrfach „modernisiertem“ Prozessrecht (z. B. vorgeschaltetes Güteverfahren) sogar Aufgabe der Richterschaft ist. Gleichwohl sollte die Anordnung des persönlichen Erscheinens für Richter nicht als 11 Automatismus gelten und wenn dies dann doch entsprechend erfolgt, als solcher von den Parteien nicht zwingend angenommen werden. Mit entsprechender Darlegung wird das Gericht auch auf das persönliche Erscheinen verzichten, wobei ein begründeter Antrag durch die Parteien notwendig ist. Aus anwaltlicher Sicht ist in einer Vielzahl von Prozessen sogar dazu zu raten und es stellt sich sodann auch die Frage, ob der/ein begleitender Justitiar im ersten Termin zur mündlichen Verhandlung anwesend sein sollte. Während aus Unternehmenssicht es verständlich ist, dass ein geschulter und mit der Sache vertrauter Vertreter sich einen persönlichen Eindruck vom Verlauf eines Prozesses macht, kann davon in Einzelfällen auch das völlig falsche Signal – das Signal, zur Einigung bereit zu sein, obwohl der Prozessverlauf dazu noch nichts hergibt – ausgehen. Richter nutzen diese Gelegenheit gerade auch in größeren Verfahren dazu, den anwesenden Parteivertreter „einzubinden“, um diesem deutlich zu machen, in welche Richtung der Prozess verlaufen könnte. Daher besteht gebotener Anlass, den Anwaltsprozess, wie er prozessual heißt, auch als solchen zu Beginn laufen zu lassen.

16.3.2 Die Prozesse des Insolvenzverwalters 12 Verunsicherung gibt es immer wieder, wenn Insolvenzverwalter Aktivprozesse gegenüber Unternehmen führen. Die Sorge, viel Arbeit und Kosten zu investieren, aber keinen Erstattungsanspruch zu erhalten, treibt berechtigterweise die Frage nach der richtigen Strategie und dem Umgang mit dem initiierten Verfahren an. Allerdings kann faktisch nur reaktiv gehandelt werden. Eröffnet der Insolvenzverwalter das Verfahren mit einem Prozesskostenhilfeantrag, führt die Verteidigungslinie dahin, dieses abzulehnen, weil die Gläubiger selbst – insbesondere Großgläubiger der Gemeinschuldnerin – für die Vorfinanzierung von Aktivprozessen sich in erster Linie verantwortlich zu zeichnen haben. Wird indes ein Prozess aus den Mitteln der Insolvenzmasse oder aber mit Hilfe von Prozesskostenhilfe geführt, so verbleibt es nahezu bei den prozessualen Regeln der Kostenerstattung, die in „normalen“ Prozessen ebenso greifen. Im Falle des Obsiegens gegen den Insolvenzverwalter steht dem beklagten Prozess13 gegner ein Kostenerstattungsanspruch nach § 91 ZPO zu. Dieser Kostenerstattungsanspruch ist keine einfache, nur mit dem Anteil an der Insolvenzquote zu bedienende Insolvenzforderung, sondern eine sogenannte Masseverbindlichkeit i.  S.  v. §  55 Abs. 1 Nr. 1 InsO, die vorab aus der Insolvenzmasse zu befriedigen ist (§ 53 InsO).

16 Prozessführung

355

Sollten allerdings zum Zeitpunkt der Geltendmachung des Kostenerstattungsanspruchs die Masseverbindlichkeiten durch die Insolvenzmasse nicht gedeckt sein (sog. Masseunzulänglichkeit), werden die Masseverbindlichkeiten nur noch quotal und unter Umständen gar nicht mehr bedient (§ 209 InsO). Ein Risiko, welches nur dadurch abgewendet werden kann, dass die erwähnten Versuche, ein Verfahren überhaupt abzuwenden, zum Erfolg gebracht werden. Die Masseunzulänglichkeit hindert den Insolvenzverwalter nicht, Prozesse zu führen und damit Kostenerstattungsansprüche als (nicht gedeckte) Masseverbindlichkeiten zu begründen, was der Bundesgerichtshof zum Nachteil der dann neuen prozessualen Insolvenzgläubiger entschieden hat. Der Bundesgerichtshof hat hierzu wörtlich entschieden: „Die Insolvenzordnung begründet keine Verpflichtung des Insolvenzverwalters, vor 14 der Erhebung einer Klage oder während des Verfahrens die Interessen des Prozessgegners an einer Erstattung seiner Kosten zu berücksichtigen“15 Insofern bleibt dann lediglich der Gedanke, das besondere Verhalten eines Insolvenzverwalters im Einzelfall einer eigenen Schadensersatzverantwortung zu unterlegen, was allerdings nur in seltenen Fällen in Betracht kommt. Zu begründen wäre eine persönliche Haftung des Insolvenzverwalters nur aus § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung des Prozessgegners. Dies setzt allerdings voraus, dass der Insolvenzverwalter „ins Blaue hinein“ ohne jede Prüfung des Anspruchs in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einen Rechtsstreit „vom Zaune bricht“ oder nur eine „offensichtlich ganz lückenhafte oder sonst auf gänzlich verfehlten Erwägungen beruhende Prüfung der Erfolgsaussichten“ vornimmt.16 Diese Voraussetzungen dürften häufig dann nicht vorliegen, wenn der Insolvenzverwalter beispielsweise durch Einholung von Wirtschaftsund/oder Rechtsgutachten sich eine fundierte Meinung bilden konnte. 

! Beraterhinweis  Bei Aktivprozessen des Insolvenzverwalters sollte zunächst versucht werden, wenn Prozesskostenhilfe beantragt ist, dass der oder die Hauptgläubiger zur Finanzierung des Prozesses aufgefordert werden. Da der Insolvenzverwalter dies vorab schon im eigenen Interesse geprüft haben wird, kann die Abweisung des PKH-Antrags regelmäßig zu einer dauerhaften Erledigung der streitigen Angelegenheit führen.

16.3.3 Prozessführung und Auslandsbezug Besondere Schwierigkeiten der Prozessführung können auftreten, wenn ein Auslandsbezug 15 begründet wird. Dies gilt zum einen dann, wenn das eigene Unternehmen vor ausländischen Gerichten verklagt wird oder aber – möglicherweise vor dem Heimatgericht – nach einer

15BGH, 16BGH,

ZIP 2005, 131. ZIP 2001, 1376, 1379.

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ausländischen Rechtsordnung materiell in Anspruch genommen wird. Für beide Möglichkeiten gibt zwar der ordre public-Vorbehalt einen gewissen Schutz. Der kollisionsrechtliche ordre public-Vorbehalt, der auf materieller Ebene eine Regelung des Deutschen Internationalen Privatrechts vorsieht, dass ausländisches Recht ausnahmsweise dann nicht angewendet werden darf, wenn es wesentlichen Grundsätzen des inländischen Rechts widerspricht, ist in Artikel 6 des EGBGB zementiert. Für die Prozessführung relevant allerdings wird der anerkennungsrechtliche ordre public-Vorbehalt, nachdem ausländische Entscheidungen ausnahmsweise nicht anerkannt bzw. für vollstreckbar erklärt werden dürfen, wenn eine solche Entscheidung mit wesentlichen Grundgedanken des inländischen Rechts in Widerspruch steht. Maßgebliche Regelung hierfür sind § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO sowie Artikel 34 Nr. 1 EuGVVO. Ungeachtet dieses Schutzes allerdings können bereits einzelne nationalprozessuale Maßnahmen im Vorfeld hilfreich sein, um einen möglichst effektiven Schutz der Rechtsproblematiken anderer Rechtsordnungen zu entgehen. Denn – so ist es zutreffend auf den Punkt gebracht – Prozesse im Ausland sind wie das Eindringen in fremde Dickichte, in denen überall Eingeborene mit vergifteten Pfeilen lauern.17 Dies rechtzeitig im Klagevorfeld zu erkennen, ist Aufgabe des Justitiars, weil ein Prozessanwalt bisweilen noch nicht involviert sein dürfte.

16.3.3.1 Zustellungsverhinderung 16 Unter Berufung auf den Grundsatz des ordre public und auch Artikel 13 des Haager Zustellungsübereinkommens kann versucht werden, Zustellungen ausländischer Gerichte gegenüber deutschen Unternehmen dergestalt zu verhindern, dass das für die Zustellung zuständige Gericht eine Entscheidung darüber letztendlich trifft, die Zustellung sei aus dem besagten Grunde unzulässig und sie damit nicht bewirkt. Damit würde im Ergebnis eine Verhinderung des Prozesses im Ausland erreicht, sofern nicht ausländische Prozessstatuten auch eine Form der öffentlichen Zustellung zulassen. Soweit allerdings weit verbreitet der Grundsatz in den Köpfen geistert, fremde Prozessordnungen und auch ausländische materielle Rechtskonstruktionen würden grundsätzlich gegen den ordre public verstoßen und damit auch eine prozessuale Einbindung deutscher Unternehmen verhindern, ist dies nicht zutreffend. Das Gegenteil ist eher der Fall: Zwar hatte das Bundesverfassungsgericht in einem viel beachteten Verfahren18 im Zusammenhang mit der Internet-Tauschbörse Napster eine einstweilige Anordnung gegen die Bewirkung einer Klagezustellung gegen den Bertelsmann-Konzern erlassen, in der Hauptsache allerdings erledigte sich die Sache anderweitig. Weitere Entscheidungen19 deuten darauf hin, dass zum Beispiel US-amerikanische Sammelklagen durchaus auch dem Zustellungskatalog der deutschen Rechtsprechung unterliegen. Auf diesem Weg kann in Zusammenhang mit der Zustellungsverhinderung kann es keine aktive Gestaltungsmöglichkeit geben; es dürfte lediglich versucht werden.

17Rabel,

Deutsches und amerikanisches Recht, RabelsZ 16 (1951), 340. 108, 238. 19OLG München, IPRax 2006, VII; OLG Naumburg, IPRax 2006, VIII. 18BVerfGE

16 Prozessführung

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16.3.3.2 Negative Feststellungsklage und doppelte Rechtshängigkeit Allerdings – wie teilweise auch bei inländischer Prozessführung – kann die (rechtzeitige) 17 Einreichung einer negativen Feststellungsklage Hilfestellung geben.20 Das Unternehmen, gewarnt durch die Drohung einer Klagezustellung vor einem ausländischen Gericht, schafft damit einen Tatbestand der Rechtshängigkeit, der zwar möglicherweise im Ausland nicht berücksichtigt wird, weil die entsprechende Rechtsordnung dies dort nicht anerkennt, der wohl aber dazu führt, dass es zu einem späteren Zeitpunkt einen Vollstreckungseinwand gibt. In § 328 Abs. 1 Nr. 3 ZPO ist ausdrücklich verfasst, dass ausländische Rechtsurteile, die die Grundsätze des Verbots doppelter Rechtshängigkeit nicht beachten, in Deutschland keine Vollstreckbarkeitserklärung erhalten können. Insofern ist dieses Instrumentarium besonderes hilfreich, vorausgesetzt, das Unternehmen kann hinreichend ein Feststellungsinteresse an der negativen Feststellungsklage begründen, was bei Drohung mit einer Klage aber als „Berühmen eines Anspruchs“ genügen dürfte.21

16.3.3.3 Prozesstaktiken Soweit ein Unternehmen der Ansicht ist, dass ein Prozess vor einem ausländischen 18 Gericht unzutreffender Weise geführt wird, weil dessen Zuständigkeit nicht berührt worden ist, sollte anstelle des sich Einlassens auf die Klage darüber nachgedacht werden, das Gegenteil zu tun. Nichtstun, ein durch die Säumnis begründetes Urteil hinnehmen und dann versuchen, unter Berufung auf § 328 Abs. 1 Nr. 1 ZPO in Deutschland die Anerkennung und Vollstreckbarkeitserklärung zu verhindern. Damit verlagert sich das Prozessrisiko in ein originär beheimatetes deutsches Prozessverfahren. Soweit ausländische Rechtsberater allerdings aus anderen Gründen empfehlen, sich auf die Klage einzulassen und damit passiv den Prozess zu führen, ist in jedem Fall darauf zu drängen, nach dem jeweiligen geltenden Prozessrecht eine Zuständigkeitsrüge zu erheben. Wer sich nämlich vorbehaltlos auf die Zuständigkeit eines ausländischen Gerichtes einlässt, kann in einem späteren Anerkennungsverfahren in Deutschland sich möglicherweise nicht mehr auf die Unzuständigkeit des Gerichts berufen.22 nach Absatz bitten einfügen: 16.3.3.4 Internationale Prozesse Nicht zuletzt Großthemen wie „Diesel-Gate“ u. ä. zeigen deutlich, dass Prozessfragen auch weltweit Bedeutung erlangen können, wenn gleiche oder vergleichbare Sachverhalte vor unterschiedlichen Gerichten in unterschiedlichen Jurisdiktionen geführt werden.

20Vgl. hierzu detailliert: Schütze, Klagen vor US-amerikanischen Gerichten – Probleme und Abwehrstrategien, RIW 2005, 579 ff. 21Greger, in: Zöller, ZPO, 30. Auflage, § 256 Randnr. 7 und 14 a. 22BGH, WM 1993, 524; BGH, WM 2007, 1716, in dem dies sogar entschieden wurde, als in I. Instanz die Zuständigkeitsrüge erhoben worden ist, allerdings in der Berufungsinstanz darauf verzichtet wurde.

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Hier kommen auf die Rechtsabteilungen und die prozessführenden Anwälte besondere Aufgaben zu. Im Angesicht öffentlicher Kommunikationsforen ist davon auszugehen, dass kein Prozessvortrag weltweit irgendwie geheim bleibt. Insofern ist in herausragendem Maße sodann darauf zu achten, dass – anwaltlich, aber auch im Unternehmen – gesondert eine prozessuale Koordinationsverantwortlichkeit angesetzt wird, um „einheitlichen Sachvortrag“ global abzusichern. Eine Mammutaufgabe, die nur wenige Prozessrechtler mit Erfahrung unterlegen können. Digital verwendbare Schnittstellen und sprachliche Überprüfungskapazitäten müssen hier aufgebaut sein.

16.3.4 Prozesse und Regresse Eine nachwirkende „Falle“ des Prozessrechts ist die Frage der Regresssicherung. Aufgrund der Streitigkeiten, die einzelne Prozessverhältnisse bieten, wird häufig übersehen, dass Ergebnis eines verlorenen Passivprozesses insbesondere die Frage danach ist, ob für die Verantwortung, die das Unternehmen zu übernehmen hat, möglicherweise ein Regresspartner zur Verfügung steht. Aufgrund der zeitlichen Dauer von Gerichtsverfahren sowie der Besonderheiten der Zulieferverhältnisse mit Auslandsbezug greift hier nicht selten die „Verjährungsfalle“. Bereits zu Beginn eines Prozesses ist es Aufgabe des beratenden Anwalts, allerdings ebenso in Bezug auf die Fakten, die zur Verfügung zu stellen sind, auch der internen Rechtsabteilung, sich dieser Problematik sofort und zeitnah anzunehmen. Die Verjährung etwaiger Regressansprüche, insbesondere dann, wenn es sich um gesamtschuldnerische Ansprüche handelt, kann überraschend zeitnah erfolgen.

16.3.4.1 Grundlagen der Regressierung Regressansprüche können sich aus unterschiedlichsten Rechtsgrundlagen ergeben. Insbesondere aber kommen hierbei vertragliche und klassische deliktische Ansprüche in Betracht, ebenso und vielfach aber auch der Gesamtschuldnerinnenausgleich nach § 426 BGB. Alle diese Anspruchsgrundlagen setzen allerdings voraus, dass im Verhältnis vom regressführenden Unternehmen zum Regressschuldner tatsächlich materielles deutsches Recht anwendbar ist. Danach richtet sich dann auch die Frage der Regressmöglichkeiten. Sofern Regressgläubiger und Regressschuldner jedoch in einem Verhältnis zueinander stehen, welches internationale Bezüge aufweist, ist zunächst die Frage des anwendbaren Regressrechts zwischen den beiden unter Rückgriff auf die sog. ROM-Verordnungen zu klären. Für die vertraglichen Schuldverhältnisse ist insofern insbesondere auf die Artt. 15, 16 ROM I-VO23 abzustellen. Während Art. 15 ROM I-VO die Regressmöglichkeit über

23Verordnung

(EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht vom 17.6.2008, ABl. EU Nr. L177, Seite 6; Ber. 2009, Nr. L309, Seite 87.

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einen gesetzlichen Forderungsübergang regelt, enthält Art. 16 ROM I-VO die Zuordnungen zum internationalen Recht für Fragen des Gesamtschuldnerinnenausgleichs. Nach dieser Regelung gilt verkürzt: Die Frage des Gesamtschuldnerinnenausgleichs richtet sich nach dem Verhältnis, in dem der Schuldner der Hauptleistung gegenüber dem Gläubiger der Hauptleistung international verantwortlich war. Dies führt dazu, dass konstruktiv die Lage entstehen kann, dass der Regressgläubiger dem Hauptgläubiger beispielsweise nach französischem Recht verantwortlich war und nunmehr aufgrund seiner Einstandspflicht nach französischem Recht gegenüber einem weiteren Dritten regressieren möchte. Dieser Regress richtet sich nach französischem Recht, weil das Regressverhältnis entsprechend Art. 16 ROM I-VO dem Hauptverhältnis international folgt. Dies gilt selbst dann, wenn die Gesamtschuldner beide innerhalb der gleichen Rechtsordnung verankert sind. In unserem Ausgangsfall würde dies beispielsweise bedeuten, dass selbst dann, wenn beide Gesamtschuldner der deutschen Rechtsordnung unterliegen und untereinander möglicherweise eine vertragliche Regelung getroffen haben, der Regressanspruch sich aus dem französischem Recht ableitet, so dass in der vorbereitenden Beobachtung bereits auch die Rechtsabteilung aufgefordert ist, Regresssicherung im Ausland sicher zu stellen. Dies gehört nämlich nicht mehr zum Aufgaben und Zuständigkeitsbereich des national betreuenden Anwalts. Eine damit korrespondierende Regelung enthalten Artt. 19, 20 der ROM II-Verordnung24 für das außervertragliche Recht.

16.3.4.2 Handeln vor Vergessen Gerade in Passivverfahren, auch bereits bei außergerichtlicher Inanspruchnahme, konzentrieren sich die Beteiligten zumeist auf die Fragen der Verteidigungslinie. Allerdings sollte – insbesondere auch innerhalb der Rechtsabteilung – bereits von Beginn an die Frage gestellt werden, welcher Dritte möglicherweise im Falle eines Unterliegens mit in die Haftung genommen werden kann. Denn es sind die Verjährungsfragen nach unterschiedlichen Rechtsordnungen, die möglicherweise bei zu spätem Handeln einen Genickbruch verursachen. Hinzu kommt, dass die Aufklärung der vorgenannten internationalen Berührungspunkte bereits deshalb erforderlich ist, um gerade für den Fall der Prozessführung auch international die richtigen Berater hinzuzuziehen. Ist beispielsweise erkennbar, dass ein Verfahren im Ausland geführt wird, nach dessen Rechtsordnung sich später auch der Regress gegenüber einem Dritten ergeben kann, ist bereits mit den Prozessvertretern im Ausland die Frage der Regressführung und der Regresssicherung zu besprechen. Während innerhalb des deutschen Rechts ohne Weiteres Rückgriff genommen werden kann auf das Regresssicherungsmittel der Verjährungsverzichtserklärung (hierzu nachfolgend), kann eine solche Regelung nach ausländischen Rechtsordnungen unzulässig sein.

24Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht vom 11.7.2007, ABl. EU 2007 Nr. L199, Seite 40.

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Hinzu kommt die prozessuale Erfahrung, dass Regressfragen entweder zu Beginn eines Verfahrens gestellt werden oder aber erst dann, wenn in einem Passivverfahren die Verantwortung festgestellt worden ist. Gerade Letzteres kann allerdings deutlich zu spät sein. Denn die Verjährung für einzelne Regressansprüche laufen in der Regel ungeachtet der Frage, ob bereits eine Verantwortung festgestellt worden ist. Für vertragliche Regressansprüche gilt – sofern nicht im Vertrag anderweitige Regelungen getroffen sind – die allgemeine Verjährung nach § 195 BGB und dem Verjährungsbeginn nach § 199 BGB. Für deliktische Ansprüche gilt das gleiche. Und auch für Ansprüche aus einem Gesamtschuldnerinnenausgleich gilt die allgemeine Verjährungsregel, wobei im Rahmen des § 426 BGB zu differenzieren ist zwischen dem Gesamtschuldnerinnenausgleich und dem Forderungsübergang. Für den Befreiungs- und den Ausgleichsanspruch nach § 426 BGB gilt einheitlich die Regelverjährung.25 Es entspricht gefestigter Rechtsprechung, dass der Ausgleichsanspruch nach § 426 Abs. 1 BGB bereits in dem Augenblick entsteht, in dem die mehreren Ersatzpflichtigen dem Geschädigten ersatzpflichtig werden, also mit der Begründung der Gesamtschuld; dies gilt auch, soweit der Ausgleichsanspruch auf Zahlung gerichtet ist. Für eine Kenntnis aller Umstände, die einen Ausgleichsanspruch nach § 426 Abs. 1 BGB begründen und damit relevant für den Verjährungsbeginn sind, ist es erforderlich, dass 1) der Ausgleichsberechtigte Kenntnis von den Umständen hat, die einen Anspruch des Gläubigers gegen den Ausgleichsverpflichteten begründen, 2) von denjenigen, die einen Anspruch des Gläubigers gegen ihn selbst begründen, 3) sowie von denjenigen, die das Gesamtschuldverhältnis begründen, und schließlich 4) von den Umständen, die im Innenverhältnis eine Ausgleichspflicht begründen.26

16.3.4.3 Prozesstaktische Möglichkeiten der Regresssicherung Die von Beginn an einfachste und praktikabelste Gelegenheit, Regressmöglichkeiten langfristig zu sichern ist die Abgabe einer Verjährungsverzichtserklärung, nach der der Schuldner – in der Regel ohne Anerkenntnis in der Sache – auf die Erhebung der Einrede der Verjährung verzichtet, sofern nicht bereits Verjährung zu diesem Zeitpunkt eingetreten ist. Diese Verjährungsverzichtserklärung kann entsprechend befristet abgegeben werden und sollte dann der steten Fristenkontrolle unterlegt werden. Für den Fall, dass ein gerichtliches Verfahren unvermeidlich ist, empfiehlt es sich, die Befristung nicht starr aufzunehmen, sondern flexibel dergestalt vorzunehmen, dass die Befristung binnen einer bestimmten Zeit nach Rechtskraft in einem Verfahren eintritt. So entfällt die teils lästige Befassung immer wieder mit den gleichen Fragestellungen erneuter Verjährungsverzichtserklärungen. Soweit eine Verjährungsverzichtserklärung nicht übereinstimmend abgegeben werden kann, ist vor allem in Bezug auf die Regresssicherung die Streitverkündung nach

25BGH, 26BGH,

NJW 2010, 60. Urt. v. 18.6.2009, Az. VII ZR 167/08 m.w.N.

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§§ 72 ff. ZPO das durchgreifendste Mittel. Während dies im Verhältnis von Klägerund Beklagtenseite im Prozess bekannt ist, spielt im Rahmen der Regresssicherung dies allerdings vor allem dann eine Rolle, wenn mehrere Parteien auf einer Seite streiten und als mögliche Regresspartner oder aber mehrere Parteien als Streitverkündete in Betracht kommen. Lediglich die Streitverkündung untereinander führt dazu, dass die Feststellungen der auf einer Seite des Prozesses stehenden Parteien ihnen gegenüber entsprechende Rechtswirkungen entfalten und auch Regressansprüche zur Verjährungshemmung bringen. Ist also ein potentieller Regressschuldner detektiert worden und hat ein Gerichtsverfahren begonnen, so ist diesem – ungeachtet in welcher Prozesssituation er sich selbst befindet – notwendiger Weise vom Regressgläubiger ein eigener prozessualer Schritt in Form der Streitverkündung entgegenzusetzen, um die vollständige Regresssicherung herzustellen. Auch dies sollte – von taktischen und politischen Fragen ausgenommen – möglichst früh im Rahmen eines Prozesses erfolgen.

16.4 Litigation und PR „Wir leben in einer Medien-Demokratie“ wird häufig gesagt. „Wir leben in einer 19 Medien-Diktatur“ wird gekontert und geklagt. Fakt indes ist: Mediale Überwachung sowohl politischer als auch echter, juristischer Prozesse ist heute nicht mehr verhinderbar. Der Beruf des „Gerichtsreporters“ ist zwar nicht neu und hat schon manch prominentem Fernsehgesicht den Karriereeinstieg in den Journalismus ermöglicht, wobei viele auch in der Journaille der Prozessbeobachtung gelandet sein werden. Die Art und Weise der Prozessberichterstattung und der begleitenden Arbeit in Form von „Public Relation“ hat sich in den vergangenen Jahren massiv gewandelt. Eigentlich eine gefährliche Falle für diejenigen, die einem Berufsethos unterliegen – aber nur dann, wenn es einen Kläger geben würde.

16.4.1 „Litigation–PR“ – eine Begriffserklärung „Litigation-PR“, zu Deutsch wörtlich übersetzt als „Öffentlichkeitsarbeit im Rechts- 20 streit“, wird auch definiert als strategische Rechtskommunikation oder prozessbegleitende Öffentlichkeitsarbeit.27 Durch die Litigation-PR werden unterschiedlichste Fachbereiche miteinander verknüpft. Die Strategie der Prozessführung zum Einen wird verbunden mit der medialen Aufarbeitung entsprechender Vorgänge, um für das in einen Gerichtsprozess involvierte Unternehmen eine bestmögliche Außendarstellung zu erreichen – unabhängig vom Ausgang des Prozesses selbst. In dieser Lage, zwischen juristischen Fachproblemen sitzend und den Bereich der Öffentlichkeitsarbeit pflegend,

27Zosel,

Litigation-PR durch das Bundesverfassungsgericht, Beck-Blog vom 14.4.2009.

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befindet sich insbesondere der Justitiar oder Rechtsabteilungsleiter eines Unternehmens in seiner besonderen Position, wie nachfolgend anhand der wahrzunehmenden Aufgaben dargestellt wird. Feinsinniger Weise kann und sollte dabei möglicherweise unterschieden werden zwischen „Litigation-PR“, womit gemeint und erfasst wäre, wie und in welcher Form über einen Prozess Bericht erstattet wird und welche Einflussnahme hierzu seitens des beratenden Anwaltes und/oder externer Dritter in Zusammenarbeit mit der Rechts- und Öffentlichkeitsabteilung gearbeitet werden kann. Einen fast anderen Bereich zum anderen könnte man nennen, wenn es „PR-Litigation“ heißt, was nämlich eher der Beeinflussung des Prozesses durch entsprechende PR-Arbeit erfassen würde.

16.4.2 Historie 21 Wenn selbst die Wissensplattform Wikipedia den Begriff „Litigation-PR“ als eigenes Stichwort enthält28, so zeigt dies, dass es sich um einen zwischenzeitlich gewachsenen Begriff handelt. Dieser dort gesammelten Information ist zu entnehmen, dass die Litigation-PR ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten von Amerika hat, wo sich in den 1980er Jahren die Erkenntnis durchsetzte, dass die herkömmlichen Mittel und Werkzeuge der Public Relations bei Juristischen Auseinandersetzungen ihre Ziele verfehlen. Für die USA gilt dies insbesondere im Zusammenhang mit den öffentlichkeitswirksamen Versuchen, über „class actions“29 Druck auf die beklagten Unternehmen in Form einer Sammelklage zu unternehmen. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Litigation-PR vor allem in angelsächsischen Ländern wie den USA, Großbritannien und Australien bei juristischen Auseinandersetzungen heute regelmäßig zur Anwendung kommt, wobei sie in Kontinentaleuropa und vor allem im deutschsprachigen Raum erst um das Jahr 2000 herum ihre zeitlichen Anerkennungen und Ursprünge findet. Als Standard wird sie heute aber noch nicht angesehen.30 Dabei stand sicherlich Pate die Tatsache, dass in bestimmten Facetten das US-amerikanische Prozessrecht Vorbildcharakter auch für den deutschen Gesetzgeber hat. So ist zum Beispiel durch die Einführung von zahlreichen Verbandsklagerechten31 eine Konzeption geschaffen worden, nach der nicht unmittelbar in materieller Sichtweise betroffene Verbände die Gelegenheit haben, diese materiellen, vermeintlich bestehenden Ansprüche der ihr zum Schutz befohlenen Klientel klageweise geltend zu machen. Neben der verbesserten Möglichkeit, als Interessenverband entsprechende Ansprüche geltend zu machen, spielt für die Effektivität es selbstverständlich eine Rolle, dass eine hinreichende Öffentlichkeitswirkung für die vom

28http://wikipedia.org/wiki/litigation. 29Vgl.

Der Unternehmensjurist 2011, S. 44. ZRP 209, 228, 229. 31z. B.: § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG; Befugnisse nach dem UKlG. 30Boehme-Neßler,

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Verband verfolgten Interessen erzielt werden kann. Ohne solche wäre dies kaum denkbar. Die immer wiederkehrende Diskussion über „Abmahn-Verfahren“, auch in der Öffentlichkeit, zeigen, welche Bedeutung diese Art und Weise der Prozessführungen flankiert durch Presseberichterstattung haben kann. Wenn dann flankierend der Gesetzgeber Möglichkeiten zur Führung von Musterverfahren schafft, in denen eine Vielzahl gleichgelagerter Interessen gebündelt werden können32 und damit das Prozessrecht weiter modifiziert, verwundert es kaum, dass Unternehmen wie Anwaltskanzleien dieses Thema mehr und mehr aufgreifen und es zwischenzeitlich sogar in Ansätzen wissenschaftlich erfasst wird.33 Insofern ist zwar zu resümieren, dass die Litigation-PR bis heute noch nicht zum Standard-Wissensschatz des deutschen Wirtschaftsanwaltes und auch Justitiars gehört, allerdings massiv sich fortentwickelt.

16.4.3 Strafrechtliche Facetten der Litigation-PR Litigation-PR kann nicht funktionieren, ohne dass Details einer Auseinandersetzung zwi- 22 schen streitenden Parteien an die Öffentlichkeit gelangen. In diesem Zusammenhang hat sich das Bild des sogenannten „Medienanwalts“ gebildet, in denen vermeintliche Experten versuchen, die Kommunikation mit Journalisten in die eigene Hand zu bekommen.34 • Gerade Rechtsanwälte allerdings sollten in diesem Zusammenhang die immer wieder verharmloste Norm des § 203 StGB (Nr. 3) in ihre Gedanken einbeziehen, weil diese sämtliche Offenbarungen von Geheimnissen unter Strafe stellt, insbesondere als Vertrauensperson des Rechtsanwaltes. Geschütztes Rechtsgut der Strafnorm ist der persönliche Lebensbereich, das Individualinteresse der betroffenen Personen, auch bei Unternehmen.35 Abgeleitet aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht dringt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung36 in den Vordergrund, welches grundsätzlich einschließt, dass jeder selbst zu entscheiden hat, wann und innerhalb welcher Grenzen persönlicher Lebenssachverhalte offenbart werden. Die Betriebs- und

32So

im Gesetz über Musterverfahren in kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten (KapMuG) vom 16.8.2005, BGBl I Seite 2437. 33Vgl. hierzu bspw. Gostomzyk, Die Öffentlichkeitsverantwortung der Gerichte in der Mediengesellschaft, Baden-Baden 2006; Holzinger/Wolff, Im Namen der Öffentlichkeit. Litigation-PR als strategisches Instrument bei Auseinandersetzungen, Wiesbaden 2009; Boehme-Neßler, Die Öffentlichkeit als Richter? Litigation-PR als neue Methode der Rechtsfindung, Baden-Baden 2010; Heinrich, Litigation-PR PR vor während und nach Prozessen. Perspektiven Potentiale, Problemfelder, Dissertation, Burtenbach 2010; Engel/Scheuerl, Litigation-PR. Erfolgreiche Medien- und Öffentlichkeitsarbeit im Gerichtsprozess, Köln 2012. 34Friedrichsen, ZRP 2010, 263. 35Rogall, MStZ 1983, 3. 36BVerfGE 65, 1, 43.

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Geschäftsgeheimnisse, die auch nach § 17 UWG – hierzu später – einem Schutz unterliegen, werden von § 203 StGB vollständig erfasst. Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse sind solche, die im Zusammenhang mit dem Geschäftsbetrieb bestehen und an denen der Unternehmer ein wirtschaftliches Interesse hat.37 Sämtliche Tatsachen, die der Anwalt im Rahmen der Erfassung und in Ausübung seines Mandatsauftrages erhält, sind geheim zu halten. Geheim sind diese, wenn sie höchstens einem beschränktem Personenkreis bekannt sind38, was regelmäßig der Fall ist. Geheimnis ist zwar nicht mehr, was Gegenstand einer öffentlichen Gerichtsverhandlung war39, allerdings kann auch im Prozessverfahren das, was zwar zu Gericht gereicht worden ist, aber noch nicht Teil einer öffentlichen Verhandlung war, weiterhin als Geheimnis gelten. Gerade dort offenbaren sich die Probleme der Litigation-PR. Die Offenbarung von Tatsachen ist indes möglich, wenn eine wirksame Einwilligung des Geheimnisgeschützten vorliegt, bei Unternehmen also des Rechtsträgers selbst. Diese Einwilligung kann sich nur auf konkrete bestimmte Geheimnisse beziehen, bei einer Mehrzahl einzelner Tatsachen auf solche, die in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen.40 Soweit in die Offenbarung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen eingewilligt wird, ist erforderlich, dass diese – grundsätzlich formlose – Einwilligung durch das vertretungsberechtigte Organ erteilt wird, regelmäßig also durch die Geschäftsführung oder den Vorstand. In Einzelfällen kann dazu auch eine bevollmächtigte Person, insbesondere Prokuristen aufgrund des Umfangs der Prokura nach HGB, befugt sein. Außerhalb von vertretungsberechtigten Organen und Prokuristen müssten hierfür entsprechende Einzelvollmachten oder Genehmigungen vorliegen. Insofern trägt zwar zunächst der Geheimnisempfänger, mithin der beratende Rechtsanwalt, das Risiko, einen Geheimnisverrat zu begehen. Aber auch der Justitiar, der in der Gesamtstrategie der Litigation-PR mit ihm zusammenarbeitet, unterliegt dem Risiko, im Zusammenhang mit § 203 StGB zumindest Teilnehmer einer Straftat zu sein, die nämlich nach allgemeinen Regeln möglich ist, insbesondere nach § 28 Abs. 1 StGB.41 

! Beraterhinweis Soweit einvernehmlich prozessbegleitend eine Strategie der Litigation-PR auserkoren wird, ist zwischen Rechtsabteilung und Anwalt deutlich festzulegen, welche Tatsachen in welcher Form zu welchem Zeitpunkt veröffentlicht werden. Ein Alleingang des prozessführenden Anwaltes sollte aus beiderseitigem Blickwinkel verhindert werden. Das Unternehmen sollte klar und deutlich festlegen, welche Art von Geheimnissen offenbart

37OLG

Köln, NJW 2010, 166, 167. in MüKo StGB, 3. Auflage, § 203 Randnr. 16. 39OLG Schleswig, NJW 1985, 1090 f. 40Fischer, a. a. O., § 203 Randnr. 32. 41Fischer, a. a. O., § 203 Randnr. 49. 38Cierniak/Niehaus

16 Prozessführung

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werden dürfen und welche geheim bleiben sollen. Sicherzustellen ist, dass eine mit hinreichender Vollmacht versehene vertretungsberechtigte Person die Entscheidungen hierüber trifft und kommuniziert.

• Für den Inhouse-Juristen gilt daneben, dann insbesondere auch als Täter, die Vor- 23 schrift des § 17 UWG, nachdem derjenige, der bei einem Unternehmen beschäftigt ist, im Falle des Verrates von Geschäfts- oder Betriebsgeheimnissen einer entsprechenden strafbewährten Regel unterliegt. Normzweck in diesem Zusammenhang ist insbesondere der Schutz der Unternehmensgeheimnisse, der durch § 18 UWG entsprechend flankiert wird. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu beachten, dass die subjektiven Elemente der Straftat des § 17 UWG für den Fall der Litigation-PR regelmäßig die Verwirklichung des Straftatbestandes scheitern lassen. Denn der in einem Unternehmen Beschäftigte muss diesen Geheimnisverrat entweder zu Zwecken des Wettbewerbs, aus Eigennutz, zugunsten eines Dritten oder in der Absicht, dem Inhaber des Unternehmens zu schaden, begangen haben. Daran dürfte es bei der „gut gemeinten“ prozessbegleitenden PR regelmäßig fehlen. Ungeachtet dessen aber ist auch in Zusammenhang mit § 17 UWG eine Einwilligung möglich, und wirkt zumindest als Rechtfertigungsgrund. Die Einwilligung muss allerdings ebenfalls durch denjenigen erfolgen, der innerhalb des Unternehmens dispositionsbefugt ist, also durch den Unternehmensinhaber und/oder seinen Bevollmächtigten.42 

! Beraterhinweis  Der koordinierende Rechtsabteilungsleiter sollte sich im Falle der Litigation-PR deutlich absichern, inwieweit er die Bevollmächtigung des Unternehmens hat, bestimmte zu offenbarende Tatsachen des Prozesses an die Öffentlichkeit zu tragen. Wenn sich ein Unternehmen für den Weg der Litigation-PR entscheidet, ist es sinnhaft, den Rechtsabteilungsleiter oder einen Justitiar mit der Aufgabe federführend zu betrauen, weil dieser – begleitet durch die PR-Abteilung –für die Wirkung auf die Prozessführung gemeinsam mit dem Rechtanwalt besser zu entscheiden in der Lage ist als ein Nichtjurist.

16.4.4 PR-Litigation Nach der eben dargestellten Differenzierung zwischen der „Litigation-PR“ und „PR-­ 24 Lititgation“ dürfte letztgenanntes dem Zweck dienen, öffentlichen Druck aufzubauen und dadurch Einfluss auf Gerichte und Urteile zu nehmen.43 Dies wäre Sinn und Zweck der PR-Litigation.

42Ohly/Sosnitza,

UWG, 7. Auflage, § 17 Randnr. 27. ZRP 2009, 228, 230.

43Boehme-Neßler,

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Ob und inwieweit in einer Mediengesellschaft, in der alle Bereiche zunehmend auch in Unternehmen und der Justiz sowie der allgemeinen Verwaltung von den Medien durchdrungen werden, ein normales, unvermeintliches Maß an Justizbeeinflussung durch Medienberichte besteht, kann nicht mit letzter Sicherheit beantwortet werden.44 Inwieweit dies allerdings im Einzelfall einen Nutzen bringen kann, kann keinen allgemeinen Regelungen, weder des Prozessrechts noch der vermeintlichen Erkenntnisse von PR-Strategen entnommen werden. Aufgrund der richterlichen Unabhängigkeit und der Besonderheiten jedes einzelnen Richters kann dies schwer kalkuliert werden. Ob man so weit gehen darf und kann die Feststellung zu machen, dass in den Fällen, in denen die Öffentlichkeit zum Richter wird, das verfassungsrechtlich normierte Recht auf den gesetzlichen Richter nach Artikel 101 GG verletzt wird45, ist sicherlich eine spannende Frage, hilft allerdings praktisch wenig weiter. Im Einzelfall muss unter detaillierter Betrachtung des Prozessverlaufes im Einzelnen entschieden werden, wie weit der Bogen der PR-Litigation gespannt werden darf, ohne zu reißen. Denkt man an einige Verfahren, in denen Interessenabwägungen stattzufinden haben, und beobachtet deren Ergebnisse, so kann gerade nicht davon ausgegangen werden, dass massive PR-Litigation das tragende Maß der Zuverlässigkeit hat. Losgelöst von Strafverfahren, so z. B. im bekannten „Kachelmann-Verfahren“, fallen einem im Zivilrecht immer wieder die medialen Begleiterscheinungen bei der vermeintlich volkswirtschaftlichen Auswirkung von Streiks ein, die Verantwortungsgerechtigkeit in Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von bekannten Führungskräften der Wirtschaft bis hin zu kartellrechtlichen Auseinandersetzungen. Ein einheitliches Schnittmuster für die Behandlung der PR-Litigation ist schlicht nicht zu erkennen. Gerade aus diesem Grund bedarf es in Prozessverfahren des immer wieder täglich erneuernden Abwägens, ob und wenn ja in welchem Maße PR-Litigation betrieben wird. Die genauen Umstände, die Erfahrung von Prozessverläufen, die Einschätzung der Persönlichkeit des Richters, sogar bereits die Betrachtung des potentiellen Berufungsgerichtes spielen dabei eine maßgebliche Rolle. Für den Justitiar bedeutet dies, dass er in diesem Zusammenhang innerhalb des eigenen Unternehmens durchaus zum „Prellbock“ werden kann, wenn nämlich Management und Abteilung Öffentlichkeitsarbeit zu einem Mehr an PR-Litigation drängen, Rechtsabteilung und Anwalt allerdings davon abraten, weil sie den Prozessverlauf durchaus anders einschätzen.

16.5 Schlussbetrachtung 25 Die effektive Zusammenarbeit im Rahmen der Prozessführung zwischen Rechtsanwalt und beauftragender Rechtsabteilung und den Justitiaren bedarf beidseitigen Verständnisses für die Organisationsstruktur der jeweiligen Bereiche. Der Prozessanwalt benötigt

44Dies

annehmend Boehme-Neßler, a. a. O. a. a. O.

45Boehme-Neßler,

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zur Vorbereitung ein Grundverständnis der Organisationsstrukturen im Unternehmen, insbesondere auch um notwendige Informationen abfragen und erhalten zu können sowie die unternehmerische Praxis zu verstehen; der Justitiar wiederum braucht zur Aufbereitung derselben ein Verständnis über den Ablauf der Prozesse und kann nur dann eine effektive Prozessführung gewährleisten, wenn ihm auch die formellen Abläufe bekannt sind. Insofern kann er guter und effektiver Begleiter des Prozessanwaltes sein. Einen Unterschied aber muss es noch geben zwischen Rechtsanwalt und Justitiar. Während der Rechtsanwalt und Prozessanwalt das Berufsbild pflegt als selbständiges Organ der Rechtspflege, gilt dies für den Justitiar nach § 46 BRAO eben nicht insoweit, als der angestellte Justitiar nicht die Interessen des Unternehmens vor Gericht in Funktion als Rechtsanwalt ausüben darf. Er darf im Rahmen des Anstellungsverhältnisses überhaupt nicht als Rechtsanwalt für seinen Arbeitgeber vor Gericht tätig werden. Er kann diesen jedoch nichtanwaltlich als Beauftragten vor Gericht vertreten.46 Betrachtet man dieses Tätigkeitsverbot als Prozessanwalt für das eigene Unternehmen, so ergibt sich daraus, dass der Justitiar in dieser Funktion auch keine Robe tragen darf. Die Verpflichtung des Rechtsanwaltes, nach § 20 BORA die Robe als Berufstracht zu tragen, ergibt sich daraus, dass seine Rechtsstellung als unabhängiges Organ der Rechtspflege im Gerichtssaal unterstrichen werden soll.47 Die Robe ist damit Ausdruck der Verpflichtung des Rechtsanwaltes, auch der Rechtspflege und der Rechtsordnung zu dienen. Lediglich als Vertreter anderer Interessen darf und sollte die Robe dem Justitiar als Kleidungsstück zur Verfügung stehen.

46Henssler, 47Hartung,

Bundesrechtsanwaltsordnung, 3. Auflage, § 46 Randnr. 21. in: Römermann-Scharmer § 20 BORA, Randnr. 14 ff.

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Anlage 1

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Anlage 2

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Literatur Boehme-Neßler, Volker (Hrsg.), Die Öffentlichkeit als Richter? Litigation-PR als neue Methode der Rechtsfindung, 2010 Engel, Peter/ Scheuerl, Walter, Litigation-PR. Erfolgreiche Medien- und Öffentlichkeitsarbeit im Gerichtsprozess, 1. Auflage 2012 Fischer, Thomas, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 64. Auflage 2016 Gostomzyk, Tobias, Die Öffentlichkeitsverantwortung der Gerichte in der Mediengesellschaft, 2006 Hartung, Wolfang (Hrsg.), Berufs- und Fachanwaltsordnung, 6. Auflage 2016 Heinrich, Ines, Litigation-PR – PR vor, während und nach Prozessen. Perspektiven – Potenziale – Problemfelder. Diss., Burtenbach 2010. Henssler, Martin/ Prütting, Hanns (Hrsg.), Bundesrechtsanwaltsordnung, Kommentar, 4. Auflage 2014 Holzinger, Stephan/ Wolff, Uwe, Im Namen der Öffentlichkeit. Litigation-PR als strategisches Instrument bei juristischen Auseinandersetzungen, 2009 Piper, Henning/ Ohly, Ansgar/ Sosnitza, Olaf, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, UWG, Kommentar, 7. Auflage 2016 Zöller, Richard (Begr.), Zivilprozessordnung: ZPO, Kommentar, 31. Auflage 2017

Versicherungsrecht

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Mike Weitzel

Syndikusanwälte beraten ihren Dienstherrn regelmäßig in allen wirtschaftsrechtlichen Fragestellungen. Hierzu gehören verständlicherweise auch Fallgestaltungen, die sich rund um das Versicherungsrecht ranken, also Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Abschluss von Versicherungsverträgen oder auch der Betreuung von sog. Versiche­ rungsfällen. Für den Syndikusanwalt geht es im Bereich „Versicherungsrecht“ stets darum, versicherbare Risiken des Dienstherrn zu identifizieren, zu bewerten und letztlich zu bewältigen. Es hängt im Wesentlichen von der Größe des Unternehmens ab, ob er den gesamten Versicherungsbereich zu verantworten hat oder aber die anfallenden Aufgaben auf verschiedene Schultern verteilt werden. Die Anforderungen an den Syndikusanwalt sind hierbei nicht unähnlich denen eines Versicherungsmaklers, der seinen Kunden gegenüber zu „Best Advice“ verpflichtet ist, sprich Auswahl und Aufrechterhaltung des bestmöglichen Versicherungsschutzes schuldet. Gerade das Postulat der Auswahl und Aufrechterhaltung bestmöglichen Versicherungsschutzes erfordert grundsätzliche Kenntnisse im Versicherungsrecht. Nur wer das Versicherungsrecht und seine Usancen kennt, kann im Zweifel Gestaltungsmöglichkeiten erkennen und für den notwendigen Versicherungsschutz Sorge tragen. Der Syndikusanwalt wird sich dabei zwar oftmals der Expertise eines Versicherungsmaklers im Sinne des § 59 Abs. 3 VVG bedienen, etwa aus Haftungsgesichtspunkten oder auch nur, um die teilweise nicht zu unterschätzende Marktmacht gerade großer Versicherungsmaklerunternehmen für sich in Anspruch zu nehmen. Ob nun aber mit oder ohne Hinzuziehung eines Versicherungsmaklers,

M. Weitzel (*)  Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB Rechtsanwälte, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Lenz (Hrsg.), Die Rechtsabteilung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21915-4_17

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M. Weitzel

zumindest grundlegende Kenntnisse im Versicherungsrecht sind für den Syndikusanwalt nicht nur stets von Vorteil, sondern teilweise auch unabdingbare Voraussetzung, um den ihm übertragenen Aufgabenbereich gehörig erfüllen zu können.

17.1 Risikomanagement 2

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Die Identifizierung und Steuerung versicherbarer Risiken ist Teil des dem Unternehmen obliegenden Risikomanagements. Das Risikomanagement erfordert dabei die Überwachung von Risiken durch organisatorische Maßnahmen, was nicht mit einer Pflicht zur versicherungstechnischen Vorsorge gegen alle denkbaren Risiken gleichgesetzt werden kann. Allerdings wird sich für den Unternehmensleiter regelmäßig eine Verpflichtung ergeben, Versicherungsschutz zumindest für erhebliche Risiken zu besorgen, um einer Existenzgefährdung des Unternehmens vorzubeugen1. Die Versicherung als die klassische Maßnahme des Risikomanagements kann an das entsprechende Risiko flexibel angepasst werden. Die Absicherung erfolgt dadurch, dass eine Versicherungsprämie gezahlt wird, deren Höhe von der Schadenintensität, von Maßnahmen der Unternehmensleitung zur Risikoverminderung und von einem Selbstbehalt im Schadenfall abhängt2. Der Bedarf an Versicherungsschutz für Unternehmen kann vielfältig sein; entsprechend vielfältig ist auch das Angebot der Versicherer (z. B. Betriebs-, Produkthaftpflicht und Rückruf, Betriebsunterbrechung, Reputation, IT-Risiken, Forschungs- und Entwicklungsrisiken, Finanzmarktschwankungen, Klimarisiken, politische Unruhen, Terrorismus). Welche Risiken im Einzelnen abzusichern sind, ist maßgeblich vom jeweiligen Geschäftsfeld des Unternehmens abhängig. So erfordert ein in der Bundesrepublik Deutschland in der Immobilienwirtschaft tätiges Unternehmen, dessen unternehmerische Risiken Mietausfall, Leerstand oder Mieterinsolvenz sind, verständlicherweise ein anderes Versicherungskonzept als ein weltweit agierendes Maschinenbauunternehmen, für welches gerade die Absicherung des Produktrisikos existentielle Bedeutung haben kann. Exemplarisch soll daher zunächst ein Überblick der nachfolgenden, für Unternehmen wohl bedeutsamsten Versicherungszweige gegeben werden:

17.1.1 Haftpflichtversicherungen 4

Für ein Unternehmen können die finanziellen Folgen aus einer Schädigung Dritter gravierend sein. Die Haftung von Unternehmen für von ihnen verursachte Schäden wurde

1Vgl. Spindler, in: Münchener Kommentar zum AktG; Bd. 2, § 93, 3. Aufl. (2008), Rn. 28; Lange DStR 2002, 1630; Koch ZGR 2006, 201. 2Klees DStR 1998, 93.

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in den letzten Jahrzehnten im Zuge des Verbraucher- und Umweltschutzes von der Rechtsprechung kontinuierlich ausgeweitet. Ein Serienschaden oder auch ein großer Umweltschaden können selbst größere Unternehmen finanziell überfordern. Haftpflichtversicherungen entlasten die Unternehmen von diesen Risiken. Im Rahmen der Haftpflichtversicherung ist der Versicherer grundsätzlich verpflichtet, den Versicherungsnehmer von Ansprüchen freizustellen, die von einem Dritten auf Grund der Verantwortlichkeit des Versicherungsnehmers für eine während der Versicherungszeit eingetretene Tatsache geltend gemacht werden, und unbegründete Ansprüche abzuwehren, § 100 VVG. Hauptanwendungsgruppen sind die Betriebs-, Produkt-, Umwelt- und Vermögensschadenhaftpflichtversicherung. Diese Versicherungskonzepte bauen – wie grundsätzlich alle Versicherungszweige – auf einem Grundregelwerk nach allgemeinen Bedingungen auf und sehen individuelle Deckungserweiterungen und -beschränkungen, zumeist vereinbart in sog. „Besonderen Bedingungen und Risikobeschreibungen“, vor3. Haftpflichtversicherungen decken grundsätzlich das Risiko, dass das Unternehmen oder eine unter dem Haftpflichtversicherungsvertrag mitversicherte Person von einem Dritten „aufgrund gesetzlicher Haftpflichtbestimmungen privatrechtlichen Inhalts“ auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden4. Der Haftpflichtversicherungsvertrag gibt dem Versicherten einen Anspruch auf Befreiung von rechtlich begründeten Schadensersatzforderungen sowie auf Gewährung von Rechtsschutz zum Zwecke der Anspruchsabwehr. „Gesetzliche Haftpflichtbestimmungen“ sind dabei als Normen zu verstehen, die unabhängig vom Willen der Beteiligten eintreten, in erster Line also deliktische oder quasideliktische Haftungstatbestände sowie Schadensersatzansprüche aus Vertrag. Eine wichtige Ausnahme hiervon bildet indes der sog. „Erfüllungsschadenausschluss“, wonach an die Stelle der Erfüllungsleistung tretende Ersatzansprüche (sog. Erfüllungssurrogate) nicht Gegenstand der Haftpflichtversicherung sein sollen. Eine an die Stelle der Erfüllungsleistung tretende Ersatzleistung liegt immer dann vor, wenn der Schadensersatz das unmittelbare Interesse des Gläubigers am eigentlichen Leistungsgegenstand befriedigen soll5. Den Gegensatz hierzu bilden Schäden, die über das eigentliche Erfüllungsinteresse hinausgehen; diese sind grundsätzlich gedeckt. Ebenfalls vom Versicherungsschutz der Haftpflichtversicherung ausgenommen sind u. a. die Fälle vorsätzlicher und rechtswidriger Herbeiführung des Versicherungsfalls (sog. Vorsatzausschluss)6.

3Eingehender

zur Entwicklung der Haftpflichtversicherung Schulze/Schwienhorst, in: Looschelders/Pohlmann, VVG-Kommentar, 3. Aufl. (2016), Einführung vor § 100, Rn. 2 ff. 4Zur Definition des „Versicherungsfalls“ in der Haftpflichtversicherung vgl. Lücke, in: Prölss/ Martin, VVG, 29. Aufl. (2015), AHB 2008 Nr. 1, Rn. 1 ff. 5BGHZ 23, 349; 43, 88. 6Hierzu auch Weitzel VersR 2006, S. 783 ff.; ders. VersR 2008,S. 955 ff.

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Eine Betriebshaftpflichtversicherung7 deckt das allgemeine Haftungsrisiko aus einem Unternehmen in den Bereichen Handel, Industrie, Gewerbe oder Landwirtschaft ab. Versichert sind zunächst Sach- und Personenschäden und hieraus resultierende Vermögensfolgeschäden (sog. unechte Vermögensschäden). Dies ist für viele Unternehmen nicht risikoadäquat, da „echte“ Vermögensschäden, also Vermögensschäden, denen kein Sach- oder Personenschaden vorausgegangen ist, nicht vom Versicherungsschutz erfasst sind und deshalb zusätzlich versichert werden müssen. Derartiger Versicherungsschutz wird oftmals gerade im Bereich der (fehlgeschlagenen) gewerblichen Weiterverarbeitung dringend benötigt. Über eine Produkthaftpflichtversicherung8 lässt sich das Haftungsrisiko für die ­Produkte eines Betriebes absichern. Die Produkthaftpflichtversicherung wird als Zusatz zur Betriebshaftpflichtversicherung angeboten und bietet Versicherungsschutz im Hinblick auf bestimmte, enumerativ aufgezählte Vermögensschadenpositionen für bestimmte aufgeführte Typen von Weiterverarbeitungstatbeständen. Zentrale Bedeutung hat hierbei der sog. Aus- und Einbaukosten-Baustein, der Versicherungsschutz für den Fall bietet, dass das Gesamtprodukt eines Dritten mangelhaft ist, weil ein darin eingebautes Erzeugnis des Versicherungsnehmers seinerseits mangelhaft ist. Die Produkthaftpflichtversicherung ist daher gerade für Hersteller von Maschinenteilen, Zubehörteilen, Kabeln, Leitungen, Dichtungen, etc. von essentieller Bedeutung. Die faktisch zunehmende Bedeutung von Rückrufen hat darüber hinaus zur Entwicklung spezieller Rückrufdeckungen9 geführt, eine wichtige Versicherung gerade – aber nicht ausschließlich – für den Kfz-Zulieferer-Bereich. Rückrufdeckungen sollen das Risiko absichern, wegen eines durch das Erzeugnis des Unternehmens verursachten Rückrufs in Regress genommen zu werden. Das Produkt-Rückrufrisiko ist in den Produkthaftpflichtversicherungen grundsätzlich ausgeschlossen und muss daher mittels spezieller Rückrufdeckungen gesondert abgesichert werden. Für Unternehmen, von deren Tätigkeit eine Umweltgefährdung ausgeht, bietet sich darüber hinaus der Abschluss einer speziellen Umwelthaftpflichtversicherung10 an, da Schäden durch Umwelteinwirkungen auf Boden, Luft oder Wasser und Gewässer und

7Vgl.

zur Betriebshaftpflichtversicherung Lücke, in: Prölss/Martin, VVG, 29. Aufl. (2015), BetriebsHaftPfl Nr. 7.1.1. 8Eingehend hierzu Lenz, in: van Bühren, Handbuch des Versicherungsrechts, 6. Aufl. (2014), § 12, S. 1201 ff.; ders. in: Looschelders/Pohlmann, VVG-Kommentar, 2. Aufl., (2011), Anhang E (Produkthaftpflichtversicherung), S. 2394 ff. 9Vgl. zu den einzelnen Rückrufkosten-Versicherungen Lenz, in: van Bühren, Handbuch des Versicherungsrechts, 6. Aufl. (2014), § 12, S. 1279 ff., ders. in: Looschelders/Pohlmann, VVG-Kommentar, 2. Aufl. (2011), Anhang E (Produkthaftpflichtversicherung), S. 2394 ff. 10Eingehend zur Umwelthaftpflichtversicherung Laschet, in: Looschelders/Pohlmann, VVGKommentar, 3. Aufl. (2016), Anhang F (Umwelthaftpflichtversicherung), S. 1649 ff.

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alle sich daraus ergebenden weiteren Schäden in einer Betriebshaftpflichtversicherung regelmäßig ausgeschlossen sind. Eine besondere Form der Vermögensschadenhaftpflichtversicherung ist die sog. D&O-Versicherung11 (Directors & Officers Liability Insurance), eine Haftpflichtversicherung für Unternehmensleiter und leitende Angestellte. Diese Versicherung dient dem Schutz der Organmitglieder vor möglicher Inanspruchnahme auf Schadenersatz wegen Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit ihrer Organtätigkeit. Abgesichert sind regelmäßig sowohl Schadensersatzansprüche des Unternehmens selbst (Innenhaftung) als auch Ansprüche Dritter (Außenhaftung). Kennzeichnend für die D&O-Versicherung ist das sog. Claims-made-Prinzip, das Anspruchserhebungsprinzip. Der Versicherungsfall ist nicht bereits die behauptete Pflichtverletzung oder das behauptete Schadenereignis, sondern die – zumeist schriftliche – Geltendmachung des Haftpflichtanspruchs gegen die im Versicherungsvertrag benannte jeweilige versicherte Person12. Die Pflichtversicherung ist gem. § 113 Abs. 1 VVG eine Haftpflichtversicherung, zu deren Abschluss eine Verpflichtung durch Rechtsvorschrift besteht (z. B. gem. § 34 d Abs. 2 Nr. 3 GewO für Versicherungsvermittler). Die Verpflichtung zum Abschluss einer Versicherung kann sich auch aus einer (EU-)Verordnung oder der Satzung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft ergeben13 (z. B. für die Architektenhaftpflicht oder die Berufshaftpflicht des Ingenieurs nach den jeweiligen Landesbauordnungen, Architektengesetzen oder Berufsordnungen der Länderkammern). Die Pflichtversicherung kann gem. § 113 Abs. 1 VVG grundsätzlich nur mit einem im Inland zum Geschäftsbetrieb befugten Versicherungsunternehmen (Erlaubnis nach §§ 5 ff. VAG) geschlossen werden. Soll mit einem Versicherungsunternehmen mit Sitz in der EU oder auch außerhalb der EU kontrahiert werden, sind besondere aufsichtsrechtliche Vorgaben zu beachten14. Zu den Pflichtversicherungen zählt auch die Kfz-Haftpflichtversicherung15. Diese bietet Versicherungsschutz für den Fall, dass durch den Gebrauch eines versicherten Fahrzeuges Personen verletzt oder getötet, Sachen beschädigt oder zerstört werden oder hieraus Vermögensschäden entstehen. Wird ein eigenes Fahrzeug beschädigt, bietet eine Kasko-Versicherung Schutz. Je nach Größe des zu versichernden Fuhrparks werden von den Versicherern individuelle Versicherungslösungen mit individuellen Selbstbehalten und Beitragsmodellen angeboten.

11Grundlegend

zur D&O-Versicherung Olbrich, Die D&O-Versicherung, 2. Aufl. (2007). hierzu Lenz/Weitzel, Kein Eintritt des Versicherungsfalls in der D&O-Versicherung bei fehlender "ernstlicher Inanspruchnahme", PHi 2013, S. 170 ff. 13Schwartze, in: Looschelders/Pohlmann, VVG-Kommentar, 3. Aufl. (2016), § 113, Rn. 5 m. w. N. 14Eingehender hierzu Schwartze, a. a. O., Rn. 10 ff. 15Kommentiert bspw. bei Knappmann, in: Prölss/Martin, VVG, 29. Aufl. (2015), AKB 2008. 12Vgl.

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17.1.2 Sachversicherungen 10 Essentiell gerade für produzierende Unternehmen ist die Absicherung des Anlagevermögens und der Immobilien. Die Sachversicherung16 deckt hierbei das Risiko, dass durch einen versicherten Schaden Gebäude, Betriebseinrichtung oder Betriebsmittel und Fabrikate zerstört oder beschädigt werden. Mit einer Gebäudeversicherung wird Versicherungsschutz im Hinblick auf bestimmte Gefahren (z. B. Brand, Blitzschlag, Explosion, Leitungswasser, Sturm oder Überschwemmung) gewährt. Ersetzt wird grundsätzlich der Versicherungswert zum Eintritt des Schadenfalls (Ersatzwert), wobei für den Fall, dass die Versicherungssumme niedriger ist als der Ersatzwert (Unterversicherung), entsprechende Kürzungen an der Versicherungsleistung vorgenommen werden. Sinnvoll ergänzt wird die Gebäudeversicherung beispielsweise durch eine Betriebsversicherung, welche speziell die Betriebseinrichtung und den Warenbestand absichert. Die Betriebsunterbrechungsversicherung17 bietet Versicherungsschutz für den ansonsten ausgeschlossenen Ertragsausfall. Der versicherte Ertragsausfall umfasst hierbei regelmäßig den entgangenen Gewinn nebst dem Aufwand an fortlaufenden Kosten für den Zeitraum der Betriebsunterbrechung. 11 Zur Sachversicherung zu zählen sind auch die sog. technischen Versicherungen wie z.  B. die Maschinenversicherung und die Elektronikversicherung (bzw. auch die Maschinen-Betriebsunterbrechungsversicherung und die ElektronikBetriebsunterbrechungsversicherung). Hiermit wird Versicherungsschutz für unvorhersehbar eintretende Schäden an Maschinen, maschinellen Einrichtungen und technischen Anlagen bzw. an Anlagen und Geräten der Informations- und Kommunikationstechnik bereit gestellt. Mit einer Transportversicherung18 lassen sich Unternehmensgüter versichern, die mit eigenen Transportmitteln oder von gewerblichen Transportunternehmen befördert werden. Sie umfasst Schäden, die bei Land-, Luft- oder Seetransporten bzw. transportbedingten Lagerungen entstehen können. Der Versicherungsschutz beginnt, sobald die Güter zum Transport von der Stelle entfernt werden, an der sie bisher aufbewahrt wurden. Er endet, sobald die Güter am Ablieferungsort an die Stelle gebracht sind, die der Empfänger bestimmt hat; abweichend hiervon können auch andere Vereinbarungen getroffen werden.

16Vgl.

hierzu Heyers, in: Looschelders/Pohlmann, VVG-Kommentar, 3. Aufl. (2016), Abschn. 2 (Sachversicherung), S. 744 ff. 17Zur betriebswirtschaftlich besonders bedeutsamen Feuer-Betriebsunterbrechungsversicherung vgl. Markert, in: van Bühren, Handbuch Versicherungsrecht, 6. Aufl. (2014), § 23, S. 2606. 18Eingehend zur Transportversicherung Ehlers, in: van Bühren, Handbuch Versicherungsrecht, 4. Aufl. (2009), § 19, S. 2261 ff.

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17.1.3 Rechtsschutzversicherungen Die Rechtsschutzversicherung19 ist eine Schadensversicherung, sie deckt das finanzielle 12 Risiko eines Rechtsstreits ab. Der Versicherer übernimmt die dem Versicherungsnehmer im Rechtsschutzfall entstehenden Kosten (z. B. Rechtsanwalts-, Gerichts- und Sachverständigenkosten). Der sog. Firmen-Rechtsschutz bietet hierbei Versicherungsschutz für Streitigkeiten aus der gewerblichen, selbständigen oder freiberuflichen Tätigkeit bzw. für Streitigkeiten des versicherten Unternehmens. Welche konkreten Leistungsarten bzw. Leistungspakete versichert sind, hängt vom Inhalt des jeweiligen Rechtsschutzversicherungsvertrages ab. Typischerweise umfasst der Firmen-Rechtsschutz den Schadensersatz-Rechtsschutz, den Arbeits-Rechtsschutz, den Sozialgerichts-Rechtsschutz, den Disziplinar- und Standes-Rechtsschutz, den Strafrechts-Schutz und den Ordnungswidrigkeiten-Rechtsschutz. Besonderer Bedeutung kommt dem Straf-und Ordnungswidrigkeiten-Rechtsschutz und dem Arbeits-Rechtsschutz zu, die im Hinblick auf das finanzielle Risiko den Großteil aller Rechtsschutzfälle ausmachen.

17.1.4 Kreditversicherungen Warenlieferanten und Dienstleister können ihr Forderungsausfallrisiko, dass sie durch 13 die Einräumung eines Zahlungsziels eingehen, durch eine sog. Warenkredit- oder Ausfuhrkreditversicherung begrenzen20. Sofern versicherte und rechtlich begründete Forderungen aus Warenlieferungen oder Dienstleistungen während der Laufzeit des Kreditversicherungsvertrages aufgrund der Insolvenz des Schuldners oder solcher Gründe, die der Insolvenz im Versicherungsvertrag gleichgestellt sind (z. B. Fruchtlosigkeit der Zwangsvollstreckung), ausfallen, gewährt der Kreditversicherer hierfür im Rahmen der Versicherungsbedingungen Entschädigung. Relativ verbreitet ist auch die Vereinbarung des Versicherungsfalls „protracted default“. Hiernach tritt der Versicherungsfall schon dann ein, wenn eine Forderung nach Überschreiten der vertraglich vereinbarten Fälligkeit binnen einer bestimmten Karenzfrist nicht gezahlt wird, ohne dass der Kunde deshalb gleich insolvent sein müsste. In Erweiterung der klassischen Kreditversicherung können auch sog. politische Risiken (Krieg, Revolution, Embargo, etc.) mitversichert werden, bzw. Risiken, bei denen der klassische Kreditversicherungsschutz nicht greift. Dazu zählen die Einzelabsicherung

19Instruktiv

zur Rechtsschutzversicherung in der Praxis Cornelius-Winkler, Rechtsschutzversicherung, 2. Aufl. (2008). 20Eingehend Langen/Meiners, in: van Bühren, Handbuch Versicherungsrecht, 4.  Aufl. (2009), § 21 (Warenkreditversicherung), S. 2439 ff; desweiteren Weitzel, Vertrauensschadenversicherung/ Private Kreditversicherung, 1. Aufl. (2014), S. 39 ff.

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bestimmter Transaktionen, die Investitionsgüterkreditversicherung, die Absicherung von Währungsrisiken/Wechselkursschwankungen und die Verbriefung von Kreditrisiken und Bürgschaften (Asset-Backed-Securities). Zum weiteren Angebot der Kreditversicherung zählt auch das Factoring zur Sicherung von Cashflow und Liquidität. 14 Charakteristisch für die klassische Kreditversicherung ist die Vereinbarung eines vom Versicherungsnehmer zu tragenden und nicht anderweitig zu versichernden Selbstbehalts. Die maximale Entschädigungssumme ist grundsätzlich die Versicherungssumme abzüglich des Selbstbehalts. Hiermit soll der Versicherungsnehmer, der dadurch jedenfalls ein eigenes Ausfallrisiko trägt, angehalten werden, seinen vertraglichen Obliegenheiten nachzukommen und die Bonität seiner Kunden sorgfältig im Auge zu behalten.

17.1.5 Vertrauensschadenversicherungen 15 Mit einer Vertrauensschadenversicherung kann sich das Unternehmen vor Vermögenseinbußen schützen, die es durch vorsätzliche unerlaubte Handlungen (Unterschlagung, Untreue, Betrug, etc.) eigener Mitarbeiter erleidetn. Weitzel, Vertrauensschadenversicherung/ Private Kreditversicherung, 1. Aufl. (2014), S. 39 ff. Die Bedeutung der Vertrauensschadenversicherung wächst zunehmend21. Mittlerweile werden nicht nur Deckungskonzepte angeboten für Vermögensschäden, die das Unternehmen aufgrund krimineller Handlungen eigener Mitarbeitern oder sog. Vertrauenspersonen erleidet, sondern auch für solche Schäden, die ihm durch außenstehende Dritten zugefügt werden, insbesondere Hacker-Schäden. Versicherbar sind des weiteren auch Schäden durch Geheimnisverrat und Industriespionage. Die Abgrenzung zwischen Vorsatz (auch Eventualvorsatz) und grober Fahrlässigkeit bereitet in der Praxis oftmals erhebliche Schwierigkeiten. Optional wird vor diesem Hintergrund von verschiedenen ­Versicherern oftmals eine Zusatzdeckung für fahrlässig verursachte Schäden angeboten, die der Versicherungsnehmer – gegen Mehrprämie – erwerben kann und bei welcher die ­Haftung des Versicherers regelmäßig auf ein Sublimit reglementiert ist. Die Ersatzleistung des Versicherers ist durch die Versicherungssumme und einen etwaig vereinbarten Selbstbehalt des Versicherungsnehmers beschränkt. Ein wichtiger Ausschlussgrund ist die Kenntnis des Versicherungsnehmers von einer vorherigen vorsätzlichen unerlaubten Handlung des Mitarbeiters. In der Praxis kommt es nämlich nicht selten vor, dass ein Mitarbeiter be- oder weiterbeschäftigt wird, obgleich dem Unternehmen bekannt ist, dass dieser Mitarbeiter bereits früher einmal eine Vermögensstraftat begangen hat. Derartige Mitarbeiter sind indes vom Versicherungsschutz der Vertrauensschadenversicherung grundsätzlich ausgenommen. Ebenso ausgenommen sind

21Von

Bergner, in: van Bühren, Handbuch Versicherungsrecht, 6. Aufl. (2014), § 20, Rn. 1 m. w. N.

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­ ermögensschäden, die von persönlich haftenden Gesellschaftern mit einem AnteilsV besitz von mehr als 15 % verursacht werden, ein Ausschluss, der der persönlichen Verflechtung von Täter und Versicherungsnehmer geschuldet ist.

17.1.6 Internationale Versicherungsprogramme Ist ein Unternehmen multinational aufgestellt, bedarf es eines internationalen Ver- 16 sicherungsprogramms, um den jeweiligen nationalen steuerlichen und gesetzlichen Anforderungen der ausländischen Gesellschaften genügen zu können. Charakteristisch für ein internationales Versicherungsprogramm ist dabei das Zusammenspiel von lokalen Policen der jeweiligen ausländischen Niederlassungen und Tochtergesellschaften und der sog. Masterpolice der Muttergesellschaft. Durch die lokalen Policen erhalten die ausländischen Gesellschaften eine Grunddeckung, die den jeweiligen nationalen deckungsrechtlichen Besonderheiten Rechnung trägt. Die Risiken im Land der Muttergesellschaft werden über die Master-Police abgesichert. Um gleichzeitig ein weltweites einheitliches Deckungskonzept zu gewährleisten, ist darüber hinaus in der Masterpolice eine sog. DIC/DIL-Deckung vorgesehen. DIC (= Difference in conditions) meint Konditionsdifferenzdeckung, DIL (= Difference in limits) steht für Summendifferenzdeckung. Hintergrund der DIC/DIL-Deckung ist es, etwaige Deckungslücken der lokalen Policen aufzufangen. Reicht also der Deckungsschutz der lokalen Police im Hinblick auf das versicherte Risiko (Konditionsdifferenz) oder im Hinblick auf die Versicherungssummen (Summendifferenz) nicht aus, greifen subsidiär die Bedingungen und Versicherungssummen der Masterpolice. Im Ergebnis steht damit der Deckungsumfang der Masterpolice in voller Höhe weltweit zur Verfügung. Zusätzlich vereinbart werden kann auch eine sog. Reverse DIC-Deckung (umgekehrte Konditionsdifferenzdeckung). Hiermit werden im Ergebnis Sonderbedingungen der lokalen Policen für die dort versicherten Unternehmen auch auf die Masterpolice erstreckt. Sollte sich also das Sonderrisiko einer lokalen Police verwirklichen, stehen hierfür auch die Versicherungssummen der Masterpolice zur Verfügung.

17.1.7 Exzedentenversicherung Eine besondere Form der Summendifferenzdeckung ist die Exzedentenversicherung. Hierbei handelt es sich um eine Deckungserweiterung, mit der bestimmte Risiken, die nicht oder nur bis zu einer niedrigeren Versicherungssumme versichert sind, in einem gesonderten Versicherungsvertrag – im Anschluss an den sog. Grundvertrag (Primary) – von einem weiteren Versicherer oder einem Versicherungskonsortium übernommen werden. Der Versicherungsschutz einer Exzedentenversicherung stockt also eine bereits vorhandene Grundversicherung um die vereinbarte Versicherungssumme auf.

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17.1.8 Betriebliche Altersversorgung 17 Nicht zur unternehmerischen Risikovorsorge, gleichwohl zum Bereich Versicherungsrecht ist die betriebliche Altersversorgung22 zu zählen. Sie beruht auf einer arbeitsrechtlichen Zusage des Arbeitgebers auf Versorgungsleistungen bei Eintritt eines bestimmten biologischen Ereignisses (Alter, Invalidität, Tod)23. Obgleich die betriebliche Altersversorgung damit an sich ein arbeitsrechtliches Rechtsgebiet ist, gibt es durchaus Berührungspunkte mit dem Versicherungsrecht, nämlich dann, wenn als Durchführungsweg nicht die Direktzusage des Arbeitgebers, sondern ein mittelbarer Durchführungsweg wie etwa die Direktversicherungszusage gewählt wurde. Bei der Direktversicherungszusage schließt der Arbeitgeber eine Lebensversicherung auf das Leben des Arbeitnehmers ab. In diesem Fall entsteht – wie auch bei der Pensionskassenzusage – ein Dreiecksverhältnis zwischen Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Versicherer. Das Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestimmt sich nach Arbeitsrecht, das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Versicherer und zwischen Arbeitnehmer und Versicherer hingegen nach dem Versicherungsvertrag mit der Folge, dass dem Versorgungsträger bspw. Beratungs- und Informationspflichten gegenüber dem Arbeitgeber als Versicherungsnehmer obliegen, § 7 Abs. 1, 2 VVG i.V.m. §§ 1, 2 InfoV.

17.2 Vertragsmanagement 18 Sind die zu versichernden Risiken selektiert, muss entsprechender Versicherungsschutz gekauft werden. Das hiermit zusammenhängende Vertragsmanagement umfasst im Wesentlichen den Abschluss der Versicherungsverträge und deren Betreuung, Koordination und Fortschreibung, aber auch die Anpassung des Versicherungskonzeptes an etwaig geänderte Risikolagen.

17.2.1 Vertragsschluss 19 Versicherungsverträge wurden bis Einführung des „neuen“ VVG zum 1.1.2008 regelmäßig nach dem sog. Policenmodell geschlossen. Dabei stellte der Versicherungsnehmer den Antrag auf Abschluss eines Versicherungsvertrages, ohne dass ihm zu diesem Zeitpunkt bereits die Versicherungsbedingungen oder Verbraucherinformationen nach § 10 a VAG vorlagen. Mit Übersendung der Police (inklusive der Bedingungen und Verbraucherinformationen) kam sodann der Versicherungsvertrag zu Stande. Nunmehr regelt

22Siehe hierzu auch Clemens, in: Looschelders/Pohlmann, VVG-Kommentar, 3. Aufl. (2016), Anhang P (Betriebliche Altersversorgung), S. 1849 ff. 23Clemens, a. a. O., Rn. 3.

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§ 7 VVG, dass der Versicherer den Versicherungsnehmer „rechtzeitig vor Abgabe der Vertragserklärung“ zu informieren hat. Die Vertragserklärung des Versicherungsnehmers meint hierbei seine auf den Vertragsschluss gerichtete Erklärung, sei es nun Angebot oder Annahme. Zweck der Neuregelung ist es, dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit zu geben, das Produkt des Versicherers zu bewerten und zu vergleichen. Für die Einbeziehung der Versicherungsbedingungen in den Versicherungsvertrag gelten die allgemeinen Regeln, §§ 305 ff. BGB.

17.2.2 Großrisiken Eine Besonderheit stellen sog. Großrisiken dar. Der Begriff des Großrisikos ist in § 210 20 Abs. 2 VVG definiert. Hiernach stellen manche Versicherungen allein aufgrund ihrer Spartenzugehörigkeit (z. B. Kredit- und Kautionsversicherungen) ein Großrisiko dar, andere Versicherungen dann, wenn bestimmte Größenmerkmale des versicherten Unternehmens (Bilanzsumme, Nettoumsatzerlöse, durchschnittliche Arbeitnehmerzahl im Wirtschaftsjahr) überschritten sind. Für Großrisiken und die sog. laufende Versicherung24 können die ansonsten zwingenden Vorschriften des VVG, die eine Beschränkung der Vertragsfreiheit vorsehen, durch Individualvereinbarung oder Allgemeine Versicherungsbedingungen25 grundsätzlich abbedungen werden, da der Gesetzgeber davon ausgeht, dass es an einem besonderen Schutzbedürfnis des – typischerweise – geschäftserfahrenen Versicherungsnehmers fehlt. Die zwingenden Vorschriften verwandeln sich insoweit in dispositives Recht. Auch bestehen für Großrisiken keine besonderen Beratungs- und Dokumentationspflichten und auch ein gesetzliches Widerrufsrecht des Versicherungsnehmers ist nicht vorgesehen.

17.2.3 Vorvertragliche Anzeigepflichten Von erheblicher Bedeutung im Zusammenhang mit dem Abschluss von Versicherungs- 21 verträgen sind die vorvertraglichen Anzeigepflichten. Nach § 19 Abs. 1 VVG hat der Versicherungsnehmer bis zur Abgabe seiner Vertragserklärung alle gefahrerheblichen Umstände anzuzeigen, die ihm bekannt sind und nach denen der Versicherer in Textform gefragt hat. Gefahrerhebliche Umstände sind solche Umstände, die für den Entschluss des Versicherers, den Vertrag zu den vereinbarten Konditionen abzuschließen, von Bedeutung sind, was im Zweifel vom Versicherer zu beweisen ist. Wird die

24Die laufende Versicherung ist gem. § 53 VVG ein Vertrag, bei welchem das versicherte Interesse bei Vertragsschluss zunächst nur der Gattung nach bezeichnet wird und erst nach seiner Entstehung dem Versicherer einzeln aufgegeben wird (Beispiel: Transportversicherung von Gütern). 25Vgl. hierzu Wolf, in: Looschelders/Pohlmann, VVG-Kommentar, 3. Aufl. (2016), § 210, Rn 8.

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Anzeigeobliegenheit – schuldlos oder einfach fahrlässig – verletzt, steht dem Versicherer ein einmonatiges Kündigungsrecht zu. Handelt der Versicherungsnehmer grob fahrlässig oder vorsätzlich, kann der Versicherer zurücktreten, bei Arglist kann er nach § 123 BGB anfechten. Das Rücktrittsrecht des Versicherers wegen grobfahrlässiger Verletzung der Anzeigepflicht und sein Kündigungsrecht sind gem. § 19 Abs. 4 VVG indes ausgeschlossen, wenn der Versicherer den Vertrag – in Kenntnis der nicht angezeigten Umstände – gleichwohl geschlossen hätte, wenn auch zu anderen Konditionen. In diesen Fällen steht dem Versicherer lediglich ein Vertragsanpassungsrecht zu.

17.2.4 Gefahrerhöhungen 22 Zu den Anzeigeobliegenheiten des Versicherungsnehmers gehört auch die Verpflichtung, dem Versicherer sog. Gefahrerhöhungen zu melden. Unter Gefahrerhöhung versteht man die nachträgliche Änderung der bei Vertragsschluss tatsächlich vorhandenen gefahrerheblichen Umstände, die den Eintritt eines Versicherungsfalls oder eine Vergrößerung des Schadens wahrscheinlich macht26. Auch die „Vertragsgefahr“, d. h. die Gefahr unberechtigter Inanspruchnahme, zählt hierzu. Der Versicherer trägt nicht nur die Gefahr eines Versicherungsfalls, sondern auch die Gefahr, dass er in Anspruch genommen wird, obwohl er nach dem Vertrag nicht haftet oder gar kein Schaden eingetreten ist (z. B. fingierter Versicherungsfall). Umstände, die eine Erhöhung dieser Vertragsgefahr betreffen, sind ebenfalls anzuzeigen. Da eine solche „Verschiebung“ das vereinbarte Gleichgewicht von Gefahrenlage und Prämie stört, muss dem Versicherer das Recht zur Anpassung oder Auflösung des Vertrages eingeräumt werden27. Ohne Einwilligung des Versicherers ist der Versicherungsnehmer nicht berechtigt, eine Gefahrerhöhung vorzunehmen oder deren Vornahme durch einen Dritten zu gestatten. Erkennt der Versicherungsnehmer erst nachträglich, dass er ohne Einwilligung des Versicherers eine Gefahrerhöhung vorgenommen oder gestattet hat (subjektive Gefahrerhöhung), ist er zur unverzüglichen Anzeige verpflichtet. Das Gleiche gilt, wenn eine Gefahrerhöhung unabhängig vom Willen des Versicherungsnehmers eintritt (objektive Gefahrerhöhung). Verstößt der Versicherungsnehmer gegen diese Verpflichtungen, kommen gem. den §§ 24 ff. VVG – abhängig vom jeweiligen Verschuldensgrad – diverse Reaktionsmöglichkeiten des Versicherers in Betracht (Kündigung, Prämienerhöhung, Ausschluss, Leistungsfreiheit oder Leistungskürzung).

26BGHZ

42, 295. in: Looschelders/Pohlmann, VVG-Kommentar, 3. Aufl. (2016), § 23, Rn. 1.

27Looschelders,

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17.2.5 Vertragliche Obliegenheiten Von wesentlicher Bedeutung für den Versicherungsschutz sind die versicherungsver- 23 traglichen Obliegenheiten, mit welchen dem Versicherungsnehmer bestimmte Pflichten (Auskunfts-, Mitteilungs-, Anzeige- und Verhaltenspflichten) auferlegt werden und deren Nichtbeachtung im Einzelfall zum teilweisen oder vollständigen Verlust des Versicherungsschutzes führen kann.

17.2.5.1 Rechtsnatur Versicherungsvertragliche Obliegenheiten sind ihrer Rechtsnatur nach keine erzwing- 24 baren, bei Nichterfüllung in eine Schadensersatzpflicht übergehenden Verbindlichkeiten, sondern vielmehr – nach wohl herrschender Auffassung – vom Versicherer formulierte Voraussetzungen für die Erhaltung des Anspruchs auf dem Versicherungsvertrag (sog. Voraussetzungstheorie) oder im eigenen Interesse des Versicherungsnehmers zu befolgende Verhaltensnormen28. Im Unterschied etwa zu im Versicherungsvertrag definierten Risikobegrenzungen oder Entschädigungsvoraussetzungen, für die charakteristisch ist, dass Versicherungsschutz von Anfang an nicht oder nur begrenzt zur Verfügung gestellt wird, knüpfen versicherungsvertragliche Obliegenheiten – obgleich die Abgrenzung im Einzelfall schwierig sein kann – grundsätzlich an ein nachlässiges Verhalten des Versicherungsnehmers an, welches dazu führen kann, dass ein eigentlich zugesagter Versicherungsschutz nachträglich ganz oder teilweise wieder entzogen wird. Der gehörigen Erfüllung der versicherungsvertraglichen Obliegenheiten ist daher – gerade im Schadensfall – besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

17.2.5.2 Arten Grundsätzlich unterschieden werden müssen Obliegenheiten, die vor Eintritt des Ver- 25 sicherungsfalls zu erfüllen sind, und solche, die nach Eintritt des Versicherungsfalls zu erfüllen sind. Verletzt der Versicherungsnehmer – vorsätzlich oder grob fahrlässig – eine vor Eintritt des Versicherungsfalls zu erfüllende Obliegenheit, steht dem Versicherer nämlich gem. § 28 Abs. 1 VVG ein fristloses Kündigungsrecht binnen eines Monats ab Kenntnis von der Obliegenheitsverletzung zu. Ansonsten sind Obliegenheitsverstöße vor und nach Eintritt des Versicherungsfalls gleichgestellt. Welche Obliegenheiten vom Versicherungsnehmer zu beachten sind, hängt h­ ierbei von der jeweiligen Ausgestaltung des Versicherungsvertrages ab. In Betracht kommen

28So etwa BGHZ 24, 378; BGH VersR 1967, 27; OLG Hamburg VersR 1958. 777; OLG Köln VersR 1965, 950; OLG Nürnberg VersR 1979 561; Römer, in: Römer/Langheid, VVG, 2. Aufl. (2002), § 6, Rn. 2; a. A. Prölss, in: Prölss/Martin, VVG, 28. Aufl. (2010), § 28, Rn. 38 m. w. N.; differenzierend Rixecker, in: Langheid/Rixecker, VVG, 5. Aufl. (2016), § 28, Rn. 9; Pohlmann, in: Looschelders/Pohlmann, VVG-Kommentar, 3. Aufl. (2016), § 28, Rn. 8 ff.; siehe hierzu auch Armbrüster, in: Prölss/Martin, VVG, 29. Aufl. (2015), § 28, Rn. 71.

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insbesondere Auskunfts- und Aufklärungsobliegenheiten wie etwa die Verpflichtung des Versicherungsnehmers, dem Versicherer ausführliche und wahrheitsgemäße Schadenberichte zu erstatten und ihm alle Tatumstände mitzuteilen, welche auf den Schadenfall Bezug haben, des weiteren Anzeigeobliegenheiten wie die Verpflichtung des Versicherungsnehmers zur unverzüglichen Anzeige eines eingetretenen Versicherungsfalls, oder auch allgemeine Verhaltensobliegenheiten wie beispielsweise die Verpflichtung des Versicherungsnehmers, nach Möglichkeit für die Abwendung und Minderung des Schadens Sorge zu tragen.

17.2.5.3 Rechtsfolgen einer Obliegenheitsverletzung 26 Obgleich Obliegenheiten im Versicherungsvertrag grundsätzlich auch sanktionslos vereinbart werden können, entspricht es der Regel, dass im Versicherungsvertrag entsprechend den gesetzlichen Vorgaben des § 28 VVG der teilweise oder vollständige Verlust des Versicherungsschutzes als Rechtsfolge einer Obliegenheitsverletzung vorgesehen ist. Hierbei ist zu unterscheiden: Verstößt der Versicherungsnehmer vorsätzlich gegen eine versicherungsvertragliche Obliegenheit, so tritt in der Regel vollständige Leistungsfreiheit des Versicherers ein. Im Falle einer grob fahrlässigen Obliegenheitsverletzung ist der Versicherer berechtigt, seine Leistung in einem der Schwere des Verschuldens des Versicherungsnehmers entsprechenden Verhältnisses zu kürzen. Eine 100 %-ige Leistungsfreiheit kann also nur bei Vorsatz, keine Leistungsfreiheit nur bei einfacher Fahrlässigkeit (oder Schuldlosigkeit) in Betracht kommen29. Voraussetzung der – vollständigen oder teilweisen – Leistungsfreiheit des Versicherers ist aber – außer in den Fällen, in denen der Versicherungsnehmer arglistig gehandelt hat – stets, dass die Verletzung der Obliegenheit überhaupt Einfluss auf Grund oder Höhe der Entschädigungsleistung oder deren Feststellung gehabt hat, § 28 Abs. 3 VVG.; ansonsten wäre die Leistungsfreiheit des Versicherers nicht sachgerecht, da er in diesen Fällen gar keinen oder nur einen beschränkten Nachteil erlitten hätte. Dem Versicherungsnehmer obliegt diesbezüglich allerdings der Negativbeweis, das heißt, der Versicherungsnehmer muss nachweisen, dass sich die Obliegenheitsverletzung nicht ausgewirkt hat (sog. Kausalitätsgegenbeweis).

17.2.6 Prämien 27 Im Versicherungsgeschäft gilt das Einlösungsprinzip. Die Erstprämie ist unverzüglich nach Ablauf von zwei Wochen nach Zugang des Versicherungsscheins zu zahlen, § 33 Abs. 1 VVG. Solange die Erstprämie nicht gezahlt ist, steht dem Versicherer ein Rücktrittsrecht zu und er muss bei einem zwischenzeitlich eingetretenen Schadenfall grundsätzlich nicht leisten, es sei denn, die Nichtzahlung der Erstprämie ist ohne Verschulden

29So

etwa Marlow/Spuhl, Das Neue VVG, 3. Aufl., S. 95 m. w. N.

17 Versicherungsrecht

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erfolgt, § 37 VVG. Voraussetzung der Leistungsfreiheit des Versicherers ist aber stets, dass er den Versicherungsnehmer zuvor über die möglichen Rechtsfolgen der nichtgezahlten Erstprämie hinreichend belehrt hat, was bereits im Versicherungsschein erfolgen kann – und regelmäßig auch geschieht. Wird eine Folgeprämie (jede weitere Prämie, die nicht Erstprämie ist) nicht gezahlt, kann der Versicherer nach fruchtlosem Ablauf einer von ihm gesetzten Zahlungsfrist kündigen. Tritt der Versicherungsfall nach Fristablauf ein und befindet sich der Versicherungsnehmer zu diesem Zeitpunkt mit der Prämienzahlung in Verzug, ist der Versicherer leistungsfrei, § 38 VVG.

17.3 Schadenmanagement Das Schadenmanagement umfasst alle Prozesse und Tätigkeiten, die mit der Bearbeitung 28 und Abwicklung von Schäden zusammenhängen.

17.3.1 Sofortmaßnahmen/Anzeigepflichten Ist der Schadensfall eingetreten, können den Versicherungsnehmer bestimmte Ver- 29 haltenspflichten treffen. Werden diese nicht beachtet, kann dies zu teilweiser oder sogar vollständiger Leistungsfreiheit des Versicherers führen. So hat der Versicherungsnehmer beispielsweise gem. § 82 VVG nach Möglichkeit für die Abwendung und Minderung des Schadens Sorge zu tragen und dabei die Weisungen des Versicherers zu befolgen (sog. Rettungsobliegenheit)30. Der Versicherungsnehmer hat die ihm in der jeweiligen Situation möglichen und zumutbaren Rettungsmaßnahmen unverzüglich und mit der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt zu ergreifen, wie wenn er nicht versichert wäre31. Welche konkreten Maßnahmen er dabei zu ergreifen hat, beurteilt sich, sofern ihm nicht nach den zu Grunde liegenden Versicherungsbedingungen oder durch ausdrückliche Weisungen bestimmte Verhaltensweisen vorgeschrieben sind, nach dem pflichtgemäßen Ermessen eines ordentlichen Versicherungsnehmers32. Geeignete Maßnahmen, die sich nach den Umständen anbieten und die ihm zumutbar sind, hat der Versicherungsnehmer unverzüglich zu ergreifen. Bei einem Sturmschaden etwa, aufgrund dessen ungehindert Wasser in die Werkshalle eindringen kann, hat der Versicherungsnehmer durch eine provisorische Dachabdichtung und Trocknungsmaßnahmen sicherzustellen, dass sich der bereits eingetretene Schaden nicht noch weiter vergrößert;

30Eingehend

Schmidt-Kessel in: Looschelders/Pohlmann, VVG-Kommentar, 3. Aufl. (2016), § 82, Rn. 9 ff. 31BGH VersR 1972, 1039; OLG Hamburg VersR 1984, 258. 32BGH a. a. O.

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das bloße Abdecken der in der Halle befindlichen Waren mittels Folie genügt insoweit nicht33. Bei einem Gebäudebrand hat er die Feuerwehr zu verständigen und, soweit zumutbar, Löschmaßnahmen zu ergreifen. Weiter hat er auch dafür Sorge zu tragen, dass nicht durch Löschhelfer, Plünderer oder Witterungseinflüsse noch weiterer Schaden entsteht34. Bei vorsätzlicher Verletzung der Rettungsobliegenheit wird der Versicherer vollständig leistungsfrei, im Falle grob fahrlässiger Obliegenheitsverletzung kommt es zu einer quotalen Leistungskürzung entsprechend der Schwere des Verschuldens des Versicherungsnehmers. 30 Unabhängig hiervon hat der Versicherungsnehmer dem Versicherer jeden Versicherungsfall unverzüglich anzuzeigen, § 30 Abs. 1 VVG. Die Anzeigeobliegenheit soll den Versicherer in die Lage versetzen, möglichst schnell Kenntnis vom Eintritt des Versicherungsfalls zu erhalten und die notwendigen Feststellungen und Prüfungen vornehmen und schadenbegrenzende Weisungen erteilen zu können35. Die Vorschrift gilt für sämtliche Versicherungszweige und findet sich auch in den jeweiligen Versicherungsbedingungen wieder, dort zumeist mit der Rechtsfolge der Leistungsfreiheit für den Fall des vorsätzlichen oder grobfahrlässigen Verstoßes sanktioniert. Weiter trifft den Versicherungsnehmer eine Auskunftsobliegenheit. Gem. § 31 Abs. 1 VVG kann der Versicherer nach Eintritt des Versicherungsfalls verlangen, dass der Versicherungsnehmer jede Auskunft erteilt, die zur Feststellung des Versicherungsfalls oder des Umfangs der Leistungspflicht des Versicherers erforderlich ist. Die Auskunftsobliegenheit des § 31 VVG gilt – wie die Anzeigeobliegenheit nach § 30 VVG – für sämtliche Versicherungszweige und ist in den jeweiligen Versicherungsbedingungen in Abhängigkeit zum Verschuldensgrad mit der Rechtsfolge der Leistungsfreiheit sanktioniert. 31 Zu den Anzeige- und Auskunftsobliegenheiten ist auch die in der Diebstahlversicherung regelmäßig vorgesehene Verpflichtung zu zählen, unverzüglich bei der Polizei Anzeige zu erstatten und eine sog. Stehlgutliste einzureichen. Hier ist besondere Obacht geboten. Wegen ihres Zwecks, die Fahndung zu erleichtern, kommt der Stehlgutliste besondere Bedeutung zu. Sie muss möglichst detailliert sein und in der Regel unverzüglich eingereicht werden. Wird dies versäumt, droht der Verlust des Versicherungsschutzes.

17.3.2 Regresssicherung 32 Weiterer Handlungsbedarf kann sich unter dem Stichwort der „Regresssicherung“ ergeben.

33OLG

Düsseldorf VersR 2001, 1281. Hamm VersR 1984, 175. 35Looschelders, in: Looschelders/Pohlmann, VVG-Kommentar, 3.  Aufl. (2016), §  30, Rn. 1 m. w. N. 34OLG

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Gem. § 86 Abs. 1 VVG gehen etwaige Schadensersatzansprüche, die dem Versicherungsnehmer gegen einen Dritten wegen eines versicherten Schadenfalls zustehen, per cessio legis auf den Versicherer über, soweit dieser den Schaden ersetzt. Der Versicherer hat vor diesem Hintergrund ein legitimes Interesse daran, dass etwaige Regressansprüche des Versicherungsnehmers möglichst ungeschmälert auf ihn übergehen können. Dementsprechend ist in § 86 Abs. 2 VVG geregelt, dass der Versicherungsnehmer seinen Ersatzanspruch gegen den Dritten unter Beachtung der geltenden Formund Fristvorschriften zu wahren und bei dessen Durchsetzung durch den Versicherer soweit erforderlich mitzuwirken hat. Für den Versicherungsnehmer besteht hiernach insbesondere die Verpflichtung, alle Maßnahmen zu unterlassen, die zum Verlust oder Erlöschen des Regressanspruchs führen können, ihn in seinem Umfang verringern oder seine Durchsetzbarkeit hindern. Auch das Unterlassen anspruchsverfolgender Maßnahmen fällt hierunter36. Dem Versicherungsnehmer ist es also weder gestattet, einen Regressanspruch verjähren zu lassen noch auf ihn zu verzichten, ihn zu vergleichen oder abzutreten. Wird diese Obliegenheit vorsätzlich verletzt und kann der Versicherer deshalb keinen Ersatz verlangen, führt dies zur Leistungsfreiheit des Versicherers. Im Falle einer grob fahrlässigen Obliegenheitsverletzung kommt es zur abgestuften Leistungsfreiheit entsprechend der Schwere des Verschuldens.

17.3.3 Abwicklung Mit der Abwicklung von Schadenfällen einher geht der interne Austausch von hierbei 33 gewonnenen Erkenntnissen. So zeigt sich oftmals erst im Schadenfall, dass das Vertragswerk, welches im Rahmen einer bis dahin reibungslosen Geschäftsbeziehung stets beanstandungslos geblieben ist, die Belange des eigenen Unternehmens doch nicht so schützt wie angenommen und einer Optimierung bedarf. Aber nicht nur in rechtlicher Hinsicht kann sich Anpassungsbedarf ergeben. Stellt sich beispielsweise im Rahmen eines Produkthaftungsfalls das hergestellte oder vertriebene Produkt als tatsächlich mangelhaft heraus, können technische Änderungen am Produkt erforderlich werden. Hierfür ist eine enge Abstimmung mit der Qualitätssicherung unerlässlich, die möglichst frühzeitig in derartige Schadenfälle einbezogen werden sollte. Sind im Schadenfall die versicherungsrechtlichen Obliegenheiten beachtet und die ersatzpflichtigen Kosten ermittelt, ist der Schadenfall schließlich mit dem Versicherer abzurechnen bzw. weiter abzuwickeln. Dies kann unkompliziert sein, im Einzellfall aber auch mitunter zähe Verhandlungen über Fragen des versicherten Risikos oder der Ersatzfähigkeit bestimmter Schadenpositionen erforderlich machen.

36Vgl. von Koppenfels-Spies, in: Looschelders/Pohlmann, VVG-Kommentar, 3. Aufl. (2016), § 86, Rn. 52.

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Hinzu kommt, dass die vom Versicherer geschuldete Versicherungsleistung nicht immer zwingend auf eine Geldleistung gerichtet sein muss. Im Rahmen der Haftpflichtversicherung beispielsweise steht dem Versicherer bekanntlich ein Wahlrecht zu, ob er nun vermeintlich begründete Ansprüche des Dritten befriedigt oder vermeintlich unbegründete Ansprüche des Dritten abwehrt. Entscheidet sich der Versicherer zur Anspruchsabwehr, führt er einen etwaigen Rechtsstreit im Namen des Versicherungsnehmers auf eigenes Risiko. Der Versicherungsnehmer hat ihn hierbei zu unterstützen. Dies gilt – wie eben dargestellt37 – auch für Regressprozesse des Versicherers gegen den eigentlichen Schädiger38. Teilweise macht es auch durchaus Sinn, wenn sich das Unternehmen an einem derartigen Regressprozess aktiv beteiligt, etwa wenn dem Unternehmen ansonsten ein Teil am Gesamtschaden verbleibt, der vom Versicherer nicht reguliert wurde (z. B. wegen Selbstbehalt, Unterversicherung, etc.). Auch insoweit kommt der vorherigen Regresssicherung, und zwar aus ureigenem Interesse des Unternehmens, damit erhebliche Bedeutung zu.

Literatur Cornelius-Winkler, Joachim, Rechtsschutzversicherung, 3. Auflage 2008 Goette, Wulf/ Habersack, Mathias (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, Bd. 1–9, 3. Auflage 2008 Günther, Dirk-Carsten, Der Regress des Sachversicherers, 3. Auflage 2008 Looschelders, Dirk/ Pohlmann, Petra (Hrsg.), VVG-Kommentar, 3. Auflage 2016 Marlow, Sven/ Spuhl, Udo, Das neue VVG kompakt, 4. Auflage 2010 Olbrich, Carola, Die D & O-Versicherung, 2. Auflage 2007 Prölss, Erich R./ Martin, Anton (Begr.), Versicherungsvertragsgesetz: VVG, Kommentar, 29. ­Auflage 2015 Römer, Wolfgang/ Langheid, Theo, Versicherungsvertragsgesetz: VVG, Kommentar, 2. Auflage 2002; desweiteren Langheid Theo/ Rixecker, Roland, Versicherungsvertragsgesetz: VVG, ­Kommentar, 5. Auflage 2016 Van Bühren Hubert W. (Hrsg.), Handbuch Versicherungsrecht, 6. Auflage 2014 Weitzel, Mike, Vertrauensschadenversicherung/Private Kreditversicherung, 1. Auflage 2014

37Vgl.

C.II. in der Praxis bedeutsamen Regress des Sachversicherers und den hierbei zu beachtenden Konstellationen vgl. insbesondere Günther, Der Regress des Sachversicherers, 3. Aufl., (2008). 38Zum

IT-Recht

18

Maximilian Dorndorf

18.1 Juristische Aspekte des IT-Einkaufs Moderne Unternehmensführung ist ohne den Einsatz von Informationstechnologie („IT“) in Zeiten der Globalisierung, Digitalisierung und des Austauschs von Informationen über das Internet nicht mehr denkbar. Die IT stellt dabei das zentrale und zugleich anfällige Nervensystem des Unternehmens dar, das beinahe sämtliche Unternehmensbereiche von der Lagerhaltung und Produktionssteuerung über das Marketing und Kundenmanagement („Customer Relation Management – CRM“) bis zur elektronisch gestützten Buchführung und dem Unternehmenscontrolling erfasst. Fehler, Ausfälle oder Kapazitätsengpässe können fatale Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Situation des Unternehmens haben. Zudem stellt die IT regelmäßig einen erheblichen Kostenfaktor dar. Es ist daher eine wichtige Aufgabe des Unternehmensjuristen, bereits im Beschaffungsprozess zur Anschaffung von IT-Gütern wie Soft- oder Hardware ebenso wie IT –Services den juristischen Beitrag zur Vermeidung solcher Fehler zu leisten und dabei auch die rechtlichen Mittel an die Hand zu geben, um die vorgegebenen Budgetgrenzen ebenso wie die Umsetzung der betriebsinternen Prozessvorgaben und Regularien zu überwachen.

M. Dorndorf (*)  Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Lenz (Hrsg.), Die Rechtsabteilung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21915-4_18

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M. Dorndorf

Vielfach können dabei auch die veröffentlichten1 Ergänzenden Vertragsbedingungen der öffentlichen Hand für die Beschaffung von Informationstechnik (EVB-IT) zumindest als Anregung und Vergleichsmaßstab herangezogen werden, da sie für eine Vielzahl von Beschaffungsvorgängen in der IT zwischen IT-Unternehmen und öffentlicher Hand als Musterverträge ausgehandelt wurden. Aufgrund der regelmäßig hohen Komplexität und Individualität vieler IT-Projekte ist aber eine gesonderte Prüfung notwendig.

18.2 Softwarebeschaffung 3

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Bei der Beschaffung von Software richtet sich die Frage nach deren rechtlicher Behandlung in erster Linie darauf, unter welchem Vertragstyp die Software beschafft werden soll. In der Unternehmenspraxis ist die überwiegende Zahl der geschlossenen Verträge im Vorfeld der Beschaffung von einer der beiden Vertragsparteien für eine Vielzahl von Verträgen vorformuliert und daher auch nach den Grundsätzen des AGB-Rechts zu beurteilen. Die Bestimmung des Vertragstyps hat damit unmittelbare Auswirkungen auf das der Prüfung zugrunde zu legende gesetzliche Leitbild. Man unterscheidet klassischerweise zwischen Standardsoftware und Individualsoftware. Allerdings werden in der Literatur mittlerweile auch Auffassungen vertreten, die auf der Basis analoger Anwendung neuerer Rechtsprechung des BGH zu IT fremden Fallgestaltungen ein zunehmendes Aufweichen der rechtlichen Unterschiede zwischen Standardsoftware und Individualsoftware zur Folge haben könnten.2 Neben den üblichen Erwerbsformen auf Dauer beziehungsweise auf Zeit setzen sich zunehmend auch neue moderne Softwareerwerbssonderformen (Open Source, Software as a Service – SaaS, etc.) durch. Diese zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass zum Betrieb der Software neben der eigenen auf fremde Rechenkapazitäten zugegriffen wird.

18.2.1 Standardsoftware 5

Unter Standardsoftware versteht man Software, die nicht speziell für die Bedürfnisse des individuellen Abnehmers entwickelt und hergestellt wurde, sondern für eine Vielzahl von Anwendern.3 Selbst wenn diese Software nach ihrem Erwerb zur Herstellung

1Vgl.

das entsprechende umfassende Informationsangebot der IT-Beauftragten der Bundesregierung: http://www.cio.bund.de/cln_093/DE/IT-Angebot/IT-Beschaffung/EVB-IT_BVB/evb-it_ bvb_node.html. 2Näher dazu unter I. 2. 3Ausführlich zur Unterscheidung von Standard- und Individualsoftware Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, 5. Auflage, Rn. 610 f.

18 IT-Recht

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der Einsatzfähigkeit auf die individuellen Bedürfnisse des Erwerbers angepasst wird (das sogenannte Customizing), ändert dies nichts daran, dass es sich bei der Software zunächst um Standardsoftware handelt.

18.2.1.1 Erwerb auf Dauer Üblicherweise wird vorgefertigte Standardsoftware auf unbefristete Dauer gegen ein wie auch immer geartetes Entgelt überlassen. Beim „normalen“ unbefristeten Erwerb von Standardsoftware geht die wohl herrschende Meinung von einer Überlassung auf Basis eines Kaufvertrages4 oder zumindest kaufvertragsähnlichen Vertrages aus. Zwar erfüllt Software als solche nicht die Voraussetzungen, die an das Vorliegen eines körperlichen Gegenstandes und damit einer Sache nach § 90 BGB gestellt werden, da es ihr bereits an der räumlichen Abgrenzbarkeit und Greifbarkeit fehlt.5 Dennoch geht die höchstrichterliche Rechtsprechung in einer seit langem entwickelten und gefestigten Auffassung davon aus, dass kaufrechtliche Regelungen jedenfalls dann anzuwenden sind, wenn Software in einem Datenträger verkörpert ist6. Ohne Verkörperung auf einem Speicher-, Übertragungs- oder Prozessormedium ist Software aber tatsächlich faktisch nicht nutzbar, so dass sie im Ergebnis stets verkörpert vorliegen wird und damit mit der Rechtsprechung als zumindest sachähnlich einzustufen ist. Ganz unabhängig von der Frage nach der Sachqualität steht das Kaufrecht seit der Schuldrechtsmodernisierung gem. § 453 Abs. 1 BGB auch Rechten und „sonstigen [unkörperlichen] Gegenständen“ offen. Nach herrschender Auffassung in Literatur und Rechtsprechung sind die kaufrechtlichen Vorschriften auf den Erwerb von Software jedenfalls entsprechend anwendbar.7 Die Vertragseinordnung als Kaufvertrag ist dabei nicht zwingend, da gegebenenfalls mitvereinbarte Anpassungsleistungen bezüglich der Software mit ihrem üblicherweise werkvertraglichen Charakter die gesamte Typisierung des Vertrages in Richtung Werkvertrag zumindest dann beeinflussen können, wenn diese den überwiegenden Teil der vertraglichen Verpflichtungen ausmachen8. 

! Praxistipp  Da sich Werk- und Kaufvertragsrecht noch immer erheblich zum Beispiel bezüglich der gesetzlichen Gewährleistungsrechte, des Erfordernisses der Abnahme (§ 640 BGB) oder bezüglich der sofortigen Untersuchungsund Rügepflicht (§ 377 HGB) unterscheiden, kann es je nach Interessenlage von Bedeutung sein, die Einstufung des Vertragstypus entsprechend zu beeinflussen; jedenfalls aber ist es im Interesse der Rechtssicherheit

4Vgl.

Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, 5. Auflage, Rn. 642 m.w.N. zur Frage der Sachqualität Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, 5. Auflage, Rn. 674 ff. 6Vgl. BGH CR 2000, 207; BGH CR 1986, 130; BGH CR 1988, 124; BGH CR 2007, 75. 7So Faust, in: BaRo BGB, § 453 Rn. 23 f. 8Vgl. unten unter Ziff. I. 2. sowie Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, 5. Auflage, Rn. 634. 5Ausführlich

6

7

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notwendig, insofern Klartext zu sprechen. Je nach Zielvorgabe sind dann solche Anpassungsleistungen entweder gezielt mit dem Erwerb der Software zu kombinieren oder in einem gesonderten Vertrag zu regeln.

18.2.1.2 Erwerb auf Zeit Doch zunehmend werden auch vertragliche Vereinbarungen geläufiger, die nicht die dauerhafte Überlassung von Software zum Gegenstand haben. Zwar ist die Typisierung des Standardsoftwareerwerbs als Kaufvertrag zwar unabhängig davon, ob das gezahlte Entgelt in einer Einmalgebühr oder in mehreren Raten entrichtet wird. Sobald die Standardsoftware jedoch nicht auf Dauer, sondern lediglich für einen bestimmten oder bestimmbaren Zeitraum, das heißt auf Zeit, überlassen wird, ist der entsprechende Überlassungsvertrag als Mietvertrag oder zumindest mietähnlicher Vertrag einzustufen.9 Entscheidend für die Einstufung als Kauf- oder Mietvertrag ist demnach weder die Bezeichnung des Vertrages noch die Softwareart, sondern die Frage, ob der Softwareerwerber zu irgendeinem Zeitpunkt aufgrund der Begrenztheit der Laufzeit auf Herausgabe oder Löschung der Software in Anspruch genommen werden kann. 9 Auf Anbieterseite liegen die Vorteile der Wahl eines Mietvertragskonzepts insbesondere darin, dass dieser Vertragstypus dem Softwareanbieter eine effektivere Lizenzkontrolle ermöglicht. Die Rechtsprechung erlaubt in solchen Mietverträgen auch nach AGB‑rechtlichen Grundsätzen sehr weitgehende Vorgaben und Einschränkungen hinsichtlich der Nutzung der Software10 sowie einen wirksamen Ausschluss der Weitergabe und Überlassung an Dritte11. Die mietvertragliche Konstruktion sichert dem Softwareanbieter zudem über den vereinbarten Mietzins dauerhafte Einnahmen. Schließlich kann der Softwareanbieter im Wege der Versionskontrolle und Ausübung von Löschpflichten bei Vertragsende den Umfang der im Umlauf befindlichen Softwareinstallationen – die „installierte Basis“ – beeinflussen und kontrollieren. 10 Für den Softwareabnehmer verringert sich bei der Wahl einer mietvertraglichen Konstruktion durch die entsprechenden Kündigungsmöglichkeiten die praktische Gebundenheit an einen bestimmten Softwareanbieter und bewirkt damit ein geringeres unmittelbares Investitionsrisiko. Zudem ist der Softwareanbieter ihm gegenüber nach allgemeinen mietvertragsrechtlichen Grundsätzen auch ohne Abschluss einer gesonderten Pflegevereinbarung verpflichtet, die Software während der gesamten Mietzeit in einem für den vertragsgemäßen Gebrauch geeigneten Zustand zu erhalten, das heißt insbesondere Mängel und Lauffähigkeitseinschränkungen zu beseitigen. In der Praxis wird von Anbieterseite allerdings häufig der Softwaremietvertrag zwingend an den zusätzlichen Abschluss einer kostenpflichtigen Pflegevereinbarung gekoppelt, u. U. auch ohne dass dies für den Abnehmer einen Zusatznutzen bringt. 8

9Vgl.

BGH, NJW 2007, 2394, Tz. 15. z. B. BGH, NJW 2003, 2014 ff. 11Vgl. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, 5. Auflage, Rn. 1597 f. 10Vgl.

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Aus Sicht des Unternehmensjuristen, der in den Beschaffungsprozess für Standardsoftware eingebunden ist, ist zu beachten, dass die Herausgabe oder Löschung der Software nach Vertragsende gegebenenfalls dazu führen kann, dass mit der Software erstellte Dateien und generierte Informationen ohne entsprechende Konvertierung in ein anderes weiter zur Verfügung stehendes Format nicht mehr nutzbar sein können. Darüber hinaus hat der Softwareerwerber in diesem Fall Anteil am Insolvenzrisiko des Softwareanbieters, da es sich bei dem Mietvertrag um ein Dauerschuldverhältnis handelt, das jedenfalls nach bisheriger Rechtslage nur in engen Grenzen z. B. bei drittfinanzierten Mietverträgen insolvenzfest ausgestaltet werden kann12. Dem Wahlrecht des Insolvenzverwalters zur Fortsetzung oder Beendigung des Softwaremietvertrags ist der Softwareerwerber somit nahezu schutzlos ausgeliefert. 

! Praxistipp  Beim Erwerb von Software für einen bestimmten oder bestimmbaren Zeitraum (Mietvertrag) ist auf die sorgfältige Formulierung der Kündigungsrechte besonderes Augenmerk zu legen.

11

Als Sonderform der Softwaremiete hat sich auch das Softwareleasing zwischenzeitlich am Markt zunehmend etabliert. Dabei wird der Leasinggeber üblicherweise die geleaste Software unmittelbar vom Softwareanbieter beziehen und schließt damit im Fall von Standardsoftware einen entsprechenden Kaufvertrag über den Erwerb dieser Software ab. Auf den Leasingvertrag, nach dem der Leasinggeber dem Leasingnehmer die Software gegen Zahlung des Nutzungsentgelts (Leasingraten) für die Leasingdauer zur Verfügung stellt, ist dann grundsätzlich wieder Mietvertragsrecht subsidiär neben den übrigen vertraglichen Bestimmungen anwendbar13. Wie im Leasingvertrag üblich, wird die Mangelhaftung des Leasinggebers regelmäßig gegenüber dem Leasingnehmer ausgeschlossen, der dafür die kaufrechtlichen Mangelansprüche des Leasinggebers gegenüber dem Softwareanbieter abgetreten erhält.14

18.2.1.3 neuere Erwerbsformen Bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit der Durchsetzung des Internets entwickelten 12 sich moderne Formen der Überlassung von Software. Von den klassischen Überlassungsformen, die regelmäßig die Übergabe von Standard- oder auch Individualsoftware auf diese verkörpernden Datenträgern beinhalteten, unterschieden sich diese Überlassungsformen insbesondere durch die Einbindung des Internets und den Abruf der Software über dasselbe, wobei die Installation der Software typischerweise auf den Systemen des Anbieters verblieb und der Anwender über das Internet auf diese Installationen Zugriff.

12Vgl.

Kilian/Heussen, Computerrecht, 31. Ergänzungslieferung 2012, Software in der Insolvenz Rn.96 f. 13Vgl. BGH NJW 2009, 575, 577; BGH NJW 2006, 1066, 1067. 14Vgl. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, 5. Auflage, Rn. 727.

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Unter dem Stichwort Application Service Providing (ASP) im Zuge der Interneteuphorie in den Markt gestartet, konnte sich diese Überlassungsform praktisch jedoch insbesondere aufgrund der seinerzeit nicht ausreichend zur Verfügung stehenden kostengünstigen Hochgeschwindigkeitsübertragungsnetze am Markt kaum etablieren. Aufgrund moderner Übertragungstechniken (sowohl leitungsgebunden als auch über Mobilfunktechniken wie UMTS oder LTE), die den Anwendern durch Vermittlung einer genügenden Anzahl von Anbietern zu marktfähigen Preisen zur Verfügung stehen, hat sich mittlerweile eine Überlassungsform etabliert, die als „Software as a Service“ (SaaS) bezeichnet wird. Der Softwareanwender erwirbt hierbei keine Datenträger oder unbegrenzten Softwarenutzungsrechte, sondern nutzt einen Onlinezugang, um über das Internet die auf den vom Anbieter zur Verfügung gestellten Rechenkapazitäten installierte Software jeweils nach Bedarf nutzen zu können. Die Abrechnung der Anbietergebühr erfolgt hierbei regelmäßig verbrauchsabhängig, zum Beispiel nach Zeiteinheiten oder nach genutzter Rechenkapazität. Die tatsächliche Flexibilität für den Softwarenutzer bei der Inanspruchnahme dieses Angebots der „Software aus der Steckdose“ wird dabei durch die von den Anbietern sehr unterschiedlich gewählten Abrechnungszyklen, Vorbestellungsfristen oder Vergütungsmodelle (zum Beispiel Vorauszahlung ohne Rückerstattungsmöglichkeit bei Minderanspruchnahme statt minutengenauer Abrechnung nach tatsächlicher Nutzung) beeinflusst. Noch unter Bezugnahme auf das letztlich gescheiterte, aber inhaltlich vergleichbare ASP‑Modell hat der BGH entschieden, dass eine solche Online‑Nutzung von Software für begrenzte Zeit nach mietvertragsrechtlichen Grundsätzen zu beurteilen ist15.

18.2.2 Individualsoftware 13 Individualsoftware unterscheidet sich von Standardsoftware dadurch, dass nicht ein vorgefertigtes Computerprogramm auf Datenträger oder online übergeben wird, sondern der Anbieter eine auf die Bedürfnisse des Anwenders zugeschnittene individuelle Lösung erstellt und diesem üblicherweise auf Dauer überlässt. Im Vordergrund steht demnach bei diesem Vertragstypus die Werkleistung des Softwareanbieters, so dass die Rechtsprechung hier meist von einem Werkvertrag ausgeht16. Dem gleichzustellen sind zudem individuelle Anpassungs- oder Umstellungsprogrammierungen beziehungsweise das Customizing von Software, die dem Softwareerwerber von Dritten zur Verfügung gestellt wurden. 14 In der Folge einer BGH Rechtsprechung17, die sich eigentlich gar nicht auf den Softwareerwerb bezieht, hat eine neuere Auffassung in der Literatur die Frage aufgeworfen, ob nicht im Wege der Anwendung von § 651 BGB auch die überwiegende Zahl der

15BGH

CR 2007, 75. z. B. BGH CR 2001, 367. 17BGH CR 2009, 637. 16vgl.

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Verträge zur Erstellung von Individualsoftware dem Kaufrecht zu unterwerfen ist18. Dies soll insbesondere dann der Fall sein, wenn bei der Erstellung der Software nicht die Planungsleistung, sondern die Lieferung eines fertig erstellten Produktes beziehungsweise einer funktionsfähigen Software an den Softwareerwerber im Vordergrund steht, da es sich hierbei um einen dem Wortlaut des § 651 BGB entsprechenden verkörperten, für den Erwerber hergestellten Gegenstand handelt, der vom Softwarehersteller zur Verfügung gestellt wird. Sollte sich diese Auffassung in der Rechtsprechung durchsetzen, würde dies zu erheblichen Unsicherheiten und Abgrenzungsschwierigkeiten in der Vertragspraxis führen, da für jeden Einzelfall des Erwerbs von Individualsoftware konkret zu ermitteln wäre, inwieweit der Schwerpunkt der Leistung des Softwareanbieters auf der Planung oder der bloßen Erstellung der Software liegt. In einer jüngeren Entscheidung bekräftigte der BGH zwar, dass Schwerpunkt eines Softwareanpassungsvertrages, der Lieferung und Installation von individuell angepasster Software zum Gegenstand hat, der vertraglich vereinbarte Erfolg als Ergebnis einer individuellen Tätigkeit sei, weshalb Werkrecht und nicht Kaufrecht Anwendung finde.19 Gleichwohl dürfte bis zur gefestigten Klärung dieser Frage für die Praxis anzuraten sein, bei der Vertragsgestaltung auf eine sorgfältige und präzise Formulierung der Vertragspflichten und Benennung des Vertragsschwerpunktes zu achten.

18.2.3 Open Source-Software Eine weitere bedeutsame Form des Erwerbs von Software für Unternehmen stellt der 15 Erwerb von Open Source Software dar. Open Source Software, deren bekanntestes Produkt das Betriebssystem Linux ist, beruht auf der Idee, dass nicht nur ein bestimmter Softwareanbieter zur Herstellung und Weiterentwicklung eines Softwareprogramms berechtigt und gegebenenfalls auch verpflichtet ist und sich diese Leistung durch den Softwareerwerber vergüten lässt, sondern dass die Software kostenfrei auf Dauer zur Verfügung gestellt wird und jeder Anwender diese frei verwenden und weiterverarbeiten darf, soweit dieser die Software auch allen weiteren Nutzern mit diesen Bearbeitungsmöglichkeiten überlässt.20 Der Kreis der potentiell verfügbaren Innovationsgeber und Programmierer wird damit theoretisch drastisch erweitert, um zugleich ein erheblich verbessertes Produkt entwickeln zu können. Dabei erfolgt die Überlassung von Open Source Software regelmäßig zwar unmittelbar entgeltfrei aber dennoch nicht ohne Beschränkungen. Der Entwickler von Open Source Software Modulen stellt den von ihm integrierten Code‑Baustein üblicherweise unter ein für die Nutzung verbindliches

18vgl.

BGH CR 2009, 637 Anm. Schweinoch; ausführlich zum Streitstand Maude/Wilser, CR 2010, 209 m. w. N. 19BGH NJW-RR 2014, 1204. 20Ausführlich Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, 5. Auflage, Rn. 899 ff.

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Regelwerk wie zum Beispiel die weit verbreitete öffentlich zugängliche General Public License (GPL). So sehr sich die Regelwerke im Einzelfall unterscheiden und daher beim Erwerb von Open Source Software sorgfältig zu prüfen sind, beinhalten diese jedoch grundsätzlich ein inhaltlich vergleichbares „copy left Prinzip“. Demnach darf die Software zwar frei vertrieben und genutzt werden, muss aber bezüglich jeder Weiterentwicklung wiederum den identischen Regelungen der vom Ursprungsentwickler verwendeten GPL unterworfen werden21. Aufgrund dieses erzeugten „viralen“ Effekts kann dann auch der Dritterwerber die Software frei weiterbearbeiten. Zu beachten ist zudem, dass ein Verstoß gegen die GPL oder sonstigen Nutzungsregelwerke, die der Entwickler für seinen Softwareteil für anwendbar erklärt hat, regelmäßig zu einem Wegfall der Nutzungsrechte führt, der dann jegliche weitere Nutzung und Entwicklung als Urheberrechtsverstoß erscheinen lässt.22 Kann der Softwareanbieter daher bei der Überlassung von Open Source Modulen nicht lückenlos dafür einstehen, dass in der gesamten Verwertungskette alle GPL‑Regularien eingehalten wurden, ist ihm eine wirksame Einräumung von Nutzungsrechten an den Softwareerwerber nicht möglich. Zwar lassen viele Regelwerke die Einbindung eines Open Source Moduls in ein kostenpflichtiges Gesamtprodukt und die anschließende entgeltliche Weiterüberlassung an Dritte zu. Sind diese Regularien jedoch nicht eingehalten worden, insbesondere die Grundsätze des „copy left“-Prinzips, kann sich auch der Erwerber von Open Source Software – die ihm möglicherweise als solche seitens des Anbieters nicht deklariert wurde – dem Vorwurf der Urheberrechtsverletzung ausgesetzt sehen.

18.2.4 Mangel 16 Die Frage, wann Software mangelfrei oder mangelbehaftet ist, offenbart einen grundsätzlichen Verständniskonflikt zwischen der Sichtweise der Programmierers und Informatikers, der Software erstellt, und dem Juristen, der deren Mangelfreiheit zu beurteilen hat. Die Informatik bewertet jedes objektiv technische Versagen bereits als Fehler und muss daher aufgrund der Komplexität von Software zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass Software niemals fehlerfrei sein kann23. Dem widerspricht die juristische Sichtweise des Mangels als Abweichung der Ist- von der Sollbeschaffenheit. In der juristischen Sichtweise kann auch eine technisch fehlerhafte Software dennoch die an sie gestellten Anforderungen erfüllen und somit als mangelfrei eingestuft werden. Die Sollanforderungen an Software bestimmen sich dabei nach allgemeinen Grundsätzen in einer gestuften Betrachtungsweise durch die Prüfung der vereinbarten Beschaffenheit (z. B. vereinbarte Leistungsanforderungen oder Softwarepflichtenheft), der vertraglich vorausgesetzten Verwendung der

21Vgl.

GPL 3 Ziffer 5. LG München, MMR 2004, 693, 695; LG Berlin CR 2006, 735. 23Vgl. dazu Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, 5. Auflage, Rn. 1362 ff. 22Vgl.

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Software (z. B. bestimmbar durch den Vertragswortlaut oder die Ausschreibungsunterlagen) sowie der gewöhnlichen Verwendung oder Üblichkeit der Anforderungen (z. B. durch Bestimmung von IT‑Industriestandards). Häufige als Mangel zu qualifizierende Fehlertypen, die sich daraus in der Praxis ein- 17 stellen, sind z. B. Funktionsdefizite der Software (z. B. durch fehlende Help‑Funktionen), Funktionsmängel (z. B. die Unfähigkeit der Software, Umlaute auszugeben), Kapazitätsmängel (z. B. durch ungewöhnliches Antwort‑Zeit‑Verhalten der Software), unangemessene und ungerechtfertigte Programmsperren oder fehlerhafte Kopierschutzvorkehrungen, unzureichende Dokumentationen (z. B. nur in fremdsprachiger Ausführung), Abweichungen gegenüber öffentlichen Äußerungen des Softwareherstellers (z.  B. zur Kompatibilität der Software mit anderen Software- oder Hardwarekomponenten) sowie allgemeine Bedienungsmängel in der praktischen Anwendung.24

18.2.5 Softwarelizenzen Softwarerechte unterliegen den einschlägigen Regelungen des Urheberrechts nach dem 18 Urheberrechtsgesetz (UrhG). Es genügt daher zur Übertragung von Software nicht allein, den entsprechenden ausführbaren Softwarecode online oder per Datenträger vom Softwareanbieter zu beziehen. Um Software legal einsetzen zu können, benötigt der Softwareanwender zusätzlich auch die Einräumung des entsprechenden Rechts die überlassene Software zu nutzen, auch als „Lizenz“ bezeichnet. Es gibt dabei eine Vielzahl von Lizenzformen mit bestimmten Einschränkungen des Nutzungsrechts, wie z. B. Einzelplatzlizenzen, die einen einzelnen Nutzer zur Arbeit mit der Software berechtigen, Netzwerklizenzen, die auf eine bestimmte Anzahl berechtigter Arbeitsplätze oder Nutzer abstellen, Unternehmenslizenzen, deren Reichweite insbesondere bei Abspaltungen oder Unternehmensnachfolge oftmals schwierig zu beurteilen ist, Konzernlizenzen, bei denen die Frage der konzernmäßigen Verbundenheit von berechtigten Gesellschaften sorgfältig zu regeln ist, sowie Lizenzen zur Vermietung oder zum Verleih der Software gegenüber Dritten z. B. im Wege des Rechenzentrums oder SaaS‑Betriebes. Keine dieser Lizenzformen ist mit diesen Beschränkungen ausdrücklich gesetz- 19 lich geregelt, so dass es den Vertragsparteien des Softwarelizenzvertrages obliegt, den konkret vereinbarten Umfang der gewährten Nutzungsrechte beziehungsweise der entsprechenden Einschränkungen vertraglich zu regeln. Hierbei sind vordringlich der Umfang der eingeräumten Nutzungsrechte und die diesbezüglichen Beschränkungen, das heißt ggf. gegebene zeitliche, räumliche oder inhaltliche Beschränkungen, zu regeln. Die Parteien müssen sich auch darüber einigen, ob dem Softwareanwender eine Exklusivität der Nutzung der Software eingeräumt wird und ob diese zeitlich, räumlich oder gegenüber bestimmten Personen beziehungsweise dem Softwarehersteller selber

24Zu den typischen Fehlertypen ausführlich Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, 5. Auflage, Rn. 1397 ff.

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eingeschränkt werden soll. Entscheidend ist es dabei, nicht nur ein pauschales Nutzungsrecht einzuräumen, sondern die benötigten jeweiligen Nutzungen und Verwendungen ausdrücklich zu bezeichnen, z. B. Vervielfältigungsrecht, Bearbeitungsrecht, Zugriff durch Dritte beziehungsweise das Recht auf Unterlizenzierung und das Recht zur öffentlichen Zugänglichmachung etc.25 Jedes einzelne dieser Nutzungsrechte kann zudem eingeschränkt beziehungsweise umfassend gewährt werden, wobei Einschränkungen nur dann mit dinglicher Wirkung möglich sind (und damit nicht nur schuldrechtlich zwischen den Vertragsparteien, sondern auch, beispielsweise bei einer Weitergabe, gegenüber Dritten wirken), wenn es sich um eine nach der Verkehrsauffassung als solche hinreichend klar abgrenzbare, wirtschaftlich-technisch als einheitlich und selbstständig erscheinende Nutzungsart handelt26. Es gilt dabei der sogenannte Zweckübertragungsgrundsatz, nach dem der der Urheber im Zweifel keine weitergehenden Rechte überträgt, als es der Zweck der Vertrages erfordert.27 Zudem darf – insbesondere in AGB – gem. § 69d Abs. 1 UrhG (ggf. i. V. m. § 307 BGB) keine Beschränkung der „bestimmungsgemäßen Nutzung“ der Software erfolgen.28 Diese bestimmungsgemäße Benutzung bestimmt sich dabei nach dem Überlassungszweck und somit wesentlich nach dem Charakter des zugrundeliegenden Softwareübertragungsvertrages (Kauf-, Werkvertrag oder Miete).29 Zumindest Teile der Rechtsprechung gehen daher grundsätzlich davon aus, dass 20 Systemvereinbarungen, wonach die Software nur auf einer bestimmten Hardware benutzt werden darf („der Kunde darf die Software nur auf der Hardware X nutzen“) bei kaufrechtlicher Überlassung in AGB unwirksam sind, da sie dem gesetzlichen Leitbild des Kaufvertrags zur dauerhaften Überlassung in eigener Verfügungsgewalt widersprechen30. Lediglich eine Unterbindung der Mehrfachnutzung oder des Online‑Betriebs wird überwiegend als zulässig angesehen31. Dem gesetzlichen Leitbild des Mietvertrags sind solche Einschränkungen hingegen eher geläufig. Bei mietvertragsrechtlich ausgestalteten Softwareüberlassungsverträgen sind vergleichbare Beschränkungsklauseln daher grundsätzlich als wirksam anzusehen, wenn dadurch lediglich die Ausnutzung der Kapazitäten leistungsstärkerer Rechner unterbunden werden soll32 (allerdings 25In

der Praxis wird es häufig ausreichen, den Katalog der Verwertungsrechte in den §§ 15 ff. UrhG auf tatsächlich benötigte Nutzungsrechte abzugleichen, wobei zusätzlich noch die Frage bedacht werden sollte, ob auch ein Recht zur Unterlizenzierung an Dritte eingeräumt werden soll und ob eine Übertragung der eingeräumten Nutzungsrechte an Dritte möglich sein soll. 26Vgl. BGH GRUR 1992, 310, 31; Dreier/Schulze, Urheberrechtsgesetz, 3. Auflage, § 31 Rn. 9 m. w. N. 27Vgl. Dreier/Schulze, Urheberrechtsgesetz, 3. Auflage, § 31 Rn. 110 ff. m. w. N. 28Vgl. Dreier/Schulze, Urheberrechtsgesetz, 3. Auflage, § 69 d Rn. 7 f. 29Vgl. OLG Düsseldorf CR 2002, 95, 96 f.; Wandtke/Bullinger/Grützmacher, Urheberrecht, 3. Auflage, § 69 d Rn. 7. 30Vgl. OLG Frankfurt NJW-RR 1995, 182; LG Frankfurt CR 1999, 147, 149. 31Vgl. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, 5. Auflage, Rn. 1691 ff. m. w. N. 32Vgl. BGH NJW 2003, 2014, a. A. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, 5. Auflage, Rn. 1671.

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darf z. B. nicht der Wechsel eines defekten Systems unmöglich gemacht werden). Die Beschränkung auf eine bestimmte Anzahl von Nutzern, die die Software zeitgleich („concurrent user“) nutzen dürfen, ist ohne weiteres wirksam.33

18.2.6 Escrow Agreements Beim Erwerb von Unternehmenssoftware trifft der Käufer oft eine weitreichende 21 Investitionsentscheidung, die sich aufgrund von hohen Lizenzkosten und Migrationsaufwänden nicht ohne weiteres korrigieren lässt. Er benötigt daher ein größtmögliches Maß an Investitionssicherheit für seine Entscheidung. Die Behebung im Betrieb auftretender Mängel und die fortlaufende Weiterentwicklung der Software zur Anpassung an neue Technologien und Anforderungen müssen während des gesamten Einsatzzeitraums gesichert sein. Zu diesem Zweck werden entsprechende Pflegeverträge mit den Softwareanbietern geschlossen. Da der Kunde auch bei einem solchen Pflegevertrag auf die Vertragserfüllung und das Fortbestehen des Pflegedienstleisters angewiesen ist, kann er größtmögliche Zukunftssicherheit für die Software nur dann erhalten, wenn er sich selber den Quellcode und das Bearbeitungsrecht hieran übertragen lässt. Unter Quellcode ist dabei der lesbare Programmcode der Software auf Ebene der Maschinensprache zu verstehen, der dann durch den Computer in den sogenannten Objektcode übersetzt („compiliert“) wird, wobei der Objektcode als eigentliche Softwareanwendung auf den Zielrechnern des Kunden installiert wird. Nutzbar ist der Quellcode regelmäßig nur, wenn er mit entsprechenden Dokumentationen und den benötigten Entwicklungstools zusammen vorhanden ist. Nur wenn der Softwareanwender über diesen Quellcode nebst Entwicklungstools und Dokumentation verfügen kann, kann er mit eigenen Mitteln oder durch Dritte die Pflege der Software auch in Zukunft unmittelbar sicherstellen. Dem Interesse des Kunden an dem Quellcode steht allerdings regelmäßig ein ebenso 22 beachtenswertes Interesse des Softwareherstellers an der Geheimhaltung des Quellcodes entgegen. Der Quellcode beinhaltet wichtige Betriebsgeheimnisse und stellt für viele Softwarehersteller als geistiges Eigentum des Unternehmens ihr wesentliches Betriebsvermögen dar. Zudem sichert die Hoheit über den Quellcode dem Softwarehersteller auch die Möglichkeit, über das reine Lizenzgeschäft hinaus lukrative Pflegeverträge abzuschließen. Daher ist der Softwarehersteller bestrebt, nur den ausführbaren Objektcode der Software in compilierter Form an seine Kunden herauszugeben. Um in dieser Situation einen Ausgleich zwischen beiden Interessen herbeizuführen, 23 wurden insbesondere in den USA sog. Escrow Agreements zur Hinterlegung des Quellcodes bei einem neutralen Dritten entwickelt. Im Wesentlichen bestehen solche Vereinbarungen aus der Vereinbarung der Hinterlegung bei dem Dritten, der Festlegung der Fälle, in den der Kunde von dem Dritten die Herausgabe des Quellcodes verlangen kann

33Vgl.

Wandtke/Bullinger/Grützmacher, Urheberrecht, 3. Auflage, § 69 d Rn. 36 m. w. N.

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und die Regelung der Nutzungs- und Bearbeitungsrechte für den Kunden in genau diesen vereinbarten Herausgabefällen, um die bearbeitete Software auch im vertraglichen Umfang nutzen zu können. Aufgrund des damit verbunden Aufwands ist eine solche Hinterlegungsvereinbarung nur dann sinnvoll, wenn die gezahlte Lizenzsumme und/oder die Bedeutung der Software für den Unternehmensablauf die Kosten der Hinterlegung rechtfertigen. Dies dürfte regelmäßig der Fall sein, wenn die Software als unternehmenskritisch angesehen wird, und/oder die Ersatzbeschaffung über alternative Produkte schwierig erscheint. Auch die Einschätzung des Kunden zur Insolvenzwahrscheinlichkeit bzw. der Fortbestehensprognose des Softwareanbieters kann hier eine Rolle spielen. Einer der Gründe für den Erfolg solcher Vereinbarungen im US amerikanischen Rechtsraum ist nämlich deren Insolvenzfestigkeit, die dem Zugriff des Insolvenzverwalters entzogen sind. Leider ist dieser Status in Deutschland – trotz jahrelanger Diskussionen um eine entsprechende Reform des § 108 oder § 108a InsO – bisher kaum rechtssicher zu erhalten.34 24 § 103 InsO gewährt dem Insolvenzverwalter das unabdingbare Recht, für noch nicht vollständig erfüllte Verträge die weitere Erfüllung zu verweigern. Soweit die Hinterlegungsvereinbarung zum Zeitpunkt des Insolvenzfalls seitens des insolventen Unternehmens bezüglich der Herausgabe des Quellcodes noch nicht vollständig erfüllt ist, (z. B. weil ein Zustimmungserfordernis formuliert wurde) führt eine Erfüllungsverweigerung zur Vereitelung der Quellcodeherausgabe. Zwar hat die Rechtsprechung in der Vergangenheit bestimmte Konstellationen der aufschiebend bedingten dinglichen Vorabübertragung von Nutzungsrechten als außerhalb des Zugriffs der InsO anerkannt35, faktisch bleibt aber festzuhalten, das bisher gerade für diese wichtige Motivation zum Abschluss einer Hinterlegungsvereinbarung ein nicht unerhebliches Maß an Rechtunsicherheit verbleibt, das die Attraktivität solcher Klauseln für beide Seiten maßgeblich mindert. 25 

! Praxistipp  Da insolvenzfeste Hinterlegungsvereinbarungen in Deutschland problematisch sind, ist aus Sicht des Softwareerwerbers die unbedingte Übereignung des Quellcodes – inkl. Dokumentation, Entwicklungstools und regelmäßiger Aktualisierung durch den Entwickler – anzustreben.

18.2.7 Weiterverkauf gebrauchter Software (Used Soft) 26 Die Praxis der Softwareanbieter, ihre Software nur in fest geschnürten Paketen (sog. Volumenlizenzen), oder in Verbindung mit einer bestimmten Hardware anzubieten, kollidiert immer wieder mit den tatsächlichen Bedürfnissen ihrer Kunden, die nach einer

34Vgl. Kilian/Heussen, Computerrecht, 28. Ergänzungslieferung, Software-Hinterlegungsverträge Rn 78 ff.; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, 5. Auflage, Rn. 1783 ff. 35BGH NJW 2006, 915 f.

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individuellen Befriedigung ihres aktuellen oder künftigen Bedarfs suchen. Anbieter von „Gebrauchtsoftware“ bieten daher an, einzelne nicht mehr benötigte Lizenzen aus solchen Paketen heraus vom Ersterwerber zu übernehmen und in beliebigen neuen Losgrößen an Zweiterwerber weiter zu verkaufen. Üblicherweise erklärt dabei der Ersterwerber, dass er die Software ursprünglich legal erworben hat und nun die verkaufte Anzahl an Installationen auf seinen Computeranlagen gelöscht hat. Diese Erklärung wird häufig mit einer notariellen Beglaubigung versehen und dem Zweiterwerber beim Kauf der Lizenzen zum „Beleg“ der Rechtmäßigkeit des Erwerbs gegenüber dem Softwarehersteller beigefügt. Die Rechtsprechung hat bereits vor Jahren entschieden, dass sog. OEM Software, 27 d. h. Programm-CDs inklusive entsprechender Nutzungsberechtigung, die die Hardwareanbieter auf der verkauften Hardware vorinstallieren und beim Verkauf beilegen und damit mitverkaufen, vom einem Zwischenhändler grundsätzlich zumindest dann auch unabhängig von der mitgelieferten Hardware frei weiterveräußert werden darf, wenn die Software initial mit Zustimmung des Rechteinhabers in den Verkehr gebracht worden ist.36 § 69c Nr. 3 Satz 2 UrhG regelt den sog. Erschöpfungsgrundsatz, dem zufolge das wirtschaftliche Interesse des Softwareverkäufer ausreichend gewahrt ist, wenn ein körperliches Vervielfältigungsstück seiner Software mit seinem Einverständnis (also regelmäßig gegen Bezahlung an ihn und unter Beachtung seiner Vorgaben) in der EU eingeführt wurde. In diesem Moment ist sein Recht zur weiteren Beschränkung des Verbreitungsrechts an diesem Vervielfältigungsstück der Software erschöpft. Allerdings ist zu beachten, dass der BGH lediglich die Frage der Erschöpfung des Verbreitungsrechts abschließend beurteilt hat. Nach wie vor höchst umstritten ist die Frage, inwieweit vertragliche Weitergabebeschränkungen den Erwerb der erforderlichen Nutzungsrechte durch den Zweiterwerber unmöglich machen und damit regelmäßig den Handel mit Gebrauchtsoftware illegal machen. So hat das OLG München in einer seinerzeit vielbeachteten, nicht rechtskräftigen Entscheidung37 entschieden, dass es dem Erwerber im Falle einer vertraglichen Weitergabebeschränkung – die von Softwareanbietern dem Erwerber regelmäßig formularmäßig auferlegt werden – an den erforderlichen Nutzungsrechten fehlt, auch wenn das Verbreitungsrecht als solches erschöpft ist. Beschränkungen, die der Softwarehersteller – z. B. in seinen AGB – für die- 28 ses Weiterveräußerungsrecht formuliert, sind nach dieser Rechtsprechung zulässig und zu beachten. Dieser Auffassung hat sich in der Folge auch das OLG Frankfurt angeschlossen.38 Nach der Revision durch die Beklagte hat der BGH den Fall dem EuGH vorgelegt. Der EuGH hat in seinem Urteil die Zulässigkeit des Handels mit gebrauchter Software unter Einschränkungen als zulässig erachtet, gleichzeitig aber von mehreren Voraussetzungen abhängig gemacht: So darf der Veräußerer die Lizenz, etwa

36BGH

MMR 2000, 749. München, MMR 2008, 601, Revisionsentscheidung des BGH Az. I ZR 129/08. 38OLG Frankfurt a. M. MMR 2009, 544. 37OLG

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wenn diese für mehr User erworben wurde, als für seine Zwecke erforderlich, nicht etwa aufspalten und das Recht zur Nutzung anschließend an eine von ihm selbst bestimmte Anzahl von Nutzern weiterveräußern. Der Verkauf „überzähliger“ Lizenzen ist damit untersagt; zudem muss der Veräußerer seine Programmkopie unbrauchbar machen und darf die Lizenzen nur gemeinsam mit der ihnen zugrunde liegenden Programmkopie veräußern und nicht isoliert weiterverkaufen.39 Im Anschluss an die Entscheidung des EuGH hat der BGH den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Sachverhaltsaufklärung an das OLG München zurückverwiesen (I ZR 129/08). Das LG Hamburg hat in Anwendung der vom EuGH aufgestellten Leitlinien in jüngster Zeit verschiedene Klauseln eines Softwareherstellers zum Weitervertrieb gebrauchter Software für unzulässig erklärt.40 So erachtete das Gericht sowohl eine Klausel, die eine zwingende schriftliche Zustimmung des Softwareherstellers zur Weitergabe der Software vorsieht, als auch eine Klausel zum Zukauf weiterer Lizenzen und zur Vermessung (externe Kontrolle, wie viele Nutzer auf die Software zugreifen können) als wettbewerbswidrig. Die weiteren Klauseln wurden vom Gericht nicht beanstandet. 29 In der Unternehmenspraxis wird Software allerdings nur noch selten in Form von verkörpernden Datenträgern per CD-ROM und Einzelplatzlizenz vertrieben. Regelmäßig erfolgt die Übermittlung der Software online über einen Download vom Herstellerportal. Die Frage der Anwendbarkeit des Erschöpfungsgrundsatzes bei nicht verkörpert übertragener Software war ursprünglich höchst streitig und wurde von der nationalen Rechtsprechung mehrheitlich abgelehnt.41 Der EuGH ist dem jedoch entgegengetreten und hat entschieden, dass der Erschöpfungsgrundsatz auch dann Anwendung findet, wenn die Softwarekopie mittels eines Downloads in den Verkehr gelangt ist.42 Damit ist nunmehr auch die Weiterveräußerung unkörperlich überlassener Software unter den vom EuGH aufgestellten Grundsätzen zulässig. 30 

! Praxistipp  Auch nachdem der EuGH nun Leitlinien für den Weiterverkauf aufgestellt hat, bleibt abzuwarten, wie sich die Rechtsprechung der Instanzgerichte dazu entwickelt. Die jüngste Entscheidung des LG Hamburg zeigt, dass Lizenzbedingungen, die eine Weitergabe verbieten, nunmehr in geringerem Umfang zulässig sind als zuvor. Gänzlich ausgeschlossen sind sie damit jedoch nicht. Es kommt auf die Formulierung der Bedingungen an, die den Vorgaben des EuGH gerecht werden müssen. Bis zu einer abschließenden Klärung durch die nationalen Gerichte hinsichtlich der Zulässigkeit der Weiterver-

39EuGH,

Urteil vom 03.07.2012 – C-128/11, Rn. 44, 86 ff. Hamburg, Urteil vom 25.10.2013 – 315 O 449/12). 41Vgl. nur OLG Düsseldorf, ZUM 2010, 60; ebenso OLG Frankfurt a. M., Urteil vom 18.05.2010, 11 U 69/09. 42EuGH, Urteil vom 03.07.2012 – C-128/11, Rn. 58 ff; nunmehr auch OLG Frankfurt, Urteil vom 18. Dezember 2012 – 11 U 68/11. 40LG

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äußerung gebrauchter Software, deren Übertragbarkeit vom Rechteinhaber ausgeschlossen wurde, kann dieses Geschäftsmodell je nach konkreter Ausgestaltung also auch weiterhin erhebliche Risiken bergen. Auch eine notarielle Bestätigung der Anbieter bestätigt regelmäßig nur die Echtheit der Unterschrift des Erstwerbers unter seine Bestätigung, kann jedoch nicht die Rechtmäßigkeit des Erwerbs absichern.

18.3 Hardwarebeschaffung Gegenüber den besonderen Gesichtspunkten der Beschaffung von Software aufgrund der 31 Beschaffenheit des Vertragsgegenstandes gestalten sich Verträge zur Beschaffung von IT Hardware – rechtlich – erheblich weniger komplex, da es hierbei im Wesentlichen um die klassische Beschaffung von Anlagegütern für das Unternehmen geht, bei denen der Unternehmensjurist auf sein allgemeines Wissen in diesem Bereich zurückgreifen kann. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang allerdings auf die besondere Bedeutung der sorgfältigen Formulierung eines Pflichten-/Lastenheftes für den Hardwarelieferanten, in dem insbesondere der vorgesehene Einsatzzweck der Hardware und die entsprechende Systemumgebung zwischen Erwerber und Anbieter abzustimmen ist. Nur wenn der Anbieter über diese Rahmenbedingungen ausreichend informiert ist, kann er auch im Nachhinein an seiner ggf. bestehenden vorvertraglichen Aufklärungsund Beratungspflicht bezüglich der Auswahl der richtigen Hardwarekomponenten festgehalten werden.43 Oftmals machen Softwareanbieter konkrete Vorgaben innerhalb ihrer AGB, denen zu Folge die Leistungsfähigkeit der Software von der Verfügbarkeit konkret vorgegebener Leistungsparameter der Hardwareumgebung abhängig gemacht wird. Diese Wechselwirkung ist daher auch bei der Beschaffung von Hardwaregütern zu berücksichtigen. Gerade bei Hardwarebeschaffungsprojekten ist in der Vergangenheit ein deutlicher 32 Wechsel der Prioritäten festzustellen gewesen, der den Kauf von Hardware gegenüber der Vereinbarung von Miet- und Leasinglösungen in den Hintergrund geraten lässt. In Zukunft ist zudem mit einer weiter zunehmenden kompletten Verlagerung von IT Tätigkeiten auf gemietete Infrastrukturkapazitäten – sei es im Wege des Cloud Computing oder bei der Verlagerung von Services auf externe Provider – zu rechnen, die eine eigene Beschaffung von IT Hardware im Unternehmen an Bedeutung weiter verlieren lassen wird. Der zeitlich begrenzte Erwerb von Hardware hat wie die Software-Miete beziehungsweise das Software-Leasing vergleichbare Vorteile. Da sich die Technologien auf dem Hardware-Markt sehr rasant entwickeln, verringert der Erwerb auf Zeit das Investitionsrisiko, an veralteter, überholter Hardware gebunden zu sein. Miet- oder

43Vgl. OLG Köln, NJW-CoR 1995, 48; NJW 1996, 1067; Redeker, IT-Recht, 4. Aufl. 2007, Rz. 400 m.w.N.

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Leasingverträge bieten sich vor allem dann an, wenn kurzfristige und flexible EDV-Lösungen benötigt werden. Zudem macht das für die gesamte Vertragsdauer bestehende Gewährleistungsrecht zusätzliche Wartung- und Pflegeveträge oftmals überflüssig.44 Lösungen auf Grundlage des Finanzierungsleasings stellen zudem aus steuerrechtlicher Sicht oft die wirtschaftlich attraktivere Beschaffungsvariante dar, weshalb sich Finanzierungsleasingsverträge im Bereich der Hardwarebeschaffung für Unternehmen durchgesetzt haben.45

18.4 IT Services 33 Ebensowenig wie es einen einheitlichen Begriff der „IT Services“ gibt, gibt es auch keinen gesetzlich ausdrücklich geregelten „IT Servicevertrag“. Es handelt sich vielmehr meist um Verträge, die über entsprechende Leistungsscheine und Service Level Agreements (SLA) eine Vielzahl verschiedener Vertragsgegenstände regeln, wie z. B. den Betrieb von Hardware, die Migration von Datenbeständen, die Wartung und Pflege von Softwareapplikationen, Supportleistungen, Vor-Ort Reparaturleistungen, Umzüge von Hardware oder die Beschaffung von Hard- und Software. Sie sind daher üblicherweise als Dauerschuldverhältnis mit typengemischten Vertragstypus ausgestaltet und enthalten eine Mischung aus Kauf-, Dienst-, Werk- und Mietverträgen.46

18.4.1 Einkauf/Outsourcing von IT-Services 34 Bei der Formulierung von IT Service- oder Outsourcingverträgen ist es daher wichtig, den gesamten Prozess der Verlagerung der bisher intern oder von einem anderen Anbieter erbrachten Dienste auf den Vertragspartner sorgfältig abzubilden; angefangen bei der Überleitung der für die Serviceerbringung notwendigen Betriebsmittel auf den neuen Anbieter (die „Transitionphase“), über die Kontrolle der SLA und operativen Leistungserbringung (die „Operative Phase“) bis zur möglichen Rückübertragung am Vertragsende (die „Exitphase“).

18.4.1.1 Transitionsphase 35 Wenn ein Unternehmen einen Dienstleister mit der Erbringung bestimmter IT Services beauftragt, werden diese Leistungen üblicherweise mit Hilfe oder an bisherigen

44Vgl. Stadler/Kast, in: Auer-Reinsdorff/Conrad, Hdb. IT- und Datenschutzrecht, 2. Aufl. 2016, § 15 Rn. 54 ff. 45Stadler/Kast, in: Auer-Reinsdorff/Conrad, Hdb. IT- und Datenschutzrecht, 2. Aufl. 2016, § 15 Rn. 86. 46Dazu ausführlicher Glossner in: Bräutigam, IT-Outsourcing, 2004, S. 209 ff.

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Betriebsmitteln des beauftragenden Unternehmens oder eines anderen Dienstleisters erbracht. Das bedeutet, dass der neue Anbieter in die Lage versetzt werden muss, auf alle notwendigen Betriebsmittel für seine Dienstleistungen zuzugreifen. Dazu muss der Auftraggeber sich zunächst unbedingt Klarheit verschaffen, welche Mittel bisher notwendig waren, den Dienst zu erbringen, wie mit diesen weiter umzugehen sein wird – d. h. ob sie auf den Dienstleister übertragen oder ihm nur beigestellt werden – und ob diese Mittel für den beauftragten künftigen Service überhaupt noch benötigt werden. Bei entsprechendem Volumen der Serviceerbringung empfiehlt es sich eine gründliche Prüfung der vorhandenen Betriebsmittel im Sinne einer technischen und rechtlichen Due Diligence durchzuführen. Sofern eine Übertragung der Betriebsmittel vorgesehen ist, sind die entsprechende Rahmenbedingungen zu klären, z. B: • Bei der Übernahme von Datenbeständen müssen die datenschutzrechtlichen Vorgaben 36 zur Übertragung der Daten auf den neuen Dienstleister eingehalten sein, insbesondere wenn eine grenzüberschreitende Übertragung vorgesehen ist.47 • Bei der Übernahme von Softwarelizenzen ist darauf zu achten, dass die entsprechenden Übertragungen nach den Bedingungen des Softwareanbieters zulässig sind, bzw. die ggf. notwendige Zustimmung eingeholt wird.48 • Bei der Übertragung von Hardware ist auf die Festschreibung des Übertragungswertes und daran geknüpfte steuerliche und bilanzrechtliche Folgen zu achten.49 • Bei der Übertragung von Verträgen mit Subunternehmern oder Drittprovidern, die für die Serviceerbringung notwendig sind, ist rechtzeitig deren Zustimmung zur Vertragsübertragung einzuholen (§ 415 BGB).50 • Generell ist auf die Möglichkeit eines gesetzlich eintretenden Betriebsübergangs der betroffenen Mitarbeiter nach § 613a BGB aufgrund einer möglichen Übertragung eines eigenen Betriebsteils zu achten.51 Auch wenn die Betriebsmittel nicht vollständig übertragen, sondern lediglich für die 37 Serviceerbringung beigestellt werden, ist auf die Einhaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen – insbesondere bei Softwarelizenzen und sonstigen Verträgen – zu achten. Soweit zusätzlich Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden, sind ggf. auch die mietrechtlichen Aspekte einer genehmigten Untervermietung sowie versicherungsrechtliche Vorgaben zu beachten.

47Vgl.

Glossner in: Bräutigam, IT-Outsourcing, S. 360 ff. Fritzemeyer/Koch, CR 2003, 793 ff.; Söbbing, CR 2004, 45 ff. 49Vgl. Bräutigam, in: Bräutigam, IT-Outsourcing, S. 787. 50Vgl. Söbbing, ITRB 2004, 44 ff. 51Hierzu ausführlich Mahr in Bräutigam, IT-Outsourcing, S. 369 ff. 48Vgl.

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18.4.1.2 Operative Phase 38 Wenn sich ein Unternehmen entscheidet, Teile oder alle IT Dienstleistungen durch einen externen Provider betreiben zu lassen, können viele Motivationen Hintergrund hierfür sein, z. B. die Hoffnung auf Kostenersparnisse, auf Harmonisierung der IT Landschaft oder Professionalisierung des Services. In allen Fällen benötigt der Auftraggeber aber ein wirkungsvolles vertragliches Rahmenwerk, um die Kontrolle der Leistungserbringung durch den Dienstleister effektiv durchführen und durchsetzen zu können. Aufgaben und Services können zwar auf externe Dienstleister verlagert werden. Ein Outsourcing von Verantwortung gegenüber Mitarbeitern und Gesellschaftern sowie dem Gesetz ist allerdings letztlich nicht möglich. 39 Gerade wenn die Beauftragung eines Dritten die Verlagerung und Verarbeitung persönlicher Daten beinhaltet, sind die Kontrollaufgaben des Auftraggebers von besonderer Bedeutung. § 11 BDSG (bzw. Art. 28 DSGVO) verpflichtet das Unternehmen als Auftraggeber zum Abschluss einer schriftlichen Vereinbarung mit dem Dienstleister, der in seinem Auftrag Daten verarbeitet.52 Einer der gesetzlich vorgeschriebenen Mindestinhalte dieser Vereinbarung ist die Einräumung umfassender Kontrollrechte für den Auftraggeber bezüglich der ordnungsgemäßen Datenverarbeitung durch den Dienstleister. Die Qualität der Leistungserbringung wird über sogenannte Service Level Agree40 ments (SLA) überwacht. Die Notwendigkeit zur Vereinbarung von SLA ergibt sich aus der Unbestimmtheit des Gesetzes. § 243 Abs. 1 BGB bestimmt lediglich, dass Dienstleistungen als „Leistungen mittlerer Art und Güte“ erbracht werden müssen. Damit ist in der Regel keinerlei Klarheit zu erreichen, was diese Vorgabe in der Praxis der Serviceerbringung bedeutet.53 Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass auch in der IT Servicebranche – mangels anderslautender Präzisierung – eine versprochene Leistung zu jeder Zeit 100 % zur Verfügung steht.54 Dieses Leistungsversprechen erscheint aber z. B. in solchen Bereichen, die in irgendeiner Form auf eine zeitgleich stabil verfügbare Internetverbindung angewiesen sind, faktisch nicht umsetzbar. In anderen Fällen ist eine solche hohe Verfügbarkeit auch nicht notwendig. Während das Unternehmen von einer möglicherweise sogar mehrstündigen Nicht-Erreichbarkeit bestimmter Softwareanwendungen oder Datenbestände kaum nennenswert betroffen ist, kann bei anderen Anwendungen (z. B. Softwaresteuerung von Präzisionsmaschinen) bereits eine minimale Verfügbarkeitsschwankung erhebliche negative Folgen für das anwendende Unternehmen haben. Je nach Vereinbarung kann es auch ausreichend sein, wenn z. B. ein IT Support Mitarbeiter während der normalen Geschäftszeiten (Mo. bis Fr., 8 bis 18 Uhr) zur Verfügung steht während in zeitkritischen Anwendungen ein 365 × 24 Stunden erreichbarer Sofortnotdienst notwendig und vom Kunden erwartet sein kann. Es ist daher

52Glossner

in: Bräutigam, IT-Outsourcing, S. 48 ff. Heymann/Lensdorf in: Redeker, IT-Verträge, Stand Juni 2010, 5.4 Rz. 110 ff. m. w. N. 54BGH CR 2001, 181, 182. 53Vgl.

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unerlässlich, dass sich Anbieter und Auftraggeber über die erwartete Leistungsqualität einigen und diese Einigung sorgfältig dokumentieren. Inhaltlich sind bei einer solchen Vereinbarung v. a. die erwarteten Zielwerte, die anzuwendenden Messmethoden bzw. Messpunkte und die Art und Häufigkeit des Reportings zur Einhaltung der vorgegebenen Zielwerte festzulegen.55 Ohne einen wirkungsvollen Sanktionenmechanismus bei Nichteinhaltung der ver- 41 einbarten Zielwerte ist ein SLA wirkungslos.56 Üblich ist daher die Vereinbarung eines individuell passenden Malus-/Bonussystems für den Fall der Nichterreichung (sog. „Service Credits“) ebenso wie für die Übererfüllung der versprochenen Leistungsqualitätswerte. Aufgrund dieser Pönalisierung stellt sich auch die Frage nach der Rechtsnatur von Service Credits.57 Die Betrachtung als pauschalierte Vertragstrafenregelung greift allerdings insbesondere dann zu kurz, wenn neben einer Malus Regelung auch die Möglichkeit des Bonus für überobligatorische Leistungserbringung gegeben ist. Diesen Umstand berücksichtigt eher die Auffassung, die darin eine leistungsabhängige Vergütungsregelung und damit eine Preisbestimmungsregelung sieht. In diesem letzten Fall sind die entsprechenden Regelungen auch der Inhaltskontrolle nach AGB Recht entzogen. Da SLA aber in vielen Fällen ohnehin auf den jeweiligen Anwendungsfall individuell abgestimmt und vereinbart werden, ist dieser Umstand in der praktischen Anwendung nicht überzubewerten. Nur in den seltensten Fällen und bei sehr kurzfristigen Projekten lässt sich bereits 42 bei Beauftragung des Dienstleisters abschließend das volle Spektrum der Kundenanforderungen abschätzen. Je länger ein Projekt dauert, umso größer ist zudem die Chance, dass sich die Anforderungen oder das Umfeld der Leistungserbringung erweitern oder verändern. Aus diesem Grund ist es wichtig, bereits bei der Beauftragung des Dienstleisters die notwendige Flexibilität in das Regelwerk zwischen beiden Partnern aufzunehmen. Die gesetzlichen Anpassungsregeln des § 313 BGB sind nicht ausreichend, da diese eine Anpassung nur bei schwerwiegenden Veränderungen und Unzumutbarkeit des Festhaltens am Vertragswortlaut erlauben. Darüber hinaus enthalten sie keine Vorgabe für das anzuwendende Prozedere der Vertragsanpassung. Vertragsanpassungsklauseln sollten daher den sog. Change Request Prozess möglichst abschließend regeln, und dabei insbesondere darauf eingehen, wer einen Change Request initiieren darf, wer die Kosten der Angebotserstellung trägt, innerhalb welcher Fristen eine Reaktion mit einem aussagekräftigen Angebot durch die Gegenseite erfolgen muss und welche Auswirkungen Change Requests auf Machbarkeit, Vergütung und Zeitplan des Projekts haben können.58 In den gleichen Zusammenhang gehört die Empfehlung zur

55Heymann/Lensdorf

in: Redeker, IT-Verträge, 5.4 Rz. 117. auch Heymann/Lensdorf in: Redeker, IT-Verträge, 5.4 Rz.121 ff.; Bräutigam in: Bräutigam, IT-Outsourcing, S. 866 ff. 57Dazu ausführlich Bräutigam in: Bräutigam, IT-Outsourcing, S. 867 ff. 58Vgl. die Hinweise bei Heymann/Lensdorf in: Redeker, IT-Verträge, 5.4 Rz. 224 ff. 56Vgl.

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Aufnahme von Benchmark-Klauseln, die das Recht des Kunden formulieren, in regelmäßigen Zeitabständen die Angemessenheit der vertraglichen Vergütung anhand eines objektiven Marktvergleichs („Benchmarking“) zu überprüfen und ggf. auf das veränderte Marktniveau anzupassen.59

18.4.1.3 Exitphase 43 Da IT Serviceverträge oft mit einem langfristigen Horizont abgeschlossen sind, der Auftraggeber aber zugleich auf eine unterbrechungsfrei zur Verfügung stehende IT angewiesen ist, sollten bereits bei Vertragsschluss auch die für den Moment der Vertragsbeendigung notwendigen Regelungen mitgetroffen werden. Dafür spricht auch das psychologische Moment, dass eine Einigung über möglicherweise strittige Vertragsfragen zu Beginn des Vertrages und mit der Aussicht auf eine möglichst langfristige Vertragsbeziehung meist einfacher zu erzielen ist, als im Moment der Vertragsauflösung, wenn die Parteien bereits das Interesse an einer kooperativen Zusammenarbeit und fairem Kompromiss verloren haben. 44 Eine ordentliche Kündigung langfristiger Serviceverträge ist oft nur nach Ablauf einer Mindestvertragslaufzeit vorgesehen, die im besten Fall dem Dienstleister genügend Zeit lässt, einen SLA gerechten operativen Betrieb aufzubauen und die bei Vertragsschluss versprochenen Kostenspareffekte an den Auftraggeber weiterzugeben. Dennoch sind Situationen denkbar, die eine vorzeitige Vertragsbeendigung aus Sicht des Auftraggebers trotz der damit verbundenen Migrationsrisiken auf einen neuen Provider oder eine interne Leistungserbringung notwendig machen. Aus diesem Grund sind im Vertrag bereits die wichtigen Gründe zu definieren, die aufgrund vertraglicher Bestimmungen zur außerordentlichen Kündigung berechtigen. Denkbar sind z. B. die Unfähigkeit zur Einigung der Parteien über einen Change Request (s. o.), die wiederholte Nichteinhaltung der SLA bzw. einmalige Nichteinhaltung als besonders unternehmenskritisch definierter SLA oder der Wegfall der rechtlichen oder technischen Kompetenz des Dienstleisters zur Leistungserbringung. In jedem Fall ist für den Fall der Beendigung des Servicevertrags auch das Schicksal der begleitenden Verträge (z. B. Supportverträge, Wartungsverträge, Schulungsvereinbarungen) zu regeln (§ 139 BGB). 45 Darüber hinaus muss der Vertrag den unterbrechungsfreien Zugriff des Unternehmens auf seine IT gewährleisten. Es ist daher zu regeln, zu welchen Bedingungen der Auftraggeber Anspruch auf eine Rückübertragung bzw. Übertragung eventuell dem Dienstleister überlassener Betriebsmittel bzw. der für die Leistungserbringung notwendigerweise einzusetzenden Betriebsmittel (z. B. Server, Software etc.) hat. Bei der Festlegung der Methodik zur Berechnung des Übertragungswertes (z. B. Buchwert oder tatsächlicher Restwert) sind zudem die daran jeweils anknüpfenden bilanzrechtlichen und steuerrechtlichen Konsequenzen zu beachten. Wichtig ist es auch die Regelungen zur Herausgabe von Datenbeständen, sowie Übertragung zur Weiterbearbeitung notwendiger Software-

59Bräutigam

in: Bräutigam, IT-Outsourcing, S. 664 ff.

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tools, bzw. eventuell einzuschränkende oder auszuschließender Zurückbehaltungsrechte des Dienstleisters an diesen Daten bzw. Tools zu treffen. Hinsichtlich Software, die nur für die Erbringung der Services für einen konkreten Auftraggeber entwickelt oder individualisiert wurde, sollte vertraglich geregelt werden, dass diese einschließlich Quellcode und Dokumentation an den Auftraggeber herauszugeben ist. Schließlich sollte der Auftraggeber die Möglichkeit haben, den Dienstleister zu verpflichten, für eine Übergangszeit bis zur Übernahme der Services durch einen neuen Dienstleister oder interne Kapazitäten den Weiterbetrieb der IT sicherzustellen bzw. für eine definierte Übergangszeit die notwendigen Unterstützungsleistungen zur Migration der Services zu leisten. Kernanliegen der Exitregelungen muss es aus Sicht des Auftraggebers sein, die Kosten einer möglichen Migration bereits im Vorhinein soweit zu begrenzen, dass diese einen gewünschten oder sinnvollen Anbieter- oder Technologiewechsel nicht unwirtschaftlich machen und für das Unternehmen zu einem faktischen „Lock-in“, d. h. der unerwünschten Bindung an einen bestimmten Dienstleister führen.

18.4.2 Sonderfall Softwarepflegeverträge Ein spezieller Fall von IT-Services stellen Softwarepflegeverträge dar. Auch wenn sich 46 Software aufgrund ihrer digitalen Eigenschaften durch Benutzung nicht verändert oder verbraucht, ist für ihren komplikationslosen Einsatz über längere Dauer im Unternehmen dennoch eine regelmäßige Pflege und Wartung notwendig. Dies erklärt sich zum einen damit, dass die Programmierung moderner Unternehmenssoftware üblicherweise derart komplex und vielschichtig ist, dass selbst für die Programmierer und Entwickler der Software nicht für jeden theoretisch möglichen Anwendungsfall und jede Usereingabe überschaubar ist, ob die Software die Anforderungen der Befehlseingabe korrekt umsetzt und die gewünschten Ergebnisse hervorbringen wird. Programmierfehler oder sonstige Unstimmigkeiten, die ein korrektes Funktionieren der Software verhindern, sind durch entsprechende Korrektur-Kits (sogenannte „Patches“) zu korrigieren. Darüber hinaus verändern sich gegebenenfalls die Anforderungen des die Software nutzenden Unternehmens oder es ergeben sich Änderungen in der Soft- und Hardwareumgebung, innerhalb derer die Software eingesetzt werden soll. In diesem Fall sind auch bei einer fehlerfrei funktionierenden Software gegebenenfalls Anpassungen und Erweiterungen (regelmäßig als „Upgrades“ bezeichnet) notwendig. Schließlich ermöglicht es selbst eine lückenlose und nachvollziehbare Dokumentation nicht allen unterschiedlichen Endnutzern der Software, auftretende Komplikationen oder Fragen im Selbsthilfeverfahren zu lösen. In diesem Fall ist eine entsprechende Unterstützung („Support“) durch kompetente Ansprechpartner notwendig. Aus diesem Grund schließen Softwareerwerber und Softwareanbieter gerade beim 47 Erwerb unternehmenskritischer Software oft entsprechende Pflege- und Supportverträge ab, wobei darauf geachtet werden sollte, dass die zu erbringenden Pflegeleistungen eindeutig bezeichnet werden. Für den Softwareanbieter stellen diese Verträge eine

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regelmäßige Einnahmequelle dar, die – auch beim Softwarekauf – nach der Begleichung der Lizenzgebühren gegebenenfalls dauerhafte weitere Zahlungsströme gewährleistet. Dabei werden solche Verträge in vielen Fällen mit Wirkung direkt im Anschluss an die betriebsbereite Installation der Software abgeschlossen. Nicht immer wird darauf geachtet, dass – je nach Vertragstypus des Softwareerwerbs – der Softwareerwerber nicht verpflichtet sein sollte, wiederkehrende Pflegegebühren für eine Leistung zu bezahlen, die ihm aufgrund gesetzlicher Gewährleistungsvorschriften ohnehin kostenlos zusteht. Ungeachtet der Möglichkeiten zur wirksamen Einschränkung seiner Gewährleistungspflichten haften sowohl der Verkäufer nach Kaufrecht als auch der Hersteller einer nach Werkvertrag hergestellten Software im Rahmen ihrer gesetzlichen Gewährleistungspflichten für den Gewährleistungszeitraum von z. B. zwei Jahren ohnehin für das fehlerfreie Funktionieren ihrer Software, ohne hierfür zur Forderung einer entsprechenden Pflegegebühr berechtigt zu sein. Bei einer mietvertragsrechtlichen Überlassung der Software schuldet der Vermieter die gebrauchsbereite Überlassung sogar während der gesamten Laufzeit des Lizenzvertrages. Der Softwareerwerber sollte daher stets sorgfältig prüfen, dass nur diejenigen Leistungen gegen eine zusätzliche Pflegegebühr erbracht werden, die nicht bereits ohnehin aufgrund der gesetzlichen Gewährleistungsvorschriften – und damit ohne zusätzliche Kosten – zu liefern sind.60 Ferner empfiehlt es sich auf Nutzerseite, darauf zu achten, dass die Pflegeleistungen nicht nur auf die jeweils letzte Fassung (Release) der Software bezogen sind, weil auf diese ein mittelbarer Zwang besteht, neuere Releases zumeist kostenpflichtig zu beauftragen. Jedenfalls bei unternehmenskritischer Software sollte dringend darauf geachtet werden, dass die Pflege auch dann sichergestellt ist, wenn keine neuen Releases beauftragt werden. So vielfältig wie die Pflege- und Supportleistungen, die die Softwareanbieter zur 48 Verfügung stellen, sind auch die Einordnungen der entsprechenden Vertragstypen. Es handelt sich hierbei regelmäßig um typengemischte Verträge, bei denen dienstvertragliche Elemente (z. B. für die Supportleistungen) mit kaufrechtlichen Elementen (z. B. für die Lieferung von Upgrades oder Erweiterungsmodulen) und werkvertraglichen Elementen (z. B. für Patches und sonstige Fehlerbehebung) kombiniert werden. Nach allgemeinen Grundsätzen ist dabei jeder Vertragsteil grundsätzlich gesondert nach seiner Einordnung zu betrachten,61 wobei die weit überwiegende Meinung davon ausgeht, dass bei Wartungsverträgen meist das werkvertragliche Element überwiegt62. Abhängig von der vertraglich geschuldeten Leistung kann auch eine gegenseitige Beeinflussung der Vertragstypen und entsprechende Anpassung der Typeneinordnung möglich sein.

60Vgl.

Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, 5. Auflage, Rn. 1036 ff. BGH NJW 2007, 2394, 2395 Tz.21. 62Vgl. BGH NJW 1984, 2160; OLG München CR 1992, 401; Palandt-Sprau, BGB, 68. Auflage, Einf. v. § 631 Rdn.22. 61Vgl.

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18.5 Rechtliche Aspekte beim Betrieb der IT im Unternehmen – „IT Compliance“ Die Diskussionen um Compliance, d. h. eine rechtskonforme Unternehmensführung hat seit 49 den Aufsehen erregenden Korruptionsskandalen bekannter deutscher Unternehmen auch in der Praxis des Unternehmensjuristen erheblich an Bedeutung gewonnen. §§ 91, 93 Abs. 1 AktG und § 43 GmbH werden als gesetzliche Grundlagen herangezogen, Unternehmer in Deutschland zur „Sorgfalt des ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters“ anzuhalten. Konkret folgt daraus sowohl eine Sorgfaltspflicht des Unternehmensleiters bei der Organisation des Unternehmens als auch die Pflicht zur Einrichtung und Durchführung eines effektiven Überwachungssystems zur Früherkennung bestandsgefährdender Risiken. Erfasst werden von dieser Compliance-Pflicht alle Unternehmensbereiche. Aus der Fülle der gesetzlichen und vertraglichen Compliance-Pflichten, die von Unternehmen zu beachten sind, soll im Rahmen dieser Darstellung eine Auswahl besonders IT relevanter Pflichtenbereiche herausgehoben und erläutert werden: Die Pflichten zur elektronischen Archivierung von Geschäftsunterlagen, insbesondere die Anforderungen für die digitale Steuerprüfung, für Notfallkonzepte und interne Kontrollsysteme (IKS) sowie für die Dokumentation gegenüber Aufsichtsbehörden, Wirtschaftsprüfern oder Gerichten (vgl. I.), die Vorgaben zur IT Sicherheit im Unternehmen (vgl. II.) und zuletzt ein geraffter Überblick über den Datenschutz und die Anforderungen der neuen Europäischen Datenschutzgrundverordnung (vgl. III.).

18.5.1 Archivierung Die Pflicht des Kaufmanns zur Archivierung wichtiger Geschäftsunterlagen ist weder IT 50 spezifisch noch im Zuge der oben erwähnten Compliance Diskussionen neu entstanden. § 257 HGB und § 147 AO enthalten vielmehr bereits seit langem die Pflicht, Buchungsbelege, Bücher, Aufzeichnungen, Bilanzen und Jahresabschlüsse 10 Jahre lang und Handels- und Geschäftsbriefe sowie sonstige Unterlagen, soweit sie für die Besteuerung des Unternehmens wichtig sind, 6 Jahre aufzubewahren.

18.6 Revisionssichere E-Mail- und Daten-Archivierung Die besondere Relevanz für IT Fragen ergibt sich allerdings daraus, dass auch E-Mails 51 mit entsprechendem Inhalt als Geschäftsbriefe anzusehen sind.63 Auch E-Mails mit geschäftlich relevantem Inhalt sind daher mindestens 6 Jahre aufzubewahren. Der Ort

63Cöster in: Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, 2. Auflage 2009, § 147 Rz. 11; Ballwieser in: MünchKomm HGB, 2. Aufl. 2008, § 257 Rn. 12.

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der Aufbewahrung muss gem. § 146 Abs. 2 AO in Deutschland liegen. Seit Anfang 2009 wurde allerdings in § 146 Abs. 2a) AO zusätzlich die Möglichkeit eröffnet, einen Ort innerhalb der EU bzw. des EWR als Ort der Aufbewahrung zu wählen. Dieser Punkt ist insbesondere dann zu berücksichtigen, wenn Daten in internationalen Rechenzentren abgespeichert werden oder sog. Cloud Computing-Lösungen in Anspruch genommen werden, bei denen der konkrete Speicherort der Daten z. T. nur schwerlich nachvollziehbar ist. Soweit es die Erfüllung dieser gesetzlichen Aufbewahrungspflichten angeht, müssen demnach alle relevanten Daten zumindest einmal in einem Rechenzentrum in Deutschland bzw. der EU/EWR archiviert sein. 52 Die inhaltlichen Vorgaben zur korrekten Archivierung entstammen den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung (GoB) gem. §§ 238, 239, 257 und 261 HGB sowie §§ 145–147 AO. Diese wurden mit Schreiben des Bundesministerium der Finanzen vom 7. November 1995 für den Bereich der IT gestützten Buchführung als „Grundsätze ordnungsgemäßer DV-gestützter Buchführungssysteme (GoBS)“ präzisiert. Demnach muss die Archivierung • übersichtlich, • vollständig, • geordnet, • zeitgerecht, • nachprüfbar und • richtig 53 erfolgen.64 Für die Organisation der IT gestützten Buchführung bedeutet dies u. a., dass ein internes Kontrollsystem (IKS) zu errichten ist,65 dass eine Pflicht zur Dokumentation der DV-Buchführungssysteme besteht,66 dass die laut Programm zulässigen Systemänderungen zu beschreiben sind67 und das System die Unveränderbarkeit des Datenbestandes gewährleistet.68 Darüber hinaus muss für die Dauer der Aufbewahrungspflicht die maschinenlesbare Auswertung gem. den GDPdU (s. u. B.2.) der Unterlagen und Daten gewährleistet sein.

64Vgl.

BMF Schreiben vom 7. November 1995, Anlage Tz. 1.2. BMF Schreiben vom 7. November 1995, Anlage Tz. 4. 66Vgl. BMF Schreiben vom 7. November 1995, Anlage Tz. 6. 67Vgl. BMF Schreiben vom 7. November 1995, Anlage Tz. 6. 68Vgl. BMF Schreiben vom 7. November 1995, Anlage Tz. 2 und 5. 65Vgl.

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18.7 Fitness für die digitale Steuerprüfung Seit 2002 hat die Finanzverwaltung mit der Formulierung der Grundsätze zum Daten- 54 zugriff und zur Prüfbarkeit digitaler Unterlagen (GDPdU) das Wahlrecht, statt manueller Unterlagenauswertung eine softwaregestützte digitale Auswertung angeforderter Unterlagen durchzuführen.69 Damit löst die digitale Prüfung sämtlicher verfügbarer Daten nach standardisierten statistischen Verfahren die bloße Stichprobenkontrolle nach individuellen Schwerpunkten des einzelnen Prüfers ab. Gegenstand der digitalen Steuerprüfung sind grundsätzlich alle aufbewahrungspflichtigen 55 Unterlagen einschließlich der E-Mails (s. o. B..), wobei sich das Zugriffsrecht der Finanzverwaltung ausschließlich auf Daten beschränkt, die für die Besteuerung des Unternehmens von Bedeutung sind („steuerlich relevante Daten“). Dies umfasst in jedem Fall die Daten der Finanzbuchhaltung, der Anlagenbuchhaltung und der Lohnbuchhaltung.70 Hinzu kommen ECM Systeme, da auch eingescannte Unterlagen als originär digitale Unterlagen gelten.71 Leider geben weder Gesetzgeber noch Finanzverwaltung dem Steuerpflichtigen eine weitergehende Leitlinie an die Hand, wie im übrigen die Auswahl der steuerlich relevanten Daten zu treffen ist. Der Unternehmer muss diese Auswahl vielmehr selbst treffen, wobei es im Ermessen des Betriebsprüfers liegt, inwieweit er diese getroffene Auswahl akzeptiert.72 Digitalisierte Unterlagen, die in den IT Systemen der Unternehmen vorhanden sind, 56 müssen archiviert und digital prüfbar zur Verfügung gestellt werden. Praktisch bedeutet dies u. a.:73 • Der Originalzustand der gespeicherten Daten muss stets erkennbar sein. • Verschlüsselte Daten sind sowohl verschlüsselt als auch entschlüsselt inkl. dem verwendeten Schlüssel aufzubewahren. • Bei einer Konvertierung z. B. in unternehmenseigene Datenformate sind beide Versionen bereitzuhalten. • Bei elektronischen Abrechnungen sind die elektronischen Signaturen, die in die entsprechenden Rechnungsdokumente integriert sind, mit abzuspeichern. • Die Bereithaltung ausschließlich ausgedruckter Dokumente oder einer Mikrofilmspeicherung genügt den Anforderungen nicht. • Bei der Wahl der Dateiformate ist darauf zu achten, dass diese maschinell auswertbar sein müssen, was z. B. bei PDF-Dateien (anders allerdings für PDF-A) oder TIFFDateien grundsätzlich nicht der Fall ist.74

69Vgl.

BMF Schreiben vom 16. Juli 2001. BMF Schreiben vom 16. Juli 2001, Tz. I.1 Abs. 1 und 2. 71Vgl. BMF Schreiben vom 16. Juli 2001, Tz. III.1. 72Vgl. BMF Schreiben vom 16. Juli 2001, Tz. I.1. 73Vgl. BMF Schreiben vom 16. Juli 2001, Tz. II. und III. 74Vgl. FG Düsseldorf, Beschl. vom 05.02.2007, Az. 16 V 3454/06 A(AO). 70Vgl.

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Unterlagen, die lediglich in Papierform im Unternehmen vorliegen, müssen zwar nicht für Zwecke der digitalen Steuerprüfung digitalisiert werden, unterliegen aber ebenfalls den GDPdU und sind insbesondere nach ihrer Digitalisierung entsprechend bereit zu stellen.75 Werden diese Grundsätze nicht wie vorgeschrieben umgesetzt, drohen dem Unternehmen gem. § 379 AO Bußgelder wegen möglicher Steuergefährdung durch fehlende Archivierung und eine mögliche Steuerzuschätzung seitens der Finanzverwaltung bei mangelnder digitaler Verfügbarkeit oder Prüfbarkeit steuerlich relevanter Daten.

18.8 Notfallkonzept und Internes Kontrollsystem (IKS) 57 Um der Kritikalität der IT für den Unternehmensablauf und ggf. gar den Unternehmensbestand gerecht zu werden, ist es notwendig, die damit verbundenen Risiken z. B. eines Ausfalls besonders kritisch im Auge zu behalten. Teil des gesetzlich geforderten Risikomanagements im Unternehmen (§ 91 AktG, § 43 GmbHG) ist daher auch die Einrichtung eines Risikofrüherkennungssystems und eines internen Kontrollsystems (IKS). Selbst beste Wartung und Überwachung moderner Hard- und Software können technisch nicht vollkommene Sicherheit vor unerwarteten Ausfällen der IT bieten. Risikofaktoren wie z. B. Bedienungsfehler der Anwender, Stromausfälle oder –schwankungen sowie nicht erkennbare technische Defekte können nie vollständig ausgeschlossen werden. Es ist daher eine ökonomische Notwendigkeit für jedes Unternehmen, zumindest für unternehmenskritische Systeme ein individuelles Notfallkonzept für bestimmte Ausfallszenarien zu formulieren und zu implementieren sowie stets auf einem aktuellen und erprobten Stand zu halten. Darüber hinaus gehört auch ein angemessener Versicherungsschutz für solche Fälle zu einer guten Unternehmensführung im Sinne des Gesetzes. Für Kreditinstitute und Finanzdienstleister ist dies durch das Rundschreiben Nr. 5/2007 der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht vom 30. Oktober 2007 zu den Mindestanforderungen an das Risikomanagement – MaRisk, Ziff. 7.3 daher ausdrücklich vorgeschrieben. 58 Ausdrücklich formulieren die GoBS zudem die Anforderung, ein IKS zu erstellen und in dokumentierter Weise vorlegen zu können.76 Es handelt sich hierbei um eine Dokumentation der Gesamtheit aller prozess- und organisationsbezogenen Überwachungsmaßnahmen, die in die zu überwachenden Geschäftsprozesse integriert sind. Wesentliche Grundlage des IKS ist dabei eine schriftlich fixierte Ordnung. Der Bedeutung des IKS für das Risikomanagement im Unternehmen wird auch dadurch untermauert, dass dessen Vorhandensein und seine nachvollziehbare Dokumen-

75Vgl. 76Vgl.

FG Münster, Urteil vom 01.07.2010, Az. 6 K 357/10 AO. BMF Schreiben vom 7. November 1995, Anlage Tz. 4.

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tation regelmäßig Bestandteil von Unternehmensprüfungen durch Wirtschaftsprüfer oder interne Revision sind. Für Unternehmen der Versicherungs- und Finanzdienstleistungsbranche sehen die Richtlinien der Wirtschaftsprüfer diesen Punkt sogar als zwingenden Bestandteil der Jahresabschlussprüfung gem. § 317 Abs. 4 HGB vor, der bei Nichtbestehen zur Verweigerung des Testats führt.77

18.9 Dokumentation Auch wenn Dokumentation eine ungeliebte Pflicht ist, genügt es nicht, alle Vorgaben 59 für den Einsatz der IT im Unternehmen gewissenhaft einzuhalten, solange diese Einhaltung nicht auch nachvollziehbar und vollständig dokumentiert wird. Dabei korrespondieren diese Dokumentationsanforderungen unmittelbar mit den zuvor dargestellten allgemeinen gesetzlichen Anforderungen. Da die Einhaltung dieser Vorgaben ggf. jederzeit gegenüber Aufsichtsbehörden, Wirtschaftsprüfern oder Gerichten nachgewiesen werden muss, ist es eine Selbstverständlichkeit, dass auf eine umfassende und für diesen Adressatenkreis nachvollziehbare Dokumentation zu achten ist. Hinzu kommt, dass sich eine Vielzahl der Pflichten – z. B. zur Errichtung von Notfallkonzepten und IKS – insbesondere auch an Mitarbeiter des Unternehmens richtet, bzw. für diese konkrete Verhaltensmaßregeln vorsieht. Ohne eine verständliche und geschulte schriftliche Darstellung der für das Unternehmen formulierten Prozessschritte kann von diesen Mitarbeitern auch nicht erwartet werden, dass sie ihrer Rolle und Verantwortung in diesem Zusammenhang gerecht werden. Die Rechtsprechung hat diese Dokumentationspflicht ebenfalls bereits bestätigt und 60 es als eine zentrale Aufgabe in der persönlichen Verantwortung der Unternehmensleitung (Geschäftsführer oder Vorstand) angesehen, für eine nachvollziehbare und verständliche Dokumentation der Risikomanagementaufgaben beim Einsatz von IT im Unternehmen zu sorgen.78

18.9.1 IT-Sicherheit Die Bedeutung der IT für das Unternehmen und deren Anfälligkeit für Angriffe auf ihre 61 Integrität jeder Art von außen und innen (z. B. über Internet und Intranet) lassen die Pflicht zur effektiven Bewahrung von IT Sicherheit zum Teil des gesetzlich geforderten

77Vgl.

IDW PS 330 Abschlussprüfung bei Einsatz von Informationstechnologie (Quelle: WPg 21/2002, S. 1167 ff., FN-IDW 11/2002, S. 604 ff.) vom 24.09.2002; IDW PS 340 Die Prüfung des Risikofrüherkennungssystems nach § 317 Abs. 4 HGB (Quelle: WPg 16/1999, S. 658 ff., FN-IDW 8/1999, S. 350 ff.) vom 11.09.2000. 78Vgl. LG München I, Urteil vom 05.04.2007, Az. 5 HK O 15.964/06, BB 2007, 2170.

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Risikomanagement werden (§ 91 AktG, § 43 GmbHG). Absolute Sicherheit vor jeglichen Angriffen wird in der IT zwar regelmäßig kaum zu gewährleisten sein. Praktisch bedeutet dies, dass zumindest die Einhaltung der einschlägigen aktuellen Industriestandards (z. B. BSI Standards und Grundschutz) zu fordern ist. Dies beinhaltet auch die Überwachung der zur Verarbeitung von Daten im Auftrag eingesetzten Dienstleister (z.  B. externe Lohnbuchhalter, Steuerberater, Marketingagenturen oder Rechenzentrumsbetreiber) im Rahmen eines ordnungsgemäßen Auftragsdatenverarbeitungsvertrages gem. § 11 BDSG beziehungsweise Art. 28 DSGVO. Auch die Erstellung, Umsetzung und Dokumentation eines Datensicherheitskonzepts ist zu fordern, vgl. § 9 BDSG. 62 Der allgemeine Datenschutz, zu dem alle Unternehmen gesetzlich verpflichtet sind, beinhaltet zugleich immer auch die Verpflichtung zur Wahrung der Datensicherheit, da nur sichere Daten vor dem Zugriff Unberechtigter ausreichend geschützt sind.79 Personenbezogene Daten und Sozialdaten sind daher durch angemessene technische und organisatorische Maßnahmen zu schützen, inkl. der Kontrolle des Zutritts, Zugangs, Zugriffs, Weitergabe, Eingabe, Auftrag, Verfügbarkeit und Datentrennung gem. § 9 BDSG und der Anlage dazu. Auch der europäische Gesetzgeber hat in Art. 32 Abs. 1 DSGVO einen entsprechenden Maßnahmenkatalog statuiert, der gewisse Mindestvoraussetzungen festlegt. Aufgrund bekanntgewordener Probleme mit Datenlecks insbesondere bei der Zusammenarbeit mit externen Dienstleistern hat der deutsche Gesetzgeber zum 1. September 2009 ausdrückliche Benachrichtigungspflichten in § 42 a BDSG aufgenommen, denen zu Folge Unternehmen bei Feststellung eines Datenlecks, von dem besonders sensible Daten betroffen sind, unverzüglich die zuständigen Aufsichtsbehörden ebenso wie die Betroffenen informieren müssen. Verstöße gegen diese Benachrichtigungspflicht sind gem. § 43 Abs. 2 Nr. 7 BDSG bußgeldbewehrt.

18.9.2 Datenschutz 63 Ein umfassender Exkurs über alle Facetten des Datenschutzes im Unternehmen würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Ein geraffter Überblick wesentlicher Grundsätze kann dem Unternehmensjuristen jedoch einen Ansatz für die tägliche praktische Arbeit hiermit geben. Zentrales Regelungswerk im allgemeinen Datenschutzrecht ist das BDSG, welches ab dem 25. Mai 2017 von der Europäischen Datenschutzgrundverordnung (nachfolgend DSGVO) abgelöst wird.

79Vgl.

Kramer/Meints in: Hoeren/Sieber, Multimediarecht, 25. EL 2010, 16.5 Rn. 23 ff.

18 IT-Recht

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18.10 Datenschutzrechtliche Grundsätze und Rechtslage nach dem BDSG Zunächst ist als wesentliche Grundaussage festzuhalten, dass alle Vorgaben des gesetz- 64 lichen Datenschutzes nach dem BDSG und der künftigen DSGVO immer nur den Schutz personenbezogener Daten betreffen (§ 1 BDSG; vgl. Art. 1, 2 DSGVO). Nur solche Daten, die einen Hinweis auf die Person oder persönliche Umstände einer natürlichen Person liefern können, sind hiervon umfasst (§ 3 Abs. 1 BDSG, vgl. Art. 1, 2 DSGVO). Selbst geheimste und sensible Unternehmensinformationen oder -daten, die nicht zugleich auch einen solchen Bezug zu einer natürlichen Person enthalten, unterliegen nicht dem Datenschutz, sondern lediglich den Vorgaben zur IT Sicherheit als Teil des allgemeinen Risikomanagements (s. o.). Die zweite wesentliche Grundaussage des Datenschutzes lautet, dass die Erhebung, 65 Verarbeitung, Speicherung, Nutzung und Übertragung von solchen persönlichen Daten grundsätzlich gem. § 4 BDSG (entspricht Art. 6 Abs. 1 DSGVO) verboten ist und nur dann erlaubt sein kann, wenn derjenige, der solche Daten verarbeiten oder nutzen will, sich hierfür entweder auf eine gesetzliche Erlaubnisnorm oder die ausdrückliche Einwilligung der betroffenen Person stützen kann. Dabei sind zudem die Grundsätze der Datensparsamkeit und –vermeidung (§ 3a BDSG, Vgl. Art. 5 Abs. 1  lit. c), e) DSGVO) sowie der Zweckbindung für erhobene Daten (§ 16 Abs. 4 BDSG, Art. 5 Abs. 1 lit. b) DSGVO) zu beachten. In der Praxis bedeutet dies, dass bei jeder Datenerhebung, -verarbeitung und –nutzung darauf zu achten ist, dass im Sinne der Vermeidung überflüssiger Datenspeicherungen nur solche Daten gespeichert werden, die für den zulässigen Zweck auch unbedingt unerlässlich sind (vgl. § 3a BDSG). Dabei dürfen die Daten auch nur für den konkreten Zweck genutzt werden, der bereits bei der Erhebung z. B. im Rahmen der Einwilligung des Betroffenen festgelegt wurde (vgl. § 28 Abs. 3 BDSG). Zudem ist darauf zu achten, dass jeder Betroffene unverzüglich darüber informiert wird, dass und welche persönlichen Daten über ihn erhoben werden und in welcher Weise er dieser Erhebung und Verarbeitung widersprechen kann bzw. seine Einwilligung widerrufen kann (vgl. §§ 4, 4a BDSG, Art. 7 Abs. 3 DSGVO). Schließlich sind Daten, deren Zweck der Erhebung sich erledigt hat, aus den genannten Gründen auch unverzüglich zu löschen (vgl. § 35 Abs. 2 BDSG, Art. 17 Abs. 1 DSGVO). Bei der Übermittlung personenbezogener Daten an Dritte besteht allein aufgrund die- 66 ser Einschaltung eines weiteren Beteiligten zugleich ein erhöhtes Risiko für den vollständigen Schutz der Daten. Soweit der Dritte eigene Verarbeitungen oder Schritte zur Nutzung der Daten unternimmt, benötigt er hierfür – ebenso wie der „Ersterheber“ für die Übermittlung an den zweifelsfrei zu bezeichnenden Dritten – eine ausdrückliche Einwilligung oder eine gesetzliche Erlaubnisnorm. Es kann aber auch sein, dass der Dritte gar keine eigenen Nutzungszwecke verfolgt, sondern lediglich im Auftrag des Ersterhebers die Daten nach dessen Vorgaben nutzt und verarbeitet. Für dieses Auftragsdatenverarbeitungsverhältnis schreibt das Gesetz den Abschluss eines schriftlichen Vertrages vor, für den § 11 BDSG (entspricht im Wesentlichen Art. 28 DSGVO) darüber hinaus auch

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ganz konkrete Vorgabe macht, welche Regelungen dort enthalten sein müssen (z. B. Kontrollrechte und Weisungsbefugnis für die Verarbeitung zu Gunsten des Auftraggebers etc.). Verstöße gegen das Datenschutzrecht werden mit Bußgeldern bis zu € 300.000,00 geahndet, § 43 BDSG. 67 Abhängig von der Zahl der Mitarbeiter (mehr als 9), die regelmäßig im Rahmen ihrer Tätigkeit automatisiert persönliche Daten verarbeiten (vgl. § 4 f. BDSG) – ist es zudem eine gesetzliche Pflicht des Unternehmens, einen Datenschutzbeauftragten zu benennen. Angesichts der Komplexität der Materie und der Vielzahl der sensibel zu klärenden Einzelfragen ist der kompetente und gut ausgebildete Datenschutzbeauftragte auch eine wichtige Funktion im Unternehmen, um die Gesetzeskonformität des Unternehmenshandelns sicherzustellen und damit Schaden vom Unternehmen fernzuhalten.

18.11 Ausblick DSGVO 68 Das BDSG in seiner jetzigen Form wird ab dem 25. Mai 2018 von der DSGVO abgelöst werden. Die DSGVO, welche am 14. April 2016 im Parlament der Europäischen Union verabschiedet wurde, soll neben der ePrivacy-Verordnung als unmittelbar geltendes Recht ein einheitliches Datenschutzniveau im gesamten Europäischen Wirtschaftsraum gewährleisten. Auch wenn das künftige Datenschutzrecht in weiten Teilen vereinheitlicht sein wird, erlauben zahlreiche Eröffnungsklauseln den Mitgliedsstaaten weiterhin nationale Abweichungen. Insbesondere für den Beschäftigungsdatenschutz wird gilt nach Art. 88 DSGVO, dass die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union spezifischere Regelungen erlassen können. Auch der deutsche Gesetzgeber hat von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und zu diesem Zweck das BDSG-neu verabschiedet, welches ebenfalls ab dem 25. Mai 2018 gelten wird. 69 Im Wesentlichen gelten die oben dargestellten datenschutzrechtlichen Grundsätze in der DSGVO fort. Nach wie vor geht auch die DSGVO gem. Art. 6 Abs. 1 DSGVO von einem präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt aus. Neu ist der Rechtfertigungsgrund der „Wahrung der berechtigten Interessen“ nach Art. 6 Abs. 1 lit. f) DSGVO, wonach erstmals die Interessen des Betroffenen mit denen des Verantwortlichen bzw. von Dritten abzuwägen sind. Die bisherigen Regelungen zum Auftragsdatenverarbeitungsverhältnis wurden weitestgehend in Art. 28 DSGVO umgesetzt. 70 Dennoch gehen die datenschutzrechtlichen Pflichten der DSGVO über die bisher geltenden Pflichten des BDSG teilweise sehr wohl hinaus. So übertrifft die in Art. 35 DSGVO statuierte Pflicht zur Datenschutzfolgenabschätzung die bisherige Pflicht zur Vorabkontrolle aus § 4 d Abs. 5 BDSG. Verantwortliche sind künftig verpflichtet, bestimmte Risikofaktoren einer Datenverarbeitung – wie z. B. automatisierte Einzelentscheidungen, Verarbeitung sensibler Daten, großer Umfang der Datenverarbeitung oder Nutzung neuer Technologien – zu identifizieren und anhand der Eintrittswahrscheinlichkeit des Datenvorfalls und der Schwere des zu erwartenden

18 IT-Recht

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Schadensrisikos zu bewerten. Die Verpflichtung erstreckt sich nicht nur auf neue, sondern auch auf alle bestehenden Datenverarbeitungsverfahren. Im Gegensatz zum BDSG sind die Verantwortlichen nach Art. 36 DSGVO künftig verpflichtet, Aufsichtsbehörden bereits vor einer i. S. d. Art. 35 DSGVO risikobehafteten Datenverarbeitung proaktiv zu informieren. Weitere zentrale Änderung im Datenschutzrecht stellen die umfangreichen Dokumentations- und Rechenschaftspflichten dar. Anders als nach bisheriger Rechtslage müssen nicht die Aufsichtsbehörden Datenschutzverstöße nachweisen, sondern die Verantwortlichen müssen nach Art. 5 Abs. 2 DSGVO selbst aktiv darlegen, dass sie die datenschutzrechtlichen Vorgaben einhalten. Des Weiteren sieht die DSGVO in Kap. 3 eine umfassende Stärkung der Rechte der betroffenen Person vor. Danach enthält die DSGVO verschiedene Transparenz- und Informationspflichten sowie Auskunfts-, Berichtigungs-, Löschungs- und Widerspruchsrechte. Erstmals statuiert das DSGVO in Art. 17 ein sogenanntes „Recht auf Vergessenwerden“ sowie nach Art. 20 DSGVO ein Recht auf Datenübertragbarkeit. Aufgrund der Eröffnungsklausel des Art.  37  Abs.  4  DSGVO gelten die oben genannten Bedingungen zur verpflichtenden Bestellung eines Datenschutzbeauftragten nach § 38 Abs. 1 BDSG-neu fort. Zudem werden Aufsichtsbehörden künftig erweiterte Befugnisse haben. Gem. 71 Art.  58  DSGVO dürfen Aufsichtsbehörden umfassende Audits („Datenschutzüberprüfungen“) durchführen und erhalten Zugangsrechte, welche zu „vor-Ort-Überprüfungen“ berechtigen. Des Weiteren werden Aufsichtsbehörden auch umfassende Weisungsrechte gegenüber dem Verantwortlichen eingeräumt, sodass sie durch Anordnungen die Datenverarbeitung beschränken oder als ultima ratio sogar verbieten können. Insgesamt werden Sanktionen und Haftung durch die DSGVO drastisch verschärft. Bußgelder sind nach DSGVO nicht mehr wie bisher auf maximal € 300.000,00 gedeckelt, sondern können bis zu 4 % des weltweiten Umsatzes des verantwortlichen Unternehmens betragen. Das strenge Haftungsregime aber auch der Umfang des neuen Regelungswerks, wel- 72 cher neben 99 Artikeln weitere 173 Erwägungsgründe umfasst, verdeutlicht den Handlungsbedarf in der Praxis. Um den neuen datenschutzrechtlichen Pflichten gerecht zu werden und den empfindlichen Sanktionen vorzubeugen, sollten Unternehmen unbedingt ihre Datenschutzorganisation auf- und ausbauen, die neue Rechtspraxis der Aufsichtsbehörden und Gerichte stets im Blick behalten sowie Vertragsstandards, Formulare, Hinweise und Erklärungen den neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen entsprechend anpassen.

Gesellschaftsrecht

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Volker Römermann

19.1 Handelsregister 19.1.1 Einteilung und Inhalt Das Handelsregister dient in erster Linie dem Zweck, Tatsachen für jedermann erkennbar zu machen. Es dient der Offenbarung von Tatsachen und Rechtsverhältnissen der Kaufleute und Handelsgesellschaften, die für den Rechtsverkehr von wesentlicher Bedeutung sind.1 Eingetragen werden nur Tatsachen, die das Gesetz für eintragungs- und anmeldepflichtig erklärt hat oder deren Eintragung als möglich zugelassen wird (beispielsweise § 2 S. 2; § 3 Abs. 2, 3; § 25 Abs. 2; § 28 Abs. 2 HGB), sowie Tatsachen und Rechtsverhältnisse, deren Eintragung nach Sinn und Zweck des Handelsregisters erforderlich ist. So zum Beispiel bei der Prokura die Befugnis zur Veräußerung und Belastung von Grundstücken.2 Das Handelsregister hat zwei Abteilungen. Die Abteilung A enthält die Eintragungen für Einzelkaufleute, Offene Handelsgesellschaften und Kommanditgesellschaften sowie juristische Personen nach § 33 HGB. Letztere sind solche, die nicht Formkaufleute sind, deren Eintragung aber mit Rücksicht auf den Gegenstand oder auf die Art oder den

1BGH

NJW 1998, 1071. in: Kersten/Bühling, Formularbuch und Praxis der Freiwilligen Gerichtsbarkeit, 25. Aufl. 2016, § 124 Rdn. 15. 2Wachter,

V. Römermann (*)  Römermann Rechtsanwälte AG, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Lenz (Hrsg.), Die Rechtsabteilung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21915-4_19

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1

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Umfang ihres Gewerbebetriebes zu erfolgen hat. Zu denken ist in diesem Zusammenhang beispielsweise an wirtschaftliche Vereine im Sinne des § 22 BGB, Idealvereine, Stiftungen, öffentlich-rechtliche Anstalten (z. B. ARD) und Körperschaften (z. B. Sparkassen).3 Nicht eingetragen werden die Gesellschaft bürgerlichen Rechts und die stille Gesellschaft. In Abteilung B erfolgen die Eintragungen für Aktiengesellschaften, Kommandit­ gesellschaften auf Aktien, Gesellschaften mit beschränkter Haftung und Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit.

19.1.2 Das elektronische Handelsregister 4

Das Handelsregister wird elektronisch geführt (§ 8 Abs. 1 HGB). Gemäß § 8a Abs. 1 HGB wird eine Eintragung ins Handelsregister nunmehr wirksam, sobald sie in den für die Handelsregistereintragungen bestimmten Datenspeicher aufgenommen ist und auf Dauer inhaltlich unverändert in lesbarer Form wiedergegeben werden kann.

5



! Beraterhinweis  Einsichtnahmen in das elektronische Handelsregister sind über das Internetportal www.handelsregister.de möglich. Der Abruf des Handelsregisters löst eine Gebühr von EUR 4,50 aus, der Abruf von Dokumenten, die zum Handelsregister eingereicht wurden, von EUR 1,50.

19.2 Einzelkaufmann, Firma und Prokura 19.2.1 Einzelkaufmann 6

Das Kaufmannsrecht unterscheidet zweierlei Kaufmannsbegriffe: Den sogenannten „Istkaufmann“, also den Kaufmann, der ein Handelsgewerbe betreibt (§ 1 HGB), und den „Kannkaufmann“, also den Kaufmann kraft fakultativer Eintragung. Für den Istkaufmann ist somit maßgeblich, ob dieser ein „Handelsgewerbe“ betreibt. Darunter fällt jeder Gewerbebetrieb, es sei denn, dass das Unternehmen nach Art und Umfang des Unternehmens keinen Gewerbebetrieb erfordert. Nach herrschender Meinung ist Gewerbe jede äußerlich erkennbare, selbstständige, planmäßig auf gewisse Dauer zum Zwecke der Gewinnerzielung angelegte oder jedenfalls wirtschaftliche Tätigkeit am Markt, die nicht freiberufliche, wissenschaftliche und künstlerische Tätigkeit ist.4 Für den „Istkaufmann“ wirkt die Eintragung nur deklaratorisch.

3Wachter, in: Kersten/Bühling, Formularbuch und Praxis der Freiwilligen Gerichtsbarkeit, 25. Aufl. 2016, § 124 Rdn. 12. 4BGHZ 63, 32, 33; 74, 273, 276.

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Für den Erwerb der Kaufmannseigenschaft durch den sog. „Kannkaufmann“ wirkt die Eintragung konstitutiv.

19.2.2 Firma 19.2.2.1 Einführung Das Firmenrecht soll nicht nur die Rechtsnatur der Firma und die Voraussetzungen regeln, unter denen eine schutzfähige Firma gebildet und erhalten werden kann, sondern auch bestimmen, wie eine Firma gestaltet und gebraucht werden muss, um im geschäftlichen Verkehr als ein Kennzeichen des Firmeninhabers anerkannt zu werden. Die Firma ist der Name, unter dem ein Kaufmann seine Geschäfte betreibt und die Unterschrift abgibt (§ 17 HGB). 19.2.2.2 Grundsätze des Firmenrechts Bei der Wahl der Firma sind die folgenden Grundsätze zu beachten:

7

8

19.2.2.2.1 Unterscheidungskraft (§§ 30, 18 HGB) Um eine Identifikation des Kaufmanns zu ermöglichen, muss sichergestellt werden, dass 9 keine gleiche oder im Kern gleiche Firma an demselben Ort oder in derselben Gemeinde im Handelsregister bereits eingetragen oder hierzu angemeldet ist. Jede neue Firma muss sich also von den in dem betroffenen geographischen Bezirk bestehenden deutlich unterscheiden. Die Frage der Unterscheidungskraft ist abstrakt zu beurteilen. Maßgeblich ist, dass die Firma, allgemein gesehen, die Fähigkeit hat, ihren Inhaber von anderen Unternehmensträgern zu unterscheiden. Dafür ist allein ein unterschiedlicher Rechtsform­ zusatz nicht ausreichend. Nicht zulässig ist die Wahl reiner Gattungs- bzw. Branchenbezeichnungen (z. B. Handel, 10 Handwerk), da ansonsten anderen Unternehmern des gleichen Geschäftszweigs eine Firmen­ bildung versperrt wäre. Die Verwendung von Gattungs- bzw. Branchenbezeichnungen ist daher nur dann zulässig, wenn die Firma durch individualisierende Zusätze von anderen Firmen unterscheidbar gemacht wird (beispielsweise „Elektro Schultze“).5 19.2.2.2.2 Kennzeichnungskraft (§ 18 Abs. 1 HGB) Jede Firma muss geeignet sein, als Name eines Unternehmensträgers im Rechtsver- 11 kehr zu fungieren. Voraussetzung dessen ist, dass sie als sprachliches Kennzeichen aus einer zumindest im Sinne einer Artikulierbarkeit aussprechenden Buchstabenfolge und auch bei einer fremdsprachlichen Bezeichnung mit lateinischen Buchstaben gebildet wird. Personen- und Fantasienamen haben per se Kennzeichnungskraft. Buchstabenkombinationen hingegen müssen wenigstens aussprechbar sein. Ein Fantasiebegriff

5Vgl.

BayObLG NJW-RR 2003, 1544.

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V. Römermann

reicht aus. So ist zum Beispiel „aaaaa………e.K.“ unzulässig,6 „HM & A ….“ dagegen zulässig.7 Auch die Verwendung des „@“ Zeichens ist nach der Rechtsprechung zulässig, wenn es als „at“ ausgesprochen wird, nicht jedoch, wenn es als „a“ ausgesprochen wird, beispielsweise bei „@nalog“.8 19.2.2.2.3 Keine Täuschung (§ 18 Abs. 2 HGB) 12 Gemäß § 18 Abs. 2 HGB darf die Firma keine Angaben enthalten, die ersichtlich geeignet sind, über geschäftliche Verhältnisse (Art, Größe, Umfang und Bedeutung des Unternehmens), die für die angesprochenen Verkehrskreise wesentlich sind, zu täuschen. Ein Beispiel dafür ist die Verwendung des Zusatzes „Meditec“ wenn der Gegenstand des Unternehmens der Handel mit Computern und EDV-Dienstleistungen ist, ohne dass es einen medizinischen Überhang gibt, wie der Bestandteil „Medi“ impliziert.9 Die Bezeichnung „International Brokers“ hingegen soll selbst dann zulässig sein, wenn keine Zweigniederlassung im Ausland besteht und auch keine Börsengeschäfte betrieben werden.10

19.2.3 Prokura 13 Die Prokura ist eine besondere Form der Vollmacht im Sinne des § 167 BGB, deren Umfang durch die §§ 49, 50 HGB zwingend festgelegt ist. Die Prokura wird entweder ausdrücklich oder konkludent (z. B. durch Ermächtigung zur Zeichnung „ppa.“) gemäß § 48 HGB durch den Inhaber eines Handelsgeschäfts oder dessen gesetzlichen Vertreter gegenüber dem Prokuristen selbst, gegenüber Dritten oder durch öffentliche Kundgabe über die Handelsregistereintragung und –bekanntmachung erteilt. Die Prokura ermächtigt dem Umfang nach zu allen Geschäften, die der Betrieb eines Handelsgewerbes mit sich bringt. Der Prokurist darf also beispielsweise Prozesse führen, Darlehen aufnehmen, Grundstücke erwerben, auch wenn gleichzeitig zur Finanzierung das Grundstück belastet wird, Zweigniederlassungen errichten, Grundpfandrechte abtreten, den Sitz des Unternehmens verlegen. Wirksamer Schutz vor einem Missbrauch der Prokura lässt sich dadurch gewähr­ 14 leisten, dass gemäß § 48 Abs. 2 HGB eine Gesamtprokura an mehrere Personen gemeinschaftlich erteilt wird, mit der Konsequenz, dass der Prinzipal nur gemeinschaftlich vertreten werden kann. Die Ausübung der Gesamtprokura erfordert weder ein räum­ liches noch ein zeitliches Zusammenwirken der Prokuristen. Ausreichend ist eine zeitlich

6OLG

Celle, DB 1999, 40. v. 8.12.2008 – II ZB 46/07. 8LG Berlin, GmbHR 2004, 428. 9BayObLG NZG 1999, 994. 10LG Darmstadt GmbHR 1999, 482. 7BGH

19 Gesellschaftsrecht

425

aufeinander folgende Mitwirkung in der Weise, dass jeder Gesamtprokurist die Erklärung nacheinander selbst abgibt.11 Gemäß § 50 HGB sind Beschränkungen des Umfangs der Prokura gegenüber Dritten unwirksam und zwar unabhängig davon, ob der Dritte die Beschränkung kennt oder kennen muss. Nimmt ein Prokurist entgegen seinen Beschränkungen Geschäfte vor, so bleiben diese wirksam. Der Prokurist macht sich jedoch im Innenverhältnis schadenersatzpflichtig. Zu den Geschäften, zu denen der Prokurist nicht ermächtigt ist, gehören die sog. 15 „Grundlagengeschäfte“, weil diese nicht zum „Betrieb“ eines Handelsgewerbes zählen. Dies sind beispielsweise Rechtshandlungen, welche die Existenz, die Rechtsform und die rechtliche Ausgestaltung des eigenen Handelsgewerbes betreffen. Auch entzogen sind dem Prokuristen In-Sich-Geschäfte, bei denen der Prokurist auf der einen Seite als Vertreter des Prinzipals auftritt und auf der anderen Seite im eigenen Namen oder als Vertreter eines Dritten handelt. Es ist allerdings möglich, den Prokuristen von dem Selbstkontrahierungsverbot gemäß § 181 BGB zu befreien. Die Prokura kann jederzeit widerrufen werden, und zwar unabhängig von einem 16 etwaigen Arbeitsvertrag. Einen dagegen gerichteten Anspruch auf Wiedererteilung einer einmal entzogenen Prokura gibt es nicht.12 Ansonsten erlischt sie mit dem Ende des Arbeitsverhältnisses, der Einstellung des Handelsgeschäfts, einem rechtsgeschäftlichen Inhaberwechsel bei einem Einzelkaufmann, oder einem Wechsel des Prokuristen in die Position des Inhabers, persönlich haftenden Gesellschafters oder gesetzlichen Vertreters einer Kapitalgesellschaft, sowie bei der Auflösung der OHG/KG, dem Tod des Prokuristen oder der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Unternehmen.

19.3 Recht der Personengesellschaften 19.3.1 Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts („GbR“ oder auch „BGBGesellschaft“)

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19.3.1.1 Funktion und Rechtsgrundlage Die GbR ist der „Prototyp“ der Personengesellschaft und zeichnet sich durch eine 18 „gemeinsame Zweckverfolgung durch mehrere“ aus.13 Sie ist damit – anders als die OHG und die KG – dem Zweck nach nicht festgelegt auf das gemeinsame Betreiben eines Handelsgewerbes.

11Graf

v. Westphalen, DStR 1993, 1186. NJW 1987, 862, 863. 13Klunzinger, Grundzüge des Gesellschaftsrechts, 16. Aufl. 2012, Kap. 2 § 4. 12BAG

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V. Römermann

Die Vorteile der GbR liegen unter anderem in den fehlenden formellen Anforderungen im Zusammenhang mit der Gründung, der fehlenden HGB-Buchführungspflicht und den Möglichkeiten des Verlustausgleichs mit anderen Einkünften.

19.3.1.2 Rechtsfähigkeit der GbR 19 Die Frage der Rechtsfähigkeit der GbR war lange Jahre umstritten. Der BGH14 hat am 29.1.2001 entschieden, dass jedenfalls die BGB-Außengesellschaft rechtsfähig ist. Eine solche Außengesellschaft liegt in Abgrenzung zur sog. BGB-Innengesellschaft immer dann vor, wenn die Gesellschafter vereinbaren, am Rechtsverkehr teilzunehmen und nach außen hin in Erscheinung zu treten. Ein Beispiel für eine Innengesellschaft ist die Fahrgemeinschaft. Die Außengesellschaft ist nach dem Urteil des BGH nunmehr u. a. prozessfähig, markenrechtsfähig, mitgliedschaftsfähig bei einer Kapitalgesellschaft, insolvenzfähig nach § 11 Abs. 2 InsO, wechsel- und scheckfähig, arbeitgeberfähig und besitzfähig.15

19.3.1.3 Gründung 20 Die GbR entsteht durch den vertraglichen Zusammenschluss mindestens zweier Gesellschafter (sog. „zweigliedrige Gesellschaft“). Gesellschafter kann jede natürliche und jede juristische Person sein. 19.3.1.4 Kapitalausstattung 21 Als Gegenstand des Gesellschaftsvermögens kommen die vertraglichen Beiträge der Gesellschafter, die durch die Geschäftsführung für die Gesellschaft erworbenen Gegenstände, das, was aufgrund eines zu dem Gesellschaftsvermögen gehörenden Rechts erworben wird und was als Ersatz für die Zerstörung, Beschädigung oder Entziehung eines zum Gesellschaftsvermögens gehörenden Gegenstands erworben wird, in Betracht (§ 718 BGB). 19.3.1.5 Organe 22 Personengesellschaften prägt das Element der „Selbstorganschaft“. Das bedeutet, dass die Geschäftsführung zwingend bei den Gesellschaftern selbst liegt. Unter den Gesellschaftern wiederum steht die Geschäftsführung gemäß dem sog. „positiven Konsensprinzip“ – vorbehaltlich abweichender Regelungen im Gesellschaftsvertrag – allen Gesellschaftern gemeinschaftlich zu. Es besteht jedoch die Möglichkeit, einen Dritten mit Vollmachten ausgestattet für die Gesellschaft tätig werden zu lassen. Auch in diesem Fall verbleibt jedoch die organschaftliche Vertretung bei den Gesellschaftern.

14BGH

NJW 2001, 1056. die Aufzählung bei Kesseler, in: Wachter, Hdb. d. Gesellschaftsrechts, 3. Aufl. 2014, Teil 2, § 1 Rdn. 13. 15Vgl.

19 Gesellschaftsrecht



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! Beraterhinweis Soll ein gesellschaftsfremder Dritter mit der Geschäftsführung beauftragt werden und soll dies nicht durch umfangreiche Vollmachten erreicht werden, dann kommt nur die Gründung einer Kapitalgesellschaft in Betracht.16

19.3.1.6 Haftung Die Haftung der Gesellschafter gegenüber Gläubigern der Gesellschaft ist unbeschränkt. 23 Die Gesellschafter haften also in vollem Umfang für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft.

19.3.2 Die offene Handelsgesellschaft („OHG“) 19.3.2.1 Funktion und Rechtsgrundlage Bei der OHG handelt es sich um eine besondere gesetzlich geregelte Form einer GbR, 24 weswegen in § 105 Abs. 3 HGB auch geregelt ist, dass die Vorschriften über die GbR Anwendung finden, soweit in den §§ 105 ff. HGB nichts Abweichendes bestimmt ist. Der maßgebliche Unterschied zwischen beiden Alternativen besteht darin, dass die OHG – anders als die GbR – dem Zweck nach auf den Betrieb eines Handelsgewerbes gerichtet sein muss. Die OHG eignet sich angesichts der unbeschränkten und unbeschränkbaren Haftung 25 der Gesellschafter für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft insbesondere für solche Unternehmer, die ihren persönlichen wirtschaftlichen Erfolg untrennbar mit dem ihres Unternehmens verknüpfen wollen. 19.3.2.2 Gründung Zur Gründung einer OHG bedarf es mindestens zweier Gesellschafter, wobei unerheb- 26 lich ist, ob diese natürliche oder juristische Personen sind. Darüber hinaus ist – wie bei jeder Gesellschaftsgründung – der Abschluss eines Gesellschaftsvertrages erforderlich. Besondere formelle Anforderungen ergeben sich hierfür aus dem Gesetz nicht. Theoretisch kommt also auch ein konkludenter Vertragsschluss in Betracht. Zu empfehlen ist aber stets der Abschluss eines schriftlichen Gesellschaftsvertrages, der neben der Angaben über so grundlegende Daten, wie Sitz, Zweck und Gegenstand, die Gesellschafter und deren Beteiligungsverhältnisse auch Regelungen über Gesellschafterversammlungen und Beschlüsse, Rechnungslegung, Entnahmen und Ergebnisverteilung, Pflichten der Gesellschafter und Verfügungen über Beteiligungen enthält.

16Kesseler,

in: Wachter Hdb. d. Gesellschaftsrechts, 3. Aufl. 2014, Teil 2, § 1 Rdn. 59.

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V. Römermann

Im Innenverhältnis entsteht die OHG mit Abschluss des Gesellschaftsvertrages. Im Außenverhältnis ist der Zeitpunkt der Eintragung ins Handelsregister maßgeblich (§ 123 Abs. 1 HGB). Eine Vereinbarung darüber, dass die Gesellschaft erst zu einem späteren Zeitpunkt ihren Anfang nehmen soll, ist gemäß § 123 Abs. 3 HGB Dritten gegenüber unwirksam.

19.3.2.3 Organe 27 Auch für die OHG gilt das Prinzip der Selbstorganschaft. Die Gesellschafter führen also die Geschäfte der Gesellschaft und vertreten diese nach außen. Im Unterschied zur GbR regelt § 109 HGB für die OHG den Grundsatz der Einzelgeschäftsführung. Das heißt, jeder Gesellschafter kann eigenmächtig im gewöhnlichen Geschäftsbetrieb jede in den Bereich der Geschäftsführung fallende Handlung vornehmen (§§ 114, 115 HGB). Gleichermaßen kann aber durch Gesellschaftsvertrag eine abweichende Regelung getroffen werden, beispielsweise eine Gesamtgeschäftsführung (§ 115 Abs. 2 HGB) vereinbart werden, oder auch der vollständige oder teilweise Ausschluss eines Gesellschafters von der Geschäftsführung (§ 114 Abs. 2 HGB). Für Geschäfte, die über den gewöhnlichen Betrieb eines Handelsgewerbes hinausgehen, bedarf es nach § 116 Abs. 1, 2 HGB eines Beschlusses sämtlicher Gesellschafter. 19.3.2.4 Haftung 28 Die Gesellschafter haften unbeschränkt. Diese unbeschränkte Haftung erstreckt sich gemäß § 130 HGB auch auf später eintretende Gesellschafter. Diese haften für alle seit Entstehen der Gesellschaft begründeten Schulden. 

! Beraterhinweis Die Regelung des § 130 HGB kann nicht durch Vertrag abbedungen werden. Zur Vermeidung dieser Haftungsfolge bleibt daher nur die Möglichkeit, die OHG aufzulösen und eine neue Gesellschaft mit dem neuen Gesellschafter zu gründen.

19.3.3 Die Kommanditgesellschaft („KG“) 19.3.3.1 Funktion und Rechtsgrundlage 29 Wie die OHG zeichnet sich auch die Kommanditgesellschaft – in Abgrenzung zur GbR – dadurch aus, dass sich mindestens zwei Gesellschafter (einer als Kommanditist, einer als Komplementär) zu dem gemeinsamen Zweck des Betriebs eines Handelsgewerbes unter gemeinschaftlicher Firma zusammenschließen. In Abgrenzung zu der OHG kennzeichnet die KG sich dadurch, dass die besonderen Kriterien des § 161 Abs. 1 HGB erfüllt sind. Nach dieser Vorschrift ist erforderlich, dass der gemeinsame Zweck auf den Betrieb eines Handelsgewerbes unter gemeinschaftlicher Firma gerichtet ist und dass den Gesellschaftsgläubigern gegenüber mindestens ein Gesellschafter unbeschränkt (Komplementär) sowie mindestens ein Gesellschafter nur beschränkt auf den Betrag einer bestimmten Vermögenseinlage haftet (Kommanditist).

19 Gesellschaftsrecht

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Auf die KG finden die für die OHG geltenden Vorschriften Anwendung (vgl. § 161 Abs. 1, 2 HGB). Die KG ist damit gesetzestechnisch (nicht entwicklungsgeschichtlich) eine Abwandlung der OHG mit dem Unterschied der differenzierten Haftungsstruktur.

19.3.3.2 Gründung Die KG entsteht mit dem wirksamen Abschluss eines Gesellschaftsvertrages. Diesbezüg- 30 lich gilt, wie bei der OHG, dass ein Vertragsschluss – wenn dies auch nicht zu empfehlen ist – grundsätzlich formfrei möglich ist. Mindestbestandteile eines KG-Gesellschaftsvertrages sind deren Zweck und Gegenstand, die Firma, die Bezeichnung des Komplementärs und des Kommanditisten und die Höhe der Einlage des Kommanditisten. Im Außenverhältnis entsteht die KG mit Aufnahme des tatsächlichen Geschäftsbetriebs, spätestens mit Eintragung im Handelsregister. Die Eintragung ist nach Maßgabe der §§ 161, 162, 106, 108 HGB von allen Gesellschaftern zu veranlassen. 

! Beraterhinweis  Da bis zur Eintragung im Handelsregister auch die Kommanditisten nach § 175 HGB unbeschränkt haften, ist dringend zu empfehlen, dass die Aufnahme der Geschäftstätigkeit zeitlich der Handelsregistereintragung nachfolgt. Die Eintragung kann als aufschiebende Bedingung im Gesellschaftsvertrag vereinbart werden.17

31

19.3.3.3 Organe Bei der Kommanditgesellschaft vertreten wegen § 170 HGB nur die Komplementäre, 32 nicht die Kommanditisten. Letztere sind gemäß §§ 171, 172 HGB grundsätzlich von der Führung der Geschäfte der Gesellschaft ausgeschlossen und können einer Handlung der persönlich haftenden Gesellschafter nicht widersprechen, es sei denn, dass die Handlung über den gewöhnlichen Betrieb des Handelsgewerbes der Gesellschaft hinausgeht (§ 164 S. 1 HGB). In diesem Fall ist ein Beschluss sämtlicher Gesellschafter erforderlich. Die Kommanditisten unterliegen keinem Wettbewerbsverbot (§ 165 HGB). Ihre Mitwirkungsrechte sind auf Stimm- und Kontrollrechte (vgl. § 166 HGB) beschränkt, sie nehmen jedoch am Ergebnis der Gesellschaft teil (§§ 167 ff. HGB). Zur Vertretung der Gesellschaft sind sie grundsätzlich nicht ermächtigt (§ 170 HGB).18

19.3.4 GmbH & Co. KG 19.3.4.1 Funktion und Rechtsgrundlage Die GmbH & Co. KG vereinigt Elemente aus Kapital- und Personengesellschaft. Der 33 Struktur nach handelt es sich um eine Personengesellschaft, bei der die GmbH als 17Götze,

in: Münchener Vertragshandbuch, 7. Aufl., 2015 Bd. 1, III, 1., S. 238 Rdn. 22. in: Münchener Hdb. d. Gesellschaftsrechts, 2. Aufl., 2015 § 14 Rn 262.

18Gummert,

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persönlich haftende Gesellschafterin fungiert und die beschränkt haftenden Kommanditisten natürliche Personen und zugleich Gesellschafter der GmbH sind. 34 Diese Vereinigung ist oft deswegen besonders interessant, weil sich so die jeweiligen steuerlichen Vorteile der Gesellschaftsformen in Einklang bringen lassen. Denn die das Unternehmen tragende KG wird als Personengesellschaft besteuert, so dass Gewinn wie Vermögen weitestgehend der doppelten Erfassung bei der GmbH (und deren Gesellschaftern) bzw. dem evtl. höheren Einheitssteuersatz für nicht ausgeschüttete Gewinne entzogen werden.

19.3.4.2 Gründung 35 Zur Gründung einer GmbH & Co. KG ist es zunächst erforderlich, eine GmbH zu gründen. Diese nimmt dann an der Gründung der KG als Komplementärin teil. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass eine GmbH erst nachträglich in die Komplementärstellung einer bereits bestehenden KG einrückt. Unternehmensgegenstand der Komplementär-GmbH ist die „Geschäftsführung und Haftungsübernahme in der … GmbH & Co. KG“.

19.3.4.3 Organe 36 Die Geschäftsführung erfolgt gemäß § 164 HGB durch die Komplementär-GmbH, vertreten durch ihre Geschäftsführer bzw. ihren Geschäftsführer. Bei der Gesellschafterversammlung der Komplementär-GmbH gilt das Mehrheitsprinzip. Die Gesellschafterversammlung ist zuständig für alle Grundlagengeschäfte der GmbH. Das Stimmrecht richtet sich nach der Höhe der jeweiligen Geschäftsanteile. Für die Beschlussfassung in Gesellschafterversammlungen der KG ist Einstimmigkeit erforderlich. Das Stimmrecht richtet sich – vorbehaltlich möglicher abweichender Regelungen im Gesellschaftsvertrag – nach Köpfen.

19.3.4.4 Haftung 37 Gemäß §§ 161 Abs. 2, 128 HGB haftet die Komplementär-GmbH unbeschränkt mit ihrem Vermögen. Die Haftung der Kommanditisten ergibt sich aus §§ 171, 172, 176 HGB.

19.3.5 UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG 38 Optimieren lassen sich die steuerlichen Vorteile der GmbH & Co. KG noch durch eine geringere Kapitalausstattung der Komplementärin mittels Verwendung einer UG als Haftungsvehikel. In dieser Konstellation wird die UG (haftungsbeschränkt) mit einem Kapital ausgestattet, das für Gründung und Kontoführung ohne Weiteres ausreichend ist (typischerweise ist dies ein Betrag zwischen EUR 300 und EUR 500). Das dann noch vorhandene Kapital (das andernfalls als Stammkapital für die Gründung der GmbH herhalten

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müsste) wird der KG als Kommanditeinlage zur Verfügung gestellt. Dadurch entfällt die bei der GmbH & Co. KG immanente Problematik, dass die operativ tätige KG nicht problemlos auf das Kapital ihrer Komplementärin zugreifen kann.19 

! Beraterhinweis  Da sich die bisherige Rechtsprechung im Umgang mit der UG und deren Kapitalausstattung als streng erweist, ist vorsichtshalber in dem Gesellschaftsvertrag sicherstellen, dass die UG am Gewinn der KG partizipiert oder wenigstens eine Vergütung für die Übernahme des Haftungsrisikos erhält. Diese Haftungsvergütung fällt der Höhe nach kaum ins Gewicht, da diese sich an der Höhe der Höhe der Stammeinlage orientiert und dementsprechend, bei einer UG die nur mit einem Stammkapital ausgestattet ist, durch das die Gründungskosten gedeckt werden sollen, sehr gering ist. Eine Thesaurierungspflicht nach § 5a GmbHG läuft leer, denn die dort vorgeschriebene Rücklage setzt Gewinne voraus, die bei der genannten Konstruktion nicht entstehen.

39

Die Gesellschaft kann nicht als GmbH & Co. firmieren, sondern muss gemäß § 5a 40 Abs. 1 GmbHG als Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt) & Co. KG oder UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG firmieren. Genau in dieser Firmierung dürfte auch der Grund für die (bisherige) Zurückhaltung bei der Gründung einer UG & Co. KG liegen. Denn aus Marketinggesichtspunkten ist eine Firmierung als GmbH & Co. KG vorzugswürdig. Die UG (haftungsbeschränkt), auch in der Konstellation der UG & Co. KG hat mit dem Makel der „vermeintlich“ geringen Kapitalausstattung zu kämpfen. In Wirklichkeit verfügt eine GmbH aber auch nur im Gründungsstadium zwingend über das vorgesehene Stammkapital; danach kann das Geld unternehmerisch eingesetzt werden und ist typischerweise in der relevanten Haftungs-/Insolvenzkonstellation längst verbraucht. Per 01.01.2014 beläuft sich die Zahl der im Handelsregister eingetragenen Kommanditgesellschaften mit einer UG als Komplementär auf 7586.20

19.3.6 Die Partnerschaftsgesellschaft (PartG) 19.3.6.1 Funktion und Rechtsgrundlage Die Partnerschaftsgesellschaft ist eine Personen-, aber keine Personenhandelsgesell- 41 schaft, da es an der Ausübung eines Handelsgewerbes fehlt. Die Partnerschaftsgesellschaft soll den Angehörigen freier Berufe eine zusätzliche Möglichkeit eröffnen, sich zur Ausübung ihres Berufes zusammenzuschließen (§ 1 S. 1 PartGG). Der Partnerschaft können nur natürliche Personen angehören. 19Römermann/Passarge,

ZIP 2009, 1497, 1498.

20 http://www.rewi.uni-jena.de/Forschungsprojekt+Unternehmergesellschaft_p_15113-p

ath-31803,33398,11171 .

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Die zahlreichen Verweisungen im Partnerschaftsgesellschaftsgesetz (PartGG) auf das Recht der OHG belegen, dass es sich bei der Partnerschaftsgesellschaft typologisch um Schwester zur kaufmännischen OHG handelt.21 Die Partnerschaft ist originärer Rechtsträger. Sie kann Rechte erwerben und Verbindlichkeiten eingehen. In einem Rechtsstreit ist sie vollwertige Prozessbeteiligte und Trägerin des Gesellschaftsvermögens, in welches vollstreckt werden kann (§ 7 Abs. 2 PartGG i. V. m. § 124 HGB). Die Berufsausübung in einer Partnerschaft steht unter dem Vorbehalt des Berufs42 rechts. Es ist weder Ziel noch Inhalt des PartGG, in die einzelnen Berufsrechte der verkammerten Berufe einzugreifen. Das Berufsrecht kann also die Berufsausübung in einer Partnerschaft ausschließen oder von weiteren Voraussetzungen abhängig machen.22 Das ist im Grunde eine Selbstverständlichkeit und gilt für sämtliche Gesellschaftsformen. Bezüglich der Partnerschaft muss dieser Vorbehalt allerdings erwähnt werden, da zuweilen die Fehlvorstellung herrscht, die Rechtsform eröffne auch berufsrechtlich weitere Möglichkeiten z. B. der interprofessionellen Zusammenarbeit.

19.3.6.2 Gründung 43 Die Partnerschaft muss mindestens mit dem Namen eines Partners, der Angabe aller in ihr vertretenen Berufe und dem Zusatz „und Partner“ (auch: „& Partner“ oder ähnliche leichte Abwandlungen) oder „Partnerschaft“ firmieren.

19.3.6.3 Mitglieder 44 Mitglied einer Partnerschaft können nur natürliche Personen sein. Die Beteiligung an einer Partnerschaft ist grundsätzlich nicht vererbbar, es sei denn, die Erben sind als freiberufliche Tätige partnerschaftsfähig. Verliert ein Partner die Zulassung zu dem Beruf, den er in der Partnerschaft ausübt, führt dies nach § 9 Abs. 3 PartGG automatisch zu seinem Ausscheiden aus der Partnerschaft. Der Ausscheidende hat Anspruch auf die Zahlung eines etwaigen Abfindungsguthabens. Dessen Berechnung sowie die Zulässigkeit vertraglicher Abfindungsklauseln bestimmen sich nach den von der Rechtsprechung für die Personengesellschaft aufgestellten Grundsätzen.

19.3.6.4 Haftung 45 Die Haftungsstruktur unterscheidet sich von der der OHG darin, dass für Verbindlichkeiten der Partnerschaft neben dem Vermögen der Gesellschaft zwar grundsätzlich auch die Partner haften, deren Haftung jedoch nach § 8 Abs. 2 PartGG nicht für solche Schäden besteht, die wegen fehlerhafter Berufsausübung auf den Partner beschränkt sind, der die berufliche Leistung zu erbringen oder zu leiten und zu überwachen hatte. Dies kann nach außen auch mittels Allgemeiner Geschäftsbedingungen vereinbart werden. 21Waclawik, 22Kainz,

Prozessführung im Gesellschaftsrecht, 2. Aufl., 2013, S. 152 Rdn. 564. NZS 1995, 500.

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19.3.7 Die Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung (PartGmbB) 19.3.7.1 Funktion und Rechtsgrundlage Am 19.7.2013 ist das Gesetz zur Einführung einer Partnerschaftsgesellschaft mit 46 beschränkter Berufshaftung in Kraft getreten. Auch die Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung ist eine Personengesellschaft. Geregelt ist sie in einem einzigen Absatz des PartGG, dem § 8 Abs. 4. Sie ermöglicht es Freiberuflern, die vertragliche Haftung für Verbindlichkeiten der Partnerschaftsgesellschaft aufgrund von Schäden wegen fehlerhafter Berufsausübung auf das Gesellschaftsvermögen zu beschränken.23 Um in den Genuss der Haftungsbeschränkung zu kommen ist erforderlich, dass 47 die Gesellschaft als solche mit beschränkter Berufshaftung in das Partnerschaftsregister eingetragen wird. Voraussetzung einer Eintragung ist, dass eine Berufshaftpflichtversicherung unterhalten wird. Der entsprechende Nachweis ist gegenüber dem Partnerschaftsregister zu führen. Die jeweiligen Berufsrechte geben die Höhe der Mindestversicherungssumme vor. Bei Anwälten sind dies 2,5 Mio. pro Versicherungsfall. Die Versicherung muss ferner einen Jahreshöchstbetrag abdecken, der sich aus der Multiplikation der Anzahl der Partner mit der jeweils einschlägigen Mindestversicherungssumme ergibt.24 Außerdem muss die Gesellschaft nach außen als PartGmbB auftreten, also den entsprechenden Rechtsformzusatz führen.

19.3.7.2 Gründung Die Gründung kann zum einen im Rahmen der Neugründung zum anderen im Wege des 48 Formwechsels aus einer herkömmlichen Partnerschaftsgesellschaft oder einer GbR vollzogen werden. Im Wesentlichen bedarf es in beiden Fällen dem Abschluss eines entsprechenden schriftlichen Partnerschaftsvertrages der sich an den Anforderungen des PartGG zu orientieren hat. Bezüglich des Namens der Partnerschaft ist der Zusatz der Haftungsbeschränkung aufzunehmen. Die PartGmbB ist sodann zum Partnerschaftsregister anzumelden. Der Anmeldung ist der Nachweis über das Vorhalten der Haftpflichtversicherung mit der entsprechenden sich aus dem Berufsrecht ergebenden Mindestversicherung beizufügen. Mit Eintragung in das Partnerschaftsregister wird die Partnerschaft im Verhältnis zu Dritten wirksam.25

23Binnewies/Wollweber, AnwBl

2014, 9. 2014, 9. 25Werner, StBW 2013, 715, 719. 24Binnewies/Wollweber, AnwBl

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19.3.7.3 Mitglieder 49 Mitglied einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung können nur natürliche Personen sein. Die Beteiligung an einer Partnerschaft ist grundsätzlich nicht vererbbar, es sei denn, die Erben sind als freiberufliche Tätige partnerschaftsfähig. Verliert ein Partner die Zulassung zu dem Beruf, den er in der Partnerschaft ausübt, führt dies nach § 9 Abs. 3 PartGG automatisch zu seinem Ausscheiden aus der Partnerschaft. Der Ausscheidende hat Anspruch auf die Zahlung eines etwaigen Abfindungsguthabens. Dessen Berechnung sowie die Zulässigkeit vertraglicher Abfindungsklauseln bestimmen sich nach den von der Rechtsprechung für die Personengesellschaft aufgestellten Grundsätzen.

19.3.7.4 Haftung 50 Die PartGmbB entscheidet sich insoweit von der herkömmlichen Partnerschaft, als den Gläubigern nur das Vermögen der Partnerschaft haftet, soweit es um Berufsausübungsfehler geht. Für alles Weitere, beispielsweise Forderungen aus Miete oder anderen Dauerschuldverhältnissen haften die Partner unbeschränkt persönlich. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass es sich strukturell auch bei der PartGmbB um eine Personen- und nicht um eine Kapitalgesellschaft handelt. Weiterhin kann eine Binnenhaftung relevant werden.26

19.4 Recht der Kapitalgesellschaften 19.4.1 Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung („GmbH“) 19.4.1.1 MoMiG 51 Am 1.11.2008 ist das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) in Kraft getreten. Dies hat zu tiefgreifenden Veränderungen im GmbHG geführt. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang vor allem der Verzicht auf das gesetzliche Mindestkapital bei der Rechtsformvariante des § 5a GmbHG, die Aufweichung der Kapitalaufbringungsgrundsätze und die Verlagerung der Insolvenzantragspflicht in die InsO.

19.4.1.2 Funktion und Rechtsgrundlage 52 Die GmbH selbst ist in der Praxis die beliebteste Rechtsform unter den Kapitalgesellschaften (AktG, KGaA, SE Limited, UG (haftungsbeschränkt) und GmbH). Sie hat in der Regel einen überschaubaren Kreis an Gesellschaftern, die untereinander häufig familiär, zumindest aber durch gemeinschaftliche wirtschaftliche Interessen verbunden sind.

26Römermann

in: Römermannr, PartGG, 5. Auflage, 2017, § 8 Rn. 113 f.

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19.4.1.3 Gründung Die Gründung erfolgt durch den Abschluss eines Gesellschaftsvertrages. Der Gesell- 53 schaftsvertrag ist notariell zu beurkunden. Der Gesetzgeber hat im Zuge des MoMiG für die Gründung von GmbH und UG ein Musterprotokoll entworfen, das den gesetzgeberischen Minimalanforderungen hinsichtlich des notwendigen Inhalts eines GmbH- oder UG-Gesellschaftsvertrages genügt (§ 2 Abs. 1 a GmbHG). Die Verwendung des Musterprotokolls ist dem Anwendungsbereich nach auf Gesellschaften mit nicht mehr als drei Gesellschaftern beschränkt. Da das Musterprotokoll aber keinerlei Regelungen zu Fragen der Auseinandersetzung der Gesellschaft enthält, ist seine Verwendung – wenn überhaupt – nur für Ein-Personen-Gesellschaften zu empfehlen. Die Verwendung des Musterprotokolls ist gegenüber einer „normalen“ Satzung mit einer (geringen) Kostenersparnis verbunden. Bei der Verwendung des Musterprotokolls gilt es zu beachten, dass das Musterprotokoll inhaltlich nicht verändert oder angepasst werden darf. Als unzulässige Änderung gilt sogar die Anpassung der arabischen Ziffern in römische Ziffern. Dies ist jedoch auf das Gründungsstadium beschränkt. Bei späteren Änderungen ist eine Beibehaltung des genauen Wortlauts des Musterprotokolls vor dem Hintergrund des § 2 Abs. 1 a S. 2 GmbHG nicht erforderlich.27 19.4.1.4 Kapitalausstattung Gemäß § 7 Abs. 2 GmbHG muss auf jeden Geschäftsanteil, soweit nicht Sacheinlagen 54 vereinbart sind, ein Viertel des Nennbetrags eingezahlt sein. Insgesamt muss auf das Stammkapital so viel einbezahlt sein, dass der Gesamtbetrag der eingezahlten Geldeinlagen zuzüglich des Gesamtnennbetrags der Geschäftsanteile, für die Sacheinlagen zu leisten sind, die Hälfte des Mindeststammkapitals gemäß § 5 Abs. 1 GmbHG (25.000 €) erreicht. Mindestens müssen also 12.500 € einbezahlt werden. 19.4.1.5 Organe Zu den Organen der Gesellschaft gehören der Geschäftsführer und die Gesellschafter- 55 gesamtheit (Gesellschafterversammlung). Die Gesamtheit der Gesellschafter ist das höchste Organ der GmbH. Sie bildet den Gesellschaftswillen und bringt diesen dem Ausführungsorgan – grundsätzlich den Geschäftsführern – gegenüber zum Ausdruck.28 Eine Reduzierung der Kompetenzen der Gesellschafter ist vor allem durch eine Zuständigkeitsverlagerung auf die Geschäftsführer sowie auf fakultative Organe wie einen Aufsichtsrat oder Beirat denkbar. Mittels Satzung können derartige Organe zum Zweck der Zuständigkeitsverlagerung eingerichtet werden.29

27OLG

München DNotl 2010, 217, 218. in: Michalski, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 45 Rdn. 36. 29Römermann, in: Michalski, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 45 Rdn. 37. 28Römermann,

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19.4.1.6 Haftung Die Haftung des Geschäftsführers gegenüber der Gesellschaft bestimmt sich nach § 43 Abs. 1 GmbHG und findet Anwendung auf den Fall der Verletzung der Sorgfaltspflichten eines ordentlichen Geschäftsmannes. Die Sorgfaltspflichtverletzung setzt voraus, dass der Geschäftsführer eine organschaftliche Pflicht, die ihm persönlich gegenüber der Gesellschaft obliegt, schuldhaft verletzt hat. Dabei findet eine Zurechnung des Verhaltens von Mitarbeitern nach § 278 BGB nicht statt. Dasselbe gilt für die Anwendung des § 831 BGB, denn im Verhältnis zu den Angestellten ist nicht der Geschäftsführer, sondern die Gesellschaft Geschäftsherr. 56 Neben die Haftung nach § 43 Abs. 2 GmbHG tritt die Haftungsvorschrift des § 64 GmbHG. Danach haften die Geschäftsführer für Zahlungen, die nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft oder nach Feststellung ihrer Überschuldung geleistet werden. Dies gilt mit Ausnahme solcher Zahlungen, die nach diesem Zeitpunkt mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns vereinbar sind. Hierunter fällt beispielsweise die Zahlung der Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung. Daneben gibt es eine weitere unmittelbare gesetzliche Haftungsbestimmung des GmbH-Geschäftsführers gegenüber den Gesellschaftern, geregelt in §  31 Abs.  6 GmbHG. Danach sind die Geschäftsführer den Gesellschaftern gegenüber zum Ersatz für solche Zahlungen verpflichtet, welche die Gesellschafter nach § 31 Abs. 3 GmbHG den Gläubigern gegenüber leisten müssten. Hier geht es um verbotene Rückzahlungen der Stammeinlage. Außerdem kommt grundsätzlich eine deliktische Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB in Betracht. Häufig spielt auch die Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit der Verletzung eines Schutzgesetzes, beispielsweise Untreue, eine Rolle.30

19.4.2 Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt)/UG (haftungsbeschränkt) 19.4.2.1 Funktion und Rechtsgrundlage 57 Eine der wesentlichen Neuerungen, die im Zuge des MoMiG Einzug in das GmbHG gefunden haben, ist diese neue Rechtsformalternative zu der klassischen GmbH. Geregelt ist die UG in einem einzigen Paragraphen, § 5a GmbHG. Im Übrigen gelten die Regelungen des GmbHG. Die UG soll insbesondere der englischen Limited Konkurrenz machen und zeichnet sich dementsprechend durch das faktische Fehlen eines Mindeststammkapitalerfordernisses aus. In der Praxis ist jedoch ein Mindestkapital erforderlich, welches zumindest die Gründungskosten und die Kosten für die Eröffnung eines Kontos abdeckt. Andernfalls wäre die Gesellschaft bereits im Gründungsstadium überschuldet und insolvenzantragspflichtig.

30Terlau,

in: Römermann, Münchener Anwaltshandbuch, 3. Aufl. 2014, § 10 Rn. 9

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Die UG ist ein Erfolgsmodell. Im Dezember 2010 waren es – gut zwei Jahre seit Inkrafttreten des MoMiG und damit Eröffnung dieser Rechtsformvariante – über 44.000 Gesellschaften.31 Damit hat sich die UG bereits gut etabliert im System der Kapitalgesellschaften.

19.4.2.2 Gründung Die Gründung der UG vollzieht sich wie die Gründung einer GmbH mit dem unten 58 unter „Kapitalausstattung“ dargestellten Unterschied. Auch für die UG kann auf das vom Gesetzgeber bereit gestellte Musterprotokoll zurückgegriffen werden. 19.4.2.3 Kapitalausstattung Hinsichtlich der Kapitalausstattung unterscheidet sich die UG von der GmbH durch das 59 Fehlen eines Mindeststammkapitals über 1 € hinaus. Außerdem erfolgt eine Eintragung erst, wenn das Stammkapital voll einbezahlt ist. Angesichts der Tatsache, dass eine UG typischerweise mit einem geringen Stammkapital von nicht über 1000 € gegründet wird, erschien es dem Gesetzgeber angemessen, von den Gesellschaftern eine Volleinzahlung zu verlangen. Sacheinlagen sind gemäß § 5a Abs. 2 GmbHG ausgeschlossen. Vereinzelt finden sich Stimmen in der Literatur, wonach wegen der fehlenden Anzeichen für eine zeitliche Begrenzung dieses Sacheinlagenverbots vertreten wird, dass dieses nur im Gründungsstadium gelte. Die herrschende Meinung spricht sich hingegen für ein Sacheinlagenverbot aus. 



! Beraterhinweis Sowohl das Sacheinlagenverbot als auch das Volleinzahlungsgebot sind ernst zu nehmen. Die Gerichte haben sich an dieser Stelle bisher streng gezeigt. Liegt wegen eines Verstoßes nämlich ein Fall der Nichtigkeit vor, so tritt eine Heilung erst drei Jahre nach Eintragung ins Handelsregister ein (§§ 241 Nr. 3, 242 Abs. 2 AktG). ! Beraterhinweis Nach einer Entscheidung des OLG München32 findet die Sonderregelung in § 5a Abs. 1 bis 4 GmbHG erst dann keine Anwendung mehr, wenn die geleistete Bareinzahlung den Betrag des Stammkapitals in Höhe von EUR 25.000,00 tatsächlich erreicht oder überschritten habe. Schließlich – so das OLG München – sei der maßgebliche Zeitpunkt für den Wechsel der anzuwenden Vorschriften derjenige der (wirksamen) Erhöhung des Stammkapitals. Dazu bedürfe es neben dem Gesellschafterbeschluss auch dessen Eintragung in das Handelsregister. Diese könne jedoch erst erfolgen, wenn die Einlagen bewirkt worden sind.33

31Römermann,

NZG 2010, 1375. München v. 23.09.2010 – 31 Wx 149/10, ZIP 2010, 1991. 33OLG München, ZIP 2010, 1991; vgl. die Anmerkung von Römermann, NZG 2010, 1375. 32OLG

60

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19.4.2.4 Organe 61 Es gelten die Ausführungen zu den Organen der GmbH.

19.4.2.5 Haftung 62 Es gelten die Ausführungen zur Haftung der GmbH-Geschäftsführer.

19.4.3 Private company limited by shares (Limited) 19.4.3.1 Funktion und Rechtsgrundlage 63 Neben der Limited existieren im englischen Recht der Kapitalgesellschaften noch die company limited by guarantee, bei der ein Stammkapital nicht vorhanden ist und die Gesellschafter verpflichtet sind, im Falle der Liquidation einen bestimmten Geldbetrag zu leisten, und die unlimited company, bei der die Gesellschafter mit ihrem gesamten Vermögen haften.34 Bei der Limited ist die Haftung der Gesellschafter – wie bei der GmbH und der UG – auf die vereinbarte Einlage begrenzt. Ergänzend dazu fehlt es an dem Erfordernis eines Stammkapitals, was der Limited zu einer internationalen Verbreitung verholfen hat.

19.4.3.2 Gründung 64 Die Limited wird in das für England und Wales einheitlich geführte Register, das Companies House, eingetragen.

19.4.3.3 Kapitalausstattung 65 Ein Mindeststammkapital sieht die Limited – wie erwähnt – nicht vor. In der Praxis hat sich je Geschäftsanteil eine Untergrenze von einem Pfund herausgebildet. Die Einlage kann durch Bar- oder Sacheinlagen und durch Dienstleistungen erbracht werden. Anders als bei der GmbH entfällt für die Limited eine Bewertung der Sacheinlagen durch das Registergericht. Es obliegt allein dem Geschäftsführer (director), die Sacheinlage auf ihre Werthaltigkeit zu überprüfen. Die Gründungsgesellschafter haften nur für die Einzahlung der übernommenen Geschäftsanteile, nicht für die Resteinzahlung des gezeichneten Kapitals (ausstehende Einlagen).35 66 Die Geschäftsführer der Limited haften grundsätzlich nicht persönlich für Verbindlichkeiten der Gesellschaft. Eine persönliche Haftung kann in Ausnahmefällen jedoch begründet werden durch Insolvenzverschleppung, betrügerische Geschäftsführung, Bekleidung des Amtes eines Geschäftsführers trotz Disqualifikation, Überschreitung der

34Kadel, 35Kadel,

MittBayNot 2006, 102. MittBayNot 2006, 102, 104.

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Vertretungsmacht, Verletzung der Treuepflicht oder der Sorgfaltspflicht, oder, wenn die Gesellschaft lediglich aus Schein bei Geschäften zwischengeschaltet wird.36

19.4.4 Die Aktiengesellschaft (AG) 19.4.4.1 Funktion und Rechtsgrundlage Eine Aktiengesellschaft ist per Definition eine „Gesellschaft mit eigener Rechtspersön- 67 lichkeit und einem in Aktien zerlegten Grundkapital, für deren Verbindlichkeiten den Gläubigern nur das Gesellschaftsvermögen haftet“ (§ 1 AktG). Die Aktiengesellschaft hat vor allem eine Kapitalansammlungsfunktion. Ihrer Struktur nach ist sie primär auf Großunternehmen ausgerichtet (Publikums-AG). Neben der Publikums-AG gibt es aber auch die Familien-AG und die sog. Kleine AG. Um eine Familien-AG handelt es sich, wenn sich die Mehrheit der Aktien in der Hand 68 einer Familie befindet. Von einer Kleinen AG wird typischerweise dann gesprochen, wenn es sich um eine nicht börsennotierte Gesellschaft handelt, deren Aktionäre namentlich bekannt sind. Als eigene Rechtsform gibt es die „Kleine AG“ nicht, sondern es handelt sich hierbei eher um eine politische denn eine rechtliche Begriffsbildung. Der Gesetzgeber wollte in den 1990-er Jahren hiermit die Rechtsform der AG stärker in den Mittelstand bringen. 19.4.4.2 Die Aktie Die Aktie selbst verkörpert die Mitgliedschaft des Aktionärs an der Gesellschaft. Unter- 69 schieden werden Namensaktie, Inhaberaktie, Vorzugsaktie und Nennbetrags- bzw. Stückaktien. Aktionär einer Namensaktie ist, wer die Aktie auf seinen Namen hat und im Aktienbuch eingetragen ist. Aktionär einer Inhaberaktie ist dagegen derjenige, der Inhaber der Aktie ist. Inhaber von Vorzugsaktien sind gegen Gewährung einer Vorwegrendite vom Stimm- 70 recht ausgeschlossen. Stück- und Nennbetragsaktien unterscheiden sich insoweit, als Letztere auf einen bestimmten Nennbetrag lauten, während sich bei Stückaktien ihr Betrag erst aus der Teilung der Anzahl der Stückaktien durch das Grundkapital ergibt. 19.4.4.3 Gründung Die Gründung erfordert zunächst den Abschluss einer Satzung, welche durch notarielle 71 Beurkundung festgestellt werden muss. Der erforderliche Mindestinhalt einer Satzung ist in § 23 AktG aufgeführt. Danach muss die Satzung mindestens Angaben enthalten zu den Gründern, dem Nennbetrag bzw. der Zahl der ausgegebenen Aktien, dem eingezahlten Betrag des Grundkapitals 36Kadel,

MittBayNot 2006, 102, 105.

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sowie dessen Höhe und Zerlegung, Firma und Sitz der Gesellschaft als auch zum Unternehmensgegenstand. Des Weiteren erforderlich sind Angaben darüber, ob Inhaber- oder Namensaktien ausgeteilt werden, Angaben über die Mitgliederzahl des Vorstands und die Form der Bekanntmachungen der Gesellschaft. Ergänzende Bestimmungen sind zulässig.

19.4.4.4 Kapitalausstattung 72 Das zur Gründung erforderliche Grundkapital beträgt gemäß § 7 AktG 50.000 €.

19.4.4.5 Organe 19.4.4.5.1 Vorstand Der Vorstand ist das geschäftsführende Organ der Gesellschaft. Ihm obliegt die organschaftliche, unübertragbare Vertretungsmacht. Die Anzahl der Mitglieder des Vorstands ist gemäß § 23 Abs. 3 Nr. 6 AktG notwendiger Satzungsbestandteil. Nur wenn das Grundkapital der Gesellschaft mehr als drei Millionen Euro beträgt, muss der Vorstand zwingend aus zwei Mitgliedern bestehen, § 76 Abs. 2 Nr. 2 AktG. 73 Bei einem aus mehreren Mitgliedern bestehenden Vorstand kann gemäß § 84 Abs. 2 AktG ein Vorstandsmitglied zum Vorsitzenden ernannt werden. Während – wie für den Geschäftsführer der GmbH – die organschaftliche Stellung als Vorstandsmitglied durch den Akt der Bestellung begründet wird, ist der Anstellungsvertrag zwischen der Gesellschaft und dem Vorstandsmitglied schuldrechtlicher Natur. Die Bestellung erfolgt durch Beschluss des Aufsichtsrates für die Dauer von maximal fünf Jahren. 19.4.4.5.2 Aufsichtsrat 74 Der Aufsichtsrat muss gemäß § 95 AktG aus mindestens drei Mitgliedern bestehen. Die Anzahl der Mitglieder des Aufsichtsrates muss bei mehr als drei Mitgliedern immer durch drei teilbar sein. § 96 AktG regelt die Zusammensetzung des Aufsichtsrates im Einzelnen. Dem Aufsichtsrat obliegt die Kontrolle des Vorstands. Als Bestandteil seiner Überwachungspflicht soll der Aufsichtsrat den Vorstand auch beraten.37 75 Zur Wahrnehmung seiner Aufgaben ist der Aufsichtsrat mit den in §§ 90 ff. AktG aufgeführten Kontrollinstrumenten ausgestattet. Dazu gehört ein Einsichtsrecht in Bücher, Schriften, Bestände an Wertpapieren und Waren und die Gesellschaftskasse. Dazu zählen ferner umfassende Informations- und Mitwirkungsrechte, insbesondere Zustimmungsvorbehalte, gegenüber dem Vorstand. In Einzelfällen sind dem Aufsichtsrat Mitentscheidungsrechte eingeräumt. So etwa im Hinblick auf Abschlagszahlungen auf den Bilanzgewinn nach § 59 Abs. 3 AktG.

37BGH

NJW 1994, 2484.

19 Gesellschaftsrecht

441

19.4.4.5.3 Aktionäre Aktionäre haben nur begrenzte Einwirkungs- und Kontrollmöglichkeiten auf das Handeln des Vorstands. Ihr Status beschränkt sich im Wesentlichen auf den eines Kapitalgebers und bemisst sich allein nach ihrer Kapitalbeteiligung. Lediglich im Rahmen der Hauptversammlung haben Aktionäre die Möglichkeit, ihre wesentlichen Rechte auszuüben.

19.4.5 Die Europäische Aktiengesellschaft (SE (Societas Europaea)) 19.4.5.1 Funktionund Rechtsgrundlagen Der EU-Gesetzgeber hat im Zusammenwirken mit den nationalen Gesetzgebern in der 76 EU die Europäische (Aktien-) Gesellschaft (Societas Europaea – SE) geschaffen. Damit soll europaweit tätigen Unternehmen eine grenzüberschreitende Betätigung erleichtert und deren internationale Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden. Eine SE besteht aus mindestens zwei Unternehmen, die in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässig sind. In Deutschland steht sie seit dem 22.12.2004 als Rechtsformalternative zur Ver- 77 fügung. Gesetzlich geregelt ist sie in der SE-VO und der SE-RL (Richtlinie über die Beteiligung der Arbeitnehmer). Diese gelten gem. Art. 2 der Beitrittsakte auch für die zum 1. Mai 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten. Da die SE-VO nicht mehr dem Konzept einer umfassenden Kodifizierung folgt, sondern umfänglich auf das Recht des jeweiligen Sitzstaates verweist, gibt es nicht die SE schlechthin. Stattdessen gibt es so viele SE wie Mitgliedstaaten. Es wird daher von einer deutschen SE, einer englischen SE usw. gesprochen.38 Auf die in Deutschland ansässige SE wird über Art. 9 Abs. 1 c) ii) SE-VO auf die aktienrechtlichen Verfahrensvorschriften verwiesen. 19.4.5.2 Gründung Die Gründung einer SE erfolgt durch mindestens zwei Gründungsgesellschaften, die 78 ihren Sitz in verschiedenen Mitgliedstaaten der EU bzw. im Europäischen Wirtschaftsraum haben. Die SE kann gegründet werden durch Verschmelzung mehrerer Aktiengesellschaften, Umwandlung einer Aktiengesellschaft mit einer Tochter in einem anderem Mitgliedstaat, Bildung einer Holding unter Beteiligung mindestens zweier Aktiengesellschaften oder GmbHs aus mindestens zwei Mitgliedstaaten, Gründung einer Tochter-SE durch eine bestehende Mutter-SE. In letzterem Fall handelt es sich um eine sogenannte Gründungsmöglichkeit, bei der ein Mehrstaatenbezug nicht verlangt wird.39

38Spitzbart, 39Spitzbart,

RNotZ 2006, 369. RNotZ 2006, 369.

442

V. Römermann

19.4.5.3 Kapitalausstattung 79 Die SE ist mit einem Grundkapital von mindestens EUR 120.000 auszustatten. Dieses ist in Aktien zerlegt. Jeder Aktionär haftet nur bis zur Höhe des von ihm gezeichneten Kapitals.

19.4.5.4 Organe 80 Der Leitungsstruktur kann das sog. dualistische System oder das monistische System zugrunde gelegt werden. Wird das dualistische System gewählt, besteht die Unternehmensleitung aus einem Aufsichtsorgan (in der Terminologie des AktG: Aufsichtsrat) und einem Leitungsorgan (in der Terminologie des AktG: Vorstand). Im monistischen System verfügt die SE über einen Verwaltungsrat (in der Terminologie der SE-VO: Verwaltungsorgan); zusätzlich sind sog. geschäftsführende Direktoren zu bestellen. Weiteres Organ in beiden Systemen ist die Hauptversammlung.

19.5 E. Besteuerung der Gesellschaften 19.5.1 Besteuerung der Kapitalgesellschaften 81 Kapitalgesellschaften unterliegen nicht der Einkommen- sondern der Körperschaftsteuer. Was als Einkommen der Körperschaft gilt und wie es zu ermitteln ist, bestimmt sich nach den Vorschriften des EStG unter Berücksichtigung der Besonderheiten des KStG. Die Gesellschafter müssen die Gewinnanteile als Einkünfte aus Kapitalvermögen gemäß § 20 EStG der Einkommensteuer unterwerfen. Der daraus resultierende „Doppelbelastungseffekt“ ist seit längerer Zeit weitgehend beseitigt: 1977 mit der Einführung des sog. „Anrechnungsverfahrens“; 2001 abgelöst durch das sog. „Halbeinkünfteverfahren“ (die Gesellschaft versteuerte ihren Gewinn mit einem Steuersatz von 25 %, der Gesellschafter die Hälfte der von ihm bezogenen Gewinnausschüttung mit seinem individuellen Steuersatz); seit dem Jahre 2009 unterliegen die Erträge der Kapitalgesellschaft 15-prozentiger Körperschaftsteuer, beim Anteilseigner werden Dividenden und Kursgewinne nach dem System der Abgeltungsteuer mit dem pauschalen Steuersatz von 25 % erfasst.40 82  ! Beraterhinweis Zur Vermeidung rechtsformspezifischer Steuernachteile bietet es sich bei GmbH und UG (haftungsbeschränkt) an, offene Gewinnausschüttungen und einen hohen Gewinn durch Abführung von Geschäftsführergehältern an die Gesellschafter und darlehen- bzw. pachtweise Hingabe von Vermögenswerten zu vermeiden. Außerdem lohnt sich zumeist eine Betriebsaufspaltung bzw. die Gründung einer Doppelgesellschaft, sei es in Form

40Klunzinger,

Grundzüge des Gesellschaftsrechts, 16. Aufl., 2012, § 18.

19 Gesellschaftsrecht

443

einer Besitz-(personen) und Betriebs-(kapital)gesellschaft oder in Form einer Produktions-(personen) und Vertriebs-(kapital) Gesellschaft. Bei jeglichen Verträgen der Gesellschaft mit Inhabern, Gesellschaftern oder deren nahen Angehörigen gilt indes, dass die Bedingungen einem Vergleich mit einem unter fremden Dritten geschlossenen Vertrag standhalten müssen, um steuerlich anerkennungsfähig zu sein.

19.5.2 Besteuerung der Personengesellschaften Für die Besteuerung von Personengesellschaften sind die allgemeinen Regeln des EStG 83 anzuwenden. Personengesellschaften werden keiner eigenen Einkommen- oder Körperschaftsteuer unterworfen.

19.5.3 Gewerbesteuer Neben der Einkommen- oder Körperschaftsteuer ist die Gewerbesteuer eine weitere 84 Ertragsteuer, die bei Gewerbebetrieben erhoben wird. Die Betätigung von Kapitalgesellschaften gilt dabei unabhängig von der Art der Tätigkeit als Gewerbebetrieb. In Ausnahmefällen kann die Gewerbesteuerpflicht ganz oder teilweise durch die Befreiungsvorschrift des § 3 GewStG eingeschränkt sein. Innerhalb der Personengesellschaften ist zwischen den einzelnen Rechtsformen zu unterscheiden. Für die OHG, KG oder GbR ist immer in vollem Umfang ein Gewerbebetrieb gegeben, wenn alle Voraussetzungen für eine gewerbliche Tätigkeit erfüllt sind. Wann dies der Fall ist, bestimmt sich nach § 15 EStG. Danach ist eine gewerbliche Tätigkeit jede selbstständige, nachhaltige, mit Gewinnerzielungsabsicht ausgeübte Tätigkeit, die sich als Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr darstellt, nicht lediglich eine selbstständige oder land- oder forstwirtschaftliche Tätigkeit ist und über den Rahmen einer privaten Vermögensverwaltung hinausgeht. Das Steueraufkommen aus der Gewerbesteuer steht ausschließlich den Gemeinden als 85 den jeweiligen Gebietskörperschaften zu. Auf den vom Finanzamt ermittelten Gewerbesteuermessbetrag, welcher bundeseinheitlich ermittelt wird, wenden die Gemeinden unterschiedliche, von ihnen selbst festgesetzte, Hebesätze an. Der Hebesatz ist ausschlaggebend für die tatsächliche Belastung des Unternehmens mit Gewerbesteuer. Seit dem 1.1.2009 ist die Gewerbesteuer für die Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer keine abzugsfähige Betriebsausgabe mehr (§ 4 Abs. 5b EStG). Gemäß § 35 EStG kann lediglich eine pauschalierte Anrechnung auf die Einkommensteuer erfolgen.

444

V. Römermann

Literatur Altmeppen, Holger, Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung: GmbHG, Kommentar, 8. Auflage 2015 Gummert, Hans/Weipert, Lutz (Hrsg.), Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd.2: Kommanditgesellschaft, GmbH & Co. KG, Publikums-KG, Stille Gesellschaft, 4. Auflage 2014 Heidenhain, Martin/Meister, Burckhardt W. (Hrsg.), Münchener Vertragshandbuch, Bd.1: Gesellschaftsrecht, 7. Auflage 2015 Kersten, Fritz (Begr.)/Bühling, Selmar, Formularbuch und Praxis der Freiwilligen Gerichtsbarkeit, 25. Auflage 2016 Klunzinger, Eugen, Grundzüge des Gesellschaftsrechts, 15. Auflage 2009 Michalski, Lutz (Hrsg.), Kommentar zum Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH-Gesetz), 3. Auflage 2017 Römermann, Volker (Hrsg.), PartGG, 5. Auflage, 2017 Römermann, Volker (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch GmbH-Recht, 3. Auflage 2014 Wachter, Thomas (Hrsg.), Fachanwaltshandbuch Handels- und Gesellschaftsrecht, 3. Auflage 2014 Waclawik, Erich, Prozessführung im Gesellschaftsrecht, 2. Auflage 2013

Sachverzeichnis

A Abkommen, vorrangig eingreifendes, 339 Abläufe gem. Vertragsmanagement, 96 Abmahnung, 114, 141, 243, 258, 259, 268 Abnahme-Vereinbarung, 93, 95 AG, siehe Aktiengesellschaft AGB, 67, 242, 328, 330, 331, 334, 403 sich kreuzende, 330 Akquisition, 33 Aktiengesellschaft, 439 ff. Aktie, 439 Aktionär, 439, 441 Aufsichtsrat, 440 Funktion, 439 Gründung, 439 Kapitalausstattung, 440 Organ, 440 Vorstand, 440 Allgemeinverbindlichkeit, 274 Altersversorgung, betriebliche, 380 Änderungskündigung, 241, 253, 270 Anforderungsprofil, 181, 222 Anwalt externer, 148, 149 interner, 54, 150 Anzeigeobliegenheit, 382, 386 Anzeigepflicht, 385 vorvertragliche, 381 Arbeitnehmer, 232 ff. Definition, 232 Arbeitsrecht, 231 ff. Arbeits-Rechtsschutz, 377 Arbeitsverhältnis Beendigung, 253 befristetes, 238

Begründung, 232 Durchführung, 241 ASP, 394 Aufbau einer Rechtsabteilung, 25 Aufhebungsvertrag, 253 Aufsicht, 100 Ausgleichsanspruch, 142, 360 Auslagerung, 147 ff. Außenwirtschaftsgesetz, 342 Auszubildende, 244, 266

B Beendigung des Arbeitsverhältnisses, 253 Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherung, 8, 16 Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung, 219 Befristung, 238–240 Begründung des Arbeitsverhältnisses, 232 Beherrschungsvertrag, 313 Benachteiligung, 234, 235 Beratung, 14, 50, 171 Beratungsvertrag, 96 Berufsausübung, gemeinschaftliche, 5 Berufshaftpflichtversicherung, 8, 433 Beschäftigungsverhältnis, 3 Beschlagnahmefreiheit, 18–20 Best Advice, 371 Besteuerung, 442, 443 der Kapitalgesellschaften, 442 Betriebsänderung, 283, 284 Betriebshaftpflichtversicherung, 374 Betriebsmittel-Vereinbarung, 93

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Lenz (Hrsg.), Die Rechtsabteilung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21915-4

445

446 Betriebsrat, 279 Bildung, 277 Wahl, 278 Betriebsratsmitglied, 266, 278 Betriebsunterbrechungsversicherung, 376 Betriebsvereinbarung, 280 Betriebsverfassungsrecht, 276 Betriebsversicherung, 376 Bewerbungsverfahren, 234 Bildung des Betriebsrats, 277 Budget, 28, 31, 38, 52 Bußgeldverfahren, 308

C Claim Manager, 26 Claims Management, 104 Commercial Projectmanager, 26 Compliance, 12, 29, 35, 48, 52, 71, 85, 99 Controlling, 116

D D&O-Versicherung, 375 Datennutzung, 237 Datenschutz, 106, 172, 236, 411, 416, 417 Datenschutzbeauftragter, 172, 418 Datenschutzrecht, 172, 234, 416, 418 Deckung, 73, 78, 378, 379 Deutsche Rentenversicherung, 16 DIC/DIL-Deckung, 379 Dienstleistungsvertrag, 93, 338 Direktionsrecht, 241 Direktvertrieb, 141 Diskriminierungsverbot, 251 Dokumentation, 399, 412, 415 Dokumentenmanagement, 158 Druckkündigung, 269 Durchführungsweg, mittelbarer, 380

E EDI-Vertrag, 94 Einkauf von IT-Services, 404 Eintritt des Versicherungsfalls, 383 Einzelfreistellung, 295 Einzelkaufmann, 422 Einzelmaßnahme, personelle, 281 E-Learning, 102 Elternzeit, 247, 266

Sachverzeichnis E-Mail- und Datenarchivierung, 411 Entgelt, 148, 243, 245, 306, 391 Entwerfen, 170 Entwicklungsvertrag, 176, 177, 193, 212 Escrow Agreement, 399 EU-Richtlinie, 335 Europäische Aktiengesellschaft, 441 Funktion, 441 Gründung, 441 Kapitalausstattung, 442 Organ, 442 Europäisches Zivilgesetzbuch, 341 EU-Verordnung, 335 EVB-IT, 390 Exitphase, 404, 408

F Face-to-Face Training, 102 Fachabteilung, 27, 62, 64, 97, 164 Fachanwalt, 20 Fertigen des Vertragsentwurfs, 327 Firma, 423 Firmen-Rechtsschutz, 377 Flexibilität fachliche, 157 zeitliche, 156 Fristenüberwachung, 158 Fusionskontrollanmeldung, 319 Fusionskontrolle, 312 europäische, 317 formelle, 313, 317 materielle, 315, 318

G GbR, siehe Gesellschaft bürgerlichen Rechts Gebäudeversicherung, 376 Gefahrerhöhung, 382 Geheimhaltungsvereinbarung, 96, 212 Geheimnisverrat, 364, 378 General Counsel, 31, 45, 50, 226 Geschäftsführung des Betriebsrates, 278 Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) Funktion, 425 Gründung, 426 Haftung, 427 Kapitelausstattung, 426 Organ, 426

Sachverzeichnis Gesellschaft mit beschränkter Haftung Funktion, 434 Gründung, 435 Haftung, 436 Kapitalausstattung, 435 Organ, 435 Gesellschaftsrecht, 29, 141 Gesetzesänderung, 143 Gestalten, 170 Gestaltung Internationaler Verträge, 343 Gesundheitskartellrecht, 298 Gewerbesteuer, 443 Gewinnabführungsvertrag, 313 Gleichbehandlungsgesetz, 234 GmbH & Co. KG Funktion, 429 Gründung, 430 Haftung, 430 Organ, 430 GmbH, siehe Gesellschaft mit beschränkter Haftung Großrisiko, 381 Grund, wichtiger, 266 Grundsatz der „freien Rechtswahl“, 337 Gruppenfreistellungsverordnung, 296

H Hacker-Schaden, 378 Haftpflichtversicherung, 372 Haftung, 158, 428, 430, 432, 434 Haftungs- und Forderungsmanagement, 179 Handelsregister, 421 elektronisches, 422 Handlung, vorsätzliche unerlaubte, 378 Hardwarebeschaffung, 403 Hauptversammlung, 441

I ICC, siehe International Chamber of Commerce IKS, siehe Kontrollsystem, internes Implementierung, 100, 101 Incoterms, 341 Individualarbeitsrecht, 232 Individualsoftware, 394 Industriespionage, 378 Inhaltskontrolle, 331, 407

447 Insourcing, 26, 54, 142 Interessenabwägung, 242, 257, 261, 267 Interessenausgleich, 285 Interessenkollision, 5, 74 International Chamber of Commerce (ICC), 341 IT Compliance, 411 IT-Recht, 389 ff. IT Sicherheit, 411, 415

K Kammer, 9, 13, 18 Kanban-Vertrag, 94 Kapitalgesellschaft, 434, 442 Kartellrecht, 70, 71, 289 ff. Kartellrechtsverstöße, Sanktionen, 311 Kartellverbot, 290–292, 297 Kartellverfahren Deutsches, 309 Europäisches, 308 Kartellverwaltungsverfahren, 308 Kasko-Versicherung, 375 Kennzeichnungskraft, 423 Kfz-Haftpflichtversicherung, 375 Kollektivarbeitsrecht, 272 Kommanditgesellschaft Funktion, 428 Gründung, 429 Organ, 429 Konsignationslager-Vertrag, 94 Kontrollsystem, internes (IKS), 411, 412, 414 Konzept des sog. „new approach“, 336 Konzerngesellschaft, 38 Kooperationsvertrag, 96 Kosten, 25, 37, 39, 46, 52, 73, 80, 153, 159 Kostenkontrolle, 38, 186 Kostenmanagement, 54, 185 Kostenstelle, 38, 54, 186 Krankheitsfall, 244 Kreditversicherung, 377 Kronzeugenmitteilung, 311 Kronzeugenregelung, 308 Kündigung, 282 außerordentliche, 253, 266, 279, 408 Betriebsbedingte, 262 ordentliche, 239, 253, 254, 278, 408 Sonderfälle, 269 Kündigungserklärung, 255

448 Kündigungserklärungsfrist, 268 Kündigungsfrist, 158, 254, 256 Kündigungsgründe personenbedingte, 260, 262 Verhaltensbedingte, 257 Kündigungsschutz, 251, 256

L Legal Management, 40, 45 ff. Leistungsansprüch, 8 Leitungs- und Weisungsbefugnis, 241 Leniency Notice, 311 Lohnfortzahlung, 244 Low Performer, 269

M Mangel, 396 Marktabgrenzung, 301, 304 Marktmachtmissbrauchskontrolle, 299 Marktmachtmissbrauchsverbot, 299 Maschinenbau, 88 Masterpolice, 379 Ministererlaubnis, 316 Missbrauchstatbestand, 303 Mitbestimmung, 282 betriebliche, 276, 279 in personellen Angelegenheiten, 281 in sozialen Angelegenheiten, 280 in wirtschaftlichen Angelegenheiten, 283 Mittelstandskartell, 298 MoMiG, 434 Mutterschutz, 248, 265 Mutterschutzgesetz, 248

N New approach, 336 Notfallkonzept, 414

O Obliegenheit, vertragliche, 378, 383 Offene Handelsgesellschaft (OHG), 427 Funktion, 427 Gründung, 427 Haftung, 428 Organ, 428

Sachverzeichnis Open Source-Software, 395 Outsourcing, 147, 151, 404

P Partnerschaftsgesellschaft (PartG) Funktion, 431 Gründung, 432 Haftung, 432 Mitglieder, 432 mit beschränkter Haftung, 433 Patent- und Gebrauchsmusterverfahren, 178 Personengesellschaft, 425, 433, 443 Pflichtenkreis, 5 Pflichtversicherung, 375 Phase, operative, 404 Planen, 170 Police, lokale, 379 Postulationsfähigkeit, 179, 352 Prämie, 384 Private company limited by shares (Limited) Funktion, 438 Gründung, 438 Kapitalausstattung, 438 Produkt-Auslauf-Vereinbarung, 93, 95 Produktentwicklung, 68, 69 Produkthaftpflichtversicherung, 374 Produkthaftung, 68 ff., 90 Projektarbeit, 46 Prokura, 422 Provision, 140, 195 Prozesse gem. Vertragsmanagement, 96 Prozessvertretung, 156, 175 Prüfen, 170 Prüfverzichtsvereinbarung, 94

Q Qualitätsmanagement, 49 Qualitätsmanagementsystem, 51 Quellcodehinterlegung, 399

R Rahmen-Einkaufsvertrag, 93 Rahmen-Liefervertrag, 94 Rahmenrichtlinie, 336 Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, 328

Sachverzeichnis der Europäischen Union, 334 mangels Rechtswahl, 338 Rechtfertigung, 263 Rechtfertigung, sachliche, 263, 307 Rechtsabteilung, 23, 45 Aufbau, 25 dezentrale, 33 im Unternehmen, 51, 148 interne, 32, 147, 151, 155, 159 zentrale, 33 Rechtsberatung, 6, 11, 27, 38 Rechtsdienstleistung, 54, 74 Rechtsnatur des Arbeitsverhältnisses, 232 Rechtsschutzversicherung, 377 Rechtswahl, stillschweigende, 338 Regresssicherung, 358–360, 386 Rentenversicherung, 7, 16, 159 Rettungsobliegenheit, 385 Richtlinie, spezifische, 336 Risiko, politische, 377 Risikomanagement, 372, 414 ROM I-Verordnung, 337 Rückrufdeckung, 374

S SaaS, 390, 394 Sanktionen von Kartellrechtsverstößen, 311 Schadenmanagement, 385 ff. Schadensabteilung, 348 Schadensmeldung, 105 Schadenversicherung, 377, 378 Schuldverhältnis, vertragliches, 337 Schwerbehinderte, 251, 265 SE, siehe Europäische Aktiengesellschaft Selbstständiger, 232 Senior Counsel, 31 Sofortmaßnahme, 117, 385 Software, 390 ff. gebrauchter, 400 Softwarebeschaffung, 390 Softwarelizenz, 397 Softwarepflegeverträge, 409 Softwareüberlassungsverträge, 398 Sonderkündigungsschutz, 264, 265, 278 Sozialauswahl, 263, 264 Sozialplan, 284, 285 Spartenzugehörigkeit, 381 Sportrecht, 180

449 Standardsoftware, 390 Stehlgutliste, 386 Stellung des Betriebsratsmitglieds, 278 marktbeherrschende, 289, 299, 301, 302, 304 Steuerprüfung, digitale, 411, 413 Straf- und Ordnungswidrigkeiten-Rechtsschutz, 377 Sub-Lieferanten-Vertrag, 93, 95 Syndikus, 4 ff., 23, 83 ff., 109 ff. Syndikusanwalt, 4 ff., 59 ff., 67, 83, 159

T Tarifbindung, 273 Tarifkonkurrenz, 275 Tarifpluralität, 275 Tarifvertrag, 272 Tarifvertragsrecht, 272 Tätigkeitsverbot, 367 Tatkündigung, 266, 267 Teilzeitarbeit während der Elternzeit, 251 Teilzeitarbeitsverhältnis, 249 Teilzeitbeschäftigung, 251 Theorie des letzten Wortes, 330 Transitionphase, 404 Transportversicherung, 376

U Übung, betriebliche, 252 UG, siehe Unternehmergesellschaft Umsatzschwellenwert, 312, 314, 317 Umwelthaftpflichtversicherung, 374 UN-Kaufrecht (CISG), 338, 339 Unternehmen, verbundene, 14 Unternehmensstruktur, 99, 163 Unternehmergesellschaft, 430 & Co. KG, 430 Funktion, 436 Gründung, 437 Haftung, 438 Kapitalausstattung, 437 Organ, 438 Unterscheidungskraft, 423 Urheberrecht, 177 Urlaub, 245 Urlaubsabgeltung, 246

450 Urlaubsanspruch, 245 Urlaubsentgelt, 246 Urlaubsgewährung, 245

V Value Billing, 41, 53 Verbandsarbeit, 71 Verdachtskündigung, 267 Vereinbarung über den elektronischen Datenaustausch, 94 Verfahren, markenrechtliches, 179 Verhaltensweise abgestimmte, 293–295 horizontale, 291, 294 verbietet, 294 Verjährung, 340 Verringerung der Arbeitszeit, 249 Versicherung, technische, 376 Versicherungsmakler, 371 Versicherungspflicht, 17 Versicherungsprogramm, internationales, 379 Versicherungsrecht, 371 ff. Versicherungsvermittler, 375 Versicherungsvertreter, 142 Versorgungswerk, 16, 17, 160 Vertragsbearbeitung, 92 Vertragsgestaltung, 69, 323 ff. Vertragsjurist, 343 Vertragsmanagement, 91, 96, 380 Vertragsprüfung, 175 Vertragsrecht, 323 internationales, 332 materielles, 327

Sachverzeichnis Vertragsschluss, 380 Vertrauensschadenversicherung, 378 Vertretung vor Gericht, 175 Vertretungsverbot, 3 Verwaltungsgericht, 175 Vollzugsverbot, 316, 318 Vorsorge, 213, 372 VVG-Reform, 74

W Wahl des Betriebsrats, 278 Warenkredit- oder Ausfuhrkreditversicherung, 377 Weiterbeschäftigungsanspruch, 271 Wettbewerbsbeschränkung, 290 horizontaler, 290, 291 vertikale, 290, 291 Wettbewerbsrecht, 29, 70, 192 Widerruf der Zulassung, 9 Widerspruchsverfahren, 174 Wirtschaftsausschuss, 283

Z Zeugnisverweigerungsrecht, 18 Zulassung zur Rechtsanwaltschaft, 5, 6, 9 Zulassungs- und Prüfungsrecht, 173 Zusammenschlusstatbestand, 312, 313, 317 Zwischenstaatlichkeitsklausel, 293

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